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Wissenschaft

SABINE SAUER / DER SPIEGEL

Lernexperiment (am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung), Maus im Lernversuch: „Womöglich nimmt im Alter die Rigidität

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Altern beginnt in der Wiege“


Der Hirnforscher Gerd Kempermann und der Entwicklungspsychologe Ulman
Lindenberger über nachwachsende Nervenzellen, schrumpfende Gehirne und die Weisheit des Alters

SPIEGEL: Herr Lindenberger, Sie erforschen Kempermann: Doch, sicher kann auch ein seren Probanden in sogenannten Doppel-
den Alltag, die Gefühle und das Befinden altes Gehirn Wissenschaft treiben. Aber aufgaben nachweisen. Zum Beispiel sollen
alter Menschen. Wie alt ist der älteste Mit- unser Forschungsgebiet ist ja noch so jung. sie sich Wörter in der richtigen Reihenfol-
arbeiter Ihrer Arbeitsgruppe? Ich bin jetzt 41. Wahrscheinlich werde ich ge merken, während sie auf einem engen
Lindenberger: Na ja, also, wenn ich recht über die Jahre mit meinem Thema altern. Pfad gehen. Und da zeigt sich, dass die Ge-
überlege, bin ich das selbst … Lindenberger: Im Übrigen beginnen die ers- dächtnisleistung bei Menschen ab 40 leidet,
SPIEGEL: … und Sie sind noch deutlich un- ten Probleme mit dem Alter bereits um wenn sie gleichzeitig Wörter lernen und
ter 50. Interessieren sich die Alten nicht für die vierzig. einen Fuß vor den anderen setzen müs-
sich selbst? SPIEGEL: So? Erzählen Sie. sen, statt dabei auf einem Stuhl zu sitzen.
Lindenberger: Doch, doch; es melden sich ja Lindenberger: Gern. Je älter wir werden, Die 20- bis 30-Jährigen hingegen haben
viele ältere Menschen hier in Berlin als desto schwerer fällt es uns, mehrere Dinge damit viel weniger Probleme.
Probanden für unsere Studien. gleichzeitig zu tun. Wir können das bei un- Kempermann: Allerdings merke ich solche
SPIEGEL: Herr Kempermann, haben Sie als Leistungseinbußen gar nicht. Das Altern
Hirnforscher eine Erklärung: Taugen die * Peter Gruss (Hg.): „Die Zukunft des Alterns“. Beck, geht ja lange Zeit zum Glück eher un-
Köpfe alter Menschen nicht zum Forschen? München; 288 Seiten; 16,90 Euro. merklich vonstatten.

Die Biologie des Alterns


soll schon bald an einem neuen Max-Planck-
Institut, vermutlich in Köln, erforscht werden.
Schon jetzt hat die Max-Planck-Gesellschaft
einen Sammelband zum Thema herausgegeben,
in dem Spitzenforscher vieler Disziplinen zu Wort
kommen*. Zwei der Autoren sind der Neurobiolo-
ge Gerd Kempermann, 41, der sich am Berliner
SABINE SAUER / DER SPIEGEL

SABINE SAUER / DER SPIEGEL

Max-Delbrück-Centrum mit dem Nervenwachstum


im alternden Hirn befasst, und der Psychologe
Ulman Lindenberger, 46, Direktor am Max-
Planck-Institut für Bildungsforschung, der maß-
geblich beteiligt war an der Berliner Altersstudie.
Kempermann Lindenberger

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R.E.A. / LAIF
zu, was dann landläufig Starrsinn genannt wird“

Lindenberger: Älterwerden bezeichnet zu- bestimmter Hirnregionen. Und natürlich die Rigidität zu, was dann landläufig Starr-
nächst nur das Vergehen von Zeit. Im hoffen wir, im Hippocampus Veränderun- sinn genannt wird. Sie halten eher an ein-
Grunde beginnt Altern schon in der Wie- gen zu finden. geübten Denk- und Handlungsschemata
ge: Der Mensch wächst, er reift, er lernt, SPIEGEL: Sie sagen, bis ins hohe Alter wach- fest. Doch das ist vielleicht auch eine Kom-
und er altert. Diese Prozesse bestimmen sen Hirnzellen nach. Aber schrumpft das pensationsstrategie: In dem Maße, wie ei-
das Älterwerden und laufen das ganze Le- Gehirn nicht im Verlauf des Alterns? ner körperlich beeinträchtigt ist, klammert
ben lang. Nur ihre Gewichtung verändert Kempermann: Oh ja, absolut! Gehirne er sich an Erprobtes. Außerdem gibt es
sich. Auf keinen Fall stimmt die Gleichung, schrumpfen. auch jene, die bis ins höchste Alter nach
dass Altern nur Abbau und Verlust bedeu- Lindenberger: An der Universität von De- neuen Erfahrungen suchen, die sich be-
tet. Auch ein Hochbetagter kann Neues troit haben Kollegen die Gehirne von ständig in Frage stellen und Neues wissen
lernen und daran reifen. 20- bis 70-Jährigen vermessen. In den meis- wollen. Die Unterschiede zwischen Men-
Kempermann: In unseren Experimenten mit ten Hirnregionen haben sie schon ab dem schen sind im Alter besonders groß.
Mäusen lässt sich sogar zeigen, dass sich in 20. Lebensjahr eine Schrumpfung gefunden. SPIEGEL: Nicht nur Starrsinn gilt als Eigen-
einigen Hirnregionen das ganze Leben lang Kempermann: Das sagt aber nicht viel über heit der Alten. Oft stellt sich im Angesicht
neue Nervenzellen bilden, wenn die Tiere die Leistungsfähigkeit. So eine Schrump- der eigenen Endlichkeit auch eine große
lernen; wir nennen das Neurogenese. Noch fung kann auch bloß eine Konzentration Gelassenheit ein.
vor 15 Jahren wäre das eine geradezu ket- bedeuten wie bei einer eingekochten Sauce. Lindenberger: Ja. Manche können los-
zerische Idee gewesen. Heute aber wissen Lindenberger: Die Zahl der Nervenzellen lassen, beschäftigen sich mit der Zukunft
wir: Uralte Mäuse, die sich regelmäßig in nimmt beim Menschen mit dem Alter ja ihrer Enkel, stehen anderen in schwieri-
einem Labyrinth neu orientieren müssen, nicht so stark ab wie man früher vermutet gen Lebenslagen als Ratgeber zur Seite.
können noch Neuronen im sogenannten hat. Wie ist es bei euren Mäusen? Sie erleben die schönen Seiten des Alters,
Hippocampus bilden. Und nicht nur das: Kempermann: Die Neuronen werden nicht weil sie eine Herausforderung bewältigen,
Diese Mäuse lösen neue verzwickte Auf- erheblich weniger. Aber weitaus wichtiger die Psychologen als letzte Entwicklungs-
gaben leichter als ihre gleichaltrigen Ge- ist ohnehin die Vernetzung der Zellen. aufgabe eines Menschen sehen: das Inter-
schwister, in deren Gehirnen keine neuen Nehmen Sie die Parkinson-Krankheit: Da esse für nachfolgende Generationen. Von
Neuronen entstanden sind. müssen 80 Prozent der Nervenzellen in ihren Mitmenschen werden diese alten
Lindenberger: Und wir vermuten nun, dass der sogenannten Substantia nigra verloren Männer und Frauen oft als weise emp-
das Entstehen neuer Nervenverbindungen gehen, bevor überhaupt die ersten Sym- funden.
auch beim Menschen durch geistiges und ptome sichtbar werden. Man kann also SPIEGEL: Ein Forscher wie Sie kann etwas
körperliches Training begünstigt wird. nicht sagen: Nur weil das Gehirn kleiner mit dem Begriff „Weisheit“ anfangen?
SPIEGEL: Wie wollen Sie das herausfinden? geworden ist, funktioniert es schlechter. Lindenberger: Warum nicht? Weisheit be-
Lindenberger: Wir haben mit Kollegen aus Lindenberger: Das Gehirn schrumpft auch deutet Einsicht in grundlegende Probleme
Magdeburg ein Experiment zur Orientie- nicht in allen Regionen gleich stark. Beim des Lebens. Lebenserfahrung hilft dabei,
rung im Raum begonnen: jüngere und Menschen schrumpfen vor allem der Hip- doch Nachdenklichkeit, Empathie und ein
ältere Erwachsene auf einem Laufband, pocampus und Teile des Frontalhirns. wacher Geist müssen dazukommen. Älter-
vor sich die Wege eines verwinkelten SPIEGEL: Gerade diese zwei Regionen be- werden allein macht nicht weise.
Zoos. Die Probanden sollen ihn erkun- einflussen aber maßgeblich die Persön- Kempermann: Natürlich kann man jetzt
den, von den Pinguinen zu den Elefanten lichkeit eines Menschen. Werden wir also fragen, ob man die Erfahrung aus erster
finden, von den Löwen zu den Gorillas, im Alter andere Menschen? Hand braucht. Vielleicht reicht es ja, alle
von den Ziegen zu den Papageien. Sie er- Lindenberger: Manchmal. Generell bleibt Bände von Dostojewski zu lesen? Als Hirn-
laufen sich dieses Labyrinth regelrecht, die Persönlichkeit allerdings, trotz man- forscher glaube ich aber, dass Erleben am
dreimal in der Woche, vier bis fünf Mona- cher kognitiver Defizite, eher stabil, eben- eigenen Leib intensivere Spuren hinter-
te lang; und wir messen jeweils vor und so wie die Fähigkeit, logisch zu denken. lässt als ein Buch. Vor allem hat das Gehirn
nach dem Training die Größe und Struktur Bei manchen Menschen nimmt im Alter eines weisen Menschen gelernt, auch bei
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unzureichenden Informationen und in Laufen an einem Geländer festhalten konn-


unklaren Situationen zu urteilen. ten. Sie mussten sich weniger darauf kon-
SPIEGEL: Neben „Starrsinn“ und „Weisheit“ zentrieren, ihr Gleichgewicht zu halten.
gibt es eine dritte Stereotype, die oft mit SPIEGEL: Sie weisen damit den Nutzen des
dem Alter verbunden wird: „Verbitterung“. Krückstocks nach …
Lindenberger: Das zeigt sich vor allem im Lindenberger: … aber das Prinzip gilt auf
Lebensrückblick des Einzelnen: Erinnert viel generellere Weise. Weltweit arbeiten
sich da einer vor allem an vertane Chan- Labors an intelligenten Hilfsmitteln, die
cen? Ist da vor allem Hader? das Altern erleichtern. Technik wird ein
SPIEGEL: Viele Hochbetagte haben trauma- Freund des Alters werden, und die Hilfs-
tische Erinnerungen an den Krieg. Ist die mittel werden modern und schick sein wie
weitverbreitete Altersdepression womög- Navigationssysteme im Auto. Schon allein

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lich keine Eigenheit des Alters an sich, son- mit Hinweisreizen lässt sich der Alltag er-
dern eher eine Spätfolge des Krieges? heblich vereinfachen.
Lindenberger: Damit sprechen Sie ein SPIEGEL: Sie meinen Geräte, die piepen,
Grundproblem unserer Forschung an: Die Schauspieler Johannes Heesters (mit 103 Jahren) wenn es Zeit ist, die Pillen zu schlucken?
von uns untersuchten älteren Menschen Lindenberger: Genau. Solche Geräte wird
haben in einer Gesellschaft gelebt, die mit man ohnehin bei sich tragen wie heute ein
der unseren nicht vergleichbar ist. Also Mobiltelefon, und sie werden den Alltag
müssen wir uns fragen: Verhält sich ein 70- ihrer Besitzer erlernen: Ein Bildtelefon mit
Jähriger so, wie er sich verhält, weil er als GPS etwa, das sich bestimmte Abläufe
20-Jähriger andere prägende Erfahrungen merkt: dienstags zum Friseur, sonntags ans
gemacht hat als ein 20-Jähriger heute? Oder Grab der verstorbenen Frau, am Wochen-
liegt es daran, dass sein Körper biologisch ende ein Anruf bei der Tochter. All das
altert? Um dies halbwegs in den Griff zu speichert das Gerät über einen langen Zeit-

BEIRNE BRENDAN / CORBIS SYGMA


bekommen, erfassen wir zu Beginn jeder raum. Und wenn es dann nötig wird, kann
Versuchsreihe biografische Informationen. es den Besitzer zum Friseur führen oder
SPIEGEL: Wir leben in einer Zeit des Ju- daran erinnern, die Tochter anzurufen.
gendwahns. Altern wir heute wirklich Kempermann: Allerdings dürfen diese Gerä-
langsamer als früher? te einen nicht komplett entlasten. Zu viel
Lindenberger: Kein Zweifel: Ältere Men- Unterstützung kann schnell das Ende der
schen erbringen heute im Durchschnitt Selbständigkeit bedeuten. Wer sich zu früh
bessere Leistungen. Gleichzeitig erreichen Queen Mum (an ihrem 101. Geburtstag) ausschließlich auf sein Navigationsgerät
immer mehr Menschen ein sehr hohes verlässt, unterfordert sein Gehirn.
Alter, und viele von ihnen werden geistig Lindenberger: Außerdem sollten wir nicht
und körperlich zunehmend hinfällig. Nur vergessen, dass wir manche Mängel im
schiebt sich diese Phase großer Einschrän- Alter auch durch unser Verhalten ausglei-
kungen immer weiter nach hinten. Die chen können. Selektion, Optimierung,
heute 85-Jährigen erfahren das Altern eben Kompensation: So heißen die drei Strate-
ähnlich wie früher die 70-Jährigen. gien, mit denen sich viele Defizite im Alter
Kempermann: Und noch ist nicht klar, wo- wettmachen lassen. Der Pianist Arthur Ru-
hin die Entwicklung führt. Die Forscher binstein hat das beispielhaft vorgelebt: Er
um Jim Vaupel in Rostock haben gezeigt, übte weniger Stücke, die aber konzen-
dass es keine zuverlässige Prognose dar- trierter, und weil die Finger nicht mehr so
über gibt, wann wir Menschen das mög- beweglich waren, bremste er vor schnellen
STEFAN MOSES

liche Höchstlebensalter erreicht haben. Passagen ab – und durch diesen Kontrast


Laut ihren Daten steigt die Lebenserwar- wirkten die dann schneller.
tung seit mehr als einem Jahrhundert Jahr SPIEGEL: Solche Strategien lassen sich nicht
für Jahr um etwa drei Monate. Schriftsteller Ernst Jünger (mit 99 Jahren) nur bei Alten beobachten. Schon Kinder
SPIEGEL: Es ist also denkbar, dass die Le- Hochbetagte Prominente trainieren am liebsten das, was sie gut zu
benserwartung irgendwann bei 120 oder Der Körper wird Hypothek für den Geist können glauben.
sogar 150 Jahren liegen wird? Lindenberger: Das mag sein. Doch als junger
Lindenberger: Das ist nicht auszuschließen. SPIEGEL: Dann wird, wie es der verstorbe- Mensch betreibt man oft eine Selektion aus
Als meine Tochter vor zwölf Monaten ge- ne Altersforscher Paul Baltes formulierte, der Fülle heraus. Ältere Menschen geraten
boren wurde, schrieb uns die Versicherung: der Körper zur Hypothek für den Geist. eher durch Verluste dazu, eine Wahl treffen
„Wir gratulieren zur Geburt Ihrer Tochter. Lindenberger: Ja. Unser Körper und unsere zu müssen. So wie in der Geschichte, die der
Ihre Lebenserwartung beträgt 110 Jahre.“ Sinne fordern zunehmend mehr Aufmerk- Alternsforscher Orville Brim über seinen
SPIEGEL: Erschreckt Sie das? samkeit und fordern den Geist, der selbst Vater erzählte: Er liebte seinen Park. Immer
Lindenberger: Das hängt davon ab, ob das nicht mehr so rege ist, damit stark heraus. schnitt er den Rasen und bepflanzte die Bee-
Mehr an Lebensjahren auch ein Mehr an Man kann den Körper allerdings entlasten, te; dann wurde er älter und schaffte diese
kranken Jahren bedeuten wird. Natürlich so dass der Geist sich wieder anderen Auf- Arbeit nicht mehr. Er legte einen kleinen
wünsche ich meiner Tochter nicht 20 Jah- gaben zuwenden kann. Rosengarten an. Am Lebensende, mit 103,
re Siechtum. Bis ins dritte Lebensalter, SPIEGEL: Sie klingen hoffnungsfroh. kümmerte er sich nur noch um eine einzige
gegenwärtig also bis zum 85. Lebensjahr, Lindenberger: Ja, und unsere Experimente Blume, die an seinem Fenster stand. Er hat
werden wir wohl dank Medizin und Tech- geben uns Anlass dazu. Wir haben betagte es verstanden, seine Begeisterung seinen
nik ziemlich gute Kompensationsstrategien Männer und Frauen auf einem Laufband nachlassenden Kräften anzupassen.
entwickeln. Aber danach, im vierten Le- auch durch ein virtuelles Museum geschickt, SPIEGEL: Und Sie glauben, diese eine Topf-
bensalter, wird es schwierig werden für uns diesmal mussten sie zum Bistro finden. Und blume hat ihm dieselbe Lebensfreude ge-
und unsere Kinder. da landeten sie schneller, wenn sie sich beim schenkt wie einst ein ganzer Garten?
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dert Alzheimer“ sind hanebüchen. Es wäre


fatal zu glauben, unser Schicksal sei durch-
weg durch unser Verhalten veränderbar.
Kempermann: Auf keinen Fall darf es nur
darum gehen, auf Teufel komm raus ju-
gendlich zu werden. Aus 70-Jährigen dür-
fen keine falschen 40-Jährigen werden.
Lindenberger: Wahrscheinlich ist die Kom-

SABINE SAUER / DER SPIEGEL


bination aus geistiger und körperlicher An-
strengung, am besten in einer Gruppe, be-
sonders wirksam. Doch generell rate ich
jedem, sich das zu suchen, was er selbst als
passend empfindet. Jemand, der immer
schon gern ethymologische Wörterbücher
Kempermann, Lindenberger beim SPIEGEL-Gespräch*: „Probleme ab vierzig“ gewälzt hat, sollte jetzt nicht anfangen zu
joggen. Eher sollte er Chinesisch lernen.
Lindenberger: Ich vermute es. Es ist eine SPIEGEL: Er könnte vielleicht auch bis ins
der großen Fragen der Altersforschung, hohe Alter arbeiten, was meinen Sie?
wie Ältere es vermögen, sich neue Ziele zu Weltrekord im Altern Lindenberger: Die Idee hat Charme. Wenn
setzen, die ihnen trotz schwindender Kräf- Länder mit der höchsten Lebens- wir die Arbeit umverteilen, die wir in un-
te Lebenszufriedenheit verschaffen. Das erwartung von Frauen seit 1840 seren Berufsjahren leisten, könnten wir un-
gelingt sicher nicht per Knopfdruck. Quelle: Oeppen/Vaupel 2002 seren Lebenslauf moderner ausrichten: Ein
SPIEGEL: Hat die Hirnforschung hier etwas 100 40-Jähriger setzt nach einer ersten Phase
zu bieten? Kann sie helfen, auch jenseits des Erfolgs ein paar Jahre aus und widmet
der 90 noch Lebensfreude zu finden? sich der Familie, dann arbeitet er ein paar
Lindenberger: Unser Wissen und unser Ver- Japan Jahre, gefolgt von einer Zeit der Weiter-
halten ändern sich ja beständig im Lauf 90 bildung, auf die wiederum einige Arbeits-
des Lebens, und das Gehirn stellt sich im- jahre folgen. Viel spricht dafür, dieser
mer wieder darauf ein … Island Vision nachzustreben …
Kempermann: … ja, und das ist die Grund- Kempermann: … zumal Arbeit Herausfor-
Norwegen 80
lage unserer lebenslangen Lern- und derungen und soziale Kontakte bietet. Wie
Leistungsfähigkeit. Das Gehirn ist kein leistungsfähig viele im Alter noch sind,
festverdrahteter Computer. Allerdings hilft zeigt die ehrenamtliche Schattenwirtschaft,

?
Neuseeland
es, ihm früh Flexibilität abzuverlangen. 70 in der sich Alte heute tummeln. Also wäre
Wer sich erst mit 70 Jahren gedanklich es für alle, die gern arbeiten, sicher wün-
fordert, hat eher ein eingefahrenes Ge- schenswert, das Rentenalter so flexibel wie
hirn. Wenn einer dagegen immer geistig möglich nach oben hin zu öffnen.
aktiv war, übernehmen bei ihm Hirn- Schweden 60 SPIEGEL: Als unser Rentensystem entstand,
regionen auch im Alter eher neue Funk- Norwegen lag das Rentenalter 15 Jahre über der
tionen. Zwar wird das Gehirn keine Wun- durchschnittlichen Lebenserwartung. Hät-
der vollbringen, wenn etwa ein Schlag- te dann das Rentenalter nicht mit der Le-
anfall das Sprachzentrum beschädigt. Doch 50 benserwartung steigen müssen?
durch angemessenes Training kann es Lindenberger: In erster Linie ist die Renten-
diese Lücke wenigstens zum Teil wieder debatte eine Verteilungsfrage: Arbeite ich
füllen. länger, verkürzt sich die Zahl der Jahre, in
Lindenberger: Und jede Lernkurve ist ja denen ich Rente beziehe. So viel zur politi-
etwas Wunderschönes: Wann immer ich 1840 1900 1960 2020 2060 schen Logik. Viele Psychologen meinen,
Neues anfange, werde ich besser. Deshalb dass man das Rentenalter vom Einzelfall ab-
sollte man einen Musikfreund auch ermu- hängig machen müsste. Je älter Menschen
tigen, selbst mit 70 noch Klavier zu lernen. Kempermann: Manchmal bedeutet es be- werden, desto schwieriger wird es, ihre Leis-
SPIEGEL: Und? Profitiert der 70-jährige Kla- reits Fortschritt, gute Gründe für seine Rat- tungsfähigkeit einzuschätzen. Jemand, dem
vierschüler auch in anderen Bereichen? schläge zu kennen. es mit 70 noch prima geht, wird vielleicht im
Lindenberger: Das ist eine der wichtigsten Lindenberger: Im Übrigen sind viele banale darauffolgenden Jahr dement. Seinem 80-
Fragen: Werden nur Fertigkeiten oder Ratschläge auch schlicht falsch. Viele Hirn- jährigen Nachbarn gelingt aber vielleicht ein
auch Fähigkeiten trainiert? Transferleis- joggingprogramme auf dem Markt wecken bahnbrechender mathematischer Beweis.
tungen sind erstaunlich selten. Wenn überzogene Hoffnungen. Das Ausmaß, in SPIEGEL: Wie also sollte man entscheiden,
überhaupt, findet man sie eher bei denen, dem an ihren Erfolg geglaubt wird, spiegelt ob ein Einzelner noch weiter arbeiten soll?
die ihre Fitness und nicht direkt ihren eher einen fundamentalen Wunsch wider: Lindenberger: Na ja, man könnte sich eine
Kopf trainiert haben: Couch-Potatoes, die Wir wollen das Alter kontrollieren. Wir individuelle Prüfung vorstellen. Beim Füh-
mit dem Laufen beginnen, steigern kogni- möchten diesen Prozess, den wir als bedroh- rerschein gibt es das in einigen Ländern
tive Fähigkeiten, die sonst im Alter nach- lich empfinden, steuern. Noch wissen wir schon, da müssen die Leute ab einem ge-
lassen. Wirksam scheinen auch Kontakte nicht, wie ein erfolgversprechendes Anti- wissen Alter alle zwei Jahre ihre Prüfung
zu anderen Menschen zu sein. In der Ber- Aging-Programm genau aussehen müsste. Es machen. Vielleicht hat eine feste Alters-
liner Altersstudie sind es diejenigen, die gibt einen Spielraum, das Altern zu beein- grenze für alle aber auch Vorteile, die wir
sozial aktiv sind, die geistig länger fit flussen, und den wollen wir verstehen und allzu leicht übersehen: Immerhin erspart
bleiben. erweitern. Sicher ist allerdings: Versprechun- sie einem, öffentlich in den Spiegel der ei-
SPIEGEL: Letztlich sagen Sie also: Tu was, gen wie „regelmäßiges Hirnjogging verhin- genen Hinfälligkeit blicken zu müssen.
halt dich fit, geh unter Leute! Sind das SPIEGEL: Herr Kempermann, Herr Linden-
nicht recht banale Ratschläge? * Mit den Redakteuren Johann Grolle und Katja Thimm. berger, wir danken für dieses Gespräch.
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