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Historiographie in der Antike

Beihefte zur Zeitschrift für die


alttestamentliche Wissenschaft

Herausgegeben von
John Barton · Reinhard G. Kratz
Choon-Leong Seow · Markus Witte

Band 373


Walter de Gruyter · Berlin · New York
Historiographie in der Antike

Herausgegeben von
Klaus-Peter Adam


Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-018890-5
ISSN 0934-2575

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Printed in Germany
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort

Zeugnisse antiker Historiographie hat die Forschung nicht nur in


Griechenland seit Herodot aufgefunden, sondern, um nur einige zu
nennen, im Alten Testament, in der ägyptischen Königsnovelle, in
historischen Omina und Königsinschriften aus Mesopotamien und
hethitischen Vertragstexten. Diese Geschichtsüberlieferungen waren
Gegenstand eines Gesprächs der Altertumswissenschaften zu Kultur-
räumen des zweiten und besonders des ersten vorchristlichen Jahr-
tausends, das vom 3. bis 4. Juni 2005 an der Philipps-Universität Mar-
burg stattfand.
Aus der Sicht der alttestamentlichen Wissenschaft schließt dieses
Anliegen an den Impuls zum Verständnis antiker Historiographie vor
einhundert Jahren an. Die Eigenart alttestamentlicher Geschichtskon-
zeptionen bestimmte der Historiker Eduard Meyer besonders im Ver-
hältnis zur griechischen Geschichtsschreibung. Er kam zu dem
Schluss, diese sei aller damals bekannten altorientalischen Geschichts-
schreibung überlegen und finde ihr Analogon einzig im griechischen
Kulturraum. Diese Verhältnisbestimmung muss allein deshalb revi-
diert werden, weil sie ein für alle Kulturen als gültig erachtetes Ent-
wicklungsmodell der Geschichtsschreibung zugrunde legen will, das
als kulturgeschichtliche Wertung den sachadäquaten Blick auf die
Zeugnisse antiker Nachbarkulturen verstellt. Seit langem hat sich
aber nicht nur im Bereich der Literargeschichte biblischer Geschichts-
erzählungen, auf die sich Meyer hier bezieht, vieles verschoben. Seine
fruchtbare prototypische Verhältnisbestimmung bedarf aktueller in-
terdisziplinärer Reformulierung. Die hier abgedruckten, teils chrono-
logisch angeordneten Beiträge verlassen daher zumeist den engen
Rahmen eines Vergleiches griechischer mit altisraelitischer Historio-
graphie. Zunächst behandeln Rosel Pientka-Hinz und Jörg Klinger die
Geschichtsüberlieferung aus dem 2. Jahrtausend aus dem altbabyloni-
schen und hethitischen Kulturraum. Ihnen folgen Hans-Ulrich Wie-
mers Reflexionen der griechischen Geschichtssicht des Thukydides
und Rainer Thiels Darstellung der homerischen Frage. An diese
schließen die Überlegungen zur erzählenden biblischen Geschichts-
schreibung von Erhard Blum und Klaus-Peter Adam an. Der Periodi-
VI Klaus-Peter Adam

sierung durch die antike und moderne Geschichtsschreibung in der


Ägyptologie widmet sich Thomas Schneider.
Unabhängig von ihrer Anordnung in diesem Band reflektieren al-
le Beiträge das Geschichtsverständnis aus ihrer jeweiligen Fachper-
spektive unter zwei zentralen Blickwinkeln. Sie überprüfen einerseits
den Einsatz bzw. die explizite Reflexion von Formen und Kompositi-
onsprinzipien historiographischer Werke, sowie Konventionen und
„Prinzipien“ des Anwachsens bzw. redaktioneller Erweiterungen, die
als solche Verfassern oder Redaktoren nicht bewusst gewesen sein
mussten. Wie weit der Bogen dieser Untersuchungen zu Formen und
Kompositionsprinzipien reicht, zeigt der Überblick über die Formen-
vielfalt geschichtlicher Überlieferungen der hethitischen Keilschrift-
überlieferung des zweiten Jahrtausends anhand vieler Beispiele (Jörg
Klinger) im Vergleich zur expliziten Reflexion einer bestimmten ge-
wählten Form der Geschichtsdarstellung des Thukydides im fünften
Jahrhundert. Dessen Methodenreflexion stellt Hans-Ulrich Wiemer
eindrücklich dar. Wie sehr die jeweiligen Überlieferungsbedingungen
die Kompositionsformen prägen können, wird im Übergang zwischen
der oralen Vermittlung und der schriftlichen Fassung deutlich. Deren
Bedeutung für die Entstehungsbedingungen griechischer Epik und
ihrer Formen geht Rainer Thiel nach. Auch das formale Kennzeichen
der Anonymität der religiös tradierten Prosaliteratur in der Form der
„Sage“ im Alten Testament als ein Spezifikum scheint sich nicht un-
abhängig vom (religiösen) Kontext der Überlieferung herausgebildet
zu haben. In ihrer Anonymität steht diese Form, die Erhard Blum als
Regelfall traditionalen Erzählens versteht, diametral der frühen grie-
chischen Autorenliteratur gegenüber. Innerhalb der Erzählungen
zeigen sich jedoch zugleich formale Parallelen zwischen den Darstel-
lungstechniken und Charakteren der Figuren in den Samuelbüchern
und in der griechischen Tragödie. Ihnen widmet sich der von mir
verfasste Beitrag, der von der grundsätzlichen Berechtigung des Ver-
gleichs von Teilen biblischer Erzählüberlieferung mit Drama und
Epos ausgeht.
Die zweite Reflexionsperspektive galt Funktionszusammenhän-
gen antiker Geschichtsüberlieferungen. Diese weit gefasste Kategorie
bezeichnet Semiotisierungen der Geschichte als Heils- oder Unheils-
geschichte, Verwendungen von Geschichtsüberlieferungen im Zu-
sammenhang mit Rechts- oder Machtansprüchen sowie die Überliefe-
rungen geschichtlicher Vorgänge im Rahmen von Ätiologien.
Semiotisierungen von Geschichte als grundlegendes Phänomen bil-
den den Verständnishintergrund alttestamentlicher Historiographie
als „Heilsgeschichte“ des Volkes Israel mit seinem Gott. Entsprechen-
Vorwort VII

des findet sich auch in altorientalischen und weiteren antiken Kultu-


ren, die ein göttliches Handeln in der Geschichte voraussetzen und in
diesem Sinne Geschichte semiotisieren. Das interdisziplinäre Ge-
spräch ging spezifischen Ausprägungen der Vorstellungen göttlichen
Handelns in der Geschichte, besonders in staatlichem oder königli-
chem Interesse, nach, wie es sich beispielsweise in der Motivation des
̈ammu-rapi von Babylon zur literarischen Produktion zeigt. Seiner
bedeutenden geschichtlichen Stellung bewusst, schrieb er sich, wie
Rosel Pientka-Hinz darlegt, in das kollektive Gedächtnis Babylons ein
in seinen vielfältigen Funktionen als Eroberer, Bauherr, Versorger der
Götter, Bewahrer von Recht und Gerechtigkeit und dem Sonnengott
Šamaš verpflichteter Herrscher. Doch beschränken sich legitimatori-
sche Funktionalisierungen von Geschichtsüberlieferungen nicht auf
Listen, Bauinschriften oder Rechtskodizes. Grundsätzlich kann auch
fiktionale Dichtung, gerade weil sie sich im Kern nicht als fiktional,
sondern als historisch versteht und so verstanden werden will, zu
Legitimationszwecken eingesetzt werden. Jörg Klinger weist auf die
Bedeutung der fiktionalen Elemente in literarisch ausgestalten hethi-
tischen Texte hin. Dass sich zur Funktionalisierung gerade Ur-
sprungsgeschichten über die Herkunft des Volkes eignen, zeigt das
Beispiel der Mose-Exodus-Geschichte, einer judäischen Komposition
des 7. Jhs. (Erhard Blum). In griechischen Epen schlagen sich partiku-
lare Ansprüche späterer Rezipienten in literarisch sekundären Ab-
schnitten nieder, mit denen diese sich genealogisch den großen Ge-
stalten des Trojanischen Krieges zuordneten und so ihren
Herrschafts- oder ihren politischen Führungsanspruch legitimierten
(Rainer Thiel). Von derlei offensichtlichen Funktionalisierungen von
Geschichtsüberlieferungen hebt sich die Unabhängigkeit des Histori-
kers Thukydides von den beteiligten Kriegsparteien sowie von ande-
ren Formen herrscherlicher oder religiöser Dominanz ab, wie Hans-
Ulrich Wiemer betont.
Ausgehend von Kompositionsprinzipien und Funktionszusam-
menhängen zeigen sich weitere, hier nur anzudeutende Fragehorizon-
te: Das Verhältnis von Geschichtsbewusstsein zu historiographischer
Tätigkeit; Verfasserfragen; das Selbstverständnis der jeweiligen Texte,
sowie spezifische kulturgeschichtliche Rahmenbedingungen im zwei-
ten bzw. ersten vorchristlichen Jahrtausend; die Problematik von Ka-
tegorisierungen und Periodisierungen der modernen Geschichts-
schreibung, teils auf Grundlage der aus der Antike vorgegebenen
Epocheneinteilungen, wie sie für die Ägyptologie Th. Schneider ex-
emplarisch aufzeigt.
VIII KlausȬPeterȱAdamȱ

DieȱmethodischeȱSpannweiteȱderȱBeiträgeȱzuȱdemȱhierȱeröffnetenȱ
VergleichsfeldȱverdeutlichtȱdieȱunterschiedlicheȱBehandlungȱderȱFraȬ
genȱinȱdenȱEinzelwissenschaften.ȱDiesȱistȱteilsȱdurchȱdieȱuntersuchtenȱ
Quellen,ȱ teilsȱ aberȱ auchȱ durchȱ vorgegebeneȱ Forschungskontexteȱ beȬ
dingt.ȱ Derȱ Versuch,ȱ überȱ dieȱ Methodikȱ derȱ Fachgrenzenȱ hinwegȱ einȱ
Gesprächȱ zurȱ Geschichtsüberlieferungȱ zuȱ führen,ȱ erwiesȱ sichȱ alsȱ beȬ
sondersȱfruchtbarȱfürȱdieȱjeweilsȱeigenenȱArbeitsweisenȱundȱFragehoȬ
rizonte.ȱWennȱdenȱLesernȱdasȱPotentialȱdieserȱDebatteȱumȱdieȱantikeȱ
Geschichtsschreibungȱ deutlichȱ wird,ȱ hatȱ dieȱ Zusammenstellungȱ einȱ
wichtigesȱZielȱerreicht.ȱȱ
ȱ
Fürȱ dieȱ eingereichtenȱ Beiträgeȱ undȱ dieȱ Diskussionȱ dankeȱ ichȱ besonȬ
dersȱdenȱAutoren;ȱdarüberȱhinausȱfürȱdieȱMithilfeȱbeiȱderȱKonzeptionȱ
HansȬUlrichȱ Wiemer;ȱ fürȱ dieȱ Finanzierungȱ derȱ Tagungȱ sowieȱ einesȱ
Teilsȱ derȱ Druckkostenȱ derȱ FritzȬThyssenȬStiftung.ȱ Beiȱ derȱ VorbereiȬ
tungȱundȱDurchführungȱhalfenȱdieȱStudierendenȱDominikȱBeckerȱundȱ
Lenaȱ Schrader;ȱ Florianȱ Krüpeȱ erstellteȱ dieȱ Druckvorlage.ȱ Denȱ HerȬ
ausgebernȱ derȱ Beihefteȱ derȱ ZAW,ȱ Johnȱ Barton,ȱ Reinhardȱ G.ȱ Kratz,ȱ
ChoonȬLeongȱSeowȱundȱMarkusȱWitteȱdankeȱichȱfürȱdieȱAufnahmeȱinȱ
dieserȱ Reihe,ȱ Monikaȱ Müller,ȱ Sabineȱ Krämerȱ undȱ Sabinaȱ Dabrowskiȱ
fürȱdieȱBetreuungȱbeimȱVerlag.ȱȱ
ȱ
ȱ
Marburg/BremenȱimȱNovemberȱ2007ȱȱ KlausȬPeterȱAdamȱ
ȱ
ȱ
Inhaltsverzeichnis

Vorwort ....................................................................................................... V

Rosel Pientka-Hinz
Midlifecrisis und Angst vor dem Vergessen?
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon ................... 1

Jörg Klinger
Geschichte oder Geschichten – zum literarischen Charakter
der hethitischen Historiographie ............................................................. 27

Hans-Ulrich Wiemer
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit .................. 49

Rainer Thiel
Die homerische Frage: Modelle der Entstehung
literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung .............................. 89

Erhard Blum
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen
des Alten Testaments ................................................................................ 107

Klaus-Peter Adam
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den
Samuelbüchern (1Samuel 31, 2Samuel 1; 11; 18) ................................... 131

Thomas Schneider
Periodizing Egyptian History:
Manetho, Convention, and Beyond ........................................................ 181
X Inhaltsverzeichnis

Index ............................................................................................................ 197


Namen und Sachen................................................................................... 197
Ortsindex .................................................................................................... 205
Moderne Namen ....................................................................................... 207

Zu den Autoren .......................................................................................... 209


Midlifecrisis und Angst vor dem Vergessen? Zur
Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon

Rosel Pientka-Hinz

im-ma-ti-ma ni-ip-pu-šá bëta


im-ma-ti-ma ni-qan-n[a-n] u qin-nu
im-ma-ti-ma aˀˀīmeš i-zu-uz-[zu] (zitta)
im-ma-ti-ma ze-ru-tu(m) i(b)-ba(-áš)-ši ina x-x
im-ma-ti-ma nÁru iš-šá(-a/-am-ma) mëla/mi-la/mi-lu ub-lu/lu4
ku-li-li-qé-lép-pa-a/lep-pe ina nÁri
pa-nu-šá/šú i-na-at-ta-la/lu pa-an/ni dŠamšiši
ul-tu ul-la-nu-um-ma ul i-ba-áš-ši mim-ma

„Irgendwann erbauen wir1 ein Haus,


irgendwann gründen wir eine Familie,2
irgendwann teilen die Brüder (den Erbanteil),
irgendwann entsteht Haß ...3
Schon immer4 stieg der Fluß an (und) brachte die Flut,

1 Variante: ip-pu-uš „erbaut er”.


2 Wörtl.: „irgendwann nisten wir in einem Nest“ (Lokativ-Adverbialis).
3 Eine für diese Zeile grundsätzlich negative Konnotation wird durch das Haß-Motiv
vermittelt. Die von A.R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Cri-
tical Edition and Cuneiform Texts, Oxford 2003, 696:311, vorgeschlagene Ergänzung
„im Lande“ (ina mÁtim) erscheint mir aufgrund der Zeichenreste problematisch
(ebenso die Variante: [ina] ma-r[u-tú?]/ma-t[im!?]). Grundsätzlich ist wohl von einer
Fortsetzung der Thematik von Familiengründung und -zerfall auszugehen; so auch
George, Babylonian Gilgamesh Epic, 875.
4 Da jeder Satz mit der Wendung immatÎma beginnt, ist der Tempuswechsel in dieser
Zeile von bisherigem Präsens zu Präteritum um so auffälliger. Eine Verlagerung der
Anzeige von einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft auf einen solchen in der
Vergangenheit – und eine damit einhergehende Kontrastierung der beiden Aussa-
gen – erscheint sinnvoll; vgl. AHw. II 632 matÎ/¾ma, immatÎ/¾ma „1) irgendwann, 2)
2 Rosel Pientka-Hinz

(dennoch) wird die Eintagsfliege (wieder) auf dem Fluß hinabtreiben,


ihr Gesicht das Antlitz des Šamaš betrachten
(d.h. sich ihm zuwenden)5 – gleich danach ist nichts mehr davon da!“
(Gilgameš, 12-Tafel-Epos Taf. X 308-315)6

Mit diesen Worten beschreibt Ut-napištim in seiner langen Rede über


den Sinn des Lebens und die menschliche Sterblichkeit das vergebliche
Streben der Menschen nach beständigem Glück und Reichtum. Dabei
wird dem ewigen Kreislauf von Familiengründung und -zerfall das
Schicksal der Eintagsfliegen gegenübergestellt, welche zur Zeit der
Frühjahrsflut in Massen auf den Flüssen treibend zu beobachten sind
und damit zu einem mesopotamischen Symbol der Vergänglichkeit
avancierten.7 Bedeutsam ist m.E. der hier beschriebene Kontrast zwi-
schen der inneren Einstellung der Menschen und derjenigen der Ein-
tagsfliege gegenüber dem bevorstehenden Tod:8 Will der Mensch (und
so auch Gilgameš) seine Sterblichkeit nicht akzeptieren, vielmehr vor
dem Hintergrund seiner sozialen Einbindung, die doch nicht von Dau-
er ist, ja sogar in Haß umschlagen kann, verdrängen, so gibt sich die
Eintagsfliege immer wieder kampflos dem gleichen Todesschicksal hin.
Am Ende ihres kurzen Lebens, in dem sie nichts besitzt, wendet sie sich
dem Sonnengott zu, vielleicht auch um ihm zu huldigen, schaut mit
ihren auffällig großen Facettenaugen in sein Antlitz,9 welches oftmals

immer a) in Vergang“. Vgl. auch die Diskussion bei George, Babylonian Gilgamesh
Epic (wie Anm. 3), 875.
5 Im Sinne von „aufmerksam, ergeben ansehen“; vgl. CAD N/1 123 natÁlu 2., beson-
ders a) 2’. Vgl. auch CAD A/II 21 amÁru A 5 panī „to see personally, to visit – a) re-
ferring to gods”, sowie das Beschwörungsritual an Ištar bei W. Farber, Beschwö-
rungsrituale an Ištar und Dumuzi, Wiesbaden 1977, 146f.:105: anˀu šīnuˀu Átamar
panëki „begebe mich hiermit müde, ermattet vor dich“. Die Hinwendung zur Gott-
heit geschieht demnach durch Betrachtung ihres Gesichtes, was zudem eine gehor-
same Haltung impliziert; vgl. dazu AHw. I 149 dagÁlu(m) „8) pÁnë d. (er)warten, b)
gehorchen”, sowie W.R. Mayer, Zum Pseudo-Lokativadverbialis im Jungbabyloni-
schen, Or. 65 (1996) 429:b).
6 Vgl. George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie Anm. 3), 696f.
7 Die äußerst kurzlebigen Eintagsfliegen (Ephemeroptera), die ihre Eier in fließenden
Gewässern ablegen und häufig in großen Schwärmen sowohl in der Luft bei der
Paarung als auch an der Wasseroberfläche nach der letzten Häutung der Larven auf-
treten, werden wohl aus diesem Grunde im Sumerischen als „Heuschrecke des Flus-
ses“ (buru5-íd-da) bezeichnet. Vgl. auch George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie
Anm. 3), 875f.
8 Hieraus erklärt sich auch das von den bisherigen Interpretationen abweichende
Verständnis der Passage; vgl. George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie Anm. 3), 505
Anm. 217 und 506 mit Anm. 220.
9 Vielleicht darf in diesem Zusammenhang an die überdimensionalen, weit aufgeris-
senen Augen der Beterstatuetten erinnert werden – insbesondere derjenigen aus
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 3

das einzige und letzte sein wird, was sie zu sehen bekommt. Gotterge-
ben vertraut sie auf Šamaš, der „alle Geschöpfe (wörtl.: die mit Leben
versehen sind) in gleicher Weise hütet“10 – Šamaš, den Richtergott,
nicht nur der Lebenden sondern auch der Toten, den Wahrer des
Rechts und der Gerechtigkeit, den Bestimmer des Schicksals, den
Schöpfer von Leben, der auch Leben verlängern kann, den Begleiter der
Einsamen und Gefährdeten, den Erretter in höchster Not.11 Es ist dem-
nach denkbar, daß Ut-napištim quasi als Antwort auf die Vergänglich-
keit des Lebens und der irdischen Güter hier einen Appell zur Hin-
wendung zu Gott intendiert – dem Sonnengott.

Tod und Unsterblichkeit des ̈ammu-rapi von Babylon

Ist die eingangs zitierte Passage aus dem 12-Tafel-Epos des Gilgameš
auch erst nach der altbabylonischen Epoche verfaßt worden, so wußte
̈ammu-rapi von Babylon, einer der bedeutendsten mesopotamischen
Herrscher des 2. Jts. v. Chr., dennoch, nicht zuletzt in Kenntnis der
altbabylonischen Fassung der Gilgameš-Erzählung, um den unab-
wendbaren Tod der Menschen und insbesondere seine eigene sterbli-
che Hülle, denn „nur ein Gott verweilt auf ewig mit dem Sonnen-
gott“.12 In gleichem Maße war ihm aber auch die Überwindung der
dem Menschen durch seine Sterblichkeit auferlegten Grenzen bekannt:

– durch die Weiterexistenz des körperlosen Geistes (etemmum),


– durch das Bewahren eines unsterblichen ruhmvollen Namens
sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form
– und schließlich durch eine Form der „Vergöttlichung“.

Da die Weiterexistenz des körperlosen Geistes eines Menschen allein


durch eine angemessene Totenpflege (kispum) von Seiten der Nach-
kommen garantiert wurde, musste ̈ammu-rapi sich in diesem Punkte

frühdynastischer Zeit; vgl. E.A. Braun-Holzinger, Frühdynastische Beterstatuetten,


Berlin 1977, besonders Tafel 1.
10 Nach der berühmten Šamaš-Hymne bei W.G. Lambert, Babylonian Wisdom Litera-
ture, Oxford 1960, 126f.:25: šu-ut na-piš-ti šak-na mit-ˀa-riš te-re-’e „Whatever has
breath you shepherd without exception“.
11 Vgl. zusammenfassend B. Groneberg, Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf /
Zürich 2004, 209-223.
12 Zur Diskussion dieser Zeile der altbabylonischen Gilgameš-Erzählung und der
entweder im Präteritum oder Präsens zu ergänzenden Verbalform vgl. George, Ba-
bylonian Gilgamesh Epic (wie Anm. 3), 200f.:141 und 211. Für die intendierte Bot-
schaft ist es dabei unerheblich, ob eine Übersetzung „Nur Götter haben sich auf e-
wig beim Sonnengott niedergelassen“ vorgezogen wird.
4 Rosel Pientka-Hinz

ganz auf seine Nachkommenschaft verlassen können. Obwohl wir sei-


nen genauen Todeszeitpunkt kennen – er starb nach einer Krankheit
spätestens am 10. Tag des 5. Monats seines 43. Regierungsjahres13 – ist
erstaunlicherweise nur sehr wenig über seine Familie, seine Ehefrauen
oder Kinder bekannt.14 Gibt es demnach kaum direkte Evidenz für eine
prosperierende Großfamilie um ̈ammu-rapi selbst, deren Existenz
jedoch vorausgesetzt wird, so zeigt ein in den Bereich des königlichen
Ahnenkultes einzuordnender genealogischer Text aus der Zeit Ammi-
s.aduqas von Babylon und somit eines Nachfolgers von ̈ammu-rapi, in
welchem Ausmaß während einer solchen Zeremonie der gesamten
amurritischen Dynastie gedacht wurde.15

Das Bewahren eines unsterblichen Namens konnte nicht nur mittels


der Nachkommen, die in der Totenpflege ihre Ahnen anrufen und da-
mit weiterleben lassen, bewirkt werden. Sowohl in der mündlichen
Tradition durch das Volk, Sänger und Geschichtenerzähler, als auch in
der schriftlichen Tradition durch die Niederschrift auf verschiedensten
Objekten und in diversen Textarten, war das Fortleben des Namens
und damit das seines ursprünglichen Trägers möglich. Um diese For-
men des Weiterlebens zu gewährleisten, musste der eigene Name so
gut wie möglich im Diesseits verankert werden. Die Mechanismen
einer solchen Verewigung – das „Setzen des (eigenen) Namens“ (šumam
šakÁnum) – waren allen mesopotamischen Herrschern durch die Jahr-
tausende wohl bekannt, die Konstituierung ihrer eigenen Unsterblich-
keit ihr höchstes Ziel.16

Die aus dieser Haltung resultierende schriftliche (Gedächtnis-)Über-


lieferung (Inschriften, Hymnen, Jahresdatenformeln), die in gleichem
Maße für die Gegenwart als auch nach Verfügung des Herrschers für
die Nachwelt konzipiert wurde und die vorrangig als Kommunikation
mit kommenden Generationen und nicht als Dokumentation von his-

13 Vgl. D. Charpin, Hammu-rabi de Babylone, Paris 2003, 104, und ders., Histoire
politique du Proche-Orient Amorrite (2002-1595), in: P. Attinger / W. Sallaberger / M.
Wäfler (Hgg.), Mesopotamien. Die altbabylonische Zeit (OBO 160/4), Fribourg / Göt-
tingen 2004, 333; zu altbabylonischen Trauerzeremonien vgl. ders., Hammu-rabi de
Babylone, 114f., und jetzt ders., La mort du roi et le deuil en Mésopotamie paléoba-
bylonienne, in: P. Charvát u.a. (Hgg.), L’État, le pouvoir, les prestations et leurs for-
mes en Mésopotamie ancienne, Prag 2006, 95-108.
14 Vgl. M. van de Mieroop, King Hammurabi of Babylon. A Biography, Oxford 2005,
112, sowie Charpin, Hammurabi (wie Anm. 13), 131ff. und ders., Histoire (wie Anm.
13), 251ff.
15 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 234f. mit Anm. 1190 (mit Literatur).
16 Vgl. nun ausführlich K. Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien
zur Selbsterhaltung (SANTAG 8), Wiesbaden 2005.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 5

torischen Daten verstanden werden sollte, ist als Zeugnis „für das
Selbstverständnis altorientalischer Herrscher, ihre Legitimation, ihr
Verhältnis zu den Göttern, aber auch zu den Untertanen und für das
Konzept von Königtum überhaupt“17 zu bewerten. Die somit in könig-
lichem Auftrag niedergeschriebenen „historischen Quellen“ sind
demnach auch grundsätzlich verschieden von der Geschichtsschrei-
bung der klassischen Antike, die dort zeitgenössischen „Historikern“
zukam.18 Das altorientalische Konzept der Ewigkeit, eng verbunden
mit einem Wahrheitsbegriff (kittum), der das Beständige und Unabän-
derliche als festgelegte Normen der altorientalischen Gesellschaft ver-
steht und dessen Umsetzung Privileg und Pflicht eines jeden dazu von
Gott beauftragten mesopotamischen Herrschers war,19 läßt wenig
Raum für eine „Historiographie“ nach unserem modernen Ge-
schichtsverständnis.
Nichtsdestotrotz lebte das Andenken ̈ammu-rapis von Babylon,
im Gegensatz zu vielen anderen mesopotamischen Herrschern, noch
lange Zeit fort. Als „König der Gerechtigkeit“ ging er in die Geschichte
ein und ist als solcher noch heute vielen ein Begriff. Im folgenden sol-
len auf der einen Seite die Bemühungen ̈ammu-rapis zur Fortfüh-
rung seiner Existenz über den physischen Tod hinaus skizziert und
auf der anderen Seite sein Nachleben und damit das Ergebnis dieser
Bemühungen nebeneinandergestellt werden.

̈ammu-rapi als Herrscher und Eroberer

Zu Beginn seiner Regierungszeit herrschte ̈ammu-rapi, „König von


Babylon“, über ein kleines Königreich, das sich neben der Hauptstadt
von Sippar im Norden, über Kiš im Osten und Borsippa und Dilbat im
Süden erstreckte. Neben kleineren Eroberungen im ersten Drittel sei-
ner Herrschaft und ständigen Verhandlungen mit ZimrÎ-LÎm, dem
König von Mari, gelang ̈ammu-rapi in seinem 29. Regierungsjahr als
Kopf einer anti-elamischen Allianz der entscheidende Sieg über die
elamische Invasion, dem weitere militärische Höchstleistungen folg-
ten. Sein Triumph über RÎm-Sîn von Larsa in seinem 30. Regierungs-
jahr verhalf ihm zu enormer Macht und Reichtum, konnte er doch

17 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 4.


18 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 158f. Hinzu kommt eine Vermi-
schung der Wirklichkeiten, a.a.O. 25: „Die Annahme einer Opposition zwischen
‚Mythos’ (Fiktion; wertbesetzte Zweckhaftigkeit) und ‚Geschichte’ (Realität; zweck-
freie Objektivität) ist für das altorientalische Weltbild irrelevant. (...) Durch die
schriftliche Niederlegung seiner Geschichte kam zudem die wirklichkeitsschaffende
Kraft des geschriebenen Wortes zum Tragen: Was aufgeschrieben wurde, war real.“
19 Vgl. zuletzt Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 11-15.
6 Rosel Pientka-Hinz

dadurch als „König von Sumer und Akkad“ ganz Südbabylonien sei-
nem Reich einverleiben. Gleich danach weitete er seinen Einfluß auf
die Region des Djebel Sindjar in Nordmesopotamien aus, besiegte den
König von Ešnunna und plünderte schließlich Mari, was ihn in seinem
34. Regierungsjahr zum „König des gesamten amurritischen Volkes“
aufsteigen ließ.20

̈ammu-rapis Reputation als erfolgreicher Kriegsherr muss weit ver-


breitet in aller Munde gewesen sein, die schriftliche Etablierung seines
in dieser Hinsicht ruhmvollen Namens findet sich nicht zuletzt zu die-
sem Zweck in Inschriften und Hymnen, aber vor allem in Jahresdaten-
formeln.21 Denn insbesondere die auf Urkunden festgehaltenen Jahres-
namen dienten dazu, den Ruhm um die Errungenschaften des
Herrschers im ganzen Land zu verbreiten und gerade auch auf der
Verwaltungsebene und im Alltag fortleben zu lassen. Jede einzelne
Urkunde, die mit einem Jahresnamen ̈ammu-rapis datiert wurde, trug
dazu bei, den königlichen Namen zu preisen und seinen Träger un-
sterblich zu machen, auch und insbesondere in den durch Eroberung
annektierten Herrschaftsgebieten, in denen die Kontrolle des neuen
Machthabers möglichst breit zur Schau gestellt werden sollte.22

̈ammu-rapi als Bauherr und Versorger der Götter

Baumaßnahmen an Tempeln, Stadtmauern und Kanälen, die die


Landwirtschaft und Lebensqualität des Landes verbessern und religiö-
se Ansprüche befriedigen konnten, waren neben der Stiftung von
Weihgaben besonders dazu geeignet, dem Herrscher eine positive und
langanhaltende Tradierung seines Namens zu verschaffen.23 So suchte

20 Vgl. zuletzt Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 83ff., insbesondere 109f. zu der an
die politischen Umstände gebundenen Wahl der Herrscherepitheta sowie ders., Hi-
stoire (wie Anm. 13), 233f. und 317ff.
21 Vgl. D. Frayne, Old Babylonian Period (2003–1595 BC) (RIME 4), Toronto 1990, 332-
371 insbesondere Nr. 4-6; N. Wasserman, CT 21, 40-42 – A Bilingual Report of an
Oracle with a Royal Hymn of Hammurabi, RA 86, 1-18, bes. 5f.; M.J.A. Horsnell, The
Year-Names of the First Dynasty of Babylon, Hamilton 1999, Vol 2, 105-174: Jahr 7,
10-11, 30-33, 35, 37-39.
22 Vgl. auch Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 112: „Deutlich ist aber, daß
Jahresnamen nicht als unabhängige Bestätigung des Inhalts einer Königshymne oder
auch einer Bauinschrift (...) gesehen werden können: Bei allen Unterschieden im
Kontext und in der Anwendung dieser drei Textgattungen ist ihre Aussage durch
die Aufgabe determiniert, den königlichen Namen im Verbund mit der Verherrli-
chung seiner Person und seiner Taten zu bewahren.“
23 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), bes. 97 und Charpin, Histoire (wie
Anm. 13), 247f.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 7

̈ammu-rapi auch intensiv auf diese Weise die Wertschätzung der


Götter und des Volkes, heißt es doch in seiner anläßlich des Mauerbaus
von Sippar formulierten Bauinschrift:

„Für mein Leben werden sie (die Einwohner Sippars) gewiß beten. Was
Šamaš, meinen Herrn, und Aja, meine Herrin, erfreut, habe ich wirklich ge-
tan. Meinen guten Namen tagtäglich gleich (dem eines) Gott(es) anzurufen,
so daß er auf ewig nicht vergessen werde, habe ich wahrlich in den Mund
der Menschen gesetzt.“24

Demnach berichten ̈ammu-rapis Inschriften und Jahresdatenformeln


in abwechselnder Reihung von Baumaßnahmen an Tempeln,25 Mau-
ern26 und Festungen,27 der Errichtung eines Speichers28, von Kanalarbei-
ten29 sowie der Stiftung von Thronen30, Kultsockeln31, einem Posta-
ment32, einem goldenen Emblem33, Musikinstrumenten34, Schmuck35
und Sonstigem36, sowie Statuen37 – auch solchen, die den Herrscher
selbst in Ausübung seiner Pflichten darstellen.38
Als ein besonders mächtiges Medium für die Selbsterhaltung ist
dabei die Vergabe des eigenen Namens als Bestandteil einer erbauten
Festung oder eines gegrabenen Kanals hervorzuheben. Kanäle namens
„̈ammu-rapi ist Fülle“39 oder „̈ammu-rapi ist die Fülle der Men-
schen“40 sowie der – sicherlich auch apotropäische – Name der Stadt-

24 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 333-336 Nr. 2:70-81.
25 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 8, 9, 11, 13-17 und Horsnell,
Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 28, 34, 36 und 40.
26 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 1, 2 und 12 und Horsnell,
Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 4, 8, 19, 21, 23, 25, 42 und 43.
27 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 7 und Horsnell, Year-Names
(wie Anm. 21), Jahr 42.
28 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 3.
29 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 1 und 7 und Horsnell, Year-
Names (wie Anm. 21), Jahr 9, 23, 24, 33 und 43.
30 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 3, 12, 14, 16, 18 und 20.
31 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 6 und 13.
32 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 26.
33 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 27.
34 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21) Nr. 11.
35 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 41.
36 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 5.
37 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 15, 17, 22 und 29.
38 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 273ff. und B. André-Salvini, Le Code de
Hammurabi, Paris 2003, 20f.
39 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 9.
40 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 33 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 7.
8 Rosel Pientka-Hinz

mauer von Sippar „Auf Geheiß des Gottes Šamaš möge ̈ammu-rapi
keinen Gegner haben!“41 gedenken der Rolle des Herrschers als Stifter
von Zivilisation und Wohlstand.42 Wenn ̈ammu-rapi nun die Gele-
genheit einer solchen Namensvergabe nutzte, um auch seinem Vater
Sîn-muballit mit der Errichtung von Dīr-Sîn-muballit-abim-wÁlidëja –
„Festung des Sîn-muballit, des Vaters, der mich gezeugt hat“43 – ein
Denkmal zu setzen, ist dies ein bis dato unübliches und damit auffälli-
ges Vorgehen.44

̈ammu-rapi als Bewahrer von Recht und Ordnung

Gegen Ende seiner 42-jährigen Regierungszeit gibt der altehrwürdige


̈ammu-rapi von Babylon in Prolog und Epilog seiner berühmten dem
nach ihm benannten Gesetzessammlung Kodex ̈ammu-rapi45 eine
eindrucksvolle Selbsteinschätzung seiner überragenden Herrschaft. Der
sogenannte Prolog hebt zunächst die göttliche Berufung ̈ammu-rapis
zum Herrscher über die Menschen, seine Rolle als Beschützer der
Schwachen und Machtlosen sowie seine Sorge um die kultischen Be-
lange der zahlreichen Städte seines Königtums hervor; dabei liegt die
Betonung auf dem göttlichen Auftrag, den der Herrscher zu erfüllen
hat.46

„(...) damals haben mich die Götter Anu und Enlil, um es den Menschen
gut gehen zu lassen, bei meinem Namen „̈ammu-rapi, frommer Fürst,
Gottesfürchtiger“ benannt, um Gerechtigkeit im Land zu verwirklichen,
um den Bösen und Schlechten zu vernichten, um den Starken davon abzu-
halten, den Schwachen zu unterdrücken, um wie Šamaš über den
‚Schwarzhäuptigen’ aufzugehen und das Land zu erleuchten.

41 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 23 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 2.
42 Vgl. auch Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 38.
43 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 33 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 7 sowie Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 111.
44 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 38 Anm. 214: „Dies passt gut dazu,
daß ̈ammu-r¬pi auch sonst in seinen Inschriften den Namen seines Vaters und sei-
ner Vorfahren im Rahmen seiner Genealogie und in Bezug auf ihre Taten nennt, eine
Verfahrensweise, die im altorientalischen Inschriftenkorpus bis dahin nicht üblich
war (...)“. Vgl. auch Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 111f.
45 So die moderne Bezeichnung; in der damaligen Zeit wurde der Kodex nach seiner
Anfangszeile inu Anum sërum „Als der vorzügliche Gott Anu (...)“ benannt. Zur lite-
rarischen Struktur der Inschrift vgl. ausführlich V.A. Hurowitz, Inu Anum sërum. Lit-
erary Structures in the Non-Juridical Sections of Codex Hammurabi (OPSNKF 15),
Philadelphia 1994.
46 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 17-24.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 9

(...) der Fromme, der zu den großen Göttern inbrünstig Betende, Nach-
komme des Sumulael, mächtiger Erbsohn des Sîn-muballit, ewiger Same
des Königtums, der mächtige König, Sonne von Babylon, die über dem
Land Sumer und Akkad Licht aufgehen läßt, der die vier Weltgegenden
gefügig macht, Günstling der Göttin Ištar (bin) ich.“
(Kodex ̈ammu-rapi I 27-49 und IV 64-V 13)47

̈ammu-rapis Verdienste als Eroberer und Kriegsherr werden nur am


Rande erwähnt, als Teil einer langen Liste von kunstvoll gestalteten
Epitheta, die den Herrscher zu einzelnen Städten und deren Heiligtü-
mern in Beziehung setzen („Piety Register“)48 und vor allem des Königs
weitreichende Gunstbezeugungen und seine Sorge um die Kulte der
lokalen Gottheiten in den Mittelpunkt stellen.
Die eigentliche Gesetzessammlung – eingebettet in einen literari-
schen Rahmen, der am Ende des Prologs beginnt und am Anfang des
Epilogs endet,49 beschreibt schließlich ̈ammu-rapis Erfüllung des
vormals gestellten göttlichen Auftrags.

„(...) legte ich Recht und Gerechtigkeit50 in den Mund des Landes und ließ
es den Menschen gut gehen. (...) (Dies sind) die gerechten Richtersprüche,
die ̈ammu-rapi, der fähige König, festgesetzt hat (…).“
(Kodex ̈ammu-rapi V 20-24 und IV 64-V 13)

Erst im Epilog werden ̈ammu-rapis militärische Erfolge angespro-


chen, wobei der König primär als Friedensstifter gefeiert wird, um
gleich danach zur eigentlichen Thematik des Monuments übergehen zu
können: Die Darstellung ̈ammu-rapis als „König der Gerechtigkeit“,
der Recht und Ordnung im Lande wiederhergestellt hat, ausgewiesen
durch seine Gesetzesstele.51

47 Zur Bearbeitung der Steleninschrift vgl. M.T. Roth, Law Collections from Mesopo-
tamia and Asia Minor, Atlanta, Georgia 1995.
48 Zu dieser Liste, die teils aus theologischen, teils aus geographischen Gesichtspunk-
ten zusammengestellt wurde, vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 71-
89 und Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 334.
49 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 24-30.
50 Zu kittum „Recht“, im Sinne von Garant der öffentlichen Ordnung, und mΚarum
„Recht“, im Sinne von Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit, vgl. Charpin,
Hammu-rabi (wie Anm. 13), 206f. und 209: „l’idéal de la justice se situait aux origi-
nes et toute injustice était fondamentalement conçue comme un désordre.“; ders.,
Histoire (wie Anm. 13), 308.
51 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 30-32.
10 Rosel Pientka-Hinz

„(...) Ich bin ̈ammu-rapi, der vollkommene König. Für die ‚Schwarzhäup-
tigen’, die der Gott Enlil mir geschenkt, deren Hirtenamt der Gott Marduk
mir gegeben hat, war ich nicht nachlässig, legte die Hände nicht in den
Schoß. Sichere Stätten suchte ich ihnen, drückende Drangsal löste ich auf,
Licht ließ ich über ihnen aufgehen. Mit der mächtigen Waffe, die der Gott
Zababa und die Göttin Ištar mir verliehen, mit der Weisheit, die der Gott
Ea mir bestimmt hat, mit der Tüchtigkeit, die der Gott Marduk mir gege-
ben, tilgte ich aus die Feinde oben und unten, löschte ich aus die Kämpfe,
dem Lande zum Wohlgefallen. Die Menschen der Ortschaften ließ ich ru-
hen auf geschützten Wiesen, einen Störenfried ließ ich nicht über sie kom-
men. Die großen Götter haben mich berufen, so bin ich der Hirte, der be-
wahrt, dessen Stab recht ist. Mein guter Schatten ist über meiner Stadt
ausgebreitet, auf meinem Schoß hielt ich die Menschen des Landes Sumer
und Akkad sicher. Sie gediehen unter der Obhut meines Schutzgottes, ich
sorgte für sie in Frieden, ich barg sie in meines Wissens Tiefe. Um vom
Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen, um der Witwe und der
Waise Recht zu verschaffen, habe ich in Babylon, der Stadt, deren Haupt
die Götter Anu und Enlil hoch aufgerichtet haben, in EsaÁila, dem Tempel,
dessen Grundfesten gleich Himmel und Erde ewig stehen, um Recht des
Landes zu richten, Entscheidungen des Landes zu entscheiden und dem
Entrechteten Recht zu verschaffen, meine überaus wertvollen Worte auf
meine Stele geschrieben und vor meiner Statue als ‚König der Gerechtig-
keit’52 aufgestellt. (...)“
(Kodex ̈ammu-rapi XLVII 9-78)

Es folgt ein hymnisches Zwischenstück53 mit anschließendem Gebet für


das Fortbestehen der von ̈ammu-rapi konstituierten Gerechtigkeit
und für ein auf ewig positives Andenken des Königs.54

„Auf Geheiß des Gottes Šamaš, des großen Richters des Himmels und der
Erde, möge meine Gerechtigkeit im Lande verwirklicht werden! Auf das
Wort des Gottes Marduk, meines Herrn, möge mein Relief keinen finden,
der es beseitigt! In EsaÁila, das ich liebe, möge mein Name auf ewig wohl-

52 Sowohl aus grammatikalischen (ina maˀar „vor“) als auch semantischen (salmum
„Abbild“, im Sinne von „Stellvertreter des Dargestellten“ versus narûm „Stele,
Denkmal“ und usurÁtum „Relief“) und schließlich inhaltlichen Erwägungen (Stif-
tung der Statue laut Jahresname 22) kann ̈ammu-rapis Bildnis als „König der Ge-
rechtigkeit“ nicht mit seiner Gesetzesstele identisch sein. Vgl. G. Elsen-Novák /
M. Novák, Der „König der Gerechtigkeit“. Zur Ikonologie und Teleologie des ‚Co-
dex’ ʿammurapi, in: Vorderasiatische Beiträge für Uwe Finkbeiner (BaM 37), Mainz
2006, 131-155, hier: 144f.
53 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 62-65.
54 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 32-37: „This section is very differ-
ent in specific details from the standard Schlussgebete, not interested in stability of
reign, succession, military victory, long life, and material prosperity” (33).
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 11

wollend ausgesprochen werden! Ein zu Unrecht behandelter Mann, der in


einen Rechtsstreit gerät, möge vor meine Statue „König der Gerechtigkeit“
treten und meine beschriftete Stele ausrufen lassen,55 er möge meine wert-
vollen Worte hören und meine Stele ihm den (entsprechenden) Rechtsstreit
aufzeigen! Seine Rechtssache möge er prüfen! Sein Herz möge er aufatmen
lassen und „̈ammu-rapi ist es, der (...) und das Land recht leitete.“ – dies
möge er sagen und vor dem Gott Marduk, meinem Herrn, sowie der Göt-
tin ZarpanÎtu, meiner Herrin, für mich von ganzem Herzen beten! Der
Schutzgott und die Schutzgöttin, die Götter, die EsaÁila betreten, sowie das
Ziegelwerk von EsaÁila mögen meinen Ruf täglich vor dem Gott Marduk,
meinem Herrn, und der Göttin ZarpanÎtu, meiner Herrin, gut machen!“
(Kodex ̈ammu-rapi XLVII 84-XLVIII 58)

Die Inschrift schließt mit Lobpreisungen für den zukünftigen König,


der das von ̈ammu-rapi etablierte Recht zu beachten und vor allem
unverändert fortzuführen weiß, sowie besonders ausführlichen Fluch-
formeln gegen denjenigen, der die Stele selbst oder ihre Gesetze mi-
ßachten, verändern oder sogar zerstören sollte.56
Es ist offensichtlich, daß in ̈ammu-rapis Selbstverständnis die Ge-
rechtigkeit einen herausragenden Platz einnahm. Gehörten Gnadener-
lasse bereits bei Regierungsantritt zum festen Repertoire der altbabylo-
nischen Königsideologie – erlaubten sie doch dem neuen Herrscher,
sich nicht nur bei den annektierten Bevölkerungsteilen eine gewisse
Popularität zu verschaffen –, so gefiel sich ̈ammu-rapi ganz besonders
in seiner Rolle als „gerechter König“, als „guter Hirte“, der sein Volk
auf den rechten Weg leitet. Galt dies doch seit jeher als die anspruchs-
vollste Aufgabe und zugleich als höchstes Gut, dem ein Herrscher sich
widmen konnte.57 Zahlreiche Urkunden und Briefen verdeutlichen
darüber hinaus, in welch starkem Ausmaß sich der König tatsächlich in
rechtliche Auseinandersetzungen einmischte und wie sich seine regula-
tiven Maßnahmen im Alltag auswirkten.58 Die in der 22. Jahresdaten-

55 Andere Übersetzungsversuche, die einen Gtn-Stamm von šasûm „immer wieder


lesen, studieren“ einem nur hier belegten Št-Stamm „sich vorlesen lassen“ vorziehen
(vgl. AHw. III 1196 šasû(m) Gtn 13) und Št), sind m.E. aufgrund der Position, die der
Ratsuchende vor der Statue „König der Gerechtigkeit“ einnehmen musste, die wie-
derum der Gesetzesstele gegenübersteht, abzulehnen. Demnach ist der Fragende
der Königsstatue zugewandt, wobei er in einiger Entfernung von der Gesetzesstele
oder sogar mit dem Rücken zu dieser stehen sollte. Schließlich sei in diesem Zu-
sammenhang auf das unmittelbar anschließende Gebot „und er möge meine wert-
vollen Worte hören!“ hingewiesen.
56 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 37-43.
57 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 205 mit Anm. 1602.
58 Vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 206ff. und ders., Histoire (wie Anm. 13),
305ff. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass der Prototyp
12 Rosel Pientka-Hinz

formel gefeierte Stiftung einer Statue, die den Herrscher als „König der
Gerechtigkeit“ darstellt, fügt sich in dieses Bild.
Im „Kodex ̈ammu-rapi“, in den letzten Jahren der beachtlichen
Karriere des Königs entstanden, kulminieren nun Können, Anspruch
und Hoffnung eines herausragenden Herrschers. Als literarisches Meis-
terwerk vereint die Inschrift auf einzigartige Weise eine Würdigung
der Errungenschaften ̈ammu-rapis und das „Setzen seines Namens“
für alle Ewigkeit.59 Des Königs Anspruch, als gerechter Herrscher in
das Gedenken der Menschen einzugehen, als Herrscher, der in göttli-
chem Auftrag sein Volk recht leitete und die Grundlage für eine ge-
rechte Ordnung auch in der Zukunft schuf, wird vielfältig thematisiert.
̈ammu-rapis direkter Appell an die Nachwelt, seine Worte zu achten
und als Vorbild in Ehren zu halten, bindet noch nachfolgende Herr-
scher an sein Lebenswerk.

̈ammu-rapi und der Sonnengott

̈ammu-rapi betont immer wieder, im Auftrag des Šamaš zu handeln,


dessen Weisheit stellt die eigentliche Quelle der durch den König ver-
wirklichten Gerechtigkeit dar. Folglich unterstreicht die Verherrlichung
̈ammu-rapis als „König der Gerechtigkeit“ eigentlich nur seine Fröm-
migkeit insbesondere dem Sonnengott gegenüber.60 Der ihm von den
höchsten Göttern verliehene Name „̈ammu-rapi, frommer Fürst, Got-
tesfürchtiger“ (s.o.) macht seine Positionierung besonders deutlich. In
diesem Zusammenhang sollte auch die Weihung sowohl der Tochter
als auch der einzigen uns bekannten Schwester ̈ammu-rapis zur nadë-
tum des Šamaš in Sippar herausgestellt werden.61
Mag es auch ein Zufall der Überlieferung sein, daß das einzige uns
erhaltene „Porträt“62 des Königs sich in der auf der Gesetzesstele abge-

des Edikts des Ammi-s.aduqa höchstwahrscheinlich auf die Regierungszeit ̈ammu-


rapis zurückgeht.
59 Zur Entstehungsgeschichte der Steleninschrift, die als Synthese einzelner Inschriften,
Jahresdatenformeln und Hymnen ̈ammu-rapis sowie älterer Gesetzestexte ver-
standen werden muss, vgl. ausführlich Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45).
60 Vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 201ff. und ders., Histoire (wie Anm. 13),
305 mit Anm. 1605. Auch die von Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45)
durchgeführte Textanalyse ergab ein anteilmäßiges Gleichgewicht zwischen Passa-
gen, die ̈ammu-rapis Gottesdienst und solchen, die sein soziales Engagement dar-
stellen: „... show that in portraying the king for gods and posterity, divine service
and social service were considered on an equal part“ (61).
61 Vgl. auch Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 137 und ders., Histoire (wie Anm.
13), 253 mit Anm. 1295 und 258.
62 Dies war kein Porträt in unserem Sinne; vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 275
und 277 mit Anm. 1440, sowie E.A. Braun-Holzinger / E. Frahm, Liebling des Mar-
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 13

bildeten Zweisamkeit von Herrscher und Sonnengott wiederfindet, so


bleiben doch Komposition und Aussage der Szene bemerkenswert.
Ebenso wie die literarische Ausführung der Steleninschrift weist sich
auch dieser bildhafte Teil durch eine bis dahin einzigartige und stilis-
tisch vollendete Komposition aus.63 Das Relief im oberen Drittel der
Stele zeigt ̈ammu-rapi als stehenden Adoranten vor dem in altbaby-
lonischer Zeit nicht allzu häufig abgebildeten thronenden Sonnengott.64
Sowohl die Profildarstellung der Köpfe, die den intensiven Augenkon-
takt der beiden Figuren zuläßt, als auch die Berührung der von Šamaš
in der Hand gehaltenen göttlichen Attribute mit ̈ammu-rapis Arm
stellen ein Novum dieser Zeit dar.65 Die Szene, in der ̈ammu-rapi
aufgrund seiner stehenden Haltung sogar auf den Sonnengott leicht
herabblickt, welcher wiederum mit der zweiten Hand auf den Herr-
scher weist und somit eine von sich ausgehende Aktion in dessen Rich-
tung ausführt, vermittelt dem Betrachter eine eindeutige Botschaft: Es
besteht eine besonders enge Beziehung zwischen Herrscher und Son-
nengott, wobei beide Figuren gleichrangig nebeneinander stehen und
miteinander kommunizieren.66 ̈ammu-rapi huldigt seinem göttlichen

duk – König der Blasphemie. Große babylonische Herrscher in der Sicht der Babylo-
nier und in der Sicht anderer Völker, in: J. Renger (Hg.), Babylon: Focus mesopota-
mischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne (CDOG
2), Saarbrücken 1999, 131-156, hier: 137ff. und André-Salvini, Code de Hammurabi
(wie Anm. 38), 17f.
63 Vgl. jetzt ausführlich Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52),
142: „Das Zusammenspiel der wohldurchdachten, ausgewogenen Harmonie der
Komposition, der plastischen Darstellungsform der kräftig modellierten Figuren
und der diese Plastizität unterstützenden und gleichzeitig sich verselbständigenden
Erscheinungsweise des verwendeten Materials macht im Wesentlichen den ästheti-
schen Reiz der Darstellung auf dem ‚Codex’ ʿammurapi aus. Zur ästhetischen Wir-
kung der Stele im Ganzen gehört auch die Erscheinungsweise der Inschrift, die in
einer archaischen, sehr gleichmäßig ausgebildeten Paläographie und in klar struktu-
rierten Kolumnen angeordnet ist. Selbst ein der Schrift unkundiger Betrachter kann
sich der Anziehungskraft des Schriftfeldes kaum entziehen.“
64 Vgl. Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), 136 mit Anm. 19,
sowie E. Bosshard-Nepustil, Zur Darstellung des Rings in der altorientalischen Iko-
nographie, in: L.D. Morenz / D. Bosshard-Nepustil (Hgg.), Herrscherpräsentation
und Kulturkontakte. Ägypten – Levante – Mesopotamien. Acht Fallstudien (AOAT
304), Münster 2003, 49-79, hier: 66 mit Anm. 96-98.
65 Vergleichbar sind nur die sogenannte „Investitur des ZimrÎ-LÎm“ aus dem Palast
von Mari (die wohl eher in die Zeit des Jảdun-Lëm zu datieren ist, vgl. Charpin, Hi-
stoire [wie Anm. 13], 275 mit Anm. 1423), sowie einige Rollsiegel ebenfalls aus dem
syrischen Raum. Nach A. Otto, Die Entstehung und Entwicklung der Klassisch-
Syrischen Glyptik (UAVA 8), Berlin / New York 2000, 173ff. mit Tafel 35, sind ganz
ähnliche Motive in der offiziellen Ikonographie des Reiches von Samsi-Addu nach-
zuweisen.
66 Vgl. Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), 145: „Die Au-
genhöhe schließlich, die den König auf den Gott hinab sehen läßt, stellt in Verbin-
14 Rosel Pientka-Hinz

Gegenüber, während dieser seine machterfüllten Insignien67 an den


König heranführt, um durch die „Macht der Berührung“68 eine Wei-
tergabe seiner göttlichen Kräfte und damit der Befähigung, ihm auf
Erden ebenbürtig handeln zu können, zu gewährleisten. Ein solcher
sicherlich ritualisierter Energiefluss ist m.E. als Teil des von W. Salla-
berger69 beschriebenen Konzeptes der „Einbindung des Herrschers in
die Götterwelt“ zu betrachten, welches unter bestimmten Vorausset-
zungen (insbesondere in akkadischer und neusumerischer Zeit) als
„Königsvergöttlichung“ verstanden wird. Der zwischen der Men-
schen- und Götterwelt vermittelnde ̈ammu-rapi wird somit in seiner
Funktion als „guter Hirte“ zum Schutzgott,70 laut Steleninschrift zur
„Sonne“ (s.o.), seines Landes71 – und eben dieser Moment der Legiti-
mation und Machtverleihung, der direkte Kontakt zum Sonnengott,
der Eingang in göttliche Sphären und damit ins Reich der Unsterb-
lichkeit ist auf ̈ammu-rapis Denkmal für alle Ewigkeit in hartem
Stein festgehalten.72

dung mit der durch die extreme Glättung des Materials erreichten, geradezu mys-
tisch verklärten, strahlenden Wirkung der Figuren auf subtile Weise eine Über-
höhung ̈ammurapis als Person dar.“
67 Anstelle der gängigen Deutung von Ring und Stab bzw. Griffel (vgl. zuletzt Boss-
hard-Nepustil, Herrscherpräsentation [wie Anm. 64], besonders 58ff.) sollte m.E. für
die hier behandelte Abbildung neben dem schwer zu deutenden Ring für den zwei-
ten Gegenstand die Identifizierung mit einer Fackel – dem Symbol des Šamaš – in
Erwägung gezogen werden. Eine solche goldene Fackel wurde anläßlich eines Gna-
denerlasses (mΚarum), der im Namen des Šamaš bekanntgegeben wurde, feierlich
entzündet; vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 115 und ders., Histoire (wie
Anm. 13), 240.
68 Zur „Macht der Berührung“, die immer einen Austausch zwischen den beiden
Teilhabern und eine daraus resultierende Zustandsveränderung bewirkt, wurden
erste Überlegungen auf der 52e Rencontre in Münster (2006) vorgetragen, deren Pub-
likation an anderer Stelle noch aussteht.
69 Vgl. W. Sallaberger, Ur III-Zeit, in: P. Attinger / M. Wäfler (Hgg.), Mesopotamien.
Akkade-Zeit und Ur III-Zeit (OBO 160/3), Fribourg / Göttingen 1999, 119-390, hier:
152-156.
70 Man beachte die Reduktion der ursprünglich dreiteiligen „Einführungsszene“ auf
König und Gott, bei der für das Medium der „einführenden“ oder „fürbittenden“
Gottheit kein Raum bleibt; vgl. auch Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit
(wie Anm. 52), 146.
71 Vgl. Sallaberger, Ur III-Zeit (wie Anm. 69), 154: „es ist nicht die jeweilige Person, die
Göttlichkeit beansprucht, sondern das Amt des Königs wird in göttlichen Rang er-
hoben und damit der Inhaber dieses Amtes.“
72 Damit möchte ich dem besonders ansprechenden Artikel von Elsen-Novák / Novák,
König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52) noch die „Königsvergöttlichung“ als weitere
Komponente hinzufügen.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 15

Besteht zwar über den juristischen Status der Gesetzessammlung selbst


kein Konsens,73 so ist doch der Gedenkschriftcharakter der Inschrift
insgesamt mittlerweile hinreichend herausgearbeitet worden.74 ̈am-
mu-rapis direkter Appell an die Nachwelt, sein Denkmal – von dem
wir wissen, dass in allen wichtigen Tempeln des Königreiches ein Ex-
emplar zur Schau gestellt wurde,75 in keinerlei Weise zu verändern, es
in Ehren zu halten und dessen Anspruch sogar fortzuführen, unter-
streicht die enorme Bedeutung dieser Stele als mnemotechnisches In-
strument. Der König legt dabei den Hauptakzent seines Schaffens nicht
auf kriegerische oder bauliche Aktivitäten, sondern auf seine Bemü-
hungen um Recht und Gerechtigkeit. Die damit unmittelbar verknüpfte
enge Beziehung zum Sonnengott, die königliche in Wort und Bild zur
Schau gestellte Frömmigkeit und Hinwendung zu Šamaš,76 lässt sich
auch noch in anderen Momenten, besonders gegen Ende seiner Regie-
rungszeit beobachten.

73 Vgl. zusammenfassend M. Stol, Wirtschaft und Gesellschaft in altbabylonischer Zeit,


in: P. Attinger / W. Sallaberger / M. Wäfler (Hgg.), Mesopotamien. Die altbabyloni-
sche Zeit (OBO 160/4), Fribourg / Göttingen 2004, 641-975, hier: 654ff. und Charpin,
Hammu-rabi (wie Anm. 13), 212ff.: „ce texte est à la fois le fruit d’une tradition plu-
riséculaire et le résultat de l’activité judiciaire propre à ce souverain. Le « Code de
Hammu-rabi » est d’abord l’aboutissement d’un processus accumulatif. Il appartient
à un genre littéraire dont il n’est pas la première attestation (…) Ces « Codes » plus
anciens ont manifestement inspiré celui de Hammu-rabi. (…) À partir d’un certain
nombre de cas « traditionnels », les « Codes » pouvaient être accrus par le procédé
de la variation, grâce auquel les verdicts étaient proposés pour des situations qui
constituaient autant de cas de figures, sans jamais épuiser tous les possibles (…) Le
« Code de Hammu-rabi » fut aussi le fruit de l’activité judiciaire du roi (…) En fait, il
n’y eut pas de « réédition mise à jour » du Code de Hammu-rabi: les copies posté-
rieures que nous en possédons sont ne varietur. Sans doute en raison du prestige at-
taché à la figure de Hammu-rabi, on ne jugea pas possible (ou souhaitable) de com-
pléter ce texte, qui resta donc tel quel un monument glorifiant la justice du roi (…)
Le roi devant juger un cas difficile devait avant tout montrer sa sagesse (...) Le Code
était d’une certaine manière un moyen pour le roi de rendre la justice partout et à
tous, comme l’indique l’épilogue (…) Hammu-rabi avait de cette manière trouvé le
moyen d’être disponible pour tous ses sujets, ce qui était une obligation que les
dieux imposaient à tous les souverains (…).“ Vgl. auch ders., Histoire (wie Anm. 63),
313ff.
74 Vgl. zuletzt Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45) zu einer philologisch-
literaturwissenschaftlichen Analyse sowie Elsen-Novák / Novák, König der Gerech-
tigkeit (wie Anm. 52) zu einer stilistisch-ikonologischen Studie des Kodex ̈ammu-
rapi.
75 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 310 mit Anm. 1625.
76 H. Klengel, König ̈ammurapi und der Alltag Babylons, Düsseldorf / Zürich 1991,
180ff., bezeichnet Šamaš als persönlichen Gott ̈ammu-rapis. Vielleicht ist diese
Vorliebe in den amurritischen Wurzeln des Königs zu finden, teilt er doch die Ver-
ehrung des Sonnengottes mit Samsi-Addu und anderen Notablen Nordsyriens; s.
oben Anm. 65.
16 Rosel Pientka-Hinz

So widmete sich der mittlerweile gealterte ̈ammu-rapi am Ende


seiner Herrschaft verstärkt Baumaßnahmen, die dem Sonnengott zur
Ehre gereichten. Seine 42. Jahresdatenformel erwähnt den Bau einer
Festung namens K¬r-Šamaš, im nachfolgenden letzten Jahr des Königs
war es die Verstärkung der Mauer von Sippar,77 das als Residenz des
Sonnengottes galt und ein bevorzugter Aufenthaltsort ̈ammu-rapis
war.78 Vielleicht sah der König seinen Tod kommen und suchte aus
diesem Grunde vermehrt die Nähe des lebens- und trostspendenden
Sonnengottes, der ihm so nahe stand. Ähnlich motiviert könnte ̈am-
mu-rapi in einem seiner letzten Jahre den Unterweltsgott gnädig ge-
stimmt haben wollen, indem er dem Emeslam in Kutha besondere
Pflege angedeihen ließ.79 Vielleicht weisen alle diese Handlungen auf
eine besonders menschliche, von Angst und Hoffnung erfüllte Seite des
„̈ammu-rapi, des frommen Fürsten, des Gottesfürchtigen“ hin.

̈ammurapi zwischen Stammeszugehörigkeit und „Vergöttlichung“

Mit der Eroberung Larsas in seinem 30. Regierungsjahr80 erweiterte


̈ammu-rapi nicht nur sein Herrschaftsgebiet in politischer Hinsicht,
gleichzeitig übernahm er auch die Verantwortung für die Pflege neuer
Kulte und der damit einhergehenden religiösen Vorstellungen. Wird
sein Name wohl auch aus diesem Grunde von nun an gelegentlich mit
dem Gottesdeterminativ geschrieben,81 so können wir doch einen re-
gelmäßigen Gebrauch dieser südbabylonischen Tradition nicht feststel-
len.82 Selbst die wohl anlässlich dieses Ereignisses komponierte und auf
einer Statue festgehaltene Hymne ̈ammu-rapis83 schreibt den Königs-
namen ohne das vergöttlichende Merkmal.

77 Vgl. auch Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 348f. Nr. 12. Die von Char-
pin, Histoire (wie Anm. 13), 332, geäußerte Vermutung, dass der König aufgrund ei-
ner Hochwasserbedrohung zu solchen Maßnahmen gezwungen war, muss einer
hier angenommenen Bevorzugung des Sonnengottes nicht widersprechen.
78 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 266 mit Anm. 1373.
79 Laut seiner 40. Jahresdatenformel; vgl. auch die lange Inschrift bei Frayne, Old
Babylonian Period (wie Anm. 21), 345ff. Nr. 11.
80 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 317ff. und Van de Mieroop, King Hammurabi
(wie Anm. 14), 31ff.
81 Vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 121.
82 Zu den wenigen greifbaren Hinweisen auf eine Art der Königsvergöttlichung noch
in altbabylonischer Zeit vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 238 mit Anm. 1205f.
83 Vgl. Wasserman, Bilingual Report (wie Anm. 21), 17: „Since this conquest (…) had a
crucial role in the future of Hammurabi’s expansion, it is not surprising that there
was propagandistic and ideological motivation to commemorate it on a royal
statue.” Vgl. auch Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 323 mit Anm. 1681.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 17

Dennoch finden sich immer wieder Hinweise darauf, daß ̈ammu-


rapi sein Handeln durchaus als göttlich legtimiert begriff. Als wolle sie
das fehlende Gottesdeterminativ dadurch ersetzen, betitelt der erhalte-
ne Anfang einer ebenfalls spät zu datierenden Inschrift den König als
Gott: „Ich, ̈ammu-rapi, Gott seines Landes (...)“.84 In gleicher Weise
erhob sich der König auf seiner Gesetzesstele zum lichtspendenden
„Sonnengott von Babylon”.85
Diese Mittlerrolle des Königs setzt auch eine Weihinschrift voraus,
aus der hervorgeht, dass ein Untergebener aus Larsa eine kostbare
Beterstatuette „für das Leben“ ̈ammu-rapis weiht,86 als Zeugnis einer
Fürbitte für den König, um an der göttlichen Gabe teilhaben zu kön-
nen.87 Weiterhin trugen besonders loyale Mitglieder aus der Umge-
bung des Herrschers zuweilen so aussagekräftige Namen wie ʿammu-
rapi-muballit „̈ammu-rapi ist derjenige, der am Leben erhält!“, ʿam-
mu-rapi-bÁni „̈ammu-rapi ist Schöpfer!“ oder gar ʿammu-rapi-Šamšë
„̈ammu-rapi ist meine Sonne!“ – Namen, in denen der Königsname
ein üblicherweise theophores Element ersetzt.88 Solche Tendenzen
lassen sich in der Folge auch in Zeiten seiner direkten Nachfolger beo-
bachten und man darf sie als Zeichen seiner Popularität auch in ande-
ren Personenkreisen interpretieren. Neben „̈ammu-rapi, der des Ver-
trauens“ ist insbesondere „̈ammu-rapi ist mein Gott“ spektakulär.89
Aus der Wahl der Königstitulatur wird darüber hinaus die Kom-
plexität des Problems, mit dem sich ̈ammu-rapi insbesondere nach
der Eroberung Larsas und damit des sumerisch geprägten Südens
konfrontiert sah, deutlich. Auf der einen Seite stand der König ganz in
seiner amurritischen Herrschaftslinie, pflegte und ehrte das Gedächt-
nis seiner Vorfahren und damit seine eigene Stammeszugehörigkeit

84 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 344 Nr. 10:1.
85 Vgl. auch Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 93f.: „Furthermore, in two
cases the word LUGAL is not paralleled as expected by šarrum but has been sup-
planted by the words Šamšu and mušÓsi nīrim. By doing so, Codex Hammurabi has
introduced some parallelism, thereby elevating the style of the passage. At the same
time, he has compared Hammurabi with Šamaš, god of justice.”
86 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21) 360 Nr. 2002, sowie Charpin,
Histoire (wie Anm. 13), 242f. mit Anm. 1235f. und André-Salvini, Code de Hammu-
rabi (wie Anm. 38), 19.
87 Vgl. Sallaberger, Ur-III Zeit (wie Anm. 69), 153. Vgl. weitere kurze Weihinschriften
bei Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 361f. Nr. 2003 und 2004.
88 Vgl. Klengel, ̈ammu-rapi (wie Anm. 76), Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13),
142f. und ders., Histoire (wie Anm. 13), 261, sowie Sallaberger, Ur III-Zeit (wie Anm.
69), 154.
89 Vgl. Klengel, ̈ammu-rapi (wie Anm. 76) und Hurowitz, Literary Structures (wie
Anm. 45), 518f. mit Anm. 49.
18 Rosel Pientka-Hinz

wie kein anderer,90 auf der anderen Seite betonte er seine göttliche
Erwählung als neuer Herrscher über das Reich von Larsa, bzw. wo-
möglich sogar als ein zu ihnen aufgestiegener Herrscher.
Vielleicht sollten Inhalt und Erscheinung seiner Gesetzesstele in
eben diesem Licht betrachtet werden. Als amurritischer König konnte
̈ammu-rapi nicht explizit als Gott auftreten, wenn auch von den Göt-
tern legitimiert und mit göttlicher Macht versehen.91 Als Nachfolger
eines RÎm-Sîn von Larsa, der der Königsvergöttlichung wieder einen
hervorragenden Platz in seinem Herrschaftsprogramm zugewiesen
hatte,92 musste ̈ammu-rapi aber auch einer bestimmten Königsideo-
logie Folge leisten, wollte er das neu hinzugewonnene Volk seiner
Regierung auf Dauer und in Frieden unterstellen. Somit könnte sein in
Wort und Bild sorgfältig durchstrukturiertes Denkmal, welches zwei-
fellos zur Reglementierung und Stabilisierung des neuen Reiches bei-
tragen sollte, auch als Synthese seiner Bemühungen verstanden wer-
den, allen diesen an ihn gestellten ideologischen Ansprüchen gerecht
zu werden. Eine solche Annahme würde die erwähnte Zurückhaltung
der vergöttlichten Überhöhung ̈ammu-rapis erklären, aber auch die
besondere Stellung und auffällige Einzigartigkeit der Gesetzesstele.
War ̈ammu-rapi doch der erste amurritische Herrscher, der sowohl
Nord- als auch Südbabylonien vereinen konnte und die Verbindung
zwischen diesen beiden Kulturbereichen herstellen musste.93
Schließlich darf über die noch von dem sterbenden ̈ammu-rapi
selbst getroffene Wahl seines Nachfolgers94 spekuliert werden. Mögli-
cherweise verlief diese ganz in dem gerade beschriebenen Sinne. Es
fällt auf, dass die beiden hinlänglich bekannten Söhne SĀmĀ-ditana
und Mutu-Numảa,95 in der Sprachwahl ganz in der dynastischen
Kontinuität gehalten,96 nicht dem Vater auf den Thron folgten, son-
dern ein Sohn namens Samsu-iluna, über dessen Jugend absolut nichts

90 S. oben Anm. 44.


91 Dabei ist nicht das grundsätzliche Problem des Widerspruchs zwischen dynastischer
Herrscherabfolge und göttlicher Legitimation gemeint (vgl. dazu Charpin, Hammu-
rabi [wie Anm. 13], 234f.), sondern das in Larsa noch vorherrschende Konzept der
„Königsvergöttlichung“.
92 Vgl. zuletzt R. Pientka-Hinz, „Rim-Sîn I. und II.“, Reallexikon der Assyriologie und
Vorderasiatischen Archäologie Band 11 (2007), 367-371, hier: 370.
93 Zu den administrativen Herausforderungen, die die Etablierung eines neuen Kalen-
ders und einer neuen Rechtsgültigkeit, das Proklamieren eines Gnadenerlasses so-
wie die Einteilung in zwei Provinzen betrafen, vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13),
323f. und Stol, Wirtschaft (wie Anm. 73), 698f. und 735ff.
94 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 269 mit Anm. 1390 und 333, und nun auch
K.R. Veenhof, Letters in the Louvre (AbB 14), Leiden / Boston 2005, 121:130.
95 Vgl. oben Anm. 14.
96 Vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 135.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 19

bekannt ist.97 Erst mit dem Tage seiner Thronbesteigung erfahren wir
von ihm. Darf man hier die Vergabe eines der nicht allzu häufig nach-
zuweisenden Thronnamen vermuten, in der durchaus amurritischen
Wortwahl dennoch dem einen Gott huldigend, der sowohl in Sippar
als auch im Haupttempel von Larsa residierte und den ̈ammu-rapi
am Ende seines Lebens so sehr verehrt hat? Dann könnte auch dies als
letzte Maßnahme des scheidenden Königs gewertet werden, der Ver-
einigung seiner beiden Reiche noch für die Zukunft Stabilität zu ver-
leihen, indem er den Sonnengott zum Symbol der geeinten Reiche
erhob – ausgedrückt im Thronnamen seines Sohnes und neuen Herr-
schers: „der Sonnengott ist unser (gemeinsamer) Gott!“

̈ammu-rapis Weiterleben

Wenn 1000 Jahre eine kleine Ewigkeit darstellen, dann können ̈am-
mu-rapis Ambitionen, seinen guten Namen auf ewig in den Mund der
Menschen legen zu wollen, rückblickend als Erfolg bewertet werden.
̈ammu-rapi konnte erreichen, Teil der mesopotamischen Erinne-
rungskultur zu werden, wobei insbesondere der Rezeption seiner Ste-
leninschrift eine Schlüsselrolle zukam.98
Der Kodex mitsamt seinem Prolog und Epilog wurde viele Genera-
tionen lang abgeschrieben, ja regelrecht studiert. Wir kennen Dutzende
Duplikate und Auszüge des Textes, aber auch Kommentare, Katalog-
einträge und zweisprachige Versionen. Bereits in der altbabylonischen
Zeit finden sich Abschriften bestimmter Kapitel des Gesetzesteils, die
man zusätzlich mit strukturierenden Überschriften versah. Zudem
fertigte man schon bald sumerische Übersetzungen an. Die in der Re-
gierungszeit der unmittelbaren Nachfolger ̈ammu-rapis verfassten
Edikte könnten durchaus als Reflex auf die gesetzgeberische Tätigkeit
eines vorbildlichen Königs verstanden werden – sozusagen als literari-
sche Antwort mit ideologischem Anspruch. Noch tausend Jahre später
kopierte man den Gesetzestext, wie ein spätbabylonisches Manuskript
bezeugt, welches ursprünglich 14 Tafeln umfasst haben soll.

97 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 336 mit Anm. 1749. So wurde darüber speku-
liert, ob der angeblich ältere Sohn SĀmĀ-ditana eventuell vor seinem Vater verstor-
ben oder gar in Ungnade gefallen war; vgl. Van de Mieroop, King Hammurabi (wie
Anm. 14), 112.
98 Vgl. zusammenfassend Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie
Anm. 62), insbesondere 143-147; Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 271ff.; André-
Salvini, Code de Hammurabi (wie Anm. 38), 47ff.; Van de Mieroop, King Hammu-
rabi (wie Anm. 14), 128ff. und besonders ausführlich jetzt Hurowitz, Literary Struc-
tures (wie Anm. 45).
20 Rosel Pientka-Hinz

Der Kodex ̈ammu-rapi gehörte eindeutig zu Mesopotamiens intellek-


tuellem Erbe. Im Gegensatz zu den anderen mesopotamischen Geset-
zestexten, die ihren eigenen Zeitrahmen nicht überdauerten, wurde der
Kodex gemeinsam mit anderen Textgattungen wie lexikalischen Listen
und Omenkompendien Teil des sogenannten „Traditionsflusses“, und
zwar sowohl in Babylonien als auch in Assyrien. Literarische Aspekte,
nicht zuletzt die listenartige Anordnung der einzelnen Fälle, mögen
dazu beigetragen haben, die Sammlung als literarische Einheit zu tra-
dieren. Ist doch die Inschrift – obwohl von ̈ammu-rapi neu kompo-
niert – selbst als ein Teil traditioneller Entwicklung zu sehen, deren
Höhepunkt sie zweifelsohne darstellt.
̈ammu-rapi wäre demnach als königlicher Auftraggeber dieser
Gesetzessammlung anzusehen, als Mäzen einer kleinen Schreiberelite,
die diese ganz besondere Liste in seinem Namen zusammenstellte und
mit einem historisch-literarischen Rahmen versah, welcher wiederum
die Gesetze in ihren politischen Kontext setzte und die Rolle des Kö-
nigs als von den Göttern autorisierter Beschützer und Verwalter der
Gerechtigkeit hervorhob. ̈ammu-rapi hatte also tatsächlich vollbracht,
was schon viele Herrscher vor ihm angestrebt, aber in diesem Ausmaß
längst nicht immer erreicht haben: er hat sich „einen Namen gesetzt“,
sich in Stein gemeißelt auf seinem Denkmal verewigt, als „König der
Gerechtigkeit“. Als solcher ist er auch in die gelehrte Überlieferungs-
tradition eingegangen. Noch ein aus Ninive stammendes privates Text-
verzeichnis, welches ̈ammu-rapis Gesetzestext neben dem „babyloni-
schen Fürstenspiegel“ nennt, könnte als später Reflex dieses
Prestigetitels gelten. Lautet doch gleich die erste königliche Verfehlung
des als Verhaltenskodex für Könige verstandenen Werkes:

„Wenn der König auf das Recht nicht achtet, werden seine Menschen in
Verwirrung geraten; das Land wird verwüstet werden.“99

Ein aufschlussreicher Text aus der neubabylonischen Zeit, der eine


detaillierte Kenntnis des gesamten Kodex ̈ammu-rapi verrät, be-
schreibt ein von sozialer Ungerechtigkeit und Korruption geplagtes
Land, welches nach Ankunft des nicht namentlich genannten gerechten
Königs mithilfe von Gesetzgebung, Gerichtshöfen und ausgewogener
Rechtsprechung reformiert wurde. Bei der Identität dieses Herrschers

99 Nach W. von Soden, Der babylonische Fürstenspiegel, in: Weisheitstexte, Mythen


und Epen (TUAT III/1), Gütersloh 1990, 170-173, hier: 171. Vgl. Hurowitz, Literary
Structures (wie Anm. 45), 506: „The inclusion of both compositions in a private col-
lection may indicate that the owner had some particular interest in enlightened
monarchy and sound governance.“
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 21

sollte es sich um einen der beiden Babylon-Könige Nebukadnezar oder


Nabonid handeln. Zahlreiche markante Phrasen und Floskeln aus Pro-
log, Epilog sowie den Gesetzen des Kodex ̈ammu-rapi sind in diesen
rund tausend Jahre jüngeren Text dergestalt eingesponnen, daß sich
der gerechte König wahrlich als neuer ̈ammu-rapi präsentiert.100
Um Ordnung und Unordnung ranken sich auch mehrere religiös-
literarische Dichtungen, die gemeinsam mit der Anfangszeile des Ko-
dex ̈ammu-rapi auf einer späten Kommentartafel zitiert werden:101 Im
Weltschöpfungsepos Enīma eliš wird die Weltordnung festgelegt. In
der Geschichte vom leidenden Gerechten Ludlul bÓl nÓmeqi steht der
ein vermeintlich vorbildliches Leben führende Protagonist plötzlich
absolutem Verfall gegenüber, Voraussetzung für die Thematik von
Sünde und Sündenlösung. Wenn im Anzu-Mythos die gesamte Welt-
ordnung bedroht ist, so verweist dies implizit auf das Ziel des Kodex
̈ammu-rapi, eine gerechte Ordnung aufrecht zu erhalten.102
Die durchweg positiv geprägte Erinnerung an die Persönlichkeit
des ̈ammu-rapi hat diesen schließlich auch in Verbindung mit ma-
gisch-medizinischen Heilverfahren gebracht.103 Heilkräftige Wirkung
versprach man sich noch im 1. Jahrtausend von einem nach dem be-
rühmten Herrscher benannten Amulettkettentyp104 sowie einer be-
stimmten Augensalbe. Medizinisch-prophylaktische Verordnungen,
die aus dem „Palast ̈ammu-rapis, des Königs des Alls“ kopiert wur-
den, finden sich auf einer neuassyrischen Tafel aus Assur.
An die politischen Erfolge ̈ammu-rapis105 erinnern neben zwei
„historischen Omina“ Einträge in Listen von Jahresdatenformeln, Kö-
nigslisten und Chroniken. Sein größter Feldzug gegen RÎm-Sîn von

100 Vgl. ausführlich Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 507ff.
101 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 506: „Interestingly, most of the
works cited in this commentary are connected directly with Marduk (…) If so, this
tablet may be evidence that LH had religious significance, being somehow associ-
ated with worship of Marduk.”
102 Das dieser Textzusammenstellung zugrunde liegende Prinzip festzustellen, bleibt
schwierig. Ordnung und Unordnung legen sich nahe; vgl. auch die vorangehende
Anmerkung.
103 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 9), 145 und 147 und
Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 528f.
104 Nach André-Salvini, Code de Hammurabi (wie Anm. 38), 16, handelt es sich viel-
leicht um die auf der Stele von ̈ammu-rapi selbst getragene Kette. Verfolgt man
diesen Gedanken weiter, ist darauf hinzuweisen, dass die vor der Stele aufgestellte
Königsfigur „König der Gerechtigkeit“ ebenfalls eine solche Kette, hier tatsächlich
aus den einzelnen Steinen zusammengesetzt, um den Hals liegen hatte. Die Kette
war daher ein vermutlich noch vielen Generationen von Verehrern des großen Kö-
nigs zugängliches Schmuckstück.
105 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 146.
22 Rosel Pientka-Hinz

Larsa ist in der „Chronik der frühen babylonischen Könige“ dokumen-


tiert. Es verwundert nicht, dass diese Schlacht, die ihm die Herrschaft
über ganz Südbabylonien verschaffte, zur Begründung seiner beson-
deren Ehre beitrug. Als politische Identifikationsfigur wurde er noch
im 8. Jahrhundert von den Herrschern des am Euphrat gelegenen
Kleinstaates von Sủu betrachtet, die sich als dessen Nachfahren legi-
timierten.106
̈ammu-rapis Inschriften, die des Königs Namen in seiner Rolle als
Tempelstifter und -bewahrer verewigen und nachfolgende Könige zur
Ehrerbietung anhalten sollten, erfüllten noch zu Zeiten des letzten neu-
babylonischen Herrschers ihren Zweck. Bei der Restauration des Ebab-
bar-Tempels in Larsa fand Nabonid die Gründungstafel des vorange-
gangenen Königs und verkündete:

„Ich sah eine Inschrift von ̈ammu-rapi, einem alten König, der 700 Jahre
vor Burnaburiaš den Ebabbar-Tempel und die Zikkurrat für den Sonnen-
gott Šamaš auf den alten Fundamenten erbaut hat.“107

Obwohl ̈ammu-rapi hier nicht mehr mit historisch korrekten Begrif-


fen erfaßt wurde (der neubabylonische König irrte sich um nicht weni-
ger als 300 Jahre), offenbart sich dennoch ̈ammu-rapis Ansehen als
legendärer König, an dessen Namen man sich erinnerte.
Eine wohltuende Wirkung versprach sich ein neubabylonischer
Schreiberlehrling aus Bosippa, indem er eine Bauinschrift ̈ammu-
rapis kopierte und als Weihgeschenk dem Gott Nabû in seinen Tempel
Ezida gab:

„Für sein Leben, Glück und Erhörung seiner Gebete.“108

Ebensowenig verfehlten die bemerkenswerterweise auch auf Stelen


bzw. Statuen geschriebenen Hymnen ̈ammu-rapis, die somit die
„monumentale“ Tradition mit der „kanonischen“ verknüpften,109 die

106 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 527.


107 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 521.
108 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 145f. mit Anm.
67. Da diese Stiftung vor einigen Jahren als antike Fälschung erkannt wurde, bleibt
fraglich, ob sich die erhoffte Wirkung einstellte; vgl. Hurowitz, Hammurabi in Me-
sopotamian Tradition, in: Y. Sefati u.a. (Hgg.), „An Experienced Scribe Who Neglects
Nothing“. Ancient Near Eastern Studies in Honor of Jacob Klein, Bethesda 2005, 497-
532, hier: 520 mit Anm. 53.
109 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 146f. mit Anm.
71 und s. oben Anm. 83.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 23

erhoffte Wirkung. Das Interesse an den hymnischen Monumentalin-


schriften ̈ammu-rapis bestand, nach in der Sippar-Bibliothek gefun-
denen neubabylonischen Abschriften dieser Werke zu urteilen, bis ins
1. Jahrtausend fort.110

Aufgrund der schriftlichen Hinterlassenschaften seiner Nachfolger liegt


nahe, dass König ̈ammu-rapi eine in weiten Kreisen der Bevölkerung
beliebte historische Figur gewesen sein dürfte, dessen proklamiertes
Ziel, sich einen „guten“ Namen zu setzen, sich erfüllt hatte. In welchem
Ausmaß dabei auch mündliche Tradierungsformen eine Rolle spielten,
lässt sich nur noch erahnen.111

̈ammu-rapis Winkelzug

̈ammu-rapi kannte die Mechanismen des „Sich-einen-Namen-


Setzens“ genau und bediente sich ihrer in vollendeter Weise. Ruhmvol-
len Taten folgte – wie bei jedem König vor ihm auch – eine eindrucks-
volle Vermittlung derselben durch monumentale Bilder sowie Gedenk-
inschriften und Hymnen. ̈ammu-rapi wusste aber auch um die ganz
eigene Bedeutung der Schreiberschulen, welche Rolle diesen bei der
Tradierung gerade auch der von ihm selbst zur Verschriftlichung be-
auftragten Texte zukam. So kommt es nicht von ungefähr, dass der
König, als er auf seine ausgesprochen erfolgreiche Vergangenheit zu-
rückblicken konnte und vermutlich über ein entsprechendes Macht-
und Selbstbewußtsein verfügte,112 sich einem außergewöhnlichen
Projekt widmete – seiner Gesetzesstele. Mit ihr gab er ein Werk in Auf-
trag, das den zeitgenössischen Rahmen bei weitem sprengte. Indem er
es als Standard im ganzen Land verbreiten und als Teil des Schreiber-
curriculum ausweisen ließ, sorgte er für seine dauerhafte Verbrei-
tung.113 Als „König der Gerechtigkeit“ ließ er sich im ganzen Land fei-

110 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), mit Anm. 72
111 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 4: „... daß sie sich durch ein frucht-
bares Nebeneinander von schrift- und bildgestützter und von körpergebundener
Memorialkultur auszeichneten. Gerade zur Verewigung des Namens wurden alle
diese Möglichkeiten verwendet, und die Schwierigkeit, im nachhinein die Bedeu-
tung der verlorenen mündlichen Tradierung angemessen zu würdigen, sollte nicht
darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei, auf die gesamte Bevölkerung bezogen,
sicherlich um den wichtigsten Faktor in der Gedächtniskultur handelte.“
112 Zu dem Versuch einer Charakterstudie ̈ammu-rapis vgl. Van den Mieroop, King
Hammurabi (wie Anm. 14), 112ff.
113 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 55: „Eine wirk-
lich bedeutende, weil exemplarische Rolle im Gedächtnis der Nachwelt kam aber
nur denjenigen Herrschern zu, deren Taten Eingang in einen schriftlichen oder
mündlichen ‚Traditionsstrom’ fanden. Diese Form der Erinnerung hatte zwar ihre
24 Rosel Pientka-Hinz

ern, als oberste Rechtsautorität stellte er sich für alle Zukunft unter den
Schutz der Götter. Und als Rechtsbeistand für jeglichen Ratsuchenden
unter seinen Untertanen stand er auch noch nach seinem Ableben in
den großen Tempeln des Landes bereit, war sichtbar, hörbar und sicher
auch durch Berührung der Stelen erfahrbar – eine Präsenz, die in die-
sem Ausmaß noch kein König vor ihm inszeniert hatte. Seine Fürsorge
ließ er sich in Gebeten entgelten (s.o.), somit konnte sich ̈ammu-rapi
auch der mündlichen Tradierung seines Namens in der breiten Bevöl-
kerung gewiss sein.

Die im oberen Bereich der Stele dargestellte Zweisamkeit von König


und Sonnengott, in enger Verbindung einander zugewandt und den
Bereich der göttlichen Sphäre teilend, hält für alle Ewigkeit den ent-
scheidenden Moment in ̈ammu-rapis Leben fest, den Übergang vom
einfachen Menschen zur „Sonne Babylons“, d.h. als Herrscher eines
vereinigten nord- und südbabylonischen Reiches.

spezifische Eigendynamik, ein Herrscher konnte jedoch versuchen, sie durch eine
entsprechend ausgerichtete ‚Medienpolitik’ zumindest anzustoßen. Hammurapi tat
dies, indem er dafür sorgte, daß sein Gesetzeswerk zum Gegenstand des Studiums
angehender Schreiber wurde.“
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 25

Abstract

The issue of death and immortality was one of the major concerns of
every ancient Near Eastern king, and, also of Hammurapi of Babylon.
The preservation of several genres of texts that were written in his na-
me were thought to guarantee him an afterlife in the Babylonian collec-
tive memory. The article claims that it was the concern of this Old Ba-
bylonian king about a perpetual memory that provided the major spur
for him to authorize the composition of a wide variety and an excep-
tional number of texts. It presents Hammurapi’s efforts to extend the
glory of his name beyond his death, and his success in this endeavour.

The article dwells on five central aspects of his fame: his work as an
emperor and conqueror, his feats as builder of temples, city walls and
canals together with his function as a supporter of the gods, his dedica-
tion to guaranteeing justice and order, and his close relation to the sun
god Šamaš. His composition of the law code, in particular, served to
establish his good reputation as an in some ways even deified king.
Geschichte oder Geschichten – zum literarischen
Charakter der hethitischen Historiographie

Jörg Klinger

Welches Verhältnis die Kulturen des alten Vorderasiens zu ihrer eige-


nen Vergangenheit besaßen, d.h. in welchem Bezug sie zu ihrer Ge-
schichte standen und wie sich dies in ihrer schriftlichen Überlieferung
niederschlägt, wurde und wird zunehmend intensiver, und zugleich
durchaus kontrovers diskutiert.1 Etwas schematisiert lassen sich zwei
konträre Schulen unterscheiden, die man vereinfachend mit den Na-
men W. W. Hallo bzw. M. Liverani identifizieren2 und deren unter-
schiedliche quellenkritische Ansätze man mit dem Begriffspaar mini-
malistisch vs. maximalistisch charakterisieren kann. Demgegenüber hat
J. Renger in einem wesentlichen und anregenden Überblicksartikel zum
mesopotamischen Geschichtsbezug die Meinung vertreten, es hätte im
Alten Mesopotamien gar keine Historiographie im klassischen Sinne
gegeben. Deshalb lehnte er die Verwendung von Begriffen wie „Anna-
len“ oder „Chroniken“ grundsätzlich ab; selbst die Einschätzung der
umfangreichen, gemeinhin als annalistisch bezeichneten umfangrei-
chen Korpora der assyrischen Könige als Geschichtsschreibung hält er
für verfehlt, da sie nicht der Aufzeichnung historischer Ereignisse, son-
dern nur der Glorifizierung des jeweiligen Herrschers dienten.3

1 Vor einigen Jahren widmete sich die 45. RAI (1998) speziell diesem Thema; vgl.
T. Abusch et al. (Hg.), Historiography in the Cuneiform World. Proceedings of the
XLVe Rencontre Assyriologique Internationale, Bethesda 2001.
2 Vgl. etwa die grundsätzliche und für die weitere Forschung folgenreiche Stellung-
nahme von M. Liverani, Memorandum in the Approach to Historiographic Texts,
OrNS 47, 1973, 178-194 und, auch in Reaktion darauf, etwa W. W. Hallo, New Direc-
tions in Historiography (Mesopotamian and Israel), in: M. Dietrich / O. Loretz
(Hgg.), (Fs. W. H. Ph. Römer, AOAT 253), Neukirchen-Vluyn 1998, 109-128.
3 Vgl. J. Renger, Königsinschriften. B. Akkadisch, in. D. O. Edzard (Hg.), Reallexikon
der Assyriologie, Bd. 6, Berlin – New York, 1980-83, 65-77; sowie ders., Vergangenes
Geschehen in der Textüberlieferung des alten Mesopotamien, in: H.-J. Gehrke /
A. Möller (Hgg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditi-
onsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, 9-60, bes. 12 und 22; bzw.
ders., Betrachtungen zu den Inschriften assyrischer Herrscher im 8. und 7. Jahrhun-
28 Jörg Klinger

Trotz dieser intensiven Beschäftigung mit den einschlägigen Quel-


len, gerade auch unter methodischen Gesichtspunkten, hat sich außer-
halb der engeren Fachgrenzen die Einschätzung der historiographi-
schen Leistung der Keilschriftkulturen dagegen bis heute nicht
grundsätzlich gewandelt.4 Selbst der gegenüber der Altorientalistik so
aufgeschlossene Neue Pauly beginnt unter dem Stichwort „Geschichts-
wissenschaft/Geschichtsschreibung” wie selbstverständlich erst mit
den Griechen, mit Herodot, Thukydides und Xenophon.5 Und unter
dem Stichwort „Geschichtsmodelle” findet sich der folgende bemer-
kenswerte Absatz:6
Grundlegende Unterschiede mod. Geschichtsauffassungen bestehen zu
den im Alten Orient (Ägypten, Hethiter, Iran, Mesopotamien) vorhande-
nen Modellen. Dort ist die Geschichtsschreibung als Liste von Ereignissen
und Herrschern konzipiert worden. Die orientalische Geschichtsschrei-
bung wurde durch die Griechen überwunden (...)

Es dürfte – gelinde gesprochen – sehr verkürzt sein, die Geschichts-


schreibung des Alten Orients nur auf die Form der „Liste von Ereignis-
sen und Herrschern“7 zu reduzieren und somit innerhalb der Historio-

dert v. Chr., in: W. Sallaberger / K. Volk / A. Zgoll (Hgg.), Literatur, Politik und
Recht in Mesopotamien, (Fs. C. Wilcke, Orientalia Biblica et Christiana 14), Wiesba-
den 2003, 229-236. Diese Position steht immerhin in einer gewissen Nähe zu M. Live-
rani. Freilich wäre zu fragen, ob die starke Betonung z.B. des Stiftungsvermerks oder
einer rein funktional orientierten Klassifizierung als Weih- bzw. Komme-
morativinschriften, wie sie gerade Renger vertritt, angesichts der doch unverkenn-
baren grundsätzlichen Veränderung, die dieser Inschriftentypus durch die immer
umfangreicheren „annalistischen“ Passagen in der Fortentwicklung der assyrischen
Tradition erfährt, und einer darin möglicherweise zum Ausdruck kommenden sich
verschiebenden Intention durch die Betonung von Aspekten, die sich zunehmend
nur noch einer Konvention verdanken, tatsächlich adäquat erfassen kann.
4 Bedauerlicherweise übergeht der ansonsten ausgesprochen lesenswerte Sammel-
band von J. Assmann / K. E. Müller (Hgg.), Der Ursprung der Geschichte. Archai-
sche Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland, Stuttgart 2005 die
keilschriftliche Tradition gänzlich.
5 Vgl. J. M. Alonso-Núnez, s.v. „Geschichtsmodelle“, in: DNP XIV: Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte (2000), 184f.
6 Alonso-Núnez, Geschichtsmodelle (wie Anm. 5), 160. Bemerkenswert bleibt hier
aber der Hinweis auf den Rezeptionsaspekt, der als eigentlich ausschlaggebend für
die „Überwindung“ durch die griechische Geschichtsschreibung namhaft gemacht
wird, während ansonsten lediglich das – kaum tragfähige – formale Argument der
Monumentalinschrift ins Feld geführt wird. Die Frage, welchen Adressatenbezug
diese Form der altorientalischen Historiographie hat, ist davon unberührt und hat
ihre Berechtigung; vgl. dazu E. Frahm, Einleitung in die Sanherib-Inschriften (AfO,
Beiheft 26), Wien 1997, 115ff.
7 Aus der umfangreichen Literatur zur spezifischen Funktion der Liste innerhalb der
altorientalischen Historiographietradition sei hier nur auf C. Wilcke, Gestaltetes Al-
tertum in antiker Gegenwart: Königslisten und Historiographie des älteren Mesopo-
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 29

graphiegeschichte den Alten Orient als eine weitgehend zu vernachläs-


sigende Größe darzustellen.8 An dieser Situation konnte auch wenig
ändern, daß speziell von Seiten der hethitologischen Forschung, die
zumindest in Teilen den traditionellen althistorischen Fachdisziplinen
näher stand, gegen diese Geringschätzung – oder man sollte vielleicht
besser von einer mangelnden Aufmerksamkeit sprechen – für die keil-
schriftliche Überlieferung anargumentiert wurde.
Die junge Wissenschaft der „Hethitologie“ entwickelte sich erst im
Anschluß an die „Lösung des hethitischen Problems“, der Entdeckung
des indogermanischen Charakters der hethitischen Sprache, durch
B. Hrozný im Jahre 1915. Es gehört zu ihren größten Leistungen inner-
halb nur relativ weniger Jahre eine ganze Reihe der vor allem in histo-
rischer Hinsicht bedeutendsten Quellen in wissenschaftlichen Editio-
nen aufgearbeitet und damit der Forschung zugänglich gemacht zu
haben. Nur durch diese Leistung war es möglich, daß bereits sehr früh
durch so bedeutende historiographische Werke wie die Cambridge An-
cient History (seit 1924) oder E. Meyer mit seiner wirkmächtigen „Ge-
schichte des Altertums“ (1928 bzw. 1931) erste Abrisse der hethitischen
Geschichte auch einem breiteren Kreis bekannt wurden, bevor dann
vor allem A. Goetze mit seinen diversen Publikationen von Texteditio-
nen und -bearbeitungen einerseits bzw. zusammenfassenden Darstel-
lungen andererseits die Forschung ganz erheblich voranbrachte.9

tamien, in: D. Kuhn / H. Stahl (Hgg.), Die Gegenwart des Altertums. Formen und
Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, Heidelberg
2001, 93-116, verwiesen.
8 Nicht zuletzt setzt eine derartige Sichtweise eine gleichsam „natürliche“ Vorstellung
von dem voraus, was als historisch relevant zu gelten hat; vgl. dagegen W. Sallaber-
ger, Von politischem Handeln zu rituellem Königtum, in: B. Nevling Porter (Hg.),
Ritual and Politics in Ancient Mesopotamia (AOS, 88), New Haven 2005, 63-93, der
vor allem für die ältere mesopotamische Zeit eine Fokussierung des königlichen
Handelns auf eine dem politischen Alltagsgeschäft enthobene Ebene herausarbeitet,
in der die Darstellung profaner (historisch-politischer) Ereignisse keinen Raum hat:
„Im Laufe der Zeit verlor jedenfalls das Politische seine Bedeutung als Faktum, das
in monumentalen Inschriften dargestellt wird.“ (ebd., 87).
9 Vgl. zu den einschlägigen Texteditionen und den Darstellungen die Zusammenstel-
lung bei J. Klinger, Historiographie als Paradigma. Die Quellen zur hethitischen Ge-
schichte und ihre Deutung, in: G. Wilhelm (Hg.), Akten des 4. Hethitologischen
Kongresses Würzburg 1999 (StBoT 45), Würzburg 2001, 272-291. Bereits im Jahr 1914
war aus der Feder von E. Meyer die kleine Monographie „Reich und Kultur der Che-
titer“ in der neugeschaffenen Reihe „Kunst und Altertum. Alte Kulturen im Lichte
neuer Forschung“ als Band 1 beim Verlag Karl Curtius in Berlin erschienen. Eine
Darstellung, die noch vollkommen ohne die Kenntnis der in der hethitischen Haupt-
stadt seit einigen Jahren gefundenen, aber noch weitgehend unverständlichen Texte
verfaßt wurde. Sie beruht vornehmlich auf den archäologischen Zeugnissen (das
Buch enthält mehr als 100 Abbildungen) und den sonstigen Quellen, d.h. vor allem
denen aus Ägypten. Demgegenüber stellten die Arbeiten von A. Goetze, Das Hethi-
30 Jörg Klinger

A. Goetze war es auch in erster Linie, der bereits sehr früh nicht nur
den Wert der hethitischen Überlieferung als historische Quelle betonte,
sondern der eben diesen Werken auch eine besondere Stellung in der
Geschichte der Historiographie allgemein zuschrieb und auf ihren be-
sonderen kulturgeschichtlichen Wert verwies10, indem er von einem
hethitischen „Geschichtsbewußtsein“ sprach, das so „zum ersten Male
in der Weltgeschichte“ seinen literarischen Niederschlag in Form des
„historischen Berichts“ gefunden habe,11 Vor allem aber Goetzes An-
sicht, die er im übrigen nie eingehender begründete, daß darüber hin-
aus gerade die hethitischen Quellen eine Art Vorbildcharakter oder
Modell für die jüngeren mittelassyrischen Königsinschriften abgegeben
hätten, wurde und wird bis heute immer wieder aufgegriffen, aber
nicht eigentlich belegt.12 Nach wie vor stellt die Aufarbeitung der hethi-
tischen Historiographie und ihrer Bedeutung für eine allgemeine His-
toriographiegeschichte ein Desideratum der Forschung dar.13

ter-Reich, Leipzig 1928 und ders., Hethiter, Churriter und Assyrer. Hauptlinien der
vorderasiatischen Kulturentwicklung im II. Jahrtausend v. Chr. Geb., Oslo 1936,
dem die hethitischen Quellen bestens vertraut waren, einen gewaltigen Fortschritt
dar. Goetze selbst hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches Deutschland be-
reits verlassen müssen.
10 Zu noch weitergehenden Einschätzungen speziell der hethitischen Historiographie
etwa durch E. Forrer vgl. Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 273 Anm. 3.
11 Goetze, Hethiter (wie Anm. 9), 73.
12 Vgl. H. Roszkowska-Mutschler, Zu den Mannestaten der hethitischen Könige, in:
P. Taracha (Hg.) Silva Anatolica (Anatolian Studies presented to Maciej Popko on
the occasion of his 65th birthday), Warschau 2002, 288-300, 289, die von einer „im Al-
ten Orient ansonsten nicht anzutreffenden historiographischen Kompetenz der He-
thiter“ spricht und speziell in den Annalen der hethitischen Könige „ein neues lite-
rarisches Genre“ sieht, das „im Alten Orient ohne direktes Vorbild“ sei (ebd., 292).
Als Charakteristika werden genannt: Die vorrangige Darstellung militärischer Leis-
tungen, die „annalistische Form“, die nicht weiter definiert wird, und die Abfassung
in der 1. Person, was aber, wie einschränkend festgestellt wird, schon nicht für alle
Texte gilt, die dem Korpus (dazu s. die Aufzählung ebd., 291) zugeschlagen werden.
Angesichts der Allgemeinheit der genannten Kriterien und der formalen und inhalt-
lichen Vielfalt gerade auch älterer historiographischer Inschriften Mesopotamiens
erscheint eine solche unterstellte Vorbildlosigkeit doch recht pauschal. Da die ältere
hethitische Überlieferung ein augenscheinliches Interesse gerade auch an Texten
über die akkadezeitlichen Könige zeigt, sei hier als ein Beispiel nur an den Nar¬m-
Sîn-Text über die „Große Revolte“ erinnert, der sich jetzt als eine große Inschrift er-
wiesen hat; vgl. dazu W. Sommerfeld, Nar¬m-Sîn, die „Große Revolte“ und die
MAR.TUki, in J. Marzahn / H. Neumann (Hgg.), Assyriologica et Semitica (Fest-
schrift für Joachim Oelsner, AOAT 252), Münster 2000, 419-436.
13 Damit soll auf keinen Fall der Wert wichtiger und grundlegender Arbeiten in Abre-
de gestellt werden. Vgl. insbesondere H. Cancik, Grundzüge der hethitischen und
alttestamentlichen Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1976; H. A. Hoffner, Histories
and Historians of the Ancient Near East: The Hittites, Or 49, 1980, 283ff.; H. G. Gü-
terbock, Hittite Historiography: A Survey, in: H. Tadmor / M. Weinfeld (Hgg.), Hi-
story, Historiography, and Interpretation, Jerusalem, 1983, 21ff. Vgl. noch
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 31

Bereits mit dem Beginn der hethitischen schriftlichen Überlieferung


zeigt sich in den Quellen historischen Inhalts eine erstaunliche Breite;
selbst wenn man den in seiner Zuordnung problematischen Anitta-Text
nicht der genuin hethitischen Tradition zuschlagen will, was in der Tat
schwer zu entscheiden ist14, so bleiben doch eine ganze Reihe von un-
terschiedlichen Texten, deren historiographischer Stellenwert oft nicht
eindeutig zu bestimmen ist, wie im Falle des sogenannten Zalpa-
Textes, der mit seiner Verbindung fast märchenähnlicher Motive – den
30 Söhnen, die ausgesetzt, von den Göttern gerettet, dann auf der Su-
che nach ihrer Mutter auf ihre 30 Schwestern stoßen, die sie nicht er-
kennen – und fast annalistischen Passagen schwerlich einer bestimmten
Gattung zuzuschlagen ist.15 Kaum viel jünger dürften dann die Texte
sein, die sich sicher einer historisch bezeugten Person, nämlich ̈attušili
I., zuordnen lassen. Sein sog. Testament, das direkt an seinen noch ju-
gendlichen Thronfolger gerichtet ist und neben einer ganzen Reihe
historischer Details über innerfamiliäre Zwistigkeiten auch Empfeh-
lungen für einen guten Herrscher enthält, verwendet sprachlich diffe-
renzierte stilistische Elemente und stellt zudem die geschilderten Er-
eignisse in nicht-linearer Abfolge dar. Er steht damit in auffälligem
Kontrast zu einem Bericht desselben Königs über seine Taten, dem
ältesten Annalentext16 der hethitischen Überlieferung, der demgegen-

G. F. del Monte, L’annalistica ittita (Testi del Viciono Oriente antico, 4/2) Brescia
1993, 7ff., H. Cancik, Die hethitische Historiographie, in: Die Hethiter und ihr Reich.
Volk der 1000 Götter, Katalog der Ausstellung, Darmstadt 2002, 74-81 oder von
St. de Martino, L’Anatolia occidentiale nel medio regno ittita (Eothen 5), Florenz
1996, 18-22, 7ff. sowie V. Haas, Die hethitische Literatur, Berlin – New York 2006,
77ff. und vor allem im allgemeineren Kontext der Erinnerungskultur A. Archi, I mo-
di delle memoria, in: F. Pecchioli Daddi / M. Chr. Guidotti (Hgg.), Narrare gli eventi.
Atti del convegno degli egittologi e degli orientalisti italiani in margine alle mostra
„La battaglia di Qadesh“ (Studia Asiana 3), Rom 2005, 21-28.
14 Vgl. dazu Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 277f. Anm. 16f. Eine aktuelle Über-
setzung bietet G. M. Beckman, The Anitta Text, in: M. Chavalas (Hg.), Historical
Sources in Translation: The Ancient Near East, Blackwell 2006, 216-219, hier: 217;
s. außerdem Haas, Literatur (wie Anm. 13), 28ff., jeweils mit weiterer Literatur.
15 Zu diesem Text im Kontext der frühen hethitischen historiographischen Literatur s.
jetzt C. Corti, Il raconto delle origini: alcune riflessioni sul testo di Zalpa, in: F. Pec-
chioli Daddi / M. Chr. Guidotti (Hgg.), Narrare gli eventi. Atti del convegno degli
egittologi e degli orientalisti italiani in margine alle mostra „La battaglia di Qadesh“
(Studia Asiana 3), Rom 2005, 113-121.
16 Den Begriff „Annalen“ verwende ich hier bewußt, da er mir in diesem Falle tatsäch-
lich angemessen erscheint. Ich verstehe darunter, in Anlehnung an Hayden White,
The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: ders., The Content of
the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, 1-25, 9,
die Darstellung einer Liste von Ereignissen in chronologischer Reihenfolge ohne
verbindende narrative Elemente. Es sei hier noch angemerkt, daß man als ein Spezi-
fikum der hethitischen Annalistik sozusagen von ihrer eigentlichen Zeit- und Raum-
32 Jörg Klinger

über in karger Sprache formuliert ist und unprätentiös und schmucklos


in jährlicher Abfolge in erster Linie Feldzüge, erfolgreiche Kämpfe, die
Eroberung von Städten und deren Zerstörung sowie das Beutemachen
referiert. Zwei Punkte gilt es festzuhalten: Wir können bereits zu dieser
frühen Zeit nicht ohne weiteres von bestimmten historiographischen,
formal eindeutig voneinander geschiedenen Genres sprechen. Darüber
hinaus kann das Genre der Annalen keineswegs als herausragender
Typus hethitischer Geschichtsschreibung gelten; andere Texte sind
diesen in inhaltlicher wie formaler Hinsicht deutlich überlegen.17
Ein solches Urteil mag vielleicht überraschen. Gilt doch die hethi-
tische Annalistik, vor allem in der Form, wie sie aus der Zeit Muršilis
II. auf uns gekommen ist, vielfach als der Höhepunkt der hethitischen
Historiographie schlechthin. Der Bericht über die Taten seines Vaters
Šuppiluliumas I., den er anfertigen ließ, das in sich abgeschlossene
Annalen-Werk über die ersten 10 Jahre seiner eigenen Regierung und
die noch umfangreicher gestalteten ausführlichen Annalen, die nach
unserem heutigen Kenntnisstand wohl einen Zeitraum von mehr als
20 Jahren umfaßt haben dürften – diese Werke, die alle auf die Regie-
rungszeit Muršilis II. zurückgehen und zu verschiedenen Zeiten ko-
piert bzw. vielleicht auch neu redigiert wurden, stehen nicht nur im
Mittelpunkt der Untersuchung von H. Cancik, sondern gelten in der
Tat als die Paradebeispiele für die hethitische Historiographie.18
In den letzten Jahrzehnten hat sich aber die Textbasis insgesamt
verbessert.19 Außerdem können wir jetzt recht zuverlässig zwischen

losigkeit sprechen könnte, da in aller Regel auf eine zeitliche Situierung – von einer
Datierung ganz zu schweigen – sowie auf eine genauere räumliche Orientierung –
bis auf die Nennung von Ortsnamen, deren Lage aber als bekannt vorausgesetzt
oder letztlich als nicht eigentlich wesentlich erachtet wird – verzichtet wird. Nicht
nur der Verzicht auf eine konkrete Zeitangabe ist eigentümlich, sondern dabei gibt
es auch kaum eine lokale Situierung, d.h. es werden z.B. keine Richtungen der Mär-
sche, keine Distanzen oder ähnliches angegeben, sondern lediglich Namen aufgeli-
stet. Genau hier liegen ja die Schwierigkeiten der historischen Geographie der Hethi-
terzeit, da selbst die Annalentexte in dieser Hinsicht wenig weiterhelfen.
17 Das Inventar ist dabei durchaus offen; zu nennen wäre außerdem nicht nur der Text
über die Belagerung von Uršu (CTH 7), sondern z.B. ebenso die sog. „Palastchronik“
(CTH 8-9) u. a. m.
18 Vgl. auch Cancik, Historiographie (wie Anm. 13), 75: „der Höhepunkt der hethiti-
schen Historiographie“.
19 Für keines der genannten Werke steht eine aktuelle Bearbeitung oder wenigstens
vollständige Übersetzung zur Verfügung, allein für die Zehnjahresannalen Murši-
lis II. liegt eine relativ rezente Textzusammenstellung in Umschrift vor; die Literatur
ist zusammengestellt bei Roszkowska-Mutschler (wie Anm. 12), Mannestaten, 289
n. 2, hinzu kommen zahlreiche in der Sekundärliteratur verstreute Einzelhinweise;
vgl. außerdem noch A. M. Polvani, Narrare gli eventi, in: Daddi / Guidotti, (Hgg.),
Atti del convegno (wie Anm. 15), 279-283.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 33

dem Alter einer bestimmten Niederschrift, also der Tontafel selbst,


und dem Entstehungsalter des entsprechenden Textes differenzieren,
so daß meiner Meinung nach kein Zweifel mehr daran bestehen kann,
daß es Annalistik im eben beschriebenen Sinne während der gesam-
ten Zeit der hethitischen Geschichte gegeben hat.20 Nach Hattušili I.
setzt sich die Reihe in althethitischer Zeit mit Muršili I., Ammuna und
schließlich Telipinu fort; aus mittelhethitischer Zeit haben sich Teile
der gemeinsamen Annalen Tut̉alijas I. und seines Sohnes Arnuwan-
da I. sowie vermutlich auch von Tut̉alija II. erhalten. Für die jüngere
hethitische Geschichte sind schließlich Annalen nachweisbar für Šup-
piluliuma I., Muršili II., ̈attušili III. und wohl auch – zumindest
indirekt – für Tut̉alija IV. und Šuppiluliuma II. Daß gerade aus den
späten Jahrzehnten weniger Beispiele für Annalenwerke als aus frü-
heren Phasen bekannt sind, obwohl der Umfang der Überlieferung
insgesamt größer ist, dürfte in der Texttradition generell begründet
sein.
Trotz der Kontinuität dieser Tradition und des immer wieder
vorgebrachten Argumentes, daß es dafür sogar eine hethitische Gat-
tungsbezeichnung gäbe, ist es problematisch, darin gleichzeitig ein
ganz bestimmtes literarisches Genre repräsentiert zu sehen. Das Abs-
traktum pešnatar, eine Ableitung des hethitischen Wortes für pešna-
„Mann“, bezeichnet nicht nur die Männlichkeit, im physischen wie im
übertragenen Sinne, sondern auch das, wodurch sich ein Mann, in
erster Linie der König, auszeichnet, nämlich seine Mannestaten. Die-
ser Begriff findet sich in den Aufzeichnungen von Tatenberichten.
Šuppiluliuma II. erwähnt, er habe die LÚ-natar̈I.A, die „Mannesta-
ten“ seines Vaters auf eine Statue eingravieren lassen, die ihn darstell-
te. Die Bezeichnung „Tafel oder Tafeln der Mannestaten“ ist mehrfach
auf verschiedenen Texten belegt, die zu den Annalen ̈attušilis I.,
Šuppiluliuma I. oder Muršilis II. gehören, so daß der Ansatz einer
Bedeutung „res gestae“ für pešnatar nachvollziehbar ist.21 Dennoch ist
dies streng genommen keine Bezeichnung eines Textgenres, sondern
lediglich eine inhaltliche Beschreibung – es sind Tontafeln, die die
Mannestaten verzeichnen, aber pešnatar ist nicht die Bezeichnung für
das entsprechende Werk selbst.
Die Funktion dieser Art von Texten läßt sich erst ansatzweise grei-
fen. Ihr Ursprung ist nicht zweifelsfrei ermittelt und der Grund für ihre

20 Eine andere Auffassung hat del Monte, L’annalistica (wie Anm. 13), 7ff. vertreten;
vgl. dazu Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 280 Anm. 22.
21 Vgl. CHD P, 328f.
34 Jörg Klinger

Anfertigung ist nicht bekannt.22 Ein Adressatenbezug, etwa auf ein


potentielles Publikum am Hofe, fehlt.23 Einen der wenigen direkten
Hinweise liefert einer der Texte aus der Zeit Muršilis II. Am Ende der
10-Jahres-Annalen Muršilis II. findet sich die Bemerkung: para-ma-mu
d
UTU URUPÚ-na GAŠAN-SA kuit peškizzi n-at anijami n-at katta teˀˀi (KBo
3.4 Rs. IV 47) – was übersetzt werden kann: „Was mir die Sonnengöttin
von Arinna, meine Herrin, noch bestimmen wird, werde ich überneh-
men und ausführen“ aber auch mit „das werde ich niederlegen“, im
Sinne von „schriftlich fixieren“. Immerhin könnte ein weiterer Ko-
lophonvermerk, diesmal aus den Tatenberichten des Šuppiliuma I.
(KBo 5.6 Rs. IV 17f.), dafür sprechen, daß hier doch eher das Anfertigen
eines Tatenberichtes gemeint sein könnte – vielleicht tatsächlich im
Sinne einer Art Rechenschaftsbericht des Königs.24 Dies könnte mögli-
cherweise die Kontinuität gerade dieser Textgattung erklären.
Die Annalen sind, wie bereits angedeutet, keineswegs die einzige
Form historischer Quellen in der hethitischen Überlieferung, wenn
möglicherweise auch die augenfälligste. Eine eindeutige Korrelation
zwischen historiographischen Texttypen und literarischen Gattungen
ist jedoch kaum möglich.25 Ebenfalls bereits seit der althethitischen
Zeit kennen wir die Praxis, Texten unterschiedlicher Form oder Funk-
tion eine Art historischer Einleitung voranzustellen, die Auskunft
über die Hintergründe der Entstehung des Textes geben soll. Die his-
torischen Einleitungen der Staatsverträge sind nur eine weitere, ver-
mutlich aber die bekannteste Erscheinungsform dieser Praxis. Wie
das Beispiel des sog. Telipinu-Erlasses zeigt, ohne dessen historische
Einleitung wir bis heute sicherlich nicht in der Lage wären, die Ab-
folge der hethitischen Könige zwischen Muršili I. und Telipinu auch
nur ansatzweise korrekt zu rekonstruieren, erscheint aus unserer
Sicht oft nur schwer nachvollziehbar, welche Verbindung zwischen
der Einleitung und dem eigentlichen Anlaß der Urkunde besteht und
welchen Zweck sie dementsprechend hatte bzw., an wen sie gerichtet
war. So ist eben der Telipinu-Erlaß vor allem aufgrund seiner Thron-
folgeregelung bekannt, hauptsächlich gibt der Text Auskunft über die

22 Roszkowska-Mutschler, Mannestaten (wie Anm. 12), 294f. unterscheidet drei kom-


munikative Funktionen der hethitischen Annalistik: eine religiöse, eine politische
und eine historisch-kommemorative.
23 In der gelegentlich in einzelnen Dokumenten zu findenden Forderung, den Text zu
verlesen, sieht Cancik, Historiographie (wie Anm. 13), 75 „einen Hinweis auf die In-
teressenten und das Publikum für Historiographie im Hethiterreich“.
24 Vgl. auch Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 276 Anm. 14 bzw. Roszkowska-
Mutschler, Mannestaten (wie Anm. 12), 294f. und Polvani, Narrare (wie Anm. 19),
283.
25 Vgl. dazu Cancik, Grundzüge (wie Anm. 13), 13.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 35

Regelung von Verwaltungsstrukturen und Abgaben. Wiederum ist


die Bandbreite groß: Derartige historische Einleitungen finden sich in
Texten der mittelhethitischen Zeit aus der Regierung Arnuwandas I.,
die landläufig als Gebete charakterisiert werden. Und man könnte im
Testament ̈attušilis I., das die Einsetzung seines Enkels zum
Thronfolger und Adoptivsohn verfügt, wie auch im großen Text
seines jüngeren Namensvetters ̈attušilis III., der unter der
Bezeichnung Apologie bekannt ist und dessen unmittelbarer Anlaß
vielmehr die Stiftung eines Kultes für die Ištar von Šamủa war, eine
der zentralen Gottheiten des junghethitischen Pantheons, jeweils
Beispiele für eine ausufernde historische Einleitung sehen.
Bereits diese wenigen Beispiele illustrieren, wie bereits kurz
angedeutet, daß die hethitische Überlieferung eigentlich keine
historiographischen Quellentypen gleichsam in Reinform kennt.
Einerseits können historiographische Elemente Bestandteil der
verschiedensten Textgattungen sein, das reicht vom Brief, über
Erlasse, persönliche Dokumente, wie dem Testament ̈attušilis I. oder
der Apologie ̈attušilis III., über Gebete, Verträge bis hin zu so
eigentümlichen und isolierten Texten wie der aus der Spätzeit
stammenden Tafel KBo 4.14, für die sich bis heute nicht einmal eine
feste Bezeichnung gefunden hat26.
In besonders emotionaler Sprache klagt ein namentlich nicht ge-
nannter König über Verrat, Unvermögen und militärisches Unglück.
Weitere Texte wären zu nennen, so z.B. die Fragmente eines oder
mehrerer Werke aus der mittelhethitischen Zeit, die sich mit dem
Thronraub des Usurpators Muwatalli I. und dessen Ermordung durch
Mitglieder der Königsfamilie befassen oder die von H. G. Güterbock
schon vor langer Zeit als „Traditionsliteratur“ bezeichneten literari-
schen Zeugnisse, in denen die Grenzen zwischen Historiographie und
Literatur sehr verschwimmen: Die sogenannte „Palastchronik“ (CTH
8-9), die keine Chronik im eigentlichen Sinne darstellt27, oder der

26 Haas, Literatur (wie Anm. 13), 45 Anm. 17 bezeichnet den Text als „Instruktion“,
andere haben den Text als Brief oder Vertrag interpretiert; zur bisherigen Diskussion
um den Text vgl. jüngst J. Freu, La bataille de Nỉrija. RS 34.165, KBo 4.14 et la
correspondence assyro-hittite, in: D. Groddek / M. Zorman, Tabularia Hethaeorum
(Fs. Košak), Wiesbaden 2007, 271-292.
27 Vgl. in dieser Hinsicht die Überlegungen zur Struktur und Funktion des Textes
einerseits bei M. Zorman, The Palace Chronicle Reconsidered, in: D. Groddek /
S. Rößle (Hgg.), Šarnikzel (Gs. Forrer), Dresden 2004, 691-708, andererseits bei
A. Gilan, Bread, Wine and Partridges – A note on the Palace Anecdotes (= CTH 8),
in: Groddek / Zorman, Tabularia Hethaeorum (wie Anm. 26), 299-304.
36 Jörg Klinger

„Récit des marchands“ (CTH 822), ein scheinbar historischer Text, der
jedoch Teil eines Rituals war28.
Angesichts dieser großen Vielfalt von Textformen und literarisch-
stilistischer Verfahrensweisen überrascht nicht, dass auch das gleich-
sam klassische und vermeintlich so einheitliche Genre der hethitischen
Historiographie, die Annalistik selbst, eine ebensolche Vielfalt auf-
weist. In der Tat: weder sind die Annalen durchgängig sprachlich und
stilistisch auf einem hohen Niveau formuliert, wie das für einzelne
Passagen der hochgerühmten Annalistik Muršilis II. gilt, noch ist der
spröde Ton der Annalen ̈attušilis I. wirklich repräsentativ. Und eben-
sowenig wie die Annalistik ein einheitliches Bild zeigt, gilt dies für
andere historiographische Texte. Selbst die Apologie ̈attušilis III. ist
kein durchgängig auf hohem Niveau ausformuliertes, politisch-
ideologisch fein ausgewogenes Dokument. Exemplarisch sei eine Pas-
sage erwähnt, die an Schlichtheit den Vergleich mit den einige Jahr-
hunderte älteren Annalen seines Namensvetters ̈attušilis I. herausfor-
dert.
Apol. Rs. III 9-1329:

nu pÁun / nu URÜawarkinan URUDilmunann=a wedả̉īn / URÜakpišaš=ma kuru-


rijảta / LÚMEŠ GašgäI.A uijanun / n=aništa NÍ.TE-JA SIG5-ả̉un / nu=za am-
muk LUGAL KUR URÜakpiš kiš̉ảat / MUNUSTUM=ma=za
URU
MUNUS.LUGAL ̈akpiš kištat
„Und ich ging und ich befestigte die Städte ̈awarkina und Dilmuna. Die Stadt
̈akpiš aber war feindlich geworden. Die Kaškäer vertrieb ich. Die Stadt baute ich
selbst wieder auf. Und ich wurde König von ̈akpiš, du aber, Frau, wurdest
Königin von ̈akpiš.“30

Man darf nicht den Fehler begehen, aufgrund der Glanzpunkte, die die
meisten der eben genannten Werke ohne Zweifel aufzuweisen haben,
die Passagen zu übersehen, die in einfacher Syntax, stark typisiert mit

28 Vgl. S. Košak, A Note on „The Tale of the Merchants“, in: G. Beckman / R. Beal /
G. McMahon (Hgg.), Hittite Studies in Honor of Harry A. Hoffner Jr., Winona Lake,
2003, 249-252, bzw. Haas, Literatur (wie Anm. 13), 220.
29 Zum Text vgl. H. Otten, Die Apologie Hattusilis III. Das Bild der Überlieferung
(StBoT 24), Wiesbaden 1981, 16f.
30 Überraschend und unmotiviert an dieser Stelle die Verwendung der 2. Person, also
eine direkte Ansprache an die Gattin Pudủepa, die ansonsten im Text aber keine
eigenständige Rolle spielt. Der Text ist viel diskutiert, vor allem in Hinblick auf die
historischen Implikationen und die politisch-propagandistischen Intentionen, die
damit verbunden sind; s. zuletzt ausführlicher V. Parker, Reflections on the Career
of ̈attušiliš III until the Time of his Coup d’État, AoF 1999, 269-290 mit weiterer
Literatur.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 37

geringer sprachlicher und stilistischer Varianz in nahezu gleichen, fast


wörtlichen Wiederholungen immer wieder aufs Neue Feldzüge, Kämp-
fe, Eroberungen usw. darstellen. Diese Passagen sind es aber, die von
ihrem Umfang her mit Abstand den größten Teil auch der Annalen-
werke aus der Zeit Muršilis II. ausmachen.
So ist über weite Strecken die Erzählstruktur des Tatenberichtes
Šuppiluliumas I., die sein Sohn Muršili vermutlich unter Verwendung
der originalen Berichte nochmals niederschreiben ließ, meist recht sim-
pel. Feldzug reiht sich an Feldzug, die eigentlichen Anlässe werden
selten erwähnt.31 Sprachlich ist Vieles wenig elaboriert, Hypotaxe findet
sich überhaupt selten, allenfalls einfache Nebensätze zur Angabe von
Zeit, Ort, Art des Gegners u. ä. Teilweise wiederholen sich Sätze oder
kurze Passagen identisch oder nur teilweise variiert. Typisch dafür sind
die Angaben des göttlichen Beistandes, die übliche Formel mit piran
ˀuwai-, aber auch andere Beispiele lassen sich anführen. Wiederholt
wird die Erkrankung des Vaters von Šuppiluliuma I. erwähnt:
KUB 19.10 (= E frag.13)
Vs. I 7 [a]m-me-el-ma A-BI A-BI-JA ̉a-ad-du-li-iš-ta nam-ma (8) na-aš IŠ-TU
KUR URUUGU-TI kat-ta ú-it
KBo 14.3 (= F frag. 14)

Rs. III (22’) A-BI A-BI-JA-ma ̉a-ad-du-li-iš-ta nam-ma (23’) na-aš IŠ-TU KUR
UGU-TI kat-ta ú-it
„Mein Großer Vater (aber) wurde wieder gesund und er kam aus dem Oberen Land
herab.“32

Die Krankheit von Šuppiluliumas Vater spielt insofern eine Rolle, als
sie die Möglichkeit bietet, daß Šuppiluliuma selbst eigenständig das
Kommando führt und somit – gleichsam in Vorwegnahme seines
späteren Thronraubes – bereits die Funktion des Königs übernimmt. In
denselben Zusmmenhang gehören die in den Text eingestreuten
Passagen, in denen sich entweder Šuppiluliuma selbst an seinen Vater
wendet mit der Bitte, ihn einen Feldzug durchführen zu lassen, oder

31 Vgl. dazu auch das Beispiel von Cancik, Grundzüge (wie Anm. 13), 159 aus der
7. Tafel der Tatenberichte des Šuppiluliuma I.
32 Die beiden Beispiele unterscheiden sich lediglich durch das im ersten Fall hinzuge-
setzte Personalpronomen der 1. Pers., das jedoch bereits graphisch durch ein enkliti-
sches akkadisches Sufixpronomen ausgedrückt wird, also keinen zusätzlichen In-
formationsgehalt hat; dafür wird in beiden Fällen das nicht sehr häufige namma in
Satzendstellung verwendet, das sich allerdings mehrfach gerade in Muršili II.-
Texten nachweisen läßt.
38 Jörg Klinger

der König selbst die Frage stellt, wer eine bestimmte Aufgabe
übernehmen will, auf die sich dann Šuppiluliuma meldet.33
KBo 14.3 (= F frag. 14)
Rs. III (9’) UM-MA A-BI A-BI-JA-MA (10’) [ku-iš-wa p]a-iz-zi UM-MA A-BU-JA-
MA am-mu-uk-wa pa-a-i-mi
„Folgendermaßen (sprach) aber mein Großvater: ‚Wer wird gehen?‘ Mein Vater
aber (sprach): ‚Ich werde gehen!‘“

Auch hier liegt die Vermutung nahe, daß wörtliche Rede lediglich aus
rhetorischen Gründen verwendet wird. Eine gängige Praxis in den
annalistischen Texten, die immer wieder solche Zitate verwenden,
manchmal ohne direkte Angabe eines Sprechers, um damit z.B. die
allgemeine Haltung des Feindes zu charakterisieren. Ein Beispiel findet
sich wiederum im Tatenbericht von Šuppiluliuma I.:
KBo 5.6 (= A frag. 24)

Vs. I (3) (…) nu ku-it-ma-an URUDIDLI.̈I.A ú-e-te-es-ki-it (4) LÚKÚR-aš-za wa-al-


le-eš-ki-iz-zi I-NA KUR URUAl-mi-na-wa-ra-an-kán (5) kat-ta-an-ta Ú-UL ku-wa-
at-ka4 tar-nu-um-me-ni

„Und während er die Städte befestigte, da prahlte der Feind ständig: 'In das Land
Almina werden wir ihn niemals lassen!'“

Was für solche Beispiele vermeintlich wörtlich zitierter Rede gilt, die
sich leicht vermehren ließen, dürfte in ähnlicher Weise auch für die
Zitate aus Briefen oder Befehlen usw. des Königs gelten, die ebenfalls
die diversen Annalenwerke durchziehen. Hier ist zumindest theore-
tisch möglich, daß es sich um wörtliche Zitate aus authentischen Quel-
len handelt. Dies unterscheidet sie von den imaginierten Dialogen und
Aussprüchen mit ihren formalen Parallelen in der Überlieferung der
klassischen Antike. Die Vorstellung, daß ein hethitischer Schreiber, der
es in der Regel gewohnt war, ein Dokument, das er kopierte, nicht
wirklich in unserem Verständnis zu kopieren, sondern immer in die
Texte einzugreifen, wörtlich zitierte, wäre ungewöhnlich. Wenn Ver-
änderungen gegenüber einer Vorlage vorgenommen wurden, lässt sich
dies leicht verfolgen, sofern diese nur die Orthographie oder die Spra-
che betreffen. Aber dabei bleibt es oft nicht,34 und in der Regel kann die

33 Vgl. etwa frag. 11 II 5’ff.; frag. 13 Rs. III 7’ff.; frag. 14 Rs. IV 38’ff.
34 Es sei hier nur an die klassische Stelle aus dem Zalpa-Text erinnert: KBo 22.2 Rs.
11’f.; vgl. H. Otten, Eine althethitische Erzählung um die Stadt Zalpa, Wiesbaden
1973, 12f. bzw. den Kommentar zur Stelle ebd., 50. Offenbar konnte in die Vorstel-
lungswelt eines junghethitischen Kopisten nicht passen, daß ein Tabarna, worunter
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 39

Authentizität solcher Zitate nicht verifiziert werden, da uns die ent-


sprechenden Quellen fehlen. Es entspräche m. E. einer sehr anachronis-
tischen Vorstellung, wenn man allzu viel Vertrauen in die Echtheit der
Textzitate im Sinne einer modernen Quellenkritik setzte. Zudem müs-
sen wir uns vergegenwärtigen, daß sich quer durch die verschiedenen
einzelnen historiographischen und vor allem annalistischen Werke eine
Reihe von Motiven ziehen, die für sich genommen jeweils einen realen
Hintergrund haben können, in ihrer Ähnlichkeit und Stereotypie aber
doch darauf hinweisen, daß wir es in erster Linie mit der zweckgebun-
denen Verwendung eigentlich literarischer Mittel zu tun haben, deren
Wirkung nahezu so lange bekannt ist, wie es Texte überhaupt gibt. Was
ist die Marija-Episode im Hukkana-Vertrag Šuppiluliumas I. anderes
als ein Exemplum im Sinne der Aristotelischen Definition als eingelegte
Geschichte als Beleg? Und daß auch die Verfasser der hethitischen his-
toriographischen Quellen ihre Texte sehr bewußt abfaßten und damit
bestimmte Intentionen verbanden ist trivial – daß sie dabei nicht bei
Ausgestaltung fiktionale Reden und Zitate stehen blieben, sondern sich
auch bestimmter Topoi bedienten, erscheint evident.35 Als ein mögli-
ches Beispiel für einen solchen Topos, nämlich das überraschende Auf-
finden von Quellen, sei hier nur auf eine weitere sehr bekannte Stelle
aus Texten der Zeit Muršilis II. verwiesen. Nachdem sich Šuppiluliuma
I. den Wunsch der Witwe des ägyptischen Pharaos angehört hatte,
verlangt er nach einer alten Vertragstafel, die Aufschluß über das Ver-
hältnis der beiden Länder in der Vergangenheit geben kann. Dies ist
insofern relevant, als es ja Šuppiluliuma I. selbst war, der durch seine
militärischen Aktionen gegen die Ägypter eine kritische Situation aus-
gelöst hatte. Der Vertag wird herbeigeschafft und sein Inhalt bzw. seine
Bedeutung an dieser Stelle im Annalenbericht kurz skizziert. Genau
derselbe Text spielt auch eine wesentlich Rolle in einem ganz anderen
Text, der ebenfalls von Muršili II. stammt, eines seiner sog. Pestgebete.
Beide Textpassagen seien hier einander gegenübergestellt:
1. Fassung: KBo 14.12 (E frag. 28):
Rs. IV (26) (...) nu A-BU-JA iš-̉i-ú-la-aš nam-ma tup-pí (27) ú-e-ek-ta an-na-az
ma-ả-̉a-an LÚ URUKu-ru-uš-ta-ma (28) DUMU URUʿA-AT-TI dX-aš da-a-aš

er nur die Majestät zu verstehen scheint, und nicht einfach eine Person dieses Na-
mens, gefangen genommen werden sollte, weshalb er in die Konstruktion des Textes
eingriff und aus dem Objekt mTabarnan ein Subjekt tabarnaš machte.
35 Zum Grundsätzlichen sei hier nur auf das nachgerade klassische Werk von E. R.
Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen / Basel 111993
verwiesen.
40 Jörg Klinger

na-an KUR URUMi-iz-ri (29) pé-e-da-aš na-aš LÚMEŠ URUMi-iz-ri i-ja-at nu-kán dX-
aš (30) [A-NA] KUR URUMi-iz-ri Ù A-NA KUR URUʿA-AT-TI ma-ả-̉a-an (31)
[iš-̉]i-ú-ul iš-tar-ni-šum-mi iš-̉i-ja-at

„Und mein Vater verlangte wiederum nach der Tafel: Wie einstmals der
Wettergott den Mann von Kuruštama, den Hethiter nahm und ihn nach Ägypten
brachte und sie zu Ägyptern machte und wie der Wettergott einen Vertrag
zwischen dem Land Ägypten und dem Land ̈atti schloß.“

2. Fassung: KUB 14.8 Vs. 13'-15'


(13') (…) LÚMEŠ URUKu-ru-uš-ta-am-ma ma-ả-̉a-an (14') [(dIŠKUR URUʿA-A)]T-
TI I-NA KUR URUMi-iz-ri pé-e-da-aš nu-uš-ma-aš dIŠKUR URUʿA-AT-TI ma-ả-
̉a-an (15') [(iš-̉i-ú-u)]l A-NA LÚMEŠ URUʿA-AT-TI me-na-ả-̉a-an-da i-ja-at
nam-ma-at IŠ-TU d URUʿA-AT-TI (16') l[i-in]-ga-nu-wa-an-te-eš

„Wie der Wettergott von ̈atti die Leute von Kuruštama nach Ägypten brachte und
wie der Wettergott von ̈atti einen Vertrag zwischen ihnen und den Leuten von
̈atti machte, so daß sie durch den Wettergott von ̈atti Vereidigte waren.“

Bis auf das Detail, daß hier im zweiten Fall eher der Eindruck entsteht,
zwischen den Leuten von Kuruštama und den Hethitern sei ein Vertrag
geschlossen worden, nicht aber zwischen Ägyptern und Hethitern,
entsprechen sich beide Fassungen gut und es kann kein Zweifel daran
bestehen, daß es sich um denselben Text handelt, von dem hier die
Rede ist. Interessant ist aber, daß Muršili in seinem Pestgebet ausdrück-
lich erwähnt, daß er die Tafel fand und damit den Eindruck erweckt,
von ihrem Inhalt nichts gewußt zu haben; wohl um keine direkte Mit-
schuld an dem von hethitischer Seite begangenen Vertragsbruch einzu-
räumen, obwohl doch in dem ebenfalls von ihm in Auftrag gegebenen
Werk über seinen Vater bereits genau derselbe Sachverhalt dargestellt
wurde. Während aber für Šuppiluliuma I. in seinem Tatenbericht der
Vertrag geradezu als Beleg dafür angeführt wird, daß zwischen den
beiden Ländern seit alters her ein friedliches Nebeneinander existiere
und die Tatsache übergangen wird, daß er eben diesen Vertrag gebro-
chen hat, räumt Muršili II. in seinem Pestgebet dies ganz offen ein und
sagt ausdrücklich, daß der Angriff Šuppiluliumas I. auf Amqa gegen
diesen Vertrag verstieß. Wie kann aber Muršili II. einen Vertrag „fin-
den“, dessen Existenz und Inhalt offensichtlich kein Geheimnis war?
Die Darstellung im Tatenbericht des Šuppiluliuma I. erweist sich damit
als eine eindeutig in politischer Absicht manipulierte Version, während
die Version in den Pestgebeten sich der literarischen Stilisierung – des
überraschenden Fundes – bedient, um Muršili von einer möglichen
Mitverantwortung zu schützen.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 41

Wie sehr sich Topoi besonders durch die historiographische Litera-


tur der Hethiter ziehen, soll noch an einem ganz typischen Beispiel
etwas näher beleuchtet werden. Wir beschränken uns auch hierbei
wiederum nur auf das Korpus der Muršili II.-zeitliche Texte, die An-
zahl der Belege und Variationen ließe sich aber leicht erweitern. Ich
greife hier den Topos der Unterwerfung heraus, genauer das „sich vor
dem hethitischen König zu Boden werfen“ oder „niederknien“ (heth.
̉alija-).

Das 1. Beispiel stammt aus den Ausführlichen Annalen des Muršili II.
(AM) und zwar aus dem 10. Jahr:
KBo 4.4 Rs. IV
MEŠ URU
(18) ma-ả-̉a-an-ma-mu-kán LÚ Du-uk-ka4-am-ma me-na-ả-̉a<-an>-da
a-ú-e-er (19) na-at-mu me-na-ả-̉a-an-da ú-e-er na-at-mu GÌRMEŠ-aš kat-ta-an
(20) ̉a-a-li-i-e-er nu-mu me-mi-ir BE-LÍ-NI-wa-an-na-aš ŠA URUA-ri-ip-ša-a (21)
i-wa-ar URÜa-at-tu-ši ša-a-ru-wa--u-wa-an-zi le-e ma-ni-ja-ả-ti (22) nu-wa-an-
na-aš BE-LÍ-NI an-da a-ra-an-da ar-nu-ut nu-wa-an-na-aš URÜa-at<-tu>-ši (23)
ar-̉a pé-̉u-te nu-wa-an-na-aš-za ÉRINMEŠ ANŠE.KUR.RÄI.A i-ja (...)

„Als aber die Leute von Dukkamma mich kommen sahen, da kamen sie mir
entgegen und sie knieten zu meinen Füßen und sprachen: ‚Unser Herr! Überlaß uns
nicht wie Aripša ̈attuša zum Plündern. Und setze uns, unser Herr, geschlossen in
Marsch und bringe uns nach ̈attuša und mache uns zu Fußtruppen und
Wagenkämpfern!’“

Die Gegner von Muršili II. akzeptieren die Unterwerfung und er führt
sie nach ̈attuša weg, wo er sie, genannt werden 3000 Deportierte,
entsprechend ihrem Wunsch tatsächlich in sein Heer einfügt. Das
einzige, was auffällt, ist daß die gekürzte Fassung des Tatenberichtes,
die sog. Zehnjahres-Annalen (ZAM), dieses Detail übergeht, dafür je-
doch ausdrücklich eine Einnahme der Stadt im Kampf erwähnt. Auch
von der Einfügung der Deportierten, deren Zahl übereinstimmt, wird
nichts erwähnt, sondern vielmehr ausdrücklich gesagt, daß sie dem
„Haus des Königs“ zugeführt worden wären – und es werden noch
ungezählte durch das Heer aufgebrachte Deportierte genannt, die
wiederum in den AM fehlen.
42 Jörg Klinger

KBo 3.4 Rs. IV

(39) (…) nu-kán URUA-ri-ip-ša-an (40) URUDu-uk-ka-am-ma-an-na za-ả-̉i-ja-


za kat-ta da-ả-̉u-un

„Und Aripsa und Dukamma habe ich im Kampf eingenommen.“

Einen ähnlichen Fall bieten die Berichte zum 9. Jahr. Zunächst wird
berichtet, wie die Städte Piggainarešša und dann Jảrešša zerstört und
Bewohner weggeführt werden. Dann zieht der König weiter nach
Taptina und verbrennt die Stadt Tarkuma und der Text fährt ganz
ähnlich fort:
KBo 4.4 Rs. III

(45) nu-mu LÚMEŠ URUTap-ti-na LÚMEŠ URÜur-ša-ma LÚMEŠ URUPí-ku-ur-zi


(46) me-na-ả-̉a-an-da ú-e-er na-at-mu GÌRMEŠ-AŠ kat-ta-an (47) ̉a-a-li-ja-an-da-
at nu ki-iš-ša-an me-mi-ir BE-LÍ-NI-wa-an-na-aš (48) le-e ̉ar-ni-ik-ti nu-wa-an-
na-aš-za ÌR-an-ni da-a (49) nu-wa-an-na-aš-za ÉRINMEŠ ANŠE.KUR.RÄI.A i-
ja nu-wa-ad-da (50) kat-ta-an la-ả-̉i-ja-an-ni-iš-ga-u-e-ni (...)

„Und die Leute von Taptina, die Leute von ̈uršama (und) die Leute von Pikurzi
kamen mir entgegen und sie knieten zu meinen Füßen und sprachen: ‚Unser Herr!
Vernichte uns nicht. Nimm uns in Knechtschaft an und mache uns zu Fußtruppen
und Wagenkämpfern. Und wir werden mit dir zu Felde ziehen.‘“

Wiederum kürzt die Version der ZAM deutlich36 und behauptet


darüber hinaus ausdrücklich, daß der König nach dem Sieg über
Jảrešša und Piggainarešša nach ̈attuša zurückgekehrt sei. Auch hier
also eine signifikante Differenz beider Versionen, die nicht allein nur
kürzt, sondern aufgrund der Kürzungen gezwungen ist, neue Abläufe
zu behaupten.
Daß es sich hierbei wahrscheinlich um einen mehr oder weniger im
Detail ausgestalteten literarischen Topos handelt, der den voll-
kommenen Sieg des hethitischen Königs unterstreichen soll, als um ein
jeweils authentisches Geschehen, das sich so zugetragen hat, läßt sich
aber m.E. überzeugend dort zeigen, wo sich tatsächlich nicht nur ana-
loge Passagen vergleichen lassen, sondern wo wir die Möglichkeit ha-
ben, die Technik der hethitischen Schreiber konkret zu beobachten.
Dies ist dann der Fall, wenn ein und dieselbe historische Episode in
unterschiedlichen Texten geschildert wird. Und tatsächlich gibt es ei-

36 Die hier in diesem Beispiel zitierten Sätze ab Z. 46ff. finden sich nahezu identisch,
wenn auch noch etwas weniger ausformuliert, z.B. auch schon im Bericht über das 3.
Jahr (KUB 14.15 Rs. III 46ff.), wo sie in der ZAM-Version (KBo 3.4 Vs. II 40f.) eben-
falls fehlen.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 43

nen solchen Glücksfall der Überlieferung. Es handelt sich um die Dar-


stellung des Konfliktes Muršili II. und dem westanatolischen Fürsten
Manapa-Tar̉unta, von dem gleich drei nicht in direkter Abhängigkeit
stehende Überlieferungen erhalten sind, sämtliche aus der Zeit Muršilis
II. selbst.37 Zunächst sollen alle drei Versionen in Übersetzung geboten
werden.38
Aus den 10-Jahres-Annalen Muršilis II. (KBo 3.4):

Rs. III 10 „[Sowie ich aber aus dem Šẻa-Flußland] zurückkam, 11 hätte ich eigent-
lich gegen [Manapa-Tar̉unta], der Herr des Šẻa-Flußlandes war, 11 kämpfen sol-
len, (doch) sowie 12 [Manapa-Tar̉unta] 11 über mich 12 [hör]te: „Der König des
̈atti-Landes kommt“, 13 [fürchtete] er sich und 14 [kam] 13 mir daraufhin 14 [nicht]
13
(zum Kampf) entgegen, 15 (sondern) schickte 14 mir seine Mutter, Greise und
Greisinnen 15 voraus [entgegen]. Sie kamen zu mir (und) 16 [fielen] 15 (mir) zu Fü-
ßen. 16 Und weil mir Frauen zu Füßen fielen, 17 gab ich nach um [der Frauen] wil-
len. Nach dem Šẻa-Flußland 18 zog ich 17 also 18 [nicht]. Die Einwohner des ̈atti-
Landes, die sich im Šẻa-Flußland 19 befanden, die lieferten sie mir freiwillig aus.“

Aus dem Vertrag Muršilis II. mit Manapa-Tar̉unta vom Šẻa-Flußland (KUB
19.49 Vs.):
29
„[ Als] aber [dann Ủ̉a-ziti, der König des Landes Arzawa, meiner Majestät ge-
30
genüber feind]lich wurde, da [hast du, Manapa-Tar̉unta, meiner Majestät ge-
31 32
genüber gef]ehlt und dich de[m Ủ̉a-ziti, meinem Feind, angeschlos]sen.
33
Meine Majes[tät aber hast du bekämpft] und dich [mir] nicht angeschloss[en].
34 35
§ 4, [Als ich aber] gegen Ủ̉a-ziti und die [Männer von Arzawa zu Felde
36 35
zo]g, da packten [ihn] die Eidgötter, weil Ủ̉a-ziti [die Eide] mit mir [gebro-
36 37
chen hatte. Und ihn vernicht]ete [meine Majestät.] Und weil du aber (ein
38
Mann) [des Ủ̉a-ziti geworden warst, hätte] ich [d]ich ebenso vernichtet. [Und]
39
du [w]arfst [Dich mir zu Füßen nieder] und die [alten] Männer [und alten Frauen
40 41
schicktest du] zu mir [ und] de[ine] Boten [warfen sich] mir zu Füßen nie[der.
Und folgen]dermaßen schriebst du [mir:] „Mein Herr, lasse mich lebe[n! Und mein
42
Herr möge mich nicht vern]ichten! Nimm mich in Dienst und [schütze] meine
43
Person! [ Und die D]eportierten des Landes Mira (und) die De[portier]ten des

37 Vgl. zu diesem Beispiel auch stilistischen Interpretationen bei Cancik, Grundzüge


(wie Anm. 13), 148f.
38 Es kann an dieser Stelle nicht auf alle philologischen Details eingegangen werden,
das würde den Rahmen bei weitem sprengen; deshalb verzichten wir auf eine Trans-
literation des hethitischen Textes, da für unsere Zwecke die Übersetzungen aussage-
kräftig genug sind. Es wäre ein interessantes Unterfangen, die sprachlich-
stilistischen Abweichungen im Detail und insbesondere die intertextuellen Bezüge
zwischen den Versionen und jeweils analogen Passagen aus anderen Stellen der
Muršili II.-Historiographie näher zu beleuchten.
44 Jörg Klinger

44
Landes ̈atti [ oder] die Deportierten des Landes Arza[wa – wer] auch immer zu
45 46
mir [ herüber] gekommen ist, [einen jed]en werde ich von da [ auslief]ern.“
47
Und meine Majestät, hatte Mitleid mit dir [ und gab dir] deshalb nach. Und ich
[nahm] dich freundschaftlich auf.“

Aus den ausführlichen Annalen Muršilis II. (KUB 14.15):


Rs. IV 19 „Sowie aber Manapa-Tar̉untas, der Sohn des Muwa-Walma, über mich
hör[te: „Die Majestät] 20 kommt!“, schickte er mir einen Boten entgegen und
sch[rieb] mir folgendermaßen: [Mein Herr], 21 töte mich nicht. Nimm mich, mein
Herr, in Dienst. Und die Leute, die [zu] mir [kamen], 22 die will ich meinem Herrn
ausliefern!“ Ich aber ant[worte]te ihm folgendermaßen: 23 „Als dich deine Brüder
aus deinem Lande verjagten, 24 empfahl ich dich den Männern von Karkiša 25 und
sandte ihnen mehrmals Gaben. Und dennoch 26 hast du dich mir nicht angeschlos-
sen. Dem Ủ̉a-ziti, meinem Feind, 27 hast du dich angeschlossen. Und jetzt soll
ich dich in Dienst nehmen?" Ich wäre trotzdem gegen ihn gezogen 28 und hätte ihn
vernichtet, da schickte er mir seine Mutter entgegen. Und sie kam 29 und fiel mir
zu Füßen und sprach folgendermaßen: „Unser Herr 30 vernichte uns nicht; nimm
uns, unser Herr, in Dienst!“ Und weil mir eine Frau 31 entgegen kam und mir zu
Füßen fiel, 32 fügte ich mich 31 der Frau 32 und zog deshalb nicht in das Šẻa-
Flußland. 33 Und den Manapa-Tar̉unta nahm ich in Dienst.“

In den Grundzügen stimmen alle Darstellungen mehr oder weniger


überein, im Detail gibt es jedoch signifikante Abweichungen. Greifen
wir auch hier speziell den Unterwerfungstopos heraus, so ist er jeweils
unterschiedlich ausgestaltet: In der ausführlichsten Fassung geht der
Bitte um Gnade vor allem durch die Mutter des Manapa-Tar̉unta noch
ein direkter Briefwechsel voraus, so daß die Mutter für sich selbst
spricht, während sie in der Einleitung des Vertrages gar nicht mehr
erwähnt wird. Dafür fungieren die Alten als Boten einer Nachricht von
Manapa-Tar̉unta. Doch auch dieses vermeintliche Zitat deckt sich nicht
mit dem Brief, wie er in den ausführlichen Annalen zitiert wird.
Die verschiedenen hier angeführten Beispiele, die nur eine Aus-
wahl aus einem auf die Zeit Muršilis II. beschränkten Textkorpus dar-
stellen, zeigen m. E. ausreichend welche literarischen Verfahrensweisen
zur Anwendung kommen können, um mit Hilfe typischer Situationen
oder Handlungen bestimmte Sachverhalte zu beschreiben. Dabei spielt
es keine oder nur eine sekundäre Rolle, ob der Ablauf des Geschehens
sich im konkreten Falle tatsächlich so und nicht anders zugetragen hat.
Entscheidend ist vielmehr, daß mit Hilfe eines bestimmten Topos’ eine
bestimmte Aussage allgemeinverständlich transportiert werden kann.
Solche Topoi sind in allen Literaturen gängig, und die hethitische Über-
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 45

lieferung dürfte hier keine Ausnahme darstellen. Man muß sie nur als
solche erkennen und zu deuten lernen.
Daß die hethitische Annalistik auch inhaltlich einer Entwicklung
unterliegt, steht außer Zweifel. Sie ist insgesamt vielschichtiger gewor-
den. Der Bericht konzentriert sich nicht allein auf den König oder nur
einen Ort; andere, wie Königssöhne oder Truppenkommandeure, tre-
ten als Handelnde neben ihm auf. Aber die sprachlichen Mittel bleiben
dennoch relativ einfach – Überleitungen zwischen den Handlungs-
schauplätzen oder gar Polyperspektivität fehlen, und die zeitlichen
Verhältnisse paralleler Aktionen werden sprachlich oft nicht eindeutig
ausgedrückt.39
Die sprachliche Abbildung von Ereignissen ist aber nicht nur ein
Problem der hethitischen Historiographie und ist auch nicht nur in den
syntaktischen Möglichkeiten des Hethitischen begründet, wie die mo-
derne und postmoderne Debatte um die Möglichkeit „Geschichte“ zu
schreiben, eindringlich deutlich macht. Ein Hauptanliegen Hayden
Whites bestand darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß erst
die Narration das Mittel ist, das einzelne Fakten auf der Ebene eines
Textes verknüpft. Isolierte Sachverhalte bedeuten zunächst nur wenig,
sind im eigentlichen Sinne noch keine Geschichte; diese werden sie erst
im Modus der Erzählung.40 Aber auch die narrative Verknüpfung von
realen Fakten macht aus diesen noch keine reine Fiktion.41 Wenn aber
in einem hethitischen Text zwei Ereignisse unverbunden nebeneinan-
der stehen, so ist es zunächst unsere Interpretation, die daraus ein Kau-
salverhältnis ableitet.
Nicht zuletzt deshalb teile ich das Urteil von J. Assmann nicht, daß
gerade die 7. Tafel der Taten Šuppiluliumas den Höhepunkt der hethi-
tischen Geschichtsschreibung darstelle und davon wiederum gerade
die daˀamunzu-Episode das Glanzlicht schlechthin sei. Dieses Urteil
bezieht sich m. E. vielmehr auf unsere moderne Rekonstruktion der
Geschehenszusammenhänge, sozusagen auf eine Metaebene des Tex-
tes, nicht aber auf seine konkrete Ausgestaltung. Lediglich einige Pas-
sagen der erhaltenen Texte, nicht die hethitische Annalistik insgesamt

39 Insgesamt sind die Beispiele für grammatisch markierte Konzessivsätze überhaupt


relativ selten Vgl. CHD L-N, sub m¬n + -ja.
40 Es kann hier unmöglich die Theoriedebatte der letzten Jahrzehnte aufgerollt werden,
das führte auch weit über das Anliegen dieses Beitrages hinaus; m. E. noch immer
relevant die Überlegungen von K. Stierle, Erfahrung und narrative Form. Bemer-
kungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: J. Kocka /
Th. Nipperdey (Hgg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979,
85-118.
41 Zum Grundsätzlichen vgl. V. C. Dörr, Wie dichtet Klio?, Zeitschrift für deutsche
Philologie 123 (2004), 25-41, 26.
46 Jörg Klinger

erreicht unter Muršili II. ihren Höhepunkt, indem sie ausgewählte Epi-
soden mit Details ausstatten und durch topische und stilistische Mittel
anreichern, deren Wert im Sinne eines historiographischen Wahrheits-
anspruches offensichtlich ausgesprochen zweifelhaft bleibt.
Ansatzweise läßt sich ein solches Verfahren bereits in den Annalen
̈attušilis I. nachweisen, der sich – völlig unerwartet – mit Sargon von
Akkade vergleicht, der mehr als ein halbes Jahrtausend vorher den
ersten mesopotamischen Territorialstaat begründete. Ein weiteres, ver-
gleichbares Mittel ist das bereits erwähnte Exemplum, das anhand ei-
nes typischen Geschehens allgemeine Zusammenhänge illustrieren und
erklären soll. Je umfangreicher die Texte sind, desto größer ist der An-
teil solcher topischer Elemente und stilistischer Mittel.
Was wir üblicherweise mit dem genrespezifischen Begriff der An-
nalen bezeichnen, könnte man dementsprechend als Texte bestimmen,
deren Kernbestand ein sprachlich relativ einfach strukturierter Bericht
eines konkreten, in linearer Abfolge42 abgebildeten Ereignisses oder
Geschehens ausmacht. In unterschiedlichem Maße kann diese Darstel-
lung mit literarischen Mitteln angereichert werden, ohne daß wir eine
Möglichkeit hätten, die Authentizität der zitierten Reden, ausgetausch-
ten Nachrichten oder vermeintlich wörtlichen Quellenzitate tatsächlich
zu prüfen. Vieles spricht jedoch dafür, daß es sich dabei oftmals um
fiktive Elemente handelt, die dazu dienen, den Wahrscheinlichkeitsge-
halt des Beschriebenen zu unterstreichen. Um die Funktionsweise der
hethitischen historiographischen Texte zu verstehen, darf man sich
nicht auf nur eine Gattung wie die Annalen oder die historischen Ein-
leitungen der Verträge beschränken, sondern muß die Gesamtheit der
Überlieferung berücksichtigen, gerade auch die Texte, die bislang stär-
ker als „literarisch“ eingestuft wurden.
Die besondere Wertschätzung, der sich die hethitische Historiogra-
phie wiederholt erfreut hat, könnte sich also einem Mißverständnis
verdanken. Was ihre vermeintliche Qualität – Qualität im Sinne einer
historischen Exaktheit – ausmacht, ist gerade nicht ihr besonderer his-
toriographischer Sinn, sondern vielmehr die Tendenz zur literarischen
Ausgestaltung der Fakten mit mehr oder weniger fiktionalen Details.
Und sie scheint dann ihren Höhepunkt zu erreichen, wenn es ihr am
besten gelingt zu erzählen.

42 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von St. de Martino interessant, der für die
frühere Annalistik der mittelhethitischen Zeit, etwa bei Tut̉alija I., als Ordnungs-
prinzip keine zeitliche Abfolge, sondern eine geographische nach Lage der Orte
erkennen zu können glaubt; vgl. St. de Martino, L’Anatolia, bzw. ders., Annali e Res
Gestae antico ittiti (Studia Mediterranea 12, Series Hethaea 2), Pavia 2003, 10.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 47

Vielleicht bietet die hethitische Historiographie als eigenständige


Literaturform, die die Hethiter vermeintlich nicht vorzuweisen haben,
nicht den Anfang des Geschichtsbewusstseins, sondern es sind Ge-
schichten, die anstelle von Geschichte am Beginn der Geschichtsschrei-
bung stehen.
48 Jörg Klinger

Abstract

The relationship of the Ancient Near Eastern Cultures to their own past
is a much disputed issue. While some reduce the historiographic achie-
vements of the cuneiform cultures to lists of events and rulers, others
attest a historic conscience to the Hittites. This article presents different
genres of historical Hittite texts and emphasizes their formal diversity,
e.g. annals, historical treaty introductions and letters, none of which
came down to us in a pure form. Furthermore, it remains a matter of
interpretation as to whether certain literary idiomatic topics allude to
historical events. Also, the article indicates developments within the
various genres. Hittite sources do not allow a history to be reconstruc-
ted from the historical sources on a one-to-one basis. In order to elabo-
rate the knowledge about Hittite historiography, besides annals and
treaty texts, the literary sources must likewise be taken into considera-
tion. The tendency in these texts to elaborate the facts with what mo-
dern readers would call more or less “fictional” details is part of Hittite
historiography. This is shown with the example of the three varying
accounts of a conflict between Muršili II. and the sovereign of western
Anatolia Manapa Tar̉unta. It is suggested that Hittite historiography
reaches its climax when it comes to telling stories, and not in the often
so-called “historical” annalistic sources.
Thukydides und die griechische Sicht der
Vergangenheit1

Hans-Ulrich Wiemer

I. Einleitung

Für kaiserzeitliche Griechen war das Werk des Thukydides vor allem
eines: die maßgebliche Darstellung des Peloponnesischen Krieges, der
einen zentralen Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses bildete, auch
wenn er damals bereits ein halbes Jahrtausend zurücklag. Wie Herodot
gehörte er zur Pflichtlektüre all derer, die sich im griechischen Kultur-
bereich die einzige damals bekannte Form höherer Allgemeinbildung,
die Rhetorik, aneignen wollten. Darum war in der römischen Kaiserzeit
jeder, der als gebildeter Grieche gelten wollte, mit den Werken dieser
beiden Geschichtsschreiber vertraut, obwohl die antike Schule ein
Lehrfach „Geschichte“ überhaupt nicht kannte.2 Und da Thukydides an
Herodots Darstellung der Perserkriege anschloss, bildeten ihre Werke
ein sich gegenseitig ergänzendes Paar, aus welchem man die Kenntnis
einer entfernten, aber als hochbedeutsam empfundenen Vergangenheit
schöpfte.
Die moderne Geschichtswissenschaft hat in Thukydides eine Zeit-
lang ihren Archegeten gesehen, während Herodot stets als bloße Vor-
stufe auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung
betrachtet wurde.3 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt Thuky-

1 Ich danke Klaus-Peter Adam, Bruno Bleckmann, Alexander Demandt, Arbogast


Schmitt und Rainer Thiel für Anregungen und Kritik, Oliver Hihn für die sorgfältige
Korrektur des Manuskripts.
2 Roberto Nicolai, La storiografia nell’educazione antica, Pisa 1992, 297-339.
3 Vgl. etwa Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über die Enzyklopädie
und Methodologie der Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner, München
1937, 297: „Unermeßlich ist der Fortschritt des Thukydides gegen Herodot“; Eduard
Meyer, Forschungen zur Alten Geschichte, Bd. 2, Halle 1899, 263: „Bereits vom
Standpunkt der nächsten Generation aus erscheint Herodots Anschauung vielfach
naiv und archaisch“; Felix Jacoby, Herodotos, RE Suppl. II, 1913, 205-520, hier: 484-
485: „So ist das erste griechische Geschichtswerk noch sehr weit entfernt von dem
50 Hans-Ulrich Wiemer

dides weithin als historiographisches Vorbild, das man nachahmen


müsse, um es übertreffen zu können: Dass Barthold Georg Niebuhr,4
Johann Gustav Droysen5 und Leopold von Ranke6 ihn außerordentlich
schätzten, ist wohlbekannt. Aber auch Wilhelm Roscher, der Begründer
der (Älteren) Historischen Schule der Nationalökonomie, leitete eine
Monographie über Thukydides, die er 1842 veröffentlichte, mit den
Worten ein: „So habe ich den größten Meister m e i n e r Kunst zum
Gegenstande meines Werkes erkoren“.7 Als die historische Forschung
sich indessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend
Themenbereiche erschloss, die weder von Thukydides noch von ande-
ren Historiographen des griechisch-römischen Altertums thematisiert
worden waren – wie etwa Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftliche
Wechsellagen, politische Institutionen oder kulturelle Praktiken – be-
gann auch sein Stern zu sinken,8 wenngleich sich Historiker vereinzelt

Ideal einer historischen Darstellung. Man vermag es kaum zu glauben, dass schon
die nächste Generation den Mann erzeugt hat, der die Historiographie auf einen
Gipfel geführt hat, der nur noch erreicht, nicht überschritten werden kann“.
4 Barthold Georg Niebuhr, Vorträge über alte Geschichte an der Universität zu Bonn
gehalten. Herausgegeben von Max Niebuhr, Berlin 1848, 42: „Der peloponnesische
Krieg ist der unsterblichste aller Kriege weil er den größten Geschichtsschreiber ge-
funden von allen die je gelebt. Thukydides hat das Höchste erreicht was in der Ge-
schichtsschreibung möglich ist, sowohl in Hinsicht der bestimmten historischen Si-
cherheit als der lebendigen Darstellung“.
5 Droysen, Historik (wie Anm. 3), 297: „in der Höhe und Energie der Fassung, in der
Besonnenheit der Forschung, vor allem in dem Aufbau der katastrophischen Ent-
wicklung musterhaft“.
6 1854 erklärte Ranke vor dem bayrischen König, Thuykdides sei der erste und zu-
gleich der größte Geschichtsschreiber gewesen: Über die Epochen der Neueren Ge-
schichte. Historisch-kritische Ausgabe (Aus Werk und Nachlass II), München / Wien
1971, 68; vgl. dens., Weltgeschichte, 1. Band, 2. Abt., Leipzig 18864, 37-52, bes. 48:
„Dass er (sc. Thukydides) sich an die einfache Tatsache hält und nur die menschli-
chen Absichten ergründet, giebt seiner Geschichte für den kurzen Zeitraum, den sie
begreift, den Vorzug der Deutlichkeit und vollen Vergegenwärtigung, den wir be-
wundern“. Bereits Rankes verlorene Doktordissertation von 1817 handelte von Thu-
kydides. Die These von Konrad Repgen, Über Rankes Diktum von 1824: ‚Bloß sagen,
wie es eigentlich gewesen’, Historisches Jahrbuch 102 (1982), 439-449, bes. 445ff.,
Ranke habe besagtes Diktum Thukydides entnommen (akzeptiert von Moses I. Fin-
ley, Ancient History: Evidence and Models, London 1985, 116 Anm. 5), ist jedoch
nicht haltbar, wie Ronald S. Stroud, ‚Wie es eigentlich gewesen’ and Thucydides
2.48.3, Hermes 115 (1987), 379-382 gezeigt hat.
7 Wilhelm Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer Einleitung
zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen 1842, IX. Die Sperrung
steht im Original.
8 Arnaldo Momigliano, The Place of Ancient Historiography in Modern Histori-
ography (1980), in: ders., Settimo contributo alla storia degli studi classici e del mon-
do antico, Rom 1984, 13-36 setzt den Bruch mit den Traditionen antiker Historiogra-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 51

auch im 20. Jahrhundert noch zu Thukydides bekannt haben.9 Im glei-


chen Zuge, in welchem Thukydides seine Rolle als historiographisches
Vorbild einbüßte, machte die Historisierung seines Werkes Fortschritte.
Es wurde als Ausdruck einer bestimmten historischen Konstellation
interpretiert und in die geistigen Strömungen seiner Zeit eingeordnet.10
Als die französische Althistorikerin Nicole Loraux 1980 die These for-
mulierte, Thukydides sei kein Kollege, wirkte dies für die historische
Zunft durchaus nicht mehr als Provokation. 11
Im 21. Jahrhundert spielt Thukydides für die Identitätsbildung und
Methodenreflexion der Geschichtswissenschaft nur noch eine margina-
le Rolle. In Teilen der Politikwissenschaft hingegen ist er nach wie vor
höchst aktuell. Dies gilt namentlich für die Theorie internationaler Be-
ziehungen, wo Thukydides als Ahnherr des sogenannten Neo-Realis-
mus betrachtet wird, dessen Vertreter in Nordamerika seit langem ei-
nen weit über die akademische Welt hinausreichenden Einfluss
entfalten. Hier ist die Autorität des Thukydides bis auf den heutigen
Tag außerordentlich groß und wird dementsprechend häufig beschwo-
ren; der führende Neo-Realist Kenneth N. Waltz etwa beruft sich oft
und gerne auf Thukydides.12 Der amerikanische Politologe David A.

phie um 1860 an. Immerhin konnte aber Eduard Meyer noch 1902 formulieren (Zur
Theorie und Methodik der Geschichte [1902], in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1, Halle
1924, 67): „trotzdem gibt es nach wie vor nur eine einzige Art der Geschichte und
der Behandlung historischer Probleme, diejenige, welche der Athener THUKYDI-
DES zuerst geübt und deren Vorbild er in einer von keinem seiner Nachfolger er-
reichten Vollkommenheit hingestellt hat“; vgl. jedoch dens., Rede beim Antritt des
Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 15. Oktober 1919, in: ders.,
Kleine Schriften II, 547-554, bes. 549: „Doch wissen wir alle, dass wir Geschichte
nicht schreiben können wie er (sc. Thukydides)“.
9 Meist sind es Althistoriker – z. B. Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master
Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39-56; auch in: ders., Roman
Papers, Bd. 6, Oxford 1991, 72-87 –, aber nicht immer: Hajo Holborn, The Science of
History (1940), in: ders., History and the Humanities, New York 1972, 81-97.
10 Jacqueline de Romilly, Thucydide et l’imperialisme athénien – La pensée de l’histo-
rien et la genèse de l’oeuvre, Paris 1947, 21951; hier benutzt nach der englischen
Übersetzung: Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford 1963; Hartmut Leppin,
Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideenge-
schichte des 5. Jahrhunderts v. Chr. (Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 1), Berlin
1999.
11 Nicole Loraux, Thucydides n’est pas un collègue, Quaderni di storia 12 (1981), 55-81.
12 Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading/Mass. 1979. Dass Walt-
zens Thuykdides-Interpretation an einer entscheidenden Stelle auf einer fehlerhaften
Übersetzung beruht, zeigt Arthur M. Eckstein, Thucydides, the Outbreak of the Pe-
loponnesian War, and the Foundation of International Systems Theory, The Interna-
tional History Review 25/4 (2003), 757-778 (mit weiteren Literaturhinweisen). Die
Wertschätzung des Thukydides als Theoretiker internationaler Beziehungen ist aber
52 Hans-Ulrich Wiemer

Welch sah sich deswegen vor kurzem sogar dazu veranlasst, seine Kol-
legen aufzufordern, sie sollten endlich aufhören, Thukydides zu lesen.
Für Teile der modernen Politikwissenschaft ist Thukydides also nach
wie vor so etwas wie ein Kollege.13
Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, Thukydides sowohl
als Repräsentanten einer spezifisch altgriechischen Auffassung von Ge-
schichtsschreibung vorzustellen, als Kind seiner Zeit, wie man so sagt,
als auch als einen Geschichtsschreiber, dessen Konzeption uns noch
immer zur inhaltlichen Auseinandersetzung herausfordert. Ich werde
drei Aspekte herausgreifen: 1) das Verhältnis von Autor, Werk und
Publikum, 2) Methodenbewusstsein und Kausalanalyse, 3) Anthropo-
logie und Massenpsychologie.

II. Griechisches Geschichtsbewusstsein in archaischer


und frühklassischer Zeit

Bevor ich jedoch auf die historiographische Konzeption des Thukydi-


des zu sprechen komme, muss ich kurz auf die Entstehung und Eigen-
art der griechischen Geschichtsschreibung eingehen. Wenn es um Ur-
sprünge geht, führt bei den Griechen kein Weg an Homer vorbei; dieser
Satz gilt auch für die Geschichtsschreibung. Die homerischen Epen
haben für die Herausbildung einer gesamtgriechischen Identität eine
kaum zu überschätzende Rolle gespielt, denn sie haben den Griechen
eine gemeinsame Vergangenheit gegeben. „Ilias“ und „Odyssee“ stell-
ten einen Fundus von Ursprungsgeschichten bereit, die um ein ge-
samtgriechisches Unternehmen kreisten, von dem man glaubte, es habe
sich in grauer Vorzeit tatsächlich ereignet, den Trojanischen Krieg.
Dieser Krieg war zwar schon seit langem Gegenstand mündlicher
Dichtung, als „Ilias“ und „Odyssee“ schriftlich fixiert wurden. Diese
beiden Epen erlangten jedoch bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts ü-
berall in der griechischen Welt den Status klassischer Texte und konn-
ten daher als gemeinsamer Bezugsrahmen für alle Griechen dienen.14

keineswegs auf die Vereinigten Staaten beschränkt; der französische Soziologe Ray-
mond Aron etwa, der auch als Verfasser einer Theorie der Staatenwelt (Paix et guer-
re entre les nations, Paris 1962) hervorgetreten ist, konstatierte auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges (Thucydide et le récit des événements, History & Theory 1 (1961),
103-128, hier 128): „Thucydide reste notre contemporain“.
13 David A. Welch, Why International Relation Theorists Should Stop Reading Thucy-
dides, Review of International Studies 29/3 (2003), 301-319.
14 Auch wenn die ältere Forschung den Einfluss von „Ilias“ und „Odyssee“ auf die
bildende Kunst und lyrische Dichtung der früharchaischen Zeit weit überschätzt
hat, ist kaum zu bestreiten, dass diese beiden Epen spätestens am Ende des 7. Jahr-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 53

Zwischen den durch Homer kodifizierten Ursprungsgeschichten, die in


der gesamten griechischen Welt verbreitet waren, und der im kom-
munikativen Gedächtnis überlieferten jüngsten Vergangenheit klaffte
in archaischer Zeit freilich eine große Lücke, da dessen Speicherkapa-
zität bekanntlich nach drei Generationen erschöpft ist. Weil sie der
Gegenwart im immer gleichen Abstand von drei Generationen folgte,
spricht man im Anschluss an den belgischen Ethnologen Jan Vansina
vom „floating gap“.15
Das Geschichtsbewusstsein der Griechen wies in archaischer Zeit
also eine dreigeteilte Struktur auf, wie sie für orale Gesellschaften ty-
pisch ist: am Anfang Ursprungsgeschichten, in der Mitte das „floating
gap“, dessen Existenz den Zeitgenossen freilich kaum bewusst war,
und am anderen Ende die jüngste Vergangenheit, umfassend die letz-
ten drei Generationen.16 Dieses Geschichtsbewusstsein existierte jedoch
lediglich in einer Vielzahl lokaler Ausprägungen, die jeweils nur einen
recht geringen Anteil gesamtgriechischer Erinnerungen aufwiesen.
Denn die große Mehrzahl der Ursprungsgeschichten, die im archai-
schen Griechenland erzählt wurden, blieb stets dem Ort verhaftet, an
dem sie aufgekommen waren, weil sie rein lokalen Bedürfnissen nach
Handlungsorientierung und Sinnstiftung entsprungen waren. Jede
Polis hatte nicht nur ihr eigenes Ensemble von Kulten, ihr eigenes Pan-
theon, sondern auch ihre eigenen Geschichten von Göttern und Hero-
en. Die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit aber wurde in archai-
scher Zeit ohnehin in einem sehr engen, in der Regel auf die einzelne
Polis beschränkten Rahmen gepflegt. Eine gesamtgriechische Sicht der
jüngeren Vergangenheit konnte es unter diesen Bedingungen kaum

hundert sowohl einigen Lyrikern – vgl. dazu die umsichtige Untersuchung von Ro-
bert L. Fowler, Homer and the Lyric Poets, in: ders., The Nature of Early Greek Ly-
ric: Three Preliminary Studies, Toronto/Ont. u. a. 1987, 3-52 mit 105-117 (Anmerkun-
gen) – als auch einer Reihe von bildenden Künstlern und deren Auftraggebern
bekannt waren: Anthony Snodgrass, Homer and the Artists. Text and Picture in Ear-
ly Greek Art, Cambridge 1998, bes. 127ff.; Luca Giuliani, Bild und Mythos. Geschich-
te der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2003, 96ff. Zum Ge-
schichtsbild der „Ilias“ selbst vgl. jetzt Jonas Grethlein, Das Geschichtsbild der
„Ilias“. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspek-
tive (Hypomnemata. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 163),
Göttingen 2006.
15 Jan Vansina, Oral Tradition as History, Madison/Wisc. 1985. Die Unterscheidung
zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis hat bekanntlich Jan Ass-
mann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-
hen Hochkulturen, München 1992 eingeführt.
16 Reinhold Bichler, Das chronologische Bild der „Archaik“, in: Christoph Ulf / Robert
Rollinger (Hgg.), Griechische Archaik. Interne Entwicklungen – Externe Impulse,
Berlin 2004, 207-248.
54 Hans-Ulrich Wiemer

geben: Da die einzelnen Poleis miteinander nur schwach vernetzt wa-


ren, gab es nur sehr wenige Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die
von vielen oder gar allen Griechen als bedeutsam hätten erachtet wer-
den können.
Die Konkurrenz so vieler, auf die Bedürfnisse sehr kleiner Erinne-
rungsgemeinschaften abgestellter Geschichtsbilder wurde in archai-
scher Zeit nur von wenigen als Problem empfunden, auch wenn bereits
Hesiod versuchte, die unübersehbare Vielfalt der griechischen Götter
nach den Prinzipien der Abstammung und Verschwägerung zu ord-
nen.17 Um 500 aber machte sich Hekataios von Milet daran, eine ge-
samtgriechische Urgeschichte zu entwerfen, indem er die von den Göt-
tern abstammenden Heroen einem genealogischen System einordnete
und ihr Handeln radikal vermenschlichte.18 Zu diesem Zweck unter-
warf er die Geschichten, die von Halbgöttern und Heroen handelten,
einer Kritik nach Maßgabe des gesunden Menschenverstandes, indem
er monströse und paradoxe Elemente eliminierte. Dabei setzte er sich
bewusst und ausdrücklich in Gegensatz zu denen, deren Urgeschichte
er zu schreiben beanspruchte. Am Anfang seines Geschichtswerks er-
klärte er:
„Hekataios von Milet spricht folgendes: Dieses schreibe ich, wie es mir
wahr zu sein scheint. Denn die Reden der Griechen sind viele und, wie sie
sich mir enthüllen, lächerliche.“19

Dieses kurze Fragment lässt bereits eine Eigenart erkennen, die für die
griechische Geschichtsschreibung insgesamt charakteristisch ist: Der
Autor bleibt nicht anonym, wie die Verfasser neubabylonischer Chro-
niken20 oder judäischer Geschichtserzählungen,21 sondern bürgt mit

17 Maßgebliche Ausgabe: Hesiod, Theogony. Edited with Prolegomena and Commen-


tary by Martin L. West, Oxford 1966.
18 Grundlegend bleiben Felix Jacoby, Hekataios von Milet, RE VII, 2, 1912, 2667-2769
und Kurt von Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung, Bd. 1: Von den Anfängen
bis Thukydides, Berlin-West 1967, 48-76 mit den Anmerkungen in Bd. 2, 32-53; vgl.
auch O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt
1992, 10-18. Eine neue Ausgabe der Fragmente bei Robert L. Fowler, Early Greek
Mythography, Bd. 1: Texts, Oxford 2001, 110-146.
19 Hekataios FGrHist 1 F 1: ԧȜįijį‫ה‬ȡȣ ȃțȝսIJțȡȣ կİı ȞȤȚı‫ה‬ijįțǝ ijչİı ȗȢչĴȧ, խȣ Ȟȡț İȡȜı‫ה‬
ԐȝșȚջį ıՂȟįțǝ ȡԽ ȗոȢ ԧȝȝսȟȧȟ ȝցȗȡț ʍȡȝȝȡտ ijı Ȝįվ ȗıȝȡ‫ה‬ȡț, թȣ ԚȞȡվ Ĵįտȟȡȟijįț, ıԼIJտȟ.
20 Vgl. dazu Albert Kirk Grayson, Histories and Historians of the Ancient Near East:
Assyria and Babylonia, Orientalia 49 (1980), 140-195, hier: 171ff.; John van Seters, In
Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical
History, New Haven / London 1983, 79-92, sowie jetzt vor allem Jean-Jacques Glass-
ner, Mesopotamian Chronicles (Writings from the Ancient World 19), Atlanta 2004,
1-114, bes. 11-15; 46-48; 77-88. Das wenige, was sich über die Verfasser mesopotami-
scher Texte ermitteln lässt, ist bei Jean-Jacques Glassner, Who were the Authors be-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 55

seinem Namen persönlich für die Wahrheit seiner Darstellung. Indem


Hekataios populäre Vorstellungen über die Vergangenheit ausdrück-
lich kritisiert, unterscheidet er seine Auffassung des Gegenstands von
anderen und schafft dadurch Distanz zwischen Autor und Rezipienten.
Autor und Text treten auseinander.22 Dadurch entsteht eine transparen-
te Kommunikationssituation, die zur argumentativen Auseinan-
dersetzung einlädt. Ganz ähnlich hebt zwei Generationen später auch
Herodot an, indem er seinen Namen nennt und die Zielsetzung seines
Werks angibt: 23
„Herodot von Thurioi gibt hier eine Darlegung seiner Forschung, damit
nicht mit der Zeit in Vergessenheit gerate, was unter Menschen geschehen
ist, noch große und bewunderungswürdige Taten, die teils von Hellenen,
teils von Barbaren vollbracht wurden, ruhmlos bleiben, insbesondere aber,
aus welchem Grund sie miteinander Krieg geführt haben.“ 24

Und wie Hekataios unterscheidet auch Herodot seine Auffassung der


Dinge von anderen, indem er sich auf eigene Erkundung beruft oder
abweichende Überlieferungen nebeneinander stellt, wenngleich er mit

fore Homer in Mesopotamia, Diogenes 49/4 (2002), 86-92 zusammengestellt. Soweit


sich in der akkadischen Dichtung so etwas wie ein Autorkonzept feststellen lässt,
beruht es auf der Vorstellung göttlicher Inspiration; vgl. Benjamin R. Foster, On
Authorship in Akkadian Literature, AION 51 (1991), 17-32.
21 Erhard Blum, Ein Anfang der Geschichtsschreibung?, in: Albert de Pury / Thomas
Römer (Hgg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und
Anfragen (Orbis Biblicus et Orientalis 176), Freiburg / Schweiz 2000, 4-37; ders., His-
toriographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüber-
lieferung, in: Erhard Blum u. a. (Hgg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?,
Münster 2005, 65-86.
22 Diese Differenz zwischen judäischer und altgriechischer Geschichtsüberlieferung
betont mit Recht auch Erhard Blum (vorige Anmerkung).
23 Der große RE-Artikel von Felix Jacoby ist für die Herodot-Forschung nach wie vor
unentbehrlich: Herodotos 7), der Historiker von Halikarnassos oder Thurioi, RE
Suppl. II, 1913, 205-520. Aus der neueren Herodot-Literatur seien genannt: von Fritz,
Griechische Geschichtsschreibung I (wie Anm. 18), 104-475 mit II 79-214; Reinhold
Bichler, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und
Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 2000; Nino Luraghi (Hg.), The
Historian’s Craft in the Age of Herodotus, Oxford 2001; Egbert J. Bakker (Hg.), Brill’s
Companion to Herodotus, Leiden u. a. 2001; Carolyn Dewald (Hg.), Cambridge
Companion to Herodotus, Cambridge 2006.
24 Hdt. 1: ԵȢȡİցijȡȤ ĭȡȤȢտȡȤ ԽIJijȡȢտșȣ ԐʍցİıȠțȣ Աİı, թȣ Ȟսijı ijո ȗıȟցȞıȟį ԚȠ ԐȟȚȢօʍȧȟ
ij‫ ׮‬ȥȢցȟ‫ ׫‬ԚȠտijșȝį ȗջȟșijįț, Ȟսijı ԤȢȗį Ȟıȗչȝį ijı Ȝįվ ȚȧȞįIJijչ, ijո Ȟպȟ ԫȝȝșIJț, ijո İպ
ȖįȢȖչȢȡțIJț ԐʍȡİıȥȚջȟijį, ԐȜȝıֻ ȗջȟșijįț, ijչ ijı Ԕȝȝį Ȝįվ İվ ԯȟ įԼijտșȟ ԚʍȡȝջȞșIJįȟ
ԐȝȝսȝȡțIJț. Zur Herkunftsangabe ĭȡȤȢտȡȤ statt ԙȝțȜįȢvșIJIJջȡȣ vgl. Jacoby, Herodo-
tos (wie Anm. 18), 205-213.
56 Hans-Ulrich Wiemer

eigenen Urteilen zurückhaltend ist.25 Hekataios hatte sich freilich auf


die Urgeschichte beschränkt. Herodot dagegen war der erste, der es
unternahm, Ereignisse der jüngsten Vergangenheit darzustellen. Dieser
Plan konnte nur gefasst werden, weil sich das Geschichtsbewusstsein
der Griechen unter dem Eindruck der siegreichen Abwehr der per-
sischen Invasion unter König Xerxes entscheidend verändert hatte.26
Die gemeinsam errungenen Siege bei Salamis und Plataiai gaben dem
Selbstwertgefühl der Griechen mächtigen Auftrieb und stärkten das
Bewusstsein ihrer Gemeinsamkeiten; sie führten zur Idealisierung der
eigenen Lebensordnung im Begriff der Freiheit (eleutheria) und zugleich
zur Abwertung des Fremden im Begriff des Barbaren.27 Das griechische
Geschichtsbewusstsein erfuhr dadurch eine plötzliche und nachhaltige
Transformation. Der Raum der jüngsten Vergangenheit füllte sich nun
erstmals mit Ereignissen von gesamtgriechischer Bedeutung, deren
Interpretation durch den entstehenden Dualismus zwischen Athen und
Sparta bestimmt wurde. Das Schlachtfeld von Plataiai verwandelte sich
in einen Erinnerungsort, an welchem des unter spartanischer Führung
errungenen Sieges der Griechen über die Perser gedacht wurde.28 Die

25 An der berühmten Stelle 7,152,3 erklärt Herodot, er halte es für seine Pflicht zu
berichten, was ihm berichtet worden sei, keineswegs aber sei er verpflichtet, alles zu
glauben; vgl. dazu Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 467-486; Donald Lateiner, The
Historical Method of Herodotus, Toronto 1989.
26 Zeitnahe Reflexe auf die Siege bei Salamis und Plataiai finden sich in Aischylos’ 472
aufgeführter Tragödie „Die Perser“, in der die Schlacht von Salamis aus persischer
Sicht dargestellt wird, bei Pindar, „Pythien“ 1,75-78 (Salamis – Plataiai – Himera)
und „Isthmien“ 5,48-50 (Salamis) – dazu Wilhelm Kierdorf, Erlebnis und Darstellung
der Perserkriege: Studien zu Simonides, Pindar, Aischylos und den attischen Red-
nern (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und ihrem Nachleben 16), Göt-
tingen 1966, 29ff.; Simon Hornblower, Thucydides and Pindar: Historical Narrative
and the World of Epinician Poetry, Oxford 2004, 50; 224-227 – sowie in der Pausani-
as-Elegie des Simonides, die vor kurzem durch einen Papyrus kenntlich geworden
ist. Text, Übersetzung, dazu 18 Aufsätze und eine umfangreiche Bibliographie bei
Deborah D. Boedeker / David Sider (Hgg.), The New Simonides, New York / Oxford
2001.
27 Die grundlegende Studie zur Entwicklung des altgriechischen Freiheitsbegriffs ist
Kurt Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit (Vestigia. Beiträge zur Alten Geschichte
37), München 1985; vom Autor revidierte und aktualisierte Übersetzung ins Engli-
sche: The Discovery of Freedom in Ancient Greece, Chicago / London 2004. Zur Hel-
lenen-Barbaren-Dichotomie vgl. Julius Jüthner, Hellenen und Barbaren. Aus der Ge-
schichte des Nationalbewusstseins, Leipzig 1923; Edith Hall, Inventing the
Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy, Oxford 1989.
28 Dazu jetzt Michael Jung, Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als lieux de
mémoire im alten Griechenland (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und
ihrem Nachleben 164), Göttingen 2006. Neben der jährlichen Totenfeier für die in der
Schlacht gefallenen Griechen, die noch ein halbes Jahrtausend später begangen wur-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 57

Athener dagegen, die den Krieg gegen das Perserreich ohne spartani-
sche Beteiligung fortsetzten und dadurch rasch die Hegemonie im Ägä-
israum erlangten, begingen den Jahrestag der Schlacht von Marathon,
wo sie die Perser (fast) alleine geschlagen,29 und den von Salamis, wo
sie die Führung innegehabt hatten.30 Vor allem aber wurde die Erin-
nerung an die Perserkriege in Athen dadurch verankert, dass man den
Brauch einführte, die Bestattung der im Kriege Gefallenen mit einem
Rückblick auf die glorreiche Vergangenheit von den Ursprüngen bis zu
den Perserkriegen zu verknüpfen. Da die expansive und aggressive
Demokratie Athen im 5. Jahrhundert so gut wie jedes Jahr Krieg führte,
war dort seit etwa 460 fast jedes Jahr eine öffentliche Leichenrede auf
die Gefallenen zu vernehmen, die eine historische Lektion enthielt.31
Erst diese durch die Perserkriege ausgelöste Transformation des
griechischen Geschichtsbewusstseins hat das Werk Herodots ermög-
licht; sie erzeugte das Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung dieser
Ereignisse und lieferte mit dem Begriff der Freiheit die Leitidee zu ihrer
Gestaltung. Gleichwohl ist sein Geschichtswerk weit mehr als eine Dar-
stellung der Perserkriege aus griechischer Perspektive. Denn Herodot
hat die Erzählung des griechischen Abwehrsieges in eine ausführliche
Schilderung des Perserreiches eingebettet, die selbst wiederum den
Anlass bietet, dessen konstituierende Bestandteile eingehend zu be-
schreiben.32 Dabei kombiniert er die im kommunikativen Gedächtnis

de (Plutarch, Aristeides 21), fanden hier im Abstand von vier Jahren „Eleutherien“
(„Freiheitsspiele“) statt; zur ebenfalls bis in die Kaiserzeit reichenden Geschichte
dieses Festes vgl. Roland Etienne / Marcel Piérart, Un décret du Koinon des Hellènes
à Platées en l’honneur de Glaucon, fils d’Eteoclès, Bulletin de Correspondance
Héllenique 99, 1975, 51-75. Die Pausanias-Elegie des Simonides (vgl. Anm. 26) könn-
te im Rahmen der Bestattung der spartanischen Gefallenen vorgetragen worden
sein, wenn nicht die „Eleutherien“ den Anlass abgaben. Auffallend ist in jedem Fall
die Fokussierung auf Sparta und Pausanias, während Athen lediglich als Nutznießer
des von diesen erfochtenen Sieges erscheint.
29 Vgl. dazu neben Jung, Marathon und Plataiai (wie Anm. 28) auch Karl-Joachim
Hölkeskamp, Marathon – vom Monument zum Mythos, in: Dietrich Papenfuß / Vol-
ker-Michael Strocka (Hgg.), Gab es das griechische Wunder? Griechenland zwischen
dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Mainz 2001, 329-353.
30 Eine erinnerungsgeschichtliche Studie zur Schlacht von Salamis fehlt; vgl. immerhin
Nicole Loraux, L’invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funèbre dans la „cité
classique“ (Civilisation et société 65), Paris 1981, 162-165; Jung, Marathon und Pla-
taiai (wie Anm. 28), 160-163.
31 Vgl. dazu neben der grundlegenden Studie von Loraux, L’invention d’Athènes (wie
Anm. 30) jetzt auch Karl Prinz, Epitaphios Logos. Struktur, Funktion und Bedeutung
der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts, Frankfurt/Main / Berlin
1997.
32 Justus Cobet, Herodots Exkurse und die Frage der Einheit seines Werkes (Historia.
Einzelschriften 17), Stuttgart 1971.
58 Hans-Ulrich Wiemer

griechischer Bürgerstaaten gespeicherte Erinnerung an die Perserkriege


mit orientalischen Überlieferungen, die im Medium der Schrift gespei-
chert waren und wesentlich weiter zurückreichten. So konstruiert er
einen Erinnerungsraum, der teilweise mehrere tausend Jahre zurück-
reicht und die Grenzen lebensweltlicher Erinnerungsgemeinschaften in
jeder Hinsicht überschreitet. Nie zuvor waren die Erinnerungen so vie-
ler Völker in einem Text zusammengeführt worden.33
Während die Informationen, die Herodot verarbeitete, teilweise aus
dem Orient stammten, waren die Darstellungsmittel, deren er sich be-
diente, rein griechischer Herkunft. Das für ihn und alle seine Nachfol-
ger prägende Vorbild war Homer, dessen Darstellung des Trojanischen
Krieges als vorbildlich galt. Aus der „Ilias“ übernahm Herodot auch
den Brauch, den handelnden Personen Reden in den Mund zu legen.34
Diese Reden waren insofern freie Schöpfungen Herodots, als ihr Inhalt
in keiner Weise durch Zeugnisse beglaubigt sein musste; sie dienten als
Mittel, Personen indirekt zu charakterisieren und Situationen zu analy-
sieren.
Bei Hekataios und Herodot sind Grundmerkmale griechischer Ge-
schichtsschreibung ausgebildet, die für Thukydides bereits selbstver-
ständlich waren. Die Autoren treten aus der Immanenz des Textes her-
aus, sie kritisieren populäre Vorstellungen und polemisieren gegen
Vorgänger und Konkurrenten, auch wenn diese oftmals nicht beim
Namen genannt werden.35 Der Diskurs über Vergangenheit wird ar-
gumentativ, kontrovers und kompetitiv geführt.36 Die Werke altgrie-

33 Hermann Strasburger, Herodots Zeitrechnung (1956), benutzt in der „berichtigten


und erweiterten Fassung“ in: Walter Marg (Hg.), Herodot. Eine Auswahl aus der
neueren Forschung (Wege der Forschung 26), Darmstadt 31982, 677-725; Lendle, Ein-
führung (wie Anm. 18), bes. 44-50; Justus Cobet, Zeitsinn: Am Anfang unserer Ge-
schichtsschreibung, in: Karl-Joachim Hölkeskamp u. a. (Hgg.), Sinn (in) der Antike.
Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, 117-
134; Mischa Meier, Die Deiokes-Episode im Werk Herodots – Überlegungen zu den
Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung, in: Mischa Meier u. a.,
Deiokes, König der Meder – Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten (Oriens et Oc-
cidens 7), Wiesbaden 2004, 27-51.
34 Dazu Hermann Strasburger, Homer und die Geschichtssschreibung (1972), in: ders.,
Studien zur antiken Geschichtsschreibung, Bd. 2, Hildesheim 1982, 1057-1097.
35 Zur Rolle von Polemik in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung vgl. John
Marincola, Authority and Tradition in Ancient Historiography, Cambridge 1997,
217-257.
36 Zum „agonistischen“ Milieu frühgriechischer Wissenschaft vgl. Geoffrey E. R.
Lloyd, The Revolutions of Wisdom. Studies in the Claims and Practices of Ancient
Greek Science (Sather Classical Lectures 52), Los Angeles / London 1987, 83-108, der
auch darauf hinweist, dass die Existenz von Texten, die „through a strong authorial
presence implied a personal accountability for the claims they contained“, eine Vor-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 59

chischer Geschichtsschreiber dienen nicht als Medien herrscherlicher


Selbstdarstellung wie die Annalen neuassyrischer Könige, die von den
Siegen gerechter Könige über ihre bösen Feinde künden;37 sie verzeich-
nen nicht Ereignisse, die von Gelehrten als Anzeichen potentieller Be-
drohung der kosmischen Ordnung gedeutet werden, wie die neubaby-
lonischen Chroniken;38 und sie wollen auch keine Geschichtsdeutung
vermitteln, die für eine nach religiösen Kriterien definierte Gruppe be-
stimmt ist, wie die Geschichtserzählungen des alten Israel.39 Wer im
alten Griechenland Geschichte schrieb, stand weder im Dienst der
Herrschenden noch beanspruchte er, im Namen einer Erinnerungsge-
meinschaft zu sprechen. Altgriechische Geschichtsschreiber standen als
Individuen für ihre Aussagen ein und distanzierten sich oftmals nach-
drücklich von denen, deren Vergangenheit sie gestalteten.
Die Eigenart der altgriechischen Geschichtsschreibung wurde wei-
terhin dadurch maßgeblich geprägt, dass sie keinen anerkannten „Sitz
im Leben“ hatte: Wer sich entschloss, Geschichte zu schreiben, tat es
auf eigene Verantwortung und auf eigene Kosten. Dies bedeutet nicht
allein, dass die Erforschung und Darstellung der Vergangenheit im
alten Griechenland kein Beruf war, mit dem man seinen Lebensunter-

aussetzung für die im Vergleich zu anderen frühen Kulturen hohe Innovationsfreu-


digkeit der alten Griechen war.
37 Zu den neuassyrischen Königsinschriften vgl. Albert T. Olmstead, Assyrian Histori-
ography, Columbia/Mo. 1916; Grayson, Histories (wie Anm. 20), 150-171; van Seters,
In Search of History (wie Anm. 20), 60-68. Die Neuedition der Texte mit englischer
Übersetzung durch Albert Kirk Grayson (Assyrian Rulers of the Early First Milleni-
um B.C., Bd. I: 1114–859 B.C., Toronto 1991; Bd. II: 858-745 B.C., Toronto 1997) ist
noch nicht abgeschlossen; ältere Übersetzungen findet man bei Daniel D. Luckenbill,
Ancient Records of Assyria and Babylonia, 2 Bde., Chicago 1926/27.
38 Dazu Glassner, Mesopotamian Chronicles (wie Anm. 20), 83-84. Die Annahme, die
neubabylonischen Chroniken beruhten auf einer in den „Astronomischen Tagebü-
chern“ enthaltenen fortlaufenden Darstellung (Grayson, Histories [wie Anm. 20],
174-175; van Seters, In Search of History [wie Anm. 20], 80-81), wird von Glassner
(ebd., 46-48) mit plausiblen Gründen in Frage gestellt. Die Texte sind mit englischer
Übersetzung zugänglich bei Albert Kirk Grayson, Assyrian and Babylonian Chronic-
les (Texts from Cuneiform Sources 5), Locust Valley, New York 1975, 69ff. sowie jetzt
auch bei Glassner (ebd.), Nr. 16ff.
39 Die lange Zeit vorherrschende, von Martin Noth, Überlieferungsgeschichtliche
Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im alten Testament,
Halle/Saale 1943 begründete Auffassung, es ließen sich innerhalb der Geschichtsbü-
cher des Alten Testaments ein „deuteronomistisches“ Geschichtswerk und ein
„chronistisches“ Geschichtswerk isolieren, findet heute kaum noch Anhänger, und
ein neuer Konsens zeichnet sich nicht ab. Über den aktuellen Forschungsstand in-
formieren Otto Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984, 138-178;
186-194 und Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Münster 52004,
188ff.
60 Hans-Ulrich Wiemer

halt hätte verdienen können. Noch wichtiger ist, dass Ge-


schichtsschreiber bei den alten Griechen keine Stellung innehatten, die
sie zur Bewahrung und Vergegenwärtigung von Vergangenheit ver-
pflichtet, aber eben dadurch auch ermächtigt hätten. Weil sie sich nicht
auf einen politischen oder religiösen Auftrag berufen konnten, war ihre
Autorität anfechtbar und ihre Kompetenz fragwürdig. Das Verhältnis
altgriechischer Geschichtsschreiber zu den Gemeinschaften, deren Ge-
schichte sie schrieben, war darum in klassischer Zeit eigentümlich dis-
tanziert und prekär. Nicht selten waren sie Verbannte wie Herodot, der
in die panhellenische Kolonie Thurioi in Unteritalien auswanderte,
nachdem er aus seiner Heimatstadt Halikarnassos in Karien verbannt
worden war.40
Damit wuchs dem Geschichtsschreiber bei den alten Griechen eine
relative Autonomie zu, die ihm einen intellektuellen Freiraum eröffne-
te, aber auch unter Erfolgsdruck setzte.41 Da er keine allgemein aner-
kannte Form des Wissens repräsentierte, musste er sein Publikum um-
werben und den Nutzen seines Werkes begründen. Zudem musste er
selbst für das Fortleben seines Werkes Sorge tragen, weil historiogra-
phische Texte bei den Griechen weder im Auftrag von Herrschern noch
im Rahmen kultischer Veranstaltungen tradiert wurden. Die Ge-
schichtsschreibung diente als Mittel, dauerhafte Anerkennung als Indi-
viduum zu erwerben. Andererseits schützte die volle Entfaltung der
Autorfunktion die Texte griechischer Geschichtsschreiber gegen ein an-
dauerndes Fort- und Umschreiben im Lichte aktueller Erfahrungen
und Bedürfnisse, wie wir es aus dem alten Israel kennen.42 Auch wenn

40 Zur Biographie ausführlich Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 205-280. Wer freilich
die Quellenangaben Herodots zur Fiktion erklärt, wie Detlef Fehling, Die Quellen-
angaben bei Herodot. Studien zur Erzählkunst Herodots (Untersuchungen zur anti-
ken Literatur und Geschichte 9), Berlin-West (1971) (vom Verfasser revidierte engl.
Übersetzung: Herodotus and his ‚Sources’: Citation, Invention and Narrative Art,
Leeds 1989) muss auch die aus dem Werk erschlossenen Reisen für eine Mischung
aus antiker und moderner Fabelei halten.
41 Mit Recht betont von Arnaldo Momigliano, The Historians of the Ancient World and
their Audiences: Some Suggestions (1978), in: ders., Sesto contributo alla storia degli
studi classici e del mondo antico, Bd. 2, Rom 1980, 361-376.
42 Dass die sogenannten Geschichtsbücher des Alten Testaments einem Wachstums-
prozess unterlagen, der sich über Jahrhunderte erstreckte, ist eine allgemeine und
notwendige Voraussetzung aller historisch-kritischen Exegese. Mit wie vielen Über-
lieferungsstufen man dabei zu rechnen hat, zeigen jetzt am Beispiel der Erzählungen
von Saul und David, in denen einst Gerhard von Rad den „Anfang der Geschichts-
schreibung im alten Israel“ (Archiv für Kulturgeschichte 32, 1944, 1-42; auch in:
ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 19714, 148-188) gefunden
hatte, auf im einzelnen sehr verschiedene Weise drei Arbeiten aus jüngster Zeit: Ale-
xander A. Fischer, Von Hebron nach Jerusalem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 61

es bei den alten Griechen kein Urheberrecht im modernen Sinn gab,


war der Respekt vor dem Werk eines berühmten Autors groß: Das
Werk des Thukydides bricht im achten Buch, gut sechs Jahre vor dem
Ende des Zeitraumes, den er nach eigenem Bekunden hatte schildern
wollen, mitten im Satz ab, und niemand hat es je gewagt, auch nur
diesen einen Satz zu vollenden, geschweige denn die Erzählung zu
ihrem Ende zu führen.43 Nur deswegen können wir die Werke eines
Herodot und Thukydides heute, fast zweieinhalbtausend Jahre nach
der Niederschrift, mit großer Sicherheit in der Form rekonstruieren, in
der sie der Autor hinterließ. Natürlich gibt es in den mittelalterlichen
Handschriften Varianten und gelegentlich auch Interpolationen, aber
insgesamt sind diese geringfügig und erklären sich meist daraus, dass
die Texte nahezu zweitausend Jahre lang handschriftlich vervielfältigt
wurden, zumal beide Autoren sich einer Sprache bedienen, die bereits
in der römischen Kaiserzeit in der Schule mühsam erlernt werden
musste.44

zur Erzählung von König David in II Sam 1-5 (Beihefte zur Zeitschrift für die Alttes-
tamentliche Wissenschaft 335), Berlin 2004; Thilo Alexander Rudnig, Davids Thron,
Redaktionskritische Studien zur Geschichte von der Thronnachfolge Davids (Beihef-
te zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 358), Berlin / New York
2006; Klaus-Peter Adam, Saul und David in der judäischen Geschichtsschreibung
(Forschungen zum Alten Testament 51), Tübingen 2007.
43 Es wird allgemein und mit Recht angenommen, dass Thukydides’ Werk in unvoll-
endetem Zustand aus dem Nachlass des Autors publiziert wurde; vgl. Otto
Luschnat, Thukydides der Historiker, RE Suppl. XII, 1978, 1112-1132; Arnold W.
Gomme / Anthony Andrewes / Kenneth J. Dover, A Historical Commentary on Thu-
cydides, Bd. 4-5, Oxford 1970–1981, hier: Bd. 5, Oxford 1981, 361ff. Nach Luciano
Canfora, Tucidide continuato, Padua 1970; ders., Biographical Obscurities and Prob-
lems of Composition, in: Antonios Rengakos / Antonis Tsakmakis (Hgg.), Brill’s
Companion to Thucydides, Leiden / Boston 2006, 3-32, hier: 14ff. war der Herausge-
ber kein anderer als Xenophon von Athen, dessen Thukydides-Ausgabe bis zum
Kriegsende gereicht habe; die Darstellung des Kriegsendes sei jedoch später abge-
trennt und Xenophons „Hellenika“ (1,1-2,3,10) angegliedert worden, weshalb sie
jetzt unter dem Namen Xenophons stehe. Indessen brechen nicht bloß alle mittel-
alterlichen Thukydides-Handschriften bei der Einfahrt des Tissaphernes in Ephesos
nach der Schlacht bei Kynossema (8,109,2) ab; auch die Thukydides-Ausgabe, die
Dionysios von Halikarnassos in augusteischer Zeit las (vgl. die nächste Anmerkung),
endete an dieser Stelle: Über Thukydides 12; Brief an Gnaeus Pompeius 3.
44 Bereits der augusteische Autor Dionysios von Halikarnassos bemängelte, dass Thu-
kydides Stil manieriert und oftmals schwer verständlich sei: vgl. neben dem Essay
„Über Thukydides“ (21ff., bes. 51: ı՘įȢտȚȞșijȡț ȗչȢ ijțȟջȣ ıԼIJțȟ ȡՃȡț ʍչȟijį ijո
ĭȡȤȜȤİտİȡȤ IJȤȞȖįȝı‫ה‬ȟ, Ȝįվ ȡ՘İ’ ȡ՟ijȡț ȥȧȢվȣ ԚȠșȗսIJıȧȣ ȗȢįȞȞįijțȜ‫׆‬ȣ Ԥȟțį auch des-
sen literarkritische Briefe „An Gnaeus Pompeius“ (3) und „An Ammaios über die
Stileigentümlichkeiten des Thukydides“ (mit englischer Übersetzung herausgegeben
von Stephen Usher, Dionysius of Halicarnassus, The Critical Essays, 2 Bde., Cam-
bridge, Mass / London 1974).
62 Hans-Ulrich Wiemer

ǡIǡ. Autor, Werk und Publikum

Die Entstehung einer relativ autonomen Geschichtsschreibung, die


weder politische Herrschaft legitimieren noch einen direkten Beitrag
zur Identitätsbildung sozialer Gruppen leisten will, vollzog sich in
Griechenland innerhalb von nur zwei Generationen. Neben das Werk
Herodots, das wohl um die Mitte des fünften Jahrhunderts begonnen,
aber erst nach dem Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431
vollendet wurde,45 trat nach dem Ende dieses verheerenden, alles in
allem volle 27 Jahre währenden Krieges das Werk des Thukydides.
Thukydides hat das Kriegsende noch erlebt, sein Werk aber nicht mehr
vollenden können; allem Anschein nach wurde es aus seinem Nachlass
veröffentlicht. Begonnen hatte er jedoch mehr als dreißig Jahre zuvor,
zu einer Zeit, als Herodots Darstellung der Perserkriege bereits bekannt
war; Herodot war darum der große Vorgänger, gegen den Thukydides
sich zu profilieren suchte.46 Nach eigener Aussage begann Thukydides
mit der Aufzeichnung des Krieges, den er sich zum Gegenstand ge-
wählt hatte, gleich bei seinem Ausbruch. Im Eingang seines Werkes
(1,1) heißt es:
„Thukydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener be-
schrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben. Er begann damit
gleich beim Ausbruch, in der Erwartung, der Krieg werde bedeutend wer-
den und denkwürdiger als alle früheren; das erschloß er daraus, dass beide
auf der vollen Höhe ihrer Entfaltung in den Kampf eintraten und dass er
das ganze übrige Hellenentum Partei ergreifen sah, teils sofort, teils nach
einigem Zögern. Denn es war bei weitem die gewaltigste Erschütterung für
die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen unter den Men-
schen überhaupt.“47

45 Den traditionellen Ansatz auf vor 425 verteidigt Justus Cobet, Wann wurde Hero-
dots Darstellung der Perserkriege publiziert?, Hermes 105 (1977), 2-27.
46 Zum Umgang des Thukydides mit Herodot vgl. Simon Hornblower, Commentary
on Thucydides, Bd. 2, Oxford 1996, 19-38; 122-145. Auf die Auseinandersetzung des
Thukydides mit Hellanikos (1,97,2) kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu
Otto Lendle, Die Auseinandersetzung des Thuykdides mit Hellanikos, Hermes 92
(1964), 129-143; auch in: Hans Herter (Hg.), Thukydides (Wege der Forschung 98),
Darmstadt 1968, 661-682.
47 Thuk. 1,1,1-2: ĭȡȤȜȤİտİșȣ ԘȚșȟį‫ה‬ȡȣ ȠȤȟջȗȢįȦı ijրȟ ʍցȝıȞȡȟ ij‫׭‬ȟ ȇıȝȡʍȡȟȟșIJտȧȟ Ȝįվ
ԘȚșȟįտȧȟ, թȣ ԚʍȡȝջȞșIJįȟ ʍȢրȣ ԐȝȝսȝȡȤȣ, ԐȢȠչȞıȟȡȣ ı՘Țւȣ ȜįȚțIJijįȞջȟȡȤ Ȝįվ ԚȝʍտIJįȣ
Ȟջȗįȟ ijı ԤIJıIJȚįț Ȝįվ ԐȠțȡȝȡȗօijįijȡȟ ij‫׭‬ȟ ʍȢȡȗıȗıȟșȞջȟȧȟ, ijıȜȞįțȢցȞıȟȡȣ Ցijț
ԐȜȞչȘȡȟijջȣ ijı ֜IJįȟ Ԛȣ į՘ijրȟ ԐȞĴցijıȢȡț ʍįȢįIJȜıȤ‫ ׇ‬ij‫ ׇ‬ʍչIJׄ Ȝįվ ijր Ԕȝȝȡ ԧȝȝșȟțȜրȟ
ՍȢ‫׭‬ȟ ȠȤȟțIJijչȞıȟȡȟ ʍȢրȣ ԛȜįijջȢȡȤȣ, ijր Ȟպȟ ı՘Țփȣ, ijր İպ Ȝįվ İțįȟȡȡփȞıȟȡȟ. ȜտȟșIJțȣ ȗոȢ
į՝ijș ȞıȗտIJijș İռ ijȡ‫ה‬ȣ ԫȝȝșIJțȟ Ԛȗջȟıijȡ Ȝįվ ȞջȢıț ijțȟվ ij‫׭‬ȟ ȖįȢȖչȢȧȟ, թȣ İպ ıԼʍı‫ה‬ȟ Ȝįվ
Ԛʍվ ʍȝı‫ה‬IJijȡȟ ԐȟȚȢօʍȧȟ.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 63

Wie Herodot nennt auch Thukydides seinen Namen bereits im ersten


Satz seines Werkes; der Text ist damit von Anfang an als sein Werk
gekennzeichnet. Nicht weniger charakteristisch ist es, dass Thukydides
unmittelbar darauf in einer überbietenden Formulierung die Bedeu-
tung des gewählten Gegenstandes betont: „bedeutend und denkwür-
diger als alle früheren“. Das ist natürlich einerseits gegen Homer ge-
richtet, dessen „Ilias“ als Gedicht vom Trojanischen Krieg gelesen
wurde, andererseits aber gegen Herodot und seine Darstellung der
Perserkriege. Die Betonung der Tatsache, dass es sich nicht um das
Werk eines x-beliebigen Verfassers, sondern um das Werk des Thuky-
dides von Athen handelt, zieht sich leitmotivartig durch den gesamten
Text: Die Erzählung jedes einzelnen Kriegsjahres wird mit dem formel-
haften Satz geschlossen, dieses sei das so-und-sovielte Jahr des Krieges
gewesen, den Thukydides von Athen beschrieben habe.48 Zudem mel-
det sich der Autor an einer prominenten Stelle des Textes, im soge-
nannten zweiten Proömium (5,26), noch einmal in eigener Sache zu
Wort. Thukydides verfolgt darin zwei Ziele: Zum einen geht es ihm
darum, die Einheit seines Gegenstandes zu begründen. Dies war des-
wegen nötig, weil der Krieg zwischen Athen und Sparta, den er be-
schrieb, im Jahre 423 durch einen Friedensschluss beendet worden war
und offiziell erst zehn Jahre später wieder aufgenommen wurde; der
sogenannte Peloponnesische Krieg war darum für die Zeitgenossen gar
nicht ohne weiteres als Einheit wahrnehmbar.49 Darum gibt Thukydi-
des im Anschluss an die Darstellung des Friedensschlusses (5,26,1-2)
folgende Erklärung ab:
„Auch das hat der gleiche Thukydides von Athen aufgezeichnet, der Reihe
nach, wie sich jedes Ereignis begab, nach Sommern und Wintern, bis Spar-
ta mit seinen Verbündeten Athens Herrschaft brach und die Langen Mau-
ern und den Piräus einnahm. Insgesamt dauerte der Krieg siebenund-
zwanzig Jahre. Denn den Zwischenzustand der Einigung nicht als Krieg

48 Dieses „Siegel“ fehlt allerdings am Ende des ersten Kriegsjahres sowie für die Zwi-
schenkriegszeit (10.-15. Kriegsjahr) (Thuk. 4,116,31-5,83,4); weshalb, ist unklar.
49 Der Name „Peloponnesischer Krieg“ begegnet zuerst bei Diodor von Sizilien, dürfte
aber auf Ephoros von Kyme zurückgehen, dessen „Universalgeschichte“ in der Ale-
xanderzeit publiziert wurde; die Möglichkeit, dass er auch vom Autor der „Helleni-
ca Oxyrhynchia“ gebraucht wurde, erwägt Bruno Bleckmann, Athens Weg in die
Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges (Beiträge zur Altertums-
kunde 99), Stuttgart / Leipzig 1998, 261 Anm. 197. Autoren des 4. Jahrhunderts spre-
chen die einzelnen Phasen des Gesamtkrieges häufig als Kriege für sich an: Belege
bei Geoffrey de Ste. Croix, The Origins of the Peloponnesian War, London 1972, 294-
295.
64 Hans-Ulrich Wiemer

bezeichnen zu wollen, wäre ein Irrtum …“ (es folgt eine eingehende Be-
gründung, die hier nicht näher zu interessieren braucht).50

Das zweite Proömium dient jedoch noch einem anderen Zweck: Es soll
begründen, weshalb der Autor über die Kompetenz verfügt, seinen
Gegenstand in sachlich angemessener Art und Weise darzustellen.
Dieses Thema klingt bereits im ersten Satz des Werkes an, wenn der
Autor von sich selbst sagt, er habe die Bedeutung des Krieges gleich bei
seinem Ausbruch erkannt und deshalb sogleich damit begonnen, ihn
aufzuschreiben. Und am Ende des ersten Proömiums (1,22,3) hebt er
hervor, dass er die berichteten Ereignisse mit Genauigkeit und Mühe
ermittelt habe. Im zweiten Proömium nun erklärt Thukydides, er habe
den Krieg „ganz miterlebt, alt genug zum Begreifen und mit voller
Aufmerksamkeit, um etwas Genaues zu wissen“, und fährt dann fort:
„Ich mußte als Verbannter zwanzig Jahre nach meinem Feldzug bei
Amphipolis mein Land meiden, war also auf beiden Seiten, auf der
peloponnesischen nicht minder, wegen der Verbannung, so dass ich be-
quem Näheres erfahren konnte.“51
Wir haben es also mit einem Geschichtsschreiber zu tun, der zwei
Jahrzehnte lang ein Heimatloser gewesen war, und gerade daraus den
Anspruch ableitet, in besonderer Weise befähigt zu sein, einen Krieg
darzustellen, der die ganze griechische Welt in zwei Lager gespalten
hatte. Anders gesagt: Die Äquidistanz zu den kriegführenden Mächten
wird hier als ein Vorteil für den Geschichtsschreiber aufgefasst, der ihn
vor denjenigen auszeichnet, die den Krieg nur auf einer Seite mitge-
macht hatten. Die Folgen für das Verhältnis des Autors zu den Rezi-
pienten seines Werkes liegen auf der Hand: Die Geschichte, die Thuky-
dides zu erzählen hat, setzt Leser voraus, die den Horizont ihrer Polis

50 Thuk. 5,26,1-2: ĬջȗȢįĴı İպ Ȝįվ ijį‫ף‬ijį Ս į՘ijրȣ ĭȡȤȜȤİտİșȣ ‫׶‬ǺȚșȟį‫ה‬ȡȣ ԛȠ‫׆‬ȣ, թȣ ԥȜįIJijį
Ԛȗջȟıijȡ, Ȝįijո ȚջȢș Ȝįվ ȥıțȞ‫׭‬ȟįȣ, ȞջȥȢț ȡ՟ ijսȟ ijı ԐȢȥռȟ ȜįijջʍįȤIJįȟ ij‫׭‬ȟ ԘȚșȟįտȧȟ
ȂįȜıİįțȞցȟțȡț Ȝįվ ȡԽ ȠփȞȞįȥȡț, Ȝįվ ijո ȞįȜȢո ijıտȥș Ȝįվ ijրȟ ȇıțȢįțֻ ȜįijջȝįȖȡȟ. Ԥijș İպ
Ԛȣ ijȡ‫ף‬ijȡ ijո ȠփȞʍįȟijį Ԛȗջȟıijȡ ij‫ ׮‬ʍȡȝջȞ‫ ׫‬ԛʍijո Ȝįվ ıՀȜȡIJț. Ȝįվ ijռȟ İțո ȞջIJȡȤ ȠփȞȖįIJțȟ
ıՀ ijțȣ Ȟռ ԐȠțօIJıț ʍցȝıȞȡȟ ȟȡȞտȘıțȟ, ȡ՘Ȝ ՌȢȚ‫׭‬ȣ İțȜįțօIJıț. Thukydides fährt fort: ijȡ‫ה‬ȣ
[ijı] ȗոȢ ԤȢȗȡțȣ թȣ İț‫ׅ‬Ȣșijįț ԐȚȢıտijȧ, Ȝįվ ıՙȢսIJıț ȡ՘Ȝ ıԼȜրȣ Վȟ ıԼȢսȟșȟ į՘ijռȟ ȜȢțȚ‫׆‬ȟįț,
Ԛȟ ֝ ȡ՜ijı ԐʍջİȡIJįȟ ʍչȟijį ȡ՜ij’ ԐʍıİջȠįȟijȡ ԓ ȠȤȟջȚıȟijȡ, ԤȠȧ ijı ijȡփijȧȟ ʍȢրȣ ijրȟ
ȃįȟijțȟțȜրȟ Ȝįվ ԦʍțİįփȢțȡȟ ʍցȝıȞȡȟ Ȝįվ Ԛȣ Ԕȝȝį ԐȞĴȡijջȢȡțȣ ԑȞįȢijսȞįijį Ԛȗջȟȡȟijȡ Ȝįվ
ȡԽ Ԛʍվ ĭȢֺȜșȣ ȠփȞȞįȥȡț ȡ՘İպȟ ԳIJIJȡȟ ʍȡȝջȞțȡț ԲIJįȟ ǻȡțȧijȡտ ijı ԚȜıȥıțȢտįȟ İıȥսȞıȢȡȟ
Բȗȡȟ. խIJijı Ƞւȟ ij‫ ׮‬ʍȢօij‫ ׫‬ʍȡȝջȞ‫ ׫‬ij‫ ׮‬İıȜջijıț Ȝįվ ij‫ ׇ‬Ȟıij’ į՘ijրȟ ՙʍցʍij‫ ׫‬ԐȟȡȜȧȥ‫ ׇ‬Ȝįվ
ij‫ ׮‬՝IJijıȢȡȟ ԚȠ į՘ij‫׆‬ȣ ʍȡȝջȞ‫ ׫‬ıՙȢսIJıț ijțȣ ijȡIJį‫ף‬ijį Ԥijș, ȝȡȗțȘցȞıȟȡȣ Ȝįijո ijȡւȣ ȥȢցȟȡȤȣ,
Ȝįվ ԭȞջȢįȣ ȡ՘ ʍȡȝȝոȣ ʍįȢıȟıȗȜȡփIJįȣ.
51 Thuk. 5,26,5: ԚʍıȖտȧȟ İպ İțո ʍįȟijրȣ į՘ijȡ‫ ף‬įԼIJȚįȟցȞıȟցȣ ijı ij‫ ׇ‬ԭȝțȜտֹ Ȝįվ ʍȢȡIJջȥȧȟ
ijռȟ ȗȟօȞșȟ, Ցʍȧȣ ԐȜȢțȖջȣ ijț ıՀIJȡȞįțǝ Ȝįվ ȠȤȟջȖș Ȟȡț Ĵıփȗıțȟ ijռȟ ԚȞįȤijȡ‫ ף‬Ԥijș ıՀȜȡIJț
Ȟıijո ijռȟ Ԛȣ ԘȞĴտʍȡȝțȟ IJijȢįijșȗտįȟ, Ȝįվ ȗıȟȡȞջȟ‫ ׫‬ʍįȢ’ ԐȞĴȡijջȢȡțȣ ijȡ‫ה‬ȣ ʍȢչȗȞįIJț, Ȝįվ
ȡ՘ȥ ԳIJIJȡȟ ijȡ‫ה‬ȣ ȇıȝȡʍȡȟȟșIJտȧȟ İțո ijռȟ ĴȤȗսȟ, ȜįȚ’ ԭIJȤȥտįȟ ijț į՘ij‫׭‬ȟ Ȟֻȝȝȡȟ
įԼIJȚջIJȚįț.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 65

zu transzendieren vermögen, und eben deswegen kann sie in keiner


Polis als die eigene, in den Grundzügen verbindliche Geschichte rezi-
piert werden. Thukydides’ Werk ist nicht darauf angelegt, dem Ge-
schichtsbewusstsein einer einzelnen Polis Ausdruck zu verleihen und
vermochte darum keiner zeitgenössischen Erinnerungsgemeinschaft als
Medium zu dienen.52 Aus diesem Grund ist es außerordentlich schwie-
rig, das Publikum, für das Thukydides schrieb, näher zu bestimmen.
Klar scheint jedoch, dass er an Leser dachte, die den Peloponnesischen
Krieg ebenso distanziert zu betrachten vermochten wie er selbst, unab-
hängige Geister, die überall eine kleine Minderheit gewesen sein müs-
sen. Ihnen verspricht er im sogenannten Methodenkapitel (1,22,4)
zweierlei: zum einen klare Erkenntnis des Gewesenen, dadurch ver-
mittelt zum anderen aber auch die Befähigung, „das Künftige, das wie-
der einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein
wird“ zu erkennen. Denn „zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück
für’s einmalige Hören“ sei sein Werk aufgeschrieben.53 Wie er sich das
gedacht hat, wird zu besprechen sein, wenn es um die Anthropologie
und Massenpsychologie des Thukydides geht.

ǡV. Methodenbewusstsein und Kausalanalyse

Thukydides ist ein Autor, der programmatische Aussagen über die Er-
forschung vergangener Ereignisse und über die Art ihrer Darstellung
macht. Für Thukydides zerfällt die Vergangenheit in die Zeitgeschich-
te, die durch Autopsie und Befragung von Zeitzeugen präzise erforscht
werden kann, einerseits und deren bis zur Einwanderung und Sess-
haftwerdung der griechischen Stämme zurückreichende Vorgeschichte
andererseits, die nur hypothetisch rekonstruiert werden kann. Beide
Zeitschichten bilden für Thukydides ein Kontinuum; sie unterscheiden
sich für ihn lediglich dadurch, dass allein die „Zeitgeschichte“ mit Me-

52 Dass zwischen dem Werk des Thukydides und der politischen Selbstdarstellung der
Athener eine tiefe Kluft besteht, hat bereits Hermann Strasburger, Thukydides und
die politische Selbstdarstellung der Athener, Hermes 86 (1958), 17-40; auch in: Her-
ter, Thukydides (wie Anm. 46), 498-545 mit Recht betont; er hat diese Diskrepanz je-
doch zu Unrecht als eine prinzipielle Kritik des Geschichtsschreibers an der „impe-
rialistischen“ Politik Athens gedeutet, der das egoistische und inhumane Denken
der Athener habe entlarven wollen; vgl. dazu unten.
53 Thuk. 1,22,4: Ȝįվ Ԛȣ Ȟպȟ ԐȜȢցįIJțȟ ՀIJȧȣ ijր Ȟռ ȞȤȚ‫׭‬İıȣ į՘ij‫׭‬ȟ ԐijıȢʍջIJijıȢȡȟ Ĵįȟı‫ה‬ijįțǝ
ՑIJȡț İպ ȖȡȤȝսIJȡȟijįț ij‫׭‬ȟ ijı ȗıȟȡȞջȟȧȟ ijր IJįĴպȣ IJȜȡʍı‫ה‬ȟ Ȝįվ ij‫׭‬ȟ Ȟıȝȝցȟijȧȟ ʍȡijպ
į՞Țțȣ Ȝįijո ijր ԐȟȚȢօʍțȟȡȟ ijȡțȡփijȧȟ Ȝįվ ʍįȢįʍȝșIJտȧȟ ԤIJıIJȚįț, ըĴջȝțȞį ȜȢտȟıțȟ į՘ijո
ԐȢȜȡփȟijȧȣ ԥȠıț. Ȝij‫׆‬Ȟչ ijı Ԛȣ įԼıվ Ȟֻȝȝȡȟ Ԯ ԐȗօȟțIJȞį Ԛȣ ijր ʍįȢįȥȢ‫׆‬Ȟį ԐȜȡփıțȟ
ȠփȗȜıțijįț.
66 Hans-Ulrich Wiemer

thoden erforscht werden kann, die völlige Erkenntnisgewissheit er-


möglichen, während die Erforschung der durch Zeugenbefragung
nicht erreichbaren „Vorgeschichte der Gegenwart“ auf Indizien ange-
wiesen bleibt und sich daher mit mehr oder weniger wahrscheinlichen
Hypothesen begnügen muss. All dies ist ganz hellenozentrisch gedacht;
und selbst in diesem Rahmen wird die Auswahl und Bewertung der
berichteten Ereignisse meist von einer athenischen Perspektive be-
stimmt. Den Versuch, die persische Sicht des Peloponnesischen Krieges
in seine Darstellung zu integrieren, hat Thukydides erst gar nicht un-
ternommen.
Die Methode, die ihm für Erforschung jedweder „Vorgeschichte
der Gegenwart“ angemessen erschien, hat Thukydides in der unter
dem Namen „Archäologie“ (1,2-23) bekannten Einleitung zu seinem
Werk vorgeführt,54 um auf diese Weise die These zu erhärten, dass der
Krieg, den er zum Gegenstand seines Werkes gemacht hatte, in der Tat
größer und bedeutender gewesen sei als alle früheren.55 Hier entwirft
er ein evolutionistisches Modell der griechischen Frühgeschichte, das
erklären soll, weshalb sich die Mittel zur Kriegführung im Laufe der
Zeit beständig vermehrt und bei Ausbruch des Peloponnesischen Krie-
ges einen Höchststand erreicht hätten. Die treibenden Kräfte dieser
Entwicklung sieht Thukydides zum einen im Wachstum der Pro-
duktion und Distribution von Gütern, das zunächst durch die allmähli-
che Sesshaftwerdung der Griechen und später durch die Eliminierung
des Seeraubes stimuliert worden sei, und zum anderen in der Heraus-
bildung von Machtzentren, die ihre Herrschaft über die unmittelbare
Nachbarschaft hinaus auszudehnen vermögen. Beide Faktoren stehen
insofern in einer Wechselwirkung, als es für Thukydides einander ablö-
sende Seemächte sind, die den Seeraub bekämpfen und damit den
Handel über das Meer hinweg ermöglichen.
Als empirische Grundlage dieses evolutionistischen Modells, das
die griechische Frühgeschichte bezeichnender Weise in Form eines
Beweisganges und nicht als Erzählung darstellt, dienen Daten, die
Thukydides zum Teil lokalen Ursprungsgeschichten entnimmt, denen

54 Die „Archäologie“ ist allerdings nicht der einzige Abschnitt, in welchem diese Me-
thode zur Anwendung kommt; sie wird vielmehr auch in mehreren Exkursen ange-
wandt, die den sogenannten Kylonischen Frevel (1,126,3-12), die Frühgeschichte At-
tikas (2,14,2-16,1), die Kolonisation Siziliens (6,2-5) sowie die Peisistratiden (6,54-59)
zum Gegenstand haben.
55 Vgl. dazu Jacqueline de Romilly, Histoire et raison chez Thucydide, Paris 1956, 240-
298; Fritz, Griechische Geschichtsschreibung I (wie Anm. 18), 575-618 mit II 263-280;
Hans-Joachim Gehrke, Thukydides und die Rekonstruktion des Historischen, Antike
& Abendland 39 (1993), 1-19; Roberto Nicolai, Thucydides Archaeology between
Epic and Oral Traditions, in: Luraghi, Herodotus (wie Anm. 23), 263-285.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 67

er einen historischen Kern abzuringen versucht, zum Teil aber auch


selbst erst gewinnt, indem er schriftliche Zeugnisse, vor allem Homer,
materielle Überreste und kulturelle Praktiken interpretiert. So deutet er
etwa die Tatsache, dass Homer den Hellenen-Namen noch nicht ver-
wendet, als Beleg für die Annahme, dass die Griechen vor dem Trojani-
schen Krieg keine gemeinsamen Unternehmungen gekannt hätten
(1,3,1-3). Die Ausstattung von Gräbern, die man im Jahre 426 auf der
Insel Delos gefunden hatte, dient ihm zum Beweis, dass die Inseln der
Ägäis früher einmal von Karern bewohnt gewesen seien (1,8,1), und die
Tatsache, dass man in dem als rückständig betrachteten Nord-
westgriechenland noch zu seiner Zeit Waffen trug, verwendet er als Ar-
gument für die Annahme, dass das Waffentragen aus Furcht vor feind-
lichen Angriffen früher in ganz Griechenland üblich gewesen sei (1,5,3-
6,2).
Diese Art zu argumentieren wirkt erstaunlich modern, auch wenn
die empirischen und theoretischen Prämissen mancher Deduktionen
im Lichte heutiger Erkenntnisse fragwürdig oder auch schlicht falsch
sind.56 Einmal unterläuft Thukydides auch ein logischer Schnitzer: Als
er nämlich anhand des Schiffskatalogs der „Ilias“ versucht, die Anzahl
der Griechen zu berechnen, die vor Troja kämpften (1,10,3-5), und da-
bei zu dem Schluss gelangt, es könnten nicht viele gewesen seien. Die
von Thukydides selbst empfohlene Berechnungsmethode führt auf eine
Zahl von nicht weniger als 102.000 griechischen Kämpfern vor Troja –
mehr als das Dreifache der Truppen, die an der Sizilischen Expedition
der Athener teilnahmen. Ein Rechenfehler wie dieser ist nur dann zu
verstehen, wenn man berücksichtigt, dass die gesamte „Archäologie“
einem polemischen Ziel dient: Um den Anspruch, er stelle den bedeu-
tendsten Krieg aller Zeiten dar, zu untermauern, will Thukydides zei-
gen, dass weder der Trojanische noch der Perserkrieg so bedeutend ge-
wesen sei, wie man damals weithin glaubte. Deshalb schreckt er nicht
davor zurück, die Glaubwürdigkeit seiner literarischen Konkurrenten
rundweg in Zweifel zu ziehen: Den Dichtern, d. h. Homer, wirft er
mehrfach vor zu übertreiben; über Herodot fällt er, ohne den Namen
zu nennen, das Verdikt, er fabuliere, um die Gunst des Publikums zu
erhaschen. So endet die „Archäologie“ mit folgendem Resümee (1,21,1-
2):
„Wer sich aber nach den genannten Indizien die Dinge doch etwa so vor-
stellt, wie ich sie geschildert habe, wird nicht fehlgehen. Er wird nicht den

56 Dazu sachkritisch Robert M. Cook, Thucydides as Archaeologist, Annals of the


British School at Athens 50 (1955), 266-270; Charlotte R. Long, Greeks, Carians and
the Purification of Delos, American Journal of Archaeology 62 (1958), 297-306.
68 Hans-Ulrich Wiemer

Dichtern glauben, die sie in hymnischer Übertreibung berichtet haben,


noch den Geschichtenschreibern, die alles bieten, was die Hörlust lockt,
nur keine Wahrheit – unbeweisbare Dinge, die zum Großteil durch die Zeit
ins Unglaubwürdige und Sagenhafte gesteigert sind; vielmehr wird er
meinen, sie seien nach den augenfälligsten Anzeichen für ihr Alter hinrei-
chend genau ermittelt worden. Und obgleich die Menschen den Krieg, den
sie gegenwärtig gerade führen, immer für den größten halten, um nach
seinem Ende wieder das Frühere höher zu bewundern, so wird doch dieser
Krieg sich dem, der auf das wirklich Geschehene merkt, als das größte aller
bisherigen Ereignisse erweisen.“57

Im Rahmen dieser Polemik hat Thukydides dann die Grundsätze dar-


gelegt, die ihn bei der Erforschung und Darstellung seines Gegenstan-
des geleitet hätten. Dieses sogenannte Methodenkapitel beginnt mit
dem Eingeständnis, dass es schwer gewesen sei zu ermitteln, was wäh-
rend des Krieges auf beiden Seiten gesagt worden war (1,22,1–3):
„Was nun in Reden hüben und drüben vorgebracht wurde, während sie
zum Kriege sich anschickten, und als sie schon drin waren, davon die
wörtliche Genauigkeit wiederzugeben war schwierig sowohl für mich, wo
ich selber zuhörte, wie auch für meine Gewährsleute von anderwärts; nur
wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen mußte, so
stehn die Reden da, in möglichst engem Anschluß an die Gesamtintention
des in Wirklichkeit Gesagten. Was aber tatsächlich getan wurde in dem
Kriege, erlaubte ich mir nicht nach Auskünften des ersten besten aufzu-
schreiben, auch nicht ‘nach meinem Dafürhalten’, sondern bin Selbsterleb-
tem und Nachrichten von andern mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins
einzelne nachgegangen. Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen
der einzelnen Taten nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je
nach Gunst oder Gedächtnis.“58

57 Thuk. 1,21,1-2: ԚȜ İպ ij‫׭‬ȟ ıԼȢșȞջȟȧȟ ijıȜȞșȢտȧȟ ՑȞȧȣ ijȡțį‫ף‬ijį Ԕȟ ijțȣ ȟȡȞտȘȧȟ ȞչȝțIJijį ԓ
İț‫׆‬ȝȚȡȟ ȡ՘ȥ ԑȞįȢijչȟȡț, Ȝįվ ȡ՜ijı թȣ ʍȡțșijįվ ՙȞȟսȜįIJț ʍıȢվ į՘ij‫׭‬ȟ Ԛʍվ ijր Ȟı‫ה‬Șȡȟ
ȜȡIJȞȡ‫ף‬ȟijıȣ Ȟֻȝȝȡȟ ʍțIJijıփȧȟ, ȡ՜ijı թȣ ȝȡȗȡȗȢչĴȡț ȠȤȟջȚıIJįȟ Ԛʍվ ijր ʍȢȡIJįȗȧȗցijıȢȡȟ
ij‫ ׇ‬ԐȜȢȡչIJıț Ԯ ԐȝșȚջIJijıȢȡȟ, Րȟijį ԐȟıȠջȝıȗȜijį Ȝįվ ijո ʍȡȝȝո ՙʍր ȥȢցȟȡȤ į՘ij‫׭‬ȟ
ԐʍտIJijȧȣ Ԛʍվ ijր ȞȤȚ‫׭‬İıȣ ԚȜȟıȟțȜșȜցijį, șՙȢ‫׆‬IJȚįț İպ ԭȗșIJչȞıȟȡȣ ԚȜ ij‫׭‬ȟ ԚʍțĴįȟıIJijչijȧȟ
IJșȞıտȧȟ թȣ ʍįȝįțո ıՂȟįț ԐʍȡȥȢօȟijȧȣ. Ȝįվ Ս ʍցȝıȞȡȣ ȡ՟ijȡȣ, ȜįտʍıȢ ij‫׭‬ȟ ԐȟȚȢօʍȧȟ Ԛȟ
֭ Ȟպȟ Ԓȟ ʍȡȝıȞ‫׭‬IJț ijրȟ ʍįȢցȟijį įԼıվ ȞջȗțIJijȡȟ ȜȢțȟցȟijȧȟ, ʍįȤIJįȞջȟȧȟ İպ ijո ԐȢȥį‫ה‬į
Ȟֻȝȝȡȟ ȚįȤȞįȘցȟijȧȟ, Ԑʍ’ į՘ij‫׭‬ȟ ij‫׭‬ȟ ԤȢȗȧȟ IJȜȡʍȡ‫ף‬IJț İșȝօIJıț ՑȞȧȣ ȞıտȘȧȟ
ȗıȗıȟșȞջȟȡȣ į՘ij‫׭‬ȟ.
58 Thuk. 1,22,1-3: ȁįվ ՑIJį Ȟպȟ ȝցȗ‫ ׫‬ıՂʍȡȟ ԥȜįIJijȡț Ԯ Ȟջȝȝȡȟijıȣ ʍȡȝıȞսIJıțȟ Ԯ Ԛȟ į՘ij‫׮‬
԰İș Րȟijıȣ, ȥįȝıʍրȟ ijռȟ ԐȜȢտȖıțįȟ į՘ijռȟ ij‫׭‬ȟ ȝıȥȚջȟijȧȟ İțįȞȟșȞȡȟı‫ף‬IJįț Բȟ ԚȞȡտ ijı կȟ
į՘ijրȣ ԰ȜȡȤIJį Ȝįվ ijȡ‫ה‬ȣ ԔȝȝȡȚջȟ ʍȡȚıȟ ԚȞȡվ ԐʍįȗȗջȝȝȡȤIJțȟǝ թȣ İ’Ԓȟ ԚİցȜȡȤȟ ԚȞȡվ
ԥȜįIJijȡț ʍıȢվ ij‫׭‬ȟ įԼıվ ʍįȢցȟijȧȟ ijո İջȡȟijį ȞչȝțIJij’ ıԼʍı‫ה‬ȟ, ԚȥȡȞջȟ‫ ׫‬Ցijț ԚȗȗȤijįijį ij‫׆‬ȣ
ȠȤȞʍչIJșȣ ȗȟօȞșȣ ij‫׭‬ȟ ԐȝșȚ‫׭‬ȣ ȝıȥȚջȟijȧȟ, ȡ՝ijȧȣ ıՀȢșijįț. ijո İ’ ԤȢȗį ij‫׭‬ȟ ʍȢįȥȚջȟijȧȟ
Ԛȟ ij‫ ׮‬ʍȡȝջȞ‫ ׫‬ȡ՘Ȝ ԚȜ ijȡ‫ ף‬ʍįȢįijȤȥցȟijȡȣ ʍȤȟȚįȟցȞıȟȡȣ ԬȠտȧIJį ȗȢչĴıțȟ, ȡ՘İ’ թȣ ԚȞȡվ
ԚİցȜıț, Ԑȝȝ’ ȡՃȣ ijı į՘ijրȣ ʍįȢ‫׆‬ȟ Ȝįվ ʍįȢո ij‫׭‬ȟ Ԕȝȝȧȟ ՑIJȡȟ İȤȟįijրȟ ԐȜȢțȖıտֹ ʍıȢվ
ԛȜչIJijȡȤ ԚʍıȠıȝȚօȟ. Ԛʍțʍցȟȧȣ İպ șՙȢտIJȜıijȡ, İțցijț ȡԽ ʍįȢցȟijıȣ ijȡ‫ה‬ȣ ԤȢȗȡțȣ ԛȜչIJijȡțȣ ȡ՘
ijį՘ijո ʍıȢվ ij‫׭‬ȟ į՘ij‫׭‬ȟ Ԥȝıȗȡȟ, Ԑȝȝ’ թȣ ԛȜįijջȢȧȟ ijțȣ ı՘ȟȡտįȣ Ԯ ȞȟսȞșȣ Ԥȥȡț.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 69

Soweit es um die Reden geht, die er seinem Werk in großer Zahl einge-
fügt hat, schränkt Thukydides den Wahrheitsanspruch seiner Darstel-
lung also ausdrücklich ein. Seine Redner halten sich zwar möglichst
eng an die „Gesamtintention des in Wirklichkeit Gesagten“59 – so lau-
tet zumindest das Programm –, sprechen aber so, wie es dem Ge-
schichtsschreiber in einer bestimmten Situation angemessen erscheint.
Im Kontext des „Methodenkapitels“ ist diese Aussage als Konzession
zu verstehen, die aus der Not eine Tugend machen soll: Wenn es schon
unmöglich ist, den genauen Inhalt einer Rede im Gedächtnis zu behal-
ten, so will Thukydides sich wenigstens in die Situation versetzen, in
der ein Redner das Wort ergriffen hatte. Tatsächlich spielen die Reden
im Werk des Thukydides jedoch eine ganz zentrale Rolle, wie schon
daraus erhellt, dass er dem Text nicht weniger als 40 davon eingefügt
hat, die häufig zu Paaren gruppiert sind.60 Diese Reden bieten viele
Informationen, die in der Geschichtserzählung selbst nicht enthalten
sind; sie dienen der Verdeutlichung und Vertiefung, indem sie die Be-
dingungen und Triebkräfte des historischen Geschehens aus der Per-
spektive der Handelnden darstellen.61
Im Gegensatz zu den Reden, die Thukydides nach eigenem Da-
fürhalten gestaltet, stehen die Taten, die er durch Autopsie und Zeu-
genbefragung mit absoluter Präzision ermittelt zu haben beansprucht.
Was die Taten angeht, hegt Thukydides also keinen Zweifel, dass es
möglich sei, die reine Wahrheit zu ermitteln und darzustellen, wenn

59 Die Wendung ȠȤȞʍչIJș ȗȟօȞș ij‫׭‬ȟ ԐȝșȚ‫׭‬ȣ ȝıȥȚջȟijȧȟ wird meist mit „Gesamtsinn
dessen, was tatsächlich gesagt wurde“ oder ähnlich wiedergegeben (z. B. von
Luschnat, Thukydides [wie Anm. 43], 1181). Gegen diese Auffassung wendet Kon-
rad Vössing, Objektivität oder Subjektivität, Sinn oder Überlegung? Zu Thukydides’
ȗȟօȞș im Methodenkapitel (1,22,1), Historia 33 (2005), 210-215 mit Recht ein, dass
ȗȟօȞș bei Thukydides nirgendwo die Bedeutung ‚Sinngehalt’ habe, und schlägt vor,
die Phrase mit „in möglichst engem Anschluß an die generelle Einschätzung, auf der
das tatsächlich Gesprochene beruhte“ (213) zu übersetzen, was dem griechischen
Wortlaut jedoch schwerlich entspricht. Tatsächlich meint ȗȟօȞș an der vorliegenden
Stelle nicht den ‚Gesamtsinn’ der Rede, sondern ihre ‚Gesamtintention’, wie vor lan-
ger Zeit Eduard Schwartz (Gnomon 2 (1926), 80: „Zielrichtung im ganzen“) erkannt
und Ernst Badian (Thucydides on Rendering Speeches, Athenaeum n. s. 80 (1992),
187-190: „entire intention“) vor kurzem noch einmal betont hat; eine schlagende Pa-
rallele bietet Thuk. 8,90,3: Բȟ İպ ijȡ‫ ף‬ijıտȥȡȤȣ ԭ ȗȟօȞș į՝ijș ... Ձȟį Ȝ. ij. ȝ.
60 Aufgelistet bei William C. West III, The Speeches in Thucydides: A Description and
Listing, in: Philip Stadter (Hg.), The Speeches in Thucydides, Chapel Hill 1973, 3-15.
61 Die Literatur zu den Reden des Thukydides ist unübersehbar; William C. West III, A
Bibliography of Scholarship on the Speeches in Thucydides, 1873-1970, in: Stadter,
Speeches in Thucydides (wie Anm. 60), 124-166 verzeichnet 351 Titel. Eine im we-
sentlichen treffende Charakteristik findet sich schon bei Eduard Meyer (Forschun-
gen II [wie Anm. 3], 379ff.).
70 Hans-Ulrich Wiemer

nur die Zeugen mit der nötigen Kritik einvernommen werden, obwohl
er einräumt, dass Genauigkeit nicht in allen Details zu erreichen ist,
und sich nicht für jede Aussage über Motive verbürgen will.62 Diese
Kritik muss zwei Faktoren in Rechnung stellen, die zur Verfälschung
von Zeugenaussagen führen können: zum einen das Gedächtnis und
zum anderen die Haltung, die der Zeuge zu den berichteten Ereig-
nissen einnimmt. Thukydides hat damit ohne Zweifel zwei Faktoren
bezeichnet, die bei jeder methodischen Auswertung erzählender Quel-
len zu berücksichtigen sind und gerade im Moment unter Historikern
wieder intensiv diskutiert werden.63 Indessen sollte man nicht überse-
hen, dass die Aussagen des „Methodenkapitels“ sich allein auf den
Bereich der „Oral History“ beziehen. Die Problematik der Interpretati-
on schriftlicher Zeugnisse wird von Thukydides gar nicht erörtert, ob-
wohl er nachweislich schriftliche Quellen sowohl erzählender als auch
urkundlicher Art herangezogen hat; im fünften Buch werden mehrere
Staatsverträge sogar im originalen Wortlaut mitgeteilt.64
Thukydides hat die von ihm ermittelten Ereignisse in eine fortlau-
fende, nach Sommern und Wintern gegliederte Erzählung umgesetzt,
deren Genauigkeit, Sachlichkeit und Deutlichkeit immer wieder be-
wundert worden ist; insbesondere auf seine chronologische Präzision

62 Vor allem wenn es um Motive auf spartanischer Seite geht (2,18,5; 2,20,1; 2,57,1;
3,79,3; 5,65,3; 8,50,3; 8,94,2), äußert Thukydides sich gerne unter Vorbehalt; über das
Ziel eines Feldzuges im Jahre 419 sagt er sogar, niemand habe gewusst, wohin König
Agis das Heer des Peloponnesischen Bundes damals habe führen wollen: 5,54,1. In
5,68,2 räumt er ausdrücklich ein, dass er die genauen Heereszahlen für die Schlacht
von Mantineia wegen der Geheimniskrämerei des spartanischen Staates (İțո ij‫׆‬ȣ
ʍȡȝțijıտįȣ ijր ȜȢȤʍijցȟ) nicht habe in Erfahrung bringen können. Eine Aussage über
die Absichten des persischen Satrapen Tissaphernes (8,46,5) wird mit der Bemer-
kung qualifiziert, „soweit sie aus seinen Handlungen zu erschließen waren“ (ՑIJį ȗı
Ԑʍր ij‫׭‬ȟ ʍȡțȡȤȞջȟȧȟ Բȟ ıԼȜչIJįț).
63 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memo-
rik, München 2004, 326 billigt Thukydides daher zu, er sei der „erste kritische Histo-
riker“ gewesen.
64 4,118-119 (Waffenstillstand zwischen Athen und Sparta); 5,18-19 (Friede zwischen
Athen und Sparta); 5,23-24 (Bündnis zwischen Athen und Sparta); 5,47 (Bündnis
Athens mit Argos, Mantineia und Elis); 5,77 (Friede zwischen Sparta und Argos);
5,79 (Bündnis zwischen Sparta und Argos); 8,18 (1. Bündnis zwischen Sparta und
dem Perserkönig); 8,37 (2. Bündnis zwischen Sparta und dem Perserkönig); 8,58 (3.
Bündnis zwischen Sparta und dem Perserkönig). Ob Thukydides diese Urkunden
durch Regesten ersetzt haben würde, wenn er sein Werk hätte vollenden können, ist
in der Forschung umstritten; Gomme / Andrewes / Dover, Commentary V (wie
Anm. 43), 361-379 und andere bejahen die Frage, Hornblower, Commentary II (wie
Anm. 46), 107-122 dagegen verneint sie. Vgl. auch Bernhard Smarczyk, Thucydides
and Epigraphy, in: Brill’s Companion to Thucydides (wie Anm. 43), 495-522.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 71

war Thukydides mit Recht stolz.65 Dabei verfährt er insofern analytisch,


als er den Peloponnesischen Krieg als Abfolge menschlicher Handlun-
gen darstellt, die aus bestimmten Motiven resultieren und vielfach
miteinander in Wechselwirkung stehen. Das Verhalten der Akteure,
seien es Einzelne oder Gruppen, wird jedoch niemals isoliert betrachtet,
sondern stets im Kontext eines komplexen Bedingungsgefüges. Natür-
lich war es im Rahmen einer Kriegsgeschichte weder möglich noch
nötig, alle strukturellen Determinanten politisch-militärischen Han-
delns zu explizieren, doch werden etwa demographische und finanziel-
le Ressourcen ausdrücklich thematisiert.66
Thukydides hat sich nicht in der Illusion gewiegt, dass der Verlauf
eines Krieges planbar sei; er hat vielmehr eindrucksvoll verdeutlicht,
dass politisch-militärische Aktionen häufig ein ganz anderes Ende
nehmen, als die Akteure erwartet und erstrebt haben. Er hat auch das
unberechenbare Wirken der Natur durchaus berücksichtigt, wenn es
das geschichtliche Geschehen beeinflusste; die berühmte Pestschilde-
rung (2,47-57) wird später noch zur Sprache kommen.67 Dagegen ist für
die Einflussnahme der Götter, die bei Herodot eine bedeutende Rolle
gespielt hatten, bei Thukydides kein Platz, wohl aber für Religion als
geschichtswirksamen Faktor; Thukydides kennt nur immanente Ursa-
chen.68 Er verfolgt in systematischer Weise zwei Leitfragen, die erken-

65 Thuk. 5,20 mit Otto Lendle, Zu Thukydides 5, 20, 2, Hermes 88 (1960), 33-40; vgl.
1,97,2.
66 A. W. Gomme, What Thucydides takes for granted, in: ders., A Historical Commen-
tary on Thucydides, Bd. 1, Oxford 1945, 1-25. Zur Bedeutung des finanziellen Fak-
tors für Thukydides Geschichtsschreibung vgl. Lisa Kallet(-Marx), Money, Expense,
and Naval Power in Thucydides History 1-5.24, Berkeley 1993; dies., Money and the
Corrosion of Power in Thucydides: The Sicilian Expedition and its Aftermath, Berke-
ley 2001.
67 Ähnlich wie Hans-Peter Stahl, Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschicht-
lichen Prozess (Zetemata. Monographien zur Klassischen Altertumswissenschaft 40),
München 1966 betont jetzt auch Mischa Meier, „Die größte Erschütterung für die
Griechen“ – Krieg und Naturkatastrophen im Geschichtswerk des Thukydides, Klio
87 (2005), 329-345, dass Thukydides vor allem die Unberechenbarkeit des geschicht-
lichen Geschehens habe verdeutlichen wollen. Seine Auffassung, der Peloponnesi-
sche Krieg sei „in den Augen des Thukydides eine ȜտȟșIJțȣ, ein Großereignis kosmi-
scher Dimension, in dem Naturgewalten und Kriegsglück dem Faktor Mensch
gegenüberstanden“ (342) gewesen, beruht jedoch auf einer Interpretation der soge-
nannten Pathemata-Liste (1,23,2-3), die schon deswegen kaum haltbar ist, weil es dort
heißt, all diese in 1,23,3 erwähnten Naturkatastrophen hätten die Griechen zugleich
mit diesem Krieg (Ȟıijո ijȡ‫ף‬İı ijȡ‫ ף‬ʍȡȝջȞȡȤ ԕȞį) heimgesucht. Sie wurden also von
Thukydides als Begleitumstände, nicht als integrale Bestandteile des Krieges aufge-
fasst.
68 Dazu jetzt eingehend William D. Furley, Thucydides and Religion, in: Brill’s Com-
panion to Thucydides (wie Anm. 43), 415-438. Dass Thukydides mitunter dazu neig-
72 Hans-Ulrich Wiemer

nen lassen, wie sehr er trotz aller intellektuellen Distanzierung im Her-


zen ein Athener blieb: zum einen, wie es zum Krieg zwischen Athen
und Sparta gekommen war, und zum anderen, weshalb Athen diesen
Krieg verloren hatte. Von letzterem wird im Zusammenhang mit Thu-
kydides’ Massenpsychologie zu reden sein.
Über die Ursachen des Peloponnesischen Krieges hat sich Thuky-
dides am Ende des ersten Proömiums (1,23,5-6) in epigrammatischer
Kürze geäußert. Er unterscheidet an dieser Stelle zwischen einem
„wahrsten Grund“ (alethestate prophasis), von dem jedoch am wenigsten
die Rede gewesen sei, und den Beschuldigungen (aitiai), die beide Sei-
ten öffentlich vorgebracht hätten, als sie in den Krieg eintraten. Der
„wahrste Grund“ aber sei gewesen, „dass die Athener die Spartaner
zum Krieg zwangen, indem sie groß wurden und ihnen dadurch
Furcht einflößten“.69
Wie dies zu verstehen ist, legt Thukydides in einer kunstvoll auf-
gebauten Erzählung dar.70 Er schildert zunächst, wie einer der wich-
tigsten Bundesgenossen Spartas, die Korinther, mit Athen in Konflikt
geraten waren, und deshalb Sparta aufforderten, gegen Athen vorzu-
gehen (1,24-65). Gesandte der Korinther klagen die Athener vor einer
spartanischen Volksversammlung an und drohen zugleich mit dem
Austritt aus dem Peloponnesischen Bund, worauf die Spartaner be-
schließen, Athen den Krieg zu erklären (1,66-87). Thukydides be-
schließt diesen Abschnitt mit der Feststellung, die Spartaner hätten sich
nicht so sehr deswegen zum Krieg entschlossen, weil sie sich durch die
Reden ihrer Bundesgenossen überzeugen ließen, als deswegen, weil sie
befürchtet hätten, dass die Athener noch mächtiger werden würden,
hätten sie doch gesehen, dass ihnen bereits der größte Teil Griechen-
lands untertan gewesen sei (1,88).71 Um die Entstehung dieser Mächte-

te, religiöse Faktoren zu unterschätzen, zeigt Simon Hornblower, The Religious Di-
mension to the Peloponnesian War, or, What Thucydides does not tell us, Harvard
Studies in Classical Philology 94 (1992), 169-197.
69 Thuk. 1,23,5-6: İțցijț İ’ ԤȝȤIJįȟ, ijոȣ įԼijտįȣ ʍȢȡփȗȢįȦį ʍȢ‫׭‬ijȡȟ Ȝįվ ijոȣ İțįĴȡȢչȣ, ijȡ‫ ף‬Ȟս
ijțȟį Șșij‫׆‬IJįտ ʍȡijı ԚȠ ՑijȡȤ ijȡIJȡ‫ף‬ijȡȣ ʍցȝıȞȡȣ ijȡ‫ה‬ȣ ԫȝȝșIJț ȜįijջIJijș. ijռȟ Ȟպȟ ȗոȢ
ԐȝșȚıIJijչijșȟ ʍȢցĴįIJțȟ, ԐĴįȟıIJijչijșȟ İպ ȝցȗ‫׫‬, ijȡւȣ ԘȚșȟįտȡȤȣ ԭȗȡ‫ף‬Ȟįț ȞıȗչȝȡȤȣ
ȗțȗȟȡȞջȟȡȤȣ Ȝįվ ĴցȖȡȟ ʍįȢջȥȡȟijįȣ ijȡ‫ה‬ȣ ȂįȜıİįțȞȡȟտȡțȣ ԐȟįȗȜչIJįț Ԛȣ ijր ʍȡȝıȞı‫ה‬ȟǝ įԽ
İ’ Ԛȣ ijր ĴįȟıȢրȟ ȝıȗցȞıȟįț įԼijտįț įՁİ’ ԲIJįȟ ԛȜįijջȢȧȟ, ԐĴ’ կȟ ȝփIJįȟijıȣ ijոȣ IJʍȡȟİոȣ Ԛȣ
ijրȟ ʍցȝıȞȡȟ ȜįijջIJijșIJįȟ.
70 Ausgezeichnete Analyse bei Eckstein, Thucydides (wie Anm. 12), bes. 762-771; vgl.
auch Anthony Andrewes, Thucydides on the Causes of the War, Classical Quarterly
n. s. 9 (1959), 223-239; Ste. Croix, Peloponnesian War (wie Anm. 49), 50-63; Raphael
Sealey, The Causes of the Peloponnesian War, Classical Philology 70 (1975), 89-109,
hier: 90-97.
71 Thuk. 1,88: ԚȦșĴտIJįȟijȡ İպ ȡԽ ȂįȜıİįțȞցȟțȡț ijոȣ IJʍȡȟİոȣ ȝıȝփIJȚįț Ȝįվ ʍȡȝıȞșijջį
ıՂȟįț ȡ՘ ijȡIJȡ‫ף‬ijȡȟ ij‫׭‬ȟ ȠȤȞȞչȥȧȟ ʍıțIJȚջȟijıȣ ijȡ‫ה‬ȣ ȝցȗȡțȣ ՑIJȡȟ ĴȡȖȡփȞıȟȡț ijȡւȣ
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 73

konstellation zu erklären, erzählt Thukydides anschließend, wie Athen


in den knapp fünfzig Jahren zwischen den Schlachten von Salamis und
Plataiai und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges zur Vormacht
eines großen Teiles der griechischen Staatenwelt aufgestiegen war
(1,89-118); diese unter dem Name Pentekontaetie bekannte Erzählung
greift also bis auf das Ende der Perserkriege zurück und stellt so auch
den Anschluss an Herodot her. Erst nach dieser exkursartigen Unter-
brechung nimmt Thukydides den chronologischen Faden wieder auf,
indem er erzählt, wie auch die Bundesgenossen Spartas beschlossen
hätten, Krieg gegen Athen zu führen (1,118-125). Die anschließenden
Verhandlungen zwischen Sparta und Athen (1,126-145) waren für Thu-
kydides auf beiden Seiten reine Propaganda, da Sparta den Krieg ja
bereits beschlossen hatte und die athenische Politik von Perikles be-
stimmt wurde, der den Krieg für auf Dauer unvermeidlich hielt.72
Genau diese Einschätzung ist nun auch diejenige des Thukydides
selbst. Denn aus seiner Sicht stellte der Aufstieg Athens die Spartaner
vor die Alternative, entweder den Zerfall des Peloponnesischen Bundes
und damit den Zusammenbruch der eigenen Herrschaft auf der Pelo-
ponnes hinzunehmen oder Athen den Krieg zu erklären. Kein Staat
aber, so ist Thukydides überzeugt, ist bereit, auf die Herrschaft über
andere zu verzichten, wenn er die Möglichkeit besitzt, sie zu verteidi-
gen. Es ist evident, dass diese Überzeugung selbst wieder auf Annah-
men über das kollektive Verhalten von Menschen beruht. Damit sind
wir beim Thema Anthropologie und Massenpsychologie angekommen.

V. Anthropologie und Massenpsychologie

Wenn Thukydides seinen Lesern nicht bloß klare Erkenntnis des Ver-
gangenen, sondern auch des Zukünftigen verspricht, so liegt dem die
Überzeugung zugrunde, dass es anthropologische Konstanten gibt, die
bewirken, dass sich bestimmte Verhaltensweisen in gleicher oder ähnli-
cher Weise wiederholen. Diese anthropologischen Konstanten lassen

ԘȚșȟįտȡȤȣ Ȟռ Ԛʍվ Ȟı‫ה‬Șȡȟ İȤȟșȚ‫׭‬IJțȟ, ՍȢ‫׭‬ȟijıȣ į՘ijȡ‫ה‬ȣ ijո ʍȡȝȝո ij‫׆‬ȣ ԧȝȝչİȡȣ ՙʍȡȥıտȢțį
԰İș Րȟijį.
72 Nicht alle modernen Historiker haben sich diese Sichtweise zu eigen gemacht; vgl.
etwa Joseph Vogt, Das Bild des Perikles bei Thukydides, Historische Zeitschrift 182
(1956), 249-266; auch in: ders., Orbis. Ausgewählte Schriften zur Geschichte des Al-
tertums, Freiburg u. a. 1960, 47-63; Ernst Badian, The Origins of the Peloponnesian
War: A Historian’s Brief, in: ders., From Plataeae to Potidaea. Studies in the History
and Historiography of the Pentecontaetia, Baltimore, Maryland 1993, 125-162; Wolf-
gang Will, Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held (Antiquitas. Rei-
he 1. Abhandlungen zur Alten Geschichte 51), Bonn 2003.
74 Hans-Ulrich Wiemer

sich auf zwei Impulse reduzieren: zum einen das eigennützige Streben
nach Macht und Besitz und zum anderen die Anfälligkeit für Affekte,
die eine rationale Interessenkalkulation verhindern.73 Diese gemessen
an den Anforderungen friedlichen Zusammenlebens defizitäre Grund-
ausstattung des Menschen wirkt sich nach Thukydides innerhalb der
Polis jedoch anders aus als im Verhältnis zwischen den Poleis. Denn
innerhalb der einzelnen Poleis können die egoistischen und irrationalen
Verhaltensneigungen durch Sitte und Gesetz wenigstens im Prinzip im
Zaum gehalten werden. Im Verhältnis zwischen den Poleis dagegen
wirken diese Impulse ungebremst, da es keine Instanz gibt, an welche
im Konfliktfall appelliert werden könnte.74
Thukydides ist darum der Überzeugung, dass alle Staaten von Na-
tur aus danach streben, andere Staaten zu beherrschen. Im zwischen-
staatlichen Bereich gibt es für ihn nur die Alternative Freiheit (eleuthe-
ria) oder Sklaverei (douleia). Da er Freiheit als unumschränkte Hand-
lungsfähigkeit versteht, schließt sie die Herrschaft über andere ein: Nur
wer für seine eigenen Befehle Gehorsam fordern kann, darf sicher sein,
niemals anderen gehorchen zu müssen, und ist daher im Vollsinne des
Wortes frei. Und da die Staaten über ganz unterschiedliche Machtmittel
verfügen, ist die Staatenwelt für Thukydides stets hierarchisch geglie-
dert; es gibt immer führende und geführte, herrschende und beherrsch-
te Staaten. Bis zu den Perserkriegen lag die Führung bei den Sparta-
nern, deren Herrschaftsmittel der Peloponnesische Bund war; nach der
Abwehr der persischen Invasion erstand ihnen in den Athenern und
deren Bundesgenossen ein Konkurrent, der sie bald zu überflügeln
drohte. Es wurde bereits erwähnt, dass Thukydides in der Furcht der
Spartaner vor dem Verlust seiner Bundesgenossen und damit seiner
führenden Stellung auf der Peloponnes die tiefste Ursache des Pelo-
ponnesischen Krieges sah. Der Appell an Bindungen, die aus dem Re-
spekt vor göttlichen und menschlichen Ordnungen, insbesondere an
Eide oder an ethnische Verwandtschaft, resultieren, muss für Thukydi-

73 Walter Müri, Beitrag zum Verständnis des Thukydides, Museum Helveticum 4


(1947), 251-275; auch in: Herter, Thukydides (wie Anm. 46), 135-170; Leppin, Thuky-
dides (wie Anm. 10), 107-122.
74 Auf der „Tagsatzung“ in Sparta argumentieren die Athener (1,76,2), noch niemand
habe, wenn die Gelegenheit sich bot, etwas durch Gewalt zu erwerben, dem Rechts-
anspruch den Vorzug gegeben und sich dadurch vom Mehrhaben abwenden lassen,
und im „Melierdialog“ (5,89) erklären sie, Recht werde unter Menschen lediglich
aufgrund gleichen Zwangs anerkannt, denn der Stärkere tue, was ihm möglich sei,
und der Schwächere müsse es zulassen (İտȜįțį Ȟպȟ Ԛȟ ij‫ ׮‬ԐȟȚȢȧʍıտ‫ ׫‬ȝցȗ‫ ׫‬Ԑʍր ij‫׆‬ȣ
ՀIJșȣ ԐȟչȗȜșȣ ȜȢտȟıijįț, İȤȟįijո İպ ȡԽ ʍȢȡփȥȡȟijıȣ ʍȢչIJIJȡȤIJț Ȝįվ ȡԽ ԐIJȚıȟı‫ה‬ȣ
ȠȤȗȥȧȢȡ‫ף‬IJțȟ). Vgl. dazu de Ste. Croix, Peloponnesian War (wie Anm. 49), 5-33, bes.
16-25.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 75

des deshalb wirkungslos bleiben, wenn er zum Herrschaftsstreben


eines überlegenen Staates in Konflikt tritt. Weder beschworene Verträ-
ge noch ethnische Solidarität – in der altgriechischen Diplomatie berief
man sich gerne auf gemeinsame Vorfahren75 – schützen einen schwa-
chen Staat davor, sich einem stärkeren bedingungslos ergeben zu müs-
sen, wenn dieser darauf besteht.
Thukydides hat diese Lehre freilich nicht in eigenem Namen ausge-
sprochen, weshalb sie bei ihm auch keine begrifflich scharfe Fassung
erhalten hat. Sie wird jedoch in den Reden immer wieder erörtert, am
eindringlichsten im sogenannten Melierdialog (5,85-113).76 In diesem
offenbar völlig frei erfundenen Dialog versuchen Vertreter der kleinen
Kykladenpolis Melos, Abgesandte Athens, das die Melier im Jahre
416/5 unter Androhung militärischer Gewalt zum Anschluss an den
athenischen Seebund zwingen wollte,77 davon zu überzeugen, dass es
gute Gründe gebe, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen. Die
Melier können nicht umhin einzuräumen, dass sie den Athenern mili-
tärisch kaum gewachsen sind, vertrauen jedoch darauf, dass die Götter
sie nicht im Stich lassen werden, und hoffen auf militärische Unterstüt-
zung durch die Spartaner, mit denen sie als Dorier verwandt zu sein
glauben. Darauf lässt Thukydides die Athener folgendermaßen erwi-
dern (5,105):
„Nun, an der Gunst der Götter soll es, denken wir, auch uns nicht fehlen.
Denn nichts, was wir fordern oder tun, widerspricht der Menschen Mei-
nung von der Gottheit und ihrem Betragen gegeneinander. Wir glauben
nämlich, vermutungsweise, dass das Göttliche, ganz gewiß aber, dass alles
Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es die
Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorge-
gebenes zuerst befolgt, als gültig übernahmen wir es, und zu ewiger Gel-
tung werden wir es hinterlassen, und wenn wir uns daran halten, so wis-
sen wir, dass auch ihr und jeder, der zur selben Macht wie wir gelangt,

75 Vgl. Simon Hornblower, Thucydides and ȠȤȗȗջȟıțį (kinship), in: ders., Commentary
II (wie Anm. 46), 61-80; Christopher Jones, Kinship Diplomacy in the Ancient World,
Cambridge, Mass. 1999. Die epigraphischen Zeugnisse hat Olivier Curty, Les paren-
tés légendaires entre cités grecques; catalogue raisonnée des inscriptions contenant
le terme Syngeneia et analyse critique, Genf 1995 zusammengestellt.
76 Vgl. dazu etwa de Romilly, Thucydides (wie Anm. 10), 272-310; Stahl, Thukydides
(wie Anm. 67), 158-171; Gomme / Andrewes / Dover, Commentary IV, (wie Anm. 43)
159-164; 181-188; Luciano Canfora, Tucidide e l’impero. La presa di Melo, Rom / Bari
1991, 22000 sowie jetzt Wolfgang Will, Der Untergang von Melos: Machtpolitik im
Urteil des Thukydides und einiger Zeitgenossen, Bonn 2006.
77 Die Frage, ob Melos zu diesem Zeitpunkt tatsächlich neutral war (vgl. dazu etwa
Gomme / Andrewes / Dover, Commentary V [wie Anm. 43], 156-158) kann hier auf
sich beruhen, da es für das Verständnis des Melierdialogs allein darauf ankommt,
dass Thuykdides die Insel als neutral darstellt.
76 Hans-Ulrich Wiemer

ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der
Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten. Wegen eurer Spartaner-
hoffnung aber, die ihr hegt, sie würden um ihrer Ehre willen euch gewiß
helfen, da preisen wir euch selig für eure naive Unkenntnis alles Schlech-
ten, ohne eure Torheit zu neiden. Die Spartaner nämlich betragen sich un-
tereinander und nach ihren Landesgesetzen ohne Fehl und Tadel; aber ge-
gen die andern könnte man vieles erzählen, wie sie sich betragen, und mit
einem Wort etwa so sagen: kein Volk, das wir kennen, erklärt so unverhoh-
len wie sie das Angenehme für schön und das Nützliche für gerecht. Eine
solche Haltung ist jedoch eurer wider die Vernunft erhofften Rettung nicht
günstig.“78

Diese Analyse wird durch den Fortgang der Ereignisse auf fürchterli-
che Weise bestätigt: Da die Melier sich standhaft weigern, dem atheni-
schen Seebund beizutreten, wird ihre Stadt von den Athenern mit Hilfe
ihrer Bundesgenossen belagert und schließlich, da göttliche Hilfe eben-
so ausbleibt wie solche aus Sparta, eingenommen. Die erwachsenen
Männer werden hingerichtet, Frauen und Kinder in die Sklaverei ver-
kauft (5,116,4). Die Lehre, die Thukydides seinen Lesern vermittelt, ist
eindeutig: Wer sich angesichts überlegener militärischer Macht auf die
Götter oder auf sentimentale Bindungen verlässt, spielt mit seinem
Leben.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als rede Thukydides hier
einem vermeintlichen „Recht des Stärkeren“ das Wort.79 Diese Auffas-

78 Thuk. 5,105: ǺĭǿȄǺȀȆȀǝ Ȋ‫׆‬ȣ Ȟպȟ ijȡտȟȤȟ ʍȢրȣ ijր Țı‫ה‬ȡȟ ı՘Ȟıȟıտįȣ ȡ՘İ’ ԭȞı‫ה‬ȣ ȡԼցȞıȚį
ȝıȝıտȦıIJȚįțǝ ȡ՘İպȟ ȗոȢ ԤȠȧ ij‫׆‬ȣ ԐȟȚȢȧʍıտįȣ ij‫׭‬ȟ Ȟպȟ Ԛȣ ijր Țı‫ה‬ȡȟ ȟȡȞտIJıȧȣ, ij‫׭‬ȟ İ’ Ԛȣ
IJĴֻȣ į՘ijȡւȣ ȖȡȤȝսIJıȧȣ İțȜįțȡ‫ף‬Ȟıȟ Ԯ ʍȢչIJIJȡȞıȟ. ԭ ȗ ȡ փ Ȟ ı Ț į ȗ ո Ȣ ij ց ij ı
Țı‫ה‬ȡȟ İցȠׄ ijր ԐȟȚȢօʍıțցȟ ijı IJįĴ‫׭‬ȣ İțո ʍįȟijրȣ ՙʍր
ĴփIJıȧȣ ԐȟįȗȜįտįȣ, ȡ՟ Ԓȟ ȜȢįij‫ׇ‬, ԔȢȥıțȟǝ Ȝįվ ԭȞı‫ה‬ȣ ȡ՜ijı
Țջȟijıȣ ijրȟ ȟցȞȡȟ ȡ՜ijı ȜıțȞջȟ‫ ׫‬ʍȢ‫׭‬ijȡț ȥȢșIJչȞıȟȡț, Րȟijį
İպ ʍįȢįȝįȖցȟijıȣ Ȝįվ ԚIJցȞıȟȡȟ Ԛȣ įԼıվ ȜįijįȝıտȦȡȟijıȣ
ȥȢօȞıȚį į՘ij‫׮‬, ıԼİցijıȣ Ȝįվ ՙȞֻȣ Ԓȟ Ȝįվ ԔȝȝȡȤȣ Ԛȟ ij‫ׇ‬
į ՘ ij ‫ ׇ‬İ Ȥ ȟ չ Ȟ ı ț ԭ Ȟ ‫ ה‬ȟ ȗ ı ȟ ȡ Ȟ ջ ȟ ȡ Ȥ ȣ İ Ȣ ‫ ׭‬ȟ ij į ȣ Ԓ ȟ ij į ՘ ij ց . Ȝįվ ʍȢրȣ
Ȟպȟ ijր Țı‫ה‬ȡȟ ȡ՝ijȧȣ ԚȜ ijȡ‫ ף‬ıԼȜցijȡȣ ȡ՘ ĴȡȖȡփȞıȚį ԚȝįIJIJօIJıIJȚįțǝ ij‫׆‬ȣ İպ Ԛȣ
ȂįȜıİįțȞȡȟտȡȤȣ İցȠșȣ, ԯȟ İțո ijր įԼIJȥȢրȟ İռ ȖȡșȚսIJıțȟ ՙȞ‫ה‬ȟ ʍțIJijıփıijı į՘ijȡփȣ,
ȞįȜįȢտIJįȟijıȣ ՙȞ‫׭‬ȟ ijր ԐʍıțȢցȜįȜȡȟ ȡ՘ Șșȝȡ‫ף‬Ȟıȟ ijր ԔĴȢȡȟ. ȂįȜıİįțȞցȟțȡț ȗոȢ ʍȢրȣ
IJĴֻȣ Ȟպȟ į՘ijȡւȣ Ȝįվ ijո ԚʍțȥօȢțį ȟցȞțȞį ʍȝı‫ה‬IJijį ԐȢıij‫ ׇ‬ȥȢ‫׭‬ȟijįțǝ ʍȢրȣ İպ ijȡւȣ ԔȝȝȡȤȣ
ʍȡȝȝո Ԕȟ ijțȣ Ԥȥȧȟ ıԼʍı‫ה‬ȟ թȣ ʍȢȡIJĴջȢȡȟijįț, ȠȤȟıȝքȟ ȞչȝțIJij’ Ԓȟ İșȝօIJıțıȟ Ցijț
ԚʍțĴįȟջIJijįijį կȟ ՀIJȞıȟ ijո Ȟպȟ ԭİջį Ȝįȝո ȟȡȞտȘȡȤIJț, ijո İպ ȠȤȞĴջȢȡȟijį İտȜįțį. Ȝįտijȡț
ȡ՘ ʍȢրȣ ij‫׆‬ȣ ՙȞıijջȢįȣ ȟ‫ף‬ȟ ԐȝցȗȡȤ IJȧijșȢտįȣ ԭ ijȡțįփijș İțչȟȡțį. Ganz ähnlich äußern
sich die athenischen Gesandten auf der Versammlung des Peloponnesischen Bun-
des, die 432 dem Kriegsbeschluss Spartas vorherging (1,76,2), und der syrakusani-
sche Politiker Hermokrates auf dem Friedenskongress in Gela 424 (4,61,5).
79 Dass der Stärkere ein Recht habe, über den Schwächeren zu herrschen, diese These
vertritt erst der Sophist Kallikles in Platons Dialog „Gorgias“ (483d); in Platons
„Staat“ wird sie durch den Sophisten Thrasymachos zu der Behauptung zugespitzt,
gerecht sei, was dem Stärkeren nütze (338c).
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 77

sung wäre jedoch verfehlt. Gewiss betrachtet Thukydides das Bestre-


ben von Staaten, über andere Staaten zu herrschen, als eine Konstante,
die in der Natur des Menschen begründet ist. Er hat daraus jedoch
nicht gefolgert, dass die Herrschaft des Stärkeren in jedem Fall gerecht
sei, und sich gehütet, Macht und Recht zu identifizieren; der Gedanke
einer „Umwertung aller Werte“ à la Friedrich Nietzsche lag ihm fern.80
Im übrigen gilt die Lehre des „Melierdialogs“ trotz ihrer universellen
Formulierung und trotz ihrer anthropologischen Fundierung gerade
nicht im innerstaatlichen Bereich; ihr Geltungsbereich ist für Thukydi-
des auf die Beziehungen zwischen den Staaten beschränkt.
Denn innerhalb der einzelnen Staaten, die Thukydides sich stets als
Stadt- und Bürgerstaaten, als Poleis, vorstellt, gibt es durchaus Nor-
men, geschriebene und ungeschriebene, die er nicht bloß anerkennt,
sondern als Fundament eines jeden wohlgeordneten Zusammenlebens
betrachtet.81 Am deutlichsten wird die Bedeutung, die Thukydides Sitte
und Gesetz beimisst, in der berühmten Schilderung der sogenannten
Pest, die in Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges wütete und
mehrere tausend Menschen das Leben kostete.82 Thukydides be-
schreibt, wie der für die Zeitgenossen völlig unverständliche Verlauf
der Seuche zu einem Zustand der Anomie führte, in welchem zentrale
Normen des Zusammenlebens innerhalb der Polis zeitweilig außer
Kraft gesetzt waren: Kranke wurden von ihren Verwandten nicht mehr
gepflegt, Leichen nicht mehr ordentlich bestattet, kein Gebot wurde
mehr respektiert, weil jeder nur noch dem Augenblick lebte (2,53):
„Auch sonst war die Seuche für die Stadt der Anfang der Auflösung von
Gesetz und Sitte in weiterem Umfange. Denn leichter erdreistete sich wohl
mancher, was er vorher verborgen hätte, nach seinen Gelüsten zu tun,
wenn er sah, wie rasch aufeinander der Wechsel erfolgte von solchen, die

80 Dass Nietzsche in Thukydides einen geistigen Ahnherrn erblickt hat, steht auf einem
anderen Blatt, was hier freilich nicht näher ausgeführt werden kann; das Thema
verdient eine eingehende Untersuchung. Völlig unzureichend ist der Beitrag von Ole
Schütza, Nietzsche und Thukydides: Thukydides’ Herleitung des „Allgemein-
Menschlichen“ aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezep-
tion durch Nietzsche, in: Hans M. Gerlach u. a. (Hgg.), Antike und Romantik bei
Nietzsche (Nietzscheforschung 11), Berlin 2004, 223-229.
81 Vgl. dazu etwa Luschnat, Thukydides (wie Anm. 43), 1250-1252; Leppin, Thukydi-
des (wie Anm. 10), 132-184.
82 Auch die „Pestbeschreibung“ ist von der Forschung schon oftmals behandelt wor-
den, u. a. von Denys L. Page, Thucydides’ Description of the Great Plague at Athens,
Classical Quarterly n. s. 3 (1953), 97-119; Karl-Heinz Leven, Thukydides und die
‚Pest’ in Athen, Medizinhistorisches Journal 26 (1991), 128-160; Mischa Meier, Beo-
bachtungen zu den sogenannten Pestschilderungen bei Thukydides II 47-56 und
Prokop, Bell. Pers. II 22-23, Tyche 14 (1999), 177-210.
78 Hans-Ulrich Wiemer

reich waren und plötzlich dahinstarben, und solchen, die vorher nichts be-
saßen und sofort den Besitz jener in Händen hatten. So meinten sie, man
müsse den Genuß rasch und lediglich im Hinblick auf die Lust des Augen-
blicks machen, da Leib und Geld ohne Unterschied Eintagsgüter seien.
Und sich vorher um das, was einmal anständig erschienen war, Mühe zu
machen, war keiner willens, denn er hielt es für ganz dunkel, ob er nicht
zugrunde gehen würde, ehe er dazu käme. Was aber unmittelbar lustvoll
und in jeder Hinsicht dazu vorteilhaft war, das erhielt für sie die Bedeu-
tung von anständig und nützlich. Kein Respekt vor den Göttern und kein
menschliches Gesetz hielt sie davon zurück, denn nach ihrem Urteil war es
einerlei, fromme Ehrfurcht zu hegen oder nicht, da sie sahen, dass alle oh-
ne Unterschied zugrunde gingen. Für seine Vergehungen aber erwartete
keiner, Strafe leisten zu müssen (weil er nicht glaubte), bis zur Vergeltung
noch zu leben; viel größer sei die, die ohnehin schon über sie verhängt sei
und über ihnen schwebe, und bevor die hereinbreche, sei es billig, noch
etwas vom Leben zu haben.“83

Das wohlgeordnete Zusammenleben innerhalb der Polis ist für Thuky-


dides also an den Respekt vor Sitte und Gesetz gebunden. Dabei ist
natürlich nicht an abstrakte Menschenrechte zu denken, die keine Un-
terschiede hinsichtlich Geschlecht oder Rechtsstatus kennen. Vielmehr
geht es primär um die Bürgerschaft als Rechtsgemeinschaft, die ihren
Mitgliedern den Schutz von Eigentum und körperlicher Unversehrtheit
garantiert. Diese Güter waren in der griechischen Staatenwelt durch
das chronische Übel der stasis, des oftmals gewaltsamen Bürgerzwists,
permanent gefährdet. Man trug die inneren Konflikte mit äußerster
Schärfe aus, bis hin zur physischen Vernichtung des politischen Geg-
ners, und scheute sich nicht, von auswärts Unterstützung gegen die
eigenen Mitbürger anzufordern.84 Thukydides hat diese Eskalation der
Gewalt am Beispiel der Insel Korkyra eindringlich beschrieben und das
Grassieren innerer Kriege im sogenannten Parteienexkurs als Entfesse-

83 Thuk. 2,53: ȇȢ‫׭‬ijցȟ ijı ԲȢȠı Ȝįվ Ԛȣ ijԖȝȝį ij‫ ׇ‬ʍցȝıț Ԛʍվ ʍȝջȡȟ ԐȟȡȞտįȣ ijր ȟցIJșȞį. ‫ּע‬ȡȟ
ȗոȢ ԚijցȝȞį ijțȣ ԓ ʍȢցijıȢȡȟ ԐʍıȜȢփʍijıijȡ Ȟռ ȜįȚ’ ԭİȡȟռȟ ʍȡțı‫ה‬ȟ, ԐȗȥտIJijȢȡĴȡȟ ijռȟ
ȞıijįȖȡȝռȟ ՍȢ‫׭‬ȟijıȣ ij‫׭‬ȟ ijı ı՘İįțȞցȟȧȟ Ȝįվ įԼĴȟțİտȧȣ ȚȟׄIJȜցȟijȧȟ Ȝįվ ij‫׭‬ȟ ȡ՘İպȟ
ʍȢցijıȢȡȟ ȜıȜijșȞջȟȧȟ, ı՘Țւȣ İպ ijԐȜıտȟȧȟ Ԛȥցȟijȧȟ. խIJijı ijįȥıտįȣ ijոȣ ԚʍįȤȢջIJıțȣ Ȝįվ
ʍȢրȣ ijր ijıȢʍȟրȟ ԬȠտȡȤȟ ʍȡțı‫ה‬IJȚįț, ԚĴսȞıȢį ijչ ijı IJօȞįijį Ȝįվ ijո ȥȢսȞįijį ՍȞȡտȧȣ
ԭȗȡփȞıȟȡț. Ȝįվ ijր Ȟպȟ ʍȢȡIJijįȝįțʍȧȢı‫ה‬ȟ ij‫ ׮‬İցȠįȟijț Ȝįȝ‫ ׮‬ȡ՘İıվȣ ʍȢցȚȤȞȡȣ Բȟ, Ԕİșȝȡȟ
ȟȡȞտȘȧȟ ıԼ ʍȢվȟ Ԛʍ’ į՘ijր ԚȝȚı‫ה‬ȟ İțįĴȚįȢսIJıijįțǝ Ցijț İպ ԰İș ijı ԭİւ ʍįȟijįȥցȚıȟ ijı Ԛȣ
į՘ijր ȜıȢİįȝջȡȟ, ijȡ‫ף‬ijȡ Ȝįվ Ȝįȝրȟ Ȝįվ ȥȢսIJțȞȡȟ ȜįijջIJijș. Țı‫׭‬ȟ İպ ĴցȖȡȣ Ԯ ԐȟȚȢօʍȧȟ
ȟցȞȡȣ ȡ՘İıվȣ Ԑʍı‫ה‬Ȣȗı, ijր Ȟպȟ ȜȢտȟȡȟijıȣ Ԛȟ ՍȞȡտ‫ ׫‬Ȝįվ IJջȖıțȟ Ȝįվ Ȟռ ԚȜ ijȡ‫ ף‬ʍչȟijįȣ ՍȢֻȟ
Ԛȟ ՀIJ‫ ׫‬ԐʍȡȝȝȤȞջȟȡȤȣ, ij‫׭‬ȟ İպ ԑȞįȢijșȞչijȧȟ ȡ՘İıվȣ ԚȝʍտȘȧȟ ȞջȥȢț ijȡ‫ ף‬İտȜșȟ ȗıȟջIJȚįț
Ȗțȡւȣ Ԓȟ ijռȟ ijțȞȧȢտįȟ Ԑȟijțİȡ‫ף‬ȟįț, ʍȡȝւ İպ ȞıտȘȧ ijռȟ ԰İș ȜįijıȦșĴțIJȞջȟșȟ IJĴ‫׭‬ȟ
ԚʍțȜȢıȞįIJȚ‫׆‬ȟįț, ԯȟ ʍȢվȟ ԚȞʍıIJı‫ה‬ȟ ıԼȜրȣ ıՂȟįț ijȡ‫ ף‬ȖտȡȤ ijț Ԑʍȡȝį‫ף‬IJįț.
84 Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den grie-
chischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. (Vestigia. Beiträge zur Alten Ge-
schichte 35), München 1985.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 79

lung menschlicher Triebe gedeutet, die im Frieden gewöhnlich ge-


bändigt sind, durch die enthemmende Wirkung des Krieges aber frei-
gesetzt werden (3,82,1-2):
„Einen so brutalen Fortgang nahm der Bürgerzwist, und er erweckte in
um so höherem Maße diesen Eindruck, als er mit zu den ersten gehörte, die
sich ereigneten. Denn später geriet sozusagen ganz Griechenland in Bewe-
gung, da überall Zwistigkeiten ausbrachen zwischen den Führern des Vol-
kes, die die Athener herbeiziehen wollten, und den Wenigen, die das glei-
che bezüglich der Spartaner wünschten. Und während sie im Frieden wohl
keinen Anlaß gehabt hätten und auch nicht bereit gewesen wären, sie her-
beizurufen, war im Krieg, da beiden Seiten Bündnisse gewährt wurden,
um die Gegner zu schädigen und sich selbst durch den Anschluß zu ver-
stärken, für diejenigen, die nach Umsturz strebten, Hilfe leicht zu erlangen.
Und so befielen viele und schwere Leiden wegen des Bürgerzwists die
Städte – Dinge, die zwar einzutreten pflegen und immer eintreten werden,
solange die Menschennatur dieselbe bleibt, die aber doch nach dem Grad
ihrer Stärke und in ihren Erscheinungsformen verschieden sind, wie je-
weils im einzelnen die Wechselfälle des täglichen Schicksals an die Men-
schen herantreten. Denn im Frieden und unter günstigen Voraussetzungen
sind die Gesinnungen der Poleis wie auch der Einzelmenschen besser, weil
sie nicht in unfreiwillige Zwangslagen geraten. Der Krieg aber nimmt un-
vermerkt die Möglichkeit, das täglich Notwendige leicht zu beschaffen,
und wird so zu einem gewalttätigen Lehrmeister, der die Affekte der Mas-
se der vorliegenden Situation anpaßt.“85

Die Klage über den durch den Krieg bewirkten Sittenverfall innerhalb
einzelner Poleis lässt erkennen, welche Bedeutung Thukydides der
Polis beimisst: Sie ist die einzige Instanz, die den Einzelnen nicht bloß
gegen Angriffe von außen schützen, sondern auch im Inneren Recht
und Ordnung garantieren kann. Darum sind die Interessen der Polis

85 Thuk. 3,82,1-2: Ȇ՝ijȧȣ ըȞռ <ԭ> IJijչIJțȣ ʍȢȡȤȥօȢșIJı, Ȝįվ ԤİȡȠı Ȟֻȝȝȡȟ, İțցijț Ԛȟ ijȡ‫ה‬ȣ
ʍȢօijș Ԛȗջȟıijȡ, Ԛʍıվ ՝IJijıȢցȟ ȗı Ȝįվ ʍֻȟ թȣ ıԼʍı‫ה‬ȟ ijր ԧȝȝșȟțȜրȟ ԚȜțȟսȚș, İțįĴȡȢ‫׭‬ȟ
ȡ՘IJ‫׭‬ȟ ԛȜįIJijįȥȡ‫ ף‬ijȡ‫ה‬ȣ ijı ij‫׭‬ȟ İսȞȧȟ ʍȢȡIJijչijįțȣ ijȡւȣ ԘȚșȟįտȡȤȣ ԚʍչȗıIJȚįț Ȝįվ ijȡ‫ה‬ȣ
Ռȝտȗȡțȣ ijȡւȣ ȂįȜıİįțȞȡȟտȡȤȣ. Ȝįվ Ԛȟ Ȟպȟ ıԼȢսȟׄ ȡ՘Ȝ Ԓȟ Ԛȥցȟijȧȟ ʍȢցĴįIJțȟ ȡ՘İ’
ԛijȡտȞȧȟ <Րȟijȧȟ> ʍįȢįȜįȝı‫ה‬ȟ į՘ijȡփȣ, ʍȡȝıȞȡȤȞջȟȧȟ İպ Ȝįվ ȠȤȞȞįȥտįȣ ԕȞį ԛȜįijջȢȡțȣ
ij‫ ׇ‬ij‫׭‬ȟ Ԛȟįȟijտȧȟ ȜįȜօIJıț Ȝįվ IJĴտIJțȟ į՘ijȡ‫ה‬ȣ ԚȜ ijȡ‫ ף‬į՘ijȡ‫ ף‬ʍȢȡIJʍȡțսIJıț ‫ֹע‬İտȧȣ įԽ
Ԛʍįȗȧȗįվ ijȡ‫ה‬ȣ ȟıȧijıȢտȘıțȟ ijț ȖȡȤȝȡȞջȟȡțȣ ԚʍȡȢտȘȡȟijȡ. Ȝ į վ Ԛ ʍ ջ ʍ ı IJ ı ʍ ȡ ȝ ȝ ո
Ȝįվ ȥįȝıʍո Ȝįijո IJijչIJțȟ ijį‫ה‬ȣ ʍցȝıIJț, ȗțȗȟցȞıȟį Ȟպȟ Ȝįվ
įԼıվ ԚIJցȞıȟį, ԥȧȣ Ԓȟ ԭ į՘ijռ ĴփIJțȣ ԐȟȚȢօʍȧȟ ֜, Ȟֻȝȝȡȟ
İպ Ȝįվ ԭIJȤȥįտijıȢį Ȝįվ ijȡ‫ה‬ȣ ıՀİıIJț İțșȝȝįȗȞջȟį, թȣ Ԓȟ
ԥȜįIJijįț įԽ ȞıijįȖȡȝįվ ij‫׭‬ȟ ȠȤȟijȤȥț‫׭‬ȟ ԚĴțIJij‫׭‬ȟijįț. Ԛȟ Ȟպȟ
ȗոȢ ıԼȢսȟׄ Ȝįվ ԐȗįȚȡ‫ה‬ȣ ʍȢչȗȞįIJțȟ įՁ ijı ʍցȝıțȣ Ȝįվ ȡԽ
Լİț‫׭‬ijįț ԐȞıտȟȡȤȣ ijոȣ ȗȟօȞįȣ ԤȥȡȤIJț İțո ijր Ȟռ Ԛȣ
ԐȜȡȤIJտȡȤȣ ԐȟչȗȜįȣ ʍտʍijıțȟǝ Ս İպ ʍցȝıȞȡȣ ՙĴıȝքȟ ijռȟ
ı՘ʍȡȢտįȟ ijȡ‫ ף‬ȜįȚ’ ԭȞջȢįȟ Ȗտįțȡȣ İțİչIJȜįȝȡȣ Ȝįվ ʍȢրȣ
ijո ʍįȢցȟijį ijոȣ ՌȢȗոȣ ij‫׭‬ȟ ʍȡȝȝ‫׭‬ȟ ՍȞȡțȡ‫ה‬.
80 Hans-Ulrich Wiemer

für Thukydides denen des Einzelnen grundsätzlich übergeordnet. Das


Kriterium, an welchem die Leistung politischer Führer gemessen wird,
ist deshalb, ob sie sich ganz in den Dienst der Polis stellen statt eigen-
nützige Ziele zu verfolgen. Für Thukydides ist Perikles auch in dieser
Hinsicht ein leuchtendes Vorbild, während Alkibiades den Inbegriff
des tatkräftigen, aber eigensüchtigen Politikers darstellt.86 Die Qualität
einer Polis beurteilt Thukydides nicht primär nach ihrer Verfassung,
wenn man darunter die Verteilung von Mitwirkungsrechten und das
Institutionengefüge versteht. Zwar macht er aus seinem Argwohn ge-
genüber Massenversammlungen keinen Hehl und betont immer wieder
die Erregbarkeit und Wankelmütigkeit der Menge.87 Die Problematik
mit uneingeschränkten Vollmachten ausgestatteter Primärversamm-
lungen war im klassischen Griechenland jedoch keineswegs für die
Demokratie spezifisch, da auch in vielen Oligarchien wichtige Ent-
scheidungen von den versammelten Bürgern gefällt wurden. Für Thu-
kydides kommt es nicht darauf an, ob eine Polis demokratisch oder
oligarchisch verfasst ist; entscheidend ist für ihn, ob sie nach innen
Rechtssicherheit gewährleistet und nach außen handlungsfähig ist.88
Die Variable, von der beides abhängt, ist für Thukydides das Ver-
hältnis von politischer Elite und Masse. Ein Bürgerstaat, der im zwi-
schenstaatlichen Existenzkampf seine Freiheit bewahren und zugleich
dem inneren Zerfall im Parteienkrieg entgehen will, benötigt Führer,
die uneigenützig sind und zu erkennen vermögen, was für die Ge-
samtheit der Bürger am besten ist, zudem aber befähigt sind, die Masse
in öffentlicher Rede davon zu überzeugen, diese für richtig erkannte
Politik in die Praxis umzusetzen. Der gute Staatsmann muss auch ein
guter Redner sein, denn in einer Welt, in der alle politischen Entschei-
dungen in Primärversammlungen gefällt wurden, war derjenige, der es
nicht vermochte, die Masse mitzureißen, zur Wirkungslosigkeit ver-
dammt. Perikles vereinte diese Qualitäten nach Meinung des Thukydi-
des89 in idealer Weise und erhält darum höchstes Lob (2,65,5 + 8-10):

86 Zu Thukydides’ Urteil über Alkibiades vgl. de Romilly, Thucydides (wie Anm. 10),
195-229; Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 149-151; 156-158; 165-167 sowie jetzt
Bruno Bleckmann, Alkibiades und die Athener im Urteil des Thukydides, Histori-
sche Zeitschrift 282 (2006), 561-583.
87 Hartmut Erbse, Die politische Lehre des Thukydides (1969), in: ders., Ausgewählte
Schriften zur Klassischen Philologie, Berlin-West / New York 1979, 221-244, bes. 224-
229; Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 123-131.
88 Thuk. 1,18,1 (Sparta); 8,24,4 (Chios); 8,97,2 (Herrschaft der 5000 in Athen); vgl. dazu
Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 59-106; 171-184.
89 Zu Thukydides’ Urteil über Perikles vgl. etwa de Romilly, Thucydides (wie Anm.
10), 110-155; dies., L’optimisme de Thucydide et le jugement de l’historien sur
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 81

„Denn solange er die Stadt leitete im Frieden, führte er sie mit Mäßigung
und erhielt ihre Sicherheit, unter ihm wurde sie groß, und als der Krieg
ausbrach, da hatte er, wie sich zeigen läßt, auch hierfür die Kräfte richtig
vorausberechnet … Das kam daher, dass er, mächtig durch sein Ansehen
und seine Einsicht und in Gelddingen makellos unbeschenkbar, die Masse
in Freiheit bändigte, selber führend, nicht von ihr geführt, weil er nicht, um
mit unsachlichen Mitteln die Macht zu erwerben, ihr zu Gefallen redete,
sondern genug Ansehen hatte, ihr wohl auch im Zorn zu widersprechen.
Sooft er wenigstens bemerkte, dass sie zur Unzeit sich in leichtherziger Zu-
versicht überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, dass sie ängstlich wur-
den, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte
ihnen Mut. Es war dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit eine
Herrschaft des ersten Mannes.“90

Perikles war für Thukydides freilich eine Ausnahmeerscheinung; die-


jenigen, die nach ihm die Führung der athenischen Politik bestimmten,
waren seiner Ansicht nach lediglich auf ihre privaten Interessen be-
dacht, weshalb sie die Politik den Launen des Volkes ausgeliefert hät-
ten statt es zielstrebig zu führen. Darum habe Athen sich auf riskante
Unternehmungen wie die Sizilische Expedition eingelassen, in ent-
scheidenden Momenten falsche Entscheidungen getroffen und sich
schließlich in inneren Streitigkeiten aufgerieben. Alkibiades hätte das
Steuer vielleicht noch einmal herumreißen können, aber der hatte sich
durch seinen extravaganten Lebensstil selbst um die Möglichkeit ge-
bracht, die Athener dauerhaft hinter sich zu scharen.91 Man sieht: Thu-
kydides hielt zwar den Peloponnesischen Krieg für unvermeidlich,
keineswegs aber die athenische Niederlage; sie resultierte für ihn aus
einer ganzen Kette vermeidbarer Fehler.92

Périclès (Thuc., II.65), Revue des Études Grecques 78 (1965), 557-575; Leppin, Thu-
kydides (wie Anm. 10), 148; 151-154; 161.
90 Thuk. 2,65,5 + 8-10: ՑIJȡȟ ijı ȗոȢ ȥȢցȟȡȟ ʍȢȡփIJijș ij‫׆‬ȣ ʍցȝıȧȣ Ԛȟ ij‫ ׇ‬ıԼȢսȟׄ, ȞıijȢտȧȣ
ԚȠșȗı‫ה‬ijȡ Ȝįվ ԐIJĴįȝ‫׭‬ȣ İțıĴփȝįȠıȟ į՘ijսȟ, Ȝįվ Ԛȗջȟıijȡ Ԛʍ’ ԚȜıտȟȡȤ ȞıȗտIJijș, Ԛʍıțİս ijı Ս
ʍցȝıȞȡȣ ȜįijջIJijș, Ս İպ Ĵįտȟıijįț Ȝįվ Ԛȟ ijȡփij‫ ׫‬ʍȢȡȗȟȡւȣ ijռȟ İփȟįȞțȟ ... įՀijțȡȟ İ’ Բȟ Ցijț
ԚȜı‫ה‬ȟȡȣ Ȟպȟ İȤȟįijրȣ ժȟ ij‫ ׮‬ijı ԐȠțօȞįijț Ȝįվ ij‫ ׇ‬ȗȟօȞׄ ȥȢșȞչijȧȟ ijı İțįĴįȟ‫׭‬ȣ
ԐİȧȢցijįijȡȣ ȗıȟցȞıȟȡȣ Ȝįijı‫ה‬ȥı ijր ʍȝ‫׆‬Țȡȣ ԚȝıȤȚջȢȧȣ, Ȝįվ ȡ՘Ȝ ԰ȗıijȡ Ȟֻȝȝȡȟ ՙʍ’ į՘ijȡ‫ף‬
Ԯ į՘ijրȣ Բȗı, İțո ijր Ȟռ ȜijօȞıȟȡȣ ԚȠ ȡ՘ ʍȢȡIJșȜցȟijȧȟ ijռȟ İփȟįȞțȟ ʍȢրȣ ԭİȡȟսȟ ijț
ȝջȗıțȟ, Ԑȝȝ’ Ԥȥȧȟ Ԛʍ’ ԐȠțօIJıț Ȝįվ ʍȢրȣ ՌȢȗսȟ ijț Ԑȟijıțʍı‫ה‬ȟ. Սʍցijı ȗȡ‫ף‬ȟ įՀIJȚȡțijց ijț
į՘ijȡւȣ ʍįȢո ȜįțȢրȟ ՝ȖȢıț ȚįȢIJȡ‫ף‬ȟijįȣ, ȝջȗȧȟ ȜįijջʍȝșIJIJıȟ Ԛʍվ ijր ĴȡȖı‫ה‬IJȚįț, Ȝįվ
İıİțցijįȣ į՞ Ԑȝցȗȧȣ ԐȟijțȜįȚտIJijș ʍչȝțȟ Ԛʍվ ijր ȚįȢIJı‫ה‬ȟ. Ԛȗտȗȟıijց ijı ȝցȗ‫ ׫‬Ȟպȟ
İșȞȡȜȢįijտį, ԤȢȗ‫ ׫‬İպ ՙʍր ijȡ‫ ף‬ʍȢօijȡȤ ԐȟİȢրȣ ԐȢȥս.
91 Thuk. 6,15,3; vgl. dazu Bleckmann, Alkibiades (wie Anm. 86), 561-583.
92 Thuk. 2,65,11-12; 6,15,3; 7,28,3. Vgl. dazu Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage
(wie Anm. 49), 315-333.
82 Hans-Ulrich Wiemer

VI. Schluss

Am Beispiel des Thukydides hat sich gezeigt, inwiefern Geschichts-


schreiber sich im klassischen Griechenland einer relativen Autonomie
erfreuten, die ihnen einen intellektuellen Freiraum eröffnete, sie
zugleich aber auch von ihren Zeitgenossen isolierte. Herodot und Thu-
kydides waren in ihrer Zeit Außenseiter, und ihre Werke haben zu-
nächst nur ein kleines Publikum erreicht, das sich von den Bindungen
an die jeweilige Heimatpolis zu lösen vermochte. Den Status ge-
meingriechischer Klassiker erlangten sie erst, als das auf Hegemonie
gerichtete Streben der griechischen Stadtstaaten durch die römische
Herrschaft in Griechenland stillgelegt wurde und die zur Fried-
fertigkeit verurteilten Eliten begannen, sich mehr und mehr als Reprä-
sentanten einer gesamtgriechischen Tradition zu definieren; zu dieser
Zeit waren Herodot und Thukydides lange tot. 93
Die politische Theorie des Thukydides verallgemeinert Erfahrun-
gen, die er in einem Zeitalter gnadenloser Hegemonialkriege zwischen
griechischen Stadt- und Bürgerstaaten machte, und erhebt sie in den
Rang anthropologischer Konstanten. Sein Denkhorizont ist durch die
instabile Welt der griechischen Stadt- und Bürgerstaaten begrenzt, die
durch äußere und innere Feinde stets in ihrer Existenz bedroht waren.
Wer ihre Politik verstehen wollte, kam ohne Massenpsychologie nicht
aus, denn über Krieg und Frieden und noch vieles andere wurde von
vieltausendköpfigen Versammlungen entschieden. Da Thukydides sich
eine andere Form zwischenstaatlicher Integration als die hegemoniale
Symmachie nicht vorstellen konnte, gab es für ihn nur die Alternative

93 Auch wenn die Nachwirkung Herodots früher häufig unterschätzt wurde, war seine
Reputation als Historiker niemals so unumstritten wie die des Thukydides; vgl. etwa
Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 504-514; Karl-August Riemann, Das herodoteische
Geschichtswerk in der Antike, Diss. München 1967; James A. S. Evans, Father of Hi-
story or Father of Lies: the Reputation of Herodotus, Classical Journal 64 (1968), 11-
17, auch in: ders., The Beginnings of History: Herodotus and the Persian Wars,
Campbellville/Ont. 2006, 291-303; Oswyn Murray, Herodotus and Hellenistic Cultu-
re, Classical Quarterly n. s. 22 (1972), 200-213. Zur Thukydides-Rezeption in der grie-
chisch-römischen Literatur vgl. Heinrich Gottlieb Strebel, Wertung und Wirkung des
thukydideischen Geschichtswerkes in der griechisch-römischen Literatur (Eine lite-
rargeschichtliche Studie nebst einem Exkurs über Appian als Nachahmer des Thu-
kydides), Diss. München 1935; Luschnat, Thukydides (wie Anm. 43), 1266-1311 mit
den Nachträgen in RE Suppl. XIV, 1974, 773-780; Simon Hornblower, The Fourth
Century and Hellenistic Reception of Thucydides, Journal of Hellenic Studies 115
(1995), 47-68; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage (wie Anm. 49), 200-266
(über den Autor der „Hellenica Oxyrhynchia“ als Fortsetzer und Rivalen des Thu-
kydides); Luciano Canfora, Thucydides in Rome and Late Antiquity, in: Brill’s Com-
panion to Thucydides (wie Anm. 43), 721-753.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 83

Freiheit oder Sklaverei. Dementsprechend war das einzige Kriterium,


an dem er politische Führer zu messen vermochte, die Fähigkeit und
Bereitschaft, die Macht der Heimatstadt zu erhalten und nach Möglich-
keit zu vermehren.
Dass uns von der historiographischen Konzeption des Thukydides
ein weiter Abstand trennt, liegt auf der Hand. Das Verfahren, ge-
schichtlichen Personen Worte in den Mund zu legen, die sie so niemals
gesagt hatten, das bei Thukydides dazu diente, Bedingungen und
Triebkräfte des historischen Geschehens zu verdeutlichen, degenerierte
im griechisch-römischen Altertum zur Demonstration rhetorischer
Versiertheit und ist in der Moderne völlig außer Übung gekommen;
seine Rehabilitierung wird, soweit ich sehe, nicht einmal von radikalen
Konstruktivisten gefordert. Auch das Verschweigen der eigenen In-
formationsquellen stimmt nicht zu den heute üblichen Grundsätzen
guter wissenschaftlicher Praxis, da Thukydides nicht bloß Bekanntes
gefällig und einprägsam vermitteln will, sondern den Anspruch erhebt,
die Ergebnisse eigener Forschung darzulegen. Er war so überzeugt von
seiner Rekonstruktion des Peloponnesischen Krieges, dass er glaubte,
seinen Rezipienten Hinweise auf Gewährsmänner und alternative Tra-
ditionen, die wir bei Herodot häufig finden, ersparen zu können. Die
erkenntnistheoretische Privilegierung der Zeitgeschichte ist nur ver-
ständlich, wenn man berücksichtigt, dass man zur Zeit des Thukydides
gerade erst anfing, Texte zu produzieren, die einer Rekonstruktion von
verwickelten Ereignisfolgen als Grundlage hätten dienen können. Wer
menschliche Gedächtnisleistungen so skeptisch beurteilte wie Thuky-
dides, konnte unter diesen Bedingungen kaum auf sichere Erkenntnis
entfernterer Vergangenheiten hoffen. Seine experimentelle Rekon-
struktion der griechischen Frühgeschichte beweist jedenfalls, dass er
diesem Forschungsbereich nicht aus Mangel an methodischer Phanta-
sie eine Absage erteilt hat.
Thukydides hat sein Werk in bewusstem Gegensatz zu Herodot als
Geschichte eines Krieges konzipiert, dessen zerstörerische Gewalt grö-
ßer war als die aller früheren, die die Griechen erlebt hatten. Er hat ihm
die Form einer chronologisch fortschreitenden, menschliche Hand-
lungen aus Verhaltensdispositionen und psychologischen Motiven
ableitenden Erzählung gegeben, auf die für die Darstellung politischer
Geschichte bis heute nicht verzichtet werden kann.94 Dabei hat er vor-
gemacht, dass diese Form weder zu einer Unterschätzung struktureller
Determinanten noch zu einer Vernachlässigung massen- und indi-

94 Hermann Strasburger, Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydi-


des, Saeculum 5 (1954), 395-428; auch in: Herter, Thukydides (wie Anm. 46), 412-476.
84 Hans-Ulrich Wiemer

vidualpsychologischer Faktoren führen muss; sein Bemühen um die


Erfassung komplexer Zusammenhänge kann vielmehr auch heute noch
als vorbildlich gelten. Schließlich scheint es nicht unangebracht, darauf
hinzuweisen, dass auch das von Regeln geleitete Streben nach der Er-
mittlung geschichtlicher Tatsachen ein Vermächtnis des Thukydides
ist, auch wenn uns der optimistische Glaube, durch sorgfältige Prüfung
aller erreichbaren Informationen die ganze Wahrheit ermitteln zu kön-
nen, längst abhanden gekommen ist. Im Zeitalter postmoderner Belie-
bigkeit kann Thukydides uns daran erinnern, dass Geschichte zu
schreiben etwas anderes ist als Geschichten über Vergangenes zu er-
zählen.

VII. Bibliographischer Anhang

Da sich dieser Beitrag an ein fachübergreifendes Publikum richtet,


scheint es angebracht, einige bibliographische Hinweise beizufügen.
Als Textgrundlage dient bis heute zumeist die zweibändige Oxford-
Ausgabe von H. Stuart Jones, die erstmals 1900 erschien und seit 1942
mit einem erweiterten apparatus criticus gedruckt wird. Die Teubner-
Ausgabe von Otto Luschnat ist über Band 1, der die Bücher I und II
umfasst, nicht hinausgekommen (Leipzig 1954, 21960). Heute maß-
geblich, wenngleich selten benutzt, ist jedoch die dreibändige Ausgabe
von Giovan Battista Alberti: Thucydidis Historiae, Rom 1972–2000.
Thukydides galt vor allem wegen der Reden bereits in der Antike
als ein dunkler Autor. Für das sprachliche Verständnis des Textes ist
daher der alte Schulkommentar von Joachim Classen und Julius Steup
(Thukydides erklärt, 8 Bde, Berlin 1889–3-51922) nach wie vor unent-
behrlich. Hinzu kommt das noch ältere „Lexicon Thucydideum“ von
Elie-Amie Bétant (2 Bde., Genf 1843/1847, ND Darmstadt 1969). Es gibt
mittlerweile zwei umfassende historische Kommentare zu Thukydides:
Der von Arnold W. Gomme begonnene, vor allem auf Sacherklärung
ausgerichtete wurde nach dessen Tode von Anthony Andrewes und
Kenneth J. Dover fortgeführt und abgeschlossen (A Historical Com-
mentary on Thucydides, 5 Bde., Oxford 1945–1980). Seit 1991 erscheint
ein neuer Gesamtkommentar von Simon Hornblower, von dem bislang
zwei Bände vorliegen; er reicht bis Buch 5, 24 und berücksichtigt auch
historiographische Aspekte (A Commentary on Thucydides, 2 Bde.,
Oxford 1991–1996). Für Buch 2 ist jetzt auch Ugo Fantasia, Tucidide. La
guerra del Peloponneso. Libro II, testo, traduzione e commento con
saggio introduttivo (Studi e testi di storia antica 14), Pisa 2003 heranzu-
ziehen. Die antiken Thukydides-Viten hat Luigi Piccirilli, Storia dello
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 85

storico Tucidide. Edizione critica, traduzione e commento delle Vite


Tucididee, Genua 1995 herausgegeben, übersetzt und kommentiert.
Unter den deutschen Übersetzungen genießt diejenige von Georg-
Peter Landmann (Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Zürich
1960, 19762) wohl noch immer die größte Verbreitung; sie ist dem Stil-
ideal des George-Kreises verpflichtet. Leichter zugänglich, aber auch
weiter vom Original entfernt ist die Übersetzung von August Hornef-
fer, die von Gisela Strasburger überarbeitet und von Hermann Stras-
burger mit einer ausführlichen Einleitung versehen worden ist (Der
Peloponnesische Krieg, Bremen 1957). Die bei Reclam erschienene Teil-
Übersetzung von Helmuth Vretska (Stuttgart 1966) ist inzwischen
durch Werner Rinner vervollständigt worden (Stuttgart 2000); sie ist
zuverlässig und liest sich gut. Die Übersetzung der Reden bei Otto
Regenbogen, Thuykdides, Politische Reden, Leipzig 1949 wirkt heute
stellenweise recht altertümlich.
Zur Einführung ist neben dem konzisen und eleganten Leitfaden
von Kenneth J. Dover, Thucydides (Greece & Rome. New Surveys in
the Classics 7), Oxford 1973 auch das profunde Kapitel bei Otto Lendle,
Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von Hekataios bis
Zosimos, Darmstadt 1992, 73-109 geeignet. Viel ausführlicher ist die
Darstellung bei Kurt von Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung,
Band 1, Berlin-West 1967, 523-823. Über moderne historiographische
Fragestellungen orientiert jetzt am besten das Thukydides gewidmete
Kapitel bei John Marincola, Greek Historians (Greece & Rome. New
Surveys in the Classics 31), Oxford 2001, 61-104. Eine gut lesbare Ge-
samtdarstellung wird Simon Hornblower, Thucydides, London 1987
verdankt. Die Lektüre des außerordentlich materialreichen RE-Artikels
von Otto Luschnat, Thukydides der Historiker, RE Suppl. XII, 1970,
1085-1354 (mit Nachträgen in RE Suppl. XIV, 1974, 760-786), der auch
separat erschienen ist (Stuttgart 1971, München 21978), setzt viel Ge-
duld und gute Griechischkenntnisse voraus.
Als Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes kann der
von Antonios Rengakos und Antonis Tsakmakis herausgegebene
„Brill’s Companion to Thucydides“ (Leiden – Boston 2006) empfohlen
werden, der über viele Aspekte des Werkes sehr gut informiert und
eine umfangreiche Bibliographie enthält. Aufsätze aus den Jahren
1930–1965 versammelt der von Hans Herter herausgegebene Band
„Thukydides“ in der Reihe „Wege der Forschung“ (Bd. 98, Darmstadt
1968). Es fehlt jedoch ein Forschungsbericht zu Thukydides, der über
Mortimer Chambers, Studies on Thucydides 1957–1962, Classical
World 57 (1963), 6-14 hinausführen würde.
86 Hans-Ulrich Wiemer

Aus der Literatur des 19. Jahrhunderts bleiben die Studien von
Wilhelm Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer
Einleitung zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen
1842 und Eduard Meyer, Thukydides, in: ders., Forschungen zur Alten
Geschichte, Bd. 2: Zur Geschichte des 5. Jahrhunderts, Halle 1899, 269-
436 lesenswert; eine Bilanz des Forschungsstandes, wie er sich um 1900
darstellte, zog aus althistorischer Sicht Georg Busolt, Griechische Ge-
schichte bis zur Schlacht von Chaironeia, Bd. 3, 2: Der Peloponnesische
Krieg, Gotha 1904, 616-693. Die philologische Forschung zu Thukydi-
des stand in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts im Banne der von Franz Wolfgang Ullrich, Beiträge zur Erklä-
rung des Thukydides, Hamburg 1846, ND Darmstadt 1968 aufgewor-
fenen Frage, ob das uns überlieferte Werk aus einem Guss ist oder
vielmehr Spuren einer sukzessiven Entstehung an sich trägt; diese Fra-
ge galt lange Zeit als die thukydideische schlechthin. Das bedeutendste
Werk dieser Forschungsrichtung ist Eduard Schwartz, Das Ge-
schichtswerk des Thukydides, Berlin 1919, 19292, ND Hildesheim 1960
der aus einer komplizierten Schichtenanalyse den Schluss zog, Thuky-
dides habe sich unter dem Eindruck des verlorenen Krieges aus einem
kritisch distanzierten Historiker zum Apologeten des Perikles gewan-
delt. Die Frage nach der Entstehung des thukydideischen Geschichts-
werks kam erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der
Mode und wird heute meist ausdrücklich oder stillschweigend dahin-
gehend beantwortet, dass das Werk, so wie es überliefert ist, eine kon-
zeptionelle Einheit bilde. Indessen findet die analytische Position nach
wie vor Anhänger, zuletzt bei Wolfgang Will, Thukydides und Peri-
kles: Der Historiker und sein Held, Bonn 2003.
Als Analyse des politischen Denkens des Thukydides genießt die
Monographie von Jacqueline de Romilly, Thucydide et l’imperialisme
athénien – La pensée de l’historien et la genèse de l’oeuvre, Paris 1947,
19512 zu Recht klassischen Rang; sie ist auch ins Englische übersetzt
worden (Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford 1963). Sie hat
in der Studie von Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der
Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.
Chr. (Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 1), Berlin 1999 ein würdiges
Pendant gefunden. Die Untersuchung von Jonathan J. Price, Thucydi-
des and Internal War, Cambridge 2001 leidet dagegen unter der ver-
fehlten Grundthese, Thukydides habe den Peloponnesischen Krieg als
eine stasis unter Griechen aufgefasst und beschrieben.
In bewusster Wendung gegen Schwartz hat dagegen Hans-Peter
Stahl, Thukydides: Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Pro-
zess (Zetemata. Monographien zur Klassischen Altertumswissenschaft
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 87

40), München 1966 den Geschichtsschreiber als apolitischen Analytiker


der conditio humana gedeutet, dessen zentrales Thema die unaufhebbare
Kluft zwischen Absicht und Wirkung, Plan und Erfolg menschlichen
Handelns gewesen sei; sein Buch ist 2003 in einer überarbeiteten engli-
schen Fassung erschienen: Thucydides: Man’s Place in History, Swan-
sea 2003. Gegen diese „tragische“ Thukydides-Interpretation hat Hart-
mut Erbse, Die politische Lehre des Thukydides (1969), in: ders.,
Ausgewählte Schriften zur Klassischen Philologie, Berlin-West – New
York 1971, 221-244 mit Recht eingewandt, dass Thukydides rationale
Politik zwar für schwer realisierbar, aber nicht für eine Chimäre hält.
Gleichwohl gebührt Stahl das Verdienst, den Blick stärker auf die lite-
rarische Technik des Geschichtsschreibers Thukydides gelenkt zu ha-
ben. Vor allem im angelsächsischen Bereich hat sich sein Deutungsan-
satz als sehr einflussreich erwiesen; als Beispiele seien hier nur Virginia
Hunter, Thucydides, the Artful Reporter, Toronto 1973, und W. Robert
Connor, Thucydides, Princeton/NJ 1984 genannt. Auch die subtile nar-
ratologische Analyse von Tim Rood, Thucydides: Narrative and Expla-
nation, Oxford 1999 steht in dieser Tradition.
88 Hans-Ulrich Wiemer

Abstract

Thucydides has long ceased to play a significant role in the debates that
historians lead about the nature of their craft, he does, however, con-
tinue to exert a strong influence on political science being considered
by many to be the founder of that influential paradigm of international
relations theory known under the name of neo-realism. In this paper,
Thucydides is analyzed as a representative of a specifically Greek view
of history. In Ancient Greece, the writing of history was undertaken
neither on the order of rulers nor in the name of a religious community.
Like his predecessors, Thucydides held no social authority to record
past events and his view of the war he described is that of an observer
not bound to any of the warring parties. The consequences of this rela-
tive autonomy were twofold: while as a writer of history Thucydides
enjoyed a degree of intellectual freedom that was lacking in many an-
cient cultures, his work was prevented from becoming an integral of
the culture of memory in any particular Greek polis until finally the
Romans put an end to the permanent struggles of the Greeks against
each other. Although Thucydides developed a sophisticated theory on
how to investigate events far distant in time, he was convinced that
both the course and the causes of events can only be established with
certainty if their investigation is based on autopsy or the testimony of
eyewitnesses. His analysis of the causes of the Peloponnesian War is
based on anthropological assumptions he derived from experiencing
half a century of warfare between two hegemonial powers, Sparta and
Athens: he believed that all states rule whenever they can and that this
perennial struggle for hegemony leaves smaller states with no reason-
able alternative to yielding their freedom to stronger powers.
Die homerische Frage:
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur
Zeit mündlicher Dichtung

Rainer Thiel

Es muss zunächst überraschen, wenn in einem interdisziplinären Ge-


spräch über „Historiographie in der Antike“ die griechische Welt außer
durch ihre Geschichtsschreibung1 hier auch mit Homer zu Wort
kommt. Die Entstehungsgeschichte von Werken mit historiographi-
schem Anspruch wie etwa dem Pentateuch mit der epischer Gedichte
wie ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ zu verbinden, ist jedoch weder neu noch sach-
lich fernliegend. Schon 1884 parallelisiert Ulrich von Wilamowitz-
Moellendorff, der fraglos bedeutendste Altertumswissenschaftler des
deutschen Kaiserreiches, der zu dieser Zeit auf die Hauptströmungen
der Homeranalyse bereits zurückblicken konnte,2 ausdrücklich Homer-
analyse und Schichtenanalyse des Pentateuchs:
die analyse der homerischen gedichte ist zunächst wie die des pentateuchs
lediglich eine aufgabe philologischer kritik. Bibel und Homer müssen zu-
dem zunächst allein aus sich heraus verstanden und analysirt werden, und
selbst die art ihrer überlieferung, die textgeschichte, fordert die parallelisi-
rung heraus.

Mag also die Parallelisierung epischer und – im weitesten Sinne – his-


toriographischer Texte zunächst befremden, so hat sie bei näherem
Hinsehen ihre gute Berechtigung. Homer gilt zwar mit einem gewissen
Recht als erster Dichter der europäischen Tradition, und deshalb sind
wir gewohnt, ihn als im europäischen Kulturkreis ersten fassbaren
Schöpfer fiktionaler Literatur anzusprechen, die durch ihre intrinsische
Qualität vorbildlich, durch ihr Fortwirken in der griechischen, römi-
schen und abendländischen Literatur maßgeblich, durch ihre Bedeu-
tung für die Entwicklung der Mythologie beispielhaft sein mag, aus der
jedenfalls seit Mitte des siebenten Jahrhunderts vor Christus die bil-

1 Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer über „Thukydides und die griechische
Sicht der Vergangenheit“ in diesem Band (49-88).
2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen, Berlin 1884, III.
90 Rainer Thiel

dende Kunst ebenso wie die Literatur geschöpft hat und bis heute
schöpft – die aber kaum als ein Medium der Geschichtsdarstellung,
geschweige denn als historiographische Literatur im engeren Sinne
gelten kann.
Die uns vertraute Scheidung zwischen fiktionaler Literatur und do-
kumentarischer Geschichtsdarstellung ist in dieser Form im archai-
schen und klassischen Griechenland indessen unbekannt. Zwar ist auch
der Antike der fiktionale Charakter von Literatur nicht entgangen.
Aber er wird gerade nicht als konstanter Zug dichterischer Produktion,
geschweige denn als Vorzug der dichterischen Einbildungskraft ge-
rühmt, sondern im Gegenteil als ein Mangel gescholten, der leider eher
die Regel als die Ausnahme ist. So lässt bereits Hesiod, ungefährer
Zeitgenosse Homers und neben ihm der zweite Dichter, den man in der
Antike als panhellenischen Kultur- und damit Identitätsstifter aner-
kannte, in der Darstellung seiner berühmten Dichterweihe im Proömi-
um der ‚Theogonie‘ die Musen auf dem Helikon sagen: „Wir wissen
viel Falsches zu sagen, das wahrem ähnlich ist, wissen aber, wenn wir
wollen, auch einmal wahres zu verkünden.“3 Diese Musen betrauen
ihn, Hesiod (man soll verstehen: im Unterschied zu vielen anderen
Dichtern), mit der Verkündung der Wahrheit, wodurch der Dichter für
sich gerade in Abgrenzung von seinen Kollegen einen Wahrheitsan-
spruch, ja einen exklusiven oder jedenfalls ausgrenzenden Wahrheits-
anspruch erhebt. Nach Aristoteles ist die Tatsache, dass „Dichter viele
Lügen erzählen“ geradezu sprichwörtlich,4 was nur bestätigt, dass man
mit einem Anspruch des Dichters rechnete, faktische Wahrheit zu bie-
ten, den man eingelöst wissen wollte, aber nur zu oft nicht eingelöst
fand. Auch die Rezeption der Dichter reflektiert den Anspruch, in der
poetischen Darstellung der Realität faktische Wahrheit zu finden, oder
setzt ihn voraus. Hier kann man etwa auf Thukydides5 verweisen, der
den in der epischen Tradition angegebenen Grund für das vereinte
Vorgehen der Achaier im Trojazug, nämlich den Eid, den Helenas
menschlicher Vater Tyndareos ihren Freiern abgenommen hatte,6 mit
derselben kritischen Selbstverständlichkeit ernstnimmt, diskutiert und
– in diesem Falle – verwirft und durch einen anderen Grund, die Stärke

3 Hes. Theog. 27 f. ՀİȞıȟ Ȧıփİıį ʍȡȝȝո ȝջȗıțȟ ԚijփȞȡțIJțȟ ՍȞȡ‫ה‬į, ՀİȞıȟ İ’, ı՞ij’ ԚȚջȝȧȞıȟ,
ԐȝșȚջį ȗșȢփIJįIJȚįț. Der aoristische Aspekt von ȗșȢփIJįIJȚįț gegenüber dem präsenti-
schen von ȝջȗıțȟ charakterisiert die Wahrheit in der dichterischen Darstellung ge-
genüber der Lüge zur seltenen, von Hesiod mit Stolz für sich in Anspruch genom-
menen Ausnahme.
4 Arist. Metaph. 983a3 f. Ȝįijո ijռȟ ʍįȢȡțȞտįȟ ʍȡȝȝո Ȧıփİȡȟijįț Ԑȡțİȡտ.
5 Thuk. 1,9,1.
6 Hes. Cat, Fragment 204 Merkelbach/West.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 91

von Agamemnons militärischer Macht, ersetzt wie Darstellungen ihm


vorausliegender Historiographen. Obwohl also der Geschichtsschreiber
Thukydides die epische Geschichtsdeutung kritisiert und ablehnt und
eine eigene, abweichende Geschichtsdeutung an deren Stelle setzt, ja
gerade indem er sich kritisch mit dieser Deutung des Trojanischen
Krieges und seiner Rahmenbedingungen auseinandersetzen zu müssen
meint, bezeugt er den vom Dichter erhobenen und ihm von seinen
Hörern und Lesern zu Thukydides’ Zeiten weithin abgenommenen
Anspruch, authentische Geschichtsdarstellung und Geschichtsdeutung
zu bieten.
Weiteres Indiz für diesen Umstand ist die politische Bedeutung, die
in der Kolonisationszeit seit dem 9. Jahrhundert und danach das, was
wir „Mythos“ nennen, gewann. Nachdem ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ als die
vermutlich ersten schriftlich fixierten Großepen, aber ganz ohne Zwei-
fel durch mündlichen Vortrag, Mitte des siebenten Jahrhunderts pan-
hellenische Verbreitung erlangt hatten und überregionale Wirksamkeit
entfalteten, schlossen sich an die großen Gestalten des Trojanischen
Krieges und ihre in der zeitgenössischen Katalogdichtung repräsentier-
ten Nachkommen die führenden Familien der neu entstandenen oder
im Bewusstsein ihrer Bewohner jedenfalls noch rezenten Kolonien ge-
nealogisch an, um ihre königliche Herrschaft oder ihren politischen
Führungsanspruch zu legitimieren. Es genügt hier, auf die Penthiliden,
das alte Königsgeschlecht der der Troas vorgelagerten Insel Lesbos zu
verweisen, die sich offenbar über Penthilos und dessen Vater Orest auf
Agamemnon zurückführten.7
Dass fiktionale Dichtung, oder Dichtung, die wir heute als fiktional
einzuschätzen geneigt wären, zur Legitimation von Herrschaft heran-
gezogen werden kann, liegt daran, dass sie sich als im Kern eben kei-
neswegs fiktional, sondern historisch versteht und von ihren Hörern als
historisch verstanden wird. „Was der Sänger“, also der epische Dichter,
„von seinen Helden berichtet, gilt als wirkliche Vergangenheit, deren
Wahrheitsanspruch“, wie im Falle Hesiods, „alte Tradition oder göttli-
che Inspiration verbürgt.“8 Dabei ist der Wahrheitsanspruch des epi-
schen Dichters nicht auf historische Gegenstände beschränkt: Professi-
onelle Homer-Interpreten (Homer war seit der Mitte des 6. Jahr-
hunderts der epische Dichter schlechthin), Interpreten wie der in
Platons gleichnamigem Dialog eingeführte Ion, behaupteten für Homer

7 Die Penthiliden im lesbischen Mytilene (und einen Penthilos) nennt Aristoteles, Pol.
1311b27-29; auch Diogenes Laërtios (1,81) erwähnt in seiner Pittakos-Vita einen
Penthilos.
8 A. Lesky, Mündlichkeit u. Schriftlichkeit im homerischen Epos (1954): in: J. Latacz
(Hg.), Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979, 301.
92 Rainer Thiel

nicht zuletzt auch zur Stärkung der eigenen Bedeutung einen umfas-
senden intellektuellen Führungsanspruch, eine vollkommene Beherr-
schung aller Wissensgebiete überhaupt. Wenn Anfang der 60 er Jahre
Havelock9 sämtliche Dialoge Platons einzig als einen Kampf gegen den
intellektuellen Führungsanspruch der epischen Dichtung, also Homers,
zu lesen versuchte, so war dies fraglos überzogen und, aus dem Blick-
winkel der Platon-Forschung, eine gefährliche Verkürzung. Richtig
daran ist, dass die epische Dichtung nach dem Anspruch ihrer Vertre-
ter und nach der Rezeptionshaltung des Publikums Träger einer Wis-
senstradition war, besonders in Bezug auf historische Gegenstände,
aber nicht auf diese beschränkt.
Aus heutiger Sicht dürfte der Grund für diesen Anspruch des Dich-
ters und die ihm komplementäre Rezeptionshaltung der Hörer in der
Rolle zu suchen sein, die der epischen Dichtung mit dem Erlöschen der
mykenischen Palastkultur des ausgehenden 2. Jahrtausends v.Chr.
zuwuchs. Während es in Griechenland wohl niemals eine schriftliche
literarische Kultur gegeben hatte, dürfte die Administration der Paläste
und der ihnen zugehörigen Territorien einschließlich der damit zu-
sammenhängenden Legitimationsformen schriftlichen Charakter ge-
habt haben. Nach dem Vorbild der orientalischen Großreiche bedienten
sich die wohl bereits griechischen, jedenfalls eine griechische Verwal-
tungssprache verwendenden Paläste für die Verwaltung einer „Line-
ar B“ genannten Schrift, die auf Tontäfelchen fixiert wurde und sich an
einer Reihe von Plätzen (Pylos, Tiryns; Knossos) auf durch Brandka-
tastrophen konserviertem Material erhalten hat.10 Diese Täfelchen ha-
ben rein administrativen Charakter, und nichts spricht dafür, dass ein-
mal Literatur in der nur notdürftig an das Griechische angepassten,
1956 entzifferten Schrift niedergelegt wurde. Mit dem Untergang der
mykenischen Palastkultur kurz nach 1100 v. Chr., deren Ursachen un-
geklärt sind und sich wohl auch nicht mehr klären lassen, erlischt,
wenn der Anschein nicht trügt, im griechischen Mutterland jede
Schriftlichkeit.11 Einzig auf Zypern wird es eine kontinuierliche Tradi-
tion gegeben haben, die von Linear B zu der in den Zeichen ähnlichen,
aber sehr viel besser an die griechische Sprache angepassten kypri-
schen Silbenschrift geführt hat. Aus heutiger Sicht fällt jedenfalls nach

9 Eric A. Havelock, Preface to Plato, Oxford 1963.


10 Darüber informiert umfassend auf neuestem Stand Antonin Bartonek, Handbuch
des mykenischen Griechisch, Heidelberg 2003.
11 Gelegentlich wird mit einer sehr beschränkten Tradierung der Linear-B-Schrift in
den dunklen Jahrhunderten gerechnet, freilich ohne dass es dafür irgendeinen Beleg
gäbe. Gegen diese Sicht spricht vor allem der Umstand, dass man wie im Osten, so
auch in den Palästen mit hochspezialisierten Schreibern zu rechnen hat, für die es
nach dem Ende der Palastkultur keinen Bedarf mehr gegeben haben dürfte.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 93

den metrischen, sprachwissenschaftlichen und kulturhistorischen Indi-


zien, die sich aus den Gedichten gewinnen lassen, die Entstehung der
traditionellen Epik, deren herausragende Spätformen uns mit den ho-
merischen Gedichten (‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘) vorliegen dürften, noch ins
zweite Jahrtausend v. Chr.
Angesichts des rudimentären Charakters administrativer Schrift-
lichkeit in Linear B dürfte der epische Dichter bereits zur Zeit der Pa-
lastkultur einer der wesentlichen Träger kultureller Identität gewesen
sein. Spätestens mit dem Untergang der Palastkultur wurde diese Form
der Dichtung dann zum alleinigen Garanten der Fortsetzung des histo-
rischen Gedächtnisses, das jetzt ohne jede Schriftlichkeit auskommen
musste. Zwischen dem Untergang der Palastkulturen in Griechenland
und der Einführung der Alphabetschrift ist die Perpetuierung histori-
scher Erinnerung, aber auch die Tradierung von Wissen, soweit es
nicht handwerklichen Fachkulturen angehört, allein Sache des epischen
Dichters.
Angesichts der hier thesenhaft gezeichneten Welt, in der sich zwi-
schen dem Untergang der Paläste und der Einführung der Alphabet-
schrift im späten 9. Jahrhundert der epische Dichter bewegte, ist unter
Dichtung hier mündlich (oral) komponierte, mündlich tradierte und
mündlich (aural) rezipierte Literatur zu verstehen. Diese drei Aspekte
zu unterscheiden, ist insbesondere zur Abgrenzung gegenüber ande-
ren, gleichzeitigen und späteren Formen der Dichtung wichtig. Aurale
Rezeption, also Rezeption durch das Hören, bleibt bis ins 5. Jahr-
hundert und darüber hinaus der Regelfall der Rezeption von Literatur.
Dies gilt außer für das Epos auch für die gesamte frühgriechische Dich-
tung einschließlich der Tragödie, aber auch für die wichtigsten Gattun-
gen der Prosa einschließlich etwa der Historiographie Herodots. Orale
Komposition, also Komposition der dichterischen Werke beim Vortrag
des Sängers, dürfte unter den uns erhaltenen Werken griechischer Lite-
ratur nur in der epischen Tradition, in der ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ stehen,
vorauszusetzen sein. Die komplexe Diskussion, die in den vergangenen
Jahrzehnten über die Entstehung und Tradierung dieser beiden
Hauptwerke der epischen Tradition Griechenlands geführt wurde,
kann und muss hier nicht nachgezeichnet werden. Hier genügt es, fest-
zuhalten, dass niemand mehr leugnet, dass Homer in einer jahrhunder-
telangen Tradition oraler Komposition epischer Dichtungen steht, de-
ren Technik, besonders Versifikationstechnik, und Stoff traditionell
waren, das heißt unter den Dichter-Sängern von einer Generation zur
nächsten, vom Lehrer an den Schüler weitergereicht wurden. Dass die
beiden erhaltenen, in dieser Tradition mündlicher Komposition, Tradi-
tion und Rezeption stehenden Großepen ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ bereits
94 Rainer Thiel

unter Verwendung der Schrift entstanden sind, gilt heute der überwie-
genden Mehrheit der deutschsprachigen und vielen anglophonen Ho-
merforschern als sicher oder zumindest wahrscheinlich. Die komplexe
Frage des näheren Wie ihrer Entstehung kann hier beiseite bleiben.
Für unsere Zwecke genügt es, festzuhalten, dass die beiden erhal-
tenen Großepen zwar deutliche Spuren einer Entstehung unter Zuhil-
fenahme der Schrift aufweisen – diese verraten sich insbesondere in
ausgearbeiteten Fernbeziehungen über viele Bücher hinweg, die man
so in rein mündlichen Sängertraditionen (etwa der südslawischen), die
man zum Vergleich herangezogen hat, nicht finden kann, – in vieler
Hinsicht lassen sie jedoch ihre Herkunft aus einer oral-auralen Traditi-
on erkennen. Der Dichter-Sänger, der in dieser Tradition steht und ihre
Technik beherrscht, komponiert den Text eines Gedichts, dessen kom-
positorische Struktur und Handlungsablauf natürlich bereits erdacht
und überlegt ist, während des Vortrags. Aufgrund der Erwartungen
der Hörer steht er unter dem Druck, ohne längere Pausen kontinuier-
lich fortzuschreiten. Die Gesetze vergleichbarer moderner epischer
Sängertraditionen auf dem Balkan, namentlich der jugoslawischen, die
zu Zeiten des Habsburger Kaiserreichs ebenso wie des blockfreien Ju-
goslawien westlicher Feldforschung zugänglich waren, wurden schon
vor dem ersten Weltkrieg von M. Murko und danach von dem bereits
im Alter von 33 Jahren sehr früh verstorbenen Milman Parry und seiner
Schule, insbesondere seinem Schüler A. B. Lord untersucht.12 Diese
Schule hat bis heute, besonders im anglophonen Raum, entschiedene
Anhänger, und viele ihrer Einsichten sind unbestritten. Parry ging von
Beobachtungen aus, die in der Homerforschung vor ihm längst bekannt
gewesen waren, kam jedoch zu Ergebnissen, die im damaligen Kontext
des Streits zwischen Unitarismus und Analyse, auf den gleich näher
einzugehen ist, in der kontinentaleuropäischen Homerforschung kaum
auf fruchtbaren Boden stoßen konnten. Ergebnis war eine jahrzehnte-
lange Teilung der Homerforschung in einen eher progressiven, von der
Oral-Poetry-Forschung bestimmten angloamerikanischen Teil und
einen stärker traditionellen kontinentaleuropäischen Teil. Beide Ansät-
ze hatten durchaus ihre Berechtigung, litten jedoch daran, sich in ihrer
Teilung nicht wechselseitig befruchten zu können. Diese Teilung wur-
de erst seit den 50 er Jahren durch Albin Lesky (Wien) und dann be-

12 Mathias Murko, Neues über südslavische Volksepik (1919): in Latacz, Homer (wie
Anm. 8), 118-152. Milman Parry, L’Épithète traditionelle dans Homère. Essai sur un
problème de style Homérique, Thèse Paris 1928; jetzt am leichtesten in englischer
Übersetzung zugänglich: Adam Parry (Hrsg.), The Making of Homeric Verse. The
Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971, 1-190. Albert B. Lord, The Singer of
Tales (1960), Cambridge/Mass. 22001; ders., The Singer resumes the Tale, Ithaca 1995.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 95

sonders seit den 70 er Jahren durch Joachim Latacz (zuletzt Basel) lang-
sam überwunden.
Kern der Leistung der von Milman Parry begründeten Forschungs-
richtung ist die Erkenntnis, dass der epische Dichter in Griechenland,
insoweit ähnlich wie mündlich komponierende Dichter anderer, auch
moderner Traditionen,13 unter den Bedingungen einer extemporieren-
den, unter dem Erwartungsdruck des Publikums stehenden Komposi-
tion sich bei der je neuen oralen Abfassung des Textes einer dichteri-
schen Ökonomie bedient, die nicht wie die schriftlich komponierende
Dichtung, die uns aus der hellenistisch-römisch-abendländischen Tra-
dition bekannt ist, bei der Schaffung eines Werkes die je beste erreich-
bare Formulierung für den jeweiligen Zweck sucht – dazu bleibt unter
den Kompositionsbedingungen oral-auraler Dichtung schlichtweg kei-
ne Zeit –, sondern vielmehr dazu neigt, für vergleichbare Gegenstände
gleiche oder ähnliche Formulierungen immer wieder zu verwenden.
Beobachtet man also solche gleichen oder ähnlichen Formulierungen in
‚Ilias‘, ‚Odyssee‘, in den Homerischen Hymnen oder auch bei Hesiod,
so ist die Annahme eines Zitats oder einer literarischen Abhängigkeit,
die die Homerforschung analytischer Prägung in solchen Fällen stets
leitete, keineswegs naheliegend. Vielmehr schöpft der epische Dichter
aus einer Fülle bereits geprägter, festgefügter und traditionell vorgege-
bener Formulierungen, die teils bestimmte Versteile, teils ganze Verse
oder Versgruppen umfassen.
Parry hatte diesen Zusammenhang in seiner Thèse an der Sorbonne
erstmals 192814 mit großer philologischer Genauigkeit für die schmü-
ckenden Beiwörter zu Personen- und Götternamen untersucht, die
einen charakteristischen Aspekt des homerischen Stils darstellen und
vom epischen Dichter oft kontextfremd verwendet werden. Ein be-
rühmtes Beispiel dafür ist, dass Aigisth in den ersten Versen der ‚Odys-
see‘ just an der Stelle, wo ihm der Göttervater Zeus massive moralische
Vorwürfe macht, ԐȞփȞȧȟ ‚untadelig‘ genannt wird.15 Parry konnte
wahrscheinlich machen, dass diese Beiwörter den Teil eines Systems
darstellen, das auf die Bereitstellung jeweils einer Kombination aus
Eigenname und Epitheton für jede metrische Position und jeden Casus
angelegt ist, eine Ökonomie, von der es nur einige wenige Ausnahmen
gibt. Parrys Schüler haben, ausgehend von seinen eigenen Studien,
darüber hinaus die Formelhaftigkeit der homerischen Sprache insge-
samt zu erweisen versucht; demnach wäre jede Formulierung bei Ho-

13 Deren Kompositionstechnik hatte die vergleichende Epenforschung bis zu den


1920er Jahren bereits untersucht, woran Parry und Lord anknüpften.
14 Vgl. o. Anm. 12.
15 Hom. Od. 1, 29.
96 Rainer Thiel

mer formelhaft, nur dass dies angesichts des Verlustes des größten
Teils der Gedichte, die in dieser Tradition stehen, in vielen Fällen nicht
mehr nachweisbar sei. Dieser Ansatz schießt fraglos über das Ziel hin-
aus, zumal neuere Arbeiten wie etwa die Vissers16 gezeigt haben, dass
die wiederkehrenden Formeln nur Ergebnisse einer umfassenden Ver-
sifikationstechnik sind, die neben der Verwendung bereits geprägter
Formulierungen durchaus auch die Schaffung neuer während des im-
provisierenden Kompositionsprozesses erlaubt.
Ich versage es mir, näher auf den heutigen Stand der Homerfor-
schung einzugehen. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, drei
Folgerungen zu ziehen, die für die Beurteilung der Homerkritik des 19.
und des beginnenden 20. Jahrhunderts, der ich mich gleich zuwenden
muss, entscheidend sind.
1. Der epische Dichter verfasst ohne Verwendung der Schrift impro-
visatorisch beim Vortrag Gedichte, deren Struktur und Inhalt er
von seinen Lehrern übernommen hat und in der Zeit seiner eigenen
Tätigkeit als Dichter weiterentwickelt.
2. Der epische Dichter bedient sich dabei eines Repertoires übernom-
mener und selbstgeprägter Formulierungen („Formeln“) und „typi-
scher Szenen“, die sich für eine wiederholte, unbegrenzte Verwen-
dung eignen: festgefügter Formulierungen bis zu immer wieder-
holten Formelversen, ja sogar relativ umfangreicher Darstellungen
oft vorkommender Strukturelemente wie etwa Mahl- oder Rüs-
tungsszenen, die zwar an verschiedenen Stellen mit unterschiedli-
cher Ausführlichkeit eingebunden werden können, für die aber
grundsätzlich immer dieselben Elemente zur Verfügung stehen.17
Er verfügt daneben aber auch über eine Versifikationstechnik, die
es ihm erlaubt, in begrenztem Umfang bei jeder Aufführung auch
frei und neu zu formulieren und zu gestalten.
3. Es liegt daher in der Natur des epischen Gedichtes, dass es, solange
es nicht schriftlich fixiert ist, keine feste Textgestalt gewinnt. Im
einzelnen wechselt die Textgestalt von Aufführung zu Aufführung.
Im Laufe des Dichterlebens können sich durch die fortschreitende
und oft sich verbessernde Gestaltung durch den Dichter auch grö-
ßere Änderungen ergeben. Dies gilt trotz des Bewusstseins des
Dichters, ein übernommenes, traditionelles Lied zu singen, umso
mehr beim Übergang vom einen Dichter zum anderen.

16 Edzard Visser, Homerische Versifikationstechnik. Versuch einer Rekonstruktion,


Frankfurt a.M. / Bern / New York 1987.
17 Dazu Walter Arend, Die typischen Scenen bei Homer, Berlin 1933.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 97

Diese und weitere Eigenheiten der mündlichen epischen Dichtungstra-


dition hat zwar Milman Parry, und nach ihm seine Schüler, so präzise
und wissenschaftlich begründet beschrieben wie niemals zuvor. In
wesentlichen Punkten war seine Position jedoch keineswegs neu. Viel-
mehr erscheint im Rückblick Parrys Position als ein Rückgriff über den
Streit zwischen Analytikern und Unitariern hinaus zurück auf die Lite-
ratur des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Milman Parry,
der zwar in die Literatur des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts gut
eingearbeitet war, kannte die ältere Literatur nicht. Er hat Anregungen
für seine eigene Position nur dem entnehmen können, was in der spä-
teren Literatur, überschichtet und oftmals verdeckt vom Analytiker-
Unitarier-Streit, übrig geblieben war. Tatsächlich sind in der älteren
Literatur jedoch so viele Einsichten Parrys und seiner Schule bereits
vorweggenommen, dass es im Rückblick überraschen muss, dass es in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Analytiker-Unitarier-
Streit in seiner tatsächlichen Form überhaupt kommen konnte. Zu-
gleich nehmen diese frühen Vertreter, die man als Auslöser dessen
betrachten kann, was man später als „homerische Frage“ bezeichnet
hat, auch schon wichtige Aspekte der Homeranalyse voraus.
Die wichtigsten Stationen in der Herausbildung der homerischen
Frage bis zu Friedrich August Wolf und danach bis zu Parry und zu
den 1970 er Jahren sind heute – nicht zuletzt durch die Arbeiten Joa-
chim Lataczs und Alfred Heubecks18 – leicht nachvollziehbar. Sie sollen
hier in der gebotenen Kürze vergegenwärtigt werden.
Die Abfassung des Gründungsdokuments der homerischen Frage
fällt bereits in das 17. Jahrhundert: Erst 1715 von Freunden des Verfas-
sers in den Druck gegeben, aber bereits zwischen 1644 und 1670 ver-
fasst sind die „Conjectures académiques ou dissertation sur l’Iliade“
eines gewissen François Hédelin,19 der heute in der Regel nach seinem
Titel Abbé d’Aubignac genannt wird. Der Abbé wendet sich darin ge-
gen die Homerbegeisterung seiner Zeit, indem er Homers Ethik und
Theologie als abscheulich zu desavouieren sucht. Wäre es dabei geblie-
ben, wäre die Schrift sicher schnell in Vergessenheit geraten. Der Abbé
versuchte aber – insoweit wegweisend für die spätere Analyse – Wi-
dersprüche und Inkonsistenzen in der Handlungsführung der ‚Ilias‘
nachzuweisen, bestritt, dass es einen Dichter namens Homer überhaupt
gegeben habe und vertrat die Position, die ‚Ilias‘ sei ein zusammen-
hangloses Konglomerat, das ein vergleichsweise sehr später Kompila-

18 J. Latacz, „Tradition und Neuerung in der Homerforschung“: in: Latacz, Homer (wie
Anm. 8), 25-44; Alfred Heubeck, Die homerische Frage, Darmstadt 1974.
19 François Hédelin abbé d’Aubignac, Conjectures académiques, ou Dissertation sur
l’Iliade, ouvrage posthume, trouvé dans les recherches d’un savant, Paris 1715.
98 Rainer Thiel

tor, der nicht „Dichter“ zu nennen sei, aus ursprünglich unabhängigen


Einzelstücken zusammengeschustert habe.
Ähnlich wie er stellt auch Richard Bentley (1662–1742), der bedeu-
tendste Klassische Philologe avant la lettre seiner Zeit in einer zuerst
1713 erschienenen, aber unabhängig von François Hédelin entstande-
nen Schrift Homer als Verfasser einer Reihe von Einzelgesängen dar,
die erst relativ spät, nämlich um 500, im Zuge der später so genannten
„Pisistratischen Redaktion“ zu einer Einheit zusammengefügt worden
seien.20
Ein weiterer Aspekt der frühen Diskussion um den Dichter Homer
entspringt dem Geist des 18. Jahrhunderts und ist für uns mit dem
Namen Giambattista Vicos verbunden. Er bestritt, wie schon der Abbé
d’Aubignac, aber ohne detrektatorische Absicht, die Existenz eines
einzelnen großen Dichters Homer und sah in der Dichtung „Homers“
die Dichtung nicht eines Individuums, sondern eines ganzen Volkes
und begründete ihre Größe eben damit, dass sie der Ausdruck des
Geistes des griechischen Volkes in einem bestimmten Moment seiner
Geschichte sei.21 Damit begründet er eine Sichtweise, die dem Zeitgeist
entsprach und die deshalb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
und in der ersten Hälfte des 19. insbesondere in Deutschland Allge-
meingut wurde. Über die konkreten Entstehungsbedingungen der ho-
merischen Epen äußert sich Vico nicht.
Im Anschluss an den Gedanken einer anonymen Volksdichtung,
der im 18. Jahrhundert so wirkmächtig wurde, dass Fälschungen wie

20 Hier zitiert nach Phileleutherus Lipsiensis (= Richard Bentley), Remarks upon a Late
Discourse upon Free-Thinking, Cambridge 81743, 26: „He [Homer] wrote a sequel of
Songs and Rhapsodies, to be sung by himself for small earnings and good cheer, at
Festivals and other days of Merriment; the Ilias he made for the Men, and the Od-
ysseïs for the other Sex. These loose Songs were not connected together in the form of
an Epic Poem till Pisistratus’s time above 500 years after.“ Die Sicht der Zeit von der
so genannten „Pisistratischen Redaktion“ ist von einer Stelle in Ciceros Schrift ‚Über
den Redner‘ bestimmt (de oratore 3, 137: qui [Pisistratus] primus Homeri libros confusos
antea sic disposuisse dicitur ut nunc habemus). Tatsächlich handelt es sich dabei, wie äl-
tere Quellen (besonders Plat. Hipparch. 228b4-c6; daneben Lykurg, ‚Gegen Leokrates‘
102 und Isokrates, ‚Panegyrikos‘ 159) zeigen, mit Sicherheit nicht um eine Redaktion,
sondern nur um eine Regulierung der athenischen Aufführungspraxis der Homeri-
schen Gedichte.
21 In der zweiten Ausgabe seiner „Scienza nuova“ (1744): Libro terzo, Sezione seconda,
Capitolo primo, hier zitiert nach Giambattista Vico, Opere, a cura di Andrea Battisti-
ni, 2 Bände, Milano 1990. Vgl. besonders I (§ 875) „Che per ciò i popoli greci cotanto
contesero della di lui [Homers] patria e ’l vollero quasi tutti lor cittadino, perché essi
popoli greci furono quest’Omero“ (meine Hervorhebung). Homer wird so zur Idee ei-
nes ganzen Volkes in einem langen Zeitalter, das vom Trojanischen Krieg bis zu den
Zeiten des römischen Königs Numa, also etwa 460 Jahre lang reiche: II (§ 876) „un tal
Omero veramente egli visse per le bocche e nella memoria di essi popoli greci dalla
guerra troiana fin a’ tempi di Numa, che fanno lo spazio di quattrocensessant’anni.“
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 99

„Ossians“ Dichtungen begeistert aufgenommen werden konnten, ge-


wann der Gedanke der ursprünglichen Mündlichkeit der homerischen
Gesänge in dieser Zeit immer mehr an Raum. Zuerst scheint der im-
provisatorische Charakter der homerischen Dichtungen, also die These,
dass „Homer“ seine Gesänge während des Vortrags erst verfasst und
nicht etwa einen bereits zuvor verfassten, schriftlich vorliegenden Text
nur vorgetragen habe, 1715 von Thomas Parnell22 deutlich formuliert
vorgetragen worden zu sein. Dieser Gedanke wurde im Lauf des
18. Jahrhundert zum Gemeinplatz des europäischen Homerbildes und
fand seinen – vor Wolf – wirksamsten Ausdruck zweifellos in Robert
Woods „Essay on the Original Genius of Homer“ (1775).23 Darin vertrat
Wood besonders klar die These eines illiteraten, des Schreibens also
unkundigen, mündlich komponierenden, vortragenden und seine
Dichtungen weitergebenden Dichters. Wood wird deshalb von den
Vertretern der angloamerikanischen Oral-Poetry-Forschung gern als
Archeget ihrer Richtung herangezogen. Denn er zog aus der Erkennt-
nis, die er gewonnen zu haben glaubte, dass nämlich zu Homers Zeiten
noch kein Schriftgebrauch möglich gewesen und Homer daher als illi-
terater Dichter anzusehen sei, nicht den Schluss, er sei als Dichter min-
derwertig. Vielmehr entwarf er das Bild Homers als eines mündlichen
Dichters, eines Dichters also, der seine Werke improvisatorisch beim
Vortrag verfasste und mündlich, also nur durch das Gedächtnis ge-
stützt, weitergab. Er verglich Homer mit den zeitgenössischen italieni-
schen improvvisatori, die ex tempore nach einer Themenvorgabe aus dem
Publikum ein Gedicht verfassen und beim Verfassen vortragen konn-
ten.24
Dieses Bild Homers als eines mündlichen Dichters, der, der Schrift
unkundig, seine Gedichte beim Vortrag verfasste und dessen Gedichte
daher nur durch eine – wenigstens zunächst – mündliche Tradition
weitergegeben sein konnten, wurde zu dem bestimmenden Homerbild
des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. In Deutschland wurde dieses
Bild zum Allgemeingut. Besonders Herder hat die Verbreitung des

22 Thomas Parnell, Essay on the Life, Writings and Learning of Homer: in: The Iliad of
Homer. Translated by Mr. Pope, vol. 1, London 1715.
23 Robert Wood, An Essay on the Original Genius and Writings of Homer: with a
comparative view of the ancient and present state of the Troade. Illustrated with en-
gravings, London 1775.
24 Dazu und zum Verhältnis der (eine schriftliche Literatur voraussetzenden) italieni-
schen Improvisatoren zur epischen Dichtung Griechenlands siehe Bruno Gentili,
Cultura dell’improvviso. Poesia orale colta nel Settecento italiano e poesia greca
dell’età arcaica e classica, in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 6 [35] (1980),
17-59.
100 Rainer Thiel

Bildes von Homer als einem improvisierenden ‚Sänger‘ verbreitet und


weithin bekannt gemacht.
Die bedeutendste und für die weitere Diskussion folgenreichste
Schrift waren aber ohne jeden Zweifel Friedrich August Wolfs 1795 in
Halle erschienenen „Prolegomena ad Homerum“. Dabei handelt es sich
um eine „Vorrede“ zu einer (erst sehr viel später erschienenen) kriti-
schen Textausgabe von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘, in der sich Wolf Rechen-
schaft über den Charakter und die Entstehungsbedingungen der bei-
den Großepen zu geben versucht. Wolfs Thesen erscheinen auf dem
Hintergrund der Diskussion des 18. Jahrhunderts über Homer als
kaum wirklich neu. Die Wirkung, die seine Prolegomena innerhalb und
außerhalb der eigentlichen Fachphilologie entfalteten – als Indiz kann
etwa gelten, dass sie Anfang des 20. Jahrhunderts in deutscher Über-
setzung bei Reclam in Leipzig erschienen25 –, beruht wesentlich darauf,
dass sie in stringenter Argumentation und konsequenter Aufnahme der
äußeren Indizien, die sich aus den antiken Zeugnissen zu ergeben
schienen, das Homerbild, zu dem die Diskussion des 18. Jahrhunderts
geführt hatte, auf höchstem Niveau zusammenfasste. Im Zentrum
stand dabei die Sicht, dass eine kritische Ausgabe, wie sie für andere
Autoren wie etwa Vergil oder Ovid möglich ist, mit der Absicht, den
ursprünglichen Text der homerischen Gedichte wiederherzustellen,
unmöglich sei. Unmöglich nicht etwa nur aus praktischen, die Überlie-
ferung des Textes betreffenden Gründen, sondern insbesondere des-
halb, weil es einen solchen ursprünglichen Text nie gegeben habe.
Wolf26 ging von der Mündlichkeit des Dichters zur Zeit Homers aus,
die er zentral damit begründete, dass es zu Homers Zeit noch keinen
Schriftgebrauch gegeben habe – eine Argumentationsschiene, die bis
heute in der Homerphilologie eine große Bedeutung hat, wenngleich
sich heute sehr viel mehr über den Beginn des Gebrauchs der Alpha-
betschrift bei den Griechen und ihren Einfluss auf die homerischen
Gedichte sagen lässt als zu Wolfs Zeiten.27 Wolf postulierte die Traditi-
onalität der Dichtung innerhalb einer handwerklichen Zunft professio-
neller Sänger, die die epische Technik und die Gedichte selbst von Ge-
neration zu Generation weitergaben. Er schloss daraus auf eine
beständige Veränderung der einmal mündlich verfassten und münd-
lich tradierten Dichtung sowie auf die Unmöglichkeit der Komposition
eines Großepos durch einen einzelnen Sänger. Vielmehr müssten – so

25 Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer, ins Deutsche übertragen von Her-
mann Muchau, Leipzig o. J. (ca. 1908).
26 Das Folgende nach Latacz, Homer (wie Anm. 8), 29 f.
27 Vgl. dazu Barry B. Powell, Homer and the origin of the Greek alphabet, Cambridge
1994.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 101

Wolf – die Epen von mehreren Dichtern stammen. Des weiteren könne
derartige Dichtung aufgrund der besonderen Entstehungs- und Über-
lieferungsbedingungen textkritisch nicht in derselben Weise behandelt
werden wie die vertrauten schriftlich komponierenden und ihre Werke
in handschriftlicher Form hinterlassenden Dichter späterer Zeit.
Mit Wolfs Prolegomena war damit, wie Latacz herausstellt, „die
Mündlichkeit, die Traditionalität und die Instabilität der Dichtung“
erkannt, „von der uns Ilias und Odyssee Beispiele geben.“28 Mit ihrem
zusammenfassenden, zugleich aber den erreichten Diskussionsstand
mit unübertrefflicher Klarheit und Präzision darstellenden Charakter
schrien sie einerseits nach einer Erforschung der inneren Gesetze der
von Wolf aus äußeren Indizien postulierten Mündlichkeit der Dich-
tung, andererseits nach einer Erforschung von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘,
also insbesondere nach einer Abgrenzung der unterschiedlichen Teile
innerhalb der Großepen, die nach Wolfs Urteil unmöglich von einem
Dichter stammen konnten.
Mit einem berühmt gewordenen dictum hat der bedeutende Wiener
Klassische Philologe Albin Lesky 1954 die Behandlung der homeri-
schen Frage seit Fr. A. Wolf als das „fragwürdigste Kapitel philologi-
scher Forschung“ bezeichnet.29 Die Fragwürdigkeit dieses zentralen
Kapitels der Klassischen Philologie liegt insbesondere darin, dass über
dem Streit über die Abgrenzung der Teile von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘
gegeneinander, der durch die Vorlesungen Karl Lachmanns 1837 und
1841 ausgelöst wurde, der improvisatorisch-mündliche Charakter der
Dichtung, aus der ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ herausgewachsen sind, nahezu
vergessen, jedenfalls in der Praxis philologischer Forschung nicht mehr
berücksichtigt wurde. Das von Wolf eingeschärfte Monitum, Homer
könne nicht behandelt werden wie jeder andere beliebige, seine Werke
schriftlich abfassende Dichter, kam außer Betracht. Die Homeranalyse
Lachmann’scher Prägung versuchte über 70 Jahre hinweg ohne auch
nur die Spur eines Ansatzes für einen Konsens, aus wirklichen oder
vermeintlichen Widersprüchen in der Handlung, Brüchen in der Dar-
stellung oder Inkonsistenzen in der Charakterzeichnung die „Urilias“,
„Einzellieder“, „Einschübe“ oder „Interpolationen“ abzugrenzen, die
demnach erst sekundär von Bearbeitern eingefügt oder zusammenge-
fügt worden wären, die man je nach der kompositorischen Selbständig-
keit, die man ihnen zugestehen wollte, als Dichter, Rhapsoden, Dia-
skeuasten, Redaktoren oder Kompilatoren zu bezeichnen pflegte. Dabei

28 Latacz, Homer (wie Anm. 18), 32 f.


29 Lesky, Mündlichkeit (wie Anm. 8), 297: „Die Behandlung der homerischen Frage seit
Fr. A. Wolf darf als das fragwürdigste Kapitel philologischer Forschung bezeichnet
werden.“
102 Rainer Thiel

ging man mit den Bearbeitern überwiegend so um, als ob sie ihnen
schriftlich vorliegende Werke mit Schere und Kleister zu neuen Einhei-
ten zusammengestückt hätten. Diese Konsequenz wurde von den Ana-
lytikern nie gezogen, vielmehr ihnen von ihren marginalisierten Geg-
nern, den so genannten Unitariern, die ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ für Werke
jeweils einer großen Dichterpersönlichkeit hielten, vorgehalten. Die Art
und Weise, wie man mit der Kombination ehemals selbständiger Texte
rechnete, lässt aber keine andere Möglichkeit als eine schriftliche Kom-
bination schriftlicher Vorlagen zu und ist mit dem von Wolf behaupte-
ten Charakter mündlicher Dichtung, wie sie bis Mitte des
19. Jahrhunderts in der Homerphilologie Konsens war, völlig unver-
einbar.
Als Modelle der Entstehung der beiden homerischen Großepen
und ihrer Teilung in ursprünglich selbständige Teile wurde nahezu
alles vertreten, was theoretisch denkbar ist. Ich will mich hier gegen
Ende meines Beitrags auf wenige, grundlegende Modelle, und zwar
vor allem solche für die ‚Ilias‘ beschränken, die in der Homerphilologie
stets weit größere Aufmerksamkeit genoss als die ‚Odyssee‘, wenn-
gleich ab etwa 1860 auch sie etwas stärker in den Blick der Homerkritik
rückte.
Um 1840 machte, wie bereits mehrfach angedeutet, Lachmann mit
seiner Einzelliedertheorie den Anfang, die er schon 1816 an den „Aventi-
uren“ des Nibelungenlieds gewonnen hatte und nunmehr auf die ‚Ilias‘
übertrug.30 Ein Anstoß dazu lag darin, dass die von den alexandrini-
schen Philologen nicht zuletzt aus praktischen Gründen festgelegten 24
Bücher der ‚Ilias‘ (und ‚Odyssee‘) nicht immer mit Einschnitten zwi-
schen Erzähleinheiten zusammenfallen, sondern diese einerseits über-
greifen, während sich andererseits auch mitten in Büchern Grenzen
zwischen Erzähleinheiten feststellen lassen. Während Wolf noch mit
einem ursprünglichen Kern der ‚Ilias‘ eines Homer gerechnet hatte, der
im Laufe der Tradierung und Modifizierung sukzessive erweitert und
verändert worden sei, hielt Lachmann die ‚Ilias‘, und analog die ‚Odys-
see‘ für das Produkt der pisistratischen Redaktion. Vor dieser Redakti-
on um 500 v. Chr. habe es nur 18 Einzellieder gegeben, deren Verbin-
dung zu einer Einheit, eben unserer ‚Ilias‘, sekundär sei.
Während also Lachmann den Schöpfer unserer ‚Ilias‘ zu einem blo-
ßen Redaktor ohne eigenes dichterisches Talent macht, sieht etwa zu

30 Karl Lachmann, Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen
Noth, Berlin 1816; ders., Betrachtungen über Homers Ilias, Berlin 1847.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 103

der gleichen Zeit Nitzsch31 in Homer einen fähigen Dichter, der zwar
eine Vielzahl von bereits existierenden Einzelliedern vorgefunden und
rezipiert habe, aber aus ihnen aus eigenem dichterischem Genie ein
einheitliches Großepos geschaffen habe. Homer wäre demnach zwar
gegenüber seinem Stoff, den er von anderen auf- und übernommen
hätte, später, aber originärer Gestalter der dichterischen Einheit, die
uns mit der ‚Ilias‘ vorliegt.
Auch Hermann,32 ein Philologe, der sich übrigens später unendlich
um die Aufhellung der Technik mündlicher Dichtung verdient ge-
macht hat,33 sah dagegen Homer als Schöpfer einer Kernilias und Kern-
odyssee, die von späteren Dichtern sukzessive erweitert worden sei
(Entwicklungs- oder Erweiterungstheorie). Anders als Wolf, dessen
Position die Hermann’sche freilich sehr ähnelt, rechnet Hermann wie
Nitzsch jedoch damit, dass diesem ursprünglichen Homer bereits Ein-
zellieder vorlagen, die er allerdings souverän durchdrungen und zu
einer Einheit, eben seiner Kernilias gestaltet habe. Um den ursprüngli-
chen Kern der Ilias von, wie er meinte, späteren Zutaten zu scheiden,
die im Laufe des Erweiterungsprozesses dem Gedicht in seiner uns
vorliegenden Form zugewachsen seien, benutzt Hermann (scheinbare
oder wirkliche) Widersprüche in der Darstellung, die sich durch Aus-
scheiden von Teilen beseitigen lassen.
Für die ‚Odyssee‘, deren Struktur durchsichtiger ist als die der ‚Ili-
as‘, ist schließlich die „Kompilationstheorie“ Kirchhoffs34 zu erwähnen,
die davon ausgeht, dass ein ursprünglich selbständiger „Kern“, der
Nostos (die Heimkehr) des Odysseus, von einem späteren, dichterisch
unselbständigen Kompilator oder Redaktor einer „planmässig erwei-
ternde[n] Bearbeitung“ unterzogen worden wäre, bei der zwar substan-
tielle Teile der späteren Odyssee wie die Telemachie hinzukamen, die
es aber nie in der Form eigenständiger Lieder gegeben hatte.

31 In mehreren Arbeiten; vor allem zu nennen Gregor Wilhelm Nitzsch, De historia


Homeri maximeque de scriptorum carminum aetate meletemata, Bd. 1, Hannover
1830 (von Hermann, wie Anm. 32, aufgenommen).
32 Gottfried Hermann, De interpolationibus Homeri dissertatio (1832): in: Opuscula,
Bd. 5, Leipzig 1834 (Ndr. Hildesheim 1970), 52-77, hier bes. 70; ders., Ueber die Be-
handlung der Griechischen Dichter bei den Engländern nebst Bemerkungen über
Homer und die Fragmente der Sappho (1831): in: Opuscula, Bd. 6, Leipzig 1835
(Ndr. wie oben), 70-141, hier bes. 86-88.
33 G. Hermann, De iteratis apud Homerum (1840): in: Opuscula, Bd. 8, Leipzig 1877
(Ndr. wie oben), 11-23.
34 Adolf Kirchhoff, Die Homerische Odyssee, Berlin 1879 (2., umgearb. Aufl. von Die
Homerische Odyssee und ihre Entstehung, Berlin 1859, und Die Composition der
Odyssee, Berlin 1869); hier besonders VIII.
104 Rainer Thiel

Ich schließe hier meine kurze Übersicht über die Haupttypen der Ana-
lyse der homerischen Gedichte, die sich in zahllosen Varianten und
einer Fülle von Durchführungen im Detail belegen ließen. Die Oral-
Poetry-Forschung, die sachlich, wenngleich nicht immer historisch, an
die Forschung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpft, hat die
hinter diesen Modellen stehende Konzeption schriftlich komponieren-
der und ihre Werke in Schriftform hinterlassender Dichter und schrift-
liche Vorlagen bearbeitender Redaktoren unterschiedlicher dichteri-
scher Befähigung als der Dichtungstradition, in der Homer steht, nicht
gemäß erwiesen. Dies ist aber kein Verdikt über die analytische For-
schung als ganze, die vielmehr die Struktur der homerischen Epen
äußerst detailliert aufgehellt hat.
Vielleicht sind die analytischen Modelle, die zuerst für die Homer-
forschung entwickelt wurden, der orientalischen Literatur einschließ-
lich der biblischen Historiographie gemäßer als der frühgriechischen
Epik, die in ihren beiden Hauptwerken ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ in ihrer
uns vorliegenden Gestalt doch von einer ganz überwiegenden und
dem unvoreingenommenen Leser niemals fragwürdigen Einheitlichkeit
und Kohäsion gekennzeichnet ist. Als Zeuge dafür sei Friedrich Schiller
zitiert, der noch vor dem Beginn des Analytiker-Unitarier-Streits, aber
bereits in Kenntnis der Prolegomena Wolfs und der durch sie vergegen-
wärtigten Probleme der Homerischen Frage schreibt:35
Dafür lese ich in diesen Tagen den Homer mit einem ganz neuen Vergnü-
gen, wozu die Winke die Sie mir darüber gegeben, nicht wenig beitragen.
Man schwimmt ordentlich in einem poetischen Meere, aus dieser Stim-
mung fällt man auch in keinem einzigen Punkte und alles ist ideal bei der
sinnlichsten Wahrheit. Übrigens muß einem, wenn man sich in einige Ge-
sänge hineingelesen hat, der Gedanke an eine Rhapsodische Aneinander-
reihung und an einen verschiedenen Ursprung notwendig barbarisch vor-
kommen, denn die herrliche Kontinuität und Reziprozität des Ganzen und
seiner Teile ist eine seiner wirksamsten Schönheiten.

35 Brief an Johann Wolfgang von Goethe, Jena, den 27. April 1798, hier zitiert nach:
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von
Manfred Betz, (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines
Schaffens, Münchener Ausgabe, Bd. 8. 1), München 1990, 559. Wolfs Thesen sind in
dieser Zeit mehrfach Thema in der Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 105

Abstract

Due to research done by Milman Parry and his oralistic school, we now
think we have a better understanding of oral traditions like the one
Iliad and Odyssey stem from, even though in their present shape (as
many, not only continental, scholars have come to think) they may well
have been composed with the aid of scripture. Hence, the analytical
models proposed to explain the formation of those large epic poems in
the nineteenth century can no longer be applied without reserve. Yet
they still reflect the basic possibilities to be taken into account in any
tradition where texts appear to have grown or changed over genera-
tions, including the pentateuch, with which Iliad and Odyssey have
long been parallelised. This contribution gives a brief account of the
pre-history of oralistic concepts of Homer in the eighteenth century
(before Wolf) and of the main theories of Homer analysis in the nine-
teenth century (after Wolf).
Die Stimme des Autors in den
Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments

Erhard Blum

Wie die Stimme des Autors/Erzählers in erzählender Prosa gestaltet


und profiliert wird, wie sich zu anderen Stimmen innerhalb eines
Textes verhält etc., solche Fragen gehören zu den zentralen Gegens-
tänden einer allgemeinen oder literaturspezifischen Narratologie.1
Entsprechenden Raum nehmen sie denn auch in den Untersuchungen
zu bzw. Einführungen in eine alttestamentliche/biblische Narratologie
ein.2 Im Folgenden kann freilich ein solch umfassender Problemhori-
zont nicht verfolgt werden, vielmehr soll es – mit Blick auf das Ge-
samtthema des Symposiums – um Überlegungen dazu gehen, in wel-
cher Weise die Präsenz der Erzähler in den Texten für den Umgang
der Autoren mit ihren Geschichten bzw. „der“ Geschichte signifikant
sein könnte. Dementsprechend werden in einem ersten Teil einige
elementare Möglichkeiten und Funktionen der Erzählerstimme in
alttestamentlichen Texten3 besprochen, insbesondere unter der Frage-

1 Exemplarisch seien hier E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955;


K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen (1979) 72001, und G. Genette, Die Er-
zählung (übers. aus dem Franz.), München 21998, genannt.
2 In der wissenschaftlichen Exegese wurde eine systematische Beschäftigung mit einer
Narratologie der althebräischen Prosa erst relativ spät als wichtige Aufgabe erkannt.
Nach Pionier- und Vorarbeiten von H. Gunkel, H. Greßmann, M. Buber, W. Baum-
gartner, L. Alonso-Schökel, M. Weiss u.a. sind hier vor allem die Einführungen von
Sh. Bar-Efrat, Narrative Art in the Bible (JSOT.S 70), Sheffield 1989 (hebr. Erstausga-
be Tel Aviv 1979; dt. Übers.: Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als litera-
rische Kunstwerke verstehen, Gütersloh 2006) (zur Erzählerstimme: Kap. 1), und
J. L. Ska, „Our Fathers Have Told Us“. Introduction to the Analysis of Hebrew Nar-
ratives, SubBi 13, Rom 1990 (hier bes. Kap. IV), zu nennen, des weiteren die über-
sichtlichen Erläuterungen in H. Utzschneider / S. A. Nitsche, Arbeitsbuch Literatur-
wissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten
Testaments, Gütersloh 2001, bes. §5a.1.2/2.2. Unter den literaturwissenschaftlichen
Untersuchungen ist für unseren Zusammenhang besonders auf M. Sternberg, The
Poetics of Biblical Narrative, Bloomington 1987, bes. Kap. 3 u. 5, zu verweisen.
3 Mit einem Schwerpunkt auf dem Textbereich Pentateuch und Vordere Propheten.
108 Erhard Blum

stellung, ob bzw. in welcher Weise sich diese Stimme von dem „ei-
gentlichen“ narrativen Diskurs abheben kann. In einem zweiten Teil
soll dann ein vergleichender Blick auf frühe Texte der altgriechischen
Prosa geworfen und sodann im abschließenden dritten Teil nach Vor-
aussetzungen für die Herausbildung der vielgestaltigen und im alt-
orientalischen Kontext (bislang) einzigartigen Geschichtsüberliefe-
rung des Alten Testaments gefragt werden.

Das Alte Testament beginnt als Erzählung, die zunächst bis zum Ende
des ersten Kanonteils, des Pentateuch, geht, dann aber über das Jo-
suabuch etc. nahtlos weitergeführt wird bis zum Ende der Königsbü-
cher. Es handelt sich mithin um ein narratives Kontinuum, das von
der Weltschöpfung bis zur Eroberung und Zerstörung Jerusalems
durch die Babylonier reicht. Formal steht der Erzählcharakter außer
Frage, unbeschadet dessen, dass darin auch Lieder und umfangreiche
Rechtskorpora zitiert werden. Gleichwohl wäre es voreilig, wollte
man aus diesem Kontinuum ableiten, dass der Gesamtzusammen-
hang als ein literarisches „Erzählwerk“ intendiert war. Letztere Frage
kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden;4 sie ist aber inso-
fern mit unserer Fragestellung verbunden, als sich die diachrone Ab-
grenzung literarischer Einheiten kaum völlig von einer Autoren- oder
Editorenintention abtrennen lässt. Ein expliziter Autor, sei es als „rea-
ler“, historisch identifizierbarer Verfasser, sei als ein fiktiver, textim-
manenter Erzähler, tritt jedoch weder im Pentateuch noch in den sog.
„Vorderen Propheten“ (Josua bis 2. Könige) oder einer anderen aus
der „Außenperspektive“ erzählten5 Geschichte des AT auf.
Die Unterscheidung „realer – fiktiver Autor/Erzähler“ ist nicht zu
verwechseln mit der literaturwissenschaftlich eingeführten Differen-
zierung zwischen „realem“ und „implizi(er)tem“ Autor.6 Unter Letz-

4 Dazu vgl. E. Blum, Pentateuch – Hexateuch – Enneateuch? oder: Woran erkennt man
ein literarisches Werk in der hebräischen Bibel?, in: T. Römer / K. Schmid (Hgg.), Les
dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque
(BEThL 203), Leuven 2007, 67-98.
5 Zur Opposition „Innenperspektive“-„Außenperspektive“ im Blick auf den Erzähl-
standpunkt („point of view“) vgl. K. Stanzel, Theorie (wie Anm. 1), Kap. 5.; im Sinne
von Genette, Erzählung (wie Anm. 1), 178f. wäre von einem „extradiegetisch-
heteroegetischen“ Erzähler zu sprechen.
6 S. die kundige Darstellung mit ausführlicher Literatur bei Ska, „Our Fathers“ (wie
Anm. 2), 39-54, sowie Utzschneider / Nitsche, Arbeitsbuch (wie Anm. 2), 154-178.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 109

terem wird das Bild des Autors verstanden, wie es den Rezipienten in
einem gegebenen Text vermittelt wird. Ob dieser textimplizite Autor
in der Gestalt eines erzählungsimmanenten („intradiegetischen“) Ich-
Erzählers verselbständigt ist oder sich in der primären Erzählerrolle
artikuliert, so oder so kann seine Stimme neben denen der Personen,
die in der Textwelt agieren, profiliert werden, ohne dass sie (oder die
der Personen) mit dem realen Autor und dessen Weltsicht gleichzu-
setzen wäre. Teilweise wird diese aus neuzeitlicher fiktionaler Litera-
tur wohl vertraute Differenzierung recht unmittelbar auch auf alttes-
tamentliche Texte appliziert.7 M.E. erweist sich das Konzept des
„implizi(er)ten Autors“ für die alttestamentliche Literatur jedoch als
nicht angebracht, ja geradezu als irreführend, aus einem einfachen
Grund: Biblische Erzählungen verstehen sich als Mitteilungstexte; das
neuzeitliche Konzept fiktionaler Literatur ist ihnen fremd.8 Ein unter
den Bedingungen der Fiktionalität mögliches Spiel des „realen“ Au-
tors mit einer mehr oder weniger „uneigentlichen“ Erzählerstimme
(oder gar Gottesstimme) ist hier weder vorgesehen9 noch stellt es
überhaupt eine Denkmöglichkeit dar. Dass in geschichtlichen Texten
jeder Art der/die reale Autor/in nicht unmittelbar zugänglich ist, son-
dern nur insoweit, wie er seine/ihre Weltsicht (mit mehr oder weniger
Erfolg) in einem Text artikuliert hat, ist freilich trivial. Davon zu un-
terscheiden bleibt aber der Anspruch der Autoren jeglicher („ernst
gemeinter“) Mitteilungsliteratur, dass die Stimme des textimmanen-
ten Autors ihre eigene Weltsicht authentisch zum Ausdruck bringt.
Dieser Anspruch gilt auch für den Fall eines fiktiven10 textimmanenten

Kritisch zu diesem Konzept: Genette, Erzähler (wie Anm. 1), II. (Neuer Diskurs der
Erzählung), Kap. 19 (283-295).
7 So etwa bei L. Eslinger, Into the Hands of the Living God (JSOT.S 84), Sheffield 1989,
der im Bereich des deuteronomistischen Geschichtswerks und darüber hinaus auch
konzeptionelle Inkohärenzen durch die Annahme einer Vielzahl einander wider-
streitender, relativierender etc. Stimmen auflösen zu können meint. Dabei könne die
perspektivische Relativierung nicht nur den impliziten Autor, sondern auch die Got-
tesreden und programmatische Reden der Hauptpersonen (Mose, Josua, Samuel, Sa-
lomo etc.) betreffen. M.E. impliziert dies eine anachronistische Projektion; s. im Fol-
genden.
8 Zur Begründung und zu Differenzierungen s. E. Blum, Historiographie oder Dich-
tung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: E. Blum u.a. (Hgg.),
Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testa-
ment und die Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901-1971),
Heidelberg, 18.-21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65-86, hier: 75-81.
9 Direkt einschlägig sind hier auch die Differenzierungen von Genette, Erzählung (wie
Anm. 1), 152.
10 Die elementare Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität (s. Blum, His-
toriographie [wie Anm. 8], 77) wird in der zünftigen Exegese leider zumeist ver-
110 Erhard Blum

Autors/Erzählers. Dergleichen ist im Alten Testament prominent mit


Mose als Wir-Erzähler im Deuteronomium (s.i.F.) vertreten. Punktuell
kann ein fiktiver Autor auch durch eine zeitliche Deixis suggeriert
werden, die weit von dem geschichtlichen Ort des historisch zu re-
konstruierenden „realen“ Autors entfernt ist.11
Auch wenn die Autoren/Erzähler sich nicht identifizieren, ist
selbstverständlich eine Erzählerstimme durchgehend präsent, und
dies nicht nur als die verborgene mediale Instanz, der die Leser/Hörer
die Mitteilung allen Geschehens verdanken, sondern – zumindest
gelegentlich – auch als eine Stimme, die das erzählte Geschehen oder
dessen Darstellung selbst thematisiert und damit auch die Abstän-
digkeit der erzählten Welt von der Welt der Erzählsituation ins Be-
wusstsein hebt. Allerdings begegnen solche tendenziell metanarrati-
ven Interventionen der Erzähler in der hebräischen Bibel zumeist sehr
verhalten. Nicht selten erscheint es schwierig zu entscheiden, ob Be-
schreibungen, Bewertungen etc. der narrativen Inszenierung selbst
angehören oder davon abgesetzt an die Adressaten gerichtet sind,
also eine Kommunikation „zweiten Grades“ bilden. Dabei mag eine
Rolle spielen, dass im Medium der Schrift wesentliche Parameter des
mündlichen Erzählvortrags wie Intonation, Gestik u.ä.m. nicht ver-
mittelt werden. Neigt man zu der Annahme, dass es sich bei den alt-
testamentlichen Texten primär um „Vorleseliteratur“ handelt (s. i.F.),
dann ist damit zu rechnen, dass die schriftliche Vorlage als „Partitur“
für entsprechende Interpretationen beim Vortrag offen war.
Gleichwohl lassen sich auf semantischer und syntaktischer Ebene
einige Indikatoren für Erzähleräußerungen „zweiten Grades“ festma-
chen. Nach Inhalt bzw. Pragmatik können dabei mehrere Funktionen
unterschieden werden.12
Am häufigsten sind vermutlich die Applikationen der Geschichten
oder einzelner Elemente der Geschichten auf die Lebenswelt der Ad-

kannt; vgl. zuletzt K. Seybold, Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament
(Poetologische Studien zum Alten Testament 2), Stuttgart 2006, 207-209. Damit gera-
ten die Bemühungen um eine Einbeziehung genuin literaturwissenschaftlicher An-
sätze von vornherein in eine konzeptionelle Schieflage.
11 Dies gilt vor allem für den Bezug ätiologischer Aussagen auf ein in der Zeit des
faktischen Autors/Tradenten nicht mehr gegebenes Heute. So impliziert Ri 1,21 ei-
nen Standpunkt vor der Einnahme Jerusalems durch David und suggeriert damit ein
entsprechendes Alter der Notiz bzw. der Angaben in Ri 1 (mit Samuel als Autor?),
1. Kön 8,8 eine Formulierung vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Welcher
Phase der Literargeschichte der betreffenden Texte diese Angaben angehören, muss
freilich in der Regel offen bleiben; zum Problem vgl. Ri 1,29 mit Jos 16,10.
12 Vgl. zum Folgenden auch Genette, Erzählung (wie Anm. 1), 183ff. und Bar-Efrat, Art
(wie Anm. 2), 24ff.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 111

ressaten in sog. „ätiologischen“ Bemerkungen. Die ätiologische Aus-


richtung vieler biblischer Erzählungen (bzw. Erzählzüge) wurde vor
allem seit H. Gunkel vielfach beschrieben.13
Selbst solche ätiologischen Züge können freilich nahtlos in die „ei-
gentliche“ Erzählung integriert sein und müssen dann in ihrem Ge-
genwartsbezug von den Adressaten realisiert werden. So z.B. bezogen
auf eine Örtlichkeit „Even ha-Ezer“ in 1. Sam 7,12:
Und Samuel nahm einen Stein und stellte ihn zwischen ha-Mizpa und
ha-Schen auf. Und er nannte ihn „Even ha-Ezer“ („Stein der Hilfe“) und
sagte: ‚Bis hierher hat uns JHWH geholfen!’

Deutlich zu vernehmen ist der Erzähler als eigene Stimme erst da, wo
er die Narration verlässt und sich in diskursiven Erläuterungen direkt
an die Rezipienten wendet. In der Terminologie von Harald Wein-
rich14 könnte man sagen, dass der Erzähler hier jeweils die erzählende
Sprechhaltung aufgibt und eine „besprechende“ einnimmt. Besonders
häufige Marker bilden dabei das herleitende ‘al ken („darum“)15 und
die Zeitangabe ‘ad hajjom hazzäh („bis auf den heutigen Tag“),16 wie
z.B. in Gen 32,33:
Darum ('al ken) essen die Israeliten nicht die Hüftsehne, die über dem
Hüftgelenk ist, bis zum heutigen Tag (‘ad hajjom hazzäh), weil er das Hüft-
gelenk Jakobs, die Hüftsehne, berührt hat.

13 Bis heute grundlegend sind die Einleitung in Gunkels Genesiskommentar (Genesis,


HKAT 1,1, Göttingen 31910, § 2. Arten der Sagen der Genesis) sowie R. Smend, Ele-
mente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (ThSt 95), Zürich 1968. Aus der vielfäl-
tigen sonstigen Literatur seien hier J. Fichtner, Die etymologische Ätiologie in der
Namengebung der geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, VT 6 (1968), 372-
296, der kritisch differenzierende Beitrag von I.L. Seeligmann, Ätiologische Elemente
in der biblischen Geschichtsschreibung (hebr.), Zion 26 (1961), 141-169; dt. Übers. in:
I.L. Seeligmann, Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel (hg. von E. Blum)
[FAT 41], Tübingen 2004, 77-118, sowie B. O. Long, The Problem of Etiological Nar-
rative in the Old Testament (BZAW 108), Berlin 1968, genannt.
14 H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart u.a. 21971.
15 Die einschlägigen Belege hierfür in Gen-2.Kön: Gen (2,24) 10,9; 11,9; 16,14; 19,22;
21,31; 25,30; 26,33; 29,34.35; 30,6; 31,48; 32,33; 33,17; 50,11; Ex 15,23; Num 21,14. 27;
Dtn 10,9; Jos 7,26; 14,14; 15,19; 18,12; 1.Sam 5,5; 10,12; 19,24; 23,28; 28,18; 2. Sam 5,8.
20.
16 Nicht selten scheint die Formulierung aber gleichsam unentschieden zwischen
„erzählender“ und „besprechender“ Darstellung zu stehen, indem die Angabe ‘ad
hajjom hazzäh formelhaft an eine Erzählnotiz angeschlossen wird und streng ge-
nommen elliptisch für einen ganzen Satz steht. Vgl. z.B. Dtn 3,14; Jos 5,9 (LXX ohne
„bis auf diesen Tag“); 7,26; 8,29; Ri 18,12.
112 Erhard Blum

Die relativ schlichten Beispiele dieser Art ließen sich leicht mehren.17
Daneben stehen freilich auch subtilere Erzählerinterventionen.
In Anschluss an das Drama von der Opferung/Bindung Isaaks in
Gen 22 heißt es: „Und Abraham nannte jenen Ort JHWH jir’äh
(‚JHWH ersieht’)“ (22,14a). Dies ist noch Fortführung der erzählten
Handlung, denn der von einer furchtbaren Last befreite Abraham
drückt in dieser Namensgebung als persönliches Resümee aus, dass
sein Hoffen auf einen anderen Gott als den des Opferbefehls (22,2)
sich bewahrheitet hat.18 Vers 14a klingt ätiologisch, ist es aber nicht;
denn nach allem, was wir wissen, hat es diesen Namen in der Welt
der Leser gar nicht gegeben, vielmehr existiert er nur in der erzählten
Welt Abrahams. Dann aber geht es diskursiv mit der Erzählerstimme
weiter: „(den Ort), von dem man heute sagt: ‚der Berg, auf dem
JHWH erscheint’ (be-har JHWH jera’äh)“ (22,14b). Im judäischen Kon-
text gab es nur einen Berg, von dem man so absolut sprechen konnte:
den Tempelberg von Jerusalem. Er wird hier als Ziel des Weges Ab-
rahams von Mesopotamien her expliziert19 und zugleich ‚ätiologisch’
als (der) Kultort eingeführt. Ungewöhnlich (im Pentateuchkontext)
bleibt dabei die unübersehbare Verortung von Erzählern und Adres-
saten in einer Zeit nach der Einrichtung eines JHWH-Heiligtums in
Jerusalem.
Mitunter verkannt wird auch eine metanarrative, letztlich ätiolo-
gische Bemerkung in der Paradieserzählung von Gen 2-3: Nachdem
der Mensch in 2,23 die aus einem Stück von ihm „gebaute“ Frau mit
einem Jubelruf als verwandt20 und wesensgleich begrüßt hat, heißt es
in 2,24: „Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter und hängt seiner
Frau an, und sie werden ein Fleisch.“ Manche Ausleger lesen dies als
Teil der Erzählung und konstatieren dann einen Widerspruch zu
Gen 3, wo die beiden erst nach dem Griff zum Baum der Erkenntnis
ihre Sexualität entdecken.21 In Wahrheit geht es in 2,24 nicht um die
Menschen im Gottesgarten, sondern um die Welt der Adressaten und

17 Dabei ist aber zu beachten, dass das häufige „bis auf diesen Tag“ nicht per se einen
ätiologischen Bezug anzeigt; vgl. schon B. S. Childs, A Study of the Formula ‚Until
this Day’, JBL 82 (1963), 279-292.
18 Dazu E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-
Vluyn 1984, 322-324.
19 Zur theologisch-narrativen Bedeutung dieses Zusammenhangs in der Abrahamge-
schichte vgl. die Hinweise in E. Blum, Abraham, RGG4, Tübingen 1998, 70-74, hier
72.
20 Durch den Rückgriff auf eine idiomatische Wendung („mein Bein und Fleisch“; z.B.
Gen 29,14), mit der die Blutsverwandtschaft bezeichnet wird.
21 So unter den älteren etwa G. von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis, ATD 2/4,
Göttingen 91972, 71.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 113

den staunenswerten Umstand, dass es darin eine Beziehung gibt, die


enger ist als die engste Blutsverwandtschaft, nämlich die Ehe zwi-
schen Mann und Frau. Die kurze Digression von der erzählten Welt
in die Wirklichkeit der Rezipienten ist formal durch das ‘al ken und
die Tempusformen angezeigt, inhaltlich dadurch, dass die elementare
Beziehung von Eltern und Kindern erst nach der Ausweisung des
Menschenpaares aus dem Gottesgarten eingeführt wird.
Während die „Applikationen“ auf Begründungen und Erklärun-
gen von Sachverhalten in der Gegenwart der Kommunikanten zielen,
ist eine andere Art meta-narrativer Äußerungen auf Erläuterungen
vergangener Sachverhalte in der erzählten Welt, sei es im Text selbst
oder der darin vorausgesetzten geschichtlichen Welt, ausgerichtet.
Unter bewusster Vermeidung des Begriffs „historisch“ möchte man
geradezu von „geschichtlichen Erläuterungen“ sprechen. Ein klares
Beispiel dafür findet sich in der Geschichte von Saul, der den Gottes-
mann Samuel aufsucht, um eine Auskunft über die verlorenen Ese-
linnen seines Vaters zu erhalten (1. Sam 9,9):
Früher sagte man in Israel, wenn man Gott befragen ging: ‚Auf, lasst uns
zum Seher (ro’äh) gehen!’ Denn was man heute ‚Prophet’ (nabi’) nennt,
nannte man früher (lepanim) ‚Seher’(ro’äh).

Diese Erläuterung bezieht sich auf den ab V. 11 in der Erzählung ge-


brauchten Titel ro’äh. Anders als ätiologische Notizen erklärt sie nicht
einen gegenwärtigen Sprachgebrauch, sondern einen als vergangen
unterstellten. Sie markiert also nicht nur die geschichtliche Distanz
zwischen Erzählern/Adressaten und Handlung, sondern zeigt so et-
was wie ein antiquarisches Interesse am „Früheren“. Auf weitere
Beispiele dieser Art kann der Konkordanzbefund zu dem hier ge-
brauchten Zeitadverb lepanim führen. So finden sich in Dtn 2,10-12
und 20-23 Angaben zu den Vorbewohnern der Gebiete der Moabiter,
der Edomiter und der Ammoniter, die im Zusammenhang von
JHWH-Reden stehen, die wiederum innerhalb einer rekapitulieren-
den Erzählung des Mose zitiert werden. Die Angaben sind offenbar
als Entfaltung der Aussagen gedacht, wonach JHWH den genannten
Völkern – in Analogie zu Israel – ihr jeweiliges Land zugeteilt hat,
weswegen die vorbeiziehenden Israeliten jede gewalttätige Ausei-
nandersetzung mit den drei Nachbarvölkern vermeiden sollen. Zu-
gleich stehen die Notizen deutlich außerhalb der Wir-Erzählung Mo-
ses, die den Zusammenhang konstituiert: Weder sind sie als JHWH-
Rede noch überhaupt als Anrede an die Israeliten formuliert; darüber
hinaus setzen sie – gleichsam aus einer nach-mosaischen (und nach-
josuanischen) Perspektive – die vollzogene Landnahme der Israeliten
114 Erhard Blum

voraus (2,12b!). Damit können sie wohl nur der Ebene des anonymen
Erzählers zugerechnet werden, in dessen Darstellung die Abschieds-
rede(n) Moses eingebettet ist und seine letzte Handlungen, einschließ-
lich seines Todes, mitgeteilt werden. Inhaltlich bieten sie eine Art
Wissensstoff über die vorzeitliche Besiedelung der Region durch eine
Bevölkerung von Heroen und gehen dabei in ihren „geschichtlichen“
Details – bis hin zur Benennung der Urvölker im Moabitischen (2,11)
bzw. Ammonitischen (2,20) – über die Erfordernisse des Erzählkon-
textes hinaus. Von gleicher Art sind in Dtn 3 die Notizen über die
Benennung des Hermon in anderen Sprachen (3,9) und über den rie-
senhaften Sarkophag von Og, dem König des Baschan (3,11). Es dürf-
te sich am ehesten um Gegenstände weisheitlicher Bildung handeln,
wie sie im gelehrten Schuldbetrieb gepflegt worden sein mag. Ent-
sprechende „geschichtliche“ Erläuterungen begegnen sodann (wie-
derum mit lepanim) in Jos 11,10 (über die frühere Größe von Hazor), in
Ri 1,10-11 (parr.). 23 oder in Ruth 4,7.22
Allein auf die erzählte Handlung bezogen und leicht zu überlesen
ist eine Erläuterung ganz anderer Art in 1. Kön 13. Die Episode han-
delt von einem Gottesmann aus Juda, der in das Staatsheiligtum des
Nordreiches Israel zu Bethel geht und dessen Untergang vorhersagt.
In der göttlichen Sendung wird ihm aufgetragen, in Bethel weder zu
essen noch zu trinken und auch nicht auf demselben Weg zurückkeh-
ren, auf dem er gekommen war. Ein alter in Bethel sesshafter Prophet,
der vom Auftritt des Gottesmannes gehört hat, holt ihn aber auf dem
Rückweg nach Juda ein und überredet ihn, bei ihm in Bethel einzu-
kehren, und zwar mit einem fingierten Gotteswort (13,18a):
„Er sagte ihm: ‚Auch ich bin ein Prophet wie du, und ein Engel hat zu mir
im Auftrag JHWHs gesprochen: ‚Hole ihn zurück in dein Haus, damit er
Brot esse und Wasser trinke!’“

Die Geschichte als ganze ist im Grunde erst verstanden, wenn man
erfasst hat, weshalb der Gottesmann diese Lüge eigentlich durch-
schauen müsste, und weshalb er seine Nachgiebigkeit gegenüber dem
Bethel-Propheten mit dem Leben bezahlen muss. Lesern und Hörern
wird freilich ein Wissensvorsprung gegeben, indem die Erzähler-
stimme an dieser Stelle (13,18b) eine kurze lakonische Information
hinzufügt: kihГeš lô – „er hatte ihn angelogen“. Im Hebräischen ist die-
ser außer-narrative Hinweis syntaktisch durch den asyndetischen
Anschluss abgehoben. Damit wird die Kette der Narrativformen un-
terbrochen und das Publikum, gleichsam mit einer Zwischenbemer-

22 Einschlägig sind weiterhin die Belege in Neh 13,5; 1.Chr 4,40; 9,20.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 115

kung, direkt angesprochen. M.E. spiegelt sich hier und in ähnlichen


Beispielen23 recht deutlich, dass die althebräische Literatur Vorleseli-
teratur war. Diese wiederum stand im Erbe einer reichen und artifi-
ziellen Erzählkultur, in der der mündliche Vortrag immer auch etwas
von einer Perfomance haben kann. – Wir werden auf diesen Punkt
noch einmal zurückkommen.
Von den erläuternden Kommentierungen kann man schließlich
evaluierende unterscheiden. Exegetisch Versierte werden dafür nicht
zuletzt an die rekurrenten deuteronomistischen Königsbeurteilungen
in den Königsbüchern denken: „und er tat das Gute/das Böse in den
Augen JHWHs“. Zwar bleiben diese Beurteilungen in der Regel in-
nerhalb der primären Erzählebene,24 doch gehen auch die deutero-
nomistischen Tradenten an entscheidenden Stellen zu einer diskursi-
ven Ebene über, so bei dem paradigmatischen König Josia (2. Kön
23,25):
So wie er war kein König vor ihm, der mit ganzem Herzen, aller Leiden-
schaft und ganzer Kraft entsprechend der ganzen Tora Moses zu JHWH
umgekehrt wäre; und nach ihm erstand keiner mehr wie er.

Der „besprechende“ Charakter wird hier vor allem25 an dem Horizont


des Urteils deutlich, das über die Einzelperiode hinausgreift und die
gesamte judäische Königszeit in den Blick nimmt.26 Im Vergleich mit
der Mehrzahl der bisherigen Beispiele möchte man meinen, hier sei
nicht nur eine Erzähler-, sondern eine Historikerstimme zu hören.
Tatsächlich hat M. Noth in seiner klassischen Analyse des von ihm
sogenannten „deuteronomistischen Geschichtswerks“27 bereits die
zentrale Bedeutung epochenübergreifender Deutungen für die Kom-

23 Ähnlich wie in 1.Kön 13,18 fungieren in Am 7,1-6 die asyndetischen Formulierungen


von 7,3a.6a als explizierende „Seitenbemerkungen“ des prophetischen Erzählers. Mit
verdeutlichenden Stimmmodulationen etc. ist auch bei Erzähltechniken wie der
summarischen Prolepse (z.B. in Gen 27,23 oder 37,21) zu rechnen, der J. L. Ska erhel-
lende Studien gewidmet hat (Sommaires proleptiques en Gn 27 et dans l’histoire de
Joseph, Bib. 73 [1992], 518-527; Quelques examples de sommaires proleptiques dans
les récits bibliques, in: J.A. Emerton [Hg.], Congress Volume Paris 1992, VT.S 61,
Leiden 1995, 315-326).
24 Anders die Kommentierung zweier Episoden am Ende des Richterbuches, die von
ungezügelter Gewalt handeln: „In jener Zeit gab es keinen König in Israel. Ein jeder
machte, was ihm recht dünkte.“ (Ri 17,6; 21,25) Asyndese und Distanzmarkierung
zeigen wiederum den besprechenden Charakter an.
25 Die LXX-Vorlage dürfte zudem noch einen asyndetischen Satzanschluss geboten
haben.
26 Vgl. auch den Horizont des abschließenden Urteils über Mose in Dtn 34,10-12.
27 M. Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden
Geschichtswerke im Alten Testament (1943), Tübingen 21957.
116 Erhard Blum

position des Werkes herausgestellt – neben weiteren Elementen wie


der chronologischen Kohärenz, narrativen Vor- und Rückverweisen
etc. Dank solcher kompositorischer Mittel wird hier aus einer Vielzahl
von Einzelgeschichten so etwas wie „Geschichte“. Weit über eine
chronistische Reihung hinaus bietet diese Geschichtsüberlieferung
darüber hinaus den Versuch einer sinntragenden Synthese.
In einen solchen, auf den ersten Blick „historiographischen“ Zu-
sammenhang passen denn auch trefflich die Referenzen auf externe
„Quellen“, wie wir sie in den dreiunddreißig Verweisen auf die
„Chronik der Könige von Juda/Israel“ in den Königsbüchern finden:
„Und was sonst noch von XY zu sagen ist, was er getan hat, steht es
nicht geschrieben im Buch der Chronik der Könige von Juda/Israel“.28
Die pragmatische Funktion dieser Referenzen im Rahmen des deute-
ronomistischen Geschichtswerks versteht sich deshalb nicht von
selbst, weil höchst fraglich ist, ob für dessen spät-/nachexilische Ad-
ressaten die genannten Chroniken überhaupt existent und zugänglich
waren. Darüber hinaus hat C. Hardmeier29 gute Gründe dafür ange-
führt, dass diese Quellenangaben bereits zu einem vordeuterono-
mistischen Annalenwerk gehörten, in dem sie potenziell eine reale
Referenzfunktion haben konnten. Mit dessen Integration in das deu-
teronomistische Geschichtswerk blieben sie wohl30 als Blindreferen-
zen stehen. Davon unbenommen konnten sie aber weiterhin die mit
allen literarischen Quellenverweisen verbundene pragmatische Funk-
tion der Beglaubigung wahrnehmen.31

28 1. Kön 14,19. 29; 15,7. 23. 31; 16,5. 14. 20. 27; 22,39. 46; 2. Kön 1,18; 8,23; 10,34; 12,20;
13,8. 12; 14,15. 18. 28; 15,6. 11. 15. 21. 26. 31. 36; 16,19; 20,20; 21,17. 25; 23,28; 24,5.
29 C. Hardmeier, Umrisse eines vordeuteronomistischen Annalenwerks der Zidkijazeit.
Zu den Möglichkeiten computergestützter Textanalyse, VT 90 (1990), 165-184.
30 Die von D. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Litera-
ture, Oxford 2005, überzeugend herausgearbeitete Bedeutung des Memorierens und
der mündlichen Rezitation literarischer Texte in der Schulung altorientalischer und
antiker Schreiber lässt eine vorsichtige Zurückhaltung bei solchen historischen An-
nahmen geraten erscheinen. Zugleich eröffnen sich von daher kaum bedachte Mög-
lichkeiten, etwa im Blick auf die Verortung der Autoren des dtrG: Plädoyers für eine
Niederschrift in Juda können sich jedenfalls kaum mehr auf eine fehlende Verfüg-
barkeit des „Quellen“-Materials unter den Exulanten stützen (vgl. z.B. Noth, Studien
[wie Anm. 27], 110 Anm. 1). Unbeschadet dessen blieb eine solche Textkenntnis auf
einen relativ kleinen Kreis entsprechend ausgebildeter und trainierter Zeitgenossen
beschränkt (selbst dann, wenn im/nach dem Exil ältere Werke erneut niederge-
schrieben worden sein sollten).
31 Ebenso wie die fiktiven Quellenangaben prophetischer Bücher in der Chronik; zu
der darin zum Ausdruck kommenden geschichtstheologischen Konzeption des
Chronisten vgl. insbesondere Th. Willi, Die Chronik als Auslegung. Untersuchungen
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 117

Unter den soweit skizzierten Typen diskursiver Einwürfe der Er-


zählerstimme32 sind es die erläuternden, evaluierenden und beglaubi-
genden Bemerkungen, die häufig eine quasi-historische Ausrichtung
auf die Vergangenheit aufweisen. So kommt es nicht von ungefähr,
dass in der exegetischen Forschung das deuteronomistische Werk (ne-
ben einem – wie auch immer definierten – vorpriesterlichen Zusam-
menhang im Pentateuch) in einer signifikanten Entsprechung zu den
etwas jüngeren Werken der frühgriechischen Historiker gesehen wurde
und wird.33 Tatsächlich kann man hierfür noch eine ganze Reihe mate-
rialer und formaler Gemeinsamkeiten anführen, von der ätiologischen
Prägung vieler Stoffe über den oft episodischen Erzählstil und kompo-
sitorische Rahmenelemente aus Genealogien und chronologischen oder
geographischen Zusammenhängen bis hin zu dem ganze Zeitepochen
übergreifenden geschichtlichen Horizont.34
Unbeschadet dieser offensichtlichen Gemeinsamkeiten lässt sich je-
doch zeigen, dass die ionischen und die alttestamentlichen Werke nä-
her betrachtet zwei fundamental verschiedene Kategorien des Um-
gangs mit geschichtlicher Überlieferung repräsentieren. André Jolles35
hätte wohl von grundlegend verschiedenen „Geistesbeschäftigungen“
gesprochen. Ich habe diese These bereits an verschiedenen Stellen be-

zur literarischen Gestaltung der historischen Überlieferung Israels, FRLANT 106,


Göttingen 1972, 229-241.
32 Als Übersicht mit exemplarischen Belegen:

Zeitdistanz impliziert markiert


Funktion
applikativ Gen 2,24 Gen 22,14 (etc.)
erläuternd Dtn 2,10-12. 20-23 1. Sam 9,9
evaluierend 2. Kön 23,25 Jos 10,14; Ri 21,25
beglaubigend 2. Kön 14,15 etc. Jos 10,(12-)13
bezogen auf die Pragmatik (Jes 8,16ff.) Dtn 1,(1-)5
des Gesamttextes Neh 13,31 u.a.
Bezugnahmen des Autors auf den eigenen Text als Ganzen begegnen in alttesta-
mentlicher Prosaerzählung nur in Ich-Erzählungen (z.B. „Nehemia-Denkschrift“)
bzw. über einen intradiegetischen Autor wie Mose in Dtn 1,5. Dies hat „Methode“
und ist nicht allein mit kompositionstechnischen Auslassungen von Kolophonen o-
der Überschriften zu erklären (s. im Folgenden).
33 S. dazu insbesondere J. Van Seters, In Search of History. Historiography in the An-
cient World and the Origins of Biblical History, New Haven / London 1983; ders.,
Der Jahwist als Historiker (ThSt 134), Zürich 1987.
34 S. dazu bspw. Van Seters, Jahwist (wie Anm. 33), 47-63.
35 A. Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabi-
le, Märchen, Witz (1930), Tübingen 61982.
118 Erhard Blum

gründet36; hier soll sie noch einmal mit Bezug auf die jeweilige Rolle
der „Autorenstimme“ in den Texten ausgeführt werden.

II

Bei den Griechen beginnt Prosaliteratur im 6. Jahrhundert v.Chr. Die


Verschriftung der Dichtung ging voraus, vor allem Homer und Hesiod.
In ungenauer Anlehnung an Thukydides werden die frühen Prosa-
schriftsteller mitunter als „Logographen“ (Geschichtenschreiber) be-
zeichnet; man rechnet dazu Autoren wie Hekataios von Milet, Akusila-
os von Argos, Pherekydes von Athen, Hellanikos von Lesbos,
Antiochos von Syrakus u.a., die das Überlieferungsmaterial der Epen
zur Welt der Götter und Heroen (Homer, Hesiod) bzw. lokalen Sagen-
stoff aus verschiedenen Regionen oder Städten zusammentragen und
systematisieren.37
Schon im ersten dieser „historiographischen“ Werke, den „Genea-
logien“ des Hekataios von Milet, ist die Autorenstimme gleich zu An-
fang laut zu vernehmen. Das glücklicherweise überlieferte Proömium
lautet:
Hekataios von Milet kündet so: „Dieses schreibe ich, wie es mir wahr zu
sein scheint. Denn die Geschichten der Griechen sind, wie sie sich mir dar-
stellen, vielerlei und lächerlich.“38

Hekataios39, der sich mit Namen und auktorialem Ich einführt, eröffnet
sein Werk sogleich mit einer metanarrativen Erklärung, in der er die
eigene Darstellung dem überkommenen Stoff der Überlieferung ge-

36 Zuletzt Blum, Historiographie (wie Anm. 8) mit Verweis auf ältere Publikationen.
Die wichtige Untersuchung von P. Machinist, The Voice of the Historian in the An-
cient Near Eastern and Mediterranean World, Interp. 57 (2003), 117–137, die mir bei
der Ausarbeitung des eben genannten Beitrags nicht bekannt war, weist in eine ganz
ähnliche Richtung. Für eine andere Sicht vgl. bspw. die Beiträge von J. Van Seters, In
Search (wie Anm. 33) oder B. Halpern, Biblical versus Greek Historiography: A
Comparison, in: Blum u.a. (Hgg.), Geschichtsbuch (wie Anm. 8), 101-127.
37 Die erhaltenen Text(fragment)e in F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Histo-
riker (FgrHist), Leiden 1957ff. Für kundige Darstellungen mag an dieser Stelle der
Hinweis auf K. von Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung I, Berlin 1967, und
W. Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Herodot
– Thukydides (stw 389), Frankfurt a.M. 1982, genügen.
38 FGrHist 1 F 1.
39 Zu Hekataios und seinem Kontext vgl. Schadewaldt, Anfänge (wie Anm. 37), 96ff.,
sowie H. Cancik, Mythische und historische Wahrheit. Interpretationen zu Texten
der hethitischen, biblischen und griechischen Historiographie (SBS 48), Stuttgart
1970, 39ff.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 119

genüberstellt. Dem in unbekümmerter Direktheit vorgetragenen


Wahrheitsanspruch des Proömiums korrespondieren denn auch „kriti-
sche“ Urteile des Autors über das tradierte Sagenmaterial im Werkkor-
pus. So heißt es in Fragment 19: „Aigyptos in eigener Person ist nicht
nach Argos gekommen, sondern seine Söhne, die sich auf fünfzig belie-
fen, wie Hesiod sagt, wie ich aber glaube, nicht einmal zwanzig“. Ein
anderes Beispiel: Der Höllenhund der Heraklessage wird bei Hekataios
zu einer giftigen Schlange im Tainarongebirge und er kommentiert
(F 27): „Ich glaube aber nicht, dass die Schlange so groß und ein solches
Ungetüm gewesen ist (wie die Sage behauptet), sondern nur schreckli-
cher als die anderen Schlangen und dass deshalb Eurystheus sie für
unüberwindlich gehalten hat.“40
Verglichen mit den alttestamentlichen Texten herrscht hier unver-
kennbar ein völlig anderer Ton. Im Alten Testament bleibt die Erzähler-
bzw. Autorenstimme erzählungsimmanent; gelegentlich vermittelt sie
applizierend, kommentierend, evaluierend oder beglaubigend zwi-
schen Stoff und Rezipienten. Dabei kann auch der zeitliche Abstand
markiert werden, aber es gibt keine Ansätze zu einer sachlichen Dis-
tanzierung. Nichts tritt zwischen Darstellung und Erzähler. Ein not-
wendiges Pendant zu dieser weitgehenden Verschmelzung von Dar-
stellung und Dargestelltem bildet denn auch die viel besprochene
„omniscience“, der „Olympian point of view“ der biblischen Erzähler.41
In der griechischen Prosaliteratur dagegen tritt die Autorenstimme
dominant in den Vordergrund. Sie ist nicht Dienerin der Tradition,
sondern deren Meister, und sie setzt sich zu ihr in eine argumentieren-
de Distanz.42 Auch der kritische Umgang mit Hesiod bildet hier kein
Einzelelement, vielmehr bleibt die agonale Lust an der kontroversen
Auseinandersetzung prägend für diese Art von Literatur. H. Cancik hat
diesen Grundzug zuletzt prägnant herausgearbeitet.43 So gehört zu den
Charakteristika dieser Literatur, dass Herodot ähnlich respektlos über
Hekataios urteilen wird wie dieser über Hesiod: „Ich muss lachen,
wenn ich so manche Leute Erdkarten zeichnen sehe, die doch die Ges-

40 Zum Ganzen s. von Fritz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 37), 71ff.


41 Diesem wichtigen Aspekt kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden;
vgl. dazu vor allem Sternberg, Poetics (wie Anm. 2), passim.
42 Machinist, Voice (wie Anm. 36), 118ff., spricht von dem „analytischen Ich“. Wenn er
dabei auch Epigramme des Archilochos einbezieht, wird der grundlegende Aspekt
der metasprachlichen Distanzierung der Prosaautoren von ihrem Gegenstand freilich
eher verdeckt. An kritischem Denken in politischen und theologischen Dingen fehlt
es auch in Israel wahrlich nicht (ebd. 136); der hier infrage stehende Umgang mit
Traditionstexten liegt aber kategorial wohl auf einer eigenen Ebene.
43 H. Cancik, Zur Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses bei den Griechen,
in: Blum u.a. (Hgg.), Geschichtsbuch (wie Anm. 8), 87-100.
120 Erhard Blum

talt der Erde gar nicht richtig zu erklären wissen“ (IV,36) – und er
meint damit gerade auch Hekataios.
Herodot selbst geht es in seinem Werk nicht mehr um die prosai-
sche Entfaltung der Heroenüberlieferung, sondern um eine umfassende
Darstellung der Perserkriege, d.h. seiner Zeitgeschichte:
Die Darstellung der Erkundung des Herodot von Halikarnassos ist dies,
damit weder das von Menschen Geschehene durch die Wirkung der Zeit
verblasse noch die großen und staunenswerten Werke, ob sie nun von Hel-
lenen oder Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde blieben; unter an-
derem geht es insbesondere darum, aus welcher Ursache/Schuld (įԼijտį) sie
miteinander Kriege führten.44

Im Sprachgestus deutlich maßvoller als Hekataios geht Herodot sach-


lich einen wesentlichen Schritt weiter als jener, insofern seine Verant-
wortung als Autor über die Darstellung hinaus auf das Material bezo-
gen wird, das er ausdrücklich der eigenen „Erkundung“ (ԽIJijȡȢտį)
zuschreibt. Herodots „Ich“ erscheint erst gegen Ende der Einleitung, in
der er zunächst diverse Logoi der Perser und Phönizier darüber er-
zählt, wer schuld sei am Trojanischen Krieg und damit am Konflikt
zwischen Hellenen und Barbaren, ohne übrigens die griechische Versi-
on auszuführen. Dies mündet dann mit I,5 in eine bezeichnende
Selbstpräsentation des Autors: „So erzählen die Perser und so die Phö-
nizier. Ich selber will nicht entscheiden, ob es so oder so gewesen ist.
Aber den Mann will ich nennen, von dem ich selber weiß, dass er es
war, der mit den Feindseligkeiten gegen die Hellenen den Anfang ge-
macht hat.“ – Herodot übernimmt hier und in seinem weiteren Werk
konsequent die Rolle des verantwortlichen Autors, der zwischen bloß
gehörten Logoi und dem in eigener Erkundung und Anschauung Er-
mittelten wohl zu unterscheiden weiß (s. auch II, 99), sich aber vor al-
lem als neutraler Vermittler dessen, was er in Erfahrung gebracht hat,
versteht (VII, 152).
Was impliziert nun diese unterschiedliche Autorenrolle und wie
sind Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den frühen Formen
einer antiken Geschichtsschreibung und den althebräischen Traditio-
nen genauer zu bestimmen? Ist man geneigt, beide Phänomene auf-
grund der materialen und (teilweise) formalen Gemeinsamkeiten mög-
lichst nahe zusammenzurücken, gleichsam als zeitlich und sachliche
Parallelentwicklungen in verschiedenen Kulturräumen, dann könnte
man die unterschiedliche textimmanente Rolle des Autors so deuten
wollen, dass in den alttestamentlichen Werken die Sichtung des Mate-
rials und die kritische Auswahl jeweils als vorlaufender Prozess vor-

44 Übersetzt in Anlehnung an Schadewaldt, Anfänge (wie Anm. 37), 113.


Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 121

auszusetzen sei, während sich eben dieser Prozess in den ionischen


Werken teilweise noch spiegele. An neuzeitlichen Maßstäben gemessen
kann man zudem durchaus diskutieren, ob die Rationalität eines Heka-
taios und sogar die Plausibilitätskriterien Herodots denen der bibli-
schen Autoren in jedem Falle historisch überlegen sind. Aus einer sol-
chen Perspektive heraus wäre die zurückhaltende Erzählerrolle
alttestamentlicher Tradenten dann eventuell als Ausdruck einer größe-
ren darstellerischen Abgeklärtheit aufzufassen. – Dergleichen Versuche
wären jedoch zu kurz gegriffen. Die besagte Differenz lässt sich nicht
auf die graduelle Abstufung einer mehr oder weniger aktiven Autoren-
rolle reduzieren, sondern ist m.E. geradezu kategorial.
Fundamental für die alttestamentliche Überlieferung ist zunächst
das Fehlen der elementarsten Voraussetzung für diskursiv-argumen-
tierende Interventionen des Autors, nämlich ein seinem Werk als Sub-
jekt gegenüberstehendes „Ich“. Die alttestamentliche Prosa ist anonym.
An diesem Befund ändern auch zwei scheinbare Ausnahmen nichts
grundsätzlich, nämlich die Ich-Erzählungen (dazu im Folgenden!) und
die gelegentliche Verbindung einer Buchniederschrift mit einer be-
stimmten Person. Das bei weitem wichtigste Beispiel für Letzteres bil-
det die Einführung Moses als Schreiber des deuteronomischen Torabu-
ches im Schlussteil des Deuteronomiums (Kap. 31):
V. 9: Mose schrieb diese Tora auf und gab sie den Priestern, den Nach-
kommen Levis, die die Lade des Bundes (berit) JHWHs trugen, und allen
Ältesten Israels. (10) Und er befahl ihnen: „Nach sieben Jahren ... am Laub-
hüttenfest (11) ... sollst du diese Tora vor ganz Israel vorlesen, (12) ... damit
sie sie hören und damit sie sie lernen ... und darauf achten, alle Worte die-
ser Tora zu tun.“

Liest man diese Notiz im Kontext weiterer autoreferentieller Aussagen,


der Einleitung des Buches in Dtn 1,5:
Jenseits des Jordan im Lande Moabs begann Mose, diese Tora klar darzu-
legen ...

und der Bestimmung des Königsgesetzes in Dtn 17,18-19:


Wenn er auf seinem Königsthron sitzt, soll er sich eine Abschrift dieser To-
ra in einem Buch schreiben nach der Vorlage bei den levitischen Priestern
... damit er lerne ... darauf zu achten, alle Worte dieser Tora ... zu tun ...,

dann wird offensichtlich, dass es hier um eine Selbstthematisierung des


Deuteronomiums als Tora-Buch geht. Nun ist aber der größte Teil des
Deuteronomiums zugleich als Abschiedsrede(n) Moses an seinem letz-
ten Lebenstag gestaltet, eine Rede, die mit einer rekapitulierenden Er-
zählung des Weges Israels vom Gottesberg bis in das Gebiet jenseits
122 Erhard Blum

des Jordans und mit weiteren heilsgeschichtlichen Reminiszenzen ein-


setzt.45 Vordergründig scheint damit Vieles auf eine explizite Auto-
ren/Erzählerrolle des Mose zu deuten. Dem steht jedoch entgegen, dass
die gesamte mit Dtn 1,5 eingeleitete Moserede ihrerseits in eine Narra-
tion eingebettet ist, zu der auch der Bericht der Niederschrift durch
Mose gehört. Mose erzählt mithin als Figur der Handlung seine eigene
(und des Volkes) Geschichte (analog zu Odysseus in Gesang IX-XII der
Odyssee).46 Die Erzählerstimme der rahmenden Narration hingegen ist
nicht die des Mose, sondern sie bleibt – wie zu erwarten – anonym.47
Unverkennbar bleibt dabei freilich eine elementare Inkohärenz, die
darin besteht, dass die von Mose niedergeschriebene Tora textimma-
nent nicht von dem Buch des anonymen Erzählers (mit dem Bericht
dieser Niederschrift) unterschieden wird.48 In der Konsequenz kann
dann auf dieses Buch nicht nur als „dieses Torabuch“ (so gleich in
Jos 1,8), sondern auch als „Tora(buch) Moses“ (Jos 23,6; 1.Kön 2,3;
2. Kön 14,6; 23,25 etc.) referiert werden. Es ist damit in seiner Triftigkeit
und Geltung uneingeschränkt durch die Autorität des Mose verbürgt,
ohne dass Mose textintern an irgendeiner Stelle als Autor dem Gesamt-
text gegenübersteht und in dieser Rolle (implizit oder explizit) den
Buchadressaten gegenübertritt.
Die Beziehungen zwischen Autor und/oder Rezipienten auf der ei-
nen Seite und dem Text auf der anderen Seite bilden die Grundkonsti-
tuenten seiner Pragmatik. Auf dieser Ebene – nicht in der Textsemantik
– liegt also eine grundlegende Differenz zwischen den israelitischen
und den griechischen Prosawerken. Nur in letzteren präsentiert sich
der Verfasser als Subjekt, das in einer urteilenden Distanz zu seinem
Gegenstand steht und damit zugleich Verantwortung für seine eigene
Darstellung übernimmt. In textpragmatischer Hinsicht korrespondie-
ren dieser gegenüber dem Gegenstand distanzierten Autorenrolle nun
bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten bzw. bestimmte Lesererwartun-
gen. Dazu gehört die grundsätzliche Möglichkeit, den Autor mit seinen
Ansprüchen beim Wort zu nehmen, ebenso die Erwartung der Nach-

45 S. dazu zuletzt die Untersuchungen von C. Hardmeier „zur erinnerungskulturellen


Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora“, wieder abgedruckt in ders., Erzähl-
diskurs und Redepragmatik im Alten Testament (FAT 46), Tübingen 2005, 95ff.
46 In der Begrifflichkeit von G. Genette fungiert Mose als intradiegetischer Erzähler,
der homodiegetisch erzählt.
47 Bezieht man die oben vorgestellten Erläuterungen des anonymen Autors in Kap. 2
und 3 ein, dann ist für ihn zudem eine beträchtliche geschichtliche Distanz des Er-
zählers/Autors gegenüber der Mosezeit angezeigt.
48 Anders J.-P. Sonnet, The Book within the Book. Writing in Deuteronomy (Biblical
Interpretation Series 14), Leiden u.a. 1997, 257f. u.ö.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 123

prüfbarkeit, der Nachweisbarkeit etc. Eben in dieser Konstellation von


Anspruch und Erwartung konstituiert sich nichts weniger als die uns
so selbstverständliche Kategorie der ‚Historizität’!
Als ein Aspekt der Textpragmatik besteht diese Konstellation im
übrigen unabhängig davon, ob oder inwieweit solche auktorialen An-
sprüche im Einzelfall sachlich gedeckt sind (dazu sind auch bei Hero-
dot nicht selten Zweifel angebracht) oder ob die historischen Aussagen
in einem kontrollierten Procedere gewonnen wurden etc.49
Wie verhält es sich demgegenüber in dem Paradigma der bibli-
schen Erzählungen? Der kurze Überblick über die verschiedenen Ty-
pen der intervenierenden Erzählerstimme hat gezeigt, dass der Autor
sich ohne weiteres diskursiv unmittelbar an die Rezipienten richten
kann; ebenso deutlich ist aber, dass dabei die Möglichkeit einer ande-
ren Darstellung oder auch die Vorinstanz einer auktorialen Urteils-
bildung nicht in den Blick genommen werden. Insofern bleibt also der
Autor selbst bei solchen Kommentierungen letztlich der Darstellung
immanent. Zugleich impliziert dieses Zurücktreten des Autors hinter
bzw. in seinen Text einen gleichsam selbstverständlichen Geltungsan-
spruch der Erzählung, insofern sie sich eben nicht über das ‚vorge-
schaltete’ urteilende Subjekt des Erzählers vermittelt präsentiert. Dies
bedeutet, dass sich die Frage der Geltung für die Rezipienten nicht
mit dem Erzähler als Autor verbindet, sondern mit der Verlässlichkeit
der Überlieferung. In Kulturen, in denen Tradition primär im mündli-
chen Vortrag (sei es nur mündlich existierender, sei es schriftlicher
Texte) vermittelt wird, ist zudem die Gestalt des Erzählers immer
„real“ präsent, doch eben nicht eigentlich als Autor, sondern als „Tra-
dent“, der selbst Teil der Überlieferung ist und diese kraft seiner Per-
son, seines Standes und/oder seines Amtes zu autorisieren vermag
(siehe auch u. III.).
Exakt aus diesem Grunde fallen denn auch die wenigen nicht-
anonymen biblischen Erzähltexte, prophetische Ich-Berichte (z.B. Jes
*6–8) und die sog. Nehemia-Denkschrift, nicht aus dem beschriebenen
Paradigma heraus; schließlich ist die Darstellungsimmanenz des Erzäh-
ler in diesen Fällen geradezu idealiter gegeben, insofern er als Akteur
sogar Teil der Handlung, nicht nur des Textes ist. – Orientiert man sich
an dieser Analogie der Ich-Erzählungen, liegt die Bedeutung der israe-
litischen (und anderer) Ursprungserzählungen also darin, dass die
Erzählgemeinschaft hier „von sich selbst“ erzählt und sich dabei in
kollektiver „Anamnese“ selbst definiert.

49 ‚Historizität’ entsteht hier gleichsam als (implizite) regulative Idee.


124 Erhard Blum

Zusammengefasst: Unbeschadet aller materialen Entsprechungen


weisen die israelitischen und die frühen griechischen Prosawerke
grundlegend verschiedene pragmatische Strukturen auf. Sie repräsen-
tieren verschiedene Kommunikationsformen!
Wie sind diese grundlegenden kulturgeschichtlichen Differenzen
zu erklären? Aus unserer neuzeitlichen Perspektive, in der die Kom-
munikationsform wissenschaftlicher Historiographie zu einer schieren
Selbstverständlichkeit geworden ist, mag der skizzierte Umgang mit
Geschichte im alten Israel wie ein Sonderfall erscheinen. Tatsächlich
verhält es sich umgekehrt. Die alttestamentliche Prosaüberlieferung
repräsentiert den „Regelfall“ traditionalen Erzählens, wie es in der Exe-
gese üblicherweise unter dem Vorzeichen der Gattung „Sage“ themati-
siert wird. Dagegen ist es in erster Linie die kulturgeschichtliche Son-
derentwicklung des ionischen Paradigmas, die der historischen
Erklärung bedarf.

III

Historische Theorien über die Genese der spezifischen Wahrneh-


mungs-, Denk- und Kommunikationsformen bei den Griechen liegen
außerhalb alttestamentlicher Fachkompetenz. Immerhin mag von die-
ser Seite die Erinnerung daran nützlich sein, dass manche der in die-
sem Zusammenhang diskutierten Entwicklungen und Faktoren nicht
ohne Parallelen im Bereich des Alten Orients und der Levante sind.50
Dies gilt insbesondere für einen historischen Prozess, den W. Rösler
hierfür in Anschlag gebracht hat: Er sieht in den Anfängen der histo-
riographischen Literatur und den darin sich zeigenden „Einstellun-
gen“, in „dem Bestreben, Zeugnisse und Befunde zu sichern, auszu-
werten und zu tradieren, und der Bereitschaft, sich mit anderen
Positionen, Vorgehensweisen, Wertungen kritisch auseinanderzuset-
zen“51, primär ein „Folgeprodukt der Schrift“52, also einer sich relativ
breit durchsetzenden Literalität. So plausibel Röslers Überlegungen im
Anschluss an die bekannten Untersuchungen von J. Goody u.a. zu ora-

50 So liegt für die gern und gewiss mit Recht hervorgehobene Bedeutung der griechi-
schen Kolonisation des Mittelmeerraumes und des Fernhandeln mit damit verbun-
denen Erfahrungen anderer Kulturen und „Selbstverständlichkeiten“ selbstver-
ständlich der Blick auf die Phönizier mit ihrer in mancher Hinsicht vergleichbaren
ökonomischen und kulturellen Entwicklung nahe.
51 W. Rösler, Alte und neue Mündlichkeit. Über kulturellen Wandel im antiken Grie-
chenland und heute, Der altsprachliche Unterricht 28 (1985), 4-26, hier 22.
52 Ebd. 23.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 125

len Kulturen auch erscheinen, so sehr gibt doch zu denken, dass im


Alten Orient, darunter im alten Israel, nicht nur der Gebrauch der (Al-
phabet-)Schrift, sondern auch die schulmäßige Pflege literarischer Tra-
ditionen deutlich älter sind als bei den Griechen,53 ohne aber die für
diese spezifischen kulturellen Entwicklungen zu zeitigen.
Eben dieser unstrittige, weil triviale Befund impliziert nun freilich
im Blick auf die Geschichte Israels einen korrespondierenden Klä-
rungsbedarf zur Frage, wie es auf Seiten Israels zu einer Literaturbil-
dung kommen konnte, die weit über die mündliche Sagenerzählung
hinausging, ohne ein Autorenmodell auszubilden, und die statt dessen
in einen religiösen Kanon mündete.
Für diese Frage empfiehlt es sich, noch einmal bei der Verantwor-
tung des Autors für seinen Text anzusetzen. In der griechischen Histo-
riographie ist diese Verantwortung nicht nur mit der Einführung des
Verfassernamens angezeigt, sondern, wie das Beispiel Herodots belegt,
auch durch autoreferentielle Äußerungen im Textcorpus. Aber auch
beim traditionalen Erzählen kann der Aspekt der Verlässlichkeit des
Erzählten nicht einfach suspendiert werden, jedenfalls wenn die Erzäh-
lung nicht primär der Unterhaltung dient (wie bei Märchen), sondern
die Identität und Lebensgestaltung der Adressaten betrifft. Bedenkt
man freilich das primäre Medium traditionaler Narration, den mündli-
chen Vortrag, so braucht sich der Erzähler hier schlicht deshalb nicht in
seinem Text vorzustellen, weil er leibhaftig präsent ist. Er kann mithin
– im wörtlichen Sinne – für die Verlässlichkeit seiner Geschichte „ein-
stehen“, und dies mit seiner personalen Präsenz in der Regel wohl wir-
kungsvoller als ein zumeist nur vermittelt oder auch gar nicht erreich-
barer Buchautor. Selbstverständlich können Geschichtenerzähler zur
Beglaubigung gegebenenfalls auch auf ‚Gewährsleute’ rekurrieren,
doch bleibt selbst dann ein kategorialer Unterschied zu einem Histori-
ker wie Herodot gewahrt: Sagenerzähler teilen nicht das Ergebnis ihrer
Erkundungen mit, sondern sie fungieren ihrem eigenen Anspruch nach
als Tradenten, die überkommenen Wissensstoff weitergeben. Die Trif-
tigkeit und Geltung dieser Überlieferungen können dann an der perso-
nalen und/oder funktionalen Glaubwürdigkeit der Erzähler oder an
einem institutionellen, z.B. kultischen, Erzählkontext hängen oder dank
der Identifikation der Hörer mit einer bestimmten Erzählgemeinschaft
schlicht gegeben sein. Werden solche Erzählüberlieferungen verschrif-

53 Wegen der geringen Haltbarkeit linear geschriebener Texte des 1. Jtd.s v.Chr. in
Alphabetschrift bildet die im Alten Testament überlieferte Literatur nach wie vor
das umfangreichste Korpus. Für die Frühzeit ist nun aber auch auf die literarischen
Texte der Wandinschriften vom Tell Deir ‘Alla (im östlichen Jordangraben; vermut-
lich ausgehendes 9. Jh. v.Chr.) zu verweisen.
126 Erhard Blum

tet, dann erweitert dies die Möglichkeiten der narrativen Gestaltung. Es


verändert aber nicht die grundsätzliche kommunikative Konstellation,
sofern solche Texte weiterhin mündlich, eventuell in vergleichbaren
institutionellen Kontexten vorgetragen wurden: die Situation der per-
sonal vermittelten Tradition bleibt unverändert.
Aus anderer Perspektive kann man auch sagen: die Anonymität
von religiös und lebensweltlich bedeutsamer Traditionsliteratur ent-
spricht deren innerer kommunikativer Logik; dazu fügt sich ja auch
wohl der Befund im ganzen Alten Orient, einschließlich eines Großteils
der mythologischen Epik.54 Umso mehr fällt auf, dass bei den Griechen
auch schon die epische Tradition sich von dem dominierenden altorien-
talischen Muster abhebt. Damit könnte sich nun tatsächlich eine signi-
fikante Spur unterschiedlicher Entwicklungslinien auftun:
Die epische Dichtung über die griechische Götter- und Heroenge-
schichte firmiert unter wohlbekannten Autorennamen: Homer und
Hesiod. Mehr noch, das textimmanente Ich dieser Sänger reklamiert
einen Wahrheitsanspruch, der sich nicht auf Tradition, sondern auf
göttliche Inspiration beruft.55 Besonders eindrücklich ist hierzu die

54 Die zahlreichen Kolophone der (mesopotamischen) Keilschriftliteratur nennen in der


Regel die Schreiber bzw. Eigentümer, nur selten Verfasser; vgl. W.G. Lambert, An-
cestors, Authors, and Canonicity, JCS 11 (1957), 1-14; H. Unger, Babylonische und
assyrische Kolophone (AOAT 2), Kevelaer / Neukirchen-Vluyn 1968, 8f. Eine häufig
zitierte Ausnahme bildet die namentliche Zuschreibung des Erra-Epos (s. nächste
Anm.). Ob der in KTU 1.6 VI 54-58 (u.ö.) genannte ugaritische Beamten Ilimalku
auch so etwas wie Verfasserschaft beansprucht, geht aus den Kolophonen nicht her-
vor. Ein Kolophon Assurbanipals (Unger, ebd. Nr. 318): „Assurbanipal, der große
König, der starke König, der König des Alls, der König des Landes Assur, der Sohn
des Asarhaddon, des Königs des Landes Assur, des Sohnes des Sanherib, des Königs
des Landes Assur. Nach dem Wortlaut von Ton- und Holztafeln, Exemplaren des
Landes Assur, des Landes Sumer und Akkad, habe ich diese Tafel in der Versamm-
lung der Gelehrten geschrieben, geprüft und kollationiert und zum Lesen für meine
Majestät innerhalb meines Palastes aufgestellt. Wer meine Inschrift auslöscht und
seinen Namen hineinschreibt, dessen Namen möge Nabû, der Schreiber des Alls,
auslöschen!“, wird von Machinist, Voice (wie Anm. 36), 128, folgendermaßen kom-
mentiert: „Implied here, but not clarified, is the possibility that the copying involved
making a choice among competing textual variants in the models.“ Auch wenn man
den vorsichtig erwogenen „textkritischen“ Umgang mit Textvorlagen (vgl. dazu
auch Unger, ebd., Nr. 164, 163 und viele ähnliche mehr) einmal unterstellt, ist von da
noch kein direkter oder indirekter Weg zum Konzept einer kritisch-verantwortlichen
Autorschaft zu denken.
55 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Kolophon des akkadischen Erra-Epos
(IV, 42ff.), das als Verfasser einen Kabti-Ilani-Marduk nennt, dem das Lied in der
Nacht offenbart worden sei (vgl. ähnlich Unger, Kolophone [wie Anm. 54] Nr. 290!).
Die darauf folgenden metatextuellen(!) Empfehlungen zur apotropäischen Pragma-
tik der Schrifttafeln dieses Epos durch den Gott Erra selbst unterstreichen noch den
göttlichen Ursprung des Textes.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 127

Berufung Hesiods zum Sänger durch die Musen zu Beginn seiner The-
ogonie (Verse 22-35); einschlägig sind aber auch die Musenanrufungen
bei Homer.
Bedenkt man, dass ein Autor wie Hekataios seinen Wahrheitsan-
spruch nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit diesen „kanonischen“
Sängern behaupten muss, dann liegt es nahe, im Anschluss an W. Rös-
ler56 das autonom-auktoriale Ich der Logographen und Historiogra-
phen als eine Transformation des inspirierten Ichs der Epiker zu ver-
stehen. Die frühen Prosaschriftsteller gründen ihren eigenständigen
Umgang mit dem überkommenen Stoff der Sänger und der Sagen nicht
mehr auf göttliche Berufung; an deren Stelle tritt das auktoriale Urteil,
das seinerseits dem kontroversen literarischen Diskurs ausgesetzt
bleibt.
Für eine analoge Transformation fehlt im alten Israel die entschei-
dende Voraussetzung: das Ich des be-geisterten Sängers/Dichters. Zwar
kennen wir auch hier ein in göttlicher Autorität sprechendes Ich, aber
ausschließlich bei den Propheten, und diese erzählen keine Ursprungs-
geschichte, sondern sie reden diskursiv von Gegenwart und Zukunft.
Episch „erzählende“ Dichtung mag es auch in Israel gegeben haben;
sicher zu belegen ist es nicht. Einzelne überlieferte Lieder oder Sprüche
werden gern entweder anonymen „Schriften“ zugeschrieben57 oder –
sekundär – prophetischen Gestalten58. Namentlich gerühmte Poeten,
neben/an denen sich Prosaschriftsteller hätten profilieren können, gab
es jedenfalls nicht.
In diesem Sinne bestätigt sich also die traditionale Erzählung als
das Paradigma, das die Pragmatik und Darstellungsweise auch der
großen schriftlichen Werke in Israel entscheidend prägt.
Kunstvolle Einzelsagen, Erzählungszyklen oder auch novellistische
Großerzählungen reichen aber als ‚Bauelemente’ für ein literarisches
Werk wie das „deuteronomistische Geschichtswerk“ nicht hin. Andere
Gattungen, auf welche die Autoren solcher Werke zurückgreifen konn-
ten, waren vermutlich schulmäßiger, in Listen zusammengestellter
Wissensstoff und bei Hof geführte Annalen. Letztere lieferten nicht nur
das Grundgerüst für die Darstellung der Königszeit, sondern implizie-
ren auch die Organisation großer zeitlicher Horizonte mit Hilfe der
Chronologie. Auch diese über Generationen geführten Chroniken wa-
ren ihrer inneren Logik nach aber anonym (unbeschadet dessen, dass in

56 W. Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), 283-319.
57 Vgl. Nu 21,14f.(17f.27-30); Jos 10,(12-)13aß (>LXXBA); 2Sam 1,18(-27).
58 Vgl. Ex 15 (Lied Moses und Mirjams); Ri 5 (Debora).
128 Erhard Blum

ihnen unter anderem auktorial stilisierte Königsinschriften verarbeitet


sein mögen).
Damit sind die Hauptingredienzien für die Herausbildung der isra-
elitischen Geschichtswerke schon benannt. Am Anfang der literari-
schen Prosaüberlieferung standen – anders als in Ionien (und anders als
im altorientalischen Kontext?) – verschriftete Erzählzyklen bzw. Groß-
erzählungen. Als eine solche ist im Alten Testament noch die Jakober-
zählung der Genesis erkennbar, die als Ursprungsgeschichte des Nord-
reiches wahrscheinlich in der Gründerzeit von Nord-Israel formuliert
und im Staatsheiligtum zu Bethel tradiert wurde. Auch die Erzählung
vom Sturz der Omridynastie durch den Begründer der Jehudynastie
würde ich dazu rechnen. In Juda dürften Abrahamüberlieferungen und
die ältesten Saul- und Davidzyklen am Anfang gestanden haben.
Die Zusammenstellung weitergreifender Werke begann in Israel –
ebenso wie bei den Griechen – nicht mit „Neuerer Geschichte“, sondern
mit Kompositionen zur Ursprungsgeschichte. Dazu rechne ich eine
wohl im Juda des 7. Jh.s, also nach dem politischen Untergang des
Nordreiches, entstandene Mose-Exodus-Geschichte, welche die nordis-
raelitischen Exodustraditionen literarisch rezipiert, sie aber polemisch
gegen den untergegangenen Staatskult des Nordens wendet und damit
zugleich die Identität des Südreiches Juda partiell neu definiert. Paral-
lel dazu bzw. bald danach haben radikalere „Reformer“ das deutero-
nomische Programm entwickelt, das dann die konzeptionelle Grundla-
ge für das erste bis an die Gegenwart des Autors reichende Geschichts-
werk wurde. Dieses Werk hat den politischen Untergang nun auch des
Südreiches Juda zur Voraussetzung. Es beginnt mit einer neuformulier-
ten „Verfassung“, der Mose-Tora im Deuteronomium, und endet mit
der Zerstörung Jerusalems und der Exilierung von Königshaus und
Angehörigen der gesellschaftlichen Elite Judas. In diesem Werk wird
nun auch erstmals höfisches Annalenmaterial integriert. Es bildet das
Rückgrat für die Darstellung der Königszeit, die mit Hilfe theologisch-
programmatischer Elemente als eine in der Tendenz abfallende Linie
kultischer Reformen und Gegenreformen profiliert werden konnte. Am
Ende dieser Dynamik stand unabweisbar zunächst das politische Ende
des Nordreiches, sodann des Südreiches.
Mit seiner epochenübergreifenden Geschichtsdarstellung bildete
dieses exilische Geschichtswerk etwas Neues, jedenfalls nach Maßstä-
ben des Alten Orients. Das leitende Interesse war allerdings nicht ein
schriftstellerisch-systematisierendes, sondern ein geschichtstheologi-
sches. Letztlich geht es um die Frage einer Zukunft für Juda/Israel als
Volk JHWHs.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 129

Die Erfahrung der Katastrophen von Israel und Juda nötigten also
zur geschichtlichen Zusammenschau. Aber die wesentlichen literari-
schen Ingredienzien waren schon vorgegeben: reiche literarische Er-
zähltraditionen auf der einen Seite und die eher berichtenden Annalen
der Hofschreiber auf der anderen Seite, aber auch die konzeptionelle
Verbindung verschiedener „Zeiten“ in einem geschichtlichen Konti-
nuum.
In seiner Grundfassung dürfte das deuteronomistische Geschichts-
werk von einem einzelnen Autor verfasst worden sein. Dennoch tritt
dieser Autor nahezu völlig hinter seine Darstellung zurück – nicht an-
ders als in den lebendigen, von ihm teilweise eingearbeiteten Erzäh-
lungen. Auch sein Geschichtswerk ist in diesem Sinne keine Ge-
schichtsschreibung, sondern Traditionsliteratur, in der Rückschau
könnte man auch sagen: proto-kanonische Literatur.
130 Erhard Blum

Abstract

The article asks about the presence of the narrator’s voice in Old Tes-
tament narrative texts and its significance for the way in which the
authors deal with their stories and “the” history. The anonymity of
traditional literature of religious and secular significance is understood
as a norm of traditional narration, usually referred to in biblical studies
as “legend”.
Accordingly, the first part discusses the fundamental possibilities
and functions of the narrator’s voice in Old Testament texts, especially
by posing the question as to whether and in what way this voice can
stand out from the “actual” narration. In a second step, a contrastive
comparison is made between these findings and the explicit role of the
author as used by the early Greek prose writers, who are linked to the
beginnings of a “critical” historiography. Final considerations ask
about specific conditions for the rich historical tradition of the Old Tes-
tament, which is neither comparable with the Greek historiography nor
does it (as yet) have any significant parallels in the Ancient Near East.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in
den Samuelbüchern (1Samuel 31, 2Samuel 1; 11; 18)

Klaus-Peter Adam

In der Anonymität des Verfassers der biblischen Erzählüberlieferung


sieht man häufig einen signifikanten Unterschied zur griechischen Ge-
schichtsschreibung des fünften Jh. Diese erwähnt namentliche Verfas-
ser, die für die von ihnen gesammelten Erkundungen verantwortlich
zeichnen.1 Die biblische Geschichtsschreibung kennt diese Form seit
der Mitte des fünften Jh. beschränkt sie jedoch auf Autobiographien.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Historiographie in beiden Kul-
turen wird darin gesehen, dass die in Stadtstaaten mit jeweils eigenen
kulturellen Identitäten und auch subregional untergliederte griechische
Gesellschaft des fünften Jh. einen Diskurs um die Geschichtsschreibung
führte, der in der Auseinandersetzung um die Verfasser und die Dar-
stellung entsprechender Werke greifbar wird und an dem diese sich
beteiligten.2 Öffentliche, mit den Namen von Zeitgenossen verbundene

1 Vgl. E. Blum, Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thron-
folgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. de Pury /
T. Römer (Hgg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids: Neue Einsichten und
Anfragen (OBO 176), Göttingen / Fribourg 2000, 4-37, hier 8-9 und ders., Historio-
graphie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in:
E. Blum / W. Johnstone / C. Markschies (Hgg.), Das Alte Testament – ein Geschichts-
buch?, Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne”
anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971) Heidelberg, 18.–21.
Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65-86, bes. 70-75, sowie in diesem Band 119-
126. Vgl. zum Autorenkonzept der griechischen Historiographen H.-U. Wiemer,
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit, in diesem Band, 49-89, bes.
62-65.
2 Herodot bezweifelt den Wahrheitsgehalt mancher ihm übermittelter Erzählungen,
Thukydides kritisiert seinen Vorgänger und platziert an prominenter Stelle pro-
grammatische methodische Reflexionen. Vgl. zum „Methodenkapitel“, sowie zur
„Archäologie“ O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von
Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 75-77, 97-102. Zum Vergleich mit der bibli-
schen Geschichtsschreibung siehe u. a. B. Halpern, Biblical versus Greek Histori-
ography. A Comparison, in Blum / Johnstone / Markschies (Hgg.), Das Alte Testa-
ment (wie Anm. 1), 101-127, 119.
132 Klaus-Peter Adam

Reflexionen der Geschichtsschreibung und explizite Kritik an Darstel-


lung und Bedeutung der Ereignisse bis in epistemologische Fragen
hinein, fehlen in den biblischen Zeugnissen aus dem (spät-) eisenzeitli-
chen Juda.3 Konnte ein griechischer Historiker eine ausgewogene Hal-
tung gegenüber Konfliktparteien einnehmen, prägt die biblische Ge-
schichtsschreibung durchgängig eine judäische Partikularperspektive.4
Die spezifische Form von Erzähltexten mit eingestreuten Notizen und
ihre Tradierung in prophetischen bzw. priesterlichen religiösen Kreisen
stellt eine weitere Besonderheit dar. Über die Feststellung dieser Unter-
schiede geraten Ähnlichkeiten zwischen beiden Geschichtsdarstellun-
gen in Aufbau und Form in den Hintergrund. Ihnen gehen die folgen-
den Ausführungen nach.5 Sie betrachten Stil, Darstellungstechnik und
formale Ähnlichkeiten der Überlieferung zum frühen Königtum (auch
jenseits der literarischen Grenzen einer Thronfolgegeschichte in
2Sam 6, 20-33; 9-20; 1Kön 1-2) mit dem griechischen Drama und rekon-
struieren anhand von Figurendarstellung und Handlungsablauf den
Umgang mit der Vergangenheit. Auf der Grundlage einer narrativen
Hermeneutik reflektieren sie die Frage nach den Quellen für die frühe
Königszeit; zunächst exemplarisch anhand eines Blickes auf 1Sam 11.

Stil und Darstellungstechnik


Stil und Darstellungstechnik der sogenannten Thronfolgegeschichte
hob bereits L. Rost hervor, an den hier angeknüpft werden kann. Die
Erzählung ist in bilderreicher Sprache verfasst, schmückt einzelne
Handlungsfäden durch Details aus, so dass sie sich in epischer Breite
darstellt, zerdehnt die Handlung in mehrere Szenen und bietet sie in
Inklusionen (a – b – a) und Wiederaufgriffen dar, verwendet häufig

3 Dieser Unterschied im Umgang mit schriftlichen Zeugnissen der Vergangenheit


zeigt sich besonders in der älteren biblischen Geschichtsschreibung, etwa in den
„Rahmenformulierungen“ der Königebücher. Vgl. zur Rekonstruktion dieser Quelle
A. Jepsen, Die Quellen des Königsbuches, Halle 1953 (21956) sowie zur kontinuierli-
chen Redaktion A. Lemaire, Vers l’histoire de la rédaction des livres des Rois, ZAW
98 (1986) 221-236 ; vgl. auch B. Halpern / D. Vanderhooft, The Editions of Kings in
the 7th-6th Centuries B.C.E., HUCA 62 (1991), 179-244.
4 Darin entspricht sie vielen Zeugnissen herrschaftsgebundener altorientalischer
Geschichtsschreibung. Allerdings finden sich auch dort Dokumente mit einer ausge-
glichenen Sicht auf zwei Staaten. Die neubabylonische Chronik beschreibt Babylon
von Nabu-nazir bis Šamaš-šuma-ukin (745–668 v. Chr.) und nennt assyrische Usur-
pationen ebenso wie Zeiten der Autonomie, Babylonian Chronicle 1, vgl. A.K. Gray-
son, Assyrian and Babylonian Chronicles, Locust Valley NY, 1975, bes. 11; Text
70-87.
5 Ein umfassender motivlicher oder materialer Vergleich beider Kulturbereiche kann
hier nicht geleistet werden.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 133

Botenberichte und schafft eine Folge szenischer Einzelbilder.6 Ein ge-


meinsames Strukturmerkmal griechischer und biblischer Historiogra-
phie ist die Verknüpfung kompositorischer Einheiten zu einer Abfolge
durch lockere Verbindungen wie „nach diesen Dingen ...“. Motivwie-
derholungen prägen die Darstellungen ebenso wie Genealogien als
inneres Strukturmerkmal.7
Gegenüber den Unterschieden zwischen anonymer biblischer und
auktorialer griechischer Geschichtswerke des 5. Jh. entsprechen sich die
Formen der Beschäftigung mit der kollektiven Vergangenheit in bibli-
scher Geschichtsschreibung und im griechischen Drama. Die literari-
sche Ausgestaltung einer (Vor-)Geschichte als Form der Geschichtsre-
flexion ohne Nennung des Autors entspricht dem Charakter der
Erzählungen der Samuelbücher. Ein formaler Bezug der Thronfolgege-
schichte zu Bühnenstücken wird in der Ein- und Ausleitung der Figu-
ren8 und im überwiegenden Anteil direkter Rede deutlich. Ein Aufgruff
dramatischer Darstellungsformen legt sich auch aus kompositionellen
Gründen nahe: Im Anschluss an die anonyme Überlieferungsform der
älteren Geschichtsschreibung der Königebücher konnte die Darstel-
lungsform des Dramas ohne Erzähleräußerungen9 den antiken Autoren
als ideale Ergänzung erscheinen.
Sowohl die Tragödie als auch die narrative biblische Geschichts-
schreibung kennzeichnet die perspektivische Partikularität und die
aktuelle Applikation einer Überlieferung der Vorvergangenheit. Der
Identifikation der biblischen Geschichtsschreiber mit ihren Rezipien-
ten10 entspricht eine Form der Parteilichkeit in der Beschäftigung mit
der Vergangenheit, besonders jenseits der klassischen Geschichts-
schreibung in Athen,11 wie sie sich in der Ausgestaltung mythischer

6 Vgl. L. Rost, Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (BWANT 6), Stutt-
gart 1926, 111-119.
7 Vgl. J. van Seters, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the
Origins of Biblical History, New Haven / London 1983, 8-54; idem, Der Jahwist als
Historiker (ThSt 134), Zürich 1987; ders., Prologue to History: The Yahwist as Histo-
rian in Genesis, Louisville/KY, 1992, 79-103; ders., Is there any Historiography in the
Hebrew Bible? A Hebrew-Greek Comparison, JNSL 28 (2002) 1-25, vgl. auch Hal-
pern, Historiography (wie Anm. 2), 124.
8 Vgl. hierzu bereits Rost, Thronnachfolge (wie Anm. 6), 124.
9 Vgl. die Diskussion um die drei auch literarisch aus dem Kontext der Erzählung
herausragenden „Deutestellen“ der Thronfolgeerzählung bei von Rad, Der Anfang
der Geschichtsschreibung im alten Israel, Archiv für Kulturgeschichte 32 (1944) 1-42
= ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 8) 148-188, bes. 182-187 zu
2Sam 11,27; 12,24; 17,14.
10 Die deuteronomistische wie die chronistische Geschichtsschreibung entspringen
partikular-judäischer Perspektive.
11 Vgl. zur Äquidistanz des Thukydides zu den Parteien im Peloponnesischen Krieg
134 Klaus-Peter Adam

Stoffe in der Tragödie zeigt. Diese verbindet mit dem Blick in die Ver-
gangenheit den Anspruch der Stellungnahme zu Gegenwartsfragen
und damit zu Athener gesellschaftlichen Verhältnissen.12 Diese per-
spektivisch vorgegebene Parteilichkeit kennzeichnet auch die Beschäf-
tigung mit der Vergangenheit in Juda. Die judäische Geschichtsschrei-
bung über die frühe Königszeit in den Samuelbüchern bedient sich teils
ähnlicher Stilmittel wie das Athener Drama, z.B. entspricht der breite
Einsatz direkter Rede und der weitgehende Verzicht auf Erzähler-
kommentare dramatischer Konvention. Die biblischen Erzähler greifen
in der Vorzeit liegende Stoffe auf, die sie, vergleichbar der Tragödie,
gezielt zur Brechung der Darstellung gegenwärtiger Probleme einset-
zen. Die Erzählüberlieferung über das frühe Königtum stellt Vorzeiter-
eignisse in den Kontext zeitgenössischer Auseinandersetzungen. Die
Retrospektive auf eine glorreiche oder eine erfolglose Dynastiegrün-
dung dient als Folie der Reflexion gegenwärtiger Herrschaftsfragen.
Die analoge Relevanz der Geschichtsreflexionen für aktuelle Be-
lange in der Tragödie und damit die Funktion der Tragödiendichter
für die Polis sei beispielhaft verdeutlicht anhand der dramatischen
Selbstreflexion beim Wettstreit um den besten Tragiker Athens in
Aristophanes’ „Fröschen“. Dionysos entscheidet sich zwischen Ai-
schylos und Euripides nicht aufgrund ästhetischer Kategorien, son-
dern aufgrund seines politischen Sachverstandes für Aischylos. Beim
Abschied hebt Pluton seine Bedeutung für die Polis hervor: „So geh
denn im Glück, Aischylos. Brich auf und rette unsere Stadt mit deinen guten
Ratschlägen und erziehe die Unvernünftigen; es sind viele.“13 Kurz vor dem
Zusammenbruch der attischen Vormachtstellung in Griechenland steht
Aischylos als Symbol für eine Zeit, in der die junge Demokratie sich
gegen die Perser durchgesetzt hatte und in der sich ein Kräftekonsens
abzeichnete.14 Dessen Perser als Drama um innenpolitische Einigung
und außenpolitische Stärke stellt Athens Lobpreis als führende Macht
in den Vordergrund (230ff). Die Nachricht über die Schlacht bei Sala-
mis mündet in eine Lobrede auf die Leistungen der Athener bei der
Abwehr der persischen Bedrohung15 die dem Zuschauer die Möglich-

Wiemer, Thukydides (wie Anm. 1), 64-65.


12 Ähnliches gilt für das Epos, dessen Nähe zur Geschichtsschreibung häufig hervor-
gehoben wird, vgl. u.a. H. Strasburger, Homer und die Geschichtsschreibung, Sit-
zungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse,
Heidelberg 1972,1.
13 Aristophanes, Frösche 1500-1504, Textausgabe A. H. Sommerstein, Aristophanes
Frogs, The Comedies of Aristophanes, Bd. 9, Oxford 1996.
14 Vgl. Sommerstein, Aristophanes Frogs (wie Anm. 13), 1-7.
15 Vgl. z. B. 388-394: „Zuerst kam Lärm von den Hellenen her, sie jubelten im Reigen-
gesang; hellauf zugleich hallte das Echo vom Felsen der Insel. Furcht erfasste alle
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 135

keit der Identifikation mit Aischylos’ verklärter Darstellung der Ereig-


nisse bietet. Die Wirkung der aus der Gegenwart in die mythische Ver-
gangenheit versetzten Handlung dürfte durch den Rahmen der Auf-
führung noch verstärkt worden sein und das Selbstgefühl der jungen
attischen Demokratie entscheidend gestärkt haben, zumal, wenn Teil-
nehmer an den Perserkriegen den Aufführungen beiwohnten.16 Aus
dem Geleitwort des Unterweltgottes in Aristophanes’ Fröschen spricht
die Wertschätzung des Rates des Tragödiendichters. Durch seinen Rat
soll der Dichter zur Lenkung der Geschicke in der Polis beitragen. Sei-
nem in die Sprache des Mythischen übersetzten kulturellen und ge-
schichtlichen Diskurs über die Gegenwart maß man entscheidende
Bedeutung zu. Die Hochschätzung des politischen Ratgebers17 sowie
die Aufarbeitung „mythischer“ Themen im Horizont der eigenen Ge-
genwart prägen Tragödie und judäische Geschichtsschreibung und
deuten auf verwandte Wirklichkeitswahrnehmungen hin. Strukturpa-
rallelen zwischen judäischer Geschichtsschreibung und griechischem
Drama, wie sie sich beispielsweise in der Funktion der Figuren zei-
gen,18 erweisen sich als nicht unabhängig vom Charakter der Erzählun-

anwesenden Barbaren, die sich in ihrer Meinung getäuscht sahen: Nicht zur Flucht
stießen da die Hellenen den ehrwürdigen Schlachtgesang an, sondern zum Kampf
stürmend mit kühnem Mut.“ Textausgabe M. L. West, Aeschylus Tragoediae, Stutt-
gart 1990.
16 Vergleichbar eng mit der gegenwärtigen Situation der Athener verbunden sind
Aeschylos’ Eumeniden. Das in die Vergangenheit zurückverlagerte Geschehen wird
dem Disput in der Gegenwart entzogen. Aeschylos thematisiert die Beschränkung
der Befugnisse des Areopags auf die Blutgerichtsbarkeit und enthebt sie im Drama
durch eine Verfügung Athenas allem gegenwärtigen Disput, vgl. Zimmermann,
Nachwort, 588. Zur Interpretation des zeitgeschichtlichen Hintergrundes vgl. u.a.
C. Meier, Zeus nach dem Umbruch. Aischylos und die politische Theologie der Grie-
chen, 1980 = The Greek Discovery of Politics, übers. D. McLintock, Cambridge, MA /
London, 1990.
17 Im Vergleich der Tragödie mit den Daviderzählungen fällt die entsprechende Wert-
schätzung des politischen „Rates“ und seiner Bedeutung in der Thronfolgeerzäh-
lung auf; vgl. JE L [in der Thronfolgeerzählung und dazu besonders R. N. Why-
bray, The Succession Narrative. A Study of II Samuel 9-20; I Kings 1 and 2 (SBT II/9),
London 1968, 56-60 und vgl. ferner L. Ruppert, L [, in: G. J. Botterweck /
H. J. Ringgren (Hgg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT 3),
Stuttgart 1970ff., 718-751, bes. 727-729.731-733. Die Figur des von Ratgebern abhän-
gigen und daher schwachen Herrschers, wie es 1Kön 1-2 von David zeichnen, findet
sich auch von Xerxes in Herodots Hist. 7, 8-19. Textausgabe H. B. Rosén, Herodotus
Historiae Vol. 1 Libr. I-IV, Stuttgart 1987, Vol. 2. Libr. V-IX, Stuttgart 1997; sowie
K. Brodersen, Herodot, Historien Erstes Buch, Griechisch / Deutsch, Stuttgart 2002.
Zu Xerxes vgl. J. Kirchberg, Die Funktion der Orakel im Werke Herodots (Hypo-
mnemata 11), Göttingen 1965, 88.
18 Figurengestaltung und Motivik des Dramas dürften auf judäische Geschichtserzäh-
lungen eingewirkt haben. Die literarischen Verhältnisse in der biblischen Erzähl-
überlieferung sind jedoch im Einzelnen differenziert darzustellen. Die literarisch flä-
136 Klaus-Peter Adam

gen als „mythische“ Vorzeitüberlieferungen, wie im Folgenden darge-


legt wird.19 Motivliche Entsprechungen und Parallelen zwischen Figu-
ren im Drama und in der biblischen Geschichtsschreibung verdanken
sich teils deren Funktion im Rahmen von Beschreibungen der Vorzeit.20
Dieser Charakter der Überlieferungsform einer Geschichtsschreibung
über fundierende Epochen begrenzt deren Auswertung als Quelle über
historische Zusammenhänge.21

chige Einordnung durch F. E. Nielsen, The Tragedy in History. Herodotus and the
Deuteronomistic History (JSOT.S 251), Sheffield 1997, bleibt in vielem hinter dem
Stand der Forschung zurück.
19 Die Verhältnisbestimmung zwischen griechischer und israelitischer Geschichts-
schreibung aus universalgeschichtlicher Sicht prägte, unter anderem im Gefolge
G. von Rads, bis ins späte 20. Jh. die Interpretation der Erzählungen der Samuelbü-
cher. Vorgeschlagen wurde, die israelitischen Geschichtserzählungen als ihren grie-
chischen Parallelen zwar grundsätzlich verwandte, jedoch als bedeutend ältere
Überlieferungen zu verstehen, vgl. besonders Eduard Meyer, Die Israeliten und ihre
Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen, Halle 1906, 486 und vgl. zur
Forschung an der Thronfolgegeschichte unter diesen Vorgaben W. Dietrich / T. Nau-
mann, Die Samuelbücher (EdF 287), Darmstadt 1995, 169-228. Die Gestaltung dieser
Erzählungen ist jedoch geprägt von ihrem Verständnis als legitimierende Vorge-
schichten einer größeren Geschichtsdarstellung. Die Verwendung fundierender Ur-
sprungserzählungen mit legitimatorischer Intention ist im Vorderen Orient weit
verbreitet. Zur Funktion homerischer Epen als fundierende, retrospektiv entworfene
Vorgeschichten und zur Sanktionierung gesellschaftlicher Verhältnisse zur Zeit der
Autoren vgl. besonders K. Raaflaub, Homeric Society, in: I. Morris / B. Powell
(Hgg.), A New Companion to Homer (Mnemosyne. Bibliotheca Classica Batava
Suppl. 163), Leiden 1997, 624-648; dies., A Historian’s Headache: How to Read
„Homeric Society”?, in: N. Fisher / H. van Wees (Hgg.), Archaic Greece: New Ap-
proaches and New Evidence, London / Swansea, 1998, 169-193; dies., Homer und die
Geschichte des 8. Jh.s v. Chr., in: J. Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-For-
schung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart / Leipzig 1991, 205-256; vgl. J. Grethlein,
Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und nar-
ratologischer Perspektive (Hypomnemata 163), Göttingen 2006, 163-179.
20 Ähnliche Beschreibungskategorien und Motive wie in der griechischen Tragödie
erkannte man in der biblischen Figur des weitgehend glücklosen israelitischen Kö-
nigs Saul im Schatten des Judäers David. Vgl. W. L. Humphreys, The Tragedy of
King Saul: A Study of the Structure of 1 Samuel 9–31, JSOT 6 (1978) 18-27; ders., The
Rise and Fall of King Saul: A Study of an Ancient Narrative Stratum in 1 Samuel,
JSOT 18 (1980) 74-90. Vgl. auch Y. Amit, The Delicate Balance in the Image of Saul
and its Place in the Deuteronomistic History, in: C. S. Ehrlich / M. C. White (Hgg.),
Saul in Story and Tradition (FAT 47), Tübingen 2006, 71-79, bes. 77-73 vgl. zuvor
Y. Amit, Hidden Polemics in Biblical Narrative, Leiden 2000, 173-176. J. C. Exum,
Tragedy and Biblical Narrative. Arrows of the Almighty, Cambridge University
Press 1992; Y. Amit, Hidden Polemics in Biblical Narrative. Translated from the He-
brew by Jonathan Chipman, Leiden 2000. Weitere Parallelen in der Motivik ließen
sich anführen. Vgl. aus der neueren Literatur nur die Iphigeniemotivik; siehe dazu
T. C. Römer, Why would the Deuteronomists tell about the Sacrifice of Jephtah’s
Daughter?, JSOT 77 (1998), 27-38.
21 Die spezifischen Leistungen narrativer Geschichtsschreibung stellt für eine auf
Quellenanalyse angelegte Untersuchung der Samuelbücher ein Problem dar, wenn
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 137

Jenseits des formalen Vergleiches der Erzählüberlieferung der Sa-


muelbücher mit Darstellungsformen des Dramas nötigt die herausra-
gende Bedeutung der Vorzeitüberlieferung für die Konzeption der
Geschichtserzählungen zu einer grundlegenden hermeneutischen Re-
flexion. Wenn der Autor Vorzeitüberlieferungen auf seine eigene Ge-
genwart bezieht, setzt er ihren internen Zeitablauf ins Verhältnis zum
Plot seiner Erzählung. Der Zeitablauf seines Plots und des Plots der
Vorzeitüberlieferung steht einerseits in einem Verhältnis zu den ge-
schichtlichen Abläufen und andererseits zum Zeitgeschehen des Au-
tors. Die hermeneutische Narratologie P. Ricœurs ermittelt die spezifi-
schen Leistungen der Erzähler im Umgang mit der Vergangenheit
durch die Komposition einer Erzählung, indem sie die Ebene der in der
Erzählung vorgefundenen Welt und derjenigen der Gegenwart des
Autors unterscheidet.22 Die Gegenwart des Autors prägt in einer be-
stimmten Form die in der Erzählung vorausgesetzten Ereignisse, Figu-
ren, Orte und Zeiten. Eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung zwi-
schen der Lebenswelt des Autors und der in der Erzählung
vorfindlichen erzählten Welt kann zwei Ebenen der Verhältnisbestim-
mung zwischen der Gegenwart des Lesers in fiktionalen Erzählungen
unterscheiden: Diejenige des Plots, d.h. der handelnden Figuren, sowie
die in der Erzählung vorausgesetzte Lebenswelt. Im hermeneutischen
Verfahren tritt zu diesen Ähnlichkeitsverhältnissen innerhalb der Er-
zählung die Welt des Rezipienten als dritte Ebene hinzu. Im Verstehen
einer Erzählung setzt der Leser seine Lebenswirklichkeit zur vorausge-
setzten Lebenswelt und zum Plot der Erzählung ins Verhältnis. Die
hermeneutische Narratologie systematisiert den Verstehensprozess von
Erzählungen als Entschlüsselung dieser auf drei verschiedenen Ebenen
angelegten Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen Autor und Rezipient.
Damit werden Aussageleistungen einer Erzählung umfassend und
differenziert beschrieben. Alle drei mimesis I-III genannten Ebenen sind
am hermeneutischen Prozess beteiligt. Die Entschlüsselung von Aussa-
geleistungen von Erzählungen hängt auch von der Gegenwart des Re-
zipienten ab. Dies wird durch die Beachtung der mimesis III genannten
Ebene deutlich, die das Verhältnis zwischen der Welt der Erzählung

„historische Fakten“ im Sinne eines chronologischen Ablaufes aus diesen erhoben


werden sollen. Vgl. die Versuche der Rekonstruktion chronologischer Ereignisfolgen
etwa bei W. Dietrich, Die frühe Königszeit in Israel, Das 10. Jahrhundert v. Chr.
(BE 3), Stuttgart 1997, 143-148; 150-201.
22 Auf die Vielzahl gegenwärtiger narratologischer Ansätze kann hier nicht eingegan-
gen werden, vgl. dazu die Beiträge in A. Nünning / V. Nünning (Hgg.), Neue Ansät-
ze in der Erzähltheorie (WVT Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studi-
um 4), Trier 2002; u.a. den einleitenden Theorieüberblick der Herausgeber von
strukturalistischen bis zu postklassischen Erzähltheorien, ebd., 1-33.
138 Klaus-Peter Adam

zur Lebenswelt des Rezipienten23 betrifft. Auf diese kann hier nur hin-
gewiesen werden. Auf die beiden anderen Ähnlichkeitsverhältnisse ist
kurz einzugehen. Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen der Welt des
Autors und der im Plot vorausgesetzten Lebenswelt (mimesis I), sowie
zwischen den Charakteren und Handlungsabläufen im Plot, die in ei-
nem Ähnlichkeitsverhältnis auf einer zweiten Ebene aufeinander bezo-
gen sind, innerhalb der der Erzähler die handelnden Figuren in einen
bestimmten kausalen und zeitlichen Ablauf darstellt (mimesis II). Die
Konzeption von Figurenkonstellationen sowie eines zeitlich-kausalen
Nacheinanders (Plot) ermöglichen dem Autor, seine Intentionen zu
vermitteln. Um die Aussageleistungen von Erzählungen zu erheben,
sind daher insbesondere die Gründe von Bedeutung, die den Erzähler
veranlassten, Figuren in ein zeitliches Nacheinander anzuordnen. In
der Analyse dieser vom Autor geschaffenen Erzählstrukturen wird die
Autorenintention deutlich, die der Autor mit Hilfe eines bestimmten
Plots oder einer Figurenkonstellation verfolgt. Die Umsetzungen der
Autorenintention auf der Ebene der mimesis II sind für die Erzählung
zentral, weil der Autor mit ihnen die Figurenabfolgen und den zeitli-
chen Ablauf der Erzählungen, sowie die im Plot verwendeten Motive
konzipiert. Das mimesis II genannte Entsprechungsverhältnis zwischen
Figurenkonzeption und geschichtlicher Wirklichkeit ist daher auch
entscheidend für die Gestaltung von Erzählungen über die Vergangen-
heit und damit für den Umgang mit Vergangenheit in der Erzählung.
Die in einem Ablauf angeordneten Themen, sowie die Figuren und die
mit ihnen verknüpften geschichtlichen Größen werden vom Autor auf
dieser Ebene entworfen. Diese skizzenhafte Rekonstruktion des Entste-
hungsprozesses von Erzählungen deutet auf die Relevanz auktorial
erstellter Figurenkonstellationen und Handlungsabfolgen hin.24 Aus
ihnen sind die Intentionen des Autors zu erschließen.
Neben Figurenkonstellationen und Handlunsgabfolgen ist die Er-
mittlung der Erzählerintention abhängig von der Einschätzung des

23 Vgl. P. Ricoeur, Temps et récit. Tome I, L’intrigue et le récit historique, Paris 1983,
105-162. Hier soll dieser Prozess der Annäherung des Lesers an die Erzählung (mi-
mesis III) unberücksichtigt bleiben.
24 Dies gilt gleichermaßen für fiktionale wie für Geschichtserzählungen. – Zur Kom-
plexität der Beziehungen der in den Epen geschilderten Wirklichkeit auf eine von
ihnen gespiegelte Realität von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 7. Jh.s, vgl. Raaflaub,
A Historian’s Headache (wie Anm. 19), 175-188, ebenso Grethlein, Ilias (wie Anm.
19), 312-314. Literargeschichtlich bedarf der Befund noch der Präzisierung. Lediglich
einzelne Abschnitte der Ilias werden derzeit als spätere Zufügungen erkannt und
entsprechend interpretatorisch ausgewertet, vgl. etwa die Dolonie im 22. Buch der
Ilias und dazu G. Danek, Studien zur Dolonie, Wien 1988, der mit einem Verfasser
einer Generation nach Homer rechnet und zur Problematik der Zuweisung zu einem
anderen geschichtlichen Hintergrund Grethlein, Ilias (wie Anm. 19), 253, Anm. 105.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 139

Quellencharakters der Überlieferungen. Ein besonders der Rekonstruk-


tion eines chronologischen Ereignisablaufes verpflichteter Blick räumt
den zu ermittelnden Quellen eine Priorität vor den Verbindungsstü-
cken des Erzählers ein und prägt so die Geschichtssicht. Daher fragt die
vorliegende Untersuchung, inwiefern die Erzählungen vom ersten
israelitischen König als Teil der Figurenkonstellation eines Erzählers
verständlich sind und inwiefern sich eine Quellenanalyse als schlüssig
erweisen lässt.
Besonders die Strukturparallelen zur Figurenwertung und –dar-
stellung im Drama legen die Frage nach durchgängigen Wertungen der
Protagonisten der Vorgeschichte nahe. Im Fall der frühen Königszeit
geht man häufig von einer Ambivalenz der Saulüberlieferung mit eini-
gen wenigen positiven Elementen aus, die nicht durch eine kritische
Wertung späterer Redaktoren, sondern als quellenmäßig vorgegeben
erklärt werden. Doch ist die Annahme alter Quellen keineswegs gesi-
chert. Daher konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die
von den Erzählern entworfenen narrativen Konzeptionen und setzen
die Erzählungen über das frühe Königtum als komplexe durchkompo-
nierte und mehrfach literarisch bearbeitete Vorgeschichte25 zum israeli-
tisch-judäischen Königtum voraus. Die Anlage der Erzählung ordnen
sie als retrospektiven Entwurf über die Frühzeit Israels in ein Gesamt-
bild der Königsgeschichte ein.26 Dem Sieg des israelitischen Königs

25 Deren literar- und entstehungsgeschichtliche Einordnung schwankt erheblich. Nach


B. Halpern enthalten die Samuelbücher, besonders das zweite Samuelbuch, das äl-
teste geschichtliche Material, vgl. ders., Historiography (wie Anm. 2), 108. Ähnlich
rechnet man in einem Quellenmodell, das eine erste Geschichte der frühen Königs-
zeit im 8. Jh. ansetzt, mit recht alten Bestandteilen teils aus der Zeit um 1000 v.Chr.;
vgl. Dietrich, Die frühe Königszeit (wie Anm. 21), 229-233, 244-245. Weder diese frü-
he Datierung noch die pauschal nachexilische Einordnung kommen umhin, die kon-
kreten historischen Hintergründe zu benennen, die den jeweiligen literarischen
Schichten der Erzählung zu entnehmen sind, vgl. O. Kaiser, Das Verhältnis der Er-
zählung vom König David zum sogenannten Deuteronomistischen Geschichtswerk.
Am Beispiel von 1 Kön 1–2 untersucht. Ein Gespräch mit John Van Seters, in: Römer
/ de Pury, Thronfolgegeschichte (wie Anm. 1), 94-122, hier 98-99 mit Blick auf die
Einordnung von Van Seters.
26 Grundsätzlich ist sowohl eine Überabeitung kleiner Notizen als auch die Fortschrei-
bung existierender Erzählungen denkbar. In Frage gestellt werden hingegen große
literarisch einheitliche Überlieferungsblöcke wie die Thronfolgeerzählung; vgl. etwa
W. Dietrich, Das Ende der Thronfolgegeschichte, in: Römer / de Pury, Thronfolgege-
schichte (wie Anm. 1), 38-69. Vgl. die Hinweise auf ein Wachstum des Textbereiches
bereits bei S. A. Cook, Notes on the Composition of 2 Samuel, AJSL 16 (1899/1900),
145-177 und vgl. F. Langlamet, Pour ou contre Salomon? La rédaction prosalomo-
nienne de I Rois, I-II, RB 83 (1976) 321-379 und 481-528; ders., David et la maison de
Saül. Les épisodes «benjaminites» de II Sam.; IX; XVI,1-14; XIX, 17-31; I Rois, II, 36-
46, RB 86 (1979) 194-213; 385-436.481-513; RB 87 (1980) 161-210 (suite); RB 88 (1981)
321-332 (suite); ders., David, fils de Jessé. Une édition prédeutéronomiste de
140 Klaus-Peter Adam

Saul schreibt man in der Überlieferung des frühen Königtums häufig


eine Schlüsselfunktion bei der Rekonstruktion der frühstaatlichen Zeit
in Israel und Juda zu. Unter Voraussetzung einer positiven Wertung
des Protagonisten belegt der Ammonitersieg 1Sam 11 einen Erfolg des
(benjaminitisch-)israelitischen Königtums gegen die von Osten heran-
stürmenden Ammoniter in frühstaatlicher Zeit;27 doch ist in einem ers-
ten Abschnitt zu fragen, inwiefern diese positive Wertung sich am Text
belegen lässt.
Der zweite Abschnitt klärt die Funktion einzelner Figuren der Er-
zählungen für das Verständnis der Autorenintention und legt den
Schwerpunkt auf den in der Davidüberlieferung beliebten (anonymen)
Boten.28 Die Botenfigur und -rede werden mit entsprechenden Figuren
im Drama verglichen. Ein Abschlussabschnitt fasst die Ergebnisse zu-
sammen.

I. Erzählerwertung und Perspektivik judäischer


Geschichtsschreibung

Die Darstellung Sauls in 1Sam 11


Konstellationen von Figuren prägen die Konzeption der Lebenswelten
in Erzählungen. Einzelfiguren im Drama sind daher nur innerhalb ihrer
Konstellation mit anderen Figuren zu verstehen29 und diese sind in
einer dramatischen Erzählüberlieferung entscheidend für das Ver-
ständnis einzelner dramatis personae. In der biblischen Geschichte vom
Königtum steht dem Israeliten Saul ausdrücklich oder implizit der Ju-

l’«Histoire de la Succession», RB 89 (1982) 5-47; und O. Kaiser, Das Verhältnis der


Erzählung vom König David (wie Anm. 25), 94-122.
27 Vgl. die literargeschichtliche Differenzierung einer „neutralen” bzw. „königsfreund-
lichen“ Saulüberlieferung in 1Sam 9,1-10,16; 11; 13-14* durch J. Wellhausen, Prole-
gomena zur Geschichte Israels, (18781) Berlin 19276, 246-248, 258; vgl. ders., Die Com-
position des Hexateuch und der historischen Bücher des Alten Testaments, Berlin
18993, 243-245. Vgl. u. a. bei A. Alt, Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina
(1930) in: ders., Kleine Schriften II, München 1953, 1-65, bes. 14-15, die breit rezipiert
wurde, vgl. D. S. Edelman, Saul’s Rescue of Jabesh-Gilead (1 Sam 11:1-15). Sorting
Story from History, ZAW 96 (1984) 195-209, sowie in jüngerer Zeit exemplarisch bei
R. G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments.
Grundwissen der Bibelkritik, Göttingen 2000, 179; 191 und S. Kreuzer, Saul – not al-
ways – at war, in: Ehrlich / White, Saul (wie Anm. 20), 39-58, hier 40, 48.
28 Die Beliebtheit und den pointierten Einsatz der Botenszenen in den Daviderzählun-
gen notiert bereits Rost, Thronnachfolge (wie Anm. 6), 115-116.
29 Zur Bedeutung der Figurenkonstellationen in der Dramentheorie vgl. M. Pfister, Das
Drama. Theorie und Analyse, München 112001 (19771), 224-264.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 141

däer David gegenüber. Positiven Wertungen des einen korrespondiert


das kritische Urteil über den anderen, auch jenseits der Kommentie-
rungen in diesem Textbereich. Diese durchgängige Tendenz der gesam-
ten biographisch angelegten Saulüberlieferung bestätigt die innerbibli-
sche Wirkungsgeschichte: Überlieferungen, die frühere Stufen
voraussetzen, entwickeln fast ausschließlich die negative Figurenwer-
tung weiter und verstärken sie.30 Bereits Sauls Einsetzung zum König
durch Loswahl 1Sam 10,17-25 wertet ihn ab. Als literarische Wirkungs-
geschichte früherer Saulüberlieferungen spiegelt sie den Gegensatz
zwischen dem israelitischen und dem judäischen König. Die Israeliten
wählen ihren König durch die Loswahl,31 wobei die Darstellung auf

30 Besonders deutlich ist das in prophetischen Episoden. Saul ist unbestritten negativ
gewertet in 1Sam 19:18-24. Vgl. exemplarisch P. Mommer, Samuel. Geschichte und
Überlieferung (WMANT 65), Neukirchen-Vluyn 1991, 177-178 und ders., „Ist Saul
auch unter den Propheten?“ BN 38/39 (1987) 53-61; W. Dietrich, David, Saul und die
Propheten. Das Verhältnis von Religion und Politik nach den prophetischen Überlie-
ferungen vom frühesten Königtum in Israel (BWANT 122), Stuttgart 21992, 61. Diet-
rich erwägt die Vorarbeit prophetischer Kreise in Juda (weder DtrP noch der Erzäh-
ler der Aufstiegsgeschichte). Plausibel erscheint eine Einordnung der Episode in
prophetische Kreise in persischer Zeit, vgl. C. Nihan, Saul among the Prophets
(1Sam 10:10-12 and 19:18-24). The Reworking of Saul’s Figure in the Context of the
Debate on „Charismatic Prophecy“ in the Persian Era, in: Ehrlich / White (Hgg.),
Saul (wie Anm. 20), 88-118. Mögliche positive Aspekte Sauls, auf die sich spätere is-
raelitische Könige hätten berufen können, fehlen. Dies ist auch für die Jugendüber-
lieferungen Sauls zu überprüfen. Denn eindeutige Abwertungen zeigen sich in den
häufig als Ergänzungen eingeordneten Ankündigungen über Saul, der sich „als Pro-
phet gebärden“ wird ( DPhitp 1Sam 10,6), was jedoch, ebenso wie in 1Sam 19,20-24,
bes. V 24 negativ gewertet wird. Die Entwicklung von Überlieferungen zur Frühzeit
Sauls (Wahl und Krönung 1Sam 10,17-25 [26-27]; 11,14-15; Teile aus 9,1-10,16) aus
Erzählmaterial über seine Zeit als reifer König entspräche dem Wachstumsverlauf
von Biographien, in denen Jugendüberlieferungen die literarisch jüngsten Abschnit-
te darstellen. Der verzweigte Handlungsfaden der Samuelbücher wächst, was bisher
nur angedeutet werden kann, dementsprechend über komplexe Redaktionsprozesse
durch Voranstellung von Jugendüberlieferungen, die (grob verallgemeinert) als
Wirkungsgeschichte der älteren Stufen im jetzigen Erzählverlauf voranstehen.
31 Das Loswahlverfahren ist in der griechischen Kultur beheimatet. In Athen nahm
man aus gutem Grund die Strategen von der Loswahl aus und bestimmte diese in
offener Wahl. Die Loswahl in Athen diente nach Solons Athenaion Politeia der Be-
stimmung der Archonten aus einer Liste von zuvor gewählten Kandidaten. Nach
Abschaffung der Tradition führte man sie 487/486 v.Chr. wieder ein, ersetzte sie aber
durch ein Losverfahren. Durch Loswahl bestimmte man den Rat der 500 ab spätes-
tens 411 v.Chr. Ab dem Ende des 5. Jh. wurden fast alle zivilen Ämter, auch die Ge-
schworenengerichte, durch Loswahl, militärische Ämter aber durch Wahl vergeben,
vgl. P. J. Rhodes, Los A. Griechenland, in: DNP 7 (1999), 443 und vgl.
V. Rosenberger, Orakel III. Klassische Antike A. Allgemeines; B. Orakelstätten;
C. Orakeltechniken, E. Geschichtliches, in: DNP 9 (2000), 5-7. Ob und wie griechische
Loswahlszenen aus (vor-) hellenistischer Zeit Einfluss auf Juda ausübten, muss hier
offen bleiben. Die Zurückhaltung der Erzählungen, Loswahlvorgänge ursächlich mit
JHWH in Verbindung zu bringen und sie stattdessen einer magischen Kraft im Los-
142 KlausȬPeterȱAdamȱ

priesterlicheȱ Opfertheologieȱ anspielt.ȱ Saulȱ istȱ einȱ vonȱ JHWHȱ ausgeȬ


wähltes,ȱ „getroffenes“ȱ Opfer.32ȱ Dasȱ priesterlichȬkultischeȱ Verständnisȱ
vonȱ1Samȱ10,ȱ17Ȭ25ȱ(26Ȭ27)ȱkommentiertȱältereȱErzählungenȱ(1Samȱ11,1Ȭ
11),ȱ denenȱ dieȱ Loswahlszeneȱ vorausgeht.ȱ Durchȱ ihreȱ Voranstellungȱ
ergibtȱ sichȱ eineȱ episodenhafteȱ Reihung,ȱ dieȱ denȱ Charakterȱ desȱ IsraeliȬ
tenȱ bzw.ȱ Benjaminitenȱ Saulȱ beschreibt.ȱ Denȱ Gegensatzȱ zumȱ Judäerȱ
Davidȱ kennzeichnetȱ dieȱ inȱ derȱ Figurendarstellungȱ begründeteȱ durchȬ
gängigeȱDichotomieȱdieȱErzählungen.ȱWährendȱeineȱpositiveȱbiblischeȱ
Wirkungsgeschichteȱ fehlt,ȱ wertenȱ weitereȱ Erzählungenȱ Saulȱ ab.ȱ Dazuȱ
gehörenȱseineȱVerurteilungȱ1Samȱ13,7bȬ13a,ȱsowieȱderȱdtrȱKommentarȱ
1Samȱ13,13bȬ14;ȱdieȱdtrȱüberarbeiteteȱVerwerfungserzählungȱ1Samȱ1533ȱ
undȱ dieȱ wertendeȱ Darstellungȱ derȱ Verfolgungȱ desȱ Davidȱ inȱ 1Samȱ 19Ȭ
27*.34ȱMehrȱnochȱalsȱdieseȱWirkungsgeschicheȱweistȱdasȱFehlenȱpositiȬ
verȱ Anspielungenȱ aufȱ denȱ erstenȱ israelitischenȱ Königȱ diesenȱ alsȱ paraȬ
digmatischesȱ Negativbeispielȱ einesȱ Dynastiegründersȱ einerȱ israelitiȬ
schenȱ (bzw.ȱ benjaminitischen)ȱ Königslinieȱ aus.ȱ Literarischȱ stehtȱ dieȱ
Saulfigurȱ nichtȱ amȱ Anfang,ȱ sondernȱ amȱ Endeȱ derȱ israelitischenȱ KöȬ
nigsüberlieferung.ȱ Mehrereȱ seinerȱ Eigenschaftenȱ sindȱ Projektionenȱ
spätererȱ Auseinandersetzungenȱ mitȱ israelitischenȱ Königen.ȱ Eineȱ EntȬ
wicklungȱ derȱ Episodenȱ ausȱ einerȱ altenȱ überarbeitetenȱ königsfreundliȬ
chenȱSaulüberlieferungȱalsȱQuelle35ȱlässtȱsichȱnurȱunterȱdenȱVoraussetȬ
zungenȱ aufrechterhalten,ȱ dassȱ manȱ einenȱ altenȱ Erzählkernȱ vonȱ
Saulüberlieferungenȱabgrenzenȱkönne,ȱdessenȱEntstehungȱsichȱnichtȱimȱ
Kontextȱ mitȱ denȱ anderenȱ DavidȬSaulȬErzählungenȱ erklärenȱ lässt,ȱ undȱ

ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
verfahrenȱzuzuweisen,ȱbeobachteteȱbereitsȱJ.ȱLindblom,ȱLotȬCastingȱinȱtheȱOldȱTesȬ
tament,ȱVTȱ12ȱ(1962)ȱ164–178,ȱbes.ȱ167.ȱ
32ȱȱ FMNniȱbezeichnetȱdasȱGetroffenwerdenȱvomȱLosȱalsȱKönigȱundȱzugleichȱistȱSaulȱimȱ
übergeordnetenȱKontextȱalsȱOpferȱdargestellt.ȱVgl.ȱzurȱLoswahlȱK.ȬP.ȱAdam,ȱSaulȱasȱ
aȱ Tragicȱ Hero.ȱ Greekȱ Dramaȱ andȱ itsȱ Influenceȱ onȱ Hebrewȱ Scriptureȱ inȱ 1Samuelȱ
14,24Ȭ46ȱ(10,8;ȱ13,7Ȭ13a;ȱ10,17Ȭ27),ȱin:ȱA.ȱG.ȱAuldȱ/ȱE.ȱEynikelȱ(Hgg.),ȱForȱandȱAgainstȱ
David.ȱStoryȱandȱHistoryȱinȱtheȱBooksȱofȱSamuelȱ(ETL),ȱLeuwenȱ2008ȱ(imȱDruck).ȱȱ
33ȱȱ Vgl.ȱzuȱeinemȱModellȱeinerȱGrundschichtȱ undȱ ÜberarbeitungȱF.ȱForesti,ȱTheȱRejecȬ
tionȱ ofȱ Saulȱ inȱ theȱ Perspectiveȱ ofȱ theȱ Deuteronomisticȱ School.ȱ Aȱ Studyȱ ofȱ 1ȱ Smȱ 15ȱ
andȱRelatedȱTexts,ȱEdizioniȱdelȱTeresianum,ȱRomȱ1984,ȱ63Ȭ77.ȱ
34ȱȱ Vgl.ȱ zuȱ denȱ Fluchterzählungenȱ undȱ zumȱ Hintergrundȱ derȱ Blutschuldȱ K.ȬP.ȱ Adam,ȱ
SaulȱundȱDavidȱinȱderȱjudäischenȱGeschichtsschreibung.ȱStudienȱzuȱ1Samȱ16Ȭ2Samȱ5ȱ
(FATȱ51),ȱTübingenȱ2007,ȱ97Ȭ121.ȱȱ
35ȱȱ Vgl.ȱimȱGefolgeȱWellhausensȱdieȱEinordnungȱvonȱ11,1Ȭ11.15ȱalsȱalte,ȱabgeschlosseneȱ
literarischeȱQuelleȱexemplarischȱfürȱvieleȱbeiȱDietrich,ȱDavidȱ(wieȱAnm.ȱ30),ȱ99.ȱVgl.ȱ
hingegenȱdieȱVorstellung,ȱeinȱVerfasserȱhabeȱimȱletztenȱDrittelȱdesȱ6.ȱJh.ȱv. Chr.ȱteilȬ
ȱ

weiseȱ ihmȱ vorliegendeȱ Quellenȱ verknüpft,ȱ beiȱ A.ȱ Wagner,ȱ Geistȱ undȱ Tora.ȱ Studienȱ
zurȱgöttlichenȱLegitimationȱundȱDelegitimationȱvonȱHerrschaftȱimȱAltenȱTestamentȱ
anhandȱderȱErzählungenȱüberȱKönigȱSaulȱ(ABGȱ15),ȱLeipzigȱ2005;ȱvgl.ȱbesondersȱ97Ȭ
102ȱ dieȱ Einschätzungȱ vonȱ 1Samȱ 10,26Ȭ11,13ȱ alsȱ freiȱ erfundeneȱ Episodeȱ imȱ Stilȱ derȱ
RichterȬErzählungen.ȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 143

der daher unabhängig vom Saul-David-Kontrast ist.36 Im Gegenzug


muss eine Erklärung der Entstehung der Episode innerhalb einer auk-
torial erzeugten Saul-David-Figurenkonstellation die Tendenz der Ab-
wertung Sauls gegenüber David nachweisen. Diese lässt sich beispiel-
haft in anderen Kontexten innerhalb der Gesamtkonzeption erkennen,
besonders in Elementen der Erzählungen, die von beiden Protagonis-
ten, Saul und David verwendet werden. Die Verzweiflung hinter Sauls
Versuch, die Philister zu schlagen (1Sam 14,47; 1Sam 13,1-14,46*) er-
schließt sich allerdings nur im Kontrast zu Davids Erfolgen. Die Dar-
stellungsmittel der Erzählung, die Figurenkonstellation und der litera-
rische Entstehungszusammenhang bestimmen die Figurenwertungen.
Auch Sauls partielle Erfolge lassen sich angemessen nur im Vergleich
mit Davids überragendem Sieg verstehen (2Sam 5,17-21.22-25).37 Wie
weit die Züge zwischen beiden Figuren sich dem Gegensatz verdan-
ken, muss hier im Einzelnen offen bleiben.38 Eine Asymmetrie in der
Figurengestaltung liegt darin begründet, dass die gegensätzlichen Hel-
den unterschiedlich präzise beschrieben werden, wie beispielsweise die
summarische Auflistung ihrer Erfolge 1Sam 14,47 zeigt. Sie vermerkt
lediglich den Kampf mit den umgebenden feindlichen Nationen, ohne
Sauls Siege im Einzelnen darzustellen. Bei Annahme einer älteren Ü-
berlieferungsstufe dieses Abschnittes sieht man dies darin begründet,
dass von Saul nichts Genaueres bekannt gewesen sei und dass die Auf-
listung daher hier summarisch und allgemein bleibe. Quellen mit mehr
Detailkenntnis will man hingegen hinter anderen Erzählungen über
militärische Erfolge Sauls vermuten, die einen Kampf historisch veror-
ten. Dazu gehört neben 1Sam 13-14 auch Sauls Ammoniterschlacht
1Sam 11. Die Erzählung führt man seit Wellhausen39 häufig auf eine
neutrale Quelle über Sauls Eroberungen zurück. Doch sind ihre Bezüge

36 Methodisch muss die im Folgenden gemachte Annahme, es handele sich um eine


fortgeschriebene Erzählung, weitgehend vorausgesetzt werden. Doch beruht auch
die Annahme eines quellenhaften Ursprungs der Samuelüberlieferung auf einem
vorgängigen Verständnis der Textentstehung.
37 Vgl. die Erwägungen zu einem vordeuteronomistischen Überlieferungszusammen-
hang zwischen Saul und David von J. Klein, David versus Saul. Ein Beitrag zum Er-
zählsystem der Samuelbücher, (BWANT 158), Stuttgart 2002; zum Beispiel der Geg-
ner der beiden Könige, 95-101.
38 Das Verständnis weiterer Merkmale der Figuren auf dem Hintergrund der Figuren-
konstellation als Umsetzungen des Gegensatzes zwischen den beiden Größen Israel
und Juda deute ich hier nur an. Sauls physische Größe (1Sam 10,17) dürften die Au-
toren als metonymische Entsprechung für Israels Macht im Vergleich mit Juda dar-
gestellt haben – ein Zug, der sich auf dem Hintergrund eines teils impliziten Ver-
gleiches der Erzählungen zwischen ihm und dem kleinen David besonders in den
Jugenderzählungen von David erkennen lässt.
39 Vgl. Wellhausen, Prolegomena (wie Anm. 27), 246-248.
144 KlausȬPeterȱAdamȱ

zuȱdenȱAmmonitersiegenȱDavidsȱdeutlich,40ȱwasȱsichȱbesondersȱinȱderȱ
generellenȱ Abwertungȱ Saulsȱ gegenüberȱ Davidȱ zeigt.ȱ Saulsȱ Erfolgȱ ist,ȱ
verglichenȱ mitȱ demjenigenȱ Davids,ȱ begrenzt.ȱ Wennȱ 1Samȱ 11ȱ fürȱ eineȱ
historischeȱVerortungȱderȱSaulüberlieferungȱergiebigerȱzuȱseinȱscheint,ȱ
soȱ besondersȱ deswegen,ȱ weilȱ dieȱ Erzählungȱ einenȱ Kampfȱ Saulsȱ gegenȱ
dieȱAmmoniterȱinȱJabeschȱinȱGileadȱlokalisiert,ȱzuȱdessenȱGunstenȱSaulȱ
eingreift,ȱ sowieȱ denȱ Versammlungsortȱ Bezekȱ (11,8)ȱ undȱ imȱ Anschlussȱ
GilgalȱalsȱOrtȱderȱKrönungȱnenntȱ(11,14).ȱ
ȱ
Aufbau:ȱ
10,26Ȭ2741ȱ SaulsȱHeimzugȱaufȱdenȱHügelȱundȱdieȱKritikȱanȱSaulȱ
ȱ
11,1Ȭ3ȱ BedrängnisȱderȱJabeschitenȱdurchȱdenȱAmmoniterkönigȱNahaschȱȱ
1ȱȱ ȱ HeraufzugȱundȱBelagerungȱdesȱNahaschȱ
2ȱ Beschämungȱ derȱ Israelitenȱ durchȱ Androhenȱ desȱ AusȬ
stechensȱdesȱAugesȱ
3ȱ ȱ SiebenȬTagesȬFristȱderȱÄltestenȱausȱJabeschȱ
ȱ
4Ȭ6.7a.7b.8ȱȱ HilfegesuchȱanȱSaul,ȱHeerbann,ȱMusterungȱundȱSiegȱ
4ȱ ȱ Aufsuchenȱdesȱ„HügelsȱSauls“ȱ
5ȱȱ ȱ SaulsȱHeimkehrȱvomȱPflügenȱ
6ȱȱ ȱ DerȱGeistȱergreiftȱBesitzȱvonȱSaulȱȱ
7aȱ ȱZerstückelungȱ einesȱ Rindergespannsȱ undȱ dessenȱ
VersendungȱdurchȱBotenȱimȱganzenȱGebietȱvonȱIsraelȱ
AufforderungȱzumȱKampfȱmitȱStrafandrohungȱ
7bȱ ȱ EinȱGottesschreckenȱbefälltȱdasȱVolkȱȱ
8ȱ Musterungȱvonȱ300.000ȱIsraelitenȱundȱ30.000ȱJudäernȱinȱ
Besekȱ
9ȱȱ ȱ HilfsankündigungȱanȱdieȱJabeschitenȱdurchȱBotenȱȱ

ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
40ȱȱ Vgl.ȱ nebenȱ anderenȱ Klein,ȱ Davidȱ versusȱ Saulȱ (wieȱ Anm.ȱ 37),ȱ 99Ȭ101;ȱ 173Ȭ174ȱ (allerȬ
dingsȱunterȱAnnahmeȱalterȱQuellenȱfürȱbeideȱBerichte).ȱDieȱParallelenȱbetreffenȱdenȱ
Aufbau.ȱBeideȱErzählungenȱsetzenȱmitȱeinerȱVeränderungȱbeiȱdenȱAmmoniternȱein:ȱ
nachȱ1Samȱ11ȱbelagertȱNahaschȱJabeschȱinȱGilead;ȱnachȱ2Samȱ10ȱstirbtȱNahaschȱundȱ
HanunȱfolgtȱihmȱalsȱKönig.ȱNachȱ1Samȱ11ȱbittenȱdieȱJabeschitenȱumȱeinenȱBundȱmitȱ
demȱAmmoniterkönig,ȱnachȱ2Samȱ10ȱschicktȱDavidȱeineȱDelegationȱzurȱTrauer.ȱDieȱ
DelegationenȱwerdenȱvonȱdenȱAmmoniternȱbrüskiertȱbzw.ȱihrȱAnsinnenȱwirdȱabgeȬ
lehntȱundȱesȱkommtȱzumȱKriegȱausgehendȱvonȱSaulȱbzw.ȱDavid.ȱBezügeȱzeigenȱsichȱ
durchȱdieȱBundesterminologieȱbisȱinȱdenȱWortlautȱhinein:ȱdasȱ„Ausschneiden“ȱdesȱ
Augesȱ (1Samȱ 11,2)ȱ undȱ dasȱ „Abschneiden“ȱ derȱ Kleiderȱ undȱ desȱ Bartesȱ
2Samȱ10,4;ȱ(VTM).ȱ MTȱ nenntȱ inȱ 2Samȱ 10,1ȱ zunächstȱ nurȱ denȱ Ammoniterkönigȱ undȱ
seinenȱNachfolgerȱHanunȱnamentlich;ȱerstȱ10,2ȱwirdȱdieserȱmitȱ Patronymȱerwähnt,ȱ
wasȱdieȱZusammenhängeȱzwischenȱdenȱbeidenȱBerichtenȱnochȱverstärkt.ȱȱ
41ȱȱ 1Samȱ10,26Ȭ27ȱleitenȱbereitsȱ1Samȱ11ȱein,ȱvgl.ȱWagner,ȱGeistȱundȱToraȱ(wieȱAnm.ȱ35),ȱ
87Ȭ88;ȱvgl.ȱvorȱallemȱdieȱInklusionȱinȱ10,27ȱundȱ11,13bȱ(sowieȱinȱ11,3.9a).ȱȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 145

10 Ankündigung an die Ammoniter


11 Teilung in drei Heeresteile und Sieg

12-15 Kritik an Saul und Erneuerung des Königtums in Gilgal.

Nimmt man keinen Quellencharakter für V 1-11 an, so drängt der Kon-
text die Frage nach Entstehung und Motivation auf. In 10,26-27;
11,12-13 rahmen korrespondierende Elemente die Rettung der Jabeschi-
ten vor den Ammonitern. Diese reflektieren Sauls Königtum in Israel
kritisch. Angesichts seines Sieges gegen die Ammoniter weist das
„Volk“ jedoch Sauls Kritiker (11,12) zurecht. Diese Einwände gegen
Saul, der „nicht helfen“ kann (10,27 [), widerlegt der in Jabesch Gi-
lead gegen die Ammoniter durch JHWHs Hilfstat in Israel (11,13
J YV) errungene Sieg. Doch die durch das Leitwort „Hilfe“ geschaffe-
ne Struktur in 1Sam 10,26-11,15 belegt nicht zwingend deren literari-
sche und intentionale Zusammengehörigkeit.42
Die Intention von 11,1-11 wird nun im Folgenden zunächst inner-
halb der Saulüberlieferung ermittelt, ohne Voraussetzung ihres Quel-
lencharakters oder ihrer positiven Wertschätzung der Saulfigur; an-
schließend wird dann das Verhältnis der Rahmenabschnitte zu 11,1-11
reflektiert.
Der Abschnitt ist als Dialogfolge aufgebaut. Als Konstellationen
finden sich: Jabeschiten-Nahasch (V 1-3.10); Boten-Saul (V 4); Volk-Saul
(V 5-9); Boten-Jabeschiten (V 9). V 1-3.10 berichten von der Kommuni-
kation zwischen Belagerern und Belagerten. Während die Jabeschiten
sich angesichts einer militärischen Bedrohung durch Nahasch zum
Bündnis mit diesem bereit erklären, nützt Nahasch die Notlage aus, um
sie zu demütigen. Dabei wertet der Erzähler. Die Einwilligung der Ja-
beschiten zu einem Bündnis mit Ammon ist eine Verzweiflungstat der
Bedrängten. Der Ammoniterfürst verbindet mit der Unterwerfung43 die
Blendung eines Auges44 „zur Schande für ganz Israel“ (V 2b). Diese
Forderung kompromittiert die Bittsteller und bereitet ihnen die beab-
sichtigte Schmach als Besiegte. Die Jabeschiten lehnen ab und erbitten
sich eine Bedenkzeit. Mit diesem Zug setzt die Erzählung die unwahr-
scheinliche Situation voraus, die Jabeschiten hätten sich noch in einer
Verhandlungsposition gegenüber den anstürmenden Ammonitern

42 Vgl. [YO11,3; J YV11,9; vgl. als Beleg für literarische Zusammengehörigkeit der
Rahmenstücke 10,26-27 und 11,12-14 mit der übrigen Erzählung Wagner, Geist und
Tora (wie Anm. 35), 88-89.
43 11,2a.
44 Vgl. dazu die Blendung des Zedekia 2Kön 25,7; Jer 39,7; 52,11 und vgl. in nachexili-
schen Kontexten Num 16,14; Ri 16,21.
146 Klaus-Peter Adam

befunden und ihre Ältesten hätten mit diesen die Aussendung von
Boten nach Israel erreichen können (V 3). Die Vereinbarung einer Frist
mit diesem Bedränger, um Boten nach Israel um Hilfe auszusenden,
wirkt nicht plausibel als Nachzeichnung eines faktischen Belagerungs-
verlaufs in einem neutralen Belagerungsbericht. Hätte Nahasch die
Stadt einzunehmen vermocht, hätte er dies sogleich getan. Doch erfüllt
der Erzählzug einen vom Erzähler intendierten Zweck. Das Angebot
des Ammoniterkönigs dient dem Erzähler dazu, die Sendung an Saul
und seine Hilfeleistung in die Erzählung einzufügen. Die Androhung
von Israels Schmach (11,2b) durch die Demütigung der Jabeschiten
setzt voraus, Jabesch gehöre zu Israel und nur deshalb ergibt sich eine
Zwangslage der Israeliten, bzw. Sauls, dessen Stellung als israelitischer
König in der von ihm beanspruchten Vormacht in Frage gestellt wird.
Die Bitte der Jabeschiten aus dem Ostjordanland kann nur eingefügt
werden, weil die Israeliten mit deren Schicksal verbunden sind. Doch
schildern 1Sam 11,1-11 den Handlungsverlauf wohl ironisch-
distanziert aus judäischer Sicht. Dies liegt nahe, wenn die Erzählung
die Überlieferung in 2Sam 2,4b-7 voraussetzt. Sauls Vormachtstellung
in Jabesch Gilead erklären 2Sam 2,4b-7 damit, dass die Jabeschiten es
nach der vormaligen Saulidenherrschaft ablehnen, sich dem Judäer
David anzuschließen.45 Die Ablehnung Davids und die Saulidenherr-
schaft in Jabesch bedingen einander. In eben diesem Spannungsfeld der
Figurenkonstellation von David und Saul muss die Erzählüberlieferung
eingeordnet werden, weil die Ammoniterkriegsberichte 2Sam 10; 12,26-
31 ausführlich von Rabbas Einnahme durch Davids Truppen berichten.

45 Den späteren Untergang der Jabeschiten mit ganz Gilead setzen Kriegserzählungen
über den omridischen König Ahab in 1Kön 20,1-43 und 22,1-38 voraus. Deren lite-
rargeschichtliche Einordnung bleibt einer ausführlicheren Darstellung vorbehalten.
H.-C. Schmitt, Elisa. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur vorklassischen
nordisraelitischen Prophetie, Gütersloh 1972, 32-72; 133-136 und ihm folgend S. Otto,
Jehu, Elia und Elisa. Die Erzählungen von der Jehu-Revolution und die Komposition
der Elia-Elisa-Erzählungen, (BWANT 152), Stuttgart 2001, 202; 207-208 weisen die
Erzählungen (neben 2Kön 3,4-27; 6,24-7,20) einer separaten Erweiterungsschicht von
Kriegserzählungen zu. Die etwas schematische Einordnung als Zufügung zur Dtr
Grundschrift muss um literarische Binnendifferenzierung in den Erzählungen erwei-
tert werden. Bereits die Einordnung als Zufügung (nach H.-C. Schmitt, Elisa,
32-51; 68-72, allerdings aus einer alten, prophetisch redigierten Sammlung von
Kriegserzählungen; vgl. auch die Einordnung von 2Kön 16,31bΆ-22,38 als Nachträge
zu DtrG, bei Kratz, Komposition [wie Anm. 5], 192) zeigt die Distanz zur israeliti-
schen Beherrschung Jabeschs in der Omridenzeit. Die rhetorische Frage des israeliti-
schen Königs „Wisst ihr nicht, dass Ramoth in Gilead uns gehört?“ (vgl. 1Kön 22,3a)
steht für einen hybriden israelitischen Anspruch auf das Gebiet, das kaum je genuin
israelitisches Territorium war. Kriegserzählungen wie 1Kön 22,1-38 reflektieren in
ihrer Tendenz den Verlust dieses Gebietes als Konsequenz einer von der Prophetie
Micha ben Jimlas kritisierten Überheblichkeit der israelitischen Monarchie.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 147

Diesen judäischen (Teil-) Erfolgen gegenüber den Ammonitern steht


(konzeptionell) eine Niederlage der Israeliten gegenüber.46 Gilead als
Teil des israelitischen Stammesgebietes in 2Sam 2,9 ist als Fiktion zu
verstehen, die den Verlust des Gebietes narrativ mit seiner Zuordnung
zum israelitischen Saulsohn begründet.47 Aus mehreren Gründen ist
1Sam 11 auch von anderen Ammoniterüberlieferungen abhängig. Im
Kontext der judäischen Geschichtsschreibung begründet Sauls Ammo-
nitersieg bei der Verteidigung Jabeschs den israelitischen Anspruch auf
eine Herrschaft jenseits des Jordan, die jedoch, dies ist ein Zielpunkt
der Saulüberlieferung, mit dessen Tod verloren ging. Sofern 2Sam 2,4b-
7 die Voraussetzung von 1Sam 11,1-11 bilden, ist die Errettung der
Jabeschiten eine Vorausdeutung ihres folgenden Unterganges.
Sofern 1Sam 11 als literarisch sekundäres Stück andere Saul-David-
Überlieferungen (wie 2Sam 2,4b-7) voraussetzt, erschließen sich weitere
Details. „Nahasch, der Ammoniter“, ist in den Samuelbüchern nur in
negativen Zusammenhängen, bzw. als Name48 eines feindlichen Herr-
schers belegt. 1Sam 11 führt ihn ohne Funktionsbezeichnung ein. Nah-
aschs Position wird aus dem Verlauf der Erzählung und unter Voraus-
setzung von 2Sam 10 deutlich.49 Unklar ist, wie die Belagerten eine Frist
aushandeln und dann die eingeschlossene Festung am Folgetag verlas-
sen konnten.50 Innerhalb der Belagerungserzählung wird dieser Zug
der Erzählung plausibel, sofern der Bericht über Sauls Schlacht gegen
die Ammoniter die Sachlage aus kritischer Perspektive humoristisch
verzerrt darstellt.
Ähnliches gilt für die Darstellung Sauls als Viehhirte bzw. Acker-
bauer. Auch sie entspringt einer kritischen Perspektive auf den israeli-
tischen König (V 5). Sauls Einberufung des Bannes durch die in Anleh-
nung an kultische Vorgänge beschriebene Zerstückelung51 eines

46 Vgl. z.B. 1Kön 22,29-37; die literarischen Verhältnisse können hier nicht berücksich-
tigt werden. Von Teilerfolgen gegen die Ammoniter berichten neben 1Sam 14,47 nur
1Sam 11,1-11.
47 Vgl. zu diesem Verständnis der Erwähnung von Gilead in 2Sam 2,9 ausführlich
Adam, Saul und David (wie Anm. 34), 56-60; 66-68.
48 Vgl. als ammonitischer König 2Sam 10,2; 1Chr 19,1-2; und (abhängig von 1Sam 11)
1Sam 12,12; vgl. noch den Vater von Abigail und Zerujah 2Sam 17,25 und die Stadt
1Chr 4,12.
49 Dies spricht für eine Entwicklung von 1Sam 11 aus 2Sam 10. Dass es sich um eine
aus der Erzählung und aus 2Sam 10,1-2 zu erschließende Voraussetzung handelt,
notiert auch K. Budde, Die Bücher Samuel (KHC), Tübingen 1902, 73. Vielleicht ist
nur der Name des Ammoniters aus 2Sam 10 übernommen.
50 1Kön 20,2-6 fordert Benhadad die sofortige Auslieferung eines Tributes in Form von
Silber und Gold von den Unterworfenen.
51 Vgl. die Terminologie VZP, das in Zusammenhängen kultischer Schlachtung auf
Brandopfer verweist, Lev 1,6.8.12; 8,20; vgl. auch Ri 19,29, dessen Zusammengehö-
148 Klaus-Peter Adam

Rindergespanns und seine Strafandrohung für den Fall der Gefolg-


schaftsverweigerung (V 7), wirken verzweifelt bzw. komisch und sind
auf dem Hintergrund einer kritisch-distanzierten Sicht der Geschehnis-
se unter Saul in Israel zu verstehen.52 Nicht nur die Truppenstärke,53
auch Details der Kriegsführung, wie die Schlacht unter sengender (Mit-
tags-) Sonne54 sind stilisiert und verdanken sich einem kritischen Er-
zählerblick.
Die Paradigmatik der beschriebenen Situation zeigt sich ebenso an
den Ortsbezeichnungen. Die unspezifische Bezeichnung „Hügel Sauls“
11,4 entspringt einer kritischen Sicht auf den Ursprung des israeliti-
schen Königtums. Die Varianten von Sauls Einsetzung zum König über
Israel tragen durch die mit ihnen verbundenen Orte besondere Akzen-
te, die sich als Auseinandersetzung der judäischen Geschichts-
schreibung mit dem israelitischen Königtum erklären lassen. Sauls
Verbindung mit Gibeah/Geba in Benjamin nach 1Sam 9,1 (vgl. 10,5)
bezieht sich auf den von Juda unter Asa von Israel eroberten Ort Gi-
beah/Geba in Benjamin.55 Das damals von Juda eingenommene Mizpa
in Benjamin spielt in der Saulüberlieferung eine gewichtige Rolle. Re-
trospektiv wird es als altes Versammlungszentrum des Nordreiches

rigkeit mit 1Sam 11,7 stets gesehen wurde, was zur Annahme desselben Verfassers
führte, vgl. Budde, Samuel (wie Anm. 49), 75. Zum Derivat VCZP vgl. Ex 29,17;
Lev 1,6.8.12; 8,20; 9,13; Ez 24,4.6 (cj. 24,5); Sir 50,12.
52 Für diese kritische Sicht auf Sauls als „archaisches“ israelitisches Verhalten geschil-
derte Zerstückelung spricht auch ihre Wirkungsgeschichte in der karikierend-
kritischen Benjaminitenüberlieferung Ri 19,29, die den befremdlichen Zug ins Gro-
teske übersteigert.
53 Die Zahlen der Musterung beruhen auf Übertreibung, vgl. bereits Budde, Samuel
(wie Anm. 49), 75; die getrennte Erwähnung von Israel und Juda spiegelt das Ge-
schichtsbild. Bezek ist Jud 1,4-5 erwähnt; vgl. zur Besiedlungsgeschichte ab der
Amarnazeit und zur Identifikation mit ‹irbet ‰bziq P. Welten, Bezeq, ZDPV 81 (1965)
138-165, bes. 164-165.
54 Vgl. V 9. Wagner, Geist und Tora (wie Anm. 35), 107-111 zeigt den traditions- und
religionsgeschichtlichen Hintergrund in Jos 10,12-13 (vgl. J YYJ10,6; und JHWHs
Eintreten nach 10,14b für Israel) und Ex 17,8-16 auf. Vgl. den Hinweis auf die von
B. Janowski, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Got-
tes am Morgen im Alten Orient und im Alten Testament, Band I: Alter Orient,
(WMANT 59) Neukirchen-Vluyn 1989, aufgezeigten Kontexte; vgl. dort 198-199 zu
1Sam 11,9.11; Ex 17,8ff. Doch ist in 11,9 das Heraneilen der Hilfe in der Hitze der
Sonne (das nicht textkritisch in „wie“ die Hitze der Sonne zu ändern ist), dem ironi-
schen Erzählstil geschuldet.
55 Vgl. 1Kön 15,22. Die Unbestimmtheit der Bezeichnung von Gibeah/Geba „Hügel“
entspricht in ihrer Allgemeinheit der Offenheit der Saulüberlieferung. Sauls Veror-
tung in Benjamin spiegelt eine entsprechende Bedeutung Gebas in Benjamin, das Ju-
da von Israel erobert hat, vgl. 1Kön 15,22b. Zur Bedeutung des Ortes in der dtr. His-
toriographie s. die Überlegungen in Adam, Saul und David (wie Anm. 34),
69-73.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 149

und als „der geistliche Mittelpunkt Israels“56 konzipiert. Diese israelkri-


tische Geschichtsdarstellung ist von der späteren Einnahme des Ortes
durch Judäer nach 1Kön 15,22 her entworfen. Die Darstellung der nega-
tiven Vorgeschichte der Israeliten (oder Benjaminiten) unter Saul recht-
fertigt die Einnahme durch Juda. Dieses Verständnis entfaltet sich be-
sonders in polemischen, nachexilischen Volkserzählungen über Benja-
min57 sowie in der späten Saulüberlieferung58 und wird letztlich mit
den Ursprüngen des Königtums Sauls und seiner Einsetzung begrün-
det in 10,17-25.59 Die Unbestimmtheit der geographischen Verortung
der Saulüberlieferung wird in den allgemeinen Ortsbezeichnungen
„Hügel“ (Gibeah) bzw. „Aussichtspunkt“ (Mizpa) deutlich, die beide
mit Sauls Einsetzung verbunden sind. Eindeutig kennzeichnet sie nach
den textlichen Zeugnissen lediglich ihre Lage in Benjamin, bzw. im
später von Juda im Grenzkrieg eroberten Gebiet.
Der kritisch-distanzierten Sichtweise entspricht eine teils ironische
Darstellung. Sie setzt sich in der Lokalisierung der folgenden Erneue-
rung des Königtums an dem in der israelitischen Königsgeschichte und
der Richterzeit aus judäischer Sicht durchweg negativ konnotierten Ort
Gilgal 11,14-15 fort.60 Die judäische Prophetie erwähnt Gilgal als Wall-
fahrtsziel61 und als Ort prophetischer Tätigkeit;62 konnotiert ist der Ort
durch die prophetische Kritik am Wallfahrtswesen.63 In diese retro-

56 Budde, Samuel (wie Anm. 49), 49.


57 Ri 20,1.3; 21,1.5.8.
58 1Sam 7,5-12; 16. Auch Samuels Einsatz für Israel 1Sam 7,5 legt den positiven Akzent
lediglich auf den Propheten, während die Israeliten dadurch gekennzeichnet sind,
dass sie seiner Hilfe für den Frieden bedürfen, den sie aufgrund seines Eingreifens
nur temporär finden können. Samuels Auftritt in Mizpa bedeutet nicht die positive
Erwähnung dieses Ortes, sondern belegt Israels Angewiesenheit auf Samuels Rich-
teramt.
59 E. Stern, Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land, Jerusalem /
New York 1993, 1098-1102; P. M. Arnold / D. N. Freedman (Hgg.), Mizpah (ABD 3),
New York u.a. 1992, 879-881. Angesichts einer kontinuierlichen Besiedlung des Ortes
in der EZII und einer Siedlungspause zwischen dem 5. und 2. Jh. v.Chr. ist die Los-
wahlüberlieferung 10,17-25 nicht vor der hellenistischen Zeit anzusetzen, da sie auf
Divinationstechniken anspielt, die auf griechischen Einfluss hindeuten.
60 Vgl. als Übersicht K. Bieberstein, Gilgal, RGG4, Bd. 1, Tübingen 2000, 930-931 und
ausführlicher mit Literatur zur nachexilischen Bearbeitung von Jos 1-6, ders., Josua –
Jordan – Jericho. Archäologie, Geschichte und Theologie der Landnahmeerzählun-
gen Josua 1-6 (OBO 143), Göttingen / Fribourg 1995, 220-221, 423-427, 430-433. Die
genaue Lokalisierung des biblischen und nachbiblischen Ortes ist ungeklärt.
61 Vgl. Am 4,4; 5,5. Als Ort der Summe allen ihres (Ephraims) Frevels (]V TNM)
Hos 9,15; zusammen mit Gilead 12,12.
62 Elisa, vgl. 2Kön 2,1; 4,38.
63 In der kollektiven Erinnerung ist er ferner mit der Überschreitung des Jordan ver-
bunden (Jos 4,19-5,12 als literarische Vorlage von Mi 6,5.), gilt als Ausgangspunkt
150 KlausȬPeterȱAdamȱ

spektivenȱ Geschichtsüberlieferungenȱ reihenȱ sichȱ dieȱ kritischenȱ ErzähȬ


lungenȱein,ȱdieȱGilgalȱalsȱOrtȱderȱVolksversammlungȱundȱgemeinsamerȱ
Opferȱ inȱ derȱ rückprojiziertenȱ Vorzeitȱ erwähnen.64ȱ Inȱ 1Samȱ 11,15ȱ sindȱ
dieȱ„Friedensopfer“ȱ(][ON][ZD\),ȱmitȱdenenȱeinȱMahlȱverbundenȱwar,ȱ
wieȱ dieȱ Festfreudeȱ vermutenȱ lässt,ȱ dieȱderȱ paralleleȱStichosȱ erwähnt,65ȱ
alsȱ weiteresȱKennzeichenȱeinerȱisraelkritischenȱ Darstellungȱzuȱ werten.ȱ
Einȱ„Friedensopfer“66ȱinȱGilgalȱnenntȱauchȱ1Samȱ13,9.67ȱWieȱinȱanderenȱ
Erzählungenȱ unterbrichtȱ eineȱ Opfermahlfeierȱ eineȱ Handlungsfolgeȱ
oderȱ schließtȱ sieȱ ab.68ȱ Währendȱ 1Samȱ 14,32ȱ einȱ unrechtmäßigesȱ Opferȱ
erwähnt,ȱformuliertȱ1Samȱ11,15ȱzwarȱneutral,ȱdochȱistȱGilgalȱalsȱOrtȱderȱ
Mahlfeierȱ negativȱ belegt,ȱ wieȱ dieȱ prophetischeȱ Kritikȱ imȱ AmosȬȱ undȱ
Hoseabuchȱvoraussetzt.ȱSamuelsȱRedeȱinȱ1Samȱ12ȱlässtȱsichȱvonȱdieserȱ
Lokalisierungȱ ebensoȱ wenigȱ wieȱ vonȱ ihremȱ Bezugȱ aufȱ Saulsȱ israelitiȬ
schesȱKönigtumȱtrennen.69ȱDieȱ„Erneuerung“ȱbeziehtȱsichȱaufȱdasȱisraeȬ

ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
derȱEroberungȱundȱVerteilungȱ(Josȱ9,6;ȱ10,6Ȭ7.9;ȱ10,15.43;ȱ14,6)ȱundȱwirdȱmitȱIdolenȱ
inȱVerbindungȱgebrachtȱ(Riȱ3,19.26).ȱ
64ȱȱ Vgl.ȱ1Samȱ7,16,ȱinȱderȱSaulsȱTragikȱundȱVerwerfungȱsichȱvollzieht,ȱebensoȱ1Sam10,8;ȱ
13,4.7.12.15;ȱ 15,12.21.33.ȱ Saulsȱ törichterȱ verfrühterȱ Beginnȱ mitȱ derȱ Opferhandlungȱ
nachȱ siebenȱ Tagenȱ aberȱ nochȱ bevorȱ Samuelȱ kamȱ 1Samȱ 13,8Ȭ9,ȱ wirdȱ alsȱ Grundȱ fürȱ
seineȱ nichtȱ alsȱ bewussteȱ Fehlhandlungȱ verübteȱ schuldhafteȱ Handlungȱ dargestellt,ȱ
vgl.ȱNMUȱ13,13a.ȱȱ
65ȱȱ Vgl.ȱ dieȱ ausdrücklicheȱ Erwähnungȱ desȱ Essensȱ Levȱ 7,15.18.20Ȭ21;ȱ Exȱ 32,6;ȱ Dtnȱ 27,7;ȱ
2Samȱ6,19;ȱ1Könȱ3,15.ȱ
66ȱȱ Vgl.ȱLXXȱ1Samȱ11,15ȱȚȤIJտįȣ Ȝįվ ıԼȢșȟțȜոȣ.
67ȱȱ Vgl.ȱ 1Samȱ 10,8.ȱ Manȱ wirdȱ wieȱ fürȱ 11,14Ȭ15ȱ fürȱ eineȱ nachexilischeȱ Entstehungszeitȱ
dieserȱ retrospektivenȱ Geschichtssichtȱ ausgehenȱ können,ȱ dennȱ dieȱ Basisȱ möglicherȱ
vorexilischerȱBelegeȱistȱzuȱschmal,ȱumȱausgehendȱvonȱdiesenȱErwähnungenȱeineȱalteȱ
TraditionȱdieserȱOpferȱanzunehmen.ȱAndersȱdieȱAnnahmeȱvonȱSeidl,ȱ][ON,ȱThWATȱ
8ȱ (wieȱ Anm.ȱ 17),ȱ 101Ȭ111,ȱ hierȱ 104,ȱ zurȱ Verteilungȱ derȱ 86ȱ alttestamentlichenȱ Belegeȱ
(50ȱP,ȱ8ȱChrGWȱundȱ6ȱ Ez).ȱDieȱübrigenȱfindenȱsichȱinȱ Altarbaugesetzenȱundȱderenȱ
AnwendungȱExȱ20,24;ȱDtnȱ27,7;ȱJosȱ8,31;ȱbzw.ȱüberȱdieȱErrichtungȱvonȱAltärenȱundȱ
derenȱAnwendungȱExȱ24,5;ȱ32,6;ȱJosȱ22,23.27;ȱ1Könȱ9,25;ȱ2Könȱ16,13;ȱbeiȱKlageritenȱ
imȱBenjaminitenkriegȱRiȱ20,26;ȱ21,4;ȱbeiȱSaulsȱKönigskürȱ1Samȱ10,8;ȱvorȱseinemȱPhiȬ
listerfeldzugȱ13,9;ȱvonȱDavidȱ2Samȱ6,17Ȭ18//1ȱChrȱ16,2ȱundȱ2Samȱ24,25//1Chrȱ21,26;ȱ
Salomoȱ1Könȱ3,15;ȱundȱbeiȱderȱTempelweiheȱ1Könȱ8,63Ȭ64//2Chrȱ7,7.ȱȱ
68ȱȱ Vgl.ȱ dasȱ Opfermahlȱ inȱ 1Samȱ 14,32Ȭ35,ȱ nachȱ demȱ unrechtmäßigenȱ Blutverzehrȱ desȱ
Volkesȱ undȱ Saulsȱ Altarbau,ȱ bzw.ȱ nachȱ derȱ Beschwörungȱ desȱ Totengeistesȱ Samuelsȱ
1Samȱ28,21Ȭ25aȱmitȱAnklängenȱanȱeinȱTotenmahl.ȱȱȱ
69ȱȱ T.ȱ Veijola,ȱ Dasȱ Königtumȱ inȱ derȱ Beurteilungȱ derȱ deuteronomistischenȱ HistoriograȬ
phie.ȱEineȱredaktionsgeschichtlicheȱUntersuchunȱ (AASF,ȱSer.ȱBȱ198),ȱHelsinkiȱ1977,ȱ
84ȱwillȱdieȱRedeȱinȱ12,ȱdieȱerȱDtrNȱzuordnet,ȱwieȱalleȱdessenȱRedenȱohneȱLokalisieȬ
rungȱverstehen.ȱHingegenȱwirdȱ1Samȱ11,14Ȭ15ȱhäufigȱauchȱalsȱzugehörigȱzuȱ12ȱverȬ
standen,ȱvgl.ȱWagner,ȱGeistȱundȱToraȱ(wieȱAnm.ȱ35),ȱ111,ȱA.ȱWeiser,ȱSamuel.ȱSeineȱ
geschichtlicheȱ Aufgabeȱ undȱ religiöseȱ Bedeutungȱ (FRLANTȱ 81),ȱ Göttingenȱ 1962,ȱ 82;ȱ
L.ȱM.ȱEslinger,ȱKingshipȱofȱGodȱinȱCrisis.ȱAȱCloseȱReadingȱofȱ1Samuelȱ1Ȭ12,ȱSheffieldȱ
1985,ȱ383Ȭ384.ȱ
ȱ ErzählerwertungȱundȱGeschichtsverständnisȱinȱdenȱSamuelbüchernȱ 151ȱ

litischeȱ Königtum,ȱ dessenȱ ersterȱ Vertreterȱ Saulȱ ist.70ȱ Dieȱ mitȱ Gibeah,ȱ
Mizpaȱ undȱ Gilgalȱ verbundenenȱ Wertungenȱ entsprechenȱ demȱ judäiȬ
schenȱUrteilȱüberȱdieȱFrühzeitȱdesȱisraelitischenȱKönigtumsȱalsȱparadigȬ
matischerȱ Unheilszeit.71ȱ Dieȱ Tendenzȱ vonȱ 11,1Ȭ11ȱ alsȱ retrospektivȱ ausȱ
2Samȱ2,4bȬ7ȱbzw.ȱ14,47ȱherausgesponnenerȱFeinderzählung,72ȱsetztȱsichȱ
mitȱdenȱspäterȱvonȱIsraelȱabgefallenenȱGileaditenȱauseinander,ȱdieȱnachȱ
2Samȱ 2,4bȬ7ȱ Davidsȱ Angebotȱ alsȱ Königȱ überȱ Judaȱ überȱ ihreȱ Stadtȱ zuȱ
herrschen,ȱ ablehnten.ȱ Ausȱ kritischȬdistanzierterȱ Haltungȱ gegenüberȱ
Israelȱ schildertȱ dieȱ Erzählung,ȱ wieȱ Saulȱ denȱ Ammoniterangriffȱ inȱ derȱ
Vorzeitȱ abwehrte.ȱ Derȱ mitȱ derȱ Omridenzeitȱ verbundeneȱ Verlustȱ JaȬ
beschsȱinȱGileadȱwirdȱschonȱinȱIsraelsȱVorzeitȱbegründet.ȱȱ
Jabeschsȱ ammonitischeȱ Bedrohungȱ undȱ Saulsȱ Befreiungsfeldzugȱ
sindȱ überȱ 11,1Ȭ11*ȱ hinausȱ auchȱ inȱ denȱ Rahmenpartienȱ erkennbar.ȱ AuȬ
ßerȱ inȱ 11,14Ȭ15ȱ entspringenȱ auchȱ dieȱ vonȱ Saulȱ toleriertenȱ BeschuldiȬ
gungenȱalsȱ„Nichtswürdiger“,73ȱderȱnichtȱhelfenȱkannȱ(10,27)ȱeinerȱkriȬ
tischenȱSichtȱaufȱdenȱisraelitischenȱDynastiebegründer.ȱȱ
Aufȱ demȱ Hintergrundȱ derȱ skizziertenȱ kritischȬdistanziertenȱ SichtȬ
weiseȱlässtȱsichȱdieȱliterarischeȱEntwicklungȱderȱErzählungȱimȱwesentȬ
lichenȱ anȱ ihrenȱ Rändernȱ rekonstruieren.ȱ 1Samȱ 11,1Ȭ5.6*.7a.9Ȭ11ȱ bildenȱ
eineȱ literarischeȱ Einheit,ȱ währendȱ 10,27ȱ inȱ denȱ Zusammenhangȱ vonȱ
11,12Ȭ13ȱgehört.ȱDieȱForderungȱnachȱderȱHinrichtungȱderȱUnwürdigenȱ
inȱ11,12ȱundȱdieȱVerhinderungȱdieserȱRachetatȱdurchȱSaulȱistȱredaktioȬ
nellȱeingebrachteȱThematik.74ȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
70ȱȱ Vgl.ȱ?NOinȱderȱRedeȱSamuelsȱ12,2.13ȱbezogenȱaufȱSaul.ȱȱ
71ȱȱ Auchȱdasȱinȱ11,8ȱgenannteȱBezekȱistȱkaumȱalsȱalterȱOrtsnameȱbelegt.ȱAngesichtsȱderȱ
ParalleleȱRiȱ1,4Ȭ5ȱistȱvonȱeinerȱVerbindungslinienȱzurȱRichterüberlieferungȱinȱnachȬ
exilischerȱZeitȱauszugehen;ȱnebenȱderȱmöglicherweiseȱdurchȱBearbeitungȱeingefügȬ
tenȱGeistbegabungȱSauls,ȱdieȱdieȱErzählungȱmitȱRichterüberlieferungenȱverbindet.ȱȱ
72ȱȱ DerȱBezugȱvonȱ2Samȱ2,4bȬ7ȱzuȱ1Samȱ11ȱwirdȱstetsȱgesehen,ȱdochȱwird,ȱimȱBemühenȱ
umȱ eineȱ Ermittlungȱ derȱ „historischen“ȱ Hintergründeȱ einerȱ chronologischȱ frühȱ verȬ
standenenȱ Herrschaftȱ Sauls,ȱ beidenȱ Überlieferungenȱ letztlichȱ Quellencharakterȱ zuȬ
geschrieben,ȱvgl.ȱexemplarischȱfürȱvieleȱD.ȱEdelman,ȱSaul’sȱrescueȱofȱJabeshȬGileadȱ
(IȱSamuelȱ1,ȱ1Ȭ11):ȱSortingȱStoryȱfromȱHistoy,ȱZAWȱ96ȱ(1984)ȱ195Ȭ209,ȱhierȱ206Ȭ207,ȱ
dieȱ eineȱ Gestaltungȱ einerȱ literarischȱ mitȱ 11,1Ȭ2a.ȱ oderȱ 2b.4a.8a.9Ȭ11ȱ bestimmtenȱ
GrunderzählungȱimȱStilȱköniglicherȱAnnalenȱinȱeineȱstilisierteȱRichtererzählungȱ(šoȬ
petȬtale)ȱannimmt,ȱdieȱdannȱdenȱMittelteilȱderȱinȱ1Samȱ9Ȭ11ȱausformuliertenȱKompoȬ
sitionȱvonȱderȱKönigseinsetzungȱSaulsȱbildet.ȱȱ
73ȱȱ N [ND[PD10,27aȱ istȱ einȱ abschätzigerȱ Terminus.ȱ Dassȱ Saulȱ sichȱ gegenüberȱ diesenȱ
abschätzigȱ bezeichnetenȱ verräterischenȱ Untergebenenȱ (vgl.ȱ etwaȱ inȱ 1Samȱ 25,17.25;ȱ
1Könȱ21,10.13)ȱnichtȱdurchsetzenȱkann,ȱdieȱverweigern,ȱihmȱeineȱTributgabeȱalsȱKröȬ
nungsgeschenkȱzumȱRegierungsantrittȱzuȱbringen,ȱwirftȱeinȱebensoȱschlechtesȱLichtȱ
aufȱ ihn,ȱ wieȱ aufȱ seinenȱ unfähigenȱ Nachfolgerȱ Ischbaal,ȱ derȱ vonȱ „Frevlern“ȱ
(][ T2Samȱ4,11)ȱgemeucheltȱwird.ȱ
74ȱȱ Vieleȱ derȱ SaulȬDavidȬErzählungenȱ inȱ 1Ȭ2Samȱ erweiterteȱ manȱ aufȱ derȱ Grundlageȱ
juridischerȱUnterscheidungȱzwischenȱvorsätzlicherȱTötungȱundȱTotschlagȱohneȱVorȬ
satz.ȱVgl.ȱbesondersȱdieȱlangenȱjuridischenȱErörterungenȱinȱdenȱRedepartienȱinȱ1Samȱ
152 KlausȬPeterȱAdamȱ

DieȱdramatisȱpersonaeȱderȱErzählungȱwurdenȱbearbeitet.ȱNebenȱ„IsȬ
rael“75ȱ stehtȱ alsȱ Bezeichnungȱ fürȱ dieseȱ Größeȱ auchȱ „dasȱ Volk“.76ȱ Ausȱ
dieserȱ (späteren,ȱ universaleren)ȱ Geschichtssichtȱ überlagernȱ sichȱ dieȱ
beidenȱ Größenȱ Israelȱ undȱ Judaȱ immerȱ stärkerȱ undȱ „Israel“ȱ wirdȱ Teilȱ
desȱ(judäischen)ȱVolkes.ȱEineȱweitereȱliterarischeȱBearbeitungȱfügteȱdenȱ
Gottesschreckenȱ inȱ Vȱ 7bȱ sowieȱ Judaȱ inȱ Vȱ 8ȱ ein.ȱ Dieȱ Erzählungȱ wirdȱ
dadurchȱ fürȱ eineȱ Geschichtssichtȱ beansprucht,ȱ inȱ derȱ Judaȱ ganzȱ Israelȱ
vertrat.ȱ Nochȱ immerȱ istȱ Saulȱ abgewertet,ȱ wieȱ dieȱ Erneuerungȱ desȱ KöȬ
nigtumsȱinȱGilgalȱinȱ11,14Ȭ15ȱzeigt,ȱdochȱsetztȱdieȱEpisodeȱeineȱEinheitȱ
zwischenȱIsraelȱundȱJudaȱunterȱderȱproblematischenȱHerrschaftȱIsraelsȱ
voraus.ȱ Dieȱ Retterterminologieȱ undȱ Saulsȱ temporäreȱ Geistbegabungȱ
(Vȱ6a)ȱentspringenȱeinerȱkritischenȱSichtȱaufȱSaul,ȱdieȱdieȱTendenzȱderȱ
Grundschriftȱ verstärkt.ȱ Dieȱ Rahmenverseȱ 10,26Ȭ27ȱ undȱ 11,12Ȭ13ȱ sindȱ
sekundäreȱ Ergänzung;ȱ währendȱ dieȱ Erneuerungȱ desȱ Königtumsȱ inȱ
Gilgalȱ Vȱ 14Ȭ15ȱ derȱ gegenüberȱ Israelȱ kritischȬdistanziertenȱ Haltungȱ derȱ
Grundfassungȱ entsprichtȱ undȱ vonȱ dieserȱ nichtȱ aufgrundȱ derȱ saulkritiȬ
schenȱ Tendenzȱ getrenntȱ werdenȱ kann.ȱ Daȱ Vȱ14Ȭ15ȱ jedochȱ Samuelȱ erȬ
wähnen,ȱ gehenȱ sieȱ aufȱ prophetischeȱ Überarbeitungȱ zurück,ȱ dieȱ Gilgalȱ
entsprechendȱderȱprophetischenȱÜberlieferungȱalsȱproblematischenȱOrtȱ
mitȱdemȱUrsprungȱdesȱisraelitischenȱKönigtumsȱverbindet.ȱLiterarischȱ
wurdeȱ somitȱ dieȱ ausȱ 2Samȱ 2,4bȬ7ȱ herausgesetzte,ȱ kritischȬdistanzierteȱ
Erzählungȱ 1Samȱ 11,1Ȭ11*ȱ vonȱ derȱ Vernichtungȱ derȱ Ammoniterȱ mitȱ
Zügenȱ einesȱ Schwanksȱ inȱ Vȱ 11Ȭ12.14Ȭ15ȱ undȱ 10,26Ȭ27,ȱ sowieȱ inȱ Vȱ 7bȬ8ȱ
weiterȱ bearbeitet. 77ȱ Vȱ 7ȱ istȱ derȱ Zusatzȱ „undȱ hinterȱ Samuel“ȱ eineȱ ganzȱ
späteȱErgänzung.78ȱ
DieseȱRekonstruktionȱergibtȱeinȱneuesȱGesamtbildȱderȱSaulfigurȱinȱ
1Samȱ11.ȱDieȱErzählkompositionȱwertetȱSaulȱausȱSichtȱderȱmitȱSamuelȱ
verbundenenȱ judäischenȱ Prophetie79ȱ ab.ȱ Dieȱ Zügeȱ Saulsȱ wurdenȱ wirȬ
kungsgeschichtlichȱ bisȱ inȱ hellenistischeȱ Zeitȱ hineinȱ ausgeführt,ȱ alsȱ derȱ
ersteȱ israelitischeȱ Königȱ nochȱ immerȱ alsȱ Flächeȱ derȱ Rückprojektionȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
24ȱundȱ26,ȱdieȱdieȱUnterscheidungȱderȱErweiterungȱvonȱExȱ21,12ȱinȱVȱ13Ȭ14ȱnarrativȱ
umsetzen.ȱZuȱweiterenȱliterarischenȱBestandteilenȱdieserȱSchichtȱvgl.ȱdenȱNachweisȱ
dieserȱMotivikȱinȱdenȱFluchtgeschichtenȱ1Samȱ23Ȭ27ȱinȱK.ȬP.ȱAdam,ȱSaulȱundȱDavidȱ
(wieȱAnm.ȱ34),ȱ98Ȭ122.ȱȱ
75ȱȱ Vgl.ȱVȱ2.3.7.8.13.15.ȱȱ
76ȱȱ Vgl.ȱVȱ5.7b.11a.12.14ȱsowieȱbeiȱderȱEinsetzungȱSaulsȱVȱ15.ȱȱ
77ȱȱ Vgl.ȱ Wagner,ȱ Geistȱ undȱ Toraȱ (wieȱ Anm.ȱ 35),ȱ 99.ȱ Kratz,ȱ Kompositionȱ (wieȱ Anm.ȱ 5),ȱ
176,ȱordnetȱdieȱErzählungȱdemȱpositivenȱderȱbeidenȱErzählsträngeȱderȱSaulüberlieȬ
ferungȱquellenhaftȱzu;ȱVȱ5Ȭ8ȱsindȱalsȱBearbeitungȱimȱGeistȱdesȱRichterbuchesȱliteraȬ
rischȱsekundär,ȱebd.ȱ180.ȱȱ
78ȱȱ Vgl.ȱBudde,ȱSamuelȱ(wieȱAnm.ȱ49),ȱ75.ȱ
79ȱȱ Vgl.ȱdasȱErgebnis,ȱdasȱVerhältnisȱzwischenȱSamuelȱundȱSaulȱseiȱnichtȱpositivȱgeweȬ
sen,ȱsondernȱbeideȱFigurenȱstandenȱeinanderȱfeindlichȱgegenüberȱbeiȱMommer,ȱSaȬ
muelȱ(wieȱAnm.ȱ30),ȱ211.ȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 153

diente.80 Doch entspricht bereits die Form der Darstellung in kurzen


Erzählsequenzen 1Sam 11,1-5.6*.7a.9-11 mit vielen Dialogen derjenigen
des Dramas. Auch ihre Form der rückblickenden Reflexion mit voraus-
deutenden Orakeln hat griechische Parallelen. Im Rückblick auf die
Gründungszeit des israelitischen Königtums wird Jabesch als histori-
scher Ort des Sieges gegen die Ammoniter hier antizipativ, bereits auf
dem Hintergrund des Verlustes des Ostjordanlandes durch die Israeli-
ten erwähnt. Der kurzfristige Ammonitersieg steht im Kontext der Ein-
setzung Sauls in den von der judäischen Prophetie kritisch gewerteten
Orten Gilgal, Mizpa und Gibeah, sowie dem Herkunftsort Sauls aus
Benjamin nach 1Sam 9,1. Die Erzählerwertung entspricht derjenigen
der Vorgeschichte, die die mit Saul verbundene Dynastie negativ beur-
teilt. Die Figuren in dieser anonymen Erzählüberlieferung der bibli-
schen Autoren sind durchgehend aus judäischer Perspektive beschrie-
ben und dadurch geprägt. Darstellungsmittel des gesamten Plots von
Saul, besonders die episodenhafte Reihung durch Voranstellung pro-
phetischer Orakel, die auf folgende Ereignisse verweisen (10,8; 13,7b-
13a) und Sauls Scheitern antizipieren, finden sich auch in der griechi-
schen Historiographie.81 Dass sich noch weitere Parallelen in der Dar-
stellungstechnik der Samuelbücher zu Drama und Epos finden, soll im
folgenden an der Botenfigur aufgezeigt werden.

80 Dabei zeigen sich unterschiedliche Tendenzen. Pseudo-Philo stellt in seinem Liber


Antiquitatum Biblicarum Saul als gemein und des Königtums unwürdig dar. Im
Talmud werden seine Tugenden hingegen übertrieben dargestellt. Josephus ordnet
einerseits gemäß dem biblischen Bild Saul stets David unter und hält zugleich jeden
übernatürlichen Nimbus von der Figur Sauls fern. Im Einzelnen hebt er Sauls cha-
rakterliche Größe hervor und betont seine Heldenhaftigkeit, wie sie sich in seiner
Geburt, seiner körperlichen Attraktivität, der Kardinaltugend der Weisheit, des Mu-
tes, seiner Mäßigung und seiner Frömmigkeit zeigen. Beispielsweise betont Josephus
Sauls Willen zur Feindvergebung, die darin sichtbar wird, dass Saul die aufgebrach-
te Menge in 1Sam 11,12 beruhigt und davon zurückhält, dass sie über die Kritiker an
Sauls Königtum herfallen (Antiquitates Judaicae 6.81). Vgl. zur Wirkungsgeschichte
der Saulfigur in hellenistischer Zeit L. H. Feldman, Josephus’s View of Saul, in: Ehr-
lich / White (Hgg.), Saul (wie Anm. 20), 214-244 (entspricht weitgehend L. H. Feld-
man, Josephus’s Interpretation of the Bible, Berkeley 1998, 509-536), bes. 217-240.
81 Vgl. zur Antizipation und zur Tragik in den Saulerzählungen durch Vorwegnahmen
oder Einfügungen von Unglückszeichen und den Darstellungsmitteln in den Logoi
Herodots unten III. Ausblick.
154 Klaus-Peter Adam

II. Erzählerwertung in Botenszenen und ihr Bezug zu Epos


und Drama

Das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen der in der Erzählung vorausge-


setzten Lebenswelt und der Gegenwart des Autors erfordert es, dessen
Lebenswelt auf die der Erzählung zu beziehen. Die Lebenswelt der
Daviderzählungen setzt die zeitgenössischen gesellschaftlichen und
sozialen Formen voraus, die der Erzähler für die Davidzeit annimmt.
Jenseits der zeitgenössischen Lebenswelt als Hintergrund entnimmt der
Erzähler auch Darstellungsformen aus seiner Umwelt. Handlungsvoll-
züge und Lebenswelt der Erzählung (mimesis I) können auch aus vor-
gegebenen Elementen übernommen sein. Ein prominentes und ubiqui-
täres Element der Erzählungen sind Botenberichte. Die Vermittlung
von Nachrichten durch Boten ist im zweiten und ersten Jahrtausend
v. Chr. in vergleichbaren Erzählkompositionen breit belegt. Inwieweit
die Autoren der Daviderzählungen sie als Teil seiner Komposition ges-
talten, lässt sich durch einen Vergleich mit der Figur des meist anony-
men Boten im griechischen Epos und Drama erkennen. Als anonyme
Figuren haben Botenstimmen innerhalb der Konzeption des Autors
eine besondere Funktion, die derjenigen der Erzählerstimme vergleich-
bar sein kann. Innerhalb der Erzählung scheinen diese anonymen Figu-
ren neutrale Überbringer von Botschaften zu sein. Daher mag ihre
Funktion in einer Erzählkomposition, die ein Erzähler-Ich vermeidet,
wie in den Daviderzählungen, nicht weiter auffällig sein. Dies gilt je-
doch nur, sofern der Autor die Boten tatsächlich als neutrale Figuren
konzipiert. Ein Vergleich mit ihrer Verwendung in anderen Kontexten
zeigt, dass sie jeweils nur scheinbar neutral sind. Im griechischen Dra-
ma setzt der Erzähler Boten dazu ein, um seine Wertungen in deren
Reden zu vermitteln, die explizite Kommentare ersetzen. Die Botenfi-
gur garantiert daher keine Neutralität bei der Darstellung von Sach-
verhalten im Drama, sondern dient der Fokalisierung. Erzählerisch ist
ihr Einsatz beschränkt auf eine Rede von einem Ereignis als „erleben-
des Ich“ in erster Person. Die Autoren setzen die Botenrede im Sinne
ihrer Intention ein.82 In der dramatischen Erzählung und im griechi-
schen Epos haben Botenszenen häufig eine Schlüsselfunktion in der
Darstellung der Handlung. Der Erzähler bleibt anonym, tritt jedoch nur
scheinbar zurück, indem er eine anonyme Figur als Gestaltungsmittel
im Dienste seiner Tendenz einsetzt. Das wird in zwei Botenszenen der

82 Die Analyse der Botenberichte und der Figur des Boten stützt sich weitgehend auf
I.J.F. De Jong, Narrative in Drama. The Art of the Euripidean Messenger-Speech
(Mnemosyne. Bibliotheca Classica Batava Suppl. 116), Leiden 1991.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 155

Daviderzählungen deutlich, in denen David von Sauls bzw. Absaloms


Tod erfährt. Im Vergleich zwischen diesen beiden Szenen sowie mit
ihren griechischen Parallelen erschließt sich die zentrale Funktion des
Boten als Gestaltungsmittel in biblischen Geschichtserzählungen sowie
in Drama und Epos.

1Sam 31; 2Sam 1

Der Bote mit der Nachricht von Sauls Tod in 2Sam 1 ist im Erzählver-
lauf der Daviderzählungen83 herausgehoben. Dies entspricht seiner
sachlichen Bedeutung im Plot. Mit der Ankündigung von Sauls Tod
markiert der Botenbericht den Endpunkt der persönlichen Auseinan-
dersetzung Davids mit Saul. Die Zentralstellung des Botenberichts vom
Tod Sauls wird auch an der Doppelung des Berichts von Sauls Tod in
den beiden literarisch verbundenen Episoden 1Sam 31 und 2Sam 1
erkennbar: Eine kürzere Fassung von 2Sam 1 mit einer Botenszene
wurde später erweitert und 1Sam 31 wurde als eine Version des Ge-
schehens, die Sauls tragisches Schicksal betont, aus einer kürzeren
Form von 2Sam 1 gebildet und dieser vorangestellt. 1Sam 31 fügt das
Motiv des Waffenträgers hinzu, der sich weigert, Saul zu töten und
damit auch Sauls Suizid auf dem Schlachtfeld. Die Rolle des Dieners ist
hier variiert und im Kontrast zu 2Sam 1 positiv ausgeführt: Der Diener
stirbt mit seinem Herrn. Die Grundfassung von 2Sam 1 findet sich in
1a΅.2*.3-4.11.12*.84 Sie bezeichnet den Boten als „Mann“; seine Mittei-
lung ist nur knapp geschildert. Zunächst wurden 2Sam 1,5-7.10 er-
gänzt; eine weitere Bearbeitungsstufe nennt den Boten „Amalekiter“.
Der Grundfassung von 2Sam 1 mag 1Sam 31,1 als (schriftliche) Quelle
vorausgegangen sein. Eine weitere Bearbeitung fügte in 2Sam 1 das
Amalekitermotiv und eine genauere Schilderung von Sauls Tod durch
den Waffenträger ein.

83 Vgl. 2Sam 11,3-4.6; 11,14; 18-25; 14:29; 2Sam 17,17-21; 2Sam 19,2. Nur wenige der
Boten sind namentlich genannt, wie Ahimaaz und Jonatan 2Sam 17,17-21.
84 Vgl. zur Rekonstruktion der Grundfassung A. A. Fischer, Von Hebron nach Jerusa-
lem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zur Erzählung von König David in
II Sam 1-5 (BZAW 335), Berlin 2004, 18-23. Zur Voraussetzung einer Grundform von
2Samuel 1 für 1Sam 31 s. auch J. Vermeylen, La loi du plus fort. Histoire de la rédac-
tion des récits davidiques de 1 Samuel 8 à 1 Rois 2 (BETL 154), Leuven 2000, 182.
156 Klaus-Peter Adam

Als literarische Entstehung von 1Sam 31,1-2 Sam 1,16 ergibt sich:

1Sam 31,1 Kampf der Philister gegen Israel; Nie-


derlage der Israeliten
2Sam 1,1a΅.2*.3-4.11.12* Tod Sauls und Jonatans als Botenbe-
richt; Trauer Davids und Totenklage
1Sam 31,1-10.11-13 Sauls Verwundung und sein Suizid
nach der Weigerung des Waffenträgers
ihn zu töten; Flucht der Israeliten, Plün-
derung der Philister; Präsentation der
Rüstung an der Mauer von Bethschean;
Bestattung Sauls durch die Männer aus
Jabesch
2Sam,1a΅.2*.3-11.12* Tod Sauls durch den Waffenträger
2Sam 1,1-16 Der Bote als Amalekiter
1Sam 31,12bΆ85 Verbrennung des Leichnams

Der Grundbericht des Boten in 2Sam 1,1a΅.2*.3-4.11.12


Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die formale Funktion
des Botenberichts, sowie auf ihren Zusammenhang mit Sauls Suizid. In
der knappen Fassung von 2Sam 1 löst der Bote durch seinen Bericht vom
Tod des Königs und seines Sohnes Fasten und Trauer aus. Die Her-
kunftsangabe des Boten, „aus dem Lager Israels“ (V 3) kennzeichnet ihn
als glaubwürdigen Zeugen. Eine Gegenfigur zu diesem Waffenträger
entfaltet 1Sam 31: Der Waffenträger wagt nicht, Saul anzurühren und
geht stattdessen mit ihm gemeinsam in den Tod.
In der gewählten Form der Erzählung vom Tode Sauls durch Suizid
muss dies ein Bote, der die Schlacht überlebt hat, übermitteln. Die in
2Sam 1 geschilderte Kommunikation setzt 1Sam 31 voraus.86 Der Erzäh-
ler lässt den Tod Sauls in 2Sam 1,1a΅.2*.3-4.11.12* im Botenbericht mittei-
len. Diese Form gehört zum Darstellungsrepertoire der dramatischen
Literatur. In den dramatischen Darbietungen der Tragödien dienten
Botenberichte der Vermeidung aufführungstechnischer Komplikationen,
z.B. durch die Darstellung einer Schlacht, die der Bote den Umstehenden
als ein weit entferntes Kriegsgeschehen schildert, das auf diese Weise auf

85 Für ein Textwachstum in diesem Bereich spricht, dass die Verbrennungsnotiz in


12bΆ sich nicht in 1Chr 10,1-12 findet. Als Einschwärzung des Saulbildes versteht
dies C. S. Y. Ho, Conjectures and Refutations: Is 1Samuel XXXI 1-13 Really the Sour-
ce of 1Chronicles X 1-12?, VT 45 (1995) 82-106, hier 94-95. Vermeylen, Loi (wie Anm.
84), 181, denkt an einen impliziten Vergleich Sauls mit dem Verbrennen von Götter-
bildern.
86 Daher muss 2Sam 1 im Eingangspassus keinen Ort nennen; vgl. Gilboa erst V 6.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 157

der Bühne präsent ist.87 Entsprechend berichtet der Bote in der Grund-
form von 2Sam 1 von Sauls Niederlage. Die „dramatische“ Erzählweise
der judäischen Geschichtsschreibung bedient sich damit in den Boten-
szenen derselben formalen und erzählerischen Mittel wie die griechische
dramatische Literatur.

Der Suizid des Helden (1Sam 31)


Erwähnt die kürzere Fassung von 2Sam 1 nur Sauls Tod, so präzisiert die
ausführlichere Erzählung in 1Sam 31 die näheren Umstände. Die Wer-
tung des Suizids ist nicht leicht zu ermitteln. Da sich motivische Paralle-
len zum Suizid des Helden in der Tragödie finden,88 liegt es nahe, diese
bei der Deutung von Sauls Suizid zu berücksichtigen. In dem vehement
an verschiedenen Figuren und Handlungsfolgen geführten Diskurs in
der griechischen Tragödie wird Suizid nicht eindeutig und generell, son-
dern in Abhängigkeit von der jeweiligen Motivation dargestellt und
gewertet.89 Für die Verwendung des Motivs lassen sich Konventionen
erkennen. Gegen die Theaterkonvention beschreibt Sophokles im Aias
einen auf offener Bühne dargestellten Selbstmord. Der von Pallas Athene
zur Raserei Gebrachte erhofft sich die Aussöhnung mit den Göttern
durch seine Selbsttötung.90 Vor allem will Aias seine Ehre erhalten, den
Spott überwinden 91 und so seinem Ethos vom tapferen Krieger gerecht
bleiben.92 Sophokles hinterfragt dieses Heldenethos auf mehreren Ebe-
nen,93 ohne Aias’ Suizid grundsätzlich zu verurteilen.94 Die Figurenkons-

87 Vgl. die Figur des Kriegsboten, z.B. in Euripides’ Bakchen, bzw. die Boten in Aischy-
los’ Persern bei J. Barrett, Narrative and the Messenger in Aeschylus' Persians,
AJPh 116 (1995), 539-557 und dazu unten.
88 Sechs der sieben Tragödien des Sophokles enthalten Suizide (Aias, Antigone, Eury-
dike, Haemon, Deianeira, Iokaste) bzw. entsprechende Androhungen (Elektra, Phi-
loctetes). Suizid in der Tragödie wird nicht grundsätzlich als verwerfenswert darge-
stellt, vgl. den Überblick bei E. P. Garrison, Attitudes toward Suicide in Ancient
Greece, TAPhA 121 (1991) 1-34, zur Tragödie bes. 20-33.
89 Zur Bewertung des Suizids in Abhängigkeit von der durch soziale Hintergründe
und aufgrund individueller Vorgaben verursachten Motivation des Helden für den
Suizid, vgl. E. P. Garrison, Suicide (wie Anm. 88), 1-20. Vgl. zur Motivation für Sui-
zid aus Verzweiflung und aus Notwendigkeit A. J. L. van Hooff, From Autothanasia
to Suicide. Self-killing in Classical Antiquity, London / New York 1990, 85-96.
90 Vgl. Aias 455-456, H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson (Hgg.), Sophoclis Fabulae, Oxford
1990.
91 Vgl. Aias 479.
92 Er will seinem Vater beweisen, dass er kein Feigling sei, Aias 462-466.
93 Die Szenerie, in der Aias inmitten geschlachteter Tiere sitzt 384-595, zeigt ihn als von
blinder Tötungswut verführten Krieger. Sophokles fordert mit dieser Darstellung
das Heldenideal seiner Zeit heraus.
94 Das wird allein darin deutlich, dass er den Suizid am helllichten Tag und als reflek-
tierte Tat und auf offener Bühne stattfinden lässt und darin bewusst seine Vorlagen
158 Klaus-Peter Adam

tellation und die Handlungsfolge stellen Suizid vielmehr als Konsequenz


des Helden aus seiner zunehmenden, in der Beschreibung nachvollzoge-
nen Entfremdung von Göttern und Menschen dar. Aias’ Entfremdung
macht Sophokles auf mehreren Ebenen als Hintergrund seiner Entschei-
dung transparent und plausibilisiert sie durch dieses Vorgehen.95 Sauls
Suizid ist sachlich eng mit dem heldenhaften Tod zur Erhaltung der Ehre
wie er im Aias dargestellt wird, verwandt, und er spiegelt die Hoch-
schätzung des Heldenideals. Trotz dieser grundsätzlich positiven Wer-
tung fällt aus judäischer Sicht dunkles Licht auf den israelitischen König,
der seinem Leben in aussichtsloser Lage ein vorzeitiges Ende bereiten
muss, um sich nicht lebendig der Schande96 durch die Feinde auszuset-
zen. Diese Zwangslage, die zum frühzeitigen Ende des Lebens führt,
kennzeichnet aus der weisheitlichen Sicht hellenistischer biblischer
Schriften den Toren im Unterschied zum Weisen.97
Neben der Wertung der Saulfigur beschreibt die Szene auch das
Verhalten von Sauls Waffenträger. Er handelt vorbildlich, indem er sei-
nem Herrn folgt, ohne sich an diesem zu vergehen.98 Der loyalen, positiv
gewerteten Rolle des Waffenträgers stellt der Botenbericht in 2Sam 1 ein
Negativbeispiel entgegen.

abwandelt. Vgl. H. Flashar, Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München


2000, 51. Im zweiten Teil des Aias (868ff.) liegt der tote Held durchgehend auf der
Bühne.
95 Aias stellt fest, er könne weder von den Göttern noch von den Menschen Hilfe er-
warten (396ff.); die Götter, seine Kampfgenossen, Troja sowie sein Land hassten ihn
(458ff.).
96 Zum Motiv der Schande des Helden nach dem großen Fall in der Tragödie, vgl.
Aischylos’ Perser: Atossa fürchtet nicht um die Zeit seiner Herrschaft später in Susa,
sondern seine Schändung, der er durch die Niederlage ausgesetzt ist, vgl. 213 und
331-332: „Wehe, wehe, höchstes Unglück muss ich hier hören, Schande für die Perser
und lauttönendes Wehklagen.“
97 Vgl. das vorzeitige Endes des Lebens in der Beurteilung Qohelets. Auf diese Kontex-
te kann hier nur am Rande verwiesen werden. Nach Qoh 7,17 ist der frühzeitige Tod
(V  ND) die Folge gewollten oder unwissenden bösen Handelns (NMU). Qoh 7,15-22
verbindet Weisheit und Torheit (aus V 4-12) mit Recht/Gerechtigkeit und Unrecht
(V 15-17.20). Gerechtigkeit und Weisheit vergrößern die Chance auf ein langes und
gutes Leben, ohne dass sie dies garantieren (V 15). Daher weist Qohelet dazu an, Ge-
rechtigkeit zu tun und Torheit zu vermeiden, ohne es mit Weisheit und Gerechtig-
keit zu übertreiben (V 16-18). Tor (NMU) und Böser ( T) leben nicht lange Qoh 7,17.
Während Gerechtigkeit kein langes Leben garantieren kann, wird NMUmit einem
schlechten Lebensgeschick sowie mit dem vorzeitigen Lebensende verbunden.
98 Die willentliche Tötung eines Menschen steht im Zentrum einer ganzen Reihe von
Erzählungen um Saul und David in 1Sam 16-1Kön 2, vgl. die ausführlichen Flucht-
erzählungen in 1Sam 23-27 und dazu Adam, Saul und David (wie Anm. 34), bes. 97-
122.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 159

Der ausführlichere Botenbericht in 2Sam 1


und die spätere Ergänzung um den Amalekiter
Die Botenszene in 2Sam 1 in ihrer längeren Form setzt das in 1Sam 31
berichtete Geschehen mit dem Tod Sauls aus eigenem Willen voraus.99
In der Figurenkonstellation betont 1Sam 31 die unbedingte Loyalität
des Knechtes mit Saul. Im Kontrast dazu steht die Figur des illoyalen
Boten in 2Sam 1.
Die unterschiedlich gestalteten Botenreden in der ersten und in der
zweiten Fassung haben zwei Funktionen im Plot: In der ersten Fassung
von 2Sam 1 präzisieren sie Aspekte der Figuren Saul und David.100 Die
erweiterte Fassung von 2Sam 1 thematisiert in den Botenszenen die
Figur des Boten und lediglich mittelbar auch David. Der Bote tötet
nicht nur den König, er berichtet auch davon, und verglichen mit dem
ersten Bericht entsteht in der erweiterten Fassung von 2Sam 1 beim
Leser die Erkenntnis von seiner Unzuverlässigkeit die David ahndet.
Die erweiterte Fassung von 2Sam 1 verschiebt den Fokus auf die
Figur des Boten. Die Verdoppelung der Todesszene, die den Leser zu-
erst mit einer Fassung vom Suizid Sauls konfrontiert, intendiert die
Reflexion über die falsche Darstellung des Boten in 2Sam 1. Die Szene
verdeutlicht dies mit aufwändigen Mitteln. Die Botenrede wird durch
Davids zweite Frage 2Sam 1,5 ergänzt: „Wie weißt du, dass Saul ge-
storben ist und sein Sohn Jonatan?“ Die große Botenrede
2Sam 1,6-7.(8).9-10 führt die Kampfszene im Einzelnen als spannenden
Bericht aus. Sie nennt den genauen Ort (Gilboa), und präzisiert die
Todesumstände in der Schlacht durch eine Szenerie, in der Saul mit
seinem Speer ins Visier von Streitwagen der Gegner geriet, dann den
Boten erblickt, diesen herbeirief. Der Tod des Königs, den der Bote
selbst herbeigeführt hat, und die Überbringung der königlichen In-
signien Diadem und Armspange leiten zum Akt der Mitteilung eines
Geschehens zurück (V 9-10). An die Verlogenheit des Boten
(2Sam 1,5-7.9-10) knüpft die folgende Präzisierung an, die den Boten
als Amalekiter bezeichnet.101

99 Verändert hat sich bei der Bearbeitung die Beschreibung des Boten, vom „Mann“
(V 2) in der ersten Version zum „Jungen, der David berichtete“ (V 5.6.13).
100 Während nach 1Sam 31 der Bote und der Herr ein vorzeitiges tragisches Ende fin-
den, wertet 1Sam 31 verglichen mit dem Erfolg Davids, keinesfalls Saul positiv.
Sauls vorzeitiger Tod auf dem Schlachtfeld wird als Konsequenz seines übrigen Le-
bens verstanden.
101 Zur Interpretation der Amalekitererzählungen, die als späte, hexateuchübergreifen-
de Kommentierung gelten können, vgl. den Überblick von S. Timm, Amalekiter, in:
RGG4, Bd. 1, Tübingen 1998, 386.
160 Klaus-Peter Adam

Die Botenrede als erzählerisches Mittel zeigt auf unterschiedlichen


Beschreibungsebenen der Erzählung drei spezifische Leistungen. Zu-
nächst setzt ihre Form als Ich-Berichte Botenreden grundsätzlich von
einem „wir“ ab; in den Tragödien z. B. vom „wir“ des Chores. Der Ich-
Bericht des Boten ermöglicht dem Erzähler eine Szenenschilderung, in
die er die Augenzeugensituation mit einbeziehen kann. Der Bote
spricht als Augenzeuge in direkter Rede in erster Person. Der Anteil
dieser Redeform mag dabei variieren.102 In 2Sam 1 wechselt die Rede in
Ich-Form V 6a΅ zur Beschreibung Sauls in dritter Person und in der
Begegnung zwischen Saul und dem Boten in V 6aΆ-7.9 und kehrt dann
zur reinen Ich-Rede in V 10 zurück. Die einleitende und abschließende
Ich-Rede des Boten rahmt den Dialog zwischen Saul und dem Boten.
Das zweite Charakteristikum von Botenfiguren sind die oben be-
reits genannten Beschränkungen, die der Horizont dieser Figur vorgibt.
Der Bote kann nur eine Schlacht, nicht mehrere schildern. Sein Fas-
sungs- bzw. Verstandesvermögen legt der Erzähler fest. Anstelle des
exakten Erfassens einer Sache oder eines Ereignisses ist nur das jeweili-
ge Verständnis des Boten von der Sache wiedergegeben. So entsteht in
der Schilderung über den Tod Sauls die Darstellung seines Todeskamp-
fes als eines vom Boten so wahrgenommenen Geschehens (V 10
[V F[[M).103 Darin wird in der Schilderung V 9-10 der Ermessensspiel-
raum bei der Handlung des Boten deutlich. Die perspektivische Be-
schränkung der Botenfiguren bedingt den spezifischen Stil der Darstel-
lung in der Botenrede. Der Bote als Charakter dient dem Erzähler als
Brennpunkt („Fokalisation“), der das eigene Erleben schildert und des-
sen Äußerungen sich daher stilistisch von der Erzählung in 3. Person
abheben. Botenberichte konstatieren nicht nur den Vollzug der Hand-
lung, sondern erzählen minutiös ihre Durchführung und erwähnen
Details, wie die zerrissene Kleidung des Boten und sein blutver-
schmiertes Gesicht (V 2). Der Bericht wird in reales Erleben überführt
wenn der Bote aus der erzählenden Schilderung in der Vergangen-

102 Siehe De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 5. Das Muster „Ich” – „Wir”, „Er”,
„Sie (sgl.)”, „Sie (plur.)“; „Ich“ – „Wir“ findet sich in allen Botenberichten bei Euri-
pides.
103 In den Botenberichten der euripideischen Dramen verdeutlichen dies häufig explizi-
te Formulierungen; vgl. Hippolyt 1201-1205: „und dann entließ ein unterirdisches
Rumpeln, wie Zeus’ Donnern, ein tiefes Getöse ... und eine starke Furcht überkam
uns alle, woher denn der Laut käme.“ Textausgabe J. Diggle, Euripides Fabulae I,
Oxford 1984. Vgl. auch die Ratlosigkeit der Boten in Heracles furans 950-952: “und
beides, Lachen und Furcht, wurden uns, seinen [= Herakles’] Dienern, zu Begleitern;
und jemand sagte dies, während wir einander ansahen: scherzt unser Herr mit uns,
oder ist er rasend geworden?” Textausgabe J. Diggle, Euripides Fabulae II, Oxford
1981, vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 14.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 161

heit104 in die Situation hinein wechselt mit der er den Angeredeten kon-
frontiert und an der er ihn Anteil haben lässt. Von der Schilderung der
Tötung V 10a, die noch mit dem Hinweis auf die Erkenntnis des Boten
um den Zustand Sauls gerechtfertigt wird, lenkt der Bote auf die Über-
gabe der Insignien des Diadems und der königlichen Armspange als
hinüber. Diese Überleitung vom reinen Erzählen des „aftermath“ mes-
sengers105 zur Übergabe einer Kriegsrealie als Handlung zwischen den
Dialogpartnern ist auf Performanz angelegt.106 Die Einschätzung des
Boten durch den Rezipienten erfolgt auf der Grundlage der Darbie-
tungsform. Bei der Aufführung beschränkt allein die Bühnenpräsenz
und die Verwendung der Ich-Form jeglichen Anspruch des Boten auf
Objektivität. „Der Unterschied zwischen szenischer Präsentation und
narrativer Vermittlung, zwischen ‚offener’ und ‚verdeckter Handlung’
ist ein doppelter: ... die narrative Präsentation in verdeckter Handlung
[ist] rein verbal und figurenperspektivisch. ... [Der Rezipient ist] auf
einen figurenperspektivisch gebrochenen und in seiner reinen Sprach-
lichkeit weniger konkret-anschaulichen Bericht angewiesen, bezieht ...
seine Informationen also ‚aus zweiter Hand’.“107 Die persönlichen Mit-
teilungen eines erzählenden, physisch auf der Bühne präsenten Ichs
haben in der Empfindung des Rezipienten weit stärker subjektiven
Charakter, als wenn diese nur vorgelesen werden:108 „By the very fact
that they see them through the eyes of another, someone who, more-

104 Formal entspricht diese Darstellung insofern Konventionen, als sie Vergangenheits-
formen verwendet, wie sie bei Bühnenaufführungen für Reden des in Drama und
Epos üblich sind; vgl. die Rede des Boten bezogen auf die Schlacht in den Persern.
Das historische Präsens wird häufig in Botenreden in Dramen des Euripides ver-
wendet, das Perfekt dominiert in den Reden im homerischen Epos, vgl. De Jong,
Narrative in Drama (wie Anm. 82), 38-39. In der Botenrede in Medea finden sich 10
historische Präsensformen, 19 Aoriste und 22 Imperfekta. Das Präsens ist eine Form
der spannend erzählenden Literatur, vgl. H. Weinrich, Besprochene und erzählte
Welt, Stuttgart 21971, 125-126. In 2Sam 1,10 beschreibt der Bote dieser Konvention
entsprechend seine Handlungen durchgehend mit wayyiqtol-Formen, mit Ausnahme
des begründenden qatal und des folgenden yiqtol in V 10a [V F[[M, J[Z[ N[M; vgl.
teils abweichend 2Sam 1,4.
105 O. Taplin, The Stagecraft of Aischylos. The Dramatic Use of Exits and Entrances in
Greek Tragedy, Oxford 1977, 83-84, vgl. als Beispiel für diesen Typ des Boten den
Boten in den Sieben gegen Theben, 792. Diesen Botentyp verwenden fast alle Tragö-
dien des Euripides und, in sehr ausgedehnter Form, auch Aischylos in den Persern.
106 Entsprechend lässt sich diese Technik auch in Botenszenen der Dramen des Euripi-
des erkennen, vgl. Hekuba 518-520: „Du bittest mich, zweifach Tränen zu vergießen,
Frau, aus Erbarmen über deine Tochter. Nun aber, da ich von ihrem Unheil rede,
werde ich mein Antlitz benetzen, so wie ich es tat, als ich an ihrem Grab stand, als
sie zugrunde ging.” Diggle, Euripides Fabulae I (wie Anm. 103).
107 Pfister, Drama (wie Anm. 29), 276.
108 Vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 68, mit Bezug auf J. Lintvelt, Essai
de typologie narrative. Le „point de vue“, Paris 1981, 39.
162 Klaus-Peter Adam

over, has himself been involved in the events, they are presented with a
coloured version.”109 Die physische Präsenz der Figur bei der Auffüh-
rung wirkt sich auf die Interpretation der Erzählung, besonders auf die
Wertung der Botenfigur aus. In der Botenrede in 2Sam 1,10a ist dieses
Moment der subjektiven Wertung des Boten zentral für dessen Ent-
scheidung, Saul zu töten. Der Bote begründet dies mit eigenem Ermes-
sen, weil er „wusste, dass er (Saul) nicht überleben würde, nach seinem
Fall.“110
Während in Botenreden häufig auch emotionale Aspekte mit-
schwingen, mittels derer der Bote seine Befindlichkeit im Blick auf das
von ihm Berichtete ausdrückt,111 fehlen in 2Sam 1,6-7.9-10 alle Hinweise
auf die emotionale Verfassung des Boten. Seine emotionale Beteiligung
und seine Bedeutung für die Situation der Überbringung der Nachricht
sind deutlich in der Botenszene 2Sam 18,19, in der Joab Ahimaaz von
der Überbringung der Botschaft abhalten will, weil dieser vom Tod
Absaloms als Anlass zur Freude berichten will. Doch ist dies angesichts
der Trauer des Königs um Absalom nicht angebracht.112
Als dritte Funktion der Botenrede ist ihre Gestaltung des Dramas
durch ihr eigenes Profil innerhalb des größeren Erzählzusammenhan-
ges zu nennen. Im dramatischen Ablauf der Szene hat die Botenrede
V 6-7.9-10 verdichtenden Charakter. Ihre Kennzeichnung als Stimme
eines vom Erzähler eingeführten subjektiven, anonymen Boten rückt
als Distanzierung die genauen Ereignisse um den Tod Sauls in die
Form einer subjektiven Äußerung des Boten, die der Bote seinerseits
nicht kommentiert. Die narrative Funktion der Botenrede in
2Sam 1,6-7.9-10 besteht daher in einer reflektierten, perspektivisch ge-
brochenen Form der Schilderung des Herganges von Sauls Tod aus
dem Mund einer Erzählfigur.113 Nicht der Erzähler selbst, sondern der
Bote berichtet ein Geschehen. Die entscheidende Funktion der Distan-

109 Vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 69.


110 Als weitere Aspekte der subjektiven Gestaltung der Figur im Drama wären Gestik
und Mimik, Ton und Stille, Bühnengestaltung der Botenszenen zu berücksichtigen,
vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 139-160.
111 Vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 77-78; vgl. auch die freudige Mittei-
lung des Kuschiten in 2Sam 18.
112 Vgl. zu 2Sam 18 unten.
113 Dieses Charakteristikum einer multiperspektivischen Erzählung lässt sich auch bei
verdichteten Aussagen zum Königtum und zum Schicksal Davids in den Erzählzu-
sammenhängen der Davidfigur beobachten. Hier sind es besonders die prolepti-
schen Äußerungen zur Zukunft Davids als König, vgl. A. Weiser, Die Legitimation
des Königs David. Zur Eigenart und Entstehung der sogenannten Geschichte von
Davids Aufstieg, VT 16 (1966) 325–364, hier 335. Dies sprechen vor allem beteiligte
Figuren aus, vgl. 1Sam 17,37 (Saul); 20,13; 20,23 (Jonathan); 22,3; 23,12.14; 26,10.23f.;
25,30f.; 34.39.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 163

zierung des Erzählers von dem in der Botenrede Berichteten ist inso-
fern hervorgehoben, als die Figur angesichts der Tötung des israeliti-
schen Königs in ihrer eigentlichen Botenrolle versagt.
Die Figur des Boten hat im Figurengeflecht des Dramas um den
tragischen Charakter Sauls weitere Funktionen. Sie dient der Ausges-
taltung von Sauls tragischem Ende. Die Botenfigur in 1Sam 31 wird
durch den lügnerischen Boten in 2Sam 1 problematisiert. Zum anderen
hebt sie Davids rechtliche Überlegenheit im Umgang mit dem Mörder
Sauls hervor, die seiner Funktion als Rächer des Königsmörders in
2Sam 4,9-12 entspricht. Während diese Erzählung ausdrücklich mit der
Formulierung „er jedoch meinte, ein Freudenbote vom Tod Sauls zu
sein (Y[P[ DT DOMJ[J YJY)“ (4,10a) auf 1Sam 31 anspielt,114 dürfte der
gesamte Erzählzusammenhang 2Sam 1 vorausgegangen sein.115
Botenberichte stehen, wie bereits erwähnt, häufig an exponierten
Stellen in der Handlung, bereiten im Gesamtkontext des Dramas etwas
vor, leiten über oder schließen ab. Ihre verschiedenen Funktionen ver-
ankern Botenberichte besonders in Euripides’ Dramen fest in der
Handlungsstruktur. Botenberichte veränderten durch die mitgeteilten
Inhalte die nachfolgende Situation radikal. Die Botenrede in Herakles
furans stellt die Wandlung des Protagonisten vom Retter zum Zerstörer
seiner Familie dar. In den Bakchen vollzieht sich im Verlauf der zweiten
Botenrede Pentheus’ Verwandlung vom Jäger zum Gejagten
(1043-1152). Die dramatische Funktion der Botenrede liegt im durch sie
bewirkten Situationsumschwung. Mutatis mutandis gilt dies auch für
die Botenrede 2Sam 1. Sie setzt Sauls Tod (in 1Sam 31,1), den die Boten-
rede näher beschreibt, voraus und berichtet dann von der Rache für die
verursachte Blutschuld.116
Welcher Entwicklungsstufe des sich verändernden Formenreper-
toires im griechischen Drama man die Botenfiguren in den biblischen
Erzählungen zuordnen muss, kann hier nicht abschließend geklärt
werden. In der nachklassischen Zeit entwickelt sich eine spätere Form
der Botenrolle, die verglichen mit den erhaltenen Beispielen klassischer
griechischer Tragödie ungewöhnlich stark ausgestaltet ist, wie sich in

114 Vgl. unten zu T D.


115 2Sam 4,9-12 reflektieren mit Davids Bestrafung der vorsätzlichen Tötung des Isch-
baal das Erfordernis der Bestrafung bei intentionaler Tötung nach Ex 12,12.13-14. Die
positive Figurenwertung Davids gab den Ausschlag für die Erzählung von der Süh-
nung der Blutschuld.
116 Dabei folgt sie einer dramatischen Konvention des Schlachtberichtes, dessen übliche
Funktion, vor allem in fast jeder euripideischen Tragödie, von einem Kampf zu be-
richten, zur Bezeichnung der Figur als „aftermath“ messenger führte; vgl. zur Form
der Botenberichte über eine Schlacht auch den zu 2Sam 1 parallelen Botenbericht in
1Sam 4,16-17.
164 Klaus-Peter Adam

der Tragödie Rhesus aus dem 4. Jh. zeigt.117 Anstelle des sendenden
Thrakerkönigs Rhesus rückt der Bote selbst stärker ins Zentrum des
Geschehens und, anders als zumeist, ist dieser Wagenlenker selbst
verwundet.118 Auch seine Rede ist auffällig.119 Diese ironische Ausges-
taltung in der nachklassischen Tragödie ähnelt insofern strukturell
2Sam 1, als die Botenauftritte die Integrität des Boten in Frage stellen
und ihn als Betrüger präsentieren.

Ahimaaz 2Samuel 18,19-19,1

Wie deutlich wurde, transportieren Botenszenen Erzählerwertungen.


Nicht nur die Figur des Boten selbst, sondern auch Sender und Emp-
fänger von Botschaften werden als Figuren durch ihren Umgang mit
Boten prägnant charakterisiert. Die Botenszene von Ahimaaz und ei-
nem anonymen kuschitischen Boten in 2Sam 18,19-19,1 verdeutlicht
exemplarisch die Verwendung von Boten, um Aussagen über den
Empfänger der Nachricht zu machen. Nach Absaloms gewaltsamem
Tod im Kampf gegen die Judäer muss Joab dem David die für ihn trau-
rige Nachricht vom Tod des geliebten Königssohnes Absalom über-
bringen lassen. Das Botengeschehen gliedert sich in die Folge der drei
Szenen Sendung, Erwartung und Empfang. Ahimaaz bietet sich zu-
nächst als Bote an, doch wählt Joab einen anderen Boten aus (18,19-23).
Der Erwartung des Königs (18,24-27) folgt der eigentliche Empfang der
Boten (18,28-19,1). In dieser dreigliedrigen Abfolge von Sendung, Er-
wartung und Empfang reflektiert die narrative Entfaltung die Boten-
sendung auf mehreren Ebenen.

117 Die beiden kleineren Charaktere des Schäfers und des Wagenlenkers ragen inner-
halb des Stückes als sprechende, unabhängige Männer, die das Drama stark beleben,
heraus. Als spätes, nachklassisches Stück stellt der Rhesus sehr hohe Anforderungen
an die beteiligten Akteure auf der Bühne. Vgl. E. Hall, Euripides. Iphigenia among
the Taurians, Bachhae, Iphigenia at Aulis, Rhesus, translated by J. Morwood, with
introduction by Edith Hall, Oxford 1999, XXVII.
118 Vgl. auch die zerrissenen Kleider und die Kopfwunde des Boten in 2Sam 1,2.
119 Er klagt Hektor an, er, bzw. einer der anderen Verbündeten habe die zu Hilfe eilen-
den Thraker überfallen (832-834). Diese Botendarstellung verlässt die Rollenkonven-
tionen der Tragödie, wenn der Bote die eigene Verwundung sowie den eigenen
schmachvollen Tod bejammert (741-742; 750-754) und dem eine Schilderung seines
eigenen Traumes folgt, während Rhesus an seiner Seite ermordet wird (780-790) und
er das warme Blut des Thrakerkönigs hautnah spürt. Zur ironisch verzerrten Schil-
derung trägt der vom Boten erhobene Vorwurf gegen Hektor bei, dieser habe ihn im
Rahmen einer Verschwörung überfallen; ebenso die vage (richtige) Vermutung des
Wagenlenkers, die Götter hätten die Hand im Spiel gehabt (852-854). Textausgabe
I. Zaneto, Euripides Rhesus, Stuttgart / Leipzig 1993. Zur ironischen Verzerrung der
Botenrolle im Rhesus vgl. ausführlich J. Barrett, Staged Narrative. Poetics and the
Messenger in Greek Tragedy, Berkeley 2002, 179-185.
ȱ ErzählerwertungȱundȱGeschichtsverständnisȱinȱdenȱSamuelbüchernȱ 165ȱ

ZumȱAufbauȱdesȱBotenberichtsȱinȱ2Samȱ18,19Ȭ19,1ȱ
ȱ
Dieȱ folgendeȱ Darstellungȱ listetȱ dieȱ beteiligtenȱ Figurenkonstellationenȱ
undȱbesondersȱrelevanteȱHandlungenȱaufȱ(linksȱundȱmittig),ȱsowieȱdieȱ
StationenȱderȱÜbermittlungȱderȱBotschaftȱ(rechts).ȱ
ȱ
Szeneȱ1ȱAussendungȱdesȱBotenȱdurchȱJoabȱȱ
ȱ
18,19ȱAhimaazȱ–ȱJoabȱIȱȱ T DL:Tȱ Botschaftȱbeimȱ
Sender:ȱWissenȱumȱ
InhaltȱundȱWirȬ
kung
ȱ  ȱ
18,20ȱAblehnung:ȱKeineȱ T Dȱ N(2x)ȱT D Unverständigerȱ
Freudenbotschaftȱȱ BoteȱIȱȱ
18,21ȱAufforderungȱzurȱ J Tȱ/ȱFIPL:T Unverständigerȱ
VerkündigungȱdesȱGeseheȬ BoteȱII
nenȱȱ
JTY D_[ L:T(4x)ȱ
18,22Ȭ23ȱAhimaazȱ–ȱJoabȱIIȱȱ ȱ
ȱ
Szeneȱ2ȱErwartungȱdesȱBotenȱ
ȱ
18,24ȱDavidȱsitztȱzwischenȱ LT [  Unwissenȱ/ȱHoffȬ
denȱTorenȱȱ nungȱderȱEmpfänȬ
gerȱ
18,25ȱDerȱSpäher:ȱeinȱFreuȬ T D 
denboteȱ
18,26ȱDerȱSpäherȱsiehtȱeinenȱ J Tȱ ȱ
zweitenȱBotenȱ
DerȱKönigȱhältȱihnȱfürȱzweiȬ LT [ (2x)ȱ/ȱT D 
tenȱFreudenboten
18,27ȱSpäher:ȱAhimaaz,ȱderȱ J Tȱ ȱ
SohnȱdesȱZadokȱȱ
König:ȱguterȱMann,ȱguteȱ DY[ T D 
Freudenbotschaftȱȱ
ȱ
166 Klaus-Peter Adam

Szene 3 Überbringung der Botschaft

18,28 König – Bote Unverständiger


Bote I (Inhalt un-
klar)
Bote: Proskynese, Segens-
formel; vgl. 28b – 31
18,29 König: Absalom?
Bote: Ich sah... ich weiß [V F[ NY[V[ T 
nicht
   
18,30 König: Wende dich ab.
18,31 Kuschit: Freudenbot- T D Unverständiger
schaft; vgl. 31b – 28b – 32b Bote II (Wertung
unklar)
18,32a König: Absalom?
18,32b Kuschit: Möge es wie
dem Knaben den Feinden
des Königs gehen...
19,1 Reaktion des Empfän- Botschaft beim
gers Empfänger

Die drei Handlungsvollzüge, Sendung, Erwartung und Empfang des


Boten sind szenisch als Kommunikationsvorgänge und als dramati-
sche Handlungen mit einer Fülle von Detailinformationen ausgestal-
tet. Das typische Vokabular, T D „Freudenbotschaft bringen“ und L:T
„laufen“, beschreibt die Botschaft bzw. die Form der Botschaftsüber-
mittlung näher. Eine Intention des Erzählabschnittes ist es, eine mit
der Nachricht verbundene Erwartung anzuregen und das Leser- bzw.
Hörerwissen über die Schwierigkeit der zu überbringenden Botschaft
zu vermitteln.
Die Sendung zweier Boten bedingt eine spezifische Figurenkonstel-
lation, innerhalb der Wissen um Inhalt und Wirkung der Botschaft
anlässlisch der Boteninstruktion erzählerisch entfaltet werden. Beide
Boten sind ungenügend auf ihre Aufgabe vorbereitet. Ahimaaz weiß
nicht, dass ein Auftritt als Freudenbote unpassend ist. Der Kuschit ver-
steht nichts vom Inhalt der zu übermittelnden Botschaft. Der wartende
König hofft verzweifelt auf eine Freudenbotschaft in seinem Sinne und
wertet alle Zeichen der Ankunft als Hinweise darauf. Die Übermitt-
lungsszene ist von der Unfähigkeit beider Boten geprägt. Der zweite
Bote weiß den Weg, kann den ersten zwar überholen, jedoch die Bot-
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 167

schaft nicht übermitteln.120 Der erste Bote kennt den Inhalt der Bot-
schaft, hat jedoch falsche Vorstellungen über die Wirkung, die sie aus-
lösen wird, weil er den Tod Absaloms als Freudenbotschaft inter-
pretiert.

Epistemologische Reflexion anhand der Botenszenen


Die Szenenfolge ist eine Form narrativer Reflexion der Botenfunktion.
Besonders thematisiert sie das diskrepante Bewusstsein zwischen den
beiden beteiligten Figuren. Beide Boten nehmen die Situation nur be-
schränkt wahr. Während Ahimaaz als Freudenbote von einer geglück-
ten Schlacht berichten will, hält ihn Joab zurück und ersetzt ihn durch
den Kuschiten. Die abschließende Übermittlungsszene vertauscht dann
diese Rollen: Der Bote, der eine Freudenbotschaft vermitteln wollte,
berichtet, was er sah (18,29) und führt insofern den Auftrag des Joab an
den anderen Boten aus,121 doch lässt er den entscheidenden Punkt, den
Tod des Absalom, aus. Er schließt mit den Worten „ich weiß nicht
(was)“. Zuvor führt er aus, er habe „die große Menge gesehen, die Joab
gesandt habe“ und deutet damit schon auf die Geschehnisse hin, die
nichts Gutes für Absalom bedeuten. Die Gesprächssequenz zielt wohl
auch darauf ab, den König als ungeduldig darzustellen, denn der Bote
hat keine Gelegenheit, die Geschehnisse in expliziter Sprache zu berich-
ten (18,30); David löst ihn durch den vermeintlichen Siegesboten, den
er empfangen will, ab. Dieser verkündet zwar lautstark den Inhalt sei-
ner Botschaft, doch kann er die Gefühle des Königs, die dieser mit Ab-
saloms Tod verbindet, nicht einschätzen und indem er das Lexem für
„Siegesbotschaft“ in ungewöhnlicher Weise verwendet (18,31), lenkt er
die Erwartungen des Königs in die falsche Richtung, die, wie der Leser
bzw. Hörer weiß, herb enttäuscht werden müssen. Die Kommunika-
tionsstruktur der Szene wird durch eine weitere Ebene in der Sprache
des Boten verstärkt. Die Verbform im Hitpael V 31a betont die äußerli-
che Wahrnehmbarkeit einer Handlung.122 „Mein Herr, der König möge

120 V 29: [V F[ NY[V[ T; vgl. den ersten Botenauftrag V 21a: „Berichte, was du gese-
hen hast (JV[ TT )!“
121 Vgl. 18,21: „Berichte dem König, was du gesehen hast (J T)!”
122 Das Hitpael drückt die Sichtbarkeit des Status’ einer Person oder Sache aus, den das
Verb im Piel ausdrückt. Vgl. auch die Bedeutung von DPhitp, „sich als Prophet ge-
bärden; vorgeben, Prophet zu sein“ in 1Sam 19,18-24. Zum „Vortäuschen“ als Be-
deutungsaspekt des Hitpael vgl. Gesenius-Kautzsch, Grammatik, § 54 als Reflexiv
zum Piel; P. Joüon, A Grammar of Biblical Hebrew, Vol. 1, Part One: Orthography
and Phonetics, Part Two: Morphology, Subsidia Biblica 14/I, Rom 1996, 159; sowie
im Arabischen das Reflexiv zum II. Stamm mit der Bedeutung des Sich-Verstellens,
tanabba’a „sich für einen Propheten ausgeben“, W. Fischer, Grammatik des Klassi-
schen Arabisch, Porta Linguarum Orientalium 11, Wiesbaden 32002, 88. Zu DP hitp
168 Klaus-Peter Adam

sich eine gute Botschaft bringen lassen“ – und wie bei einer Siegesbot-
schaft verhalten. Nicht ohne Ironie wird geschildert, wie der Kuschit
den König indirekt auffordert, sich nach außen hin wie beim Empfang
einer Frohbotschaft zu verhalten.
Die Anweisung zur Freude über die Siegesbotschaft entspricht in
ihrer Absicht Joabs Empfehlung 2Sam 19,6-8, David möge um der ihm
gegenüber loyalen Mitstreiter willen nun die Trauer um den abtrünni-
gen Absalom beenden und die Regierungsgeschäfte wieder aufnehmen
(19,9). Die Intention der Botenszene erschließt sich ausgehend von der
Thematik des Verhaltens des Königs nach dem Tode Absaloms im fol-
genden Gespräch zwischen Joab und David. Literarisch dürften die
beiden Abschnitte von der Botensendung in 18,19-19,1 und der folgen-
de Abschnitt von 19,2-8 der Abschlussnotiz des Absalomaufstandes in
19,9 gefolgt sein.123
Die Paralelle zwischen der Mahnung Joabs an David, die Regie-
rungsgeschäfte wieder aufzunehmen in 2Sam 19,6-8 und der Anwei-
sung zur Freude über die „Siegesbotschaft“ in 18,31 unstreicht die Be-
deutung der differenzierten Darstellung der Kommunikationsvor-
gänge. Der Bote nötigt David seinen Bericht als Siegesmeldung auf, mit
dem Ziel, dass David sich nach außen hin als Empfänger einer Sieges-
meldung zeige. David verweigert sich ihr. Seine Fixierung auf eine
Freudenbotschaft bewirkt, dass er alle Ankündigungen eines anderen
Ausganges ebenso überhören will, wie die Aufforderung, eine Sieges-
botschaft entgegenzunehmen. Weitere Einzelheiten beschreiben die
komplexen Kommunikationsvorgänge in dieser Szene, so das wieder-
holt genannte „Sehen“ des Boten (V 21 und 29) und das Sehen des Spä-
hers des Königs (V 26.27), mit dem dieser von der Schlacht berichtet.
Während David auf den Boten wartet, werden die Widersprüche ge-
schildert, in die sich David verrennt, weil er seine Hoffnung auf einen

als Vortäuschen von Prophetie, vgl. R. R. Wilson, Prophecy and Ecstasy: A Reexami-
nation, JBL 98 (1979) 321-337, 330-331 und zur Bedeutung „vorgeben, etwas zu tun“
vgl. auch FSVJ „sich als heilig zeigen“mit exilisch-nachexilischen Belegen, vgl.
M. Kornfeld / H. Ringgren, FS, ThWAT 6 (wie Anm. 17), 1179-1204, 1186: „sich in
den Status der Weihe, der kultischen Reinheit versetzen” Jos 3,5; 7,18; Num 11,18
u. a. Vgl. ferner ]MZVJ Ex 1,10; Koh 7,16; Sir 10,26 und dazu Krause / Müller, ]MZ,
ThWAT 2 (wie Anm. 17), 920-944, 927: das Moment der Überspitzung schwingt mit.
Vgl. auch T VJProv 13,7; Sir 11,18; TT VJ Num 16,13(2x); Ri 9,22; Jes 32,1;
Prov 8,16; Est 1,22, vgl. Niehr, T , ThWAT 7 (wie Anm. 17), 855-879, 864: mit abwer-
tendem Aspekt.
123 In der relativen Abfolge setzen 18,19-19,1 die folgende Szene 19,2-8 voraus; letztere
dürfte die voranstehende Szene aus sich herausgesetzt haben. Als literarische Folge
(ohne hier eine absolute Datierung vorzuschlagen) ergibt sich 19,9 – 19,2-8 – 18,18-
19,1, wobei der Schlussvers 19,9 in einer Grundfassung des Absalomaufstandes ent-
halten ist, wie sie Kratz, Komposition (wie Anm. 5), 190 vorschlägt.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 169

Freudenboten bestätigt sehen will: Nach 18,25 will er das Kommen


eines einzelnen Spähers als Hinweis auf einen Siegesboten verstehen;
als jedoch zwei Boten zu sehen sind, interpretiert David auch dies als
Hinweis auf einen Siegesboten (18,26b). Die Szene, die nicht der Komik
entbehrt, spielt auch in vielen weiteren Details auf Reflexionen über
Blindheit und Fähigkeit zur Erkenntnis in der Tragödie an. Während
Botenbeauftragungen teils wörtlich zitiert werden,124 formuliert Joab
die Botschaft gerade nicht ausdrücklich,125 sondern überlässt ihre Aus-
gestaltung dem Boten selbst. Erkenntnis und Wahrnehmung („Sehen“)
verweisen auf einen epistemologischen Zusammenhang. In vergleich-
barer Weise greift diesen auch das Botenmotiv in Sophokles’ Tragödie
König Ödipus auf. Die Überbringung einer Todesbotschaft entfaltet
Sophokles in einer kunstvollen Variation des Botenmotives, indem er
die Diskrepanz im Bewusstsein der Figuren hervorhebt. Die für das
Drama kennzeichnende doppelte Diskrepanz besteht zwischen dem
unterschiedlichen Bewusstsein der einzelnen dramatis personae, sodann
zwischen deren Bewusstsein und dem des Publikums.126 Diese vorge-
gebene Konstellation erzeugt Spannung und dient der Publikumslen-
kung. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit der Metaphorik des
„Sehens“ im Zusammenhang mit einer „Siegesbotschaft“ greifen die
Daviderzählungen ein Motiv des Erkenntnisprozesses des Helden in
der Tragödie (ɎȄǸǺȄȕȈȀȊȀȉ) auf.127 Die Episode reflektiert die Erkenntnis-
fähigkeit, indem sie zwei jeweils nur bedingt fähige und einsichtige
Boten auftreten lässt und den Prozess des Erkennens unterschiedlichen
Erzählfiguren zuordnet.
Ihr lässt sich nun der Einsatz der Botenrede im Drama vergleichen.
In Sophokles’ Ödipus verbindet Iokaste mit dem Kommen des Boten
und dem Inhalt seiner Rede bestimmte Erwartungen. Ein korinthischer
Bote berichtet von der Einsetzung des Ödipus zum König in ihrer Am-
bivalenz als Freuden- und als Trauerbotschaft:

Bote: ... Das Wort, das ich gleich sagen will,


wird dich zwar freun – warum denn nicht? – doch schmerzen
auch.
Iokaste: Was ist’s? Wieso hat es denn solche Doppelkraft?

124 Vgl. die Botenszenen 1Kön 15,18; 2Kön 16,7.


125 Vgl. hingegen die präzise Botschaftsinstruktion 2Sam 11,18-21.
126 Vgl. Pfister, Drama (wie Anm. 29), 50; De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82),
57-60.
127 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1453c, 8-10. Textausgabe M. Fuhrmann, Aristoteles Poetik,
Griechisch / Deutsch, Stuttgart 1982. Aristoteles erwähnt Erkenntnis hier im Zu-
sammenhang mit einer geplanten oder ausgeübten Handlung.
170 Klaus-Peter Adam

Bote: Zum Herrscher wollen die Bewohner des Gebiets


am Isthmos ihn bestellen: so rief man dort aus.128
Den schlechten Teil der Nachricht, den Tod des Polybos’, des
Vaters des Ödipus, erfährt Iokaste jedoch nur über den Um-
weg der direkten Nachfrage von dem Boten:

Iokaste: Wie sagtest du? So wäre Ödipus’ Vater tot?


Bote: Wenn es nicht wahr ist, will ich selbst des Todes sein!129

Explizit geht die Szene auf das unterschiedliche Verständnis der Bot-
schaft bei beiden Dialogpartnern ein. Während der Bote denkt, er be-
richte, Ödipus sei König von Korinth, weiß Iokaste (und Ödipus), dass
der eigentliche Inhalt seiner Botschaft der Tod des Polybos ist. Der Bote
weiß nicht, dass er (falsche) Nachricht über die Verlässlichkeit des Ora-
kels des Apollo bringt. Die Nachricht vom Tode des Polybos’ kann
daher auf mehr als eine einzige Art verstanden werden und diese Dis-
krepanz spiegelt sich in der unkonventionellen Form der Botschafts-
übermittlung, wie sich in der folgenden Begegnung Ödipus’ mit dem
Boten ebenfalls zeigen lässt.130
Der Exangelos, der in 1223 eintritt, entspricht formal dem konventi-
onellen Boten. Er informiert den Chor (und die Zuschauer) über Io-
kastes Tod und Ödipus’ Blendung und er erklärt ausführlich, wie die
Ereignisse zustande kamen, die er berichtet. Dabei reflektiert er, wie
unzureichend und unvollständig sein eigener Bericht notwendig ist,
liefert seinen eigenen Bericht als bewusst subjektive Darstellung und
benennt ausdrücklich die Grenzen seines Wissens.131 Er bezieht sich auf
das Sehen, dessen sich Ödipus durch seine Blendung enthoben hat. Als
ein am Ende physisch Geblendeter reflektiert das Stück an Ödipus und
den übrigen dramatis personae die metaphorisch mit dem Sehen be-
zeichnete Thematik der Erkenntnis, wie oft dargelegt wurde.132

128 Soph. Oid. T. 936-941, übersetzt von W. Willige / K. Bayer, Sophokles. Dramen.
Griechisch und Deutsch, Düsseldorf / Zürich 2003. Textausgabe Lloyd-Jones / Wil-
son, Sophoclis (wie Anm. 90): Ȋó İ’Ԥʍȡȣ ȡՙȠıȢ‫ – ׭‬ijչȥį Աİȡțȡ Ȟջȟ ʍ‫׭‬ȣ İ’ ȡ՘Ȝ Ԕȟ;
ԐIJȥįȝȝȡțȣ İ’ՀIJȧȣ. ijտ İ’ԤIJijț; ʍȡտįȟ İփȟįȞțȟ կİ’ Ԥȥıț İțʍȝ‫׆‬ȟ; ijփȢįȟȟȡȟ į՘ijրȟ ȡՙʍțȥօȢțȡț
ȥȚȡȟրȣ ij‫׆‬ȣ ՄIJȚȞȔįȣ IJijșIJȡȤIJțȟ, թȣ ș՘İֻij’ ԚȜı‫ה‬. ijտ İ’ ȡ՘ȥ Ս ʍȢջIJȖȤȣ ȇցȝȤȖȡȣ ԚȗȜȢįijռȣ
ԤIJijț;
129 Soph. Oid. T. 943-944 übersetzt von Willige / Bayer, Sophokles. Dramen (wie Anm.
128). Textausgabe Lloyd-Jones / Wilson, Sophoclis (wie Anm. 90): ʍ‫׭‬ȣ ıՀʍįȣ; Բ
ijջȚȟșȜı<ȟ ȆԼİտʍȡȤ ʍįijսȢ>; ıԼ Ȟș ȝջȗȧ ijԐȝșȚջȣ, ԐȠț‫ ׭‬Țįȟı‫ה‬ȟ.
130 Vgl. Barett, Staged Narrative (wie Anm. 119), 192-193.
131 1251: ȥլʍȧȣ Ȟպȟ ԚȜ ij‫׭‬ȟİ’ ȡ՘Ȝջij’ ȡՂİ’ ԐʍցȝȝȤijįțǝ
132 Vgl. 1238.1253.1254.1263.1267.1271.1273-1274.1295. Vgl. zur Thematik des Sehens
auch Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), 196-205; 207-209 und vgl. die Zu-
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 171

Die Schnittstelle zwischen Erkenntnis und physischem Sehen the-


matisieren die Erzählungen an der Botenrolle. In der Funktion als Au-
genzeuge ist seine Wahrnehmungsfähigkeit gefordert. Den epistemolo-
gischen Vorgang des Sehens als einem komplexen Wahrnehmungsakt
mit einer physischen und einer geistigen Komponente reflektieren die
biblischen Szenen mit Hilfe der Figur des Boten, der Absaloms Tod
David verkündet und sie reflektieren in ihren Anspielungen Davids
Sehen und Erkennen im Zusammenhang mit dem Botengeschehen.
Diese sachlichen Bezüge zwischen den Botenszenen legen eine literari-
sche Entwicklung mit Kenntnis der entsprechenden Szenen in Drama
und Epos nahe.133

sammenstellung der Metaphern für Sehen bei B. M. W. Knox, Oedipus at Thebes,


New Haven / Yale, 1957, 131-135.
133 Wann die biblischen Autoren Kenntnisse griechischer Erzählungen erhielten, kann
hier nicht umfassend behandelt werden. Für die persische Zeit spricht hier die Beto-
nung der Geschwindigkeit des Boten. Botensendungen werden sonst mit dem Verb
ZNbezeichnet; die Erzählung beschreibt die Überbringung der Botschaft mit „ren-
nen/laufen“ LYT, vgl. V 19.21.22 (2x).23 (2x).24.26 (2x).27(2x). Zur Form JEYTOvgl. nur
noch Jer 8,6; 23,10: Die Schnelligkeit des Laufstils überträgt Jer 23,10 auf die Lebens-
führung; Jer 8,6 betont die Schnelligkeit mit der Israel sich von Gott wegbewegt und
vergleicht dies mit einem im Kampf dahinstürmenden Pferd. Die Derivate weisen
auf nachexilische Entstehung hin. Vermutlich steht die Schnelligkeit der persischen
Boten im Hintergrund. Zweimal steht LYT parallel zu „laufen“ ?NJ, V 21.24.25; (vgl.
Jes 40,41; Prov 4,12) und hebt auf die Schnelligkeit des Boten ab, vgl. P. Maiberger,
LYT, ThWAT 7 (wie Anm. 17), 438-445, hier 440. Die Anlage eines Botenwettlaufs, in
der ein Bote einen anderen überholt, basiert auf dem Motiv der Schnelligkeit. Vgl.
zum schnellen (berittenen) Boten der Perser auch Hdt. Hist. 8.98 und Xen.Kyrop.
VIII 6,17 und vgl. die Bezeichnung von Boten in persischer Zeit als „Läufer“ wegen
ihrer Schnelligkeit bei der Überbringung schriftlich fixierter Nachrichten in Est
3,13.15.
Ob sich von der Textform auf deren Sitz im Leben schließen lässt, ist zu disku-
tieren. Das im Drama häufig eingesetzte Stilmittel der unterschiedlichen Bewusst-
seinsebenen entfaltet nur sich vollständig, wenn diese Spannungen im Figurenbe-
wusstsein dramatisch dargestellt werden; vgl. weitere Beispiele für diese Technik bei
Euripides in de Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 58-60. In der Medea ist Kre-
on sich des spezifischen Todes seiner Tochter nicht bewusst (1204); während die Die-
ner dies wissen (1203). In der Botenrede in der Andromache wissen die Bewohner
Delphis, dass sie einen Hinterhalt für Neoptolemos vorbereiten, doch sie wissen
nicht, dass Orest sie in einer privaten Fehde gegen Neoptolemos ausnützt. In Hera-
kles furans wissen die Boten und die Familie zwar von seiner Verrücktheit, doch wis-
sen sie nicht, dass Hera die Urheberin des Zustandes ist, während Herakles sich we-
der seiner eigenen Verrücktheit noch deren göttlichen Ursprunges bewusst ist.
Daher könnte das Botenmotiv auf die Darbietung des Textes in einer Form hinwei-
sen, in der die Rollen für den Rezipienten klar erkennbar sind, z.B. in einer dramati-
schen Lesung.
172 Klaus-Peter Adam

Die Botenszene in 2Samuel 11


Wie in 2Sam 18,19-19,1 zeigen sich in weiteren Botenszenen der David-
erzählungen Abwandlungen bekannter Szenenfolgen. 2Sam 11 variiert
das beliebte Motiv vom „Glückskind mit dem Todesbrief“, das sich in
Form der Bellerophontessage und in der Sargonlegende findet; beide
können Hinweise auf mögliche Quellen von 2Sam 11 geben. Die in
Mesopotamien, Syrien und im antiken Griechenland alltägliche Aus-
sendung eines Boten wurde in dieser besonderen Ausgestaltung, bei
der der Bote einen Todesbrief überbringt als Wandermotiv überlie-
fert.134 Dass die biblische Überlieferung die Erzählung vom Glückskind
mit dem Todesbrief kannte und gezielt abwandelte, liegt besonders im
Fall der David-Urija Geschichte nahe. Drei zentrale Züge zeichnen den
Plot im griechischen Epos von Bellerophontes135 aus, der dem Erzähler
der Samuelbücher vertraut gewesen sein dürfte: 1. Der Briefeschreiber
ist ein König, dem das Ende der eigenen Dynastie vorhergesagt wird,
und der sich des potentiellen Konkurrenten zu entledigen sucht. 2. Er
verwendet dazu eine oder mehrere Techniken und eine von ihm ange-
wandten List ist der Todesbrief mit dem er versucht, den Überbringer
des Briefes, der 3. der Protagonist der Handlung ist, durch eine beson-
dere ihm zugewiesene Aufgabe beseitigen zu lassen, was jedoch miss-
lingt, weil der Todesbrief am Ende nicht bewirkt, was er soll. Exempla-
risch zeigen sich an diesem Motiv die Konsequenzen für die
Erzählform. Um eine Spannung in einem Plot zu erzeugen, setzt das
Motiv eine Diskrepanz zwischen Erzähler und Erzählfiguren voraus.
Dies ändert sich in der Fassung der Sage in 2Sam 11 gegenüber dem
6. Buch der Ilias. Mit einem Zitat des Briefinhaltes, das der Introspekti-
on in die Figur dient, gestaltet der Autor das Motiv vom Glückskind
mit dem Todesbrief aus. Der zitierte Briefinhalt gewährt “dem Leser
Inneneinsicht in die konkreten Absichten Davids, und zwar noch bevor

134 Vgl. die Bellerophontessage in Homer, Ilias VI, 167-193, Textausgabe M. L. West,
Homerus Ilias, Vol. 1 Rhapsodiae I-XII, Stuttgart 1998. Vgl. zur Parallele J. Schick,
Das Glückskind mit dem Todesbrief, Vol. 1 Orientalische Fassungen, Vol. 2: Europä-
ische Sagen des Mittelalters und ihr Verhältnis zum Orient, Corpus Hamleticum 1.
Abteilung, Berlin 1912, Leipzig 1932; H. Gunkel, Das Märchen im Alten Testament,
Tübingen 1921, 132 und zu weiterer Literatur T. Naumann, David als exemplari-
scher König. Der Fall Urijas (2 Sam 11) vor dem Hintergrund altorientalischer Er-
zähltraditionen, in: De Pury / Römer (Hgg.), Thronfolgegeschichte (wie Anm. 1),
136-167, hier 139 Anm. 6 und 7; 142-143.
135 Ihr mag eine lykische Sage aus vorhomerischer Zeit zugrunde gelegen haben, vgl.
P. Frei, Die Bellerophontessage und das Alte Testament, in: B. Janowski / K. Koch /
G. Wilhelm (Hgg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien,
Nordsyrien und dem Alten Testament im 2. und 1. vorchristlichen Jahrtausend
(OBO 129), Göttingen / Fribourg 1993, 39-65, hier 40-42.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 173

Urija – so ahnungslos wie der Leser ahnungsvoll – den König in Rich-


tung Rabbat Ammon verlässt.“136 Er hebt Davids Heimtücke und die
Schwere seiner Schuld hervor, als Sender eines Briefes, in dem er den
Tod des Überbringers befiehlt.137
Durch die Modifikation des Fokus verschiebt sich die Figurenkons-
tellation. Denn nach 2Sam 11 ist David, nicht Urija Protagonist der
Handlung.138 Die Betonung des Senders des Todesbriefes ist durch die
gerichtsprophetische Perspektive der Überlieferung bedingt. Die signi-
fikante und einzigartige Variation des Motivs139 durch die Verschie-
bung des Protagonisten bestärkt die Abhängigkeit von den außerbibli-
schen Vorgaben eher noch. Denn Davids unbeschränkte Macht er-
scheint noch größer, wenn er als Protagonist der Handlung auftritt.
Indem der Verfasser des Briefes in 2Sam 11 zum kritikwürdigen Prota-
gonisten wird, verkehrt sich zugleich die ursprünglich durch das Motiv
intendierte dynastische Legitimation eines Usurpators in ihr Gegenteil.
Eignete sich der Plot vom Glückskind mit dem Todesbrief strukturell
zur Legitimation von Usurpatoren und wurde er in dieser Funktion
sowohl in Sargonlegenden als auch in der Bellerophontessage verwen-
det, so kehrt sich diese prodynastisch-legitimatorische Absicht der Le-
gende um. Die kritische Wendung der judäischen Historiographie ge-
gen David (bzw. gegen die davidischen Könige) prägt auch die weitere
Botenszene in 11,18-25.140
In ihrer Anlage stehen die Szenen für die Bezogenheit der bibli-
schen Geschichtserzähler auf ein vorgegebenes Repertoire von Hand-
lungsabläufen und zugleich für ihren freien Umgang mit vorgegebenen
Stoffen. Versteht man die Daviderzählungen auch als Auseinanderset-
zung mit der vorgegebenen geschichtlichen Überlieferung, so wird
deutlich, dass diese Geschichtserzählungen keine Situation aus dem
Leben Davids erklären wollen, sondern Judas (und Israels) Vorge-
schichte in der Figur des Dynastiegründers anhand typischer Situatio-
nen reflektieren. In der Anordnung einzelner Figurenkonstellationen
und Handlungsabläufe in ein zeitliches Nacheinander konzipieren die
Erzählungen eine Wirklichkeit, die einen geschichtlichen Prozess ab-
bildet. Ihre Fabelkomposition, die durchaus als eigenständiges Werk

136 Vgl. Naumann, David (wie Anm. 134), 141.


137 Vgl. Gunkel, Märchen (wie Anm. 134), 150-151.
138 Vgl. Naumann, David (wie Anm. 134), 144.
139 Vgl. Naumann, David (wie Anm. 134), 145, mit Hinweis Frei, Bellerophontessage
(wie Anm. 135), 60.
140 Die Botenszene fügt sich gut in eine dramatische Aufführung oder Lesung ein.
174 Klaus-Peter Adam

des Erzählers gelten kann, bedient sich dabei überkommener Motivik


und Handlungsfolgen.141

Ergebnis

In den David-Erzählungen sowie im weiteren Rahmen der judäischen


Geschichtsschreibung dienen die Botenszenen unterschiedlichen Erzäh-
lerintentionen. Die Boten in biblischen Erzählungen gehören zum Figu-
rentypus des Boten nach der Schlacht. Der Bote tritt kompositionell
zentral platziert, nach Sauls Niederlage in 2Sam 1 auf. Im Plot reflektie-
ren die Erzählungen auch die Funktion des Boten als Augenzeugen
und die Erkenntnisfähigkeit des Empfängers (2Sam 18,19-19,1). Die
scheinbare Unabhängigkeit des Boten, sowie seine Haltung bei der
Überbringung von Botschaften als Figurenzug kennzeichnet die
Schnittstelle zwischen Sprache und Wissen. Die Tragödie greift diese
im diskursiven Prozess und im Erkenntnisstatus der jeweiligen Figuren
auf der Bühne auf.142 Die Multiperspektivität der Darstellungsform
kann Ambiguität erzeugen.143 Die Einzeichnung der Botenperspektive
in die multiperspektivische Davidgeschichte ist ein Spezifikum der
retrospektiv entworfenen Geschichtsschreibung.144 Die Botenberichte
2Sam 1; 11; 18 bezeugen die strukturelle, stilistische und teils motivli-
che Ähnlichkeit145 zur zeitgenössischen griechischen Literatur.146 Die
dramatische Konzeption verbindet die Reden zu einem hohen Grad mit
den jeweiligen Sprechern als (Bühnen-)figuren; die Botenszenen ragen
mit ihrer gewollten, nur scheinbaren Abstraktion von spezifischen
Standpunkten heraus. Die dramatische Erzählweise der Daviderzäh-

141 Vgl. zur Verwendung eines kulturell vorgegebenen Plots für die Beurteilung und die
Interpretation einer Erzählung auf der Ebene der mimesis II, P. Ricœur, Temps et
récit. Tome 1 (wie Anm. 23), 125-135. Die Einordnung der Erzählfiguren und -motive
in einen Handlungsablauf hat P. Ricoeur in der Analyse fiktionaler Erzählungen als
mimesis II ausführlich beschrieben, vgl. dazu oben S. 137-138.
142 Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), XIX.
143 Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), XVI.
144 Von ihr unterscheiden sich ältere kurze biblische Erzählsequenzen von Boten, die
lediglich Nachrichtenübermittlung thematisieren, wie z.B. 1Kön 15,16-22 und
2Kön 16,5.7-9.
145 Vgl. oben zu 2Sam 11. Strukturelle Parallelen in der Art der Botenberichte zeigten
sich zur nachklassischen Form der Tragödie des 4. Jh., vgl. oben.
146 Eine direkte literarische Beziehung zwischen Epos und Drama ist aufgrund der
Mischung unterschiedlicher Elemente aus den Genres Epik, Lyrik, Elegie im Drama
unwahrscheinlich, vgl. C. J. Herington, Poetry into Drama. Early Tragedy and the
Greek Poetic Tradition, Berkeley 1985. Die Dramen bedienen sich allerdings einer
Fülle von Redeformen und die Funktion der Botenszenen in der Tragödie entspricht
in vielerlei Hinsicht derjenigen im Epos.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 175

lungen treibt Handlungen weitgehend durch beteiligte Figuren, insbe-


sondere durch wörtliche Reden in Dialogen, voran. Der Erzähler kom-
mentiert nicht und enthält sich (scheinbar) einer Wertung. Auf der
unmittelbaren Ebene des Plots verzichtet auch das Drama als Genre auf
privilegierte Perspektiven, bzw. klare Ordnung und insofern auf Inter-
pretationsvorgaben.147 Der Autor der Tragödie setzt den Boten als eine
im Sinne seiner Tendenz agierende Figur ein,148 die das dramatische
Spiel vorantreibt.

III. Ausblick – Biblische Geschichtserzählungen


und griechische Historiographie

Schilderungen von Kriegen mit den Ammonitern (1Sam 11; 2Sam 11),
sowie Botenberichte der Daviderzählungen (1Sam 31; 2Sam 1.18) dien-
ten als Beispiele narrativer Geschichtsschreibung über die frühe Kö-
nigszeit. In der Wertung der Figuren entsprechen sie einer Tendenz der
narrativen Überlieferung der beiden Dynastiebegründer Saul und Da-
vid. Es wurde deutlich, dass die Kriegserzählung 1Sam 11 vor allem
dazu dient, den Kontrast zwischen den Figuren Saul und David erzäh-
lerisch auszugestalten. Die beiden gegensätzlich geschilderten Figuren
der Erzählüberlieferung dienen dabei als Folie für die Reflexion späte-
rer Entwicklungen der judäischen und israelitischen Dynastie. Auch
die Botenberichte in 1Sam 31 und 2Sam 1 erwiesen sich als narrative
Ausgestaltungen des Geschicks Sauls. Als Element des als tragisch
geschilderten Verlaufs einer Königsdynastie thematisiert der Bericht
von Sauls Tod (wie auch 2Sam 18) anhand der Botenfigur auch episte-
mologische Fragen. Diese verschiedenen aufgezeigten Intentionen der
Erzählungen prägen nicht nur die Episoden selbst, sondern auch deren
Anordnung. Sie werden als Einzelüberlieferungen aneinander gereiht
und diese Reihung bedingt eine besondere Form der Handlungsfolge.
In einer Ablauflesung erscheint der Plot auf der Textoberfläche an
mehreren Stellen als gebrochen. Verbindende Elemente zwischen den
Einzelerzählungen stellen hingegen besonders Analogien und Ätiolo-
gien149 sowie die eingesetzten Orakelzitate150 her, die später Eintreffen-

147 Diese Ordnungsfunktion deckt der epische Erzähler ab; vgl. Barrett, Staged Narrati-
ve (wie Anm. 119), 4.
148 In den Daviderzählungen ist dies zumeist eine projudäische Tendenz; davidkritisch
jedoch sind u.a. 2Sam 11.
149 Vgl. dazu aus der Fülle der Literatur R. Smend, Elemente alttestamentlichen Ge-
schichtsdenkens (ThSt 95), Zürich 1968, 11-14; 18-23. – Literarische Formen der Re-
flexion der Vergangenheit bilden einen Teil jeder Geschichtsdarstellung. Man kann
176 Klaus-Peter Adam

des ankündigen. Diese Beobachtung zur Struktur der Überlieferung


führt auf eine weitere Parallele zwischen der Erzählüberlieferung der
Samuelbücher und narrativen Formen des Umgangs mit der Vergan-
genheit in Griechenland. Die bisherigen Beobachtungen zum Figuren-
und Motivrepertoire und deren Parallelen im Drama beschränkten sich
im Wesentlichen auf Einzelerzählungen und Einzelmotive. Doch wei-
sen die eben genannten Formen der Verknüpfung einzelner Überliefe-
rungen auf weitere Verbindungen zwischen den Überlieferungen hin.
Eine Eigenart der Geschichtsdarstellung der biblischen Samuelbücher
besteht in deren episodischem Charakter: Einzelepisoden werden
durch prophetische Voraussagen und durch die Schilderung ihres Ein-
treffens miteinander verknüpft. Späteres Geschehen in der Erzählüber-
lieferung wird als durch Vorwegnahmen präfiguriert dargestellt. Auf
diese Weise erhalten einzelne Figuren tragische Züge.151 Auch in Hero-
dots Geschichtsdarstellung wird das Geschick von Figuren im Orakel
antizipativ vorweggenommen.152 Einzelne Ereignisse werden nicht

daher keinen grundlegenden Unterschied zwischen fiktionalen und historischen Er-


zählungen aufrecht erhalten, wie H. White betont, vgl. ders., Metahistory. The His-
torical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore / London 1973. Vgl.
hingegen das Geschichtsverständnis J. Huizingas, Geschichte als „the intellectual
form in which a civilization renders account to itself of its past” in ders., A Defini-
tion of the Concept of History, in: R. Klibansky / J. H. Paton (Hgg.), Philosophy and
History: Essays Presented to Ernst Cassirer, Glouceste/MA, 1975 [1936] 1-10, 9, der
zwischen Geschichte und Literatur scharf trennt, ebd. 6 und die alttestamentlichen
Überlieferungen nicht der Geschichtsliteratur zuordnet.
150 Vgl. 1Sam 10,8 und 13,7b-13a; 1Sam 10,2-7 und 9-12.
151 Auf die Nähe zwischen Geschichtsschreibung und Tragödie kann hier nicht näher
eingegangen werden. Doch liegt ein Grund für eine gewisse Nähe zwischen Ge-
schichtsschreibung und Tragödie in der Vergangenheit als gemeinsamem Thema,
vgl. C. Macleod, Thucydides and Tragedy, in: ders., Collected Essays, Oxford 1983,
140-158. MacLeod zeigt besonders in den Reden Parallelen zwischen Thukydides
und den Tragikern (Euripides) auf. Diese führt er allerdings weder auf literarische
Abhängigkeit noch auf Thukydides’ Verständnis der Tragödie als Modell, sondern
auf das homerische Epos als gemeinsame Quelle von Tragödie und Geschichts-
schreibung zurück (157). Zu den Bezügen der homerischen Epik zur Geschichtss-
chreibung, vgl. K. Raaflaub, Historical Approaches to Homer, in: S. Deger-Jalkotzy /
I. S. Lemos (Hgg.), Ancient Greece: From the Mycenean Palaces to the Age of Homer
(Edinburgh Leventis Studies 3), Edinburgh 2006, 449-462; ders., Homer, the Trojan
War, and History, CW 91 (1997/1998) 386-403; ders., Epic and History, in: J. M. Foley
(Hg.), A Companion to Ancient Epic, Malden/MA 2005, 55-70.
152 Im Kyros-Logos zeigt sich eine durch das Orakel vorhergesagte Gestaltung; vgl. zur
kompositionstechnischen Funktion der wörtlich zitierten Orakel ferner Kirchberg,
Orakel (wie Anm. 17), 12; 116-117. Bei der Interpretation der Orakel kommt es an-
stelle vorschnellen, unbesonnenen Vertrauens, wie die Darstellung des Krösus her-
vorhebt (1.54.1ԱİıIJȚįț; 1.56.1 ԱİıIJȚįț, ԚȝʍտȘıțȟ; 1.73.1 ʍտIJȤȟȡȣ ıՂȟįț; 1.91.4 ȡ՘
IJȤȝȝįȞȖչȟıțȟ) auf besonnenes Abwägen an, wie im Gegensatz von Themistokles
und den Athenern berichtet wird (7.142.1 İտȘșIJȚįț; 7.143.2 IJȤȝȝįȞȖչȟıțȟ; 143.3
ȗțȗȟ‫׭‬IJȜıțȟ; 144.3 ȖȡȤȝıփıIJȚįț, İȡȜı‫ה‬ȟ mit Komparativ), vgl. Kirchberg, Orakel (wie
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 177

immer in einer linearen zeitlichen Abfolge dargestellt. Herodots Histo-


riographie kompiliert nicht chronologisch angeordnete Fakten, sondern
betrachtet die Abfolge von Ursache und Wirkung in der Vergangen-
heit.153
Ein weiterer Zusammenhang zwischen dem Umgang der Samuel-
bücher mit der Vorgeschichte des Königtums und demjenigen der Tra-
gödie mit der Vergangenheit liegt in ihrem Stoff begründet. Wie bereits
deutlich wurde, spielen die griechische Tragödie und die biblischen
Samuelbücher in einer gründenden Vorzeit. Der Umgang mit Vorzeit-
überlieferung folgt besonderen Regeln, wie sich besonders unter den
besonderen Bedingungen schriftloser Gesellschaften zeigt. In mündli-
chen Überlieferungszusammenhängen steht eine Fülle von Wissen über
die weit entfernte Vergangenheit und die Gegenwart einer spärlichen
Kenntnis von der weniger weit zurückliegenden Geschichte gegenüber.
Die Lücke im Kenntnisstand der unmittelbaren Vergangenheit wandert
mit der Generationenfolge der Tradenten und dieser floating gap154
prägt als eine für die Rekonstruktion der Vergangenheit relevante Ü-
berlieferungsbedingung die Angaben über diese Vergangenheit selbst.
Signifikant ist, wie dazwischen liegende Epochen behandelt werden;
besonders, welche Epochen aus der Überlieferung getilgt werden,
wenn sich der Schwerpunkt im Verlauf der Überlieferung auf die ganz
frühe und auf die gegenwärtige Zeit verlagert. Dieses Phänomen der
sich verschiebenden Lücke zwischen einer Vorzeit und der Gegenwart
lässt sich in vergleichbarer Form auch in der Geschichtsliteratur in
Schriftkulturen beobachten. Die Überlieferungen von der Vorvergan-
genheit werden zwangsweise als Abfolge von Episoden dargestellt.
Dieses Anordnungsprinzip darf aber nicht dazu führen, aus den anein-

Anm. 17), 92-93. Aus bibelwissenschaftlicher Sicht vgl. auch S. Mandell /


D. N. Freedman, The Relationship between Herodotus’ History and Primary History
(South Florida Studies in the History of Judaism 60), Atlanta 1993; 69; 75.
153 Dies kann hier nur angedeutet werden. Die parataktisch nebeneinander gestellten
Geschichtsrückblicke sind ätiologisch aufeinander bezogen. Vorzeitüberlieferungen
erklären spätere Geschichtstatsachen. Herodots Freiheit bei der chronologischen
Anordnung der Vielzahl von Überlieferungen für die ihm keine offiziellen Doku-
mente vorlagen, ergibt sich auch daraus, dass Herodot ein komplexes Netz aus
Überlieferungen verschiedener Städte und deren widerstreitender Erzählungen
knüpft und so der jeweils eigene Sinn von Lokalgeschichte deutlich wird, vgl.
R. Thomas, Herodotus’ Histories and the Floating Gap, in: N. Luraghi (Hg.), The Hi-
storian’s Craft in the Age of Herodotus, Oxford 1997, 198-210, 205; vgl. auch Nielsen,
Tragedy in History (wie Anm. 18), 77. Der erste Satz im Werk Herodots spielt auf die
Ursache (įԼijտș) des Kriegs zwischen den Persern und den Griechen an. Unmittelbar
anschließend wird diese Diskussion über die Verursacher des Konfliktes eröffnet
und der lydische König Krösus wird als historisch verantwortliche Person genannt,
vgl. Lendle, Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), 42-43.
154 Vgl. J. Vansina, Oral Tradition as History, London 1985, 23f.; 168f.
178 KlausȬPeterȱAdamȱ

anderȱ gereihtenȱ Episodenȱ eineȱ lineareȱ Chronologieȱ zuȱ rekonstruieren.ȱ


AnȱdieȱStelleȱeinesȱlinearenȱHandlungsablaufsȱtretenȱauchȱinȱderȱgrieȬ
chischenȱ Geschichtsschreibungȱ desȱ 5.ȱ Jh.ȱ andereȱ Ordnungskriterien.155ȱ
DieȱVerknüpfungȱverschiedenerȱEreignisseȱdurchȱAnalogienȱleistetȱeineȱ
bestimmteȱFormȱderȱErklärung.156ȱLineareȱKettenȱvonȱHandlungenȱundȱ
Reaktionenȱ werdenȱ alsȱ historischeȱ Zyklenȱ vonȱ Erfolg,ȱ Überdehnungȱ
desȱErfolgesȱundȱScheiternȱeinzelnerȱFigurenȱdargestellt.157ȱȱ
Nebenȱ diesenȱ skizziertenȱ Bezügenȱ zwischenȱ denȱ biblischenȱ undȱ
denȱ griechischenȱ Geschichtsüberlieferungen158ȱ schärftȱ dieȱ paralleleȱ
Betrachtungȱ beiderȱ Überlieferungenȱ denȱ Blickȱ dafür,ȱ wieȱ bedeutsamȱ
dieȱmündlicheȱWeitergabeȱbeiȱderȱVerarbeitungȱderȱGeschichtsüberlieȬ
ferungenȱ ist.ȱ Geschichtsdarstellungenȱ inȱ derȱ Tragödieȱ undȱ dieȱ Werkeȱ
derȱGeschichtsschreiberȱwarenȱimȱantikenȱGriechenlandȱinȱöffentlichenȱ
Darbietungenȱ oderȱ Lesungenȱ zugänglichȱ undȱ wurdenȱ imȱ Anschlussȱ
daranȱ diskutiert.159ȱ Dieȱ LeseȬȱ undȱ Darbietungspraxisȱ undȱ Rezeptionȱ
antikerȱHistoriographieȱkönnteȱauchȱfürȱdieȱbiblischeȱGeschichtsschreiȬ

ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
155ȱȱ HerodotȱverbindetȱverschiedeneȱErzählungenȱdurchȱdenȱZusammenhangȱvonȱRacheȱ
oderȱVergeltung;ȱvgl.ȱThomas,ȱFloatingȱGapȱ(wieȱAnm.ȱ153),ȱ201.ȱVglȱinȱdenȱPerserȬ
kriegenȱ etwaȱ Aeginasȱ Streitȱ mitȱ Athenȱ derȱ chronologischȱ schwerȱ zuȱ platzierenȱ ist;ȱ
dochȱhatȱdieȱEpisodeȱinȱHerodotsȱBerichtȱeineȱentscheidendeȱFunktionȱfürȱdieȱRolleȱ
vonȱAthensȱEntwicklungȱvorȱdemȱEinmarschȱderȱPerser,ȱvgl.ȱ5.81Ȭ89;ȱ82.1:ȱ„DenȱAnȬ
lassȱzurȱFeindschaftȱderȱAiginetenȱgegenȱdieȱAthenerȱhatteȱfolgendesȱgegeben.“ȱDieȱ
feindliche,ȱfreundschaftlicheȱundȱvonȱVergeltungȱgeprägteȱBezügeȱzwischenȱSamos,ȱ
Sparta,ȱ Korinthȱ undȱ Corcyraȱ enthaltenȱ eineȱ Reiheȱ vonȱ Kontaktenȱ zwischenȱ diesenȱ
Staaten,ȱ dieȱ nichtȱ inȱ einemȱ chronologischenȱ Ordnungsschemaȱ eingeordnetȱ sind,ȱ
sondernȱderenȱAnordnungȱvonȱdenȱVerhältnissenȱzwischenȱdenȱbeteiligtenȱMonarȬ
chenȱ abhängtȱ (3.44Ȭ53).ȱ Cylonsȱ Coupȱ undȱ derȱ Ursprungȱ desȱ Alcmaeonidenfluchesȱ
bildenȱUrsprungserzählungenȱmitȱexplikativerȱFunktion,ȱderenȱchronologischeȱVerȬ
ortungȱvölligȱoffenȱbleibtȱ(5.71),ȱvgl.ȱThomas,ȱFloatingȱGapȱ(wieȱAnm.ȱ153),ȱ205.ȱ
156ȱȱ Derȱ Erfolgȱ undȱ dasȱ Scheiternȱ desȱ Krösusȱ erklärenȱ nichtȱ dasȱ ganzeȱ Schicksalȱ desȱ
Xerxes,ȱaberȱKrösusȱpräfiguriertȱinȱVielemȱdenȱspäterenȱXerxes;ȱvgl.ȱD.ȱLateiner,ȱTheȱ
HistoricalȱMethodȱofȱHerodotus,ȱTorontoȱ1989,ȱ196.ȱ
157ȱȱ DiesȱlässtȱsichȱexemplarischȱamȱKrösusȬLogosȱerkennen.ȱWährendȱKrösus’ȱScheiternȱ
denȱPriesternȱinȱDelphiȱimȱVorausȱbewusstȱgewesenȱseinȱmag,ȱfindetȱseineȱVerwerȬ
fungȱ dochȱ genügendȱ Grundȱ inȱ seinerȱ verrücktenȱ Entscheidung,ȱ einenȱ armen,ȱ aberȱ
dochȱstarkenȱundȱtapferenȱFeindȱanzugreifen,ȱvgl.ȱLateiner,ȱMethodȱ(wieȱAnm.ȱ156),ȱ
208.ȱȱ
158ȱȱ MöglicheȱdirekteȱBezügeȱderȱDarstellungsformȱbiblischerȱGeschichtsschreibungȱaufȱ
griechischeȱParallelenȱsindȱsorgfältigȱzuȱprüfen.ȱEinenȱbeabsichtigtenȱKontrastȱzwiȬ
schenȱHerodotsȱundȱderȱbiblischenȱUrgeschichteȱ(primaryȱhistory)ȱerwägtȱJ.ȱW.ȱWesȬ
selius,ȱTheȱOriginȱofȱtheȱHistoryȱofȱIsrael.ȱHerodotus’ȱHistoriesȱasȱBlueprintȱforȱtheȱ
FirstȱBooksȱofȱtheȱBibleȱ(JSOT.Sȱ345),ȱSheffieldȱ2002,ȱ99Ȭ100.ȱDochȱlegtȱsichȱangesichtsȱ
derȱallgemeinenȱVergleichsebenenȱzwischenȱbeidenȱGeschichtswerkenȱeineȱKenntnisȱ
HerodotsȱbeiȱdenȱbiblischenȱAutorenȱderȱUrgeschichteȱnichtȱnahe.ȱȱ
159ȱȱ Vgl.ȱ F.ȱ W.ȱ Walbank,ȱ Historyȱ andȱ Tragedy,ȱ in:ȱ ders.,ȱ Selectedȱ Papers:ȱ Studiesȱ inȱ
Greekȱ andȱ Romanȱ Historyȱ andȱ Historiography,ȱ Cambridgeȱ 1985,ȱ 224Ȭ241,ȱ hierȱ
238Ȭ239.ȱȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 179

bung in den Samuelbüchern und für die Bestimmung ihrer Intentionen


von Bedeutung sein160 und rückt die Anonymität der Autoren als ein
entscheidendes Kennzeichen biblischer Geschichtsüberlieferung mögli-
cherweise in ein neues Licht.

160 Die Darbietungspraxis der Geschichtsschreibung in beiden Kulturbereichen kann


hier nicht vergleichend behandelt werden. Die Aufführungspraxis der griechischen
Tragödie in nachklassischer Zeit kennt nicht nur Vorführungen ganzer Tragödien,
sondern auch anthologische Reihungen von Einzelpassagen. Im mündlichen Vortrag
variierten diese Kurzformen der Stücke, die man im (halb-)öffentlichen Raum von
Symposien darbot. Vgl. J. R. Green, Theatre in Ancient Greek Society, London / New
York 1994, 64-70; 120-141. G. M. Sifakis, Studies in the History of Hellenistic Drama,
London 1967, 24-30 für Delphi, vgl. auch P. E. Easterling, From Repertoire to Canon,
in: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Greek Tragedy, Cambridge 1997,
211-227, bes. 224-226; vgl. zum Symposion auch P. Garnsey, Food and Society in
Classical Antiquity, Cambridge 1999, 129-131. Diese Form der Darbietung scheint
für die Rezeption griechischer Stoffe, und möglicherweise auch für der Rezeption
der biblischen Historiographie im 4. Jh. bzw. im Hellenismus von Bedeutung gewe-
sen zu sein. Die Relevanz mündlicher Überlieferungspraxis für die biblische Litera-
tur betont jüngst D. Carr, Writing from the Tablet of the Heart. Origins of Scripture
and Literature, Oxford 2005, bes. 111-173.
180 Klaus-Peter Adam

Abstract

The lack of the author’s expressed view is often thought to be the main
characteristic feature of biblical as opposed to Greek historiography. In
juxtaposing biblical and Greek ways of dealing with the past, it is as-
sumed that both Greek tragedy and the narratives of the early kingship
in Israel use the review of the foundational or mythic past in order to
consider current issues.
Consequently, the first part shows conceptual and formal parallels
between Greek drama and the exemplaric narrative of Saul’s campaign
against the Ammonites 1Samuel 11. It is claimed that Saul is described
from a distanced perspective and with ironic undertones.
The second part deals with messenger scenes in Greek tragedies, in
1Sam 31, 2Sam 1 and 2Sam 18:19-19:1. The character of the anonymous
messenger is an ideal means to express an author’s particular intention,
especially in a dramatic setting. This character of the anonymous mes-
senger indicates the closeness of biblical and Greek historiography.
The concluding third part considers the episodic structure of bibli-
cal historiography in narratives about oracular announcements, the oral
narration and the aural reception and, the reasons for a critical percep-
tion of the Israelite kings as non-Judeans.
Periodizing Egyptian History:
Manetho, Convention, and Beyond1

Thomas Schneider

§1 Manetho and Egyptological convention

In his essay Ramesside Egypt in a Changing World. An Institutional Ap-


proach, Mario Liverani takes his starting point from the observation that
while historians of the Ancient Near East consider the 12th century BC a
turning point of history and a real break, Egyptologists view the very
same period under the mark of continuity.2 Remarkably enough, those
same Egyptologists who adopted Manetho’s dynastic grid (and so the
two Ramesside dynasties as distinct units) did not follow him in his
setting apart the 19th and the 20th dynasty and assigning them to two
different periods of history. The second book of the Ptolemaic histo-
rian’s Aigyptiaka once covered dynasties 12-19, with dynasties 20-30
(and maybe 31) treated separately in the third volume. The exception
here is Alfred Wiedemann in his Egyptian History of 1884 who still
adopted the division.3 It is now common sense in Egyptology to speak
about the Ramesside Age as a well-defined historical period stretching
from the founder of dynasty 19, Ramesses I, to Ramesses XI, the last

1 The main ideas of this contribution were first formulated for a lecture given at the
University of Chicago in January 2001 and published in German as T. Schneider, Die
Periodisierung der ägyptischen Geschichte: Problem und Perspektive für die ägypto-
logische Historiographie, in: T. Hofmann / A. Sturm (Hgg.), Menschen-Bilder / Bil-
der-Menschen. Kunst und Kultur im Alten Ägypten, Norderstedt 2003, 241-256,
where a periodization attempt was made for the 1st millennium BC. This section has
been omitted here and the main text partly modified and revised. I should like to
thank Mrs Ruth Washington (Zurich) for having improved the style of my Chicago
paper and Dr. Kasia Szpakowska for having read and commented upon the present
version.
2 M. Liverani, Ramesside Egypt in a Changing World. An Institutional Approach, in:
I. Brancoli (Hg.), L’impero ramesside. Convegno internazionale in onore di Sergio
Donadoni, Roma 1997, 101-115 (who sees territory vs. ethnicity as the distinctive fea-
tures of Bronze Age vs. Iron Age states, 113f.).
3 A. Wiedemann, Ägyptische Geschichte, Gotha 1884.
182 Thomas Schneider

ruler of dynasty 20, all the more as it appears quite naturally delimited
by two other historical periods, the erratic block of the Amarna Period
and the distinct Third Intermediate Period. Is it important to reappraise
this and other traditional divisions of Egyptian history? In a memoran-
dum on the historiography of the Ancient Near East, Marc van de
Mieroop has emphasized with regard to classic periodization schemes
that „such images are not entirely invented, but (...) their determinism
(is) so strong, that they impede historical insight“.4 This view is not
commonly accepted in Egyptology. It is true that Donald B. Redford
has argued, along the same lines, that the shape given by Manetho to
our sense of Egyptian history is by no means sacrosanct, or even mean-
ingful, and cries out to be abandoned.5 More reluctant to do so was
William Murnane who called for not discarding lightly the ancient
Egyptian framework and maintained that he did not see Manetho as
monopolizing, or exerting any kind of stranglehold on our understand-
ing of Egyptian history.6 It is crucial here to clarify that the structure
given to the Egyptian past by modern Egyptology is only partly
Manethonian (or even genuinely Egyptian). Its key elements were
forged in the second half of the 19th and the first half of the 20th cen-
tury when a preliminary modern understanding of Egyptian history
was superimposed on a much more basic chronological grid. This dy-
nastic grid was provided by Manetho, while the superimposed struc-
ture was directly informed by the political state of affairs of to the late
19th and early 20th century. This conventional framework that is basic
to presentations of Egyptian history is characterized by a sequence of
golden ages and alleged times of crisis. The prevalent designation of
the former ones as „Kingdom“, „empire“ and „Reich“ was modeled in
the latter half of the 19th and the early 20th century on contemporary
models of European national states labeled. The first to propose a tri-
partite division for Egypt’s history was C.C.J. Bunsen in 1845 (with the
three periods of Altes Reich = Menes until the beginning of dynasty 13,
Mittleres Reich = Hyksos until dynasty 17, and Neues Reich = the history
from the 18th dynasty onward). In this periodization, the Old Kingdom
included what is today the Middle Kingdom, whereas Bunsen’s Middle
Kingdom encompassed what is today the Second Intermediate Period.

4 M. van de Mieroop, On Writing a History of the Ancient Near East, in: BiOr 54
(1997), 285-505: 290ff., citation from p. 292.
5 D. B. Redford, The Writing of the History of Ancient Egypt, in: Z. Hawass (Hg.),
Egyptology at the Dawn of the Twenty-First Century. Proceedings of the Eighth In-
ternational Congress of Egyptologists, Cairo 2000, vol. 2, Cairo 2003, 1-11: p. 4.
6 W. Murnane, Response to D. B. Redford, in: Hawass (Hg.), Egyptology (as n. 5), 15-
19: p. 17.
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 183

This idea of a tripartite division was taken over by W. Brunet de Presle


in France in 1850 („ancien royaume“, „royaume moyen“, „nouveau
royaume“),7 while a scholar like R. Lepsius still adhered to a rough
bipartite division in 1858 („Altes Reich“ = dynasties 1-16, „Neues
Reich“ = dynasties 17-31).8 Where a tripartite division was adopted in
the second half of the 19th century, however, the demarcation between
the three ages was handled and legitimized in different ways. This is
best visible in works by A. Mariette9 and A. Wiedemann,10 respectively,
where the distribution is as follows: Old Kingdom = Dynasties 1-10 and
Prehistory until dynasty 11, respectively; Middle Kingdom = Dynasties
11-17 and Dynasties 12-19, respectively; New Kingdom and „Basses
Époques“ = dynasties 18-30 (Mariette), and dynasties 20-31 seen as a
period of decline (Wiedemann), respectively. The long extension of the
New Kingdom which was still defended by H. Gauthier in his Livre des
rois in the early 20th century (Ancien Empire = dynasties 1-10; Moyen
Empire = dynasties 11-17; Nouvel Empire = dynasties 17-25, and Epoque
saïto-persane = dynasties 26-31)11 had been confined according to our
modern understanding already at the times of Mariette and Wiede-
mann by A. Erman, however.12 The periods singled out nowadays as
Intermediate Periods were recognized by 19th century Egyptological his-
toriography but were linked up to the preceding ages as times of inter-
val or transition instead of giving them independent status. An exam-
ple is Eduard Meyer’s treatment of what is today labelled the First
Intermediate Period.13 It was patently after the First World War that the
times between dynasty 6 and dynasty 12 were assigned historiographi-
cal independence and a clearer terminological precision by coining for
them the notion of an Intermediate Period. The first evidence for this
comes from works by G. Steindorff14 and H. Frankfort15 from 1926,

7 R. Müller-Wollermann, Krisenfaktoren im ägyptischen Staat des ausgehenden Alten


Reichs, Diss. Tübingen 1986, 4f.
8 E.g. R. Lepsius, Königsbuch der Alten Ägypter, Berlin 1858.
9 A. Mariette, Aperçu de l'histoire ancienne d'Égypte, Paris 1867, 14; ders., Itinéraire
de la Haute-Égypte, 3e édition revue et augmentée, Paris 1880, 19-27.
10 Wiedemann, Ägyptische Geschichte (as n. 3).
11 H. Gauthier, Le livre des rois d'Egypte, 1907–1917.
12 E.g. in A. Erman, Aegypten und aegyptisches Leben im Altertum, Tübingen 1885, 63
(where it extends to 1050 BCE).
13 Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, I, 1, Stuttgart 1884, 41921, 240 and passim. On
the notion of „transitional“ or „intermediate times“ cf. A. Demandt, Metaphern für
Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, Mün-
chen 1978, 218ff.
14 G. Steindorff, Die Blütezeit des Pharaonenreiches, Bielefeld / Leipzig 1926, 217 (chart
with the classification „Zwischenzeit“ = 7th-10th dynasties).
184 Thomas Schneider

whereafter the new terminology gained wider approval.16 It seems as if


the catastrophy of the World War and the cataclysms of the subsequent
years (end of the European monarchies, revolution, economic crisis)
contributed to the First Intermediate Period gaining in profile: its al-
leged description in the Egyptian Umsturzliteratur was indeed per-
ceived as a template of the present. Adolf Erman spoke about both
periods – that of the First Intermediate Period and of the years after the
World War as a „time of revolution“,17 while Max Piper, in 1928, drew
this explicit comparison with regard to the Complaints of Ipuwer:
„Ungefähr um 2500 v. Chr. ist der Staat des Alten Reiches zugrunde ge-
gangen, und zwar durch eine große Katastrophe, die an die Ereignisse der
letzten Zeit gemahnt. (...) »Eine bolschewistische Revolution im Alten Ägyp-
ten,« das ist der verblüffende erste Eindruck. Es sieht so aus, als würde das
unterste zu oberst gekehrt, ganz wie in den letzten Jahren [text highlighted by
TS].“ 18

The notion of „First Intermediate Period” was well established by the


1940s.19 At the same time, fostered by the use of the term in H. Stock’s
study of 1942,20 the notion of Intermediate Period was increasingly adop-
ted for the time of dynasties 13-17 („Second Intermediate Period”), to
which the notion of Third Intermediate Period was coined as a final ana-

15 H. Frankfort, Egypt and Syria in the First Intermediate Period [highlighted TS], in: JEA
12 (1926), 80-99. In J. H. Breasted’s earlier History of Egypt, the time of the First In-
termediate Period is still linked directly to the Old Kingdom without any term of its
own.
16 An attestation from 1929 is referred to by R. Müller-Wollermann, Krisenfaktoren (as
n. 7), 7. Cf. also A. M. Blackman / E. Peet, The Intermediate Period and Middle King-
dom [highlighted TS], in: E. Denison Ross (Hg.), The Art of Egypt through the Ages,
London 1931, 21-28. In 1933, H. Junker, Die Ägypter, in: H. Junker / L. Delaporte, Die
Völker des Alten Orients, Freiburg i.Br. 1933, uses the paraphrasing term „Die Über-
gangszeit zwischen Altem und Mittlerem Reich“, whereas H. Kees (Ägypten, Mün-
chen 1933, 356) adheres to the dynastic reference „Herakleopolitenzeit“.
17 A. Erman, Eine Revolutionszeit im Alten Ägypten, in: Internationale Monatsschrift
für Wissenschaft, Kunst und Technik 6 (1912), 19-30 (designation applied to the time
described in the Admonitions); „in der Revolutionszeit“ (= time after the First World
War): A. Erman, Mein Leben und Wirken. Erinnerungen eines alten Berliner Gelehr-
ten, Leipzig 1929, 289.
18 M. Pieper, Die ägyptische Literatur, Wildpark-Potsdam 1928, 22.25.
19 E.g. J. Vandier, Stèles de soldats de la Première Période Intermédiaire, 1943;
H. Stock, Die erste Zwischenzeit Ägyptens (Studia Aegyptiaca II), 1949 (ms. comple-
ted in 1947); J. J. Clère / J. Vandier, Textes de la Première Période Intermédiaire et de
la XIe dynastie (BiAeg 10), Brüssel 1948; A. Weigall, Histoire de l'Égypte Ancienne,
Paris 1949.
20 H. Stock, Studien zur Geschichte und Archäologie der 13. bis 17. Dynastie unter
besonderer Berücksichtigung der Skarabäen dieser Zwischenzeit [highlighted TS]
(ÄgFo 12), Glückstadt 1942 (ms. completed in 1940).
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 185

logy and proliferated through K.A. Kitchen’s seminal study of 1978.


This terminology has currently successfully superseded more neutral
older designations labelled after lines of kingship or reigning dynasties.
It is evident that we are dealing here with an exemplary pattern of
classification between good and bad, flourishing and decadent times.
The decisive criterion for understanding a certain time as a „kingdom“
or „intermediate period“ in Egyptology has been essentially Egypt’s
territorial integrity under one rule. It cannot be denied that a classifica-
tion pattern well known in historiography whereby allegedly bad times
are frequently labelled primitive or early stages when lying before peri-
ods considered good, but decadent when following those good ep-
ochs,21 is patent in Egyptological sequences. Cf. only the sequels Thinite
period („Frühzeit“) – Old Kingdom – First Intermediate Period; Middle King-
dom – Second Intermediate Period; and New Kingdom – Third Intermediate.
Only in the first instance, the period perceived widely as introducing
the Old Kingdom is not marked negatively, while seeing the First and
the Second Intermediate Periods as positive run-ups to the Middle and
New Kingdoms instead of periods of decline has had a much more
difficult standing.
It is true that shorter units have been segmented within larger peri-
ods, but they tend to run along dynastic boundaries (Ramesside Age,
Saite Period) and are hardly ever defined in terms of their internal
characteristics (Amarna Age). The structuring adopted conventionally
risks to be taken for the historical reality. This is visible in frequent
derogatory judgments about the so-called Intermediate Periods, a ten-
dency countered recently only by way of using different terminology
(„Zeit der Regionen“,22 „Hyksoszeit“23). Often, thematic issues have

21 H. Ritter, art. Periodization, in: id., Dictionary of Concepts in History, New York etc.
1986, 313-319: 316. On the category of times of decline cf. also R. Koselleck / P. Wid-
mer (Hgg.), Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema (Sprache und Ge-
schichte, Band 2), Stuttgart 1980. Cf. also Robert Ritner’s pertinent remarks in: id.,
Implicit Models of Cross-Cultural Interaction: A Question of Noses, Soap, and Pre-
judice, in: J. Johnson, Life in a Multi-Cultural Society: Egypt from Cambyses to Cons-
tantine and Beyond (SAOC 51), Chicago 1992, 283-290: p. 284.
22 Cf. L. D. Morenz, Personennamen und eine familiäre Gottesbeziehung in der Zeit
der Regionen (Erste Zwischenzeit), in: BN 101 (2000); id., Geschichte(n) der Zeit der
Regionen („Erste Zwischenzeit“) im Spiegel der Gebelein-Region. Eine fragmenta-
risch dichte Beschreibung, unpublished Habilitationsschrift Universität Tübingen
2001.
23 T. Schneider, Ausländer in Ägypten während des Mittleren Reiches und der Hyk-
soszeit. Teil I: Die ausländischen Könige (ÄAT 42/1), Wiesbaden 1998, 167. Cf. id.,
The Relative Chronology of Dynasties 12-17, in: E. Hornung / R. Krauss / D. A. War-
burton, Ancient Egyptian Chronology (Handbook of Oriental Studies. Section 1: The
Near and Middle East, 83), Leiden / Boston 2006, n.1.
186 Thomas Schneider

also been treated within the external boundaries of conventional time


periods which threatens correct historical insight. I would like here to
quote an exemplary judgment by Jan Assmann who maintained:
„Die Form der pharaonischen Geschichte Ägyptens ist nun in der Tat
höchst eigenartig. Zwei Eigenschaften dieser Form springen als besonders
auffallend und möglicherweise einzigartig ins Auge. Die eine ist die unge-
heuere Dauer dieser Kultur (...). Die andere Eigenschaft ist das Auf und Ab
ihrer Bewegung innerhalb dieses gewaltigen Zeitrahmens. In ihrem zykli-
schen Aufbau und ihrem Wechsel von Blüte- und Zwischenzeiten wirkt die
ägyptische Geschichte geradezu wie ein Kunstwerk.”24

It needs to be said here that the work of art singled out here as extraor-
dinary by Assmann is not so much a pattern modelled by the past but
an artificial construction set up by modern historiography. In general
terms, assuming history to be so simply patterned is very improbable.
As the historian R.G. Collongwood put it: „This (...) is not and never
can be historically true. It tells us much about the historians who study
the facts, but nothing about the facts they study.“25 Egyptological usage
of the aforementioned conventional periodization may have had some
pragmatic or didactic value. But, as Harry Ritter in the Dictionary of
Concepts in History holds, „convention easily seduces the unwary into
taking periodization too literally and naively confusing mental con-
structs with the events one wishes to analyze; thus, concepts such as
‘antiquity,’ ‘middle ages,’ or ‘Renaissance’ are often endowed with a
cognitive status they do not deserve.“26 It seems apparent that the Ma-
nethonian dynastic grid and conventional periodization which have
become the two-layered structure for standard interpretations of Egyp-
tian history are a stranglehold. The very fact that no other attempts at
periodizing Egyptian history exist and that the description of cultural
phenomena has been conducted more often than not along these preset
framelines is an outspoken proof to the fact that this view can indeed
be seen as a compulsion.

§2 Periodization as a historiographic tool

Periodization27 is one of the historian‘s most important tools of large


scale interpretation. It is an aid that gives history an internal structure

24 J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München / Wien 1996, 33.


25 R. G. Collongwood, The Idea of History, Oxford / New York [1946] 1956, 327.
26 Ritter, Periodization (as n. 21).
27 For literature on the issue of periodization s. N. Luhmann, Weltzeit und Systemge-
schichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen ge-
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 187

and cohesion beyond purely superficial arrangements such as chronol-


ogy. It gives shape to the insight that historical process is constant, but
not uniform. The historian attempts to seize and understand constancy
and change. He attributes the multitude of phenomena to specific cate-
gories and judges them. He persues questions of cause, effect, relation
and break. He may delimit specific sequences of time which seem co-
herent in terms of mentality, social conditions, or culture, and define
them as periods of certain characteristics. A modern Polish theorist of
history, Jerzy Topolski, speaks in this respect as of differences in histori-
cal coherence. To him, certain events of history represent a kind of natu-
ral coherence, e.g. the subsequent battles of Alexander the Great, while
the historians‘ concept of period imposes a theoretical coherence upon
history which reflects a higher level of interpretation. It is, in fact, the
broadest conceptual pattern of historiography, and offers to public
consciousness a kind of distillation of lower level historiographic work
in form of period terms such as „Renaissance“, or „Enlightenment“. In
conclusion, Jerzy Topolski has stated: „Periodization is one of the most

sellschaftlicher Systeme, in: P. C. Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte, Opla-


den 1972, 81-115; F. Schalk, Über Epoche und Historie, in: H. Diller / F. Schalk
(Hgg.), Studien zur Periodisierung und zum Epochenbegriff (Akad. d. Wiss. u. der
Lit. Mainz, Abh. d. geistes- und sozialwiss. Kl., Jg. 1972, Nr.4), 12-38; D. Gerhard, Pe-
riodization in History, in: P. P. Wiener (Hg.), Dictionary of the History of Ideas, 3,
1973, 476-481; E. Engelberg, Genese und Gültigkeit von Epochenbegriffen: theore-
tisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung, Berlin(-Ost) 1974; R. Koselleck,
Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979,
31995; C. von Buxhoeveden, Geschichtswissenschaft und Politik in der DDR. Das

Problem der Periodisierung, Köln 1980; A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die
Perspektiven historischer Periodisierung, in: HZ 239 (1984), 309-351; H. Ritter, art.
Periodization, in: id., Dictionary of Concepts in History, New York etc. 1986, 313-319;
R. Herzog / R. Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, Mün-
chen 1987 (Poetik und Hermeneutik, 12); J. Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien histori-
schen Denkens, Frankfurt a.M. 1990; O. Dumoulin / R. Valéry (Hgg.), Périodes. La
construction du temps historique. Actes du Ve colloque d‘Histoire au Présent, Paris
1991; J.R. Hall, Periodization / Sequences, in: P. N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of So-
cial History, New York / London 1994, 558-561; L. Besserman (Hg.), The Challenge of
Periodization: Old Paradigms and New Perspectives, New York etc. 1996, 3-27; H.-J.
Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek
bei Hamburg 1996, 168ff.; J. Topolski, Periodyzacja w konstrukcji narracyjnej [Perio-
dization in the narrative construction], in: id., Jak sie pisze i rozumie historie. Tajem-
nice narracji historycznej [How to write and understand history. The secrets of histo-
rical narration], Warszawa 1996, 129-140; M. Golden / P. Toohey (Hgg.), Inventing
Ancient Culture. Historicism, Periodization, and the Ancient World, London / New
York 1997; K. E. Müller / J. Rüsen (Hgg.), Historische Sinnbildung: Problemstellun-
gen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei
Hamburg 1997; J. H. J. van der Pot, Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte.
Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen, Leiden / Boston /
Köln 1999; R. Bonnaud, Tournants et périodes. Essais sur les durées historiques et les
années récentes, Paris 2000.
188 Thomas Schneider

important tools in creating historical concepts reconstructing a past


reality, and simultaneously one of the most active factors of creating
historical pictures in public consciousness. Pictures that are decisive for
the comprehension of history and the process of history. Periodisation
is the main element, or at least a very essential one, of historical concep-
tualization. Delimiting a historical epoch means implicitly accounting
for judging its place and its role in the course of history. Periodising is
thus, most fundamental to the historian himself and for social (and
scientific) reception of history. Changing a given periodization may
lead to a changed view on history.“28
There have been fierce attacks against such optimistic views on pe-
riodization. Critics have emphasized the continuity of the past and
doubted the possibility of delimiting discontinuities within it. The phi-
losopher Hanna-Barbara Gerl has argued (highlighted words T.S.):
„Hauptproblem ist (...) die Frage nach der Begründbarkeit historischer
Einteilungen. Denn der Historiker trägt in die Abläufe des Geschehens
Kontinuitäten und Diskontinuitäten ein – aber ist die Zuweisung von Be-
deutung an die Fakten nicht ein nachträgliches Unternehmen, dessen Aus-
gang von dem vorausgesetzten Maßstab der Beurteilung vorgezeichnet ist?
Sind die vorgewiesenen Kausalitäten und Finalitäten nicht Konstrukte, die
sich die Tatsachen zugegebenermaßen post festum gefügig machen?”29

Since, however, the relics of the past become a history imbued with
significance only through the order and interpretation of the historian,
since history does not exist as a fact but merely as problems and con-
structions,30 this criticism misses the point. Similar was the judgment
the Italian historian Benedetto Croce put forward when he stressed, in
a famous vote from 1919, that periods are fabrications that have no e-
xistence apart from the minds of historians, and that periodization is
basically „an affair of imagination, of vocabulary, and of rhetoric,
which in no way changes the substance of things“31 – much too subjec-
tive an affair for enabling an understanding of history. It must, though,
be emphasized that no substance of things of the past exhibits itself
without the intermediary of a modern interpreter, a bias acknowledged
universally in historiography. Periods consist of both an objective and a

28 Topolski, Periodyzacja (as n. 27), 133ff.


29 H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1989, 7.
30 Vgl. Goertz, Umgang (as n. 27), 95; D. Carr, Die Realität der Geschichte, in: Müller /
Rüsen, Historische Sinnbildung (as n. 27), 309-327, particularly p. 309; S. J. Schmidt,
Geschichte beobachten. Geschichte und Geschichtswissenschaft aus konstruktivisti-
scher Sicht, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1997), 19-44
(particularly p. 42f.).
31 Quoted after Ritter, Periodization (as n. 21), 313-319: p. 315.
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 189

subjective constituent; periodization is the subjective shaping of objective-


ly existent materials (J.H.J. van der Pot, resuming a succinct formula
coined earlier by H.P.H. Teesing32). It can be maintained that there is,
nowadays, agreement among historians that we cannot do without
periodization altogether. But they have to live with the dilemma (as
Arnold Esch put it) that periodisations at the same time are the necessa-
ry form of our comprehension and inevitably exert a certain compul-
sion.33
Given the vast evidence from the past and the diversity of histo-
riographic approaches to it, it is not surprising to see that modern peri-
odizations can exhibit a great variability in terms of the divisions they
perform and the justification they provide for them.34 It is important
here to realize that a historian’s perspective on a time of the past and
that of past individuals having lived in it are different. In considering
the past, the historian must not judge in retrospect only, from that par-
ticular path of history that became reality. If he did so, he would en-
counter the danger of not reconstructing history, but merely prolegom-
ena of a later epoch – construing the past teleogically. Every era in
history had its own weight, its own self-understanding, and more than
one possibility of future development. The historian should struggle to
grant every time its internal historical validity,35 a point often disre-
garded. The Weimar Republic is mostly judged in retrospect of Hitler’s
seizure of power in 1933; the time of the late Thutmosid kings is mostly
seen in retrospect of the Amarna age – and labelled accordingly „pre-
Amarna period“. For Egypt at ca. 1400 BC, however, Amarna was only
one perspective among many, and possibly the least probable one. John
Baines has emphasized with regard to a different topic – the late Egyp-
tian temple: „To do so would be wrongly to use hindsight from the
perspective of the middle and late Roman Empire and the rise of Chris-
tianity in Egypt; too often studies of the period have been initiated by
this teleological vision.“36 A historiographic possibility to counter teleo-

32 Van der Pot, Sinndeutung und Periodisierung (as n. 27).


33 A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung,
in: HZ 239 (1984), 309-351: p. 319 („Wir sollten nicht verkennen, daß von unseren Pe-
riodisierungs-Konstruktionen — die nicht nur notwendig sind, sondern geradezu
die Form unserer Erkenntnis — zwangsläufig eine gewisse Nötigung ausgeht.“).
34 See the example of the end of the ancient and the beginning of the modern world
given in Schneider, Periodisierung (as n. 1).
35 Esch, Zeitalter (as n. 33), p. 348f. and 315f., respectively.
36 J. Baines, Temples as Symbols, Guarantors, and Participants in Egyptian Civilization,
in: S. Quirke (Hg.), The Temple in Ancient Egypt. New Discoveries and Recent Re-
search, London 1997, 216-241: 232; cf. Schneider, Ausländer in Ägypten (as n. 23),
147.
190 Thomas Schneider

logical judgments is to ponder potential strands of development that


were inherent in a given epoch but did not become reality, the unhap-
pened history in the words of A. Demandt’s seminal essay.37 The study
of this virtual, alternative, or contrafactual history has encouragingly
increased in the past two decades and led to new insights into the proc-
ess and significance of the past.38 It is noteworthy that Egyptologists as
to them have reflected on contrafactual Egyptian history, if rarely and
unsystematically. A more recent example – no Amarna Age, had Ak-
henaten’s elder brother not died prematurely but ascended the throne
of Egypt as Thutmosis V – was given by A. Dodson and D. Wildung.39
Eberhard Otto sketched and justified this kind of reasoning as early as
1953 when he wrote about the late 18th dynasty as follows:
„Haremhab, in erster Linie Militär, erkennt die Notwendigkeit, das König-
tum aus der alten unfruchtbaren Bindung zu lösen und, um politischer
Tatsachen willen, das Übergewicht nach der Landeshälfte zu verlegen, wo
die Entscheidung über die Existenz Ägyptens fallen mußte: nach Unter-
ägypten. Er hatte die Entscheidung in der Hand, ob Ägypten aus dem
Kreise der Mittelmeerländer ausscheiden und in engem Zusammenhang
mit dem nubischen Kolonialland ein afrikanischer Binnenstaat werden soll-
te oder ob es seinen Platz im Kreise der vorderasiatischen Großmächte be-
haupten sollte. Im ersteren Falle wäre die ägyptische Kultur zweifellos ein
abseitiges Kulturkuriosum afrikanisch-ägyptischer Mischung geworden,
vergleichbar etwa der des späteren Äthiopenreiches im Süden. Nur im
zweiten Fall konnte, wenn auch auf einem mühsamen und kampfreichen
Wege, der Zusammenhang mit der Mittelmeerwelt und das heißt auf län-

37 A. Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre ge-
schehen, wenn ...? 3., erw. Aufl., Göttingen 2001.
38 U. Heimann-Störmer, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtsschreibung. Eine
Fallstudie zur Historiographie des Bismarck-Reiches (Europäische Hochschulschrif-
ten. Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 463), Frankfurt a.M. etc.
1991; P. Burg, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtswissenschaft, AfK 79 (1997),
211-227; W. Suerbaum, Am Scheideweg zur Zukunft. Alternative Geschehensverläu-
fe bei römischen Historikern, in: Gymnasium 104 (1997), 36-54; N. Ferguson (Hg.),
Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London 21998 (German edition:
Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1999);
K. Macksey (Hg.), The Hitler Options. Alternate Decisions of World War II, London
1998; M. Salewski (Hg.), Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brü-
cken zwischen Phantasie und Wirklichkeit (Historische Mitteilungen, Beiheft 36),
Stuttgart 1999; K. Brodersen, Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte,
Darmstadt 2000; J. C. Exum (Hg.), Virtual History and the Bible, Leiden 2000;
J. North (Hg.), The Napoleon Options. Alternate Decisions of the Napoleonic Wars,
London 2000.
39 A. Dodson, Two Who Might Have Been King: Crown-Prince Thutmose (V) and
Generalissimo Nakhtmin, Amarna Letters. Essays on Ancient Egypt, I, San Francisco
1991, 26-30; D. Wildung, Le frère aîné d'Ekhnaton. Réflexions sur un décès prématu-
ré, in: BSFE 143 (1998), 10-18.
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 191

gere Sicht auch mit der jungen abendländischen Kultur gewahrt werden.
Selbstverständlich kann weder Haremhab noch einem seiner Zeitgenossen eine sol-
che Alternative als bewußte Überlegung unterstellt werden. Aber dem Historiker
muß es erlaubt sein, an geschichtlichen Wendepunkten mit seiner Bewußtheit
deutlich zu machen, wie eine Entscheidung, aus was für Gründen immer sie ge-
troffen sein mag, den Gang der Geschichte für Jahrhunderte in eine bestimmte
Richtung weisen kann [text highlighted by TS].“ 40

Otto’s assignment of a turning point in Egyptian history to the reign of


Haremhab and to a (retrospectively positive) decision of political stra-
tegy (rather than to the Amarna Age and the hiatus it meant) is note-
worthy in itself. It brings us back to the initial query about how to treat
the so-called Ramesside Age in historiographic terms. Two of three
most mentioned thresholds of Egyptian history (Epochenschwellen) lie at
either side of the 19th and 20th dynasties.41 The first demarcation has
been advocated – among others – by Jan Assmann who stated in 1984:
„Im ganzen gesehen [stellt] der Übergang von der 18. zur 19. Dynastie, der
Ramessidenzeit, eine Epochenschwelle, vielleicht die tiefgreifendste der
ägyptischen Geschichte überhaupt, dar.“42

This break becomes more momentous by way of two modern histori-


ographic strategies. In Assmann’s approach it receives its specific
weight through the fact that he perceives Amarna as an age that inflic-
ted a traumatic experience onto Egypt, and the 19th dynasty to the con-
trary as one of the climaxes of Egyptian religious thought.43 The second
strategy was advocated by Wolfgang Helck who thought in evolutio-
nist categories whereby mankind would have to progress from magical
to rational stages, and from repressive rule to a life in freedom. He con-
sidered Amarna’s ideology of rationalism without any reference to
mythological explanation patterns a particular achievement but judged
that it also discredited the traditional pursuit of Maat. In particular,
Helck dismissed Egypt from Ramesses II onward as a whole and saw it
as a decaying and – with the 20th dynasty at latest – lifeless body.44 This

40 E. Otto, Ägypten. Der Weg des Pharaonenreiches, Stuttgart 31958, 172.


41 The third – earlier – turning point is the Hyksos period, cf. E. Otto, Ägypten. Der
Weg des Pharaonenreiches, Stuttgart 31958, 137: „Die Bedeutung der Hyksoszeit für
Ägypten kann nicht leicht überschätzt werden, wenn man ihre unmittelbaren und
mittelbaren Folgen in Betracht zieht. Dann darf sie ohne Übertreibung als der ent-
scheidende Wendepunkt der ägyptischen Geschichte bezeichnet werden.“
42 Assmann, Ägypten (as n. 24), 258.
43 E.g. Assmann, Ägypten (as n. 24), 252-258 (for the alleged trauma of Amarna); 267
(the Ramesside Age as the climax of theological discourse).
44 W. Helck, Politische Gegensätze im alten Ägypten. Ein Versuch (HÄB 23), Hildes-
heim 1986, 66: under Ramesses II „wandelt sich Ägypten endgültig zu einer Kultur,
die aufgibt, das Rechte zu suchen, ja, die es sogar für Sünde hält, dies zu tun. Dage-
192 Thomas Schneider

dismissal had a long line of defenders before Helck, from Adolf Erman
(decline and decadence of Egypt after Amarna) to Kurt Lange, as had
the evolutionist dismissal of the first millennium (J. H. Breasted), or
even the New Kingdom as a whole (H. Kees’s view of the Epigonentum
des Neuen Reiches). Although this position is now by and large obsole-
te,45 the question remains how continuity and discontinuity from the
18th dynasty to the Ramesside Age and within the latter should be
weighted, and if the Amarna Age deserves a specific status within tho-
se times.
The break at the second side of the Ramesside dynasties is reiter-
ated in all recent outlines of Egyptian history which see a clear histori-
cal cut under Ramesses XI.:
„Der Übergang von der Spätbronzezeit zur frühen Eisenzeit, anders aus-
gedrückt, der Übergang vom Neuen Reich zur Spätzeit, bedeutet für die

gen werfen sich die Menschen in die Arme Gottes, d. h. sie verzichten auf eine eige-
ne Führung ihres Lebens.” He perceives the lack of ethical obligations as a result of
the abolition of „truth” which had been discredited in the Amarna Age. „Damit aber
verschwindet auch jede Rechtssicherheit, was in der Bevölkerung zu Unruhe und
letztlich zu Resignation führt. Es entsteht das, was wir beschönigend „Persönliche
Frömmigkeit“ nennen; in Wahrheit ist es die Aufgabe des Strebens nach Recht und
Gerechtigkeit und die Übergabe der Person und des Lebens an den unerforschlichen
Ratschluß eines Gottes. Hiermit kapituliert man vor den übermächtigen chaotischen
Kräften innerhalb der ägyptischen Gesellschaft. Wenn aber niemand mehr danach
strebt, die Welt aus eigenen Kräften heraus zum Guten zu lenken, ist der Bestand ei-
nes Staates nicht mehr zu retten. In der Tat verfault der ägyptische Staat in dieser
Zeit“ (p. 71). „Es wird von manchen Ägyptologen energisch bestritten, daß die ägyp-
tische Kultur im Grunde seit der Katastrophe von Amarna todkrank und mit der 20.
Dynastie gestorben ist, weil wir ja bis tief in die römische Kaiserzeit in den Tempeln
von Edfu, Dendara, Kom Ombo und manchem anderen kleinen Ort unendliche Tex-
te besitzen, die uns geistiges Leben vorspiegeln. Doch diese Texte sind entweder
Überlieferungen der Vergangenheit oder Spekulationen von Priestern, im Elfenbein-
turm ihrer Tempelzellen erspielt (...). Wenn man den Kampf des Menschen um ein
Leben in Vernunft und eine Befreiung von magischen Vorstellungen und die Besei-
tigung von repressiven Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft als Zeichen einer
lebendigen Kultur ansieht, so ist das letzte Jahrtausend der altägyptischen Geschich-
te zu vernachlässigen; am Todesstoß von Amarna verblutet Ägypten geistig, bis nur
noch eine leblose Mumie übrigbleibt, die letztlich auch, ehrfurchtsvoll bestaunt, in
Staub zerfällt“ (p. 78f.).
45 Miriam Lichtheim has judged Helck’s statements as follows: „This final paragraph
yields the key to Helck’s sweeping dismissal of Egypt’s last millennium. An odd
key. For if the criteria of a living culture are rationality and freedom from absolutist
power structures, then the Old, Middle, and New Kingdoms do not qualify as live
cultures either. The facts, it seems to me, are two. One, Helck’s dismissal of the first
millennium B.C. was a personal idiosyncrasy. Two, most of the work on Egypt’s cul-
tural history in the first millennium B.C. has yet to be done.“ (Moral Values in An-
cient Egypt [OBO 155], Fribourg / Göttingen 1997, 60).
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 193

ägyptische Geschichte einen tiefen Einschnitt; vermutlich ist es der größte


Umbruch in dieser langen Geschichte überhaupt.”46

The automatism of the Ramesside line of kings and Egyptological con-


vention that has adhered to it have often impeded asking about the
criteria of periodization. Political, social, and religious traits characte-
ristic to the 21st dynasty emerged well before the break and might favor
a historiographical treatment of the time which would start in the 12th
century BCE.
What becomes clear here is the reason why the determinism impo-
sed by Manetho and Egyptological convention must be in conflict with
the requirements of a modern approach, both with regard to the exter-
nal chronological structures applied and the internal qualities of their
narratives. Manetho’s encyclopedic arrangement of the reigns of the
past into dynasties drew on earlier tradition and was motivated largely
by the geographical location of residences and royal necropoleis.47
Although his narrative is lost with the exception of some passages pre-
served with Josephus and short glosses in the epitome, it seems to have
largely been concerned with a theological view of Egypt’s past political
history.48 Both the external structure and the internal preponderance of
political and military events continue to be dominant in modern histo-
ries of Ancient Egypt. It is true that the history of political events has
had its advocats in 19th century historicism and in a recent histori-
ographical revival (Ereignisgeschichte, histoire événementielle), as had
theological readings of history. Modern historians would nevertheless
be likely to generally concur with the view that we need to opt today
for a broad conspectus of multiple and diverse perspectives. By defini-
tion, the task of periodization requires to account for historical pheno-
mena in the most comprehensive way. If we doubt a neat simultaneity
between political, economic, social and intellectual histories, this means
that periods defined by only one of those categories must be wrong.

46 K. Jansen-Winkeln, Ägyptische Geschichte im Zeitalter der Wanderungen von See-


völkern und Libyern, in: E. A. Braun-Holzinger / H. Matthäus (Hgg.), Die nahöstli-
chen Kulturen und Griechenland an der Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend v. Chr.
Kontinuität und Wandel von Strukturen und Mechanismen kultureller Interaktion.
Kolloquium des Sonderforschungsbereiches 295 „Kulturelle und sprachliche Kon-
takte“ der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 11.–12. Dezember 1998, Möhne-
see 2002, 123-142: p. 123. Advocated also by Assmann, Ägypten (as n. 24), 311f. and
others.
47 J. Málek, La division de l'histoire d'Egypte et l'égyptologie moderne, in: BSFE 138
(1997), 6-17.
48 J. Dillery, The First Egyptian Narrative History: Manetho and Greek Historiography,
in: ZPE 127 (1999), 93-116 goes even farther in insinuating Manetho’s narrative an
apocalyptic orientation.
194 Thomas Schneider

Periodization as a method must not rely on one single (e.g., political)


demarcation within the past, or impose preset modern understandings
on it.
It should therefore be emphasized that the dynastic grid taken over
from Manetho can serve only as an (all but indispensable) framework
for chronological orientation, not as an indicator of historical understan-
ding. Writing a history of the 18th dynasty is in itself as little founded as
writing a history of the 18th century as long as the dynastic demarcation
and no historical criteria are observed. This applies equally to the de-
marcations established by Egyptological convention. There is a priori no
greater legitimacy in writing a history of the 19th and 20th dynasties
(which has been done) only because they form a conventional period
than to write a history of the 20th and 21st dynasties (which has never
been done) or, to leave the dynastic grid aside, a history from 1190 to
1030 BCE if there are internal arguments that favour it.49 But even if its
findings do not carry through, periodization is a most desirable chal-
lenge to convention. Periodizing needs as a pre-condition a new re-
construction of the past and a reevaluation of existing reconstructions.
It wishes to enable a contrasting view on a civilization’s past which
fosters historical judgment and understanding. It has to question
entrenched patterns of thought and established terminologies.
It is only by reassessing the significance of a multiplicity of criteria
– such as the evolution of society, the distribution of power, the in-
terplay of beliefs, the fate of literary genres, the production of art, the
use of oracles, or the development of prices (to name haphazardly some
of them) – that the historian can hope to arrive at a more reliable con-
ceptualization of the territory of the Egyptian past.

49 Cf. Málek, La division de l'histoire d'Egypte (as n. 47), p. 6: „Ce terme [dynastie]
implique souvent de façon incorrecte une période historique bien définie.“
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 195

Abstract

Der Beitrag untersucht die Genese und Berechtigung der herkömmli-


chen Periodisierung der ägyptischen Geschichte, die nur teilweise auf
ägyptische Vorläufer und Ägyptens ersten Chronographen Manetho
zurückgeht, sondern auf die moderne Historiographie Altägyptens im
ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert, die über Manethos kleinteilige
Gliederung in Dynastien ein Schema von Perioden stülpte, die in Ana-
logie zu den Nationalstaaten des 19. Jh.s als „Reich” („empire”, „king-
dom”) bezeichnet wurden. Diese (zu Beginn noch sehr unterschiedlich
gehandhabte) Großgliederung wurde in den 1920er Jahren durch die
Abgrenzung der „Ersten Zwischenzeit” als Krisenzeit nach dem Alten
Reich verfeinert, nachweisbar in Analogie zu dem Zusammenbruch der
europäischen Ordnung am Ende des 1. Weltkriegs. In der Folge wur-
den in Analogie dazu die Zweite und Dritte Zwischenzeit geschaffen
und diese historiographische Formgebung als die tatsächliche Form der
Geschichte Altägyptens missverstanden, die ohne Gegenentwürfe in
alle Lehrbücher Eingang fand. Diese Periodisierung ist einseitig, da
dabei nur das Kriterium territorialer Integrität Ägyptens zählt und
evolutionäre Schemata von Blüte und Dekadenz angewandt werden,
die der Komplexität der Vergangenheit nicht gerecht werden. Der Bei-
trag erörtert die Bedeutung von Periodisierung als historiographisches
Instrument und die Wichtigkeit, Epochen Altägyptens nicht nur von
ihrer retrospektiven Bedeutung, sondern ihrem zeitgenössischem Po-
tential her zu definieren und zu beurteilen. Erstrebenswert ist eine De-
batte über den Sinn einer neuen Periodisierung der ägyptischen Ge-
schichte, die unserem gewachsen Verständnis gerecht würde und ihm
begriffliche Form verliehe. Eine moderne Periodisierung müsste über
Manethos politisch-theologische Kriterien und die politisch-nationale
Gliederung der frühen Ägyptologie hinaus ein breitestmögliches
Spektrum von Ansätzen berücksichtigen. Manetho und die traditionel-
le Periodisierung sind lediglich ein Gerüst zur chronologischen Orien-
tierung, aber keine Leitlinien für ein historischen Verständnis Altägyp-
tens.
Index
Namen und Sachen: Ammoniter, ammonitisch 113-
Abraham 112 Anm. 19, 128 114, 140, 143-147, 151-153,
Absalom 155, 162, 164, 166-168, 175, 180
171 Ammuna 33
Agamemnon 91 Amurriter 4, 6, 15 Anm. 76, 18-
Agis 70 Anm. 62 19
Ägypter 39-40, 183 Anm. 8, 184 Annalen, Annalenwerke 27, 30
Anm. 16 Anm. 12, 31-34, 36-39, 41,
Ägyptologie, ägyptologisch 181 43-44, 46, 59, 116 Anm. 29,
Anm. 1, 192 Anm. 44 127-129, 151 Anm. 72
Ahimaaz 155 Anm. 83, 162, Annalistik, annalistisch 27-28,
164-167 30 Anm. 12, 31-34, 36, 38-
Aias 157-158 39, 45-46, 48
Aigisth 95 Anonymität, anonym 54, 98,
Aischylos 56 Anm. 26, 134-135, 114, 121-123, 126-127, 130-
157-158, 161 Anm. 105 131, 133, 140, 153-154, 162,
Aja 7 164, 179-180
Akhenaten 190 Anthropologie 52, 65, 73, 77, 82,
Aktion 134, 39, 45, 71, 98 Anm. 88
10, 102, 132 Anm. 3, 141 Antiochos von Syrakus 118
Anm. 30, 150 Anm. 69, 152, Anu 8, 10
155 Anm. 84, 166, 178, 193 Apollo 170
Anm. 46 Apologie 35-36
Akusilaos von Argos 118 Applikation 110, 113, 133
Alphabetschrift 93, 100, 125 Aristophanes 134-135
Anm. 53 Aristoteles 39, 90-91, 169 Anm.
Alter Orient 5, 8 Anm. 44, 14 127
Anm. 64, 28-30, 108, 116, Arnuwanda I. 33, 35
124-126, 128, 132 Anm. 4, Asa 148
148 Anm. 54, 172 Anm. 134 Assurbanipal 126 Anm. 54
Altertum 28-29, 50, 83 Ätiologie, ätiologisch 110-113,
Altertumswissenschaft 89 117, 175, 177 Anm. 153
Amalekiter 155-156, 159 aural 93-95, 180
Amarna 148 Anm. 53, 182, 185, Autor 52, 54-56, 58, 61-65, 82
189-192, 195 Anm. 93, 84, 100, 107-110,
Ammi-s.aduqa 4, 12 Anm. 58 116 Anm. 30, 117 Anm. 32,
198 Index

118-123, 125-129, 131 Anm. deuteronomistisch, Deuterono-


1, 133, 136 Anm. 19, 137- mistisches Geschichtswerk,
138, 140, 143 Anm. 38, 153- 59 Anm. 39, 109 Anm. 7,
154, 171 Anm. 133, 172, 175, 115-117, 122, 127, 129, 133
179 Anm. 10, 139 Anm. 25, 143
Bakchen 157 Anm. 87, 163 Anm. 37, 150 Anm. 69
Barbar 55-56, 62, 104, 120, 134 Dichter 67-68, 89-101, 103-104,
Anm. 15 127, 135, 157 Anm. 94
Bauherr 6 Diodor von Sizilien 63 Anm. 49
Baumaßnahmen 6-7, 16 Diogenes Laërtios 91 Anm. 7
Bearbeiter 101-102 Dionysios von Halikarnassos
Bellerophontes 172-173 61 Anm. 43
Bote 43-44, 140, 144-146, 154- Dokument, dokumentarisch 34-
157, 159-175 36, 38, 90, 97, 132 Anm. 4,
Boteninstruktion 166 177 Anm. 153
Botenrede 154, 159-163, 169, 171 Drama 112, 132-137, 139-140,
Anm. 133 142 Anm. 32, 153-155, 160-
Bundesgenosse 72-74, 76 164, 169, 171, 174-176, 179
Burnaburiaš 22 Anm. 160, 180
Chor 160, 170 dtrG 116 Anm. 30, 146 Anm. 45
Chronik 21-22, 27, 35, 54, 59, Dynastie 4, 18, 128, 153, 172,
116 Anm. 31, 127, 132-133 175, 181, 183-185, 191-195
Churriter 30 Anm. 9 Dynastiebegründer 151, 175
Cicero 98 Anm. 20 Edomiter 113
Cylon 178 Anm. 155 Einzelsagen 127
Darstellung 9, 12-13, 29-31, 90- Eisenzeit 192, 195
91, 96, 101, 103, 108 Anm. 6, Elamer, elamisch 5
110-111, 114, 118-120, 122- Emeslam 17
123, 127-129, 131-135, 140- Emotion, emotional 35, 162
142, 147, 149-150, 153-154, Enlil 8, 10
156-157, 159-161, 165, 168, Ephoros von Kyme 63 Anm. 49
170, 176 Anm. 152 Epigone 192
David 60 Anm. 42, 110 Anm. Episode 39, 42, 45-46, 114-115,
11, 131 Anm. 1, 133 Anm. 6, 141-143, 152, 155, 169, 175-
135-136, 139 Anm. 25-26, 178
141-144, 146-148, 150-153, Epos, episch 2-3, 21, 89-104,
155-156, 158-159, 162-165, 126-127, 134 Anm. 12, 153-
167-169, 171-175 155, 161 Anm. 104, 171-172,
Daviderzählungen 135 Anm. 174-176
17, 140 Anm. 28, 154-155, Ereignis 16, 27-29, 31, 45-46, 54,
169, 172-173, 175 56-57, 59, 63-66, 68, 70-71,
Debora 127 Anm. 58 76, 78, 132, 135, 137, 153-
Index 199

154, 160, 162, 170, 176, 178, 60-61, 66, 82-83, 90, 93, 97-
184 98, 101, 103, 117 Anm. 35,
Erinnerung, Erinnerungskultur 120, 131-133, 137, 147 Anm.
19, 21, 23 Anm. 113, 53, 57- 50, 153-156, 159-163, 166-
58, 93, 124, 150 Anm. 63, 167, 170-172, 174-179, 180,
184 Anm. 17 186-187, 189, 194
Erlass 34-35 Formeln 4, 6-7, 11-12, 16, 21, 37,
Erra 126 Anm. 54-55 63, 96
Erzählen, Erzähler, Erzählung Fragment 35, 54, 90 Anm. 6, 103
3-4, 45-46, 53, 57, 60-61, 63- Anm. 32, 118 Anm. 37, 119
64, 66, 70, 72-73, 76, 83-84, Freiheit 56-57, 74, 80, 81, 83, 177
90, 107-115, 117, 119-120, Anm. 153
122-125, 127, 134, 137-139, Freudenbotschaft 165-168
141 Anm. 30, 145-146, 154, Führer 79-80, 83
156, 160-163, 172, 174-175 Funktion 14, 28 Anm. 7, 33-35
Erzählerkommentar 134 Anm. 27, 37, 46, 107, 110,
Erzählerrolle 109, 121-122 116, 117 Anm. 32, 134-136,
Erzählerstimme 107, 109-110, 140, 154-156, 159, 162-163,
112, 114, 117, 122-123, 154 171, 173-174, 176 Anm. 152,
Erzählstruktur 37, 138 178 Anm. 155
Euripides 134, 157 Anm. 87, Gedächtnis 4, 17, 23, 53, 57, 68-
160-164, 171 Anm. 133, 176 70, 113, 127-128, 135, 137,
Anm. 151 154, 177
Eurystheus 119 Gegenwart 4, 53, 66
Even ha-Ezer 111 Generation 4, 18-19, 21 Anm.
Exegese 60 Anm. 42, 107 Anm. 104, 49 Anm. 3, 53, 55, 62,
2, 109 Anm. 10, 124 93, 100, 105, 127, 138 Anm.
Exodus 128 24
Figur 13-14, 21-23, 29, 122, 133, Genre 15 Anm. 73, 26, 30 Anm.
135-138, 140, 141 Anm. 30, 12, 32-33, 36, 48, 174 Anm.
143, 153-154, 157, 159-160, 146, 175, 194
162-164, 167, 169, 171-176, Gerechtigkeit 3, 5, 8-12, 15, 18,
178 20-21, 23, 158 Anm. 97, 192
Figurenkonstellation 138-140, Anm. 44
143, 146, 159, 165-166, 173 Gericht 20
Fiktion, fiktional, Fiktionalität 5 Geschichte 4-5, 12-13, 21, 27, 29-
Anm. 18, 39, 45-46, 60 Anm. 30, 33, 39, 45, 47, 49-50, 59-
40, 89-91, 109, 127 Anm. 56, 60, 64, 83-84, 98, 107-108,
137, 138 Anm. 24, 174 Anm. 113-114, 116, 122, 124-125,
141, 175 Anm. 140 128, 131 Anm. 1, 133, 136
Floating gap 53, 177-178 Anm. 19, 139 Anm. 25, 140-
Form 3-4, 23, 28-30, 32, 34, 49, 141, 149 Anm. 60, 162 Anm.
200 Index

113, 172, 176 Anm. 149, 177, 126, 128, 135 Anm. 16
181, 185-193, 195 Griechenland 53, 59, 62, 67, 72,
Geschichten, Geschichtenerzäh- 79-80, 82, 90, 92-93, 95, 99
ler 4, 45, 47, 50 Anm. 6, 53- Anm. 24, 124 Anm. 51, 134,
54, 84, 107, 110, 118 141 Anm. 31, 172, 176, 178,
Geschichtsbewusstsein 30, 47, 193 Anm. 46
52-53, 56-57, 65 ̈ammu-rapi 1, 3-26
Geschichtsbezug 27 Haremhab 190-191
Geschichtsmodelle 28 ̈atti 40, 43-44
Geschichtsschreiber, Ge- ̈attušili I. 31, 33, 35-36, 46
schichtsschreibung 5, 27-28, ̈attušili III. 33, 35-36
32, 45, 47, 49-50, 52, 54, 58- Hegemonie, hegemonial 57, 82,
60, 62, 64-65, 69, 82, 89, 91, 88
111 Anm. 13, 118-120, 129, Heiligtum 9, 112
131-136, 140, 142 Anm. 34, Hekataios von Milet 54-56, 58,
147-148, 157, 174-179, 190 118
Anm. 38, 195 Helena 90
Geschichtssicht 139, 150 Anm. Hellanikos von Lesbos 62 Anm.
67, 152 46, 118
Geschichtsüberlieferung 1, 55 Herakles 160 Anm. 103, 163,
Anm. 22, 107-109, 111, 116, 171 Anm. 133
131 Anm. 1, 150, 178-179 Hermon 114
Geschichtsverständnis 5 Herodot 28, 49, 55-58, 60-63, 67,
Geschichtswissenschaft 28, 49, 71, 73, 82-83, 93, 118 Anm.
51, 187-188, 190 Anm. 38 37, 119-121, 123, 125, 131
Gesetz 11-12, 19, 24, 74-75, 77- Anm. 2, 135, 153 Anm. 81,
78, 94, 101 171 Anm. 133, 176-178
Gesetzessammlung 8-9, 15, 21 Heroen, Heros 53-54, 114, 118
Gesetzesstele 9-12, 17-19, 23 Herrschaft, Herrscher 3-9, 11-
Gibeah/Geba 148 14, 16-24, 27-28, 31, 60, 62-
Gilgameš 2-3 63, 66, 73-74, 77, 81-82, 91,
Glorifizierung 27 135 Anm. 17, 142 Anm. 35,
Glückskind 172-173 147, 151 Anm. 72, 152, 158
Gott, göttlich 2-20, 22, 24, 31, Anm. 96, 170
35, 54, 71, 75-76, 78, 112- Hesiod 54, 90-91, 95, 118-119,
113, 118, 126, 148 Anm. 54, 126-127
157-158, 164 Anm. 119, 171 Hethiter, hethitisch 27-36, 38-
Anm. 133, 192 47, 118 Anm. 39
Götternamen 95 Hilfe 44, 76, 79, 111, 127-128,
Griechen 28, 49, 52-54, 56, 59- 138, 145-146, 148-149, 158
61, 66-67, 71 Anm. 67, 83, Anm. 95, 164 Anm. 119, 171
86, 90, 100, 118-119, 124- Historiker 5, 50, 70, 73 Anm. 72,
Index 201

82 Anm. 93, 86, 117-118, 191 Anm. 44


125, 132-133, 188, 190-191 Karer 67
Historiograph, Historiographie Karkiša 44
5, 20, 27-32, 34-36, 39, 41, 43 Kaškäer 36
Anm. 38, 45-48, 50-52, 60, Kausalanalyse 52, 65
83-85, 89, 91, 93, 104, 109, Kommunikation 4, 13, 55, 110,
117-118, 124-125, 127, 130- 145
131, 133, 139 Anm. 25, 148 Kompilation 103
Anm. 55, 150 Anm. 69, 153, Komposition 13, 93, 95, 100, 112
173, 175, 177-183, 185-188, Anm. 18, 128, 137, 140
190 Anm. 38, 193 Anm. 48, Anm. 27, 146 Anm. 45, 151-
195 152, 154, 168 Anm. 123
Historizität 123 König, Königtum, königlich 4-
Homer, homerisch 52-53, 58, 63, 6, 8-24, 27, 31, 33-38, 41-43,
67, 89-105, 118, 126-127, 134 45, 50, 56, 59, 98 Anm. 21,
Anm. 12, 136 Anm. 19, 138 108, 114-116, 126 Anm. 54,
Anm. 24, 172 Anm. 134, 176 132, 134, 136 Anm. 20, 139-
Anm. 151 142, 143-153, 155-156, 158-
Homerische Frage 89, 97 159, 162-170, 172-173, 177,
Hyksos 182, 185, 189 Anm. 36, 185 Anm. 23, 189 Anm. 36,
191 Anm. 41 190
Hymnus, Hymne 3-4, 6, 10, 12, Königsinschrift 30, 59 Anm. 37,
16, 22-23, 95 128
Ilias 52, 58, 63, 67, 89, 91, 93, 95, Königszeit 115, 127-128, 132,
97-98, 100-104, 136 Anm. 134, 136 Anm. 21, 139, 175
19, 138 Anm. 24, 172 Konstellation 51, 123, 126, 140,
Interpolation 61, 101 145, 169
Investitur 13 Anm. 65 Konzeption 52, 83, 86, 104, 116
Iokaste 157 Anm. 88, 169-170 Anm. 31, 137-140, 154, 174
Isaak 112 Krieg 50 Anm. 4, 52, 55, 57-58,
Isokrates 98 Anm. 20 62-68, 71-74, 77-79, 81-83,
Ištar 2 Anm. 5, 9-10, 35 86, 91, 94, 98 Anm. 21, 120,
Jakob 111 133 Anm. 11, 144 Anm. 40,
Joab 162, 164-165, 167-169 149, 150 Anm. 67, 175, 177
Jonatans 156 Anm. 153
Josephus 153 Anm. 80, 193 Krösus 176-178
Josia 115 Kult, kultisch 4, 7-9, 16, 18, 35,
Josua 108-109, 149 Anm. 60 60, 125, 128, 142, 148, 168
Kallikles 76 Anm. 79 Anm. 122
Kampf 2, 10, 32, 37, 41-43, 62, Kulturelles Gedächtnis 53
92, 134 Anm. 15, 143-144, Anm. 15
156, 163-164, 171 Anm. 133, Kulturraum 120
202 Index

Kuschit 162 Anm. 111, 166-168 Anm. 58, 128


Legitimation 5, 14, 18, 22, 91, mündlich 3-4, 23-24, 52, 89, 91,
142 Anm. 35, 162 Anm. 113, 93-95, 97, 99-103, 110, 115-
173 116, 123, 125-126, 177-179
Lehrer 93, 96 Muršili I. 33-34
Leser 64-65, 73, 76, 91, 104, 110, Muršili II. 32-34, 36-37, 39-41,
112, 114, 137-138, 159, 166- 43-44, 46, 48
167, 172-173 Musterung 144, 148 Anm. 53
Lied 96, 101, 103, 108, 126-127 Mutu-Numảa 18
Liste 9, 20-21, 28, 31 Anm. 16, Muwa-Walma 44
71 Anm. 67, 127, 141 Anm. Mythos, mythisch 5 Anm. 18,
31 21, 91, 118 Anm. 39, 133,
Literatur, literarisch 9, 12-13, 135-136
15, 19-22, 35, 41, 44, 86, 89- Nabû 22, 126 Anm. 54
90, 92-93, 97, 104, 108-109, Nachricht 44, 46, 68, 134, 154-
111 Anm. 13, 115-116, 119, 155, 162, 164, 166, 170-171
124-125, 129-130, 136 Anm. Nahasch 144-147
20, 149 Anm. 60, 156-157, Narration, Narratologie 45, 107,
161 Anm. 104, 172 Anm. 111, 122, 125, 130, 137, 180,
134, 174-175, 179 Anm. 160, 186 Anm. 27
184 Anm. 18, 186 Anm. 27 Nehemia 117 Anm. 32, 123
Logik 126-172 Nekropole 193
Logograph 118, 127 novellistisch 127
Lykurgos 98 Anm. 20 Ödipus 169-170
Manapa-Tar̉unta 43-44, 48 Odyssee 52, 89, 91, 93, 95, 100-
Manetho 181-182, 186, 193-195 104, 122
Mann 11, 33, 40, 43-44, 49 Anm. Odysseus 103, 122
3, 76, 81, 120, 155-156, 159 Og, König des Baschan 114
Anm. 99, 164-165 Ökonomie 95
Märchen 31, 117 Anm. 35, 125, Oligarchie 80
172-173 Oral History 70
Marduk 10-11, 21 Anm. 101, Oral Poetry 94, 99, 104
126 Anm. 55 Ordnung 8-9, 12, 21, 59, 74, 79,
Medium 7, 14 Anm. 70, 58, 65, 175
90, 110, 125 Orestes 91, 171 Anm. 133
Methode, Methodenbewusst- Orient 58, 124-126, 128, 136
sein 52, 65-66, 117 Anm. 32 Anm. 19, 148 Anm. 54, 172
mimesis 137-138, 154, 174 Anm. Anm. 134, 184 Anm. 16, 185
141 Anm. 23
Mirjam 127 Anm. 58 Ossian 99
Mose 109 Anm. 7, 110, 112-115, Ovid 100
117 Anm. 32, 121-122, 127 Pantheon 35, 53
Index 203

Paradieserzählung 112 82, 84, 92, 95, 99, 114, 169


Pausanias 56 Anm. 26-28 Qohelet 158 Anm. 97
Peisistratiden 66 Anm. 54 Quellen 5, 28-31, 34, 38-39, 70,
Peloponnesischer Bund 70 98 Anm. 20, 116, 132, 139,
Anm. 62, 72-74, 76 Anm. 78 142-144, 172
Penthilos 91 Quellenkritik 27, 39
Perikles 73, 80-81, 86 Rache 163, 178 Anm. 155
Periodisierung 181 Anm. 1, 186 Ramesses I. 181, 191
Anm. 27, 189 Anm. 32-33, Ramesses II. 191
195 Ramesses XI. 181, 192
Perser, Perserreich 56-57, 66, 70, Recht 3, 8-11, 15, 18 Anm. 93,
74, 120, 134, 141, 157-158, 20, 24, 74, 76-77, 79, 89, 124
161 Anm. 104-105, 171 Anm. 50, 158 Anm. 97, 191
Anm. 133, 177-178 Anm. 44
Personennamen 185 Anm. 22 Rechtscorpora 108
Pherekydes von Athen 118 Redaktor 101-104, 139
Philister 143, 156 Rede 2, 38-40, 46, 54, 58, 68-69,
Phönizier 120, 124 Anm. 50 72, 75, 80-81, 84, 109 Anm.
Platon 76 Anm. 79, 91-92, 98 7, 113, 121-122, 133-134,
Anm. 20 140, 150-151, 154, 160-161,
Plot 137-138, 153, 155, 159, 172- 164, 169, 171 Anm. 133, 174-
175 176
Polemik 58 Anm. 35, 67-68 religiös 6, 16, 21, 34 Anm. 22,
Polis 53, 64-65, 74, 77-80, 86, 88, 59-60, 71, 88, 125-126, 132,
134-135, 187 150 Anm. 69
Polybos 170 Rezeption, Rezipient 19, 28
Polyperspektivität 45 Anm. 6, 90, 93, 109, 111,
Prolegomena 100-101, 104, 140 113, 119, 122-123, 133, 137-
Anm. 27, 143 Anm. 39, 189 138, 161, 171 Anm. 133, 178-
Prolog 8-9, 19, 21, 133 Anm. 7 179
Proömium 63-64, 72, 90, 118- Rhapsode 101
119 Rhesus 164
Prophet 107-108, 113-114, 127, Rhetorik 38, 49, 83
141 Anm. 30, 149 Anm. 58, RÎm-Sîn 5, 18, 21
153, 167 Anm. 122 Sage 68, 111 Anm. 13, 117-119,
Prophetie 146 Anm. 45, 149, 124, 127, 172-173
153, 167 Anm. 122 Šamaš 2-3, 7-8, 10, 12-17, 22, 25,
Prosa 93, 107-108, 121 132 Anm. 4
Prosaliteratur 118-119 Samsu-iluna 18
Protagonist 21, 139-140, 143, Samuel 109-111, 113, 131, 135-
163, 172-173 136, 139 Anm. 26, 142 Anm.
Publikum 34, 52, 60, 62, 65, 67, 32, 147-153, 155 Anm. 84,
204 Index

172, 180 Telipinu 33-34


Samsi-Addu 13 Anm. 65, 15 Tendenz, tendenziell 17, 46,
Anm. 76 128, 141, 143, 146 Anm. 45,
Sänger 4, 91, 93-94, 100, 126-127 151-154, 175
Sanherib 126 Anm. 54 Testament 31, 35, 107-111, 115
Sargon von Akkade 46 Anm. 27, 119, 122 Anm. 45,
Saul 60 Anm. 42, 113, 128, 136 125 Anm. 53, 128, 130-131,
Anm. 20, 140-153, 155-163, 133 Anm. 9, 135 Anm. 17,
174-175, 180 140-142, 148 Anm. 54, 172
Schlacht 22, 56 Anm. 26-57, 70 Anm. 134-135
Anm. 62, 73, 134, 143, 147- Textcorpus 44, 125
148, 156, 159-161, 163 Anm. Textgestalt 96
116, 167-168, 174 Thronfolgegeschichte 131 Anm.
Schrift, schriftlich 3-9, 11-17, 19- 1, 132-133, 136 Anm. 19, 139
20, 22-23, 28-34, 52, 57-59, Anm. 25-26, 172 Anm. 134
61, 67, 70, 91-102, 104, 110, Thukydides 28, 49-52, 58, 61-87,
116-118, 121-128, 132 Anm. 89 Anm. 1, 90-91, 118, 131
3, 155, 171 Anm. 133, 177 Anm. 1-2, 133 Anm. 11-12,
Schriftform 104 176 Anm. 151
Schüler 93-95, 97 Thutmosis V. 190
Simonides 56 Anm. 26-28 Tissaphernes 61 Anm. 43, 70
Sîn-muballit 8-9 Anm. 62
Sonnengott 2-3, 12-17, 19, 22, Titel 97, 113
24, 34 Tod 2-4, 16, 116, 147, 155-160,
Sophokles 157-158, 169-170 162-164, 167-173, 175, 192
Spätbronzezeit 192 Anm. 44
Sprache 29, 32, 35, 38, 61, 71, 92, Tontafel, Tontäfelchen 33, 92
95, 114, 132, 135, 141 Anm. Topos, Topoi 39, 41-42, 44
30, 167, 174, 185 Anm. 21 Totenpflege 3-4
Staat, staatlich 70 Anm. 62, 73- Tradierung 6, 20, 23-24, 92-93,
77, 80, 82, 131, 132 Anm. 4, 102, 132
140, 178 Anm. 155, 183-184, Tradition 4, 16, 20, 22-23, 28, 31,
191 Anm. 44 33, 82-83, 89-97, 99-101, 104-
Stil 13, 31, 36, 40, 46, 61 Anm. 105, 119-120, 123-130, 136
44, 95, 132, 142 Anm. 35, Anm. 20, 141 Anm. 31, 146
151 Anm. 72, 160, 162 Anm. Anm. 45, 148 Anm. 54, 150
110 Anm. 67, 172 Anm. 134, 174
Suizid 155-159 Anm. 146, 177 Anm. 154,
SĀmĀ-ditana 18-19 182, 191, 193
Sumulael 9 Traditionsliteratur 35, 126, 129
Šuppiluliuma I. 32-34, 37-40, 45 Tragödie 56 Anm. 26, 93, 133-
Šuppiluliuma II. 33 135, 136 Anm. 20, 156-158,
Index 205

160, 163-164, 169, 174-175, 91, 119, 126-127


176-179 Wandermotiv 172
Tragödiendichter 134-135 Werk 12, 20, 23-24, 29-30, 32-33,
Trieb 79 35-36, 39-40, 49-52, 55, 57-
Tut̉alija I. 33, 46 Anm. 42 58, 60-66, 69, 82-83, 85-86,
Tut̉alija II. 33 89, 93, 95, 99, 101-102, 104,
Tut̉alija IV. 33 108 Anm. 4, 116-122, 124,
Tyndareos 90 127-128, 131, 135 Anm. 17,
Überlieferung 4, 12, 20, 27, 29- 173, 177-178
31, 33-35, 38, 43, 46, 55, 58, Winkelzug 23
89, 100, 117-118, 121, 123, Xenophon 28, 61 Anm. 43, 171
125, 132-133, 136, 139-141, Anm. 133
146, 151-152, 172-173, 175- Xerxes 56, 135 Anm. 17, 178
178, 192 Anm. 44 Anm. 156
Ủ̉a-ziti 43-44 ZarpanÎtu 11
Urgeschichte 54, 56, 178 Anm. ZimrÎ-LÎm 5, 13
158 Zitat 38-39, 44, 95, 172, 175
Urija 172-173 Zusammenhang 2 Anm. 9, 11-
Ut-napištim 2-3 13, 46, 72, 84, 95, 107 Anm.
Verbannung 64 2, 108, 112 Anm. 19, 113,
Verfasser 39, 51 Anm. 12, 54, 116-117, 124, 126 Anm. 55,
63, 97-98, 108, 122, 126 136, 144 Anm. 40, 147-148,
Anm. 54-55, 131, 138 Anm. 151, 156, 169, 171, 177-178,
24, 142 Anm. 35, 148 Anm. 190
51, 173
Vergangenheit 1-3, 23, 27, 39, Orte:
49, 52-60, 65, 73, 83-84, 89 Ägäis 57, 67
Anm. 1, 91, 117, 131-135, Ägypten 28, 40, 181 Anm. 1,
137-138, 175-177, 192 Anm. 184-186, 189-191, 193 Anm.
44 46, 195
Vergil 100 Akkad 6, 9-10, 126 Anm. 54
Vertrag, Verträge 35, 39-40, 43- Almina 38
44, 46, 75 Amqa 40
Viehhirte 147 Argos 70 Anm. 64, 118-119
Vorgeschichte, Vorvergangen- Arzawa 43-44
heit 65-66, 133, 136 Anm. Asarhaddon 126 Anm. 54
19, 139, 149, 153, 173, 177 Athen, Attika 56-57, 63, 65-66,
Waffenträger 155-156, 158 70 Anm. 64, 72-73, 75-77,
Wahrheit 55, 68-69, 84, 90, 104, 80-81, 98 Anm. 20, 118, 133-
112, 118 Anm. 39, 192 Anm. 134, 141 Anm. 31, 178 Anm.
44 155
Wahrheitsanspruch 46, 69, 90- Babylon, Babylonien 3-6, 8-13,
206 Indexȱ

16Ȭ25,ȱ108,ȱ126ȱAnm.ȱ54,ȱ132ȱ 158,ȱ180ȱ
Anm.ȱ4ȱ Jabeschȱ144Ȭ146,ȱ153,ȱ156ȱ
Benjaminȱ148Ȭ149,ȱ153ȱ Jảrešša 42ȱ
Bethelȱ114,ȱ128ȱ Jerusalemȱ112,ȱ155ȱAnm.ȱ84ȱ
Bethscheanȱ156ȱ Jordanȱ121,ȱ147,ȱ149Ȭ150ȱ
Bezekȱ144,ȱ151ȱAnm.ȱ71ȱ Josuaȱ108Ȭ109,ȱ149ȱAnm.ȱ60ȱ
Borsippaȱ5ȱ Judaȱ114,ȱ116,ȱ128Ȭ129,ȱ132,ȱ134,ȱ
Chiosȱ80ȱAnm.ȱ88ȱ 140,ȱ 141ȱ Anm.ȱ 30Ȭ31,ȱ 143ȱ
Corcyraȱ78,ȱ178ȱAnm.ȱ155ȱ Anm.ȱ38,ȱ148Ȭ149,ȱ151Ȭ152ȱ
Dilbatȱ5ȱ Karienȱ60ȱ
Dilmunaȱ36ȱ Kiš 5
DjebelȱSindjarȱ6ȱ Korinthȱ72,ȱ169Ȭ170,ȱ178ȱ
Dukkammaȱ41Ȭ42ȱ Korkyraȱ78ȱ
Elisȱ70ȱAnm.ȱ64ȱ Kuruštamaȱ40ȱ
EsaÁilaȱ10Ȭ11ȱ Kutha 16ȱ
Ešnunnaȱ6ȱ Kynossemaȱ61ȱAnm.ȱ43ȱ
EvenȱhaȬEzerȱ111ȱ Larsaȱ5,ȱ16Ȭ19,ȱ22ȱ
Gebaȱ148ȱ Mantineiaȱ70ȱAnm.ȱ62Ȭ64ȱ
Gilboaȱ159ȱ Marathonȱ57ȱ
Gileadȱ 144Ȭ147,ȱ 149ȱ Anm.ȱ 61,ȱ Mariȱ5Ȭ6,ȱ13ȱ
151ȱ Melosȱ75ȱ
Gilgalȱ144Ȭ145,149Ȭ153ȱ Mesopotamienȱ2Ȭ6,ȱ9,ȱ19Ȭ20,ȱ27Ȭ
Griechenlandȱ 53,ȱ 59,ȱ 62,ȱ 67,ȱ 72,ȱ 28,ȱ30ȱAnm.ȱ12,ȱ112,ȱ172ȱ
79Ȭ80,ȱ 82,ȱ 90,ȱ 92Ȭ93,ȱ 95,ȱ 99ȱ Miraȱ43ȱ
Anm.ȱ24,ȱ134,ȱ172,ȱ176,ȱ178ȱ Mizpaȱ148Ȭ149,ȱ151,ȱ153ȱȱ
̈akpišȱ36 Moabȱ121ȱ
Halikarnassosȱ 55ȱ Anm.ȱ 23,ȱ 60Ȭ Nabûȱ126ȱAnm.ȱ54ȱ
61,ȱ120ȱ Niniveȱ20ȱ
haȬMizpaȱ111ȱ Peloponnesȱ73Ȭ74ȱ
haȬSchenȱ111ȱ Piggainareššaȱ42
̈attiȱ40,ȱ43Ȭ44ȱ Pikurziȱ42ȱ
̈attušaȱ41Ȭ42ȱ Plataiai 56, 73ȱ
̈awarkinaȱ36ȱ RabbatȱAmmonȱ173ȱ
Hazorȱ114ȱ Salamisȱ56Ȭ57,ȱ73,ȱ134ȱ
̈uršamaȱ42ȱ Samosȱ178ȱAnm.ȱ155ȱ
Ionienȱ128ȱ ŠẻaȬFlußlandȱ43Ȭ44ȱ
Israelȱ 59Ȭ60,ȱ 113Ȭ117,ȱ 119ȱ Anm.ȱ Sipparȱ5,ȱ7Ȭ8,ȱ12,ȱ16,ȱ19,ȱ22Ȭ23ȱ
42,ȱ 121,ȱ 124Ȭ125,ȱ 127Ȭ129,ȱ Sizilienȱ66ȱAnm.ȱ54ȱ
132ȱ Anm.ȱ 1,ȱ 133ȱ Anm.ȱ 9,ȱ Spartaȱ 56Ȭ57,ȱ 63,ȱ 70ȱ Anm.ȱ 64,ȱ
137ȱ Anm.ȱ 21,ȱ 139Ȭ141,ȱ 143Ȭ 72Ȭ74,ȱ 76,ȱ 80ȱ Anm.ȱ 88,ȱ 88,ȱ
146,ȱ 148Ȭ149,ȱ 151Ȭ152,ȱ 156,ȱ 178ȱAnm.ȱ155ȱ
171ȱ Anm.ȱ 133,ȱ 178ȱ Anm.ȱ Sumerȱ 6,ȱ 9Ȭ10,ȱ 14,ȱ 17Ȭ19,ȱ 126ȱ
Index 207

Anm. 54 Havelock, Erich A. 92


Tainaron 119 Hédelin, François s. Abbé d’
Taptina 42 Aubignac
Tarkuma 42 Helck, Wolfgang 191-192
Thurioi 55, 60 Hermann, Gottfried 103
Troas, Troja 67, 90-91, 98 Anm. Heubeck, Alfred 97
21, 120, 158 Anm. 95, 176 Hrozny, B. 29
Anm. 151 Jolles, André 117
Zalpa 31 Kees, H. 184 Anm. 16, 192
Zypern 92 Kirchhoff, Adolf 103
Kitchen, K.A. 185
Moderne Namen: Lachmann, Karl 101-102
Aron, Raymond 52 Anm. 12 Lange, Kurt 192
Assmann, Jan 28 Anm. 4, 45, 53 Latacz, Joachim 95, 97, 101
Anm. 15, 186, 191 Lepsius, R. 183
Aubignac, Abbé d’ (Hédelin, Lesky, Albin 94, 101
François) 97-98 Liverani, Mario 27, 28 Anm. 3,
Baines, John 189 181
Bentley, Richard 98 Loraux, Nicole 51, 57 Anm. 30
Breasted, J.H. 184 Anm. 15, 192 Lord, Albert B. 94-95
Brunet de Presle, W. 183 Mariette, A. 183
Bunsen, C.C.J. 182 Meyer, Eduard 29, 49 Anm. 3,
Cancik, Hubert 32, 34 Anm. 23, 51 Anm. 8, 69 Anm. 61, 86,
119 183
Collongwood, R.G. 1865 Mieroop, Marc van de 182
Croce, Benedetto 188 Murko, Matthias 94
Demandt, Alexander 190 Murnane, William 182
Dodson, Aidan 190 Niebuhr, Barthold Georg 50
Droysen, Johann Gustav 49-50 Nietzsche, Friedrich 77
Erman, Adolf 183-184, 192 Nitzsch, Gregor Wilhelm 103
Esch, Arnold 189 Noth, M. 59 Anm. 39, 115
Frankfort, H. 183-184 Otto, Eberhard 190-191
Gauthier, H. 183 Parnell, Thomas 99
Gerl, Hanna-Barbara 188 Parry, Milman 94-95, 97, 105
Goethe, Johann Wolfgang von Piper, Max 184
104 Anm. 35 Pot, J.H.J. van der 189
Goetze, A. 29-30 Redford, Donald B. 182
Goody, J. 124 Renger, Johannes 27-28
Gunkel, H. 107 Anm. 2, 111 Ritter, Harry 186
Güterbock, H.G. 35 Roscher, Wilhelm 50, 86
Hallo, W.W. 27 Rösler, W. 124, 127
Hardmeier, C. 116, 122 Anm. 45 Steindorf, G. 183
208 Index

Stock, H. 184 Welch, David A. 52


Syme, Ronald 51 Anm. 9 Wiedemann, A. 181, 183
Teesing, H.P.H. 189 Wilamowitz-Moellendorff,
Topolski, Jerzy 187 Ulrich von 89
Vansina, Jan 53 Wildung, Dietrich 190
Vico, Giambattista 98 Wolf, Friedrich August 97, 99-
Waltz, Kenneth N. 51 103, 105
Wood, Robert 99
Zu den Autoren

Dr. habil. Klaus-Peter Adam ist seit 2005 Privatdozent Altes Testament
an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Re-
daktionsgeschichte in den Königebüchern, antike Geschichtsschrei-
bung, frühe Königszeit.

Prof. Dr. Erhard Blum lehrt seit 2000 Altes Testament an der Universi-
tät Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte des Alten
Testaments, insbesondere im Pentateuch, altisraelitische Geschichts-
schreibung, Erzähltheorie.

Prof. Dr. Jörg Klinger lehrt seit 2003 Hethitologie an der Freien Univer-
sität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Hethitische und hurritische Tex-
te mit geschichtlichen Bezügen, archäologische und philologische Stu-
dien zum Ursprung und zur Entwicklung der hethitischen Kultur im
mittleren Schwarzmeergebiet (hethiterzeitliches Nordanatolien).

Dr. habil. Rosel Pientka-Hinz ist seit 2004 Hochschuldozentin für Alt-
orientalistik an der Philipps-Universität Marburg; 2007/2008 an der
Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Textüberlieferung der
altbabylonischen Zeit, u.a. TUAT; Kulturwissenschaft des Alten Orients
(Magie und Mythologie, Fauna und Flora, Architektur).

Prof. Dr. Thomas Schneider lehrt seit 2005 Ägyptologie an der Univer-
sity of Wales in Swansea; 2007/2008 Gastprofessur University of British
Columbia, Vancouver. Herausgeber von Culture and History of the An-
cient Near East und von Journal of Egyptian History, (Leiden). Forschung
zur ägyptischen Geschichte, Chronologie, Beziehungen Ägyptens zu
Vorderasien und Nordafrika.

Prof. Dr. Rainer Thiel, lehrt seit 2005 Klassische Philologie/Gräzistik an


der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Kai-
serzeitlicher Aristotelismus, Philosophiegeschichte und Wissenschafts-
theorie.

Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer, lehrt seit 2006 Alte Geschichte an der
Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Hellenis-
mus, Spätantike, Staat und Politik, Geschlechterverhältnisse, antike
und moderne Historiographie, griechische Epigraphik.

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