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Herausgegeben von
John Barton · Reinhard G. Kratz
Choon-Leong Seow · Markus Witte
Band 373
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Historiographie in der Antike
Herausgegeben von
Klaus-Peter Adam
≥
Walter de Gruyter · Berlin · New York
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앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018890-5
ISSN 0934-2575
쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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Printed in Germany
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort
DieȱmethodischeȱSpannweiteȱderȱBeiträgeȱzuȱdemȱhierȱeröffnetenȱ
VergleichsfeldȱverdeutlichtȱdieȱunterschiedlicheȱBehandlungȱderȱFraȬ
genȱinȱdenȱEinzelwissenschaften.ȱDiesȱistȱteilsȱdurchȱdieȱuntersuchtenȱ
Quellen,ȱ teilsȱ aberȱ auchȱ durchȱ vorgegebeneȱ Forschungskontexteȱ beȬ
dingt.ȱ Derȱ Versuch,ȱ überȱ dieȱ Methodikȱ derȱ Fachgrenzenȱ hinwegȱ einȱ
Gesprächȱ zurȱ Geschichtsüberlieferungȱ zuȱ führen,ȱ erwiesȱ sichȱ alsȱ beȬ
sondersȱfruchtbarȱfürȱdieȱjeweilsȱeigenenȱArbeitsweisenȱundȱFragehoȬ
rizonte.ȱWennȱdenȱLesernȱdasȱPotentialȱdieserȱDebatteȱumȱdieȱantikeȱ
Geschichtsschreibungȱ deutlichȱ wird,ȱ hatȱ dieȱ Zusammenstellungȱ einȱ
wichtigesȱZielȱerreicht.ȱȱ
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Fürȱ dieȱ eingereichtenȱ Beiträgeȱ undȱ dieȱ Diskussionȱ dankeȱ ichȱ besonȬ
dersȱdenȱAutoren;ȱdarüberȱhinausȱfürȱdieȱMithilfeȱbeiȱderȱKonzeptionȱ
HansȬUlrichȱ Wiemer;ȱ fürȱ dieȱ Finanzierungȱ derȱ Tagungȱ sowieȱ einesȱ
Teilsȱ derȱ Druckkostenȱ derȱ FritzȬThyssenȬStiftung.ȱ Beiȱ derȱ VorbereiȬ
tungȱundȱDurchführungȱhalfenȱdieȱStudierendenȱDominikȱBeckerȱundȱ
Lenaȱ Schrader;ȱ Florianȱ Krüpeȱ erstellteȱ dieȱ Druckvorlage.ȱ Denȱ HerȬ
ausgebernȱ derȱ Beihefteȱ derȱ ZAW,ȱ Johnȱ Barton,ȱ Reinhardȱ G.ȱ Kratz,ȱ
ChoonȬLeongȱSeowȱundȱMarkusȱWitteȱdankeȱichȱfürȱdieȱAufnahmeȱinȱ
dieserȱ Reihe,ȱ Monikaȱ Müller,ȱ Sabineȱ Krämerȱ undȱ Sabinaȱ Dabrowskiȱ
fürȱdieȱBetreuungȱbeimȱVerlag.ȱȱ
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Marburg/BremenȱimȱNovemberȱ2007ȱȱ KlausȬPeterȱAdamȱ
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort ....................................................................................................... V
Rosel Pientka-Hinz
Midlifecrisis und Angst vor dem Vergessen?
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon ................... 1
Jörg Klinger
Geschichte oder Geschichten – zum literarischen Charakter
der hethitischen Historiographie ............................................................. 27
Hans-Ulrich Wiemer
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit .................. 49
Rainer Thiel
Die homerische Frage: Modelle der Entstehung
literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung .............................. 89
Erhard Blum
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen
des Alten Testaments ................................................................................ 107
Klaus-Peter Adam
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den
Samuelbüchern (1Samuel 31, 2Samuel 1; 11; 18) ................................... 131
Thomas Schneider
Periodizing Egyptian History:
Manetho, Convention, and Beyond ........................................................ 181
X Inhaltsverzeichnis
Rosel Pientka-Hinz
immer a) in Vergang“. Vgl. auch die Diskussion bei George, Babylonian Gilgamesh
Epic (wie Anm. 3), 875.
5 Im Sinne von „aufmerksam, ergeben ansehen“; vgl. CAD N/1 123 natÁlu 2., beson-
ders a) 2’. Vgl. auch CAD A/II 21 amÁru A 5 panī „to see personally, to visit – a) re-
ferring to gods”, sowie das Beschwörungsritual an Ištar bei W. Farber, Beschwö-
rungsrituale an Ištar und Dumuzi, Wiesbaden 1977, 146f.:105: anˀu šīnuˀu Átamar
panëki „begebe mich hiermit müde, ermattet vor dich“. Die Hinwendung zur Gott-
heit geschieht demnach durch Betrachtung ihres Gesichtes, was zudem eine gehor-
same Haltung impliziert; vgl. dazu AHw. I 149 dagÁlu(m) „8) pÁnë d. (er)warten, b)
gehorchen”, sowie W.R. Mayer, Zum Pseudo-Lokativadverbialis im Jungbabyloni-
schen, Or. 65 (1996) 429:b).
6 Vgl. George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie Anm. 3), 696f.
7 Die äußerst kurzlebigen Eintagsfliegen (Ephemeroptera), die ihre Eier in fließenden
Gewässern ablegen und häufig in großen Schwärmen sowohl in der Luft bei der
Paarung als auch an der Wasseroberfläche nach der letzten Häutung der Larven auf-
treten, werden wohl aus diesem Grunde im Sumerischen als „Heuschrecke des Flus-
ses“ (buru5-íd-da) bezeichnet. Vgl. auch George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie
Anm. 3), 875f.
8 Hieraus erklärt sich auch das von den bisherigen Interpretationen abweichende
Verständnis der Passage; vgl. George, Babylonian Gilgamesh Epic (wie Anm. 3), 505
Anm. 217 und 506 mit Anm. 220.
9 Vielleicht darf in diesem Zusammenhang an die überdimensionalen, weit aufgeris-
senen Augen der Beterstatuetten erinnert werden – insbesondere derjenigen aus
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 3
das einzige und letzte sein wird, was sie zu sehen bekommt. Gotterge-
ben vertraut sie auf Šamaš, der „alle Geschöpfe (wörtl.: die mit Leben
versehen sind) in gleicher Weise hütet“10 – Šamaš, den Richtergott,
nicht nur der Lebenden sondern auch der Toten, den Wahrer des
Rechts und der Gerechtigkeit, den Bestimmer des Schicksals, den
Schöpfer von Leben, der auch Leben verlängern kann, den Begleiter der
Einsamen und Gefährdeten, den Erretter in höchster Not.11 Es ist dem-
nach denkbar, daß Ut-napištim quasi als Antwort auf die Vergänglich-
keit des Lebens und der irdischen Güter hier einen Appell zur Hin-
wendung zu Gott intendiert – dem Sonnengott.
Ist die eingangs zitierte Passage aus dem 12-Tafel-Epos des Gilgameš
auch erst nach der altbabylonischen Epoche verfaßt worden, so wußte
̈ammu-rapi von Babylon, einer der bedeutendsten mesopotamischen
Herrscher des 2. Jts. v. Chr., dennoch, nicht zuletzt in Kenntnis der
altbabylonischen Fassung der Gilgameš-Erzählung, um den unab-
wendbaren Tod der Menschen und insbesondere seine eigene sterbli-
che Hülle, denn „nur ein Gott verweilt auf ewig mit dem Sonnen-
gott“.12 In gleichem Maße war ihm aber auch die Überwindung der
dem Menschen durch seine Sterblichkeit auferlegten Grenzen bekannt:
13 Vgl. D. Charpin, Hammu-rabi de Babylone, Paris 2003, 104, und ders., Histoire
politique du Proche-Orient Amorrite (2002-1595), in: P. Attinger / W. Sallaberger / M.
Wäfler (Hgg.), Mesopotamien. Die altbabylonische Zeit (OBO 160/4), Fribourg / Göt-
tingen 2004, 333; zu altbabylonischen Trauerzeremonien vgl. ders., Hammu-rabi de
Babylone, 114f., und jetzt ders., La mort du roi et le deuil en Mésopotamie paléoba-
bylonienne, in: P. Charvát u.a. (Hgg.), L’État, le pouvoir, les prestations et leurs for-
mes en Mésopotamie ancienne, Prag 2006, 95-108.
14 Vgl. M. van de Mieroop, King Hammurabi of Babylon. A Biography, Oxford 2005,
112, sowie Charpin, Hammurabi (wie Anm. 13), 131ff. und ders., Histoire (wie Anm.
13), 251ff.
15 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 234f. mit Anm. 1190 (mit Literatur).
16 Vgl. nun ausführlich K. Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien
zur Selbsterhaltung (SANTAG 8), Wiesbaden 2005.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 5
torischen Daten verstanden werden sollte, ist als Zeugnis „für das
Selbstverständnis altorientalischer Herrscher, ihre Legitimation, ihr
Verhältnis zu den Göttern, aber auch zu den Untertanen und für das
Konzept von Königtum überhaupt“17 zu bewerten. Die somit in könig-
lichem Auftrag niedergeschriebenen „historischen Quellen“ sind
demnach auch grundsätzlich verschieden von der Geschichtsschrei-
bung der klassischen Antike, die dort zeitgenössischen „Historikern“
zukam.18 Das altorientalische Konzept der Ewigkeit, eng verbunden
mit einem Wahrheitsbegriff (kittum), der das Beständige und Unabän-
derliche als festgelegte Normen der altorientalischen Gesellschaft ver-
steht und dessen Umsetzung Privileg und Pflicht eines jeden dazu von
Gott beauftragten mesopotamischen Herrschers war,19 läßt wenig
Raum für eine „Historiographie“ nach unserem modernen Ge-
schichtsverständnis.
Nichtsdestotrotz lebte das Andenken ̈ammu-rapis von Babylon,
im Gegensatz zu vielen anderen mesopotamischen Herrschern, noch
lange Zeit fort. Als „König der Gerechtigkeit“ ging er in die Geschichte
ein und ist als solcher noch heute vielen ein Begriff. Im folgenden sol-
len auf der einen Seite die Bemühungen ̈ammu-rapis zur Fortfüh-
rung seiner Existenz über den physischen Tod hinaus skizziert und
auf der anderen Seite sein Nachleben und damit das Ergebnis dieser
Bemühungen nebeneinandergestellt werden.
dadurch als „König von Sumer und Akkad“ ganz Südbabylonien sei-
nem Reich einverleiben. Gleich danach weitete er seinen Einfluß auf
die Region des Djebel Sindjar in Nordmesopotamien aus, besiegte den
König von Ešnunna und plünderte schließlich Mari, was ihn in seinem
34. Regierungsjahr zum „König des gesamten amurritischen Volkes“
aufsteigen ließ.20
20 Vgl. zuletzt Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 83ff., insbesondere 109f. zu der an
die politischen Umstände gebundenen Wahl der Herrscherepitheta sowie ders., Hi-
stoire (wie Anm. 13), 233f. und 317ff.
21 Vgl. D. Frayne, Old Babylonian Period (2003–1595 BC) (RIME 4), Toronto 1990, 332-
371 insbesondere Nr. 4-6; N. Wasserman, CT 21, 40-42 – A Bilingual Report of an
Oracle with a Royal Hymn of Hammurabi, RA 86, 1-18, bes. 5f.; M.J.A. Horsnell, The
Year-Names of the First Dynasty of Babylon, Hamilton 1999, Vol 2, 105-174: Jahr 7,
10-11, 30-33, 35, 37-39.
22 Vgl. auch Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 112: „Deutlich ist aber, daß
Jahresnamen nicht als unabhängige Bestätigung des Inhalts einer Königshymne oder
auch einer Bauinschrift (...) gesehen werden können: Bei allen Unterschieden im
Kontext und in der Anwendung dieser drei Textgattungen ist ihre Aussage durch
die Aufgabe determiniert, den königlichen Namen im Verbund mit der Verherrli-
chung seiner Person und seiner Taten zu bewahren.“
23 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), bes. 97 und Charpin, Histoire (wie
Anm. 13), 247f.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 7
„Für mein Leben werden sie (die Einwohner Sippars) gewiß beten. Was
Šamaš, meinen Herrn, und Aja, meine Herrin, erfreut, habe ich wirklich ge-
tan. Meinen guten Namen tagtäglich gleich (dem eines) Gott(es) anzurufen,
so daß er auf ewig nicht vergessen werde, habe ich wahrlich in den Mund
der Menschen gesetzt.“24
24 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 333-336 Nr. 2:70-81.
25 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 8, 9, 11, 13-17 und Horsnell,
Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 28, 34, 36 und 40.
26 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 1, 2 und 12 und Horsnell,
Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 4, 8, 19, 21, 23, 25, 42 und 43.
27 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 7 und Horsnell, Year-Names
(wie Anm. 21), Jahr 42.
28 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 3.
29 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), Nr. 1 und 7 und Horsnell, Year-
Names (wie Anm. 21), Jahr 9, 23, 24, 33 und 43.
30 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 3, 12, 14, 16, 18 und 20.
31 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 6 und 13.
32 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 26.
33 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 27.
34 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21) Nr. 11.
35 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 41.
36 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 5.
37 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 15, 17, 22 und 29.
38 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 273ff. und B. André-Salvini, Le Code de
Hammurabi, Paris 2003, 20f.
39 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 9.
40 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 33 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 7.
8 Rosel Pientka-Hinz
mauer von Sippar „Auf Geheiß des Gottes Šamaš möge ̈ammu-rapi
keinen Gegner haben!“41 gedenken der Rolle des Herrschers als Stifter
von Zivilisation und Wohlstand.42 Wenn ̈ammu-rapi nun die Gele-
genheit einer solchen Namensvergabe nutzte, um auch seinem Vater
Sîn-muballit mit der Errichtung von Dīr-Sîn-muballit-abim-wÁlidëja –
„Festung des Sîn-muballit, des Vaters, der mich gezeugt hat“43 – ein
Denkmal zu setzen, ist dies ein bis dato unübliches und damit auffälli-
ges Vorgehen.44
„(...) damals haben mich die Götter Anu und Enlil, um es den Menschen
gut gehen zu lassen, bei meinem Namen „̈ammu-rapi, frommer Fürst,
Gottesfürchtiger“ benannt, um Gerechtigkeit im Land zu verwirklichen,
um den Bösen und Schlechten zu vernichten, um den Starken davon abzu-
halten, den Schwachen zu unterdrücken, um wie Šamaš über den
‚Schwarzhäuptigen’ aufzugehen und das Land zu erleuchten.
41 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 23 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 2.
42 Vgl. auch Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 38.
43 Vgl. Horsnell, Year-Names (wie Anm. 21), Jahr 33 und Frayne, Old Babylonian
Period (wie Anm. 21), Nr. 7 sowie Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 111.
44 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 38 Anm. 214: „Dies passt gut dazu,
daß ̈ammu-r¬pi auch sonst in seinen Inschriften den Namen seines Vaters und sei-
ner Vorfahren im Rahmen seiner Genealogie und in Bezug auf ihre Taten nennt, eine
Verfahrensweise, die im altorientalischen Inschriftenkorpus bis dahin nicht üblich
war (...)“. Vgl. auch Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 111f.
45 So die moderne Bezeichnung; in der damaligen Zeit wurde der Kodex nach seiner
Anfangszeile inu Anum sërum „Als der vorzügliche Gott Anu (...)“ benannt. Zur lite-
rarischen Struktur der Inschrift vgl. ausführlich V.A. Hurowitz, Inu Anum sërum. Lit-
erary Structures in the Non-Juridical Sections of Codex Hammurabi (OPSNKF 15),
Philadelphia 1994.
46 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 17-24.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 9
(...) der Fromme, der zu den großen Göttern inbrünstig Betende, Nach-
komme des Sumulael, mächtiger Erbsohn des Sîn-muballit, ewiger Same
des Königtums, der mächtige König, Sonne von Babylon, die über dem
Land Sumer und Akkad Licht aufgehen läßt, der die vier Weltgegenden
gefügig macht, Günstling der Göttin Ištar (bin) ich.“
(Kodex ̈ammu-rapi I 27-49 und IV 64-V 13)47
„(...) legte ich Recht und Gerechtigkeit50 in den Mund des Landes und ließ
es den Menschen gut gehen. (...) (Dies sind) die gerechten Richtersprüche,
die ̈ammu-rapi, der fähige König, festgesetzt hat (…).“
(Kodex ̈ammu-rapi V 20-24 und IV 64-V 13)
47 Zur Bearbeitung der Steleninschrift vgl. M.T. Roth, Law Collections from Mesopo-
tamia and Asia Minor, Atlanta, Georgia 1995.
48 Zu dieser Liste, die teils aus theologischen, teils aus geographischen Gesichtspunk-
ten zusammengestellt wurde, vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 71-
89 und Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 334.
49 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 24-30.
50 Zu kittum „Recht“, im Sinne von Garant der öffentlichen Ordnung, und mΚarum
„Recht“, im Sinne von Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit, vgl. Charpin,
Hammu-rabi (wie Anm. 13), 206f. und 209: „l’idéal de la justice se situait aux origi-
nes et toute injustice était fondamentalement conçue comme un désordre.“; ders.,
Histoire (wie Anm. 13), 308.
51 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 30-32.
10 Rosel Pientka-Hinz
„(...) Ich bin ̈ammu-rapi, der vollkommene König. Für die ‚Schwarzhäup-
tigen’, die der Gott Enlil mir geschenkt, deren Hirtenamt der Gott Marduk
mir gegeben hat, war ich nicht nachlässig, legte die Hände nicht in den
Schoß. Sichere Stätten suchte ich ihnen, drückende Drangsal löste ich auf,
Licht ließ ich über ihnen aufgehen. Mit der mächtigen Waffe, die der Gott
Zababa und die Göttin Ištar mir verliehen, mit der Weisheit, die der Gott
Ea mir bestimmt hat, mit der Tüchtigkeit, die der Gott Marduk mir gege-
ben, tilgte ich aus die Feinde oben und unten, löschte ich aus die Kämpfe,
dem Lande zum Wohlgefallen. Die Menschen der Ortschaften ließ ich ru-
hen auf geschützten Wiesen, einen Störenfried ließ ich nicht über sie kom-
men. Die großen Götter haben mich berufen, so bin ich der Hirte, der be-
wahrt, dessen Stab recht ist. Mein guter Schatten ist über meiner Stadt
ausgebreitet, auf meinem Schoß hielt ich die Menschen des Landes Sumer
und Akkad sicher. Sie gediehen unter der Obhut meines Schutzgottes, ich
sorgte für sie in Frieden, ich barg sie in meines Wissens Tiefe. Um vom
Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen, um der Witwe und der
Waise Recht zu verschaffen, habe ich in Babylon, der Stadt, deren Haupt
die Götter Anu und Enlil hoch aufgerichtet haben, in EsaÁila, dem Tempel,
dessen Grundfesten gleich Himmel und Erde ewig stehen, um Recht des
Landes zu richten, Entscheidungen des Landes zu entscheiden und dem
Entrechteten Recht zu verschaffen, meine überaus wertvollen Worte auf
meine Stele geschrieben und vor meiner Statue als ‚König der Gerechtig-
keit’52 aufgestellt. (...)“
(Kodex ̈ammu-rapi XLVII 9-78)
„Auf Geheiß des Gottes Šamaš, des großen Richters des Himmels und der
Erde, möge meine Gerechtigkeit im Lande verwirklicht werden! Auf das
Wort des Gottes Marduk, meines Herrn, möge mein Relief keinen finden,
der es beseitigt! In EsaÁila, das ich liebe, möge mein Name auf ewig wohl-
52 Sowohl aus grammatikalischen (ina maˀar „vor“) als auch semantischen (salmum
„Abbild“, im Sinne von „Stellvertreter des Dargestellten“ versus narûm „Stele,
Denkmal“ und usurÁtum „Relief“) und schließlich inhaltlichen Erwägungen (Stif-
tung der Statue laut Jahresname 22) kann ̈ammu-rapis Bildnis als „König der Ge-
rechtigkeit“ nicht mit seiner Gesetzesstele identisch sein. Vgl. G. Elsen-Novák /
M. Novák, Der „König der Gerechtigkeit“. Zur Ikonologie und Teleologie des ‚Co-
dex’ ʿammurapi, in: Vorderasiatische Beiträge für Uwe Finkbeiner (BaM 37), Mainz
2006, 131-155, hier: 144f.
53 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 62-65.
54 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 32-37: „This section is very differ-
ent in specific details from the standard Schlussgebete, not interested in stability of
reign, succession, military victory, long life, and material prosperity” (33).
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 11
formel gefeierte Stiftung einer Statue, die den Herrscher als „König der
Gerechtigkeit“ darstellt, fügt sich in dieses Bild.
Im „Kodex ̈ammu-rapi“, in den letzten Jahren der beachtlichen
Karriere des Königs entstanden, kulminieren nun Können, Anspruch
und Hoffnung eines herausragenden Herrschers. Als literarisches Meis-
terwerk vereint die Inschrift auf einzigartige Weise eine Würdigung
der Errungenschaften ̈ammu-rapis und das „Setzen seines Namens“
für alle Ewigkeit.59 Des Königs Anspruch, als gerechter Herrscher in
das Gedenken der Menschen einzugehen, als Herrscher, der in göttli-
chem Auftrag sein Volk recht leitete und die Grundlage für eine ge-
rechte Ordnung auch in der Zukunft schuf, wird vielfältig thematisiert.
̈ammu-rapis direkter Appell an die Nachwelt, seine Worte zu achten
und als Vorbild in Ehren zu halten, bindet noch nachfolgende Herr-
scher an sein Lebenswerk.
duk – König der Blasphemie. Große babylonische Herrscher in der Sicht der Babylo-
nier und in der Sicht anderer Völker, in: J. Renger (Hg.), Babylon: Focus mesopota-
mischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne (CDOG
2), Saarbrücken 1999, 131-156, hier: 137ff. und André-Salvini, Code de Hammurabi
(wie Anm. 38), 17f.
63 Vgl. jetzt ausführlich Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52),
142: „Das Zusammenspiel der wohldurchdachten, ausgewogenen Harmonie der
Komposition, der plastischen Darstellungsform der kräftig modellierten Figuren
und der diese Plastizität unterstützenden und gleichzeitig sich verselbständigenden
Erscheinungsweise des verwendeten Materials macht im Wesentlichen den ästheti-
schen Reiz der Darstellung auf dem ‚Codex’ ʿammurapi aus. Zur ästhetischen Wir-
kung der Stele im Ganzen gehört auch die Erscheinungsweise der Inschrift, die in
einer archaischen, sehr gleichmäßig ausgebildeten Paläographie und in klar struktu-
rierten Kolumnen angeordnet ist. Selbst ein der Schrift unkundiger Betrachter kann
sich der Anziehungskraft des Schriftfeldes kaum entziehen.“
64 Vgl. Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), 136 mit Anm. 19,
sowie E. Bosshard-Nepustil, Zur Darstellung des Rings in der altorientalischen Iko-
nographie, in: L.D. Morenz / D. Bosshard-Nepustil (Hgg.), Herrscherpräsentation
und Kulturkontakte. Ägypten – Levante – Mesopotamien. Acht Fallstudien (AOAT
304), Münster 2003, 49-79, hier: 66 mit Anm. 96-98.
65 Vergleichbar sind nur die sogenannte „Investitur des ZimrÎ-LÎm“ aus dem Palast
von Mari (die wohl eher in die Zeit des Jảdun-Lëm zu datieren ist, vgl. Charpin, Hi-
stoire [wie Anm. 13], 275 mit Anm. 1423), sowie einige Rollsiegel ebenfalls aus dem
syrischen Raum. Nach A. Otto, Die Entstehung und Entwicklung der Klassisch-
Syrischen Glyptik (UAVA 8), Berlin / New York 2000, 173ff. mit Tafel 35, sind ganz
ähnliche Motive in der offiziellen Ikonographie des Reiches von Samsi-Addu nach-
zuweisen.
66 Vgl. Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), 145: „Die Au-
genhöhe schließlich, die den König auf den Gott hinab sehen läßt, stellt in Verbin-
14 Rosel Pientka-Hinz
dung mit der durch die extreme Glättung des Materials erreichten, geradezu mys-
tisch verklärten, strahlenden Wirkung der Figuren auf subtile Weise eine Über-
höhung ̈ammurapis als Person dar.“
67 Anstelle der gängigen Deutung von Ring und Stab bzw. Griffel (vgl. zuletzt Boss-
hard-Nepustil, Herrscherpräsentation [wie Anm. 64], besonders 58ff.) sollte m.E. für
die hier behandelte Abbildung neben dem schwer zu deutenden Ring für den zwei-
ten Gegenstand die Identifizierung mit einer Fackel – dem Symbol des Šamaš – in
Erwägung gezogen werden. Eine solche goldene Fackel wurde anläßlich eines Gna-
denerlasses (mΚarum), der im Namen des Šamaš bekanntgegeben wurde, feierlich
entzündet; vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 115 und ders., Histoire (wie
Anm. 13), 240.
68 Zur „Macht der Berührung“, die immer einen Austausch zwischen den beiden
Teilhabern und eine daraus resultierende Zustandsveränderung bewirkt, wurden
erste Überlegungen auf der 52e Rencontre in Münster (2006) vorgetragen, deren Pub-
likation an anderer Stelle noch aussteht.
69 Vgl. W. Sallaberger, Ur III-Zeit, in: P. Attinger / M. Wäfler (Hgg.), Mesopotamien.
Akkade-Zeit und Ur III-Zeit (OBO 160/3), Fribourg / Göttingen 1999, 119-390, hier:
152-156.
70 Man beachte die Reduktion der ursprünglich dreiteiligen „Einführungsszene“ auf
König und Gott, bei der für das Medium der „einführenden“ oder „fürbittenden“
Gottheit kein Raum bleibt; vgl. auch Elsen-Novák / Novák, König der Gerechtigkeit
(wie Anm. 52), 146.
71 Vgl. Sallaberger, Ur III-Zeit (wie Anm. 69), 154: „es ist nicht die jeweilige Person, die
Göttlichkeit beansprucht, sondern das Amt des Königs wird in göttlichen Rang er-
hoben und damit der Inhaber dieses Amtes.“
72 Damit möchte ich dem besonders ansprechenden Artikel von Elsen-Novák / Novák,
König der Gerechtigkeit (wie Anm. 52) noch die „Königsvergöttlichung“ als weitere
Komponente hinzufügen.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 15
77 Vgl. auch Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 348f. Nr. 12. Die von Char-
pin, Histoire (wie Anm. 13), 332, geäußerte Vermutung, dass der König aufgrund ei-
ner Hochwasserbedrohung zu solchen Maßnahmen gezwungen war, muss einer
hier angenommenen Bevorzugung des Sonnengottes nicht widersprechen.
78 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 266 mit Anm. 1373.
79 Laut seiner 40. Jahresdatenformel; vgl. auch die lange Inschrift bei Frayne, Old
Babylonian Period (wie Anm. 21), 345ff. Nr. 11.
80 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 317ff. und Van de Mieroop, King Hammurabi
(wie Anm. 14), 31ff.
81 Vgl. Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 121.
82 Zu den wenigen greifbaren Hinweisen auf eine Art der Königsvergöttlichung noch
in altbabylonischer Zeit vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 238 mit Anm. 1205f.
83 Vgl. Wasserman, Bilingual Report (wie Anm. 21), 17: „Since this conquest (…) had a
crucial role in the future of Hammurabi’s expansion, it is not surprising that there
was propagandistic and ideological motivation to commemorate it on a royal
statue.” Vgl. auch Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 323 mit Anm. 1681.
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 17
84 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 344 Nr. 10:1.
85 Vgl. auch Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 93f.: „Furthermore, in two
cases the word LUGAL is not paralleled as expected by šarrum but has been sup-
planted by the words Šamšu and mušÓsi nīrim. By doing so, Codex Hammurabi has
introduced some parallelism, thereby elevating the style of the passage. At the same
time, he has compared Hammurabi with Šamaš, god of justice.”
86 Vgl. Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21) 360 Nr. 2002, sowie Charpin,
Histoire (wie Anm. 13), 242f. mit Anm. 1235f. und André-Salvini, Code de Hammu-
rabi (wie Anm. 38), 19.
87 Vgl. Sallaberger, Ur-III Zeit (wie Anm. 69), 153. Vgl. weitere kurze Weihinschriften
bei Frayne, Old Babylonian Period (wie Anm. 21), 361f. Nr. 2003 und 2004.
88 Vgl. Klengel, ̈ammu-rapi (wie Anm. 76), Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13),
142f. und ders., Histoire (wie Anm. 13), 261, sowie Sallaberger, Ur III-Zeit (wie Anm.
69), 154.
89 Vgl. Klengel, ̈ammu-rapi (wie Anm. 76) und Hurowitz, Literary Structures (wie
Anm. 45), 518f. mit Anm. 49.
18 Rosel Pientka-Hinz
wie kein anderer,90 auf der anderen Seite betonte er seine göttliche
Erwählung als neuer Herrscher über das Reich von Larsa, bzw. wo-
möglich sogar als ein zu ihnen aufgestiegener Herrscher.
Vielleicht sollten Inhalt und Erscheinung seiner Gesetzesstele in
eben diesem Licht betrachtet werden. Als amurritischer König konnte
̈ammu-rapi nicht explizit als Gott auftreten, wenn auch von den Göt-
tern legitimiert und mit göttlicher Macht versehen.91 Als Nachfolger
eines RÎm-Sîn von Larsa, der der Königsvergöttlichung wieder einen
hervorragenden Platz in seinem Herrschaftsprogramm zugewiesen
hatte,92 musste ̈ammu-rapi aber auch einer bestimmten Königsideo-
logie Folge leisten, wollte er das neu hinzugewonnene Volk seiner
Regierung auf Dauer und in Frieden unterstellen. Somit könnte sein in
Wort und Bild sorgfältig durchstrukturiertes Denkmal, welches zwei-
fellos zur Reglementierung und Stabilisierung des neuen Reiches bei-
tragen sollte, auch als Synthese seiner Bemühungen verstanden wer-
den, allen diesen an ihn gestellten ideologischen Ansprüchen gerecht
zu werden. Eine solche Annahme würde die erwähnte Zurückhaltung
der vergöttlichten Überhöhung ̈ammu-rapis erklären, aber auch die
besondere Stellung und auffällige Einzigartigkeit der Gesetzesstele.
War ̈ammu-rapi doch der erste amurritische Herrscher, der sowohl
Nord- als auch Südbabylonien vereinen konnte und die Verbindung
zwischen diesen beiden Kulturbereichen herstellen musste.93
Schließlich darf über die noch von dem sterbenden ̈ammu-rapi
selbst getroffene Wahl seines Nachfolgers94 spekuliert werden. Mögli-
cherweise verlief diese ganz in dem gerade beschriebenen Sinne. Es
fällt auf, dass die beiden hinlänglich bekannten Söhne SĀmĀ-ditana
und Mutu-Numảa,95 in der Sprachwahl ganz in der dynastischen
Kontinuität gehalten,96 nicht dem Vater auf den Thron folgten, son-
dern ein Sohn namens Samsu-iluna, über dessen Jugend absolut nichts
bekannt ist.97 Erst mit dem Tage seiner Thronbesteigung erfahren wir
von ihm. Darf man hier die Vergabe eines der nicht allzu häufig nach-
zuweisenden Thronnamen vermuten, in der durchaus amurritischen
Wortwahl dennoch dem einen Gott huldigend, der sowohl in Sippar
als auch im Haupttempel von Larsa residierte und den ̈ammu-rapi
am Ende seines Lebens so sehr verehrt hat? Dann könnte auch dies als
letzte Maßnahme des scheidenden Königs gewertet werden, der Ver-
einigung seiner beiden Reiche noch für die Zukunft Stabilität zu ver-
leihen, indem er den Sonnengott zum Symbol der geeinten Reiche
erhob – ausgedrückt im Thronnamen seines Sohnes und neuen Herr-
schers: „der Sonnengott ist unser (gemeinsamer) Gott!“
̈ammu-rapis Weiterleben
Wenn 1000 Jahre eine kleine Ewigkeit darstellen, dann können ̈am-
mu-rapis Ambitionen, seinen guten Namen auf ewig in den Mund der
Menschen legen zu wollen, rückblickend als Erfolg bewertet werden.
̈ammu-rapi konnte erreichen, Teil der mesopotamischen Erinne-
rungskultur zu werden, wobei insbesondere der Rezeption seiner Ste-
leninschrift eine Schlüsselrolle zukam.98
Der Kodex mitsamt seinem Prolog und Epilog wurde viele Genera-
tionen lang abgeschrieben, ja regelrecht studiert. Wir kennen Dutzende
Duplikate und Auszüge des Textes, aber auch Kommentare, Katalog-
einträge und zweisprachige Versionen. Bereits in der altbabylonischen
Zeit finden sich Abschriften bestimmter Kapitel des Gesetzesteils, die
man zusätzlich mit strukturierenden Überschriften versah. Zudem
fertigte man schon bald sumerische Übersetzungen an. Die in der Re-
gierungszeit der unmittelbaren Nachfolger ̈ammu-rapis verfassten
Edikte könnten durchaus als Reflex auf die gesetzgeberische Tätigkeit
eines vorbildlichen Königs verstanden werden – sozusagen als literari-
sche Antwort mit ideologischem Anspruch. Noch tausend Jahre später
kopierte man den Gesetzestext, wie ein spätbabylonisches Manuskript
bezeugt, welches ursprünglich 14 Tafeln umfasst haben soll.
97 Vgl. Charpin, Histoire (wie Anm. 13), 336 mit Anm. 1749. So wurde darüber speku-
liert, ob der angeblich ältere Sohn SĀmĀ-ditana eventuell vor seinem Vater verstor-
ben oder gar in Ungnade gefallen war; vgl. Van de Mieroop, King Hammurabi (wie
Anm. 14), 112.
98 Vgl. zusammenfassend Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie
Anm. 62), insbesondere 143-147; Charpin, Hammu-rabi (wie Anm. 13), 271ff.; André-
Salvini, Code de Hammurabi (wie Anm. 38), 47ff.; Van de Mieroop, King Hammu-
rabi (wie Anm. 14), 128ff. und besonders ausführlich jetzt Hurowitz, Literary Struc-
tures (wie Anm. 45).
20 Rosel Pientka-Hinz
„Wenn der König auf das Recht nicht achtet, werden seine Menschen in
Verwirrung geraten; das Land wird verwüstet werden.“99
100 Vgl. ausführlich Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 507ff.
101 Vgl. Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 506: „Interestingly, most of the
works cited in this commentary are connected directly with Marduk (…) If so, this
tablet may be evidence that LH had religious significance, being somehow associ-
ated with worship of Marduk.”
102 Das dieser Textzusammenstellung zugrunde liegende Prinzip festzustellen, bleibt
schwierig. Ordnung und Unordnung legen sich nahe; vgl. auch die vorangehende
Anmerkung.
103 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 9), 145 und 147 und
Hurowitz, Literary Structures (wie Anm. 45), 528f.
104 Nach André-Salvini, Code de Hammurabi (wie Anm. 38), 16, handelt es sich viel-
leicht um die auf der Stele von ̈ammu-rapi selbst getragene Kette. Verfolgt man
diesen Gedanken weiter, ist darauf hinzuweisen, dass die vor der Stele aufgestellte
Königsfigur „König der Gerechtigkeit“ ebenfalls eine solche Kette, hier tatsächlich
aus den einzelnen Steinen zusammengesetzt, um den Hals liegen hatte. Die Kette
war daher ein vermutlich noch vielen Generationen von Verehrern des großen Kö-
nigs zugängliches Schmuckstück.
105 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 146.
22 Rosel Pientka-Hinz
„Ich sah eine Inschrift von ̈ammu-rapi, einem alten König, der 700 Jahre
vor Burnaburiaš den Ebabbar-Tempel und die Zikkurrat für den Sonnen-
gott Šamaš auf den alten Fundamenten erbaut hat.“107
̈ammu-rapis Winkelzug
110 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), mit Anm. 72
111 Vgl. Radner, Macht des Namens (wie Anm. 16), 4: „... daß sie sich durch ein frucht-
bares Nebeneinander von schrift- und bildgestützter und von körpergebundener
Memorialkultur auszeichneten. Gerade zur Verewigung des Namens wurden alle
diese Möglichkeiten verwendet, und die Schwierigkeit, im nachhinein die Bedeu-
tung der verlorenen mündlichen Tradierung angemessen zu würdigen, sollte nicht
darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei, auf die gesamte Bevölkerung bezogen,
sicherlich um den wichtigsten Faktor in der Gedächtniskultur handelte.“
112 Zu dem Versuch einer Charakterstudie ̈ammu-rapis vgl. Van den Mieroop, King
Hammurabi (wie Anm. 14), 112ff.
113 Vgl. Braun-Holzinger / Frahm, Liebling des Marduk (wie Anm. 62), 55: „Eine wirk-
lich bedeutende, weil exemplarische Rolle im Gedächtnis der Nachwelt kam aber
nur denjenigen Herrschern zu, deren Taten Eingang in einen schriftlichen oder
mündlichen ‚Traditionsstrom’ fanden. Diese Form der Erinnerung hatte zwar ihre
24 Rosel Pientka-Hinz
ern, als oberste Rechtsautorität stellte er sich für alle Zukunft unter den
Schutz der Götter. Und als Rechtsbeistand für jeglichen Ratsuchenden
unter seinen Untertanen stand er auch noch nach seinem Ableben in
den großen Tempeln des Landes bereit, war sichtbar, hörbar und sicher
auch durch Berührung der Stelen erfahrbar – eine Präsenz, die in die-
sem Ausmaß noch kein König vor ihm inszeniert hatte. Seine Fürsorge
ließ er sich in Gebeten entgelten (s.o.), somit konnte sich ̈ammu-rapi
auch der mündlichen Tradierung seines Namens in der breiten Bevöl-
kerung gewiss sein.
spezifische Eigendynamik, ein Herrscher konnte jedoch versuchen, sie durch eine
entsprechend ausgerichtete ‚Medienpolitik’ zumindest anzustoßen. Hammurapi tat
dies, indem er dafür sorgte, daß sein Gesetzeswerk zum Gegenstand des Studiums
angehender Schreiber wurde.“
Zur Geschichtsüberlieferung ̈ammu-rapis von Babylon 25
Abstract
The issue of death and immortality was one of the major concerns of
every ancient Near Eastern king, and, also of Hammurapi of Babylon.
The preservation of several genres of texts that were written in his na-
me were thought to guarantee him an afterlife in the Babylonian collec-
tive memory. The article claims that it was the concern of this Old Ba-
bylonian king about a perpetual memory that provided the major spur
for him to authorize the composition of a wide variety and an excep-
tional number of texts. It presents Hammurapi’s efforts to extend the
glory of his name beyond his death, and his success in this endeavour.
The article dwells on five central aspects of his fame: his work as an
emperor and conqueror, his feats as builder of temples, city walls and
canals together with his function as a supporter of the gods, his dedica-
tion to guaranteeing justice and order, and his close relation to the sun
god Šamaš. His composition of the law code, in particular, served to
establish his good reputation as an in some ways even deified king.
Geschichte oder Geschichten – zum literarischen
Charakter der hethitischen Historiographie
Jörg Klinger
1 Vor einigen Jahren widmete sich die 45. RAI (1998) speziell diesem Thema; vgl.
T. Abusch et al. (Hg.), Historiography in the Cuneiform World. Proceedings of the
XLVe Rencontre Assyriologique Internationale, Bethesda 2001.
2 Vgl. etwa die grundsätzliche und für die weitere Forschung folgenreiche Stellung-
nahme von M. Liverani, Memorandum in the Approach to Historiographic Texts,
OrNS 47, 1973, 178-194 und, auch in Reaktion darauf, etwa W. W. Hallo, New Direc-
tions in Historiography (Mesopotamian and Israel), in: M. Dietrich / O. Loretz
(Hgg.), (Fs. W. H. Ph. Römer, AOAT 253), Neukirchen-Vluyn 1998, 109-128.
3 Vgl. J. Renger, Königsinschriften. B. Akkadisch, in. D. O. Edzard (Hg.), Reallexikon
der Assyriologie, Bd. 6, Berlin – New York, 1980-83, 65-77; sowie ders., Vergangenes
Geschehen in der Textüberlieferung des alten Mesopotamien, in: H.-J. Gehrke /
A. Möller (Hgg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditi-
onsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, 9-60, bes. 12 und 22; bzw.
ders., Betrachtungen zu den Inschriften assyrischer Herrscher im 8. und 7. Jahrhun-
28 Jörg Klinger
dert v. Chr., in: W. Sallaberger / K. Volk / A. Zgoll (Hgg.), Literatur, Politik und
Recht in Mesopotamien, (Fs. C. Wilcke, Orientalia Biblica et Christiana 14), Wiesba-
den 2003, 229-236. Diese Position steht immerhin in einer gewissen Nähe zu M. Live-
rani. Freilich wäre zu fragen, ob die starke Betonung z.B. des Stiftungsvermerks oder
einer rein funktional orientierten Klassifizierung als Weih- bzw. Komme-
morativinschriften, wie sie gerade Renger vertritt, angesichts der doch unverkenn-
baren grundsätzlichen Veränderung, die dieser Inschriftentypus durch die immer
umfangreicheren „annalistischen“ Passagen in der Fortentwicklung der assyrischen
Tradition erfährt, und einer darin möglicherweise zum Ausdruck kommenden sich
verschiebenden Intention durch die Betonung von Aspekten, die sich zunehmend
nur noch einer Konvention verdanken, tatsächlich adäquat erfassen kann.
4 Bedauerlicherweise übergeht der ansonsten ausgesprochen lesenswerte Sammel-
band von J. Assmann / K. E. Müller (Hgg.), Der Ursprung der Geschichte. Archai-
sche Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland, Stuttgart 2005 die
keilschriftliche Tradition gänzlich.
5 Vgl. J. M. Alonso-Núnez, s.v. „Geschichtsmodelle“, in: DNP XIV: Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte (2000), 184f.
6 Alonso-Núnez, Geschichtsmodelle (wie Anm. 5), 160. Bemerkenswert bleibt hier
aber der Hinweis auf den Rezeptionsaspekt, der als eigentlich ausschlaggebend für
die „Überwindung“ durch die griechische Geschichtsschreibung namhaft gemacht
wird, während ansonsten lediglich das – kaum tragfähige – formale Argument der
Monumentalinschrift ins Feld geführt wird. Die Frage, welchen Adressatenbezug
diese Form der altorientalischen Historiographie hat, ist davon unberührt und hat
ihre Berechtigung; vgl. dazu E. Frahm, Einleitung in die Sanherib-Inschriften (AfO,
Beiheft 26), Wien 1997, 115ff.
7 Aus der umfangreichen Literatur zur spezifischen Funktion der Liste innerhalb der
altorientalischen Historiographietradition sei hier nur auf C. Wilcke, Gestaltetes Al-
tertum in antiker Gegenwart: Königslisten und Historiographie des älteren Mesopo-
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 29
tamien, in: D. Kuhn / H. Stahl (Hgg.), Die Gegenwart des Altertums. Formen und
Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, Heidelberg
2001, 93-116, verwiesen.
8 Nicht zuletzt setzt eine derartige Sichtweise eine gleichsam „natürliche“ Vorstellung
von dem voraus, was als historisch relevant zu gelten hat; vgl. dagegen W. Sallaber-
ger, Von politischem Handeln zu rituellem Königtum, in: B. Nevling Porter (Hg.),
Ritual and Politics in Ancient Mesopotamia (AOS, 88), New Haven 2005, 63-93, der
vor allem für die ältere mesopotamische Zeit eine Fokussierung des königlichen
Handelns auf eine dem politischen Alltagsgeschäft enthobene Ebene herausarbeitet,
in der die Darstellung profaner (historisch-politischer) Ereignisse keinen Raum hat:
„Im Laufe der Zeit verlor jedenfalls das Politische seine Bedeutung als Faktum, das
in monumentalen Inschriften dargestellt wird.“ (ebd., 87).
9 Vgl. zu den einschlägigen Texteditionen und den Darstellungen die Zusammenstel-
lung bei J. Klinger, Historiographie als Paradigma. Die Quellen zur hethitischen Ge-
schichte und ihre Deutung, in: G. Wilhelm (Hg.), Akten des 4. Hethitologischen
Kongresses Würzburg 1999 (StBoT 45), Würzburg 2001, 272-291. Bereits im Jahr 1914
war aus der Feder von E. Meyer die kleine Monographie „Reich und Kultur der Che-
titer“ in der neugeschaffenen Reihe „Kunst und Altertum. Alte Kulturen im Lichte
neuer Forschung“ als Band 1 beim Verlag Karl Curtius in Berlin erschienen. Eine
Darstellung, die noch vollkommen ohne die Kenntnis der in der hethitischen Haupt-
stadt seit einigen Jahren gefundenen, aber noch weitgehend unverständlichen Texte
verfaßt wurde. Sie beruht vornehmlich auf den archäologischen Zeugnissen (das
Buch enthält mehr als 100 Abbildungen) und den sonstigen Quellen, d.h. vor allem
denen aus Ägypten. Demgegenüber stellten die Arbeiten von A. Goetze, Das Hethi-
30 Jörg Klinger
A. Goetze war es auch in erster Linie, der bereits sehr früh nicht nur
den Wert der hethitischen Überlieferung als historische Quelle betonte,
sondern der eben diesen Werken auch eine besondere Stellung in der
Geschichte der Historiographie allgemein zuschrieb und auf ihren be-
sonderen kulturgeschichtlichen Wert verwies10, indem er von einem
hethitischen „Geschichtsbewußtsein“ sprach, das so „zum ersten Male
in der Weltgeschichte“ seinen literarischen Niederschlag in Form des
„historischen Berichts“ gefunden habe,11 Vor allem aber Goetzes An-
sicht, die er im übrigen nie eingehender begründete, daß darüber hin-
aus gerade die hethitischen Quellen eine Art Vorbildcharakter oder
Modell für die jüngeren mittelassyrischen Königsinschriften abgegeben
hätten, wurde und wird bis heute immer wieder aufgegriffen, aber
nicht eigentlich belegt.12 Nach wie vor stellt die Aufarbeitung der hethi-
tischen Historiographie und ihrer Bedeutung für eine allgemeine His-
toriographiegeschichte ein Desideratum der Forschung dar.13
ter-Reich, Leipzig 1928 und ders., Hethiter, Churriter und Assyrer. Hauptlinien der
vorderasiatischen Kulturentwicklung im II. Jahrtausend v. Chr. Geb., Oslo 1936,
dem die hethitischen Quellen bestens vertraut waren, einen gewaltigen Fortschritt
dar. Goetze selbst hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches Deutschland be-
reits verlassen müssen.
10 Zu noch weitergehenden Einschätzungen speziell der hethitischen Historiographie
etwa durch E. Forrer vgl. Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 273 Anm. 3.
11 Goetze, Hethiter (wie Anm. 9), 73.
12 Vgl. H. Roszkowska-Mutschler, Zu den Mannestaten der hethitischen Könige, in:
P. Taracha (Hg.) Silva Anatolica (Anatolian Studies presented to Maciej Popko on
the occasion of his 65th birthday), Warschau 2002, 288-300, 289, die von einer „im Al-
ten Orient ansonsten nicht anzutreffenden historiographischen Kompetenz der He-
thiter“ spricht und speziell in den Annalen der hethitischen Könige „ein neues lite-
rarisches Genre“ sieht, das „im Alten Orient ohne direktes Vorbild“ sei (ebd., 292).
Als Charakteristika werden genannt: Die vorrangige Darstellung militärischer Leis-
tungen, die „annalistische Form“, die nicht weiter definiert wird, und die Abfassung
in der 1. Person, was aber, wie einschränkend festgestellt wird, schon nicht für alle
Texte gilt, die dem Korpus (dazu s. die Aufzählung ebd., 291) zugeschlagen werden.
Angesichts der Allgemeinheit der genannten Kriterien und der formalen und inhalt-
lichen Vielfalt gerade auch älterer historiographischer Inschriften Mesopotamiens
erscheint eine solche unterstellte Vorbildlosigkeit doch recht pauschal. Da die ältere
hethitische Überlieferung ein augenscheinliches Interesse gerade auch an Texten
über die akkadezeitlichen Könige zeigt, sei hier als ein Beispiel nur an den Nar¬m-
Sîn-Text über die „Große Revolte“ erinnert, der sich jetzt als eine große Inschrift er-
wiesen hat; vgl. dazu W. Sommerfeld, Nar¬m-Sîn, die „Große Revolte“ und die
MAR.TUki, in J. Marzahn / H. Neumann (Hgg.), Assyriologica et Semitica (Fest-
schrift für Joachim Oelsner, AOAT 252), Münster 2000, 419-436.
13 Damit soll auf keinen Fall der Wert wichtiger und grundlegender Arbeiten in Abre-
de gestellt werden. Vgl. insbesondere H. Cancik, Grundzüge der hethitischen und
alttestamentlichen Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1976; H. A. Hoffner, Histories
and Historians of the Ancient Near East: The Hittites, Or 49, 1980, 283ff.; H. G. Gü-
terbock, Hittite Historiography: A Survey, in: H. Tadmor / M. Weinfeld (Hgg.), Hi-
story, Historiography, and Interpretation, Jerusalem, 1983, 21ff. Vgl. noch
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 31
G. F. del Monte, L’annalistica ittita (Testi del Viciono Oriente antico, 4/2) Brescia
1993, 7ff., H. Cancik, Die hethitische Historiographie, in: Die Hethiter und ihr Reich.
Volk der 1000 Götter, Katalog der Ausstellung, Darmstadt 2002, 74-81 oder von
St. de Martino, L’Anatolia occidentiale nel medio regno ittita (Eothen 5), Florenz
1996, 18-22, 7ff. sowie V. Haas, Die hethitische Literatur, Berlin – New York 2006,
77ff. und vor allem im allgemeineren Kontext der Erinnerungskultur A. Archi, I mo-
di delle memoria, in: F. Pecchioli Daddi / M. Chr. Guidotti (Hgg.), Narrare gli eventi.
Atti del convegno degli egittologi e degli orientalisti italiani in margine alle mostra
„La battaglia di Qadesh“ (Studia Asiana 3), Rom 2005, 21-28.
14 Vgl. dazu Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 277f. Anm. 16f. Eine aktuelle Über-
setzung bietet G. M. Beckman, The Anitta Text, in: M. Chavalas (Hg.), Historical
Sources in Translation: The Ancient Near East, Blackwell 2006, 216-219, hier: 217;
s. außerdem Haas, Literatur (wie Anm. 13), 28ff., jeweils mit weiterer Literatur.
15 Zu diesem Text im Kontext der frühen hethitischen historiographischen Literatur s.
jetzt C. Corti, Il raconto delle origini: alcune riflessioni sul testo di Zalpa, in: F. Pec-
chioli Daddi / M. Chr. Guidotti (Hgg.), Narrare gli eventi. Atti del convegno degli
egittologi e degli orientalisti italiani in margine alle mostra „La battaglia di Qadesh“
(Studia Asiana 3), Rom 2005, 113-121.
16 Den Begriff „Annalen“ verwende ich hier bewußt, da er mir in diesem Falle tatsäch-
lich angemessen erscheint. Ich verstehe darunter, in Anlehnung an Hayden White,
The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: ders., The Content of
the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, 1-25, 9,
die Darstellung einer Liste von Ereignissen in chronologischer Reihenfolge ohne
verbindende narrative Elemente. Es sei hier noch angemerkt, daß man als ein Spezi-
fikum der hethitischen Annalistik sozusagen von ihrer eigentlichen Zeit- und Raum-
32 Jörg Klinger
losigkeit sprechen könnte, da in aller Regel auf eine zeitliche Situierung – von einer
Datierung ganz zu schweigen – sowie auf eine genauere räumliche Orientierung –
bis auf die Nennung von Ortsnamen, deren Lage aber als bekannt vorausgesetzt
oder letztlich als nicht eigentlich wesentlich erachtet wird – verzichtet wird. Nicht
nur der Verzicht auf eine konkrete Zeitangabe ist eigentümlich, sondern dabei gibt
es auch kaum eine lokale Situierung, d.h. es werden z.B. keine Richtungen der Mär-
sche, keine Distanzen oder ähnliches angegeben, sondern lediglich Namen aufgeli-
stet. Genau hier liegen ja die Schwierigkeiten der historischen Geographie der Hethi-
terzeit, da selbst die Annalentexte in dieser Hinsicht wenig weiterhelfen.
17 Das Inventar ist dabei durchaus offen; zu nennen wäre außerdem nicht nur der Text
über die Belagerung von Uršu (CTH 7), sondern z.B. ebenso die sog. „Palastchronik“
(CTH 8-9) u. a. m.
18 Vgl. auch Cancik, Historiographie (wie Anm. 13), 75: „der Höhepunkt der hethiti-
schen Historiographie“.
19 Für keines der genannten Werke steht eine aktuelle Bearbeitung oder wenigstens
vollständige Übersetzung zur Verfügung, allein für die Zehnjahresannalen Murši-
lis II. liegt eine relativ rezente Textzusammenstellung in Umschrift vor; die Literatur
ist zusammengestellt bei Roszkowska-Mutschler (wie Anm. 12), Mannestaten, 289
n. 2, hinzu kommen zahlreiche in der Sekundärliteratur verstreute Einzelhinweise;
vgl. außerdem noch A. M. Polvani, Narrare gli eventi, in: Daddi / Guidotti, (Hgg.),
Atti del convegno (wie Anm. 15), 279-283.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 33
20 Eine andere Auffassung hat del Monte, L’annalistica (wie Anm. 13), 7ff. vertreten;
vgl. dazu Klinger, Historiographie (wie Anm. 9), 280 Anm. 22.
21 Vgl. CHD P, 328f.
34 Jörg Klinger
26 Haas, Literatur (wie Anm. 13), 45 Anm. 17 bezeichnet den Text als „Instruktion“,
andere haben den Text als Brief oder Vertrag interpretiert; zur bisherigen Diskussion
um den Text vgl. jüngst J. Freu, La bataille de Nỉrija. RS 34.165, KBo 4.14 et la
correspondence assyro-hittite, in: D. Groddek / M. Zorman, Tabularia Hethaeorum
(Fs. Košak), Wiesbaden 2007, 271-292.
27 Vgl. in dieser Hinsicht die Überlegungen zur Struktur und Funktion des Textes
einerseits bei M. Zorman, The Palace Chronicle Reconsidered, in: D. Groddek /
S. Rößle (Hgg.), Šarnikzel (Gs. Forrer), Dresden 2004, 691-708, andererseits bei
A. Gilan, Bread, Wine and Partridges – A note on the Palace Anecdotes (= CTH 8),
in: Groddek / Zorman, Tabularia Hethaeorum (wie Anm. 26), 299-304.
36 Jörg Klinger
„Récit des marchands“ (CTH 822), ein scheinbar historischer Text, der
jedoch Teil eines Rituals war28.
Angesichts dieser großen Vielfalt von Textformen und literarisch-
stilistischer Verfahrensweisen überrascht nicht, dass auch das gleich-
sam klassische und vermeintlich so einheitliche Genre der hethitischen
Historiographie, die Annalistik selbst, eine ebensolche Vielfalt auf-
weist. In der Tat: weder sind die Annalen durchgängig sprachlich und
stilistisch auf einem hohen Niveau formuliert, wie das für einzelne
Passagen der hochgerühmten Annalistik Muršilis II. gilt, noch ist der
spröde Ton der Annalen ̈attušilis I. wirklich repräsentativ. Und eben-
sowenig wie die Annalistik ein einheitliches Bild zeigt, gilt dies für
andere historiographische Texte. Selbst die Apologie ̈attušilis III. ist
kein durchgängig auf hohem Niveau ausformuliertes, politisch-
ideologisch fein ausgewogenes Dokument. Exemplarisch sei eine Pas-
sage erwähnt, die an Schlichtheit den Vergleich mit den einige Jahr-
hunderte älteren Annalen seines Namensvetters ̈attušilis I. herausfor-
dert.
Apol. Rs. III 9-1329:
Man darf nicht den Fehler begehen, aufgrund der Glanzpunkte, die die
meisten der eben genannten Werke ohne Zweifel aufzuweisen haben,
die Passagen zu übersehen, die in einfacher Syntax, stark typisiert mit
28 Vgl. S. Košak, A Note on „The Tale of the Merchants“, in: G. Beckman / R. Beal /
G. McMahon (Hgg.), Hittite Studies in Honor of Harry A. Hoffner Jr., Winona Lake,
2003, 249-252, bzw. Haas, Literatur (wie Anm. 13), 220.
29 Zum Text vgl. H. Otten, Die Apologie Hattusilis III. Das Bild der Überlieferung
(StBoT 24), Wiesbaden 1981, 16f.
30 Überraschend und unmotiviert an dieser Stelle die Verwendung der 2. Person, also
eine direkte Ansprache an die Gattin Pudủepa, die ansonsten im Text aber keine
eigenständige Rolle spielt. Der Text ist viel diskutiert, vor allem in Hinblick auf die
historischen Implikationen und die politisch-propagandistischen Intentionen, die
damit verbunden sind; s. zuletzt ausführlicher V. Parker, Reflections on the Career
of ̈attušiliš III until the Time of his Coup d’État, AoF 1999, 269-290 mit weiterer
Literatur.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 37
Rs. III (22’) A-BI A-BI-JA-ma ̉a-ad-du-li-iš-ta nam-ma (23’) na-aš IŠ-TU KUR
UGU-TI kat-ta ú-it
„Mein Großer Vater (aber) wurde wieder gesund und er kam aus dem Oberen Land
herab.“32
Die Krankheit von Šuppiluliumas Vater spielt insofern eine Rolle, als
sie die Möglichkeit bietet, daß Šuppiluliuma selbst eigenständig das
Kommando führt und somit – gleichsam in Vorwegnahme seines
späteren Thronraubes – bereits die Funktion des Königs übernimmt. In
denselben Zusmmenhang gehören die in den Text eingestreuten
Passagen, in denen sich entweder Šuppiluliuma selbst an seinen Vater
wendet mit der Bitte, ihn einen Feldzug durchführen zu lassen, oder
31 Vgl. dazu auch das Beispiel von Cancik, Grundzüge (wie Anm. 13), 159 aus der
7. Tafel der Tatenberichte des Šuppiluliuma I.
32 Die beiden Beispiele unterscheiden sich lediglich durch das im ersten Fall hinzuge-
setzte Personalpronomen der 1. Pers., das jedoch bereits graphisch durch ein enkliti-
sches akkadisches Sufixpronomen ausgedrückt wird, also keinen zusätzlichen In-
formationsgehalt hat; dafür wird in beiden Fällen das nicht sehr häufige namma in
Satzendstellung verwendet, das sich allerdings mehrfach gerade in Muršili II.-
Texten nachweisen läßt.
38 Jörg Klinger
der König selbst die Frage stellt, wer eine bestimmte Aufgabe
übernehmen will, auf die sich dann Šuppiluliuma meldet.33
KBo 14.3 (= F frag. 14)
Rs. III (9’) UM-MA A-BI A-BI-JA-MA (10’) [ku-iš-wa p]a-iz-zi UM-MA A-BU-JA-
MA am-mu-uk-wa pa-a-i-mi
„Folgendermaßen (sprach) aber mein Großvater: ‚Wer wird gehen?‘ Mein Vater
aber (sprach): ‚Ich werde gehen!‘“
Auch hier liegt die Vermutung nahe, daß wörtliche Rede lediglich aus
rhetorischen Gründen verwendet wird. Eine gängige Praxis in den
annalistischen Texten, die immer wieder solche Zitate verwenden,
manchmal ohne direkte Angabe eines Sprechers, um damit z.B. die
allgemeine Haltung des Feindes zu charakterisieren. Ein Beispiel findet
sich wiederum im Tatenbericht von Šuppiluliuma I.:
KBo 5.6 (= A frag. 24)
„Und während er die Städte befestigte, da prahlte der Feind ständig: 'In das Land
Almina werden wir ihn niemals lassen!'“
Was für solche Beispiele vermeintlich wörtlich zitierter Rede gilt, die
sich leicht vermehren ließen, dürfte in ähnlicher Weise auch für die
Zitate aus Briefen oder Befehlen usw. des Königs gelten, die ebenfalls
die diversen Annalenwerke durchziehen. Hier ist zumindest theore-
tisch möglich, daß es sich um wörtliche Zitate aus authentischen Quel-
len handelt. Dies unterscheidet sie von den imaginierten Dialogen und
Aussprüchen mit ihren formalen Parallelen in der Überlieferung der
klassischen Antike. Die Vorstellung, daß ein hethitischer Schreiber, der
es in der Regel gewohnt war, ein Dokument, das er kopierte, nicht
wirklich in unserem Verständnis zu kopieren, sondern immer in die
Texte einzugreifen, wörtlich zitierte, wäre ungewöhnlich. Wenn Ver-
änderungen gegenüber einer Vorlage vorgenommen wurden, lässt sich
dies leicht verfolgen, sofern diese nur die Orthographie oder die Spra-
che betreffen. Aber dabei bleibt es oft nicht,34 und in der Regel kann die
33 Vgl. etwa frag. 11 II 5’ff.; frag. 13 Rs. III 7’ff.; frag. 14 Rs. IV 38’ff.
34 Es sei hier nur an die klassische Stelle aus dem Zalpa-Text erinnert: KBo 22.2 Rs.
11’f.; vgl. H. Otten, Eine althethitische Erzählung um die Stadt Zalpa, Wiesbaden
1973, 12f. bzw. den Kommentar zur Stelle ebd., 50. Offenbar konnte in die Vorstel-
lungswelt eines junghethitischen Kopisten nicht passen, daß ein Tabarna, worunter
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 39
er nur die Majestät zu verstehen scheint, und nicht einfach eine Person dieses Na-
mens, gefangen genommen werden sollte, weshalb er in die Konstruktion des Textes
eingriff und aus dem Objekt mTabarnan ein Subjekt tabarnaš machte.
35 Zum Grundsätzlichen sei hier nur auf das nachgerade klassische Werk von E. R.
Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen / Basel 111993
verwiesen.
40 Jörg Klinger
na-an KUR URUMi-iz-ri (29) pé-e-da-aš na-aš LÚMEŠ URUMi-iz-ri i-ja-at nu-kán dX-
aš (30) [A-NA] KUR URUMi-iz-ri Ù A-NA KUR URUʿA-AT-TI ma-ả-̉a-an (31)
[iš-̉]i-ú-ul iš-tar-ni-šum-mi iš-̉i-ja-at
„Und mein Vater verlangte wiederum nach der Tafel: Wie einstmals der
Wettergott den Mann von Kuruštama, den Hethiter nahm und ihn nach Ägypten
brachte und sie zu Ägyptern machte und wie der Wettergott einen Vertrag
zwischen dem Land Ägypten und dem Land ̈atti schloß.“
„Wie der Wettergott von ̈atti die Leute von Kuruštama nach Ägypten brachte und
wie der Wettergott von ̈atti einen Vertrag zwischen ihnen und den Leuten von
̈atti machte, so daß sie durch den Wettergott von ̈atti Vereidigte waren.“
Bis auf das Detail, daß hier im zweiten Fall eher der Eindruck entsteht,
zwischen den Leuten von Kuruštama und den Hethitern sei ein Vertrag
geschlossen worden, nicht aber zwischen Ägyptern und Hethitern,
entsprechen sich beide Fassungen gut und es kann kein Zweifel daran
bestehen, daß es sich um denselben Text handelt, von dem hier die
Rede ist. Interessant ist aber, daß Muršili in seinem Pestgebet ausdrück-
lich erwähnt, daß er die Tafel fand und damit den Eindruck erweckt,
von ihrem Inhalt nichts gewußt zu haben; wohl um keine direkte Mit-
schuld an dem von hethitischer Seite begangenen Vertragsbruch einzu-
räumen, obwohl doch in dem ebenfalls von ihm in Auftrag gegebenen
Werk über seinen Vater bereits genau derselbe Sachverhalt dargestellt
wurde. Während aber für Šuppiluliuma I. in seinem Tatenbericht der
Vertrag geradezu als Beleg dafür angeführt wird, daß zwischen den
beiden Ländern seit alters her ein friedliches Nebeneinander existiere
und die Tatsache übergangen wird, daß er eben diesen Vertrag gebro-
chen hat, räumt Muršili II. in seinem Pestgebet dies ganz offen ein und
sagt ausdrücklich, daß der Angriff Šuppiluliumas I. auf Amqa gegen
diesen Vertrag verstieß. Wie kann aber Muršili II. einen Vertrag „fin-
den“, dessen Existenz und Inhalt offensichtlich kein Geheimnis war?
Die Darstellung im Tatenbericht des Šuppiluliuma I. erweist sich damit
als eine eindeutig in politischer Absicht manipulierte Version, während
die Version in den Pestgebeten sich der literarischen Stilisierung – des
überraschenden Fundes – bedient, um Muršili von einer möglichen
Mitverantwortung zu schützen.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 41
Das 1. Beispiel stammt aus den Ausführlichen Annalen des Muršili II.
(AM) und zwar aus dem 10. Jahr:
KBo 4.4 Rs. IV
MEŠ URU
(18) ma-ả-̉a-an-ma-mu-kán LÚ Du-uk-ka4-am-ma me-na-ả-̉a<-an>-da
a-ú-e-er (19) na-at-mu me-na-ả-̉a-an-da ú-e-er na-at-mu GÌRMEŠ-aš kat-ta-an
(20) ̉a-a-li-i-e-er nu-mu me-mi-ir BE-LÍ-NI-wa-an-na-aš ŠA URUA-ri-ip-ša-a (21)
i-wa-ar URÜa-at-tu-ši ša-a-ru-wa--u-wa-an-zi le-e ma-ni-ja-ả-ti (22) nu-wa-an-
na-aš BE-LÍ-NI an-da a-ra-an-da ar-nu-ut nu-wa-an-na-aš URÜa-at<-tu>-ši (23)
ar-̉a pé-̉u-te nu-wa-an-na-aš-za ÉRINMEŠ ANŠE.KUR.RÄI.A i-ja (...)
„Als aber die Leute von Dukkamma mich kommen sahen, da kamen sie mir
entgegen und sie knieten zu meinen Füßen und sprachen: ‚Unser Herr! Überlaß uns
nicht wie Aripša ̈attuša zum Plündern. Und setze uns, unser Herr, geschlossen in
Marsch und bringe uns nach ̈attuša und mache uns zu Fußtruppen und
Wagenkämpfern!’“
Die Gegner von Muršili II. akzeptieren die Unterwerfung und er führt
sie nach ̈attuša weg, wo er sie, genannt werden 3000 Deportierte,
entsprechend ihrem Wunsch tatsächlich in sein Heer einfügt. Das
einzige, was auffällt, ist daß die gekürzte Fassung des Tatenberichtes,
die sog. Zehnjahres-Annalen (ZAM), dieses Detail übergeht, dafür je-
doch ausdrücklich eine Einnahme der Stadt im Kampf erwähnt. Auch
von der Einfügung der Deportierten, deren Zahl übereinstimmt, wird
nichts erwähnt, sondern vielmehr ausdrücklich gesagt, daß sie dem
„Haus des Königs“ zugeführt worden wären – und es werden noch
ungezählte durch das Heer aufgebrachte Deportierte genannt, die
wiederum in den AM fehlen.
42 Jörg Klinger
Einen ähnlichen Fall bieten die Berichte zum 9. Jahr. Zunächst wird
berichtet, wie die Städte Piggainarešša und dann Jảrešša zerstört und
Bewohner weggeführt werden. Dann zieht der König weiter nach
Taptina und verbrennt die Stadt Tarkuma und der Text fährt ganz
ähnlich fort:
KBo 4.4 Rs. III
„Und die Leute von Taptina, die Leute von ̈uršama (und) die Leute von Pikurzi
kamen mir entgegen und sie knieten zu meinen Füßen und sprachen: ‚Unser Herr!
Vernichte uns nicht. Nimm uns in Knechtschaft an und mache uns zu Fußtruppen
und Wagenkämpfern. Und wir werden mit dir zu Felde ziehen.‘“
36 Die hier in diesem Beispiel zitierten Sätze ab Z. 46ff. finden sich nahezu identisch,
wenn auch noch etwas weniger ausformuliert, z.B. auch schon im Bericht über das 3.
Jahr (KUB 14.15 Rs. III 46ff.), wo sie in der ZAM-Version (KBo 3.4 Vs. II 40f.) eben-
falls fehlen.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 43
Rs. III 10 „[Sowie ich aber aus dem Šẻa-Flußland] zurückkam, 11 hätte ich eigent-
lich gegen [Manapa-Tar̉unta], der Herr des Šẻa-Flußlandes war, 11 kämpfen sol-
len, (doch) sowie 12 [Manapa-Tar̉unta] 11 über mich 12 [hör]te: „Der König des
̈atti-Landes kommt“, 13 [fürchtete] er sich und 14 [kam] 13 mir daraufhin 14 [nicht]
13
(zum Kampf) entgegen, 15 (sondern) schickte 14 mir seine Mutter, Greise und
Greisinnen 15 voraus [entgegen]. Sie kamen zu mir (und) 16 [fielen] 15 (mir) zu Fü-
ßen. 16 Und weil mir Frauen zu Füßen fielen, 17 gab ich nach um [der Frauen] wil-
len. Nach dem Šẻa-Flußland 18 zog ich 17 also 18 [nicht]. Die Einwohner des ̈atti-
Landes, die sich im Šẻa-Flußland 19 befanden, die lieferten sie mir freiwillig aus.“
Aus dem Vertrag Muršilis II. mit Manapa-Tar̉unta vom Šẻa-Flußland (KUB
19.49 Vs.):
29
„[ Als] aber [dann Ủ̉a-ziti, der König des Landes Arzawa, meiner Majestät ge-
30
genüber feind]lich wurde, da [hast du, Manapa-Tar̉unta, meiner Majestät ge-
31 32
genüber gef]ehlt und dich de[m Ủ̉a-ziti, meinem Feind, angeschlos]sen.
33
Meine Majes[tät aber hast du bekämpft] und dich [mir] nicht angeschloss[en].
34 35
§ 4, [Als ich aber] gegen Ủ̉a-ziti und die [Männer von Arzawa zu Felde
36 35
zo]g, da packten [ihn] die Eidgötter, weil Ủ̉a-ziti [die Eide] mit mir [gebro-
36 37
chen hatte. Und ihn vernicht]ete [meine Majestät.] Und weil du aber (ein
38
Mann) [des Ủ̉a-ziti geworden warst, hätte] ich [d]ich ebenso vernichtet. [Und]
39
du [w]arfst [Dich mir zu Füßen nieder] und die [alten] Männer [und alten Frauen
40 41
schicktest du] zu mir [ und] de[ine] Boten [warfen sich] mir zu Füßen nie[der.
Und folgen]dermaßen schriebst du [mir:] „Mein Herr, lasse mich lebe[n! Und mein
42
Herr möge mich nicht vern]ichten! Nimm mich in Dienst und [schütze] meine
43
Person! [ Und die D]eportierten des Landes Mira (und) die De[portier]ten des
44
Landes ̈atti [ oder] die Deportierten des Landes Arza[wa – wer] auch immer zu
45 46
mir [ herüber] gekommen ist, [einen jed]en werde ich von da [ auslief]ern.“
47
Und meine Majestät, hatte Mitleid mit dir [ und gab dir] deshalb nach. Und ich
[nahm] dich freundschaftlich auf.“
lieferung dürfte hier keine Ausnahme darstellen. Man muß sie nur als
solche erkennen und zu deuten lernen.
Daß die hethitische Annalistik auch inhaltlich einer Entwicklung
unterliegt, steht außer Zweifel. Sie ist insgesamt vielschichtiger gewor-
den. Der Bericht konzentriert sich nicht allein auf den König oder nur
einen Ort; andere, wie Königssöhne oder Truppenkommandeure, tre-
ten als Handelnde neben ihm auf. Aber die sprachlichen Mittel bleiben
dennoch relativ einfach – Überleitungen zwischen den Handlungs-
schauplätzen oder gar Polyperspektivität fehlen, und die zeitlichen
Verhältnisse paralleler Aktionen werden sprachlich oft nicht eindeutig
ausgedrückt.39
Die sprachliche Abbildung von Ereignissen ist aber nicht nur ein
Problem der hethitischen Historiographie und ist auch nicht nur in den
syntaktischen Möglichkeiten des Hethitischen begründet, wie die mo-
derne und postmoderne Debatte um die Möglichkeit „Geschichte“ zu
schreiben, eindringlich deutlich macht. Ein Hauptanliegen Hayden
Whites bestand darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß erst
die Narration das Mittel ist, das einzelne Fakten auf der Ebene eines
Textes verknüpft. Isolierte Sachverhalte bedeuten zunächst nur wenig,
sind im eigentlichen Sinne noch keine Geschichte; diese werden sie erst
im Modus der Erzählung.40 Aber auch die narrative Verknüpfung von
realen Fakten macht aus diesen noch keine reine Fiktion.41 Wenn aber
in einem hethitischen Text zwei Ereignisse unverbunden nebeneinan-
der stehen, so ist es zunächst unsere Interpretation, die daraus ein Kau-
salverhältnis ableitet.
Nicht zuletzt deshalb teile ich das Urteil von J. Assmann nicht, daß
gerade die 7. Tafel der Taten Šuppiluliumas den Höhepunkt der hethi-
tischen Geschichtsschreibung darstelle und davon wiederum gerade
die daˀamunzu-Episode das Glanzlicht schlechthin sei. Dieses Urteil
bezieht sich m. E. vielmehr auf unsere moderne Rekonstruktion der
Geschehenszusammenhänge, sozusagen auf eine Metaebene des Tex-
tes, nicht aber auf seine konkrete Ausgestaltung. Lediglich einige Pas-
sagen der erhaltenen Texte, nicht die hethitische Annalistik insgesamt
erreicht unter Muršili II. ihren Höhepunkt, indem sie ausgewählte Epi-
soden mit Details ausstatten und durch topische und stilistische Mittel
anreichern, deren Wert im Sinne eines historiographischen Wahrheits-
anspruches offensichtlich ausgesprochen zweifelhaft bleibt.
Ansatzweise läßt sich ein solches Verfahren bereits in den Annalen
̈attušilis I. nachweisen, der sich – völlig unerwartet – mit Sargon von
Akkade vergleicht, der mehr als ein halbes Jahrtausend vorher den
ersten mesopotamischen Territorialstaat begründete. Ein weiteres, ver-
gleichbares Mittel ist das bereits erwähnte Exemplum, das anhand ei-
nes typischen Geschehens allgemeine Zusammenhänge illustrieren und
erklären soll. Je umfangreicher die Texte sind, desto größer ist der An-
teil solcher topischer Elemente und stilistischer Mittel.
Was wir üblicherweise mit dem genrespezifischen Begriff der An-
nalen bezeichnen, könnte man dementsprechend als Texte bestimmen,
deren Kernbestand ein sprachlich relativ einfach strukturierter Bericht
eines konkreten, in linearer Abfolge42 abgebildeten Ereignisses oder
Geschehens ausmacht. In unterschiedlichem Maße kann diese Darstel-
lung mit literarischen Mitteln angereichert werden, ohne daß wir eine
Möglichkeit hätten, die Authentizität der zitierten Reden, ausgetausch-
ten Nachrichten oder vermeintlich wörtlichen Quellenzitate tatsächlich
zu prüfen. Vieles spricht jedoch dafür, daß es sich dabei oftmals um
fiktive Elemente handelt, die dazu dienen, den Wahrscheinlichkeitsge-
halt des Beschriebenen zu unterstreichen. Um die Funktionsweise der
hethitischen historiographischen Texte zu verstehen, darf man sich
nicht auf nur eine Gattung wie die Annalen oder die historischen Ein-
leitungen der Verträge beschränken, sondern muß die Gesamtheit der
Überlieferung berücksichtigen, gerade auch die Texte, die bislang stär-
ker als „literarisch“ eingestuft wurden.
Die besondere Wertschätzung, der sich die hethitische Historiogra-
phie wiederholt erfreut hat, könnte sich also einem Mißverständnis
verdanken. Was ihre vermeintliche Qualität – Qualität im Sinne einer
historischen Exaktheit – ausmacht, ist gerade nicht ihr besonderer his-
toriographischer Sinn, sondern vielmehr die Tendenz zur literarischen
Ausgestaltung der Fakten mit mehr oder weniger fiktionalen Details.
Und sie scheint dann ihren Höhepunkt zu erreichen, wenn es ihr am
besten gelingt zu erzählen.
42 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von St. de Martino interessant, der für die
frühere Annalistik der mittelhethitischen Zeit, etwa bei Tut̉alija I., als Ordnungs-
prinzip keine zeitliche Abfolge, sondern eine geographische nach Lage der Orte
erkennen zu können glaubt; vgl. St. de Martino, L’Anatolia, bzw. ders., Annali e Res
Gestae antico ittiti (Studia Mediterranea 12, Series Hethaea 2), Pavia 2003, 10.
Zum literarischen Charakter der hethitischen Historiographie 47
Abstract
The relationship of the Ancient Near Eastern Cultures to their own past
is a much disputed issue. While some reduce the historiographic achie-
vements of the cuneiform cultures to lists of events and rulers, others
attest a historic conscience to the Hittites. This article presents different
genres of historical Hittite texts and emphasizes their formal diversity,
e.g. annals, historical treaty introductions and letters, none of which
came down to us in a pure form. Furthermore, it remains a matter of
interpretation as to whether certain literary idiomatic topics allude to
historical events. Also, the article indicates developments within the
various genres. Hittite sources do not allow a history to be reconstruc-
ted from the historical sources on a one-to-one basis. In order to elabo-
rate the knowledge about Hittite historiography, besides annals and
treaty texts, the literary sources must likewise be taken into considera-
tion. The tendency in these texts to elaborate the facts with what mo-
dern readers would call more or less “fictional” details is part of Hittite
historiography. This is shown with the example of the three varying
accounts of a conflict between Muršili II. and the sovereign of western
Anatolia Manapa Tar̉unta. It is suggested that Hittite historiography
reaches its climax when it comes to telling stories, and not in the often
so-called “historical” annalistic sources.
Thukydides und die griechische Sicht der
Vergangenheit1
Hans-Ulrich Wiemer
I. Einleitung
Für kaiserzeitliche Griechen war das Werk des Thukydides vor allem
eines: die maßgebliche Darstellung des Peloponnesischen Krieges, der
einen zentralen Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses bildete, auch
wenn er damals bereits ein halbes Jahrtausend zurücklag. Wie Herodot
gehörte er zur Pflichtlektüre all derer, die sich im griechischen Kultur-
bereich die einzige damals bekannte Form höherer Allgemeinbildung,
die Rhetorik, aneignen wollten. Darum war in der römischen Kaiserzeit
jeder, der als gebildeter Grieche gelten wollte, mit den Werken dieser
beiden Geschichtsschreiber vertraut, obwohl die antike Schule ein
Lehrfach „Geschichte“ überhaupt nicht kannte.2 Und da Thukydides an
Herodots Darstellung der Perserkriege anschloss, bildeten ihre Werke
ein sich gegenseitig ergänzendes Paar, aus welchem man die Kenntnis
einer entfernten, aber als hochbedeutsam empfundenen Vergangenheit
schöpfte.
Die moderne Geschichtswissenschaft hat in Thukydides eine Zeit-
lang ihren Archegeten gesehen, während Herodot stets als bloße Vor-
stufe auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung
betrachtet wurde.3 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt Thuky-
Ideal einer historischen Darstellung. Man vermag es kaum zu glauben, dass schon
die nächste Generation den Mann erzeugt hat, der die Historiographie auf einen
Gipfel geführt hat, der nur noch erreicht, nicht überschritten werden kann“.
4 Barthold Georg Niebuhr, Vorträge über alte Geschichte an der Universität zu Bonn
gehalten. Herausgegeben von Max Niebuhr, Berlin 1848, 42: „Der peloponnesische
Krieg ist der unsterblichste aller Kriege weil er den größten Geschichtsschreiber ge-
funden von allen die je gelebt. Thukydides hat das Höchste erreicht was in der Ge-
schichtsschreibung möglich ist, sowohl in Hinsicht der bestimmten historischen Si-
cherheit als der lebendigen Darstellung“.
5 Droysen, Historik (wie Anm. 3), 297: „in der Höhe und Energie der Fassung, in der
Besonnenheit der Forschung, vor allem in dem Aufbau der katastrophischen Ent-
wicklung musterhaft“.
6 1854 erklärte Ranke vor dem bayrischen König, Thuykdides sei der erste und zu-
gleich der größte Geschichtsschreiber gewesen: Über die Epochen der Neueren Ge-
schichte. Historisch-kritische Ausgabe (Aus Werk und Nachlass II), München / Wien
1971, 68; vgl. dens., Weltgeschichte, 1. Band, 2. Abt., Leipzig 18864, 37-52, bes. 48:
„Dass er (sc. Thukydides) sich an die einfache Tatsache hält und nur die menschli-
chen Absichten ergründet, giebt seiner Geschichte für den kurzen Zeitraum, den sie
begreift, den Vorzug der Deutlichkeit und vollen Vergegenwärtigung, den wir be-
wundern“. Bereits Rankes verlorene Doktordissertation von 1817 handelte von Thu-
kydides. Die These von Konrad Repgen, Über Rankes Diktum von 1824: ‚Bloß sagen,
wie es eigentlich gewesen’, Historisches Jahrbuch 102 (1982), 439-449, bes. 445ff.,
Ranke habe besagtes Diktum Thukydides entnommen (akzeptiert von Moses I. Fin-
ley, Ancient History: Evidence and Models, London 1985, 116 Anm. 5), ist jedoch
nicht haltbar, wie Ronald S. Stroud, ‚Wie es eigentlich gewesen’ and Thucydides
2.48.3, Hermes 115 (1987), 379-382 gezeigt hat.
7 Wilhelm Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer Einleitung
zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen 1842, IX. Die Sperrung
steht im Original.
8 Arnaldo Momigliano, The Place of Ancient Historiography in Modern Histori-
ography (1980), in: ders., Settimo contributo alla storia degli studi classici e del mon-
do antico, Rom 1984, 13-36 setzt den Bruch mit den Traditionen antiker Historiogra-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 51
phie um 1860 an. Immerhin konnte aber Eduard Meyer noch 1902 formulieren (Zur
Theorie und Methodik der Geschichte [1902], in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1, Halle
1924, 67): „trotzdem gibt es nach wie vor nur eine einzige Art der Geschichte und
der Behandlung historischer Probleme, diejenige, welche der Athener THUKYDI-
DES zuerst geübt und deren Vorbild er in einer von keinem seiner Nachfolger er-
reichten Vollkommenheit hingestellt hat“; vgl. jedoch dens., Rede beim Antritt des
Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 15. Oktober 1919, in: ders.,
Kleine Schriften II, 547-554, bes. 549: „Doch wissen wir alle, dass wir Geschichte
nicht schreiben können wie er (sc. Thukydides)“.
9 Meist sind es Althistoriker – z. B. Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master
Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39-56; auch in: ders., Roman
Papers, Bd. 6, Oxford 1991, 72-87 –, aber nicht immer: Hajo Holborn, The Science of
History (1940), in: ders., History and the Humanities, New York 1972, 81-97.
10 Jacqueline de Romilly, Thucydide et l’imperialisme athénien – La pensée de l’histo-
rien et la genèse de l’oeuvre, Paris 1947, 21951; hier benutzt nach der englischen
Übersetzung: Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford 1963; Hartmut Leppin,
Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideenge-
schichte des 5. Jahrhunderts v. Chr. (Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 1), Berlin
1999.
11 Nicole Loraux, Thucydides n’est pas un collègue, Quaderni di storia 12 (1981), 55-81.
12 Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading/Mass. 1979. Dass Walt-
zens Thuykdides-Interpretation an einer entscheidenden Stelle auf einer fehlerhaften
Übersetzung beruht, zeigt Arthur M. Eckstein, Thucydides, the Outbreak of the Pe-
loponnesian War, and the Foundation of International Systems Theory, The Interna-
tional History Review 25/4 (2003), 757-778 (mit weiteren Literaturhinweisen). Die
Wertschätzung des Thukydides als Theoretiker internationaler Beziehungen ist aber
52 Hans-Ulrich Wiemer
Welch sah sich deswegen vor kurzem sogar dazu veranlasst, seine Kol-
legen aufzufordern, sie sollten endlich aufhören, Thukydides zu lesen.
Für Teile der modernen Politikwissenschaft ist Thukydides also nach
wie vor so etwas wie ein Kollege.13
Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, Thukydides sowohl
als Repräsentanten einer spezifisch altgriechischen Auffassung von Ge-
schichtsschreibung vorzustellen, als Kind seiner Zeit, wie man so sagt,
als auch als einen Geschichtsschreiber, dessen Konzeption uns noch
immer zur inhaltlichen Auseinandersetzung herausfordert. Ich werde
drei Aspekte herausgreifen: 1) das Verhältnis von Autor, Werk und
Publikum, 2) Methodenbewusstsein und Kausalanalyse, 3) Anthropo-
logie und Massenpsychologie.
keineswegs auf die Vereinigten Staaten beschränkt; der französische Soziologe Ray-
mond Aron etwa, der auch als Verfasser einer Theorie der Staatenwelt (Paix et guer-
re entre les nations, Paris 1962) hervorgetreten ist, konstatierte auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges (Thucydide et le récit des événements, History & Theory 1 (1961),
103-128, hier 128): „Thucydide reste notre contemporain“.
13 David A. Welch, Why International Relation Theorists Should Stop Reading Thucy-
dides, Review of International Studies 29/3 (2003), 301-319.
14 Auch wenn die ältere Forschung den Einfluss von „Ilias“ und „Odyssee“ auf die
bildende Kunst und lyrische Dichtung der früharchaischen Zeit weit überschätzt
hat, ist kaum zu bestreiten, dass diese beiden Epen spätestens am Ende des 7. Jahr-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 53
hundert sowohl einigen Lyrikern – vgl. dazu die umsichtige Untersuchung von Ro-
bert L. Fowler, Homer and the Lyric Poets, in: ders., The Nature of Early Greek Ly-
ric: Three Preliminary Studies, Toronto/Ont. u. a. 1987, 3-52 mit 105-117 (Anmerkun-
gen) – als auch einer Reihe von bildenden Künstlern und deren Auftraggebern
bekannt waren: Anthony Snodgrass, Homer and the Artists. Text and Picture in Ear-
ly Greek Art, Cambridge 1998, bes. 127ff.; Luca Giuliani, Bild und Mythos. Geschich-
te der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2003, 96ff. Zum Ge-
schichtsbild der „Ilias“ selbst vgl. jetzt Jonas Grethlein, Das Geschichtsbild der
„Ilias“. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspek-
tive (Hypomnemata. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 163),
Göttingen 2006.
15 Jan Vansina, Oral Tradition as History, Madison/Wisc. 1985. Die Unterscheidung
zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis hat bekanntlich Jan Ass-
mann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-
hen Hochkulturen, München 1992 eingeführt.
16 Reinhold Bichler, Das chronologische Bild der „Archaik“, in: Christoph Ulf / Robert
Rollinger (Hgg.), Griechische Archaik. Interne Entwicklungen – Externe Impulse,
Berlin 2004, 207-248.
54 Hans-Ulrich Wiemer
Dieses kurze Fragment lässt bereits eine Eigenart erkennen, die für die
griechische Geschichtsschreibung insgesamt charakteristisch ist: Der
Autor bleibt nicht anonym, wie die Verfasser neubabylonischer Chro-
niken20 oder judäischer Geschichtserzählungen,21 sondern bürgt mit
25 An der berühmten Stelle 7,152,3 erklärt Herodot, er halte es für seine Pflicht zu
berichten, was ihm berichtet worden sei, keineswegs aber sei er verpflichtet, alles zu
glauben; vgl. dazu Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 467-486; Donald Lateiner, The
Historical Method of Herodotus, Toronto 1989.
26 Zeitnahe Reflexe auf die Siege bei Salamis und Plataiai finden sich in Aischylos’ 472
aufgeführter Tragödie „Die Perser“, in der die Schlacht von Salamis aus persischer
Sicht dargestellt wird, bei Pindar, „Pythien“ 1,75-78 (Salamis – Plataiai – Himera)
und „Isthmien“ 5,48-50 (Salamis) – dazu Wilhelm Kierdorf, Erlebnis und Darstellung
der Perserkriege: Studien zu Simonides, Pindar, Aischylos und den attischen Red-
nern (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und ihrem Nachleben 16), Göt-
tingen 1966, 29ff.; Simon Hornblower, Thucydides and Pindar: Historical Narrative
and the World of Epinician Poetry, Oxford 2004, 50; 224-227 – sowie in der Pausani-
as-Elegie des Simonides, die vor kurzem durch einen Papyrus kenntlich geworden
ist. Text, Übersetzung, dazu 18 Aufsätze und eine umfangreiche Bibliographie bei
Deborah D. Boedeker / David Sider (Hgg.), The New Simonides, New York / Oxford
2001.
27 Die grundlegende Studie zur Entwicklung des altgriechischen Freiheitsbegriffs ist
Kurt Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit (Vestigia. Beiträge zur Alten Geschichte
37), München 1985; vom Autor revidierte und aktualisierte Übersetzung ins Engli-
sche: The Discovery of Freedom in Ancient Greece, Chicago / London 2004. Zur Hel-
lenen-Barbaren-Dichotomie vgl. Julius Jüthner, Hellenen und Barbaren. Aus der Ge-
schichte des Nationalbewusstseins, Leipzig 1923; Edith Hall, Inventing the
Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy, Oxford 1989.
28 Dazu jetzt Michael Jung, Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als lieux de
mémoire im alten Griechenland (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und
ihrem Nachleben 164), Göttingen 2006. Neben der jährlichen Totenfeier für die in der
Schlacht gefallenen Griechen, die noch ein halbes Jahrtausend später begangen wur-
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 57
Athener dagegen, die den Krieg gegen das Perserreich ohne spartani-
sche Beteiligung fortsetzten und dadurch rasch die Hegemonie im Ägä-
israum erlangten, begingen den Jahrestag der Schlacht von Marathon,
wo sie die Perser (fast) alleine geschlagen,29 und den von Salamis, wo
sie die Führung innegehabt hatten.30 Vor allem aber wurde die Erin-
nerung an die Perserkriege in Athen dadurch verankert, dass man den
Brauch einführte, die Bestattung der im Kriege Gefallenen mit einem
Rückblick auf die glorreiche Vergangenheit von den Ursprüngen bis zu
den Perserkriegen zu verknüpfen. Da die expansive und aggressive
Demokratie Athen im 5. Jahrhundert so gut wie jedes Jahr Krieg führte,
war dort seit etwa 460 fast jedes Jahr eine öffentliche Leichenrede auf
die Gefallenen zu vernehmen, die eine historische Lektion enthielt.31
Erst diese durch die Perserkriege ausgelöste Transformation des
griechischen Geschichtsbewusstseins hat das Werk Herodots ermög-
licht; sie erzeugte das Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung dieser
Ereignisse und lieferte mit dem Begriff der Freiheit die Leitidee zu ihrer
Gestaltung. Gleichwohl ist sein Geschichtswerk weit mehr als eine Dar-
stellung der Perserkriege aus griechischer Perspektive. Denn Herodot
hat die Erzählung des griechischen Abwehrsieges in eine ausführliche
Schilderung des Perserreiches eingebettet, die selbst wiederum den
Anlass bietet, dessen konstituierende Bestandteile eingehend zu be-
schreiben.32 Dabei kombiniert er die im kommunikativen Gedächtnis
de (Plutarch, Aristeides 21), fanden hier im Abstand von vier Jahren „Eleutherien“
(„Freiheitsspiele“) statt; zur ebenfalls bis in die Kaiserzeit reichenden Geschichte
dieses Festes vgl. Roland Etienne / Marcel Piérart, Un décret du Koinon des Hellènes
à Platées en l’honneur de Glaucon, fils d’Eteoclès, Bulletin de Correspondance
Héllenique 99, 1975, 51-75. Die Pausanias-Elegie des Simonides (vgl. Anm. 26) könn-
te im Rahmen der Bestattung der spartanischen Gefallenen vorgetragen worden
sein, wenn nicht die „Eleutherien“ den Anlass abgaben. Auffallend ist in jedem Fall
die Fokussierung auf Sparta und Pausanias, während Athen lediglich als Nutznießer
des von diesen erfochtenen Sieges erscheint.
29 Vgl. dazu neben Jung, Marathon und Plataiai (wie Anm. 28) auch Karl-Joachim
Hölkeskamp, Marathon – vom Monument zum Mythos, in: Dietrich Papenfuß / Vol-
ker-Michael Strocka (Hgg.), Gab es das griechische Wunder? Griechenland zwischen
dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Mainz 2001, 329-353.
30 Eine erinnerungsgeschichtliche Studie zur Schlacht von Salamis fehlt; vgl. immerhin
Nicole Loraux, L’invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funèbre dans la „cité
classique“ (Civilisation et société 65), Paris 1981, 162-165; Jung, Marathon und Pla-
taiai (wie Anm. 28), 160-163.
31 Vgl. dazu neben der grundlegenden Studie von Loraux, L’invention d’Athènes (wie
Anm. 30) jetzt auch Karl Prinz, Epitaphios Logos. Struktur, Funktion und Bedeutung
der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts, Frankfurt/Main / Berlin
1997.
32 Justus Cobet, Herodots Exkurse und die Frage der Einheit seines Werkes (Historia.
Einzelschriften 17), Stuttgart 1971.
58 Hans-Ulrich Wiemer
40 Zur Biographie ausführlich Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 205-280. Wer freilich
die Quellenangaben Herodots zur Fiktion erklärt, wie Detlef Fehling, Die Quellen-
angaben bei Herodot. Studien zur Erzählkunst Herodots (Untersuchungen zur anti-
ken Literatur und Geschichte 9), Berlin-West (1971) (vom Verfasser revidierte engl.
Übersetzung: Herodotus and his ‚Sources’: Citation, Invention and Narrative Art,
Leeds 1989) muss auch die aus dem Werk erschlossenen Reisen für eine Mischung
aus antiker und moderner Fabelei halten.
41 Mit Recht betont von Arnaldo Momigliano, The Historians of the Ancient World and
their Audiences: Some Suggestions (1978), in: ders., Sesto contributo alla storia degli
studi classici e del mondo antico, Bd. 2, Rom 1980, 361-376.
42 Dass die sogenannten Geschichtsbücher des Alten Testaments einem Wachstums-
prozess unterlagen, der sich über Jahrhunderte erstreckte, ist eine allgemeine und
notwendige Voraussetzung aller historisch-kritischen Exegese. Mit wie vielen Über-
lieferungsstufen man dabei zu rechnen hat, zeigen jetzt am Beispiel der Erzählungen
von Saul und David, in denen einst Gerhard von Rad den „Anfang der Geschichts-
schreibung im alten Israel“ (Archiv für Kulturgeschichte 32, 1944, 1-42; auch in:
ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 19714, 148-188) gefunden
hatte, auf im einzelnen sehr verschiedene Weise drei Arbeiten aus jüngster Zeit: Ale-
xander A. Fischer, Von Hebron nach Jerusalem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 61
zur Erzählung von König David in II Sam 1-5 (Beihefte zur Zeitschrift für die Alttes-
tamentliche Wissenschaft 335), Berlin 2004; Thilo Alexander Rudnig, Davids Thron,
Redaktionskritische Studien zur Geschichte von der Thronnachfolge Davids (Beihef-
te zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 358), Berlin / New York
2006; Klaus-Peter Adam, Saul und David in der judäischen Geschichtsschreibung
(Forschungen zum Alten Testament 51), Tübingen 2007.
43 Es wird allgemein und mit Recht angenommen, dass Thukydides’ Werk in unvoll-
endetem Zustand aus dem Nachlass des Autors publiziert wurde; vgl. Otto
Luschnat, Thukydides der Historiker, RE Suppl. XII, 1978, 1112-1132; Arnold W.
Gomme / Anthony Andrewes / Kenneth J. Dover, A Historical Commentary on Thu-
cydides, Bd. 4-5, Oxford 1970–1981, hier: Bd. 5, Oxford 1981, 361ff. Nach Luciano
Canfora, Tucidide continuato, Padua 1970; ders., Biographical Obscurities and Prob-
lems of Composition, in: Antonios Rengakos / Antonis Tsakmakis (Hgg.), Brill’s
Companion to Thucydides, Leiden / Boston 2006, 3-32, hier: 14ff. war der Herausge-
ber kein anderer als Xenophon von Athen, dessen Thukydides-Ausgabe bis zum
Kriegsende gereicht habe; die Darstellung des Kriegsendes sei jedoch später abge-
trennt und Xenophons „Hellenika“ (1,1-2,3,10) angegliedert worden, weshalb sie
jetzt unter dem Namen Xenophons stehe. Indessen brechen nicht bloß alle mittel-
alterlichen Thukydides-Handschriften bei der Einfahrt des Tissaphernes in Ephesos
nach der Schlacht bei Kynossema (8,109,2) ab; auch die Thukydides-Ausgabe, die
Dionysios von Halikarnassos in augusteischer Zeit las (vgl. die nächste Anmerkung),
endete an dieser Stelle: Über Thukydides 12; Brief an Gnaeus Pompeius 3.
44 Bereits der augusteische Autor Dionysios von Halikarnassos bemängelte, dass Thu-
kydides Stil manieriert und oftmals schwer verständlich sei: vgl. neben dem Essay
„Über Thukydides“ (21ff., bes. 51: ıįȢտȚȞșijȡț ȗչȢ ijțȟջȣ ıԼIJțȟ ȡՃȡț ʍչȟijį ijո
ĭȡȤȜȤİտİȡȤ IJȤȞȖįȝıהȟ, Ȝįվ ȡİ’ ȡ՟ijȡț ȥȧȢվȣ ԚȠșȗսIJıȧȣ ȗȢįȞȞįijțȜ׆ȣ Ԥȟțį auch des-
sen literarkritische Briefe „An Gnaeus Pompeius“ (3) und „An Ammaios über die
Stileigentümlichkeiten des Thukydides“ (mit englischer Übersetzung herausgegeben
von Stephen Usher, Dionysius of Halicarnassus, The Critical Essays, 2 Bde., Cam-
bridge, Mass / London 1974).
62 Hans-Ulrich Wiemer
45 Den traditionellen Ansatz auf vor 425 verteidigt Justus Cobet, Wann wurde Hero-
dots Darstellung der Perserkriege publiziert?, Hermes 105 (1977), 2-27.
46 Zum Umgang des Thukydides mit Herodot vgl. Simon Hornblower, Commentary
on Thucydides, Bd. 2, Oxford 1996, 19-38; 122-145. Auf die Auseinandersetzung des
Thukydides mit Hellanikos (1,97,2) kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu
Otto Lendle, Die Auseinandersetzung des Thuykdides mit Hellanikos, Hermes 92
(1964), 129-143; auch in: Hans Herter (Hg.), Thukydides (Wege der Forschung 98),
Darmstadt 1968, 661-682.
47 Thuk. 1,1,1-2: ĭȡȤȜȤİտİșȣ ԘȚșȟįהȡȣ ȠȤȟջȗȢįȦı ijրȟ ʍցȝıȞȡȟ ijȟ ȇıȝȡʍȡȟȟșIJտȧȟ Ȝįվ
ԘȚșȟįտȧȟ, թȣ ԚʍȡȝջȞșIJįȟ ʍȢրȣ ԐȝȝսȝȡȤȣ, ԐȢȠչȞıȟȡȣ ıȚւȣ ȜįȚțIJijįȞջȟȡȤ Ȝįվ ԚȝʍտIJįȣ
Ȟջȗįȟ ijı ԤIJıIJȚįț Ȝįվ ԐȠțȡȝȡȗօijįijȡȟ ijȟ ʍȢȡȗıȗıȟșȞջȟȧȟ, ijıȜȞįțȢցȞıȟȡȣ Ցijț
ԐȜȞչȘȡȟijջȣ ijı ֜IJįȟ Ԛȣ įijրȟ ԐȞĴցijıȢȡț ʍįȢįIJȜıȤ ׇij ׇʍչIJׄ Ȝįվ ijր Ԕȝȝȡ ԧȝȝșȟțȜրȟ
ՍȢȟ ȠȤȟțIJijչȞıȟȡȟ ʍȢրȣ ԛȜįijջȢȡȤȣ, ijր Ȟպȟ ıȚփȣ, ijր İպ Ȝįվ İțįȟȡȡփȞıȟȡȟ. ȜտȟșIJțȣ ȗոȢ
į՝ijș ȞıȗտIJijș İռ ijȡהȣ ԫȝȝșIJțȟ Ԛȗջȟıijȡ Ȝįվ ȞջȢıț ijțȟվ ijȟ ȖįȢȖչȢȧȟ, թȣ İպ ıԼʍıהȟ Ȝįվ
Ԛʍվ ʍȝıהIJijȡȟ ԐȟȚȢօʍȧȟ.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 63
48 Dieses „Siegel“ fehlt allerdings am Ende des ersten Kriegsjahres sowie für die Zwi-
schenkriegszeit (10.-15. Kriegsjahr) (Thuk. 4,116,31-5,83,4); weshalb, ist unklar.
49 Der Name „Peloponnesischer Krieg“ begegnet zuerst bei Diodor von Sizilien, dürfte
aber auf Ephoros von Kyme zurückgehen, dessen „Universalgeschichte“ in der Ale-
xanderzeit publiziert wurde; die Möglichkeit, dass er auch vom Autor der „Helleni-
ca Oxyrhynchia“ gebraucht wurde, erwägt Bruno Bleckmann, Athens Weg in die
Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges (Beiträge zur Altertums-
kunde 99), Stuttgart / Leipzig 1998, 261 Anm. 197. Autoren des 4. Jahrhunderts spre-
chen die einzelnen Phasen des Gesamtkrieges häufig als Kriege für sich an: Belege
bei Geoffrey de Ste. Croix, The Origins of the Peloponnesian War, London 1972, 294-
295.
64 Hans-Ulrich Wiemer
bezeichnen zu wollen, wäre ein Irrtum …“ (es folgt eine eingehende Be-
gründung, die hier nicht näher zu interessieren braucht).50
Das zweite Proömium dient jedoch noch einem anderen Zweck: Es soll
begründen, weshalb der Autor über die Kompetenz verfügt, seinen
Gegenstand in sachlich angemessener Art und Weise darzustellen.
Dieses Thema klingt bereits im ersten Satz des Werkes an, wenn der
Autor von sich selbst sagt, er habe die Bedeutung des Krieges gleich bei
seinem Ausbruch erkannt und deshalb sogleich damit begonnen, ihn
aufzuschreiben. Und am Ende des ersten Proömiums (1,22,3) hebt er
hervor, dass er die berichteten Ereignisse mit Genauigkeit und Mühe
ermittelt habe. Im zweiten Proömium nun erklärt Thukydides, er habe
den Krieg „ganz miterlebt, alt genug zum Begreifen und mit voller
Aufmerksamkeit, um etwas Genaues zu wissen“, und fährt dann fort:
„Ich mußte als Verbannter zwanzig Jahre nach meinem Feldzug bei
Amphipolis mein Land meiden, war also auf beiden Seiten, auf der
peloponnesischen nicht minder, wegen der Verbannung, so dass ich be-
quem Näheres erfahren konnte.“51
Wir haben es also mit einem Geschichtsschreiber zu tun, der zwei
Jahrzehnte lang ein Heimatloser gewesen war, und gerade daraus den
Anspruch ableitet, in besonderer Weise befähigt zu sein, einen Krieg
darzustellen, der die ganze griechische Welt in zwei Lager gespalten
hatte. Anders gesagt: Die Äquidistanz zu den kriegführenden Mächten
wird hier als ein Vorteil für den Geschichtsschreiber aufgefasst, der ihn
vor denjenigen auszeichnet, die den Krieg nur auf einer Seite mitge-
macht hatten. Die Folgen für das Verhältnis des Autors zu den Rezi-
pienten seines Werkes liegen auf der Hand: Die Geschichte, die Thuky-
dides zu erzählen hat, setzt Leser voraus, die den Horizont ihrer Polis
50 Thuk. 5,26,1-2: ĬջȗȢįĴı İպ Ȝįվ ijįףijį Ս įijրȣ ĭȡȤȜȤİտİșȣ ǺȚșȟįהȡȣ ԛȠ׆ȣ, թȣ ԥȜįIJijį
Ԛȗջȟıijȡ, Ȝįijո ȚջȢș Ȝįվ ȥıțȞȟįȣ, ȞջȥȢț ȡ՟ ijսȟ ijı ԐȢȥռȟ ȜįijջʍįȤIJįȟ ijȟ ԘȚșȟįտȧȟ
ȂįȜıİįțȞցȟțȡț Ȝįվ ȡԽ ȠփȞȞįȥȡț, Ȝįվ ijո ȞįȜȢո ijıտȥș Ȝįվ ijրȟ ȇıțȢįțֻ ȜįijջȝįȖȡȟ. Ԥijș İպ
Ԛȣ ijȡףijȡ ijո ȠփȞʍįȟijį Ԛȗջȟıijȡ ij ʍȡȝջȞ ԛʍijո Ȝįվ ıՀȜȡIJț. Ȝįվ ijռȟ İțո ȞջIJȡȤ ȠփȞȖįIJțȟ
ıՀ ijțȣ Ȟռ ԐȠțօIJıț ʍցȝıȞȡȟ ȟȡȞտȘıțȟ, ȡȜ ՌȢȚȣ İțȜįțօIJıț. Thukydides fährt fort: ijȡהȣ
[ijı] ȗոȢ ԤȢȗȡțȣ թȣ İțׅȢșijįț ԐȚȢıտijȧ, Ȝįվ ıՙȢսIJıț ȡȜ ıԼȜրȣ Վȟ ıԼȢսȟșȟ įijռȟ ȜȢțȚ׆ȟįț,
Ԛȟ ֝ ȡ՜ijı ԐʍջİȡIJįȟ ʍչȟijį ȡ՜ij’ ԐʍıİջȠįȟijȡ ԓ ȠȤȟջȚıȟijȡ, ԤȠȧ ijı ijȡփijȧȟ ʍȢրȣ ijրȟ
ȃįȟijțȟțȜրȟ Ȝįվ ԦʍțİįփȢțȡȟ ʍցȝıȞȡȟ Ȝįվ Ԛȣ Ԕȝȝį ԐȞĴȡijջȢȡțȣ ԑȞįȢijսȞįijį Ԛȗջȟȡȟijȡ Ȝįվ
ȡԽ Ԛʍվ ĭȢֺȜșȣ ȠփȞȞįȥȡț ȡİպȟ ԳIJIJȡȟ ʍȡȝջȞțȡț ԲIJįȟ ǻȡțȧijȡտ ijı ԚȜıȥıțȢտįȟ İıȥսȞıȢȡȟ
Բȗȡȟ. խIJijı Ƞւȟ ij ʍȢօij ʍȡȝջȞ ij İıȜջijıț Ȝįվ ij ׇȞıij’ įijրȟ ՙʍցʍij ԐȟȡȜȧȥ ׇȜįվ
ij ՝IJijıȢȡȟ ԚȠ įij׆ȣ ʍȡȝջȞ ıՙȢսIJıț ijțȣ ijȡIJįףijį Ԥijș, ȝȡȗțȘցȞıȟȡȣ Ȝįijո ijȡւȣ ȥȢցȟȡȤȣ,
Ȝįվ ԭȞջȢįȣ ȡ ʍȡȝȝոȣ ʍįȢıȟıȗȜȡփIJįȣ.
51 Thuk. 5,26,5: ԚʍıȖտȧȟ İպ İțո ʍįȟijրȣ įijȡ ףįԼIJȚįȟցȞıȟցȣ ijı ij ׇԭȝțȜտֹ Ȝįվ ʍȢȡIJջȥȧȟ
ijռȟ ȗȟօȞșȟ, Ցʍȧȣ ԐȜȢțȖջȣ ijț ıՀIJȡȞįțǝ Ȝįվ ȠȤȟջȖș Ȟȡț Ĵıփȗıțȟ ijռȟ ԚȞįȤijȡ ףԤijș ıՀȜȡIJț
Ȟıijո ijռȟ Ԛȣ ԘȞĴտʍȡȝțȟ IJijȢįijșȗտįȟ, Ȝįվ ȗıȟȡȞջȟ ʍįȢ’ ԐȞĴȡijջȢȡțȣ ijȡהȣ ʍȢչȗȞįIJț, Ȝįվ
ȡȥ ԳIJIJȡȟ ijȡהȣ ȇıȝȡʍȡȟȟșIJտȧȟ İțո ijռȟ ĴȤȗսȟ, ȜįȚ’ ԭIJȤȥտįȟ ijț įijȟ Ȟֻȝȝȡȟ
įԼIJȚջIJȚįț.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 65
Thukydides ist ein Autor, der programmatische Aussagen über die Er-
forschung vergangener Ereignisse und über die Art ihrer Darstellung
macht. Für Thukydides zerfällt die Vergangenheit in die Zeitgeschich-
te, die durch Autopsie und Befragung von Zeitzeugen präzise erforscht
werden kann, einerseits und deren bis zur Einwanderung und Sess-
haftwerdung der griechischen Stämme zurückreichende Vorgeschichte
andererseits, die nur hypothetisch rekonstruiert werden kann. Beide
Zeitschichten bilden für Thukydides ein Kontinuum; sie unterscheiden
sich für ihn lediglich dadurch, dass allein die „Zeitgeschichte“ mit Me-
52 Dass zwischen dem Werk des Thukydides und der politischen Selbstdarstellung der
Athener eine tiefe Kluft besteht, hat bereits Hermann Strasburger, Thukydides und
die politische Selbstdarstellung der Athener, Hermes 86 (1958), 17-40; auch in: Her-
ter, Thukydides (wie Anm. 46), 498-545 mit Recht betont; er hat diese Diskrepanz je-
doch zu Unrecht als eine prinzipielle Kritik des Geschichtsschreibers an der „impe-
rialistischen“ Politik Athens gedeutet, der das egoistische und inhumane Denken
der Athener habe entlarven wollen; vgl. dazu unten.
53 Thuk. 1,22,4: Ȝįվ Ԛȣ Ȟպȟ ԐȜȢցįIJțȟ ՀIJȧȣ ijր Ȟռ ȞȤȚİıȣ įijȟ ԐijıȢʍջIJijıȢȡȟ Ĵįȟıהijįțǝ
ՑIJȡț İպ ȖȡȤȝսIJȡȟijįț ijȟ ijı ȗıȟȡȞջȟȧȟ ijր IJįĴպȣ IJȜȡʍıהȟ Ȝįվ ijȟ Ȟıȝȝցȟijȧȟ ʍȡijպ
į՞Țțȣ Ȝįijո ijր ԐȟȚȢօʍțȟȡȟ ijȡțȡփijȧȟ Ȝįվ ʍįȢįʍȝșIJտȧȟ ԤIJıIJȚįț, ըĴջȝțȞį ȜȢտȟıțȟ įijո
ԐȢȜȡփȟijȧȣ ԥȠıț. Ȝij׆Ȟչ ijı Ԛȣ įԼıվ Ȟֻȝȝȡȟ Ԯ ԐȗօȟțIJȞį Ԛȣ ijր ʍįȢįȥȢ׆Ȟį ԐȜȡփıțȟ
ȠփȗȜıțijįț.
66 Hans-Ulrich Wiemer
54 Die „Archäologie“ ist allerdings nicht der einzige Abschnitt, in welchem diese Me-
thode zur Anwendung kommt; sie wird vielmehr auch in mehreren Exkursen ange-
wandt, die den sogenannten Kylonischen Frevel (1,126,3-12), die Frühgeschichte At-
tikas (2,14,2-16,1), die Kolonisation Siziliens (6,2-5) sowie die Peisistratiden (6,54-59)
zum Gegenstand haben.
55 Vgl. dazu Jacqueline de Romilly, Histoire et raison chez Thucydide, Paris 1956, 240-
298; Fritz, Griechische Geschichtsschreibung I (wie Anm. 18), 575-618 mit II 263-280;
Hans-Joachim Gehrke, Thukydides und die Rekonstruktion des Historischen, Antike
& Abendland 39 (1993), 1-19; Roberto Nicolai, Thucydides Archaeology between
Epic and Oral Traditions, in: Luraghi, Herodotus (wie Anm. 23), 263-285.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 67
57 Thuk. 1,21,1-2: ԚȜ İպ ijȟ ıԼȢșȞջȟȧȟ ijıȜȞșȢտȧȟ ՑȞȧȣ ijȡțįףijį Ԕȟ ijțȣ ȟȡȞտȘȧȟ ȞչȝțIJijį ԓ
İț׆ȝȚȡȟ ȡȥ ԑȞįȢijչȟȡț, Ȝįվ ȡ՜ijı թȣ ʍȡțșijįվ ՙȞȟսȜįIJț ʍıȢվ įijȟ Ԛʍվ ijր ȞıהȘȡȟ
ȜȡIJȞȡףȟijıȣ Ȟֻȝȝȡȟ ʍțIJijıփȧȟ, ȡ՜ijı թȣ ȝȡȗȡȗȢչĴȡț ȠȤȟջȚıIJįȟ Ԛʍվ ijր ʍȢȡIJįȗȧȗցijıȢȡȟ
ij ׇԐȜȢȡչIJıț Ԯ ԐȝșȚջIJijıȢȡȟ, Րȟijį ԐȟıȠջȝıȗȜijį Ȝįվ ijո ʍȡȝȝո ՙʍր ȥȢցȟȡȤ įijȟ
ԐʍտIJijȧȣ Ԛʍվ ijր ȞȤȚİıȣ ԚȜȟıȟțȜșȜցijį, șՙȢ׆IJȚįț İպ ԭȗșIJչȞıȟȡȣ ԚȜ ijȟ ԚʍțĴįȟıIJijչijȧȟ
IJșȞıտȧȟ թȣ ʍįȝįțո ıՂȟįț ԐʍȡȥȢօȟijȧȣ. Ȝįվ Ս ʍցȝıȞȡȣ ȡ՟ijȡȣ, ȜįտʍıȢ ijȟ ԐȟȚȢօʍȧȟ Ԛȟ
֭ Ȟպȟ Ԓȟ ʍȡȝıȞIJț ijրȟ ʍįȢցȟijį įԼıվ ȞջȗțIJijȡȟ ȜȢțȟցȟijȧȟ, ʍįȤIJįȞջȟȧȟ İպ ijո ԐȢȥįהį
Ȟֻȝȝȡȟ ȚįȤȞįȘցȟijȧȟ, Ԑʍ’ įijȟ ijȟ ԤȢȗȧȟ IJȜȡʍȡףIJț İșȝօIJıț ՑȞȧȣ ȞıտȘȧȟ
ȗıȗıȟșȞջȟȡȣ įijȟ.
58 Thuk. 1,22,1-3: ȁįվ ՑIJį Ȟպȟ ȝցȗ ıՂʍȡȟ ԥȜįIJijȡț Ԯ Ȟջȝȝȡȟijıȣ ʍȡȝıȞսIJıțȟ Ԯ Ԛȟ įij
İș Րȟijıȣ, ȥįȝıʍրȟ ijռȟ ԐȜȢտȖıțįȟ įijռȟ ijȟ ȝıȥȚջȟijȧȟ İțįȞȟșȞȡȟıףIJįț Բȟ ԚȞȡտ ijı կȟ
įijրȣ ȜȡȤIJį Ȝįվ ijȡהȣ ԔȝȝȡȚջȟ ʍȡȚıȟ ԚȞȡվ ԐʍįȗȗջȝȝȡȤIJțȟǝ թȣ İ’Ԓȟ ԚİցȜȡȤȟ ԚȞȡվ
ԥȜįIJijȡț ʍıȢվ ijȟ įԼıվ ʍįȢցȟijȧȟ ijո İջȡȟijį ȞչȝțIJij’ ıԼʍıהȟ, ԚȥȡȞջȟ Ցijț ԚȗȗȤijįijį ij׆ȣ
ȠȤȞʍչIJșȣ ȗȟօȞșȣ ijȟ ԐȝșȚȣ ȝıȥȚջȟijȧȟ, ȡ՝ijȧȣ ıՀȢșijįț. ijո İ’ ԤȢȗį ijȟ ʍȢįȥȚջȟijȧȟ
Ԛȟ ij ʍȡȝջȞ ȡȜ ԚȜ ijȡ ףʍįȢįijȤȥցȟijȡȣ ʍȤȟȚįȟցȞıȟȡȣ ԬȠտȧIJį ȗȢչĴıțȟ, ȡİ’ թȣ ԚȞȡվ
ԚİցȜıț, Ԑȝȝ’ ȡՃȣ ijı įijրȣ ʍįȢ׆ȟ Ȝįվ ʍįȢո ijȟ Ԕȝȝȧȟ ՑIJȡȟ İȤȟįijրȟ ԐȜȢțȖıտֹ ʍıȢվ
ԛȜչIJijȡȤ ԚʍıȠıȝȚօȟ. Ԛʍțʍցȟȧȣ İպ șՙȢտIJȜıijȡ, İțցijț ȡԽ ʍįȢցȟijıȣ ijȡהȣ ԤȢȗȡțȣ ԛȜչIJijȡțȣ ȡ
ijįijո ʍıȢվ ijȟ įijȟ Ԥȝıȗȡȟ, Ԑȝȝ’ թȣ ԛȜįijջȢȧȟ ijțȣ ıȟȡտįȣ Ԯ ȞȟսȞșȣ Ԥȥȡț.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 69
Soweit es um die Reden geht, die er seinem Werk in großer Zahl einge-
fügt hat, schränkt Thukydides den Wahrheitsanspruch seiner Darstel-
lung also ausdrücklich ein. Seine Redner halten sich zwar möglichst
eng an die „Gesamtintention des in Wirklichkeit Gesagten“59 – so lau-
tet zumindest das Programm –, sprechen aber so, wie es dem Ge-
schichtsschreiber in einer bestimmten Situation angemessen erscheint.
Im Kontext des „Methodenkapitels“ ist diese Aussage als Konzession
zu verstehen, die aus der Not eine Tugend machen soll: Wenn es schon
unmöglich ist, den genauen Inhalt einer Rede im Gedächtnis zu behal-
ten, so will Thukydides sich wenigstens in die Situation versetzen, in
der ein Redner das Wort ergriffen hatte. Tatsächlich spielen die Reden
im Werk des Thukydides jedoch eine ganz zentrale Rolle, wie schon
daraus erhellt, dass er dem Text nicht weniger als 40 davon eingefügt
hat, die häufig zu Paaren gruppiert sind.60 Diese Reden bieten viele
Informationen, die in der Geschichtserzählung selbst nicht enthalten
sind; sie dienen der Verdeutlichung und Vertiefung, indem sie die Be-
dingungen und Triebkräfte des historischen Geschehens aus der Per-
spektive der Handelnden darstellen.61
Im Gegensatz zu den Reden, die Thukydides nach eigenem Da-
fürhalten gestaltet, stehen die Taten, die er durch Autopsie und Zeu-
genbefragung mit absoluter Präzision ermittelt zu haben beansprucht.
Was die Taten angeht, hegt Thukydides also keinen Zweifel, dass es
möglich sei, die reine Wahrheit zu ermitteln und darzustellen, wenn
59 Die Wendung ȠȤȞʍչIJș ȗȟօȞș ijȟ ԐȝșȚȣ ȝıȥȚջȟijȧȟ wird meist mit „Gesamtsinn
dessen, was tatsächlich gesagt wurde“ oder ähnlich wiedergegeben (z. B. von
Luschnat, Thukydides [wie Anm. 43], 1181). Gegen diese Auffassung wendet Kon-
rad Vössing, Objektivität oder Subjektivität, Sinn oder Überlegung? Zu Thukydides’
ȗȟօȞș im Methodenkapitel (1,22,1), Historia 33 (2005), 210-215 mit Recht ein, dass
ȗȟօȞș bei Thukydides nirgendwo die Bedeutung ‚Sinngehalt’ habe, und schlägt vor,
die Phrase mit „in möglichst engem Anschluß an die generelle Einschätzung, auf der
das tatsächlich Gesprochene beruhte“ (213) zu übersetzen, was dem griechischen
Wortlaut jedoch schwerlich entspricht. Tatsächlich meint ȗȟօȞș an der vorliegenden
Stelle nicht den ‚Gesamtsinn’ der Rede, sondern ihre ‚Gesamtintention’, wie vor lan-
ger Zeit Eduard Schwartz (Gnomon 2 (1926), 80: „Zielrichtung im ganzen“) erkannt
und Ernst Badian (Thucydides on Rendering Speeches, Athenaeum n. s. 80 (1992),
187-190: „entire intention“) vor kurzem noch einmal betont hat; eine schlagende Pa-
rallele bietet Thuk. 8,90,3: Բȟ İպ ijȡ ףijıտȥȡȤȣ ԭ ȗȟօȞș į՝ijș ... Ձȟį Ȝ. ij. ȝ.
60 Aufgelistet bei William C. West III, The Speeches in Thucydides: A Description and
Listing, in: Philip Stadter (Hg.), The Speeches in Thucydides, Chapel Hill 1973, 3-15.
61 Die Literatur zu den Reden des Thukydides ist unübersehbar; William C. West III, A
Bibliography of Scholarship on the Speeches in Thucydides, 1873-1970, in: Stadter,
Speeches in Thucydides (wie Anm. 60), 124-166 verzeichnet 351 Titel. Eine im we-
sentlichen treffende Charakteristik findet sich schon bei Eduard Meyer (Forschun-
gen II [wie Anm. 3], 379ff.).
70 Hans-Ulrich Wiemer
nur die Zeugen mit der nötigen Kritik einvernommen werden, obwohl
er einräumt, dass Genauigkeit nicht in allen Details zu erreichen ist,
und sich nicht für jede Aussage über Motive verbürgen will.62 Diese
Kritik muss zwei Faktoren in Rechnung stellen, die zur Verfälschung
von Zeugenaussagen führen können: zum einen das Gedächtnis und
zum anderen die Haltung, die der Zeuge zu den berichteten Ereig-
nissen einnimmt. Thukydides hat damit ohne Zweifel zwei Faktoren
bezeichnet, die bei jeder methodischen Auswertung erzählender Quel-
len zu berücksichtigen sind und gerade im Moment unter Historikern
wieder intensiv diskutiert werden.63 Indessen sollte man nicht überse-
hen, dass die Aussagen des „Methodenkapitels“ sich allein auf den
Bereich der „Oral History“ beziehen. Die Problematik der Interpretati-
on schriftlicher Zeugnisse wird von Thukydides gar nicht erörtert, ob-
wohl er nachweislich schriftliche Quellen sowohl erzählender als auch
urkundlicher Art herangezogen hat; im fünften Buch werden mehrere
Staatsverträge sogar im originalen Wortlaut mitgeteilt.64
Thukydides hat die von ihm ermittelten Ereignisse in eine fortlau-
fende, nach Sommern und Wintern gegliederte Erzählung umgesetzt,
deren Genauigkeit, Sachlichkeit und Deutlichkeit immer wieder be-
wundert worden ist; insbesondere auf seine chronologische Präzision
62 Vor allem wenn es um Motive auf spartanischer Seite geht (2,18,5; 2,20,1; 2,57,1;
3,79,3; 5,65,3; 8,50,3; 8,94,2), äußert Thukydides sich gerne unter Vorbehalt; über das
Ziel eines Feldzuges im Jahre 419 sagt er sogar, niemand habe gewusst, wohin König
Agis das Heer des Peloponnesischen Bundes damals habe führen wollen: 5,54,1. In
5,68,2 räumt er ausdrücklich ein, dass er die genauen Heereszahlen für die Schlacht
von Mantineia wegen der Geheimniskrämerei des spartanischen Staates (İțո ij׆ȣ
ʍȡȝțijıտįȣ ijր ȜȢȤʍijցȟ) nicht habe in Erfahrung bringen können. Eine Aussage über
die Absichten des persischen Satrapen Tissaphernes (8,46,5) wird mit der Bemer-
kung qualifiziert, „soweit sie aus seinen Handlungen zu erschließen waren“ (ՑIJį ȗı
Ԑʍր ijȟ ʍȡțȡȤȞջȟȧȟ Բȟ ıԼȜչIJįț).
63 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memo-
rik, München 2004, 326 billigt Thukydides daher zu, er sei der „erste kritische Histo-
riker“ gewesen.
64 4,118-119 (Waffenstillstand zwischen Athen und Sparta); 5,18-19 (Friede zwischen
Athen und Sparta); 5,23-24 (Bündnis zwischen Athen und Sparta); 5,47 (Bündnis
Athens mit Argos, Mantineia und Elis); 5,77 (Friede zwischen Sparta und Argos);
5,79 (Bündnis zwischen Sparta und Argos); 8,18 (1. Bündnis zwischen Sparta und
dem Perserkönig); 8,37 (2. Bündnis zwischen Sparta und dem Perserkönig); 8,58 (3.
Bündnis zwischen Sparta und dem Perserkönig). Ob Thukydides diese Urkunden
durch Regesten ersetzt haben würde, wenn er sein Werk hätte vollenden können, ist
in der Forschung umstritten; Gomme / Andrewes / Dover, Commentary V (wie
Anm. 43), 361-379 und andere bejahen die Frage, Hornblower, Commentary II (wie
Anm. 46), 107-122 dagegen verneint sie. Vgl. auch Bernhard Smarczyk, Thucydides
and Epigraphy, in: Brill’s Companion to Thucydides (wie Anm. 43), 495-522.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 71
65 Thuk. 5,20 mit Otto Lendle, Zu Thukydides 5, 20, 2, Hermes 88 (1960), 33-40; vgl.
1,97,2.
66 A. W. Gomme, What Thucydides takes for granted, in: ders., A Historical Commen-
tary on Thucydides, Bd. 1, Oxford 1945, 1-25. Zur Bedeutung des finanziellen Fak-
tors für Thukydides Geschichtsschreibung vgl. Lisa Kallet(-Marx), Money, Expense,
and Naval Power in Thucydides History 1-5.24, Berkeley 1993; dies., Money and the
Corrosion of Power in Thucydides: The Sicilian Expedition and its Aftermath, Berke-
ley 2001.
67 Ähnlich wie Hans-Peter Stahl, Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschicht-
lichen Prozess (Zetemata. Monographien zur Klassischen Altertumswissenschaft 40),
München 1966 betont jetzt auch Mischa Meier, „Die größte Erschütterung für die
Griechen“ – Krieg und Naturkatastrophen im Geschichtswerk des Thukydides, Klio
87 (2005), 329-345, dass Thukydides vor allem die Unberechenbarkeit des geschicht-
lichen Geschehens habe verdeutlichen wollen. Seine Auffassung, der Peloponnesi-
sche Krieg sei „in den Augen des Thukydides eine ȜտȟșIJțȣ, ein Großereignis kosmi-
scher Dimension, in dem Naturgewalten und Kriegsglück dem Faktor Mensch
gegenüberstanden“ (342) gewesen, beruht jedoch auf einer Interpretation der soge-
nannten Pathemata-Liste (1,23,2-3), die schon deswegen kaum haltbar ist, weil es dort
heißt, all diese in 1,23,3 erwähnten Naturkatastrophen hätten die Griechen zugleich
mit diesem Krieg (Ȟıijո ijȡףİı ijȡ ףʍȡȝջȞȡȤ ԕȞį) heimgesucht. Sie wurden also von
Thukydides als Begleitumstände, nicht als integrale Bestandteile des Krieges aufge-
fasst.
68 Dazu jetzt eingehend William D. Furley, Thucydides and Religion, in: Brill’s Com-
panion to Thucydides (wie Anm. 43), 415-438. Dass Thukydides mitunter dazu neig-
72 Hans-Ulrich Wiemer
te, religiöse Faktoren zu unterschätzen, zeigt Simon Hornblower, The Religious Di-
mension to the Peloponnesian War, or, What Thucydides does not tell us, Harvard
Studies in Classical Philology 94 (1992), 169-197.
69 Thuk. 1,23,5-6: İțցijț İ’ ԤȝȤIJįȟ, ijոȣ įԼijտįȣ ʍȢȡփȗȢįȦį ʍȢijȡȟ Ȝįվ ijոȣ İțįĴȡȢչȣ, ijȡ ףȞս
ijțȟį Șșij׆IJįտ ʍȡijı ԚȠ ՑijȡȤ ijȡIJȡףijȡȣ ʍցȝıȞȡȣ ijȡהȣ ԫȝȝșIJț ȜįijջIJijș. ijռȟ Ȟպȟ ȗոȢ
ԐȝșȚıIJijչijșȟ ʍȢցĴįIJțȟ, ԐĴįȟıIJijչijșȟ İպ ȝցȗ, ijȡւȣ ԘȚșȟįտȡȤȣ ԭȗȡףȞįț ȞıȗչȝȡȤȣ
ȗțȗȟȡȞջȟȡȤȣ Ȝįվ ĴցȖȡȟ ʍįȢջȥȡȟijįȣ ijȡהȣ ȂįȜıİįțȞȡȟտȡțȣ ԐȟįȗȜչIJįț Ԛȣ ijր ʍȡȝıȞıהȟǝ įԽ
İ’ Ԛȣ ijր ĴįȟıȢրȟ ȝıȗցȞıȟįț įԼijտįț įՁİ’ ԲIJįȟ ԛȜįijջȢȧȟ, ԐĴ’ կȟ ȝփIJįȟijıȣ ijոȣ IJʍȡȟİոȣ Ԛȣ
ijրȟ ʍցȝıȞȡȟ ȜįijջIJijșIJįȟ.
70 Ausgezeichnete Analyse bei Eckstein, Thucydides (wie Anm. 12), bes. 762-771; vgl.
auch Anthony Andrewes, Thucydides on the Causes of the War, Classical Quarterly
n. s. 9 (1959), 223-239; Ste. Croix, Peloponnesian War (wie Anm. 49), 50-63; Raphael
Sealey, The Causes of the Peloponnesian War, Classical Philology 70 (1975), 89-109,
hier: 90-97.
71 Thuk. 1,88: ԚȦșĴտIJįȟijȡ İպ ȡԽ ȂįȜıİįțȞցȟțȡț ijոȣ IJʍȡȟİոȣ ȝıȝփIJȚįț Ȝįվ ʍȡȝıȞșijջį
ıՂȟįț ȡ ijȡIJȡףijȡȟ ijȟ ȠȤȞȞչȥȧȟ ʍıțIJȚջȟijıȣ ijȡהȣ ȝցȗȡțȣ ՑIJȡȟ ĴȡȖȡփȞıȟȡț ijȡւȣ
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 73
Wenn Thukydides seinen Lesern nicht bloß klare Erkenntnis des Ver-
gangenen, sondern auch des Zukünftigen verspricht, so liegt dem die
Überzeugung zugrunde, dass es anthropologische Konstanten gibt, die
bewirken, dass sich bestimmte Verhaltensweisen in gleicher oder ähnli-
cher Weise wiederholen. Diese anthropologischen Konstanten lassen
ԘȚșȟįտȡȤȣ Ȟռ Ԛʍվ ȞıהȘȡȟ İȤȟșȚIJțȟ, ՍȢȟijıȣ įijȡהȣ ijո ʍȡȝȝո ij׆ȣ ԧȝȝչİȡȣ ՙʍȡȥıտȢțį
İș Րȟijį.
72 Nicht alle modernen Historiker haben sich diese Sichtweise zu eigen gemacht; vgl.
etwa Joseph Vogt, Das Bild des Perikles bei Thukydides, Historische Zeitschrift 182
(1956), 249-266; auch in: ders., Orbis. Ausgewählte Schriften zur Geschichte des Al-
tertums, Freiburg u. a. 1960, 47-63; Ernst Badian, The Origins of the Peloponnesian
War: A Historian’s Brief, in: ders., From Plataeae to Potidaea. Studies in the History
and Historiography of the Pentecontaetia, Baltimore, Maryland 1993, 125-162; Wolf-
gang Will, Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held (Antiquitas. Rei-
he 1. Abhandlungen zur Alten Geschichte 51), Bonn 2003.
74 Hans-Ulrich Wiemer
sich auf zwei Impulse reduzieren: zum einen das eigennützige Streben
nach Macht und Besitz und zum anderen die Anfälligkeit für Affekte,
die eine rationale Interessenkalkulation verhindern.73 Diese gemessen
an den Anforderungen friedlichen Zusammenlebens defizitäre Grund-
ausstattung des Menschen wirkt sich nach Thukydides innerhalb der
Polis jedoch anders aus als im Verhältnis zwischen den Poleis. Denn
innerhalb der einzelnen Poleis können die egoistischen und irrationalen
Verhaltensneigungen durch Sitte und Gesetz wenigstens im Prinzip im
Zaum gehalten werden. Im Verhältnis zwischen den Poleis dagegen
wirken diese Impulse ungebremst, da es keine Instanz gibt, an welche
im Konfliktfall appelliert werden könnte.74
Thukydides ist darum der Überzeugung, dass alle Staaten von Na-
tur aus danach streben, andere Staaten zu beherrschen. Im zwischen-
staatlichen Bereich gibt es für ihn nur die Alternative Freiheit (eleuthe-
ria) oder Sklaverei (douleia). Da er Freiheit als unumschränkte Hand-
lungsfähigkeit versteht, schließt sie die Herrschaft über andere ein: Nur
wer für seine eigenen Befehle Gehorsam fordern kann, darf sicher sein,
niemals anderen gehorchen zu müssen, und ist daher im Vollsinne des
Wortes frei. Und da die Staaten über ganz unterschiedliche Machtmittel
verfügen, ist die Staatenwelt für Thukydides stets hierarchisch geglie-
dert; es gibt immer führende und geführte, herrschende und beherrsch-
te Staaten. Bis zu den Perserkriegen lag die Führung bei den Sparta-
nern, deren Herrschaftsmittel der Peloponnesische Bund war; nach der
Abwehr der persischen Invasion erstand ihnen in den Athenern und
deren Bundesgenossen ein Konkurrent, der sie bald zu überflügeln
drohte. Es wurde bereits erwähnt, dass Thukydides in der Furcht der
Spartaner vor dem Verlust seiner Bundesgenossen und damit seiner
führenden Stellung auf der Peloponnes die tiefste Ursache des Pelo-
ponnesischen Krieges sah. Der Appell an Bindungen, die aus dem Re-
spekt vor göttlichen und menschlichen Ordnungen, insbesondere an
Eide oder an ethnische Verwandtschaft, resultieren, muss für Thukydi-
75 Vgl. Simon Hornblower, Thucydides and ȠȤȗȗջȟıțį (kinship), in: ders., Commentary
II (wie Anm. 46), 61-80; Christopher Jones, Kinship Diplomacy in the Ancient World,
Cambridge, Mass. 1999. Die epigraphischen Zeugnisse hat Olivier Curty, Les paren-
tés légendaires entre cités grecques; catalogue raisonnée des inscriptions contenant
le terme Syngeneia et analyse critique, Genf 1995 zusammengestellt.
76 Vgl. dazu etwa de Romilly, Thucydides (wie Anm. 10), 272-310; Stahl, Thukydides
(wie Anm. 67), 158-171; Gomme / Andrewes / Dover, Commentary IV, (wie Anm. 43)
159-164; 181-188; Luciano Canfora, Tucidide e l’impero. La presa di Melo, Rom / Bari
1991, 22000 sowie jetzt Wolfgang Will, Der Untergang von Melos: Machtpolitik im
Urteil des Thukydides und einiger Zeitgenossen, Bonn 2006.
77 Die Frage, ob Melos zu diesem Zeitpunkt tatsächlich neutral war (vgl. dazu etwa
Gomme / Andrewes / Dover, Commentary V [wie Anm. 43], 156-158) kann hier auf
sich beruhen, da es für das Verständnis des Melierdialogs allein darauf ankommt,
dass Thuykdides die Insel als neutral darstellt.
76 Hans-Ulrich Wiemer
ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der
Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten. Wegen eurer Spartaner-
hoffnung aber, die ihr hegt, sie würden um ihrer Ehre willen euch gewiß
helfen, da preisen wir euch selig für eure naive Unkenntnis alles Schlech-
ten, ohne eure Torheit zu neiden. Die Spartaner nämlich betragen sich un-
tereinander und nach ihren Landesgesetzen ohne Fehl und Tadel; aber ge-
gen die andern könnte man vieles erzählen, wie sie sich betragen, und mit
einem Wort etwa so sagen: kein Volk, das wir kennen, erklärt so unverhoh-
len wie sie das Angenehme für schön und das Nützliche für gerecht. Eine
solche Haltung ist jedoch eurer wider die Vernunft erhofften Rettung nicht
günstig.“78
Diese Analyse wird durch den Fortgang der Ereignisse auf fürchterli-
che Weise bestätigt: Da die Melier sich standhaft weigern, dem atheni-
schen Seebund beizutreten, wird ihre Stadt von den Athenern mit Hilfe
ihrer Bundesgenossen belagert und schließlich, da göttliche Hilfe eben-
so ausbleibt wie solche aus Sparta, eingenommen. Die erwachsenen
Männer werden hingerichtet, Frauen und Kinder in die Sklaverei ver-
kauft (5,116,4). Die Lehre, die Thukydides seinen Lesern vermittelt, ist
eindeutig: Wer sich angesichts überlegener militärischer Macht auf die
Götter oder auf sentimentale Bindungen verlässt, spielt mit seinem
Leben.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als rede Thukydides hier
einem vermeintlichen „Recht des Stärkeren“ das Wort.79 Diese Auffas-
78 Thuk. 5,105: ǺĭǿȄǺȀȆȀǝ Ȋ׆ȣ Ȟպȟ ijȡտȟȤȟ ʍȢրȣ ijր Țıהȡȟ ıȞıȟıտįȣ ȡİ’ ԭȞıהȣ ȡԼցȞıȚį
ȝıȝıտȦıIJȚįțǝ ȡİպȟ ȗոȢ ԤȠȧ ij׆ȣ ԐȟȚȢȧʍıտįȣ ijȟ Ȟպȟ Ԛȣ ijր Țıהȡȟ ȟȡȞտIJıȧȣ, ijȟ İ’ Ԛȣ
IJĴֻȣ įijȡւȣ ȖȡȤȝսIJıȧȣ İțȜįțȡףȞıȟ Ԯ ʍȢչIJIJȡȞıȟ. ԭ ȗ ȡ փ Ȟ ı Ț į ȗ ո Ȣ ij ց ij ı
Țıהȡȟ İցȠׄ ijր ԐȟȚȢօʍıțցȟ ijı IJįĴȣ İțո ʍįȟijրȣ ՙʍր
ĴփIJıȧȣ ԐȟįȗȜįտįȣ, ȡ՟ Ԓȟ ȜȢįijׇ, ԔȢȥıțȟǝ Ȝįվ ԭȞıהȣ ȡ՜ijı
Țջȟijıȣ ijրȟ ȟցȞȡȟ ȡ՜ijı ȜıțȞջȟ ʍȢijȡț ȥȢșIJչȞıȟȡț, Րȟijį
İպ ʍįȢįȝįȖցȟijıȣ Ȝįվ ԚIJցȞıȟȡȟ Ԛȣ įԼıվ ȜįijįȝıտȦȡȟijıȣ
ȥȢօȞıȚį įij, ıԼİցijıȣ Ȝįվ ՙȞֻȣ Ԓȟ Ȝįվ ԔȝȝȡȤȣ Ԛȟ ijׇ
į ij ׇİ Ȥ ȟ չ Ȟ ı ț ԭ Ȟ הȟ ȗ ı ȟ ȡ Ȟ ջ ȟ ȡ Ȥ ȣ İ Ȣ ȟ ij į ȣ Ԓ ȟ ij į ij ց . Ȝįվ ʍȢրȣ
Ȟպȟ ijր Țıהȡȟ ȡ՝ijȧȣ ԚȜ ijȡ ףıԼȜցijȡȣ ȡ ĴȡȖȡփȞıȚį ԚȝįIJIJօIJıIJȚįțǝ ij׆ȣ İպ Ԛȣ
ȂįȜıİįțȞȡȟտȡȤȣ İցȠșȣ, ԯȟ İțո ijր įԼIJȥȢրȟ İռ ȖȡșȚսIJıțȟ ՙȞהȟ ʍțIJijıփıijı įijȡփȣ,
ȞįȜįȢտIJįȟijıȣ ՙȞȟ ijր ԐʍıțȢցȜįȜȡȟ ȡ ȘșȝȡףȞıȟ ijր ԔĴȢȡȟ. ȂįȜıİįțȞցȟțȡț ȗոȢ ʍȢրȣ
IJĴֻȣ Ȟպȟ įijȡւȣ Ȝįվ ijո ԚʍțȥօȢțį ȟցȞțȞį ʍȝıהIJijį ԐȢıij ׇȥȢȟijįțǝ ʍȢրȣ İպ ijȡւȣ ԔȝȝȡȤȣ
ʍȡȝȝո Ԕȟ ijțȣ Ԥȥȧȟ ıԼʍıהȟ թȣ ʍȢȡIJĴջȢȡȟijįț, ȠȤȟıȝքȟ ȞչȝțIJij’ Ԓȟ İșȝօIJıțıȟ Ցijț
ԚʍțĴįȟջIJijįijį կȟ ՀIJȞıȟ ijո Ȟպȟ ԭİջį Ȝįȝո ȟȡȞտȘȡȤIJț, ijո İպ ȠȤȞĴջȢȡȟijį İտȜįțį. Ȝįտijȡț
ȡ ʍȢրȣ ij׆ȣ ՙȞıijջȢįȣ ȟףȟ ԐȝցȗȡȤ IJȧijșȢտįȣ ԭ ijȡțįփijș İțչȟȡțį. Ganz ähnlich äußern
sich die athenischen Gesandten auf der Versammlung des Peloponnesischen Bun-
des, die 432 dem Kriegsbeschluss Spartas vorherging (1,76,2), und der syrakusani-
sche Politiker Hermokrates auf dem Friedenskongress in Gela 424 (4,61,5).
79 Dass der Stärkere ein Recht habe, über den Schwächeren zu herrschen, diese These
vertritt erst der Sophist Kallikles in Platons Dialog „Gorgias“ (483d); in Platons
„Staat“ wird sie durch den Sophisten Thrasymachos zu der Behauptung zugespitzt,
gerecht sei, was dem Stärkeren nütze (338c).
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 77
80 Dass Nietzsche in Thukydides einen geistigen Ahnherrn erblickt hat, steht auf einem
anderen Blatt, was hier freilich nicht näher ausgeführt werden kann; das Thema
verdient eine eingehende Untersuchung. Völlig unzureichend ist der Beitrag von Ole
Schütza, Nietzsche und Thukydides: Thukydides’ Herleitung des „Allgemein-
Menschlichen“ aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezep-
tion durch Nietzsche, in: Hans M. Gerlach u. a. (Hgg.), Antike und Romantik bei
Nietzsche (Nietzscheforschung 11), Berlin 2004, 223-229.
81 Vgl. dazu etwa Luschnat, Thukydides (wie Anm. 43), 1250-1252; Leppin, Thukydi-
des (wie Anm. 10), 132-184.
82 Auch die „Pestbeschreibung“ ist von der Forschung schon oftmals behandelt wor-
den, u. a. von Denys L. Page, Thucydides’ Description of the Great Plague at Athens,
Classical Quarterly n. s. 3 (1953), 97-119; Karl-Heinz Leven, Thukydides und die
‚Pest’ in Athen, Medizinhistorisches Journal 26 (1991), 128-160; Mischa Meier, Beo-
bachtungen zu den sogenannten Pestschilderungen bei Thukydides II 47-56 und
Prokop, Bell. Pers. II 22-23, Tyche 14 (1999), 177-210.
78 Hans-Ulrich Wiemer
reich waren und plötzlich dahinstarben, und solchen, die vorher nichts be-
saßen und sofort den Besitz jener in Händen hatten. So meinten sie, man
müsse den Genuß rasch und lediglich im Hinblick auf die Lust des Augen-
blicks machen, da Leib und Geld ohne Unterschied Eintagsgüter seien.
Und sich vorher um das, was einmal anständig erschienen war, Mühe zu
machen, war keiner willens, denn er hielt es für ganz dunkel, ob er nicht
zugrunde gehen würde, ehe er dazu käme. Was aber unmittelbar lustvoll
und in jeder Hinsicht dazu vorteilhaft war, das erhielt für sie die Bedeu-
tung von anständig und nützlich. Kein Respekt vor den Göttern und kein
menschliches Gesetz hielt sie davon zurück, denn nach ihrem Urteil war es
einerlei, fromme Ehrfurcht zu hegen oder nicht, da sie sahen, dass alle oh-
ne Unterschied zugrunde gingen. Für seine Vergehungen aber erwartete
keiner, Strafe leisten zu müssen (weil er nicht glaubte), bis zur Vergeltung
noch zu leben; viel größer sei die, die ohnehin schon über sie verhängt sei
und über ihnen schwebe, und bevor die hereinbreche, sei es billig, noch
etwas vom Leben zu haben.“83
83 Thuk. 2,53: ȇȢijցȟ ijı ԲȢȠı Ȝįվ Ԛȣ ijԖȝȝį ij ׇʍցȝıț Ԛʍվ ʍȝջȡȟ ԐȟȡȞտįȣ ijր ȟցIJșȞį. ּעȡȟ
ȗոȢ ԚijցȝȞį ijțȣ ԓ ʍȢցijıȢȡȟ ԐʍıȜȢփʍijıijȡ Ȟռ ȜįȚ’ ԭİȡȟռȟ ʍȡțıהȟ, ԐȗȥտIJijȢȡĴȡȟ ijռȟ
ȞıijįȖȡȝռȟ ՍȢȟijıȣ ijȟ ijı ıİįțȞցȟȧȟ Ȝįվ įԼĴȟțİտȧȣ ȚȟׄIJȜցȟijȧȟ Ȝįվ ijȟ ȡİպȟ
ʍȢցijıȢȡȟ ȜıȜijșȞջȟȧȟ, ıȚւȣ İպ ijԐȜıտȟȧȟ Ԛȥցȟijȧȟ. խIJijı ijįȥıտįȣ ijոȣ ԚʍįȤȢջIJıțȣ Ȝįվ
ʍȢրȣ ijր ijıȢʍȟրȟ ԬȠտȡȤȟ ʍȡțıהIJȚįț, ԚĴսȞıȢį ijչ ijı IJօȞįijį Ȝįվ ijո ȥȢսȞįijį ՍȞȡտȧȣ
ԭȗȡփȞıȟȡț. Ȝįվ ijր Ȟպȟ ʍȢȡIJijįȝįțʍȧȢıהȟ ij İցȠįȟijț Ȝįȝ ȡİıվȣ ʍȢցȚȤȞȡȣ Բȟ, Ԕİșȝȡȟ
ȟȡȞտȘȧȟ ıԼ ʍȢվȟ Ԛʍ’ įijր ԚȝȚıהȟ İțįĴȚįȢսIJıijįțǝ Ցijț İպ İș ijı ԭİւ ʍįȟijįȥցȚıȟ ijı Ԛȣ
įijր ȜıȢİįȝջȡȟ, ijȡףijȡ Ȝįվ Ȝįȝրȟ Ȝįվ ȥȢսIJțȞȡȟ ȜįijջIJijș. Țıȟ İպ ĴցȖȡȣ Ԯ ԐȟȚȢօʍȧȟ
ȟցȞȡȣ ȡİıվȣ ԐʍıהȢȗı, ijր Ȟպȟ ȜȢտȟȡȟijıȣ Ԛȟ ՍȞȡտ Ȝįվ IJջȖıțȟ Ȝįվ Ȟռ ԚȜ ijȡ ףʍչȟijįȣ ՍȢֻȟ
Ԛȟ ՀIJ ԐʍȡȝȝȤȞջȟȡȤȣ, ijȟ İպ ԑȞįȢijșȞչijȧȟ ȡİıվȣ ԚȝʍտȘȧȟ ȞջȥȢț ijȡ ףİտȜșȟ ȗıȟջIJȚįț
Ȗțȡւȣ Ԓȟ ijռȟ ijțȞȧȢտįȟ Ԑȟijțİȡףȟįț, ʍȡȝւ İպ ȞıտȘȧ ijռȟ İș ȜįijıȦșĴțIJȞջȟșȟ IJĴȟ
ԚʍțȜȢıȞįIJȚ׆ȟįț, ԯȟ ʍȢվȟ ԚȞʍıIJıהȟ ıԼȜրȣ ıՂȟįț ijȡ ףȖտȡȤ ijț ԐʍȡȝįףIJįț.
84 Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den grie-
chischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. (Vestigia. Beiträge zur Alten Ge-
schichte 35), München 1985.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 79
Die Klage über den durch den Krieg bewirkten Sittenverfall innerhalb
einzelner Poleis lässt erkennen, welche Bedeutung Thukydides der
Polis beimisst: Sie ist die einzige Instanz, die den Einzelnen nicht bloß
gegen Angriffe von außen schützen, sondern auch im Inneren Recht
und Ordnung garantieren kann. Darum sind die Interessen der Polis
85 Thuk. 3,82,1-2: Ȇ՝ijȧȣ ըȞռ <ԭ> IJijչIJțȣ ʍȢȡȤȥօȢșIJı, Ȝįվ ԤİȡȠı Ȟֻȝȝȡȟ, İțցijț Ԛȟ ijȡהȣ
ʍȢօijș Ԛȗջȟıijȡ, Ԛʍıվ ՝IJijıȢցȟ ȗı Ȝįվ ʍֻȟ թȣ ıԼʍıהȟ ijր ԧȝȝșȟțȜրȟ ԚȜțȟսȚș, İțįĴȡȢȟ
ȡIJȟ ԛȜįIJijįȥȡ ףijȡהȣ ijı ijȟ İսȞȧȟ ʍȢȡIJijչijįțȣ ijȡւȣ ԘȚșȟįտȡȤȣ ԚʍչȗıIJȚįț Ȝįվ ijȡהȣ
Ռȝտȗȡțȣ ijȡւȣ ȂįȜıİįțȞȡȟտȡȤȣ. Ȝįվ Ԛȟ Ȟպȟ ıԼȢսȟׄ ȡȜ Ԓȟ Ԛȥցȟijȧȟ ʍȢցĴįIJțȟ ȡİ’
ԛijȡտȞȧȟ <Րȟijȧȟ> ʍįȢįȜįȝıהȟ įijȡփȣ, ʍȡȝıȞȡȤȞջȟȧȟ İպ Ȝįվ ȠȤȞȞįȥտįȣ ԕȞį ԛȜįijջȢȡțȣ
ij ׇijȟ Ԛȟįȟijտȧȟ ȜįȜօIJıț Ȝįվ IJĴտIJțȟ įijȡהȣ ԚȜ ijȡ ףįijȡ ףʍȢȡIJʍȡțսIJıț ֹעİտȧȣ įԽ
Ԛʍįȗȧȗįվ ijȡהȣ ȟıȧijıȢտȘıțȟ ijț ȖȡȤȝȡȞջȟȡțȣ ԚʍȡȢտȘȡȟijȡ. Ȝ į վ Ԛ ʍ ջ ʍ ı IJ ı ʍ ȡ ȝ ȝ ո
Ȝįվ ȥįȝıʍո Ȝįijո IJijչIJțȟ ijįהȣ ʍցȝıIJț, ȗțȗȟցȞıȟį Ȟպȟ Ȝįվ
įԼıվ ԚIJցȞıȟį, ԥȧȣ Ԓȟ ԭ įijռ ĴփIJțȣ ԐȟȚȢօʍȧȟ ֜, Ȟֻȝȝȡȟ
İպ Ȝįվ ԭIJȤȥįտijıȢį Ȝįվ ijȡהȣ ıՀİıIJț İțșȝȝįȗȞջȟį, թȣ Ԓȟ
ԥȜįIJijįț įԽ ȞıijįȖȡȝįվ ijȟ ȠȤȟijȤȥțȟ ԚĴțIJijȟijįț. Ԛȟ Ȟպȟ
ȗոȢ ıԼȢսȟׄ Ȝįվ ԐȗįȚȡהȣ ʍȢչȗȞįIJțȟ įՁ ijı ʍցȝıțȣ Ȝįվ ȡԽ
Լİțijįț ԐȞıտȟȡȤȣ ijոȣ ȗȟօȞįȣ ԤȥȡȤIJț İțո ijր Ȟռ Ԛȣ
ԐȜȡȤIJտȡȤȣ ԐȟչȗȜįȣ ʍտʍijıțȟǝ Ս İպ ʍցȝıȞȡȣ ՙĴıȝքȟ ijռȟ
ıʍȡȢտįȟ ijȡ ףȜįȚ’ ԭȞջȢįȟ Ȗտįțȡȣ İțİչIJȜįȝȡȣ Ȝįվ ʍȢրȣ
ijո ʍįȢցȟijį ijոȣ ՌȢȗոȣ ijȟ ʍȡȝȝȟ ՍȞȡțȡה.
80 Hans-Ulrich Wiemer
86 Zu Thukydides’ Urteil über Alkibiades vgl. de Romilly, Thucydides (wie Anm. 10),
195-229; Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 149-151; 156-158; 165-167 sowie jetzt
Bruno Bleckmann, Alkibiades und die Athener im Urteil des Thukydides, Histori-
sche Zeitschrift 282 (2006), 561-583.
87 Hartmut Erbse, Die politische Lehre des Thukydides (1969), in: ders., Ausgewählte
Schriften zur Klassischen Philologie, Berlin-West / New York 1979, 221-244, bes. 224-
229; Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 123-131.
88 Thuk. 1,18,1 (Sparta); 8,24,4 (Chios); 8,97,2 (Herrschaft der 5000 in Athen); vgl. dazu
Leppin, Thukydides (wie Anm. 10), 59-106; 171-184.
89 Zu Thukydides’ Urteil über Perikles vgl. etwa de Romilly, Thucydides (wie Anm.
10), 110-155; dies., L’optimisme de Thucydide et le jugement de l’historien sur
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 81
„Denn solange er die Stadt leitete im Frieden, führte er sie mit Mäßigung
und erhielt ihre Sicherheit, unter ihm wurde sie groß, und als der Krieg
ausbrach, da hatte er, wie sich zeigen läßt, auch hierfür die Kräfte richtig
vorausberechnet … Das kam daher, dass er, mächtig durch sein Ansehen
und seine Einsicht und in Gelddingen makellos unbeschenkbar, die Masse
in Freiheit bändigte, selber führend, nicht von ihr geführt, weil er nicht, um
mit unsachlichen Mitteln die Macht zu erwerben, ihr zu Gefallen redete,
sondern genug Ansehen hatte, ihr wohl auch im Zorn zu widersprechen.
Sooft er wenigstens bemerkte, dass sie zur Unzeit sich in leichtherziger Zu-
versicht überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, dass sie ängstlich wur-
den, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte
ihnen Mut. Es war dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit eine
Herrschaft des ersten Mannes.“90
Périclès (Thuc., II.65), Revue des Études Grecques 78 (1965), 557-575; Leppin, Thu-
kydides (wie Anm. 10), 148; 151-154; 161.
90 Thuk. 2,65,5 + 8-10: ՑIJȡȟ ijı ȗոȢ ȥȢցȟȡȟ ʍȢȡփIJijș ij׆ȣ ʍցȝıȧȣ Ԛȟ ij ׇıԼȢսȟׄ, ȞıijȢտȧȣ
ԚȠșȗıהijȡ Ȝįվ ԐIJĴįȝȣ İțıĴփȝįȠıȟ įijսȟ, Ȝįվ Ԛȗջȟıijȡ Ԛʍ’ ԚȜıտȟȡȤ ȞıȗտIJijș, Ԛʍıțİս ijı Ս
ʍցȝıȞȡȣ ȜįijջIJijș, Ս İպ Ĵįտȟıijįț Ȝįվ Ԛȟ ijȡփij ʍȢȡȗȟȡւȣ ijռȟ İփȟįȞțȟ ... įՀijțȡȟ İ’ Բȟ Ցijț
ԚȜıהȟȡȣ Ȟպȟ İȤȟįijրȣ ժȟ ij ijı ԐȠțօȞįijț Ȝįվ ij ׇȗȟօȞׄ ȥȢșȞչijȧȟ ijı İțįĴįȟȣ
ԐİȧȢցijįijȡȣ ȗıȟցȞıȟȡȣ Ȝįijıהȥı ijր ʍȝ׆Țȡȣ ԚȝıȤȚջȢȧȣ, Ȝįվ ȡȜ ȗıijȡ Ȟֻȝȝȡȟ ՙʍ’ įijȡף
Ԯ įijրȣ Բȗı, İțո ijր Ȟռ ȜijօȞıȟȡȣ ԚȠ ȡ ʍȢȡIJșȜցȟijȧȟ ijռȟ İփȟįȞțȟ ʍȢրȣ ԭİȡȟսȟ ijț
ȝջȗıțȟ, Ԑȝȝ’ Ԥȥȧȟ Ԛʍ’ ԐȠțօIJıț Ȝįվ ʍȢրȣ ՌȢȗսȟ ijț Ԑȟijıțʍıהȟ. Սʍցijı ȗȡףȟ įՀIJȚȡțijց ijț
įijȡւȣ ʍįȢո ȜįțȢրȟ ՝ȖȢıț ȚįȢIJȡףȟijįȣ, ȝջȗȧȟ ȜįijջʍȝșIJIJıȟ Ԛʍվ ijր ĴȡȖıהIJȚįț, Ȝįվ
İıİțցijįȣ į՞ Ԑȝցȗȧȣ ԐȟijțȜįȚտIJijș ʍչȝțȟ Ԛʍվ ijր ȚįȢIJıהȟ. Ԛȗտȗȟıijց ijı ȝցȗ Ȟպȟ
İșȞȡȜȢįijտį, ԤȢȗ İպ ՙʍր ijȡ ףʍȢօijȡȤ ԐȟİȢրȣ ԐȢȥս.
91 Thuk. 6,15,3; vgl. dazu Bleckmann, Alkibiades (wie Anm. 86), 561-583.
92 Thuk. 2,65,11-12; 6,15,3; 7,28,3. Vgl. dazu Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage
(wie Anm. 49), 315-333.
82 Hans-Ulrich Wiemer
VI. Schluss
93 Auch wenn die Nachwirkung Herodots früher häufig unterschätzt wurde, war seine
Reputation als Historiker niemals so unumstritten wie die des Thukydides; vgl. etwa
Jacoby, Herodotos (wie Anm. 23), 504-514; Karl-August Riemann, Das herodoteische
Geschichtswerk in der Antike, Diss. München 1967; James A. S. Evans, Father of Hi-
story or Father of Lies: the Reputation of Herodotus, Classical Journal 64 (1968), 11-
17, auch in: ders., The Beginnings of History: Herodotus and the Persian Wars,
Campbellville/Ont. 2006, 291-303; Oswyn Murray, Herodotus and Hellenistic Cultu-
re, Classical Quarterly n. s. 22 (1972), 200-213. Zur Thukydides-Rezeption in der grie-
chisch-römischen Literatur vgl. Heinrich Gottlieb Strebel, Wertung und Wirkung des
thukydideischen Geschichtswerkes in der griechisch-römischen Literatur (Eine lite-
rargeschichtliche Studie nebst einem Exkurs über Appian als Nachahmer des Thu-
kydides), Diss. München 1935; Luschnat, Thukydides (wie Anm. 43), 1266-1311 mit
den Nachträgen in RE Suppl. XIV, 1974, 773-780; Simon Hornblower, The Fourth
Century and Hellenistic Reception of Thucydides, Journal of Hellenic Studies 115
(1995), 47-68; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage (wie Anm. 49), 200-266
(über den Autor der „Hellenica Oxyrhynchia“ als Fortsetzer und Rivalen des Thu-
kydides); Luciano Canfora, Thucydides in Rome and Late Antiquity, in: Brill’s Com-
panion to Thucydides (wie Anm. 43), 721-753.
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 83
Aus der Literatur des 19. Jahrhunderts bleiben die Studien von
Wilhelm Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer
Einleitung zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen
1842 und Eduard Meyer, Thukydides, in: ders., Forschungen zur Alten
Geschichte, Bd. 2: Zur Geschichte des 5. Jahrhunderts, Halle 1899, 269-
436 lesenswert; eine Bilanz des Forschungsstandes, wie er sich um 1900
darstellte, zog aus althistorischer Sicht Georg Busolt, Griechische Ge-
schichte bis zur Schlacht von Chaironeia, Bd. 3, 2: Der Peloponnesische
Krieg, Gotha 1904, 616-693. Die philologische Forschung zu Thukydi-
des stand in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts im Banne der von Franz Wolfgang Ullrich, Beiträge zur Erklä-
rung des Thukydides, Hamburg 1846, ND Darmstadt 1968 aufgewor-
fenen Frage, ob das uns überlieferte Werk aus einem Guss ist oder
vielmehr Spuren einer sukzessiven Entstehung an sich trägt; diese Fra-
ge galt lange Zeit als die thukydideische schlechthin. Das bedeutendste
Werk dieser Forschungsrichtung ist Eduard Schwartz, Das Ge-
schichtswerk des Thukydides, Berlin 1919, 19292, ND Hildesheim 1960
der aus einer komplizierten Schichtenanalyse den Schluss zog, Thuky-
dides habe sich unter dem Eindruck des verlorenen Krieges aus einem
kritisch distanzierten Historiker zum Apologeten des Perikles gewan-
delt. Die Frage nach der Entstehung des thukydideischen Geschichts-
werks kam erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der
Mode und wird heute meist ausdrücklich oder stillschweigend dahin-
gehend beantwortet, dass das Werk, so wie es überliefert ist, eine kon-
zeptionelle Einheit bilde. Indessen findet die analytische Position nach
wie vor Anhänger, zuletzt bei Wolfgang Will, Thukydides und Peri-
kles: Der Historiker und sein Held, Bonn 2003.
Als Analyse des politischen Denkens des Thukydides genießt die
Monographie von Jacqueline de Romilly, Thucydide et l’imperialisme
athénien – La pensée de l’historien et la genèse de l’oeuvre, Paris 1947,
19512 zu Recht klassischen Rang; sie ist auch ins Englische übersetzt
worden (Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford 1963). Sie hat
in der Studie von Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der
Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.
Chr. (Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 1), Berlin 1999 ein würdiges
Pendant gefunden. Die Untersuchung von Jonathan J. Price, Thucydi-
des and Internal War, Cambridge 2001 leidet dagegen unter der ver-
fehlten Grundthese, Thukydides habe den Peloponnesischen Krieg als
eine stasis unter Griechen aufgefasst und beschrieben.
In bewusster Wendung gegen Schwartz hat dagegen Hans-Peter
Stahl, Thukydides: Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Pro-
zess (Zetemata. Monographien zur Klassischen Altertumswissenschaft
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit 87
Abstract
Thucydides has long ceased to play a significant role in the debates that
historians lead about the nature of their craft, he does, however, con-
tinue to exert a strong influence on political science being considered
by many to be the founder of that influential paradigm of international
relations theory known under the name of neo-realism. In this paper,
Thucydides is analyzed as a representative of a specifically Greek view
of history. In Ancient Greece, the writing of history was undertaken
neither on the order of rulers nor in the name of a religious community.
Like his predecessors, Thucydides held no social authority to record
past events and his view of the war he described is that of an observer
not bound to any of the warring parties. The consequences of this rela-
tive autonomy were twofold: while as a writer of history Thucydides
enjoyed a degree of intellectual freedom that was lacking in many an-
cient cultures, his work was prevented from becoming an integral of
the culture of memory in any particular Greek polis until finally the
Romans put an end to the permanent struggles of the Greeks against
each other. Although Thucydides developed a sophisticated theory on
how to investigate events far distant in time, he was convinced that
both the course and the causes of events can only be established with
certainty if their investigation is based on autopsy or the testimony of
eyewitnesses. His analysis of the causes of the Peloponnesian War is
based on anthropological assumptions he derived from experiencing
half a century of warfare between two hegemonial powers, Sparta and
Athens: he believed that all states rule whenever they can and that this
perennial struggle for hegemony leaves smaller states with no reason-
able alternative to yielding their freedom to stronger powers.
Die homerische Frage:
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur
Zeit mündlicher Dichtung
Rainer Thiel
1 Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer über „Thukydides und die griechische
Sicht der Vergangenheit“ in diesem Band (49-88).
2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen, Berlin 1884, III.
90 Rainer Thiel
dende Kunst ebenso wie die Literatur geschöpft hat und bis heute
schöpft – die aber kaum als ein Medium der Geschichtsdarstellung,
geschweige denn als historiographische Literatur im engeren Sinne
gelten kann.
Die uns vertraute Scheidung zwischen fiktionaler Literatur und do-
kumentarischer Geschichtsdarstellung ist in dieser Form im archai-
schen und klassischen Griechenland indessen unbekannt. Zwar ist auch
der Antike der fiktionale Charakter von Literatur nicht entgangen.
Aber er wird gerade nicht als konstanter Zug dichterischer Produktion,
geschweige denn als Vorzug der dichterischen Einbildungskraft ge-
rühmt, sondern im Gegenteil als ein Mangel gescholten, der leider eher
die Regel als die Ausnahme ist. So lässt bereits Hesiod, ungefährer
Zeitgenosse Homers und neben ihm der zweite Dichter, den man in der
Antike als panhellenischen Kultur- und damit Identitätsstifter aner-
kannte, in der Darstellung seiner berühmten Dichterweihe im Proömi-
um der ‚Theogonie‘ die Musen auf dem Helikon sagen: „Wir wissen
viel Falsches zu sagen, das wahrem ähnlich ist, wissen aber, wenn wir
wollen, auch einmal wahres zu verkünden.“3 Diese Musen betrauen
ihn, Hesiod (man soll verstehen: im Unterschied zu vielen anderen
Dichtern), mit der Verkündung der Wahrheit, wodurch der Dichter für
sich gerade in Abgrenzung von seinen Kollegen einen Wahrheitsan-
spruch, ja einen exklusiven oder jedenfalls ausgrenzenden Wahrheits-
anspruch erhebt. Nach Aristoteles ist die Tatsache, dass „Dichter viele
Lügen erzählen“ geradezu sprichwörtlich,4 was nur bestätigt, dass man
mit einem Anspruch des Dichters rechnete, faktische Wahrheit zu bie-
ten, den man eingelöst wissen wollte, aber nur zu oft nicht eingelöst
fand. Auch die Rezeption der Dichter reflektiert den Anspruch, in der
poetischen Darstellung der Realität faktische Wahrheit zu finden, oder
setzt ihn voraus. Hier kann man etwa auf Thukydides5 verweisen, der
den in der epischen Tradition angegebenen Grund für das vereinte
Vorgehen der Achaier im Trojazug, nämlich den Eid, den Helenas
menschlicher Vater Tyndareos ihren Freiern abgenommen hatte,6 mit
derselben kritischen Selbstverständlichkeit ernstnimmt, diskutiert und
– in diesem Falle – verwirft und durch einen anderen Grund, die Stärke
3 Hes. Theog. 27 f. ՀİȞıȟ Ȧıփİıį ʍȡȝȝո ȝջȗıțȟ ԚijփȞȡțIJțȟ ՍȞȡהį, ՀİȞıȟ İ’, ı՞ij’ ԚȚջȝȧȞıȟ,
ԐȝșȚջį ȗșȢփIJįIJȚįț. Der aoristische Aspekt von ȗșȢփIJįIJȚįț gegenüber dem präsenti-
schen von ȝջȗıțȟ charakterisiert die Wahrheit in der dichterischen Darstellung ge-
genüber der Lüge zur seltenen, von Hesiod mit Stolz für sich in Anspruch genom-
menen Ausnahme.
4 Arist. Metaph. 983a3 f. Ȝįijո ijռȟ ʍįȢȡțȞտįȟ ʍȡȝȝո Ȧıփİȡȟijįț Ԑȡțİȡտ.
5 Thuk. 1,9,1.
6 Hes. Cat, Fragment 204 Merkelbach/West.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 91
7 Die Penthiliden im lesbischen Mytilene (und einen Penthilos) nennt Aristoteles, Pol.
1311b27-29; auch Diogenes Laërtios (1,81) erwähnt in seiner Pittakos-Vita einen
Penthilos.
8 A. Lesky, Mündlichkeit u. Schriftlichkeit im homerischen Epos (1954): in: J. Latacz
(Hg.), Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979, 301.
92 Rainer Thiel
nicht zuletzt auch zur Stärkung der eigenen Bedeutung einen umfas-
senden intellektuellen Führungsanspruch, eine vollkommene Beherr-
schung aller Wissensgebiete überhaupt. Wenn Anfang der 60 er Jahre
Havelock9 sämtliche Dialoge Platons einzig als einen Kampf gegen den
intellektuellen Führungsanspruch der epischen Dichtung, also Homers,
zu lesen versuchte, so war dies fraglos überzogen und, aus dem Blick-
winkel der Platon-Forschung, eine gefährliche Verkürzung. Richtig
daran ist, dass die epische Dichtung nach dem Anspruch ihrer Vertre-
ter und nach der Rezeptionshaltung des Publikums Träger einer Wis-
senstradition war, besonders in Bezug auf historische Gegenstände,
aber nicht auf diese beschränkt.
Aus heutiger Sicht dürfte der Grund für diesen Anspruch des Dich-
ters und die ihm komplementäre Rezeptionshaltung der Hörer in der
Rolle zu suchen sein, die der epischen Dichtung mit dem Erlöschen der
mykenischen Palastkultur des ausgehenden 2. Jahrtausends v.Chr.
zuwuchs. Während es in Griechenland wohl niemals eine schriftliche
literarische Kultur gegeben hatte, dürfte die Administration der Paläste
und der ihnen zugehörigen Territorien einschließlich der damit zu-
sammenhängenden Legitimationsformen schriftlichen Charakter ge-
habt haben. Nach dem Vorbild der orientalischen Großreiche bedienten
sich die wohl bereits griechischen, jedenfalls eine griechische Verwal-
tungssprache verwendenden Paläste für die Verwaltung einer „Line-
ar B“ genannten Schrift, die auf Tontäfelchen fixiert wurde und sich an
einer Reihe von Plätzen (Pylos, Tiryns; Knossos) auf durch Brandka-
tastrophen konserviertem Material erhalten hat.10 Diese Täfelchen ha-
ben rein administrativen Charakter, und nichts spricht dafür, dass ein-
mal Literatur in der nur notdürftig an das Griechische angepassten,
1956 entzifferten Schrift niedergelegt wurde. Mit dem Untergang der
mykenischen Palastkultur kurz nach 1100 v. Chr., deren Ursachen un-
geklärt sind und sich wohl auch nicht mehr klären lassen, erlischt,
wenn der Anschein nicht trügt, im griechischen Mutterland jede
Schriftlichkeit.11 Einzig auf Zypern wird es eine kontinuierliche Tradi-
tion gegeben haben, die von Linear B zu der in den Zeichen ähnlichen,
aber sehr viel besser an die griechische Sprache angepassten kypri-
schen Silbenschrift geführt hat. Aus heutiger Sicht fällt jedenfalls nach
unter Verwendung der Schrift entstanden sind, gilt heute der überwie-
genden Mehrheit der deutschsprachigen und vielen anglophonen Ho-
merforschern als sicher oder zumindest wahrscheinlich. Die komplexe
Frage des näheren Wie ihrer Entstehung kann hier beiseite bleiben.
Für unsere Zwecke genügt es, festzuhalten, dass die beiden erhal-
tenen Großepen zwar deutliche Spuren einer Entstehung unter Zuhil-
fenahme der Schrift aufweisen – diese verraten sich insbesondere in
ausgearbeiteten Fernbeziehungen über viele Bücher hinweg, die man
so in rein mündlichen Sängertraditionen (etwa der südslawischen), die
man zum Vergleich herangezogen hat, nicht finden kann, – in vieler
Hinsicht lassen sie jedoch ihre Herkunft aus einer oral-auralen Traditi-
on erkennen. Der Dichter-Sänger, der in dieser Tradition steht und ihre
Technik beherrscht, komponiert den Text eines Gedichts, dessen kom-
positorische Struktur und Handlungsablauf natürlich bereits erdacht
und überlegt ist, während des Vortrags. Aufgrund der Erwartungen
der Hörer steht er unter dem Druck, ohne längere Pausen kontinuier-
lich fortzuschreiten. Die Gesetze vergleichbarer moderner epischer
Sängertraditionen auf dem Balkan, namentlich der jugoslawischen, die
zu Zeiten des Habsburger Kaiserreichs ebenso wie des blockfreien Ju-
goslawien westlicher Feldforschung zugänglich waren, wurden schon
vor dem ersten Weltkrieg von M. Murko und danach von dem bereits
im Alter von 33 Jahren sehr früh verstorbenen Milman Parry und seiner
Schule, insbesondere seinem Schüler A. B. Lord untersucht.12 Diese
Schule hat bis heute, besonders im anglophonen Raum, entschiedene
Anhänger, und viele ihrer Einsichten sind unbestritten. Parry ging von
Beobachtungen aus, die in der Homerforschung vor ihm längst bekannt
gewesen waren, kam jedoch zu Ergebnissen, die im damaligen Kontext
des Streits zwischen Unitarismus und Analyse, auf den gleich näher
einzugehen ist, in der kontinentaleuropäischen Homerforschung kaum
auf fruchtbaren Boden stoßen konnten. Ergebnis war eine jahrzehnte-
lange Teilung der Homerforschung in einen eher progressiven, von der
Oral-Poetry-Forschung bestimmten angloamerikanischen Teil und
einen stärker traditionellen kontinentaleuropäischen Teil. Beide Ansät-
ze hatten durchaus ihre Berechtigung, litten jedoch daran, sich in ihrer
Teilung nicht wechselseitig befruchten zu können. Diese Teilung wur-
de erst seit den 50 er Jahren durch Albin Lesky (Wien) und dann be-
12 Mathias Murko, Neues über südslavische Volksepik (1919): in Latacz, Homer (wie
Anm. 8), 118-152. Milman Parry, L’Épithète traditionelle dans Homère. Essai sur un
problème de style Homérique, Thèse Paris 1928; jetzt am leichtesten in englischer
Übersetzung zugänglich: Adam Parry (Hrsg.), The Making of Homeric Verse. The
Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971, 1-190. Albert B. Lord, The Singer of
Tales (1960), Cambridge/Mass. 22001; ders., The Singer resumes the Tale, Ithaca 1995.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 95
sonders seit den 70 er Jahren durch Joachim Latacz (zuletzt Basel) lang-
sam überwunden.
Kern der Leistung der von Milman Parry begründeten Forschungs-
richtung ist die Erkenntnis, dass der epische Dichter in Griechenland,
insoweit ähnlich wie mündlich komponierende Dichter anderer, auch
moderner Traditionen,13 unter den Bedingungen einer extemporieren-
den, unter dem Erwartungsdruck des Publikums stehenden Komposi-
tion sich bei der je neuen oralen Abfassung des Textes einer dichteri-
schen Ökonomie bedient, die nicht wie die schriftlich komponierende
Dichtung, die uns aus der hellenistisch-römisch-abendländischen Tra-
dition bekannt ist, bei der Schaffung eines Werkes die je beste erreich-
bare Formulierung für den jeweiligen Zweck sucht – dazu bleibt unter
den Kompositionsbedingungen oral-auraler Dichtung schlichtweg kei-
ne Zeit –, sondern vielmehr dazu neigt, für vergleichbare Gegenstände
gleiche oder ähnliche Formulierungen immer wieder zu verwenden.
Beobachtet man also solche gleichen oder ähnlichen Formulierungen in
‚Ilias‘, ‚Odyssee‘, in den Homerischen Hymnen oder auch bei Hesiod,
so ist die Annahme eines Zitats oder einer literarischen Abhängigkeit,
die die Homerforschung analytischer Prägung in solchen Fällen stets
leitete, keineswegs naheliegend. Vielmehr schöpft der epische Dichter
aus einer Fülle bereits geprägter, festgefügter und traditionell vorgege-
bener Formulierungen, die teils bestimmte Versteile, teils ganze Verse
oder Versgruppen umfassen.
Parry hatte diesen Zusammenhang in seiner Thèse an der Sorbonne
erstmals 192814 mit großer philologischer Genauigkeit für die schmü-
ckenden Beiwörter zu Personen- und Götternamen untersucht, die
einen charakteristischen Aspekt des homerischen Stils darstellen und
vom epischen Dichter oft kontextfremd verwendet werden. Ein be-
rühmtes Beispiel dafür ist, dass Aigisth in den ersten Versen der ‚Odys-
see‘ just an der Stelle, wo ihm der Göttervater Zeus massive moralische
Vorwürfe macht, ԐȞփȞȧȟ ‚untadelig‘ genannt wird.15 Parry konnte
wahrscheinlich machen, dass diese Beiwörter den Teil eines Systems
darstellen, das auf die Bereitstellung jeweils einer Kombination aus
Eigenname und Epitheton für jede metrische Position und jeden Casus
angelegt ist, eine Ökonomie, von der es nur einige wenige Ausnahmen
gibt. Parrys Schüler haben, ausgehend von seinen eigenen Studien,
darüber hinaus die Formelhaftigkeit der homerischen Sprache insge-
samt zu erweisen versucht; demnach wäre jede Formulierung bei Ho-
mer formelhaft, nur dass dies angesichts des Verlustes des größten
Teils der Gedichte, die in dieser Tradition stehen, in vielen Fällen nicht
mehr nachweisbar sei. Dieser Ansatz schießt fraglos über das Ziel hin-
aus, zumal neuere Arbeiten wie etwa die Vissers16 gezeigt haben, dass
die wiederkehrenden Formeln nur Ergebnisse einer umfassenden Ver-
sifikationstechnik sind, die neben der Verwendung bereits geprägter
Formulierungen durchaus auch die Schaffung neuer während des im-
provisierenden Kompositionsprozesses erlaubt.
Ich versage es mir, näher auf den heutigen Stand der Homerfor-
schung einzugehen. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, drei
Folgerungen zu ziehen, die für die Beurteilung der Homerkritik des 19.
und des beginnenden 20. Jahrhunderts, der ich mich gleich zuwenden
muss, entscheidend sind.
1. Der epische Dichter verfasst ohne Verwendung der Schrift impro-
visatorisch beim Vortrag Gedichte, deren Struktur und Inhalt er
von seinen Lehrern übernommen hat und in der Zeit seiner eigenen
Tätigkeit als Dichter weiterentwickelt.
2. Der epische Dichter bedient sich dabei eines Repertoires übernom-
mener und selbstgeprägter Formulierungen („Formeln“) und „typi-
scher Szenen“, die sich für eine wiederholte, unbegrenzte Verwen-
dung eignen: festgefügter Formulierungen bis zu immer wieder-
holten Formelversen, ja sogar relativ umfangreicher Darstellungen
oft vorkommender Strukturelemente wie etwa Mahl- oder Rüs-
tungsszenen, die zwar an verschiedenen Stellen mit unterschiedli-
cher Ausführlichkeit eingebunden werden können, für die aber
grundsätzlich immer dieselben Elemente zur Verfügung stehen.17
Er verfügt daneben aber auch über eine Versifikationstechnik, die
es ihm erlaubt, in begrenztem Umfang bei jeder Aufführung auch
frei und neu zu formulieren und zu gestalten.
3. Es liegt daher in der Natur des epischen Gedichtes, dass es, solange
es nicht schriftlich fixiert ist, keine feste Textgestalt gewinnt. Im
einzelnen wechselt die Textgestalt von Aufführung zu Aufführung.
Im Laufe des Dichterlebens können sich durch die fortschreitende
und oft sich verbessernde Gestaltung durch den Dichter auch grö-
ßere Änderungen ergeben. Dies gilt trotz des Bewusstseins des
Dichters, ein übernommenes, traditionelles Lied zu singen, umso
mehr beim Übergang vom einen Dichter zum anderen.
18 J. Latacz, „Tradition und Neuerung in der Homerforschung“: in: Latacz, Homer (wie
Anm. 8), 25-44; Alfred Heubeck, Die homerische Frage, Darmstadt 1974.
19 François Hédelin abbé d’Aubignac, Conjectures académiques, ou Dissertation sur
l’Iliade, ouvrage posthume, trouvé dans les recherches d’un savant, Paris 1715.
98 Rainer Thiel
20 Hier zitiert nach Phileleutherus Lipsiensis (= Richard Bentley), Remarks upon a Late
Discourse upon Free-Thinking, Cambridge 81743, 26: „He [Homer] wrote a sequel of
Songs and Rhapsodies, to be sung by himself for small earnings and good cheer, at
Festivals and other days of Merriment; the Ilias he made for the Men, and the Od-
ysseïs for the other Sex. These loose Songs were not connected together in the form of
an Epic Poem till Pisistratus’s time above 500 years after.“ Die Sicht der Zeit von der
so genannten „Pisistratischen Redaktion“ ist von einer Stelle in Ciceros Schrift ‚Über
den Redner‘ bestimmt (de oratore 3, 137: qui [Pisistratus] primus Homeri libros confusos
antea sic disposuisse dicitur ut nunc habemus). Tatsächlich handelt es sich dabei, wie äl-
tere Quellen (besonders Plat. Hipparch. 228b4-c6; daneben Lykurg, ‚Gegen Leokrates‘
102 und Isokrates, ‚Panegyrikos‘ 159) zeigen, mit Sicherheit nicht um eine Redaktion,
sondern nur um eine Regulierung der athenischen Aufführungspraxis der Homeri-
schen Gedichte.
21 In der zweiten Ausgabe seiner „Scienza nuova“ (1744): Libro terzo, Sezione seconda,
Capitolo primo, hier zitiert nach Giambattista Vico, Opere, a cura di Andrea Battisti-
ni, 2 Bände, Milano 1990. Vgl. besonders I (§ 875) „Che per ciò i popoli greci cotanto
contesero della di lui [Homers] patria e ’l vollero quasi tutti lor cittadino, perché essi
popoli greci furono quest’Omero“ (meine Hervorhebung). Homer wird so zur Idee ei-
nes ganzen Volkes in einem langen Zeitalter, das vom Trojanischen Krieg bis zu den
Zeiten des römischen Königs Numa, also etwa 460 Jahre lang reiche: II (§ 876) „un tal
Omero veramente egli visse per le bocche e nella memoria di essi popoli greci dalla
guerra troiana fin a’ tempi di Numa, che fanno lo spazio di quattrocensessant’anni.“
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 99
22 Thomas Parnell, Essay on the Life, Writings and Learning of Homer: in: The Iliad of
Homer. Translated by Mr. Pope, vol. 1, London 1715.
23 Robert Wood, An Essay on the Original Genius and Writings of Homer: with a
comparative view of the ancient and present state of the Troade. Illustrated with en-
gravings, London 1775.
24 Dazu und zum Verhältnis der (eine schriftliche Literatur voraussetzenden) italieni-
schen Improvisatoren zur epischen Dichtung Griechenlands siehe Bruno Gentili,
Cultura dell’improvviso. Poesia orale colta nel Settecento italiano e poesia greca
dell’età arcaica e classica, in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 6 [35] (1980),
17-59.
100 Rainer Thiel
25 Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer, ins Deutsche übertragen von Her-
mann Muchau, Leipzig o. J. (ca. 1908).
26 Das Folgende nach Latacz, Homer (wie Anm. 8), 29 f.
27 Vgl. dazu Barry B. Powell, Homer and the origin of the Greek alphabet, Cambridge
1994.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 101
Wolf – die Epen von mehreren Dichtern stammen. Des weiteren könne
derartige Dichtung aufgrund der besonderen Entstehungs- und Über-
lieferungsbedingungen textkritisch nicht in derselben Weise behandelt
werden wie die vertrauten schriftlich komponierenden und ihre Werke
in handschriftlicher Form hinterlassenden Dichter späterer Zeit.
Mit Wolfs Prolegomena war damit, wie Latacz herausstellt, „die
Mündlichkeit, die Traditionalität und die Instabilität der Dichtung“
erkannt, „von der uns Ilias und Odyssee Beispiele geben.“28 Mit ihrem
zusammenfassenden, zugleich aber den erreichten Diskussionsstand
mit unübertrefflicher Klarheit und Präzision darstellenden Charakter
schrien sie einerseits nach einer Erforschung der inneren Gesetze der
von Wolf aus äußeren Indizien postulierten Mündlichkeit der Dich-
tung, andererseits nach einer Erforschung von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘,
also insbesondere nach einer Abgrenzung der unterschiedlichen Teile
innerhalb der Großepen, die nach Wolfs Urteil unmöglich von einem
Dichter stammen konnten.
Mit einem berühmt gewordenen dictum hat der bedeutende Wiener
Klassische Philologe Albin Lesky 1954 die Behandlung der homeri-
schen Frage seit Fr. A. Wolf als das „fragwürdigste Kapitel philologi-
scher Forschung“ bezeichnet.29 Die Fragwürdigkeit dieses zentralen
Kapitels der Klassischen Philologie liegt insbesondere darin, dass über
dem Streit über die Abgrenzung der Teile von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘
gegeneinander, der durch die Vorlesungen Karl Lachmanns 1837 und
1841 ausgelöst wurde, der improvisatorisch-mündliche Charakter der
Dichtung, aus der ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ herausgewachsen sind, nahezu
vergessen, jedenfalls in der Praxis philologischer Forschung nicht mehr
berücksichtigt wurde. Das von Wolf eingeschärfte Monitum, Homer
könne nicht behandelt werden wie jeder andere beliebige, seine Werke
schriftlich abfassende Dichter, kam außer Betracht. Die Homeranalyse
Lachmann’scher Prägung versuchte über 70 Jahre hinweg ohne auch
nur die Spur eines Ansatzes für einen Konsens, aus wirklichen oder
vermeintlichen Widersprüchen in der Handlung, Brüchen in der Dar-
stellung oder Inkonsistenzen in der Charakterzeichnung die „Urilias“,
„Einzellieder“, „Einschübe“ oder „Interpolationen“ abzugrenzen, die
demnach erst sekundär von Bearbeitern eingefügt oder zusammenge-
fügt worden wären, die man je nach der kompositorischen Selbständig-
keit, die man ihnen zugestehen wollte, als Dichter, Rhapsoden, Dia-
skeuasten, Redaktoren oder Kompilatoren zu bezeichnen pflegte. Dabei
ging man mit den Bearbeitern überwiegend so um, als ob sie ihnen
schriftlich vorliegende Werke mit Schere und Kleister zu neuen Einhei-
ten zusammengestückt hätten. Diese Konsequenz wurde von den Ana-
lytikern nie gezogen, vielmehr ihnen von ihren marginalisierten Geg-
nern, den so genannten Unitariern, die ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ für Werke
jeweils einer großen Dichterpersönlichkeit hielten, vorgehalten. Die Art
und Weise, wie man mit der Kombination ehemals selbständiger Texte
rechnete, lässt aber keine andere Möglichkeit als eine schriftliche Kom-
bination schriftlicher Vorlagen zu und ist mit dem von Wolf behaupte-
ten Charakter mündlicher Dichtung, wie sie bis Mitte des
19. Jahrhunderts in der Homerphilologie Konsens war, völlig unver-
einbar.
Als Modelle der Entstehung der beiden homerischen Großepen
und ihrer Teilung in ursprünglich selbständige Teile wurde nahezu
alles vertreten, was theoretisch denkbar ist. Ich will mich hier gegen
Ende meines Beitrags auf wenige, grundlegende Modelle, und zwar
vor allem solche für die ‚Ilias‘ beschränken, die in der Homerphilologie
stets weit größere Aufmerksamkeit genoss als die ‚Odyssee‘, wenn-
gleich ab etwa 1860 auch sie etwas stärker in den Blick der Homerkritik
rückte.
Um 1840 machte, wie bereits mehrfach angedeutet, Lachmann mit
seiner Einzelliedertheorie den Anfang, die er schon 1816 an den „Aventi-
uren“ des Nibelungenlieds gewonnen hatte und nunmehr auf die ‚Ilias‘
übertrug.30 Ein Anstoß dazu lag darin, dass die von den alexandrini-
schen Philologen nicht zuletzt aus praktischen Gründen festgelegten 24
Bücher der ‚Ilias‘ (und ‚Odyssee‘) nicht immer mit Einschnitten zwi-
schen Erzähleinheiten zusammenfallen, sondern diese einerseits über-
greifen, während sich andererseits auch mitten in Büchern Grenzen
zwischen Erzähleinheiten feststellen lassen. Während Wolf noch mit
einem ursprünglichen Kern der ‚Ilias‘ eines Homer gerechnet hatte, der
im Laufe der Tradierung und Modifizierung sukzessive erweitert und
verändert worden sei, hielt Lachmann die ‚Ilias‘, und analog die ‚Odys-
see‘ für das Produkt der pisistratischen Redaktion. Vor dieser Redakti-
on um 500 v. Chr. habe es nur 18 Einzellieder gegeben, deren Verbin-
dung zu einer Einheit, eben unserer ‚Ilias‘, sekundär sei.
Während also Lachmann den Schöpfer unserer ‚Ilias‘ zu einem blo-
ßen Redaktor ohne eigenes dichterisches Talent macht, sieht etwa zu
30 Karl Lachmann, Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen
Noth, Berlin 1816; ders., Betrachtungen über Homers Ilias, Berlin 1847.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 103
der gleichen Zeit Nitzsch31 in Homer einen fähigen Dichter, der zwar
eine Vielzahl von bereits existierenden Einzelliedern vorgefunden und
rezipiert habe, aber aus ihnen aus eigenem dichterischem Genie ein
einheitliches Großepos geschaffen habe. Homer wäre demnach zwar
gegenüber seinem Stoff, den er von anderen auf- und übernommen
hätte, später, aber originärer Gestalter der dichterischen Einheit, die
uns mit der ‚Ilias‘ vorliegt.
Auch Hermann,32 ein Philologe, der sich übrigens später unendlich
um die Aufhellung der Technik mündlicher Dichtung verdient ge-
macht hat,33 sah dagegen Homer als Schöpfer einer Kernilias und Kern-
odyssee, die von späteren Dichtern sukzessive erweitert worden sei
(Entwicklungs- oder Erweiterungstheorie). Anders als Wolf, dessen
Position die Hermann’sche freilich sehr ähnelt, rechnet Hermann wie
Nitzsch jedoch damit, dass diesem ursprünglichen Homer bereits Ein-
zellieder vorlagen, die er allerdings souverän durchdrungen und zu
einer Einheit, eben seiner Kernilias gestaltet habe. Um den ursprüngli-
chen Kern der Ilias von, wie er meinte, späteren Zutaten zu scheiden,
die im Laufe des Erweiterungsprozesses dem Gedicht in seiner uns
vorliegenden Form zugewachsen seien, benutzt Hermann (scheinbare
oder wirkliche) Widersprüche in der Darstellung, die sich durch Aus-
scheiden von Teilen beseitigen lassen.
Für die ‚Odyssee‘, deren Struktur durchsichtiger ist als die der ‚Ili-
as‘, ist schließlich die „Kompilationstheorie“ Kirchhoffs34 zu erwähnen,
die davon ausgeht, dass ein ursprünglich selbständiger „Kern“, der
Nostos (die Heimkehr) des Odysseus, von einem späteren, dichterisch
unselbständigen Kompilator oder Redaktor einer „planmässig erwei-
ternde[n] Bearbeitung“ unterzogen worden wäre, bei der zwar substan-
tielle Teile der späteren Odyssee wie die Telemachie hinzukamen, die
es aber nie in der Form eigenständiger Lieder gegeben hatte.
Ich schließe hier meine kurze Übersicht über die Haupttypen der Ana-
lyse der homerischen Gedichte, die sich in zahllosen Varianten und
einer Fülle von Durchführungen im Detail belegen ließen. Die Oral-
Poetry-Forschung, die sachlich, wenngleich nicht immer historisch, an
die Forschung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpft, hat die
hinter diesen Modellen stehende Konzeption schriftlich komponieren-
der und ihre Werke in Schriftform hinterlassender Dichter und schrift-
liche Vorlagen bearbeitender Redaktoren unterschiedlicher dichteri-
scher Befähigung als der Dichtungstradition, in der Homer steht, nicht
gemäß erwiesen. Dies ist aber kein Verdikt über die analytische For-
schung als ganze, die vielmehr die Struktur der homerischen Epen
äußerst detailliert aufgehellt hat.
Vielleicht sind die analytischen Modelle, die zuerst für die Homer-
forschung entwickelt wurden, der orientalischen Literatur einschließ-
lich der biblischen Historiographie gemäßer als der frühgriechischen
Epik, die in ihren beiden Hauptwerken ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ in ihrer
uns vorliegenden Gestalt doch von einer ganz überwiegenden und
dem unvoreingenommenen Leser niemals fragwürdigen Einheitlichkeit
und Kohäsion gekennzeichnet ist. Als Zeuge dafür sei Friedrich Schiller
zitiert, der noch vor dem Beginn des Analytiker-Unitarier-Streits, aber
bereits in Kenntnis der Prolegomena Wolfs und der durch sie vergegen-
wärtigten Probleme der Homerischen Frage schreibt:35
Dafür lese ich in diesen Tagen den Homer mit einem ganz neuen Vergnü-
gen, wozu die Winke die Sie mir darüber gegeben, nicht wenig beitragen.
Man schwimmt ordentlich in einem poetischen Meere, aus dieser Stim-
mung fällt man auch in keinem einzigen Punkte und alles ist ideal bei der
sinnlichsten Wahrheit. Übrigens muß einem, wenn man sich in einige Ge-
sänge hineingelesen hat, der Gedanke an eine Rhapsodische Aneinander-
reihung und an einen verschiedenen Ursprung notwendig barbarisch vor-
kommen, denn die herrliche Kontinuität und Reziprozität des Ganzen und
seiner Teile ist eine seiner wirksamsten Schönheiten.
35 Brief an Johann Wolfgang von Goethe, Jena, den 27. April 1798, hier zitiert nach:
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von
Manfred Betz, (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines
Schaffens, Münchener Ausgabe, Bd. 8. 1), München 1990, 559. Wolfs Thesen sind in
dieser Zeit mehrfach Thema in der Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller.
Modelle der Entstehung literarischer Werke zur Zeit mündlicher Dichtung 105
Abstract
Due to research done by Milman Parry and his oralistic school, we now
think we have a better understanding of oral traditions like the one
Iliad and Odyssey stem from, even though in their present shape (as
many, not only continental, scholars have come to think) they may well
have been composed with the aid of scripture. Hence, the analytical
models proposed to explain the formation of those large epic poems in
the nineteenth century can no longer be applied without reserve. Yet
they still reflect the basic possibilities to be taken into account in any
tradition where texts appear to have grown or changed over genera-
tions, including the pentateuch, with which Iliad and Odyssey have
long been parallelised. This contribution gives a brief account of the
pre-history of oralistic concepts of Homer in the eighteenth century
(before Wolf) and of the main theories of Homer analysis in the nine-
teenth century (after Wolf).
Die Stimme des Autors in den
Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments
Erhard Blum
stellung, ob bzw. in welcher Weise sich diese Stimme von dem „ei-
gentlichen“ narrativen Diskurs abheben kann. In einem zweiten Teil
soll dann ein vergleichender Blick auf frühe Texte der altgriechischen
Prosa geworfen und sodann im abschließenden dritten Teil nach Vor-
aussetzungen für die Herausbildung der vielgestaltigen und im alt-
orientalischen Kontext (bislang) einzigartigen Geschichtsüberliefe-
rung des Alten Testaments gefragt werden.
Das Alte Testament beginnt als Erzählung, die zunächst bis zum Ende
des ersten Kanonteils, des Pentateuch, geht, dann aber über das Jo-
suabuch etc. nahtlos weitergeführt wird bis zum Ende der Königsbü-
cher. Es handelt sich mithin um ein narratives Kontinuum, das von
der Weltschöpfung bis zur Eroberung und Zerstörung Jerusalems
durch die Babylonier reicht. Formal steht der Erzählcharakter außer
Frage, unbeschadet dessen, dass darin auch Lieder und umfangreiche
Rechtskorpora zitiert werden. Gleichwohl wäre es voreilig, wollte
man aus diesem Kontinuum ableiten, dass der Gesamtzusammen-
hang als ein literarisches „Erzählwerk“ intendiert war. Letztere Frage
kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden;4 sie ist aber inso-
fern mit unserer Fragestellung verbunden, als sich die diachrone Ab-
grenzung literarischer Einheiten kaum völlig von einer Autoren- oder
Editorenintention abtrennen lässt. Ein expliziter Autor, sei es als „rea-
ler“, historisch identifizierbarer Verfasser, sei als ein fiktiver, textim-
manenter Erzähler, tritt jedoch weder im Pentateuch noch in den sog.
„Vorderen Propheten“ (Josua bis 2. Könige) oder einer anderen aus
der „Außenperspektive“ erzählten5 Geschichte des AT auf.
Die Unterscheidung „realer – fiktiver Autor/Erzähler“ ist nicht zu
verwechseln mit der literaturwissenschaftlich eingeführten Differen-
zierung zwischen „realem“ und „implizi(er)tem“ Autor.6 Unter Letz-
4 Dazu vgl. E. Blum, Pentateuch – Hexateuch – Enneateuch? oder: Woran erkennt man
ein literarisches Werk in der hebräischen Bibel?, in: T. Römer / K. Schmid (Hgg.), Les
dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque
(BEThL 203), Leuven 2007, 67-98.
5 Zur Opposition „Innenperspektive“-„Außenperspektive“ im Blick auf den Erzähl-
standpunkt („point of view“) vgl. K. Stanzel, Theorie (wie Anm. 1), Kap. 5.; im Sinne
von Genette, Erzählung (wie Anm. 1), 178f. wäre von einem „extradiegetisch-
heteroegetischen“ Erzähler zu sprechen.
6 S. die kundige Darstellung mit ausführlicher Literatur bei Ska, „Our Fathers“ (wie
Anm. 2), 39-54, sowie Utzschneider / Nitsche, Arbeitsbuch (wie Anm. 2), 154-178.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 109
terem wird das Bild des Autors verstanden, wie es den Rezipienten in
einem gegebenen Text vermittelt wird. Ob dieser textimplizite Autor
in der Gestalt eines erzählungsimmanenten („intradiegetischen“) Ich-
Erzählers verselbständigt ist oder sich in der primären Erzählerrolle
artikuliert, so oder so kann seine Stimme neben denen der Personen,
die in der Textwelt agieren, profiliert werden, ohne dass sie (oder die
der Personen) mit dem realen Autor und dessen Weltsicht gleichzu-
setzen wäre. Teilweise wird diese aus neuzeitlicher fiktionaler Litera-
tur wohl vertraute Differenzierung recht unmittelbar auch auf alttes-
tamentliche Texte appliziert.7 M.E. erweist sich das Konzept des
„implizi(er)ten Autors“ für die alttestamentliche Literatur jedoch als
nicht angebracht, ja geradezu als irreführend, aus einem einfachen
Grund: Biblische Erzählungen verstehen sich als Mitteilungstexte; das
neuzeitliche Konzept fiktionaler Literatur ist ihnen fremd.8 Ein unter
den Bedingungen der Fiktionalität mögliches Spiel des „realen“ Au-
tors mit einer mehr oder weniger „uneigentlichen“ Erzählerstimme
(oder gar Gottesstimme) ist hier weder vorgesehen9 noch stellt es
überhaupt eine Denkmöglichkeit dar. Dass in geschichtlichen Texten
jeder Art der/die reale Autor/in nicht unmittelbar zugänglich ist, son-
dern nur insoweit, wie er seine/ihre Weltsicht (mit mehr oder weniger
Erfolg) in einem Text artikuliert hat, ist freilich trivial. Davon zu un-
terscheiden bleibt aber der Anspruch der Autoren jeglicher („ernst
gemeinter“) Mitteilungsliteratur, dass die Stimme des textimmanen-
ten Autors ihre eigene Weltsicht authentisch zum Ausdruck bringt.
Dieser Anspruch gilt auch für den Fall eines fiktiven10 textimmanenten
Kritisch zu diesem Konzept: Genette, Erzähler (wie Anm. 1), II. (Neuer Diskurs der
Erzählung), Kap. 19 (283-295).
7 So etwa bei L. Eslinger, Into the Hands of the Living God (JSOT.S 84), Sheffield 1989,
der im Bereich des deuteronomistischen Geschichtswerks und darüber hinaus auch
konzeptionelle Inkohärenzen durch die Annahme einer Vielzahl einander wider-
streitender, relativierender etc. Stimmen auflösen zu können meint. Dabei könne die
perspektivische Relativierung nicht nur den impliziten Autor, sondern auch die Got-
tesreden und programmatische Reden der Hauptpersonen (Mose, Josua, Samuel, Sa-
lomo etc.) betreffen. M.E. impliziert dies eine anachronistische Projektion; s. im Fol-
genden.
8 Zur Begründung und zu Differenzierungen s. E. Blum, Historiographie oder Dich-
tung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: E. Blum u.a. (Hgg.),
Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testa-
ment und die Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901-1971),
Heidelberg, 18.-21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65-86, hier: 75-81.
9 Direkt einschlägig sind hier auch die Differenzierungen von Genette, Erzählung (wie
Anm. 1), 152.
10 Die elementare Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität (s. Blum, His-
toriographie [wie Anm. 8], 77) wird in der zünftigen Exegese leider zumeist ver-
110 Erhard Blum
kannt; vgl. zuletzt K. Seybold, Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament
(Poetologische Studien zum Alten Testament 2), Stuttgart 2006, 207-209. Damit gera-
ten die Bemühungen um eine Einbeziehung genuin literaturwissenschaftlicher An-
sätze von vornherein in eine konzeptionelle Schieflage.
11 Dies gilt vor allem für den Bezug ätiologischer Aussagen auf ein in der Zeit des
faktischen Autors/Tradenten nicht mehr gegebenes Heute. So impliziert Ri 1,21 ei-
nen Standpunkt vor der Einnahme Jerusalems durch David und suggeriert damit ein
entsprechendes Alter der Notiz bzw. der Angaben in Ri 1 (mit Samuel als Autor?),
1. Kön 8,8 eine Formulierung vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Welcher
Phase der Literargeschichte der betreffenden Texte diese Angaben angehören, muss
freilich in der Regel offen bleiben; zum Problem vgl. Ri 1,29 mit Jos 16,10.
12 Vgl. zum Folgenden auch Genette, Erzählung (wie Anm. 1), 183ff. und Bar-Efrat, Art
(wie Anm. 2), 24ff.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 111
Deutlich zu vernehmen ist der Erzähler als eigene Stimme erst da, wo
er die Narration verlässt und sich in diskursiven Erläuterungen direkt
an die Rezipienten wendet. In der Terminologie von Harald Wein-
rich14 könnte man sagen, dass der Erzähler hier jeweils die erzählende
Sprechhaltung aufgibt und eine „besprechende“ einnimmt. Besonders
häufige Marker bilden dabei das herleitende ‘al ken („darum“)15 und
die Zeitangabe ‘ad hajjom hazzäh („bis auf den heutigen Tag“),16 wie
z.B. in Gen 32,33:
Darum ('al ken) essen die Israeliten nicht die Hüftsehne, die über dem
Hüftgelenk ist, bis zum heutigen Tag (‘ad hajjom hazzäh), weil er das Hüft-
gelenk Jakobs, die Hüftsehne, berührt hat.
Die relativ schlichten Beispiele dieser Art ließen sich leicht mehren.17
Daneben stehen freilich auch subtilere Erzählerinterventionen.
In Anschluss an das Drama von der Opferung/Bindung Isaaks in
Gen 22 heißt es: „Und Abraham nannte jenen Ort JHWH jir’äh
(‚JHWH ersieht’)“ (22,14a). Dies ist noch Fortführung der erzählten
Handlung, denn der von einer furchtbaren Last befreite Abraham
drückt in dieser Namensgebung als persönliches Resümee aus, dass
sein Hoffen auf einen anderen Gott als den des Opferbefehls (22,2)
sich bewahrheitet hat.18 Vers 14a klingt ätiologisch, ist es aber nicht;
denn nach allem, was wir wissen, hat es diesen Namen in der Welt
der Leser gar nicht gegeben, vielmehr existiert er nur in der erzählten
Welt Abrahams. Dann aber geht es diskursiv mit der Erzählerstimme
weiter: „(den Ort), von dem man heute sagt: ‚der Berg, auf dem
JHWH erscheint’ (be-har JHWH jera’äh)“ (22,14b). Im judäischen Kon-
text gab es nur einen Berg, von dem man so absolut sprechen konnte:
den Tempelberg von Jerusalem. Er wird hier als Ziel des Weges Ab-
rahams von Mesopotamien her expliziert19 und zugleich ‚ätiologisch’
als (der) Kultort eingeführt. Ungewöhnlich (im Pentateuchkontext)
bleibt dabei die unübersehbare Verortung von Erzählern und Adres-
saten in einer Zeit nach der Einrichtung eines JHWH-Heiligtums in
Jerusalem.
Mitunter verkannt wird auch eine metanarrative, letztlich ätiolo-
gische Bemerkung in der Paradieserzählung von Gen 2-3: Nachdem
der Mensch in 2,23 die aus einem Stück von ihm „gebaute“ Frau mit
einem Jubelruf als verwandt20 und wesensgleich begrüßt hat, heißt es
in 2,24: „Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter und hängt seiner
Frau an, und sie werden ein Fleisch.“ Manche Ausleger lesen dies als
Teil der Erzählung und konstatieren dann einen Widerspruch zu
Gen 3, wo die beiden erst nach dem Griff zum Baum der Erkenntnis
ihre Sexualität entdecken.21 In Wahrheit geht es in 2,24 nicht um die
Menschen im Gottesgarten, sondern um die Welt der Adressaten und
17 Dabei ist aber zu beachten, dass das häufige „bis auf diesen Tag“ nicht per se einen
ätiologischen Bezug anzeigt; vgl. schon B. S. Childs, A Study of the Formula ‚Until
this Day’, JBL 82 (1963), 279-292.
18 Dazu E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-
Vluyn 1984, 322-324.
19 Zur theologisch-narrativen Bedeutung dieses Zusammenhangs in der Abrahamge-
schichte vgl. die Hinweise in E. Blum, Abraham, RGG4, Tübingen 1998, 70-74, hier
72.
20 Durch den Rückgriff auf eine idiomatische Wendung („mein Bein und Fleisch“; z.B.
Gen 29,14), mit der die Blutsverwandtschaft bezeichnet wird.
21 So unter den älteren etwa G. von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis, ATD 2/4,
Göttingen 91972, 71.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 113
voraus (2,12b!). Damit können sie wohl nur der Ebene des anonymen
Erzählers zugerechnet werden, in dessen Darstellung die Abschieds-
rede(n) Moses eingebettet ist und seine letzte Handlungen, einschließ-
lich seines Todes, mitgeteilt werden. Inhaltlich bieten sie eine Art
Wissensstoff über die vorzeitliche Besiedelung der Region durch eine
Bevölkerung von Heroen und gehen dabei in ihren „geschichtlichen“
Details – bis hin zur Benennung der Urvölker im Moabitischen (2,11)
bzw. Ammonitischen (2,20) – über die Erfordernisse des Erzählkon-
textes hinaus. Von gleicher Art sind in Dtn 3 die Notizen über die
Benennung des Hermon in anderen Sprachen (3,9) und über den rie-
senhaften Sarkophag von Og, dem König des Baschan (3,11). Es dürf-
te sich am ehesten um Gegenstände weisheitlicher Bildung handeln,
wie sie im gelehrten Schuldbetrieb gepflegt worden sein mag. Ent-
sprechende „geschichtliche“ Erläuterungen begegnen sodann (wie-
derum mit lepanim) in Jos 11,10 (über die frühere Größe von Hazor), in
Ri 1,10-11 (parr.). 23 oder in Ruth 4,7.22
Allein auf die erzählte Handlung bezogen und leicht zu überlesen
ist eine Erläuterung ganz anderer Art in 1. Kön 13. Die Episode han-
delt von einem Gottesmann aus Juda, der in das Staatsheiligtum des
Nordreiches Israel zu Bethel geht und dessen Untergang vorhersagt.
In der göttlichen Sendung wird ihm aufgetragen, in Bethel weder zu
essen noch zu trinken und auch nicht auf demselben Weg zurückkeh-
ren, auf dem er gekommen war. Ein alter in Bethel sesshafter Prophet,
der vom Auftritt des Gottesmannes gehört hat, holt ihn aber auf dem
Rückweg nach Juda ein und überredet ihn, bei ihm in Bethel einzu-
kehren, und zwar mit einem fingierten Gotteswort (13,18a):
„Er sagte ihm: ‚Auch ich bin ein Prophet wie du, und ein Engel hat zu mir
im Auftrag JHWHs gesprochen: ‚Hole ihn zurück in dein Haus, damit er
Brot esse und Wasser trinke!’“
Die Geschichte als ganze ist im Grunde erst verstanden, wenn man
erfasst hat, weshalb der Gottesmann diese Lüge eigentlich durch-
schauen müsste, und weshalb er seine Nachgiebigkeit gegenüber dem
Bethel-Propheten mit dem Leben bezahlen muss. Lesern und Hörern
wird freilich ein Wissensvorsprung gegeben, indem die Erzähler-
stimme an dieser Stelle (13,18b) eine kurze lakonische Information
hinzufügt: kihГeš lô – „er hatte ihn angelogen“. Im Hebräischen ist die-
ser außer-narrative Hinweis syntaktisch durch den asyndetischen
Anschluss abgehoben. Damit wird die Kette der Narrativformen un-
terbrochen und das Publikum, gleichsam mit einer Zwischenbemer-
22 Einschlägig sind weiterhin die Belege in Neh 13,5; 1.Chr 4,40; 9,20.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 115
28 1. Kön 14,19. 29; 15,7. 23. 31; 16,5. 14. 20. 27; 22,39. 46; 2. Kön 1,18; 8,23; 10,34; 12,20;
13,8. 12; 14,15. 18. 28; 15,6. 11. 15. 21. 26. 31. 36; 16,19; 20,20; 21,17. 25; 23,28; 24,5.
29 C. Hardmeier, Umrisse eines vordeuteronomistischen Annalenwerks der Zidkijazeit.
Zu den Möglichkeiten computergestützter Textanalyse, VT 90 (1990), 165-184.
30 Die von D. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Litera-
ture, Oxford 2005, überzeugend herausgearbeitete Bedeutung des Memorierens und
der mündlichen Rezitation literarischer Texte in der Schulung altorientalischer und
antiker Schreiber lässt eine vorsichtige Zurückhaltung bei solchen historischen An-
nahmen geraten erscheinen. Zugleich eröffnen sich von daher kaum bedachte Mög-
lichkeiten, etwa im Blick auf die Verortung der Autoren des dtrG: Plädoyers für eine
Niederschrift in Juda können sich jedenfalls kaum mehr auf eine fehlende Verfüg-
barkeit des „Quellen“-Materials unter den Exulanten stützen (vgl. z.B. Noth, Studien
[wie Anm. 27], 110 Anm. 1). Unbeschadet dessen blieb eine solche Textkenntnis auf
einen relativ kleinen Kreis entsprechend ausgebildeter und trainierter Zeitgenossen
beschränkt (selbst dann, wenn im/nach dem Exil ältere Werke erneut niederge-
schrieben worden sein sollten).
31 Ebenso wie die fiktiven Quellenangaben prophetischer Bücher in der Chronik; zu
der darin zum Ausdruck kommenden geschichtstheologischen Konzeption des
Chronisten vgl. insbesondere Th. Willi, Die Chronik als Auslegung. Untersuchungen
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 117
gründet36; hier soll sie noch einmal mit Bezug auf die jeweilige Rolle
der „Autorenstimme“ in den Texten ausgeführt werden.
II
Hekataios39, der sich mit Namen und auktorialem Ich einführt, eröffnet
sein Werk sogleich mit einer metanarrativen Erklärung, in der er die
eigene Darstellung dem überkommenen Stoff der Überlieferung ge-
36 Zuletzt Blum, Historiographie (wie Anm. 8) mit Verweis auf ältere Publikationen.
Die wichtige Untersuchung von P. Machinist, The Voice of the Historian in the An-
cient Near Eastern and Mediterranean World, Interp. 57 (2003), 117–137, die mir bei
der Ausarbeitung des eben genannten Beitrags nicht bekannt war, weist in eine ganz
ähnliche Richtung. Für eine andere Sicht vgl. bspw. die Beiträge von J. Van Seters, In
Search (wie Anm. 33) oder B. Halpern, Biblical versus Greek Historiography: A
Comparison, in: Blum u.a. (Hgg.), Geschichtsbuch (wie Anm. 8), 101-127.
37 Die erhaltenen Text(fragment)e in F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Histo-
riker (FgrHist), Leiden 1957ff. Für kundige Darstellungen mag an dieser Stelle der
Hinweis auf K. von Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung I, Berlin 1967, und
W. Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Herodot
– Thukydides (stw 389), Frankfurt a.M. 1982, genügen.
38 FGrHist 1 F 1.
39 Zu Hekataios und seinem Kontext vgl. Schadewaldt, Anfänge (wie Anm. 37), 96ff.,
sowie H. Cancik, Mythische und historische Wahrheit. Interpretationen zu Texten
der hethitischen, biblischen und griechischen Historiographie (SBS 48), Stuttgart
1970, 39ff.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 119
talt der Erde gar nicht richtig zu erklären wissen“ (IV,36) – und er
meint damit gerade auch Hekataios.
Herodot selbst geht es in seinem Werk nicht mehr um die prosai-
sche Entfaltung der Heroenüberlieferung, sondern um eine umfassende
Darstellung der Perserkriege, d.h. seiner Zeitgeschichte:
Die Darstellung der Erkundung des Herodot von Halikarnassos ist dies,
damit weder das von Menschen Geschehene durch die Wirkung der Zeit
verblasse noch die großen und staunenswerten Werke, ob sie nun von Hel-
lenen oder Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde blieben; unter an-
derem geht es insbesondere darum, aus welcher Ursache/Schuld (įԼijտį) sie
miteinander Kriege führten.44
III
50 So liegt für die gern und gewiss mit Recht hervorgehobene Bedeutung der griechi-
schen Kolonisation des Mittelmeerraumes und des Fernhandeln mit damit verbun-
denen Erfahrungen anderer Kulturen und „Selbstverständlichkeiten“ selbstver-
ständlich der Blick auf die Phönizier mit ihrer in mancher Hinsicht vergleichbaren
ökonomischen und kulturellen Entwicklung nahe.
51 W. Rösler, Alte und neue Mündlichkeit. Über kulturellen Wandel im antiken Grie-
chenland und heute, Der altsprachliche Unterricht 28 (1985), 4-26, hier 22.
52 Ebd. 23.
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments 125
53 Wegen der geringen Haltbarkeit linear geschriebener Texte des 1. Jtd.s v.Chr. in
Alphabetschrift bildet die im Alten Testament überlieferte Literatur nach wie vor
das umfangreichste Korpus. Für die Frühzeit ist nun aber auch auf die literarischen
Texte der Wandinschriften vom Tell Deir ‘Alla (im östlichen Jordangraben; vermut-
lich ausgehendes 9. Jh. v.Chr.) zu verweisen.
126 Erhard Blum
Berufung Hesiods zum Sänger durch die Musen zu Beginn seiner The-
ogonie (Verse 22-35); einschlägig sind aber auch die Musenanrufungen
bei Homer.
Bedenkt man, dass ein Autor wie Hekataios seinen Wahrheitsan-
spruch nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit diesen „kanonischen“
Sängern behaupten muss, dann liegt es nahe, im Anschluss an W. Rös-
ler56 das autonom-auktoriale Ich der Logographen und Historiogra-
phen als eine Transformation des inspirierten Ichs der Epiker zu ver-
stehen. Die frühen Prosaschriftsteller gründen ihren eigenständigen
Umgang mit dem überkommenen Stoff der Sänger und der Sagen nicht
mehr auf göttliche Berufung; an deren Stelle tritt das auktoriale Urteil,
das seinerseits dem kontroversen literarischen Diskurs ausgesetzt
bleibt.
Für eine analoge Transformation fehlt im alten Israel die entschei-
dende Voraussetzung: das Ich des be-geisterten Sängers/Dichters. Zwar
kennen wir auch hier ein in göttlicher Autorität sprechendes Ich, aber
ausschließlich bei den Propheten, und diese erzählen keine Ursprungs-
geschichte, sondern sie reden diskursiv von Gegenwart und Zukunft.
Episch „erzählende“ Dichtung mag es auch in Israel gegeben haben;
sicher zu belegen ist es nicht. Einzelne überlieferte Lieder oder Sprüche
werden gern entweder anonymen „Schriften“ zugeschrieben57 oder –
sekundär – prophetischen Gestalten58. Namentlich gerühmte Poeten,
neben/an denen sich Prosaschriftsteller hätten profilieren können, gab
es jedenfalls nicht.
In diesem Sinne bestätigt sich also die traditionale Erzählung als
das Paradigma, das die Pragmatik und Darstellungsweise auch der
großen schriftlichen Werke in Israel entscheidend prägt.
Kunstvolle Einzelsagen, Erzählungszyklen oder auch novellistische
Großerzählungen reichen aber als ‚Bauelemente’ für ein literarisches
Werk wie das „deuteronomistische Geschichtswerk“ nicht hin. Andere
Gattungen, auf welche die Autoren solcher Werke zurückgreifen konn-
ten, waren vermutlich schulmäßiger, in Listen zusammengestellter
Wissensstoff und bei Hof geführte Annalen. Letztere lieferten nicht nur
das Grundgerüst für die Darstellung der Königszeit, sondern implizie-
ren auch die Organisation großer zeitlicher Horizonte mit Hilfe der
Chronologie. Auch diese über Generationen geführten Chroniken wa-
ren ihrer inneren Logik nach aber anonym (unbeschadet dessen, dass in
56 W. Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), 283-319.
57 Vgl. Nu 21,14f.(17f.27-30); Jos 10,(12-)13aß (>LXXBA); 2Sam 1,18(-27).
58 Vgl. Ex 15 (Lied Moses und Mirjams); Ri 5 (Debora).
128 Erhard Blum
Die Erfahrung der Katastrophen von Israel und Juda nötigten also
zur geschichtlichen Zusammenschau. Aber die wesentlichen literari-
schen Ingredienzien waren schon vorgegeben: reiche literarische Er-
zähltraditionen auf der einen Seite und die eher berichtenden Annalen
der Hofschreiber auf der anderen Seite, aber auch die konzeptionelle
Verbindung verschiedener „Zeiten“ in einem geschichtlichen Konti-
nuum.
In seiner Grundfassung dürfte das deuteronomistische Geschichts-
werk von einem einzelnen Autor verfasst worden sein. Dennoch tritt
dieser Autor nahezu völlig hinter seine Darstellung zurück – nicht an-
ders als in den lebendigen, von ihm teilweise eingearbeiteten Erzäh-
lungen. Auch sein Geschichtswerk ist in diesem Sinne keine Ge-
schichtsschreibung, sondern Traditionsliteratur, in der Rückschau
könnte man auch sagen: proto-kanonische Literatur.
130 Erhard Blum
Abstract
The article asks about the presence of the narrator’s voice in Old Tes-
tament narrative texts and its significance for the way in which the
authors deal with their stories and “the” history. The anonymity of
traditional literature of religious and secular significance is understood
as a norm of traditional narration, usually referred to in biblical studies
as “legend”.
Accordingly, the first part discusses the fundamental possibilities
and functions of the narrator’s voice in Old Testament texts, especially
by posing the question as to whether and in what way this voice can
stand out from the “actual” narration. In a second step, a contrastive
comparison is made between these findings and the explicit role of the
author as used by the early Greek prose writers, who are linked to the
beginnings of a “critical” historiography. Final considerations ask
about specific conditions for the rich historical tradition of the Old Tes-
tament, which is neither comparable with the Greek historiography nor
does it (as yet) have any significant parallels in the Ancient Near East.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in
den Samuelbüchern (1Samuel 31, 2Samuel 1; 11; 18)
Klaus-Peter Adam
1 Vgl. E. Blum, Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thron-
folgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. de Pury /
T. Römer (Hgg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids: Neue Einsichten und
Anfragen (OBO 176), Göttingen / Fribourg 2000, 4-37, hier 8-9 und ders., Historio-
graphie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in:
E. Blum / W. Johnstone / C. Markschies (Hgg.), Das Alte Testament – ein Geschichts-
buch?, Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne”
anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971) Heidelberg, 18.–21.
Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65-86, bes. 70-75, sowie in diesem Band 119-
126. Vgl. zum Autorenkonzept der griechischen Historiographen H.-U. Wiemer,
Thukydides und die griechische Sicht der Vergangenheit, in diesem Band, 49-89, bes.
62-65.
2 Herodot bezweifelt den Wahrheitsgehalt mancher ihm übermittelter Erzählungen,
Thukydides kritisiert seinen Vorgänger und platziert an prominenter Stelle pro-
grammatische methodische Reflexionen. Vgl. zum „Methodenkapitel“, sowie zur
„Archäologie“ O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von
Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 75-77, 97-102. Zum Vergleich mit der bibli-
schen Geschichtsschreibung siehe u. a. B. Halpern, Biblical versus Greek Histori-
ography. A Comparison, in Blum / Johnstone / Markschies (Hgg.), Das Alte Testa-
ment (wie Anm. 1), 101-127, 119.
132 Klaus-Peter Adam
6 Vgl. L. Rost, Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (BWANT 6), Stutt-
gart 1926, 111-119.
7 Vgl. J. van Seters, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the
Origins of Biblical History, New Haven / London 1983, 8-54; idem, Der Jahwist als
Historiker (ThSt 134), Zürich 1987; ders., Prologue to History: The Yahwist as Histo-
rian in Genesis, Louisville/KY, 1992, 79-103; ders., Is there any Historiography in the
Hebrew Bible? A Hebrew-Greek Comparison, JNSL 28 (2002) 1-25, vgl. auch Hal-
pern, Historiography (wie Anm. 2), 124.
8 Vgl. hierzu bereits Rost, Thronnachfolge (wie Anm. 6), 124.
9 Vgl. die Diskussion um die drei auch literarisch aus dem Kontext der Erzählung
herausragenden „Deutestellen“ der Thronfolgeerzählung bei von Rad, Der Anfang
der Geschichtsschreibung im alten Israel, Archiv für Kulturgeschichte 32 (1944) 1-42
= ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 8) 148-188, bes. 182-187 zu
2Sam 11,27; 12,24; 17,14.
10 Die deuteronomistische wie die chronistische Geschichtsschreibung entspringen
partikular-judäischer Perspektive.
11 Vgl. zur Äquidistanz des Thukydides zu den Parteien im Peloponnesischen Krieg
134 Klaus-Peter Adam
Stoffe in der Tragödie zeigt. Diese verbindet mit dem Blick in die Ver-
gangenheit den Anspruch der Stellungnahme zu Gegenwartsfragen
und damit zu Athener gesellschaftlichen Verhältnissen.12 Diese per-
spektivisch vorgegebene Parteilichkeit kennzeichnet auch die Beschäf-
tigung mit der Vergangenheit in Juda. Die judäische Geschichtsschrei-
bung über die frühe Königszeit in den Samuelbüchern bedient sich teils
ähnlicher Stilmittel wie das Athener Drama, z.B. entspricht der breite
Einsatz direkter Rede und der weitgehende Verzicht auf Erzähler-
kommentare dramatischer Konvention. Die biblischen Erzähler greifen
in der Vorzeit liegende Stoffe auf, die sie, vergleichbar der Tragödie,
gezielt zur Brechung der Darstellung gegenwärtiger Probleme einset-
zen. Die Erzählüberlieferung über das frühe Königtum stellt Vorzeiter-
eignisse in den Kontext zeitgenössischer Auseinandersetzungen. Die
Retrospektive auf eine glorreiche oder eine erfolglose Dynastiegrün-
dung dient als Folie der Reflexion gegenwärtiger Herrschaftsfragen.
Die analoge Relevanz der Geschichtsreflexionen für aktuelle Be-
lange in der Tragödie und damit die Funktion der Tragödiendichter
für die Polis sei beispielhaft verdeutlicht anhand der dramatischen
Selbstreflexion beim Wettstreit um den besten Tragiker Athens in
Aristophanes’ „Fröschen“. Dionysos entscheidet sich zwischen Ai-
schylos und Euripides nicht aufgrund ästhetischer Kategorien, son-
dern aufgrund seines politischen Sachverstandes für Aischylos. Beim
Abschied hebt Pluton seine Bedeutung für die Polis hervor: „So geh
denn im Glück, Aischylos. Brich auf und rette unsere Stadt mit deinen guten
Ratschlägen und erziehe die Unvernünftigen; es sind viele.“13 Kurz vor dem
Zusammenbruch der attischen Vormachtstellung in Griechenland steht
Aischylos als Symbol für eine Zeit, in der die junge Demokratie sich
gegen die Perser durchgesetzt hatte und in der sich ein Kräftekonsens
abzeichnete.14 Dessen Perser als Drama um innenpolitische Einigung
und außenpolitische Stärke stellt Athens Lobpreis als führende Macht
in den Vordergrund (230ff). Die Nachricht über die Schlacht bei Sala-
mis mündet in eine Lobrede auf die Leistungen der Athener bei der
Abwehr der persischen Bedrohung15 die dem Zuschauer die Möglich-
anwesenden Barbaren, die sich in ihrer Meinung getäuscht sahen: Nicht zur Flucht
stießen da die Hellenen den ehrwürdigen Schlachtgesang an, sondern zum Kampf
stürmend mit kühnem Mut.“ Textausgabe M. L. West, Aeschylus Tragoediae, Stutt-
gart 1990.
16 Vergleichbar eng mit der gegenwärtigen Situation der Athener verbunden sind
Aeschylos’ Eumeniden. Das in die Vergangenheit zurückverlagerte Geschehen wird
dem Disput in der Gegenwart entzogen. Aeschylos thematisiert die Beschränkung
der Befugnisse des Areopags auf die Blutgerichtsbarkeit und enthebt sie im Drama
durch eine Verfügung Athenas allem gegenwärtigen Disput, vgl. Zimmermann,
Nachwort, 588. Zur Interpretation des zeitgeschichtlichen Hintergrundes vgl. u.a.
C. Meier, Zeus nach dem Umbruch. Aischylos und die politische Theologie der Grie-
chen, 1980 = The Greek Discovery of Politics, übers. D. McLintock, Cambridge, MA /
London, 1990.
17 Im Vergleich der Tragödie mit den Daviderzählungen fällt die entsprechende Wert-
schätzung des politischen „Rates“ und seiner Bedeutung in der Thronfolgeerzäh-
lung auf; vgl. JEL[in der Thronfolgeerzählung und dazu besonders R. N. Why-
bray, The Succession Narrative. A Study of II Samuel 9-20; I Kings 1 and 2 (SBT II/9),
London 1968, 56-60 und vgl. ferner L. Ruppert, L[, in: G. J. Botterweck /
H. J. Ringgren (Hgg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT 3),
Stuttgart 1970ff., 718-751, bes. 727-729.731-733. Die Figur des von Ratgebern abhän-
gigen und daher schwachen Herrschers, wie es 1Kön 1-2 von David zeichnen, findet
sich auch von Xerxes in Herodots Hist. 7, 8-19. Textausgabe H. B. Rosén, Herodotus
Historiae Vol. 1 Libr. I-IV, Stuttgart 1987, Vol. 2. Libr. V-IX, Stuttgart 1997; sowie
K. Brodersen, Herodot, Historien Erstes Buch, Griechisch / Deutsch, Stuttgart 2002.
Zu Xerxes vgl. J. Kirchberg, Die Funktion der Orakel im Werke Herodots (Hypo-
mnemata 11), Göttingen 1965, 88.
18 Figurengestaltung und Motivik des Dramas dürften auf judäische Geschichtserzäh-
lungen eingewirkt haben. Die literarischen Verhältnisse in der biblischen Erzähl-
überlieferung sind jedoch im Einzelnen differenziert darzustellen. Die literarisch flä-
136 Klaus-Peter Adam
chige Einordnung durch F. E. Nielsen, The Tragedy in History. Herodotus and the
Deuteronomistic History (JSOT.S 251), Sheffield 1997, bleibt in vielem hinter dem
Stand der Forschung zurück.
19 Die Verhältnisbestimmung zwischen griechischer und israelitischer Geschichts-
schreibung aus universalgeschichtlicher Sicht prägte, unter anderem im Gefolge
G. von Rads, bis ins späte 20. Jh. die Interpretation der Erzählungen der Samuelbü-
cher. Vorgeschlagen wurde, die israelitischen Geschichtserzählungen als ihren grie-
chischen Parallelen zwar grundsätzlich verwandte, jedoch als bedeutend ältere
Überlieferungen zu verstehen, vgl. besonders Eduard Meyer, Die Israeliten und ihre
Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen, Halle 1906, 486 und vgl. zur
Forschung an der Thronfolgegeschichte unter diesen Vorgaben W. Dietrich / T. Nau-
mann, Die Samuelbücher (EdF 287), Darmstadt 1995, 169-228. Die Gestaltung dieser
Erzählungen ist jedoch geprägt von ihrem Verständnis als legitimierende Vorge-
schichten einer größeren Geschichtsdarstellung. Die Verwendung fundierender Ur-
sprungserzählungen mit legitimatorischer Intention ist im Vorderen Orient weit
verbreitet. Zur Funktion homerischer Epen als fundierende, retrospektiv entworfene
Vorgeschichten und zur Sanktionierung gesellschaftlicher Verhältnisse zur Zeit der
Autoren vgl. besonders K. Raaflaub, Homeric Society, in: I. Morris / B. Powell
(Hgg.), A New Companion to Homer (Mnemosyne. Bibliotheca Classica Batava
Suppl. 163), Leiden 1997, 624-648; dies., A Historian’s Headache: How to Read
„Homeric Society”?, in: N. Fisher / H. van Wees (Hgg.), Archaic Greece: New Ap-
proaches and New Evidence, London / Swansea, 1998, 169-193; dies., Homer und die
Geschichte des 8. Jh.s v. Chr., in: J. Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-For-
schung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart / Leipzig 1991, 205-256; vgl. J. Grethlein,
Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und nar-
ratologischer Perspektive (Hypomnemata 163), Göttingen 2006, 163-179.
20 Ähnliche Beschreibungskategorien und Motive wie in der griechischen Tragödie
erkannte man in der biblischen Figur des weitgehend glücklosen israelitischen Kö-
nigs Saul im Schatten des Judäers David. Vgl. W. L. Humphreys, The Tragedy of
King Saul: A Study of the Structure of 1 Samuel 9–31, JSOT 6 (1978) 18-27; ders., The
Rise and Fall of King Saul: A Study of an Ancient Narrative Stratum in 1 Samuel,
JSOT 18 (1980) 74-90. Vgl. auch Y. Amit, The Delicate Balance in the Image of Saul
and its Place in the Deuteronomistic History, in: C. S. Ehrlich / M. C. White (Hgg.),
Saul in Story and Tradition (FAT 47), Tübingen 2006, 71-79, bes. 77-73 vgl. zuvor
Y. Amit, Hidden Polemics in Biblical Narrative, Leiden 2000, 173-176. J. C. Exum,
Tragedy and Biblical Narrative. Arrows of the Almighty, Cambridge University
Press 1992; Y. Amit, Hidden Polemics in Biblical Narrative. Translated from the He-
brew by Jonathan Chipman, Leiden 2000. Weitere Parallelen in der Motivik ließen
sich anführen. Vgl. aus der neueren Literatur nur die Iphigeniemotivik; siehe dazu
T. C. Römer, Why would the Deuteronomists tell about the Sacrifice of Jephtah’s
Daughter?, JSOT 77 (1998), 27-38.
21 Die spezifischen Leistungen narrativer Geschichtsschreibung stellt für eine auf
Quellenanalyse angelegte Untersuchung der Samuelbücher ein Problem dar, wenn
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 137
zur Lebenswelt des Rezipienten23 betrifft. Auf diese kann hier nur hin-
gewiesen werden. Auf die beiden anderen Ähnlichkeitsverhältnisse ist
kurz einzugehen. Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen der Welt des
Autors und der im Plot vorausgesetzten Lebenswelt (mimesis I), sowie
zwischen den Charakteren und Handlungsabläufen im Plot, die in ei-
nem Ähnlichkeitsverhältnis auf einer zweiten Ebene aufeinander bezo-
gen sind, innerhalb der der Erzähler die handelnden Figuren in einen
bestimmten kausalen und zeitlichen Ablauf darstellt (mimesis II). Die
Konzeption von Figurenkonstellationen sowie eines zeitlich-kausalen
Nacheinanders (Plot) ermöglichen dem Autor, seine Intentionen zu
vermitteln. Um die Aussageleistungen von Erzählungen zu erheben,
sind daher insbesondere die Gründe von Bedeutung, die den Erzähler
veranlassten, Figuren in ein zeitliches Nacheinander anzuordnen. In
der Analyse dieser vom Autor geschaffenen Erzählstrukturen wird die
Autorenintention deutlich, die der Autor mit Hilfe eines bestimmten
Plots oder einer Figurenkonstellation verfolgt. Die Umsetzungen der
Autorenintention auf der Ebene der mimesis II sind für die Erzählung
zentral, weil der Autor mit ihnen die Figurenabfolgen und den zeitli-
chen Ablauf der Erzählungen, sowie die im Plot verwendeten Motive
konzipiert. Das mimesis II genannte Entsprechungsverhältnis zwischen
Figurenkonzeption und geschichtlicher Wirklichkeit ist daher auch
entscheidend für die Gestaltung von Erzählungen über die Vergangen-
heit und damit für den Umgang mit Vergangenheit in der Erzählung.
Die in einem Ablauf angeordneten Themen, sowie die Figuren und die
mit ihnen verknüpften geschichtlichen Größen werden vom Autor auf
dieser Ebene entworfen. Diese skizzenhafte Rekonstruktion des Entste-
hungsprozesses von Erzählungen deutet auf die Relevanz auktorial
erstellter Figurenkonstellationen und Handlungsabfolgen hin.24 Aus
ihnen sind die Intentionen des Autors zu erschließen.
Neben Figurenkonstellationen und Handlunsgabfolgen ist die Er-
mittlung der Erzählerintention abhängig von der Einschätzung des
23 Vgl. P. Ricoeur, Temps et récit. Tome I, L’intrigue et le récit historique, Paris 1983,
105-162. Hier soll dieser Prozess der Annäherung des Lesers an die Erzählung (mi-
mesis III) unberücksichtigt bleiben.
24 Dies gilt gleichermaßen für fiktionale wie für Geschichtserzählungen. – Zur Kom-
plexität der Beziehungen der in den Epen geschilderten Wirklichkeit auf eine von
ihnen gespiegelte Realität von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 7. Jh.s, vgl. Raaflaub,
A Historian’s Headache (wie Anm. 19), 175-188, ebenso Grethlein, Ilias (wie Anm.
19), 312-314. Literargeschichtlich bedarf der Befund noch der Präzisierung. Lediglich
einzelne Abschnitte der Ilias werden derzeit als spätere Zufügungen erkannt und
entsprechend interpretatorisch ausgewertet, vgl. etwa die Dolonie im 22. Buch der
Ilias und dazu G. Danek, Studien zur Dolonie, Wien 1988, der mit einem Verfasser
einer Generation nach Homer rechnet und zur Problematik der Zuweisung zu einem
anderen geschichtlichen Hintergrund Grethlein, Ilias (wie Anm. 19), 253, Anm. 105.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 139
30 Besonders deutlich ist das in prophetischen Episoden. Saul ist unbestritten negativ
gewertet in 1Sam 19:18-24. Vgl. exemplarisch P. Mommer, Samuel. Geschichte und
Überlieferung (WMANT 65), Neukirchen-Vluyn 1991, 177-178 und ders., „Ist Saul
auch unter den Propheten?“ BN 38/39 (1987) 53-61; W. Dietrich, David, Saul und die
Propheten. Das Verhältnis von Religion und Politik nach den prophetischen Überlie-
ferungen vom frühesten Königtum in Israel (BWANT 122), Stuttgart 21992, 61. Diet-
rich erwägt die Vorarbeit prophetischer Kreise in Juda (weder DtrP noch der Erzäh-
ler der Aufstiegsgeschichte). Plausibel erscheint eine Einordnung der Episode in
prophetische Kreise in persischer Zeit, vgl. C. Nihan, Saul among the Prophets
(1Sam 10:10-12 and 19:18-24). The Reworking of Saul’s Figure in the Context of the
Debate on „Charismatic Prophecy“ in the Persian Era, in: Ehrlich / White (Hgg.),
Saul (wie Anm. 20), 88-118. Mögliche positive Aspekte Sauls, auf die sich spätere is-
raelitische Könige hätten berufen können, fehlen. Dies ist auch für die Jugendüber-
lieferungen Sauls zu überprüfen. Denn eindeutige Abwertungen zeigen sich in den
häufig als Ergänzungen eingeordneten Ankündigungen über Saul, der sich „als Pro-
phet gebärden“ wird (DPhitp 1Sam 10,6), was jedoch, ebenso wie in 1Sam 19,20-24,
bes. V 24 negativ gewertet wird. Die Entwicklung von Überlieferungen zur Frühzeit
Sauls (Wahl und Krönung 1Sam 10,17-25 [26-27]; 11,14-15; Teile aus 9,1-10,16) aus
Erzählmaterial über seine Zeit als reifer König entspräche dem Wachstumsverlauf
von Biographien, in denen Jugendüberlieferungen die literarisch jüngsten Abschnit-
te darstellen. Der verzweigte Handlungsfaden der Samuelbücher wächst, was bisher
nur angedeutet werden kann, dementsprechend über komplexe Redaktionsprozesse
durch Voranstellung von Jugendüberlieferungen, die (grob verallgemeinert) als
Wirkungsgeschichte der älteren Stufen im jetzigen Erzählverlauf voranstehen.
31 Das Loswahlverfahren ist in der griechischen Kultur beheimatet. In Athen nahm
man aus gutem Grund die Strategen von der Loswahl aus und bestimmte diese in
offener Wahl. Die Loswahl in Athen diente nach Solons Athenaion Politeia der Be-
stimmung der Archonten aus einer Liste von zuvor gewählten Kandidaten. Nach
Abschaffung der Tradition führte man sie 487/486 v.Chr. wieder ein, ersetzte sie aber
durch ein Losverfahren. Durch Loswahl bestimmte man den Rat der 500 ab spätes-
tens 411 v.Chr. Ab dem Ende des 5. Jh. wurden fast alle zivilen Ämter, auch die Ge-
schworenengerichte, durch Loswahl, militärische Ämter aber durch Wahl vergeben,
vgl. P. J. Rhodes, Los A. Griechenland, in: DNP 7 (1999), 443 und vgl.
V. Rosenberger, Orakel III. Klassische Antike A. Allgemeines; B. Orakelstätten;
C. Orakeltechniken, E. Geschichtliches, in: DNP 9 (2000), 5-7. Ob und wie griechische
Loswahlszenen aus (vor-) hellenistischer Zeit Einfluss auf Juda ausübten, muss hier
offen bleiben. Die Zurückhaltung der Erzählungen, Loswahlvorgänge ursächlich mit
JHWH in Verbindung zu bringen und sie stattdessen einer magischen Kraft im Los-
142 KlausȬPeterȱAdamȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
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hingegenȱdieȱVorstellung,ȱeinȱVerfasserȱhabeȱimȱletztenȱDrittelȱdesȱ6.ȱJh.ȱv. Chr.ȱteilȬ
ȱ
weiseȱ ihmȱ vorliegendeȱ Quellenȱ verknüpft,ȱ beiȱ A.ȱ Wagner,ȱ Geistȱ undȱ Tora.ȱ Studienȱ
zurȱgöttlichenȱLegitimationȱundȱDelegitimationȱvonȱHerrschaftȱimȱAltenȱTestamentȱ
anhandȱderȱErzählungenȱüberȱKönigȱSaulȱ(ABGȱ15),ȱLeipzigȱ2005;ȱvgl.ȱbesondersȱ97Ȭ
102ȱ dieȱ Einschätzungȱ vonȱ 1Samȱ 10,26Ȭ11,13ȱ alsȱ freiȱ erfundeneȱ Episodeȱ imȱ Stilȱ derȱ
RichterȬErzählungen.ȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 143
zuȱdenȱAmmonitersiegenȱDavidsȱdeutlich,40ȱwasȱsichȱbesondersȱinȱderȱ
generellenȱ Abwertungȱ Saulsȱ gegenüberȱ Davidȱ zeigt.ȱ Saulsȱ Erfolgȱ ist,ȱ
verglichenȱ mitȱ demjenigenȱ Davids,ȱ begrenzt.ȱ Wennȱ 1Samȱ 11ȱ fürȱ eineȱ
historischeȱVerortungȱderȱSaulüberlieferungȱergiebigerȱzuȱseinȱscheint,ȱ
soȱ besondersȱ deswegen,ȱ weilȱ dieȱ Erzählungȱ einenȱ Kampfȱ Saulsȱ gegenȱ
dieȱAmmoniterȱinȱJabeschȱinȱGileadȱlokalisiert,ȱzuȱdessenȱGunstenȱSaulȱ
eingreift,ȱ sowieȱ denȱ Versammlungsortȱ Bezekȱ (11,8)ȱ undȱ imȱ Anschlussȱ
GilgalȱalsȱOrtȱderȱKrönungȱnenntȱ(11,14).ȱ
ȱ
Aufbau:ȱ
10,26Ȭ2741ȱ SaulsȱHeimzugȱaufȱdenȱHügelȱundȱdieȱKritikȱanȱSaulȱ
ȱ
11,1Ȭ3ȱ BedrängnisȱderȱJabeschitenȱdurchȱdenȱAmmoniterkönigȱNahaschȱȱ
1ȱȱ ȱ HeraufzugȱundȱBelagerungȱdesȱNahaschȱ
2ȱ Beschämungȱ derȱ Israelitenȱ durchȱ Androhenȱ desȱ AusȬ
stechensȱdesȱAugesȱ
3ȱ ȱ SiebenȬTagesȬFristȱderȱÄltestenȱausȱJabeschȱ
ȱ
4Ȭ6.7a.7b.8ȱȱ HilfegesuchȱanȱSaul,ȱHeerbann,ȱMusterungȱundȱSiegȱ
4ȱ ȱ Aufsuchenȱdesȱ„HügelsȱSauls“ȱ
5ȱȱ ȱ SaulsȱHeimkehrȱvomȱPflügenȱ
6ȱȱ ȱ DerȱGeistȱergreiftȱBesitzȱvonȱSaulȱȱ
7aȱ ȱZerstückelungȱ einesȱ Rindergespannsȱ undȱ dessenȱ
VersendungȱdurchȱBotenȱimȱganzenȱGebietȱvonȱIsraelȱ
AufforderungȱzumȱKampfȱmitȱStrafandrohungȱ
7bȱ ȱ EinȱGottesschreckenȱbefälltȱdasȱVolkȱȱ
8ȱ Musterungȱvonȱ300.000ȱIsraelitenȱundȱ30.000ȱJudäernȱinȱ
Besekȱ
9ȱȱ ȱ HilfsankündigungȱanȱdieȱJabeschitenȱdurchȱBotenȱȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
40ȱȱ Vgl.ȱ nebenȱ anderenȱ Klein,ȱ Davidȱ versusȱ Saulȱ (wieȱ Anm.ȱ 37),ȱ 99Ȭ101;ȱ 173Ȭ174ȱ (allerȬ
dingsȱunterȱAnnahmeȱalterȱQuellenȱfürȱbeideȱBerichte).ȱDieȱParallelenȱbetreffenȱdenȱ
Aufbau.ȱBeideȱErzählungenȱsetzenȱmitȱeinerȱVeränderungȱbeiȱdenȱAmmoniternȱein:ȱ
nachȱ1Samȱ11ȱbelagertȱNahaschȱJabeschȱinȱGilead;ȱnachȱ2Samȱ10ȱstirbtȱNahaschȱundȱ
HanunȱfolgtȱihmȱalsȱKönig.ȱNachȱ1Samȱ11ȱbittenȱdieȱJabeschitenȱumȱeinenȱBundȱmitȱ
demȱAmmoniterkönig,ȱnachȱ2Samȱ10ȱschicktȱDavidȱeineȱDelegationȱzurȱTrauer.ȱDieȱ
DelegationenȱwerdenȱvonȱdenȱAmmoniternȱbrüskiertȱbzw.ȱihrȱAnsinnenȱwirdȱabgeȬ
lehntȱundȱesȱkommtȱzumȱKriegȱausgehendȱvonȱSaulȱbzw.ȱDavid.ȱBezügeȱzeigenȱsichȱ
durchȱdieȱBundesterminologieȱbisȱinȱdenȱWortlautȱhinein:ȱdasȱ„Ausschneiden“ȱdesȱ
Augesȱ (1Samȱ 11,2)ȱ undȱ dasȱ „Abschneiden“ȱ derȱ Kleiderȱ undȱ desȱ Bartesȱ
2Samȱ10,4;ȱ(VTM).ȱ MTȱ nenntȱ inȱ 2Samȱ 10,1ȱ zunächstȱ nurȱ denȱ Ammoniterkönigȱ undȱ
seinenȱNachfolgerȱHanunȱnamentlich;ȱerstȱ10,2ȱwirdȱdieserȱmitȱ Patronymȱerwähnt,ȱ
wasȱdieȱZusammenhängeȱzwischenȱdenȱbeidenȱBerichtenȱnochȱverstärkt.ȱȱ
41ȱȱ 1Samȱ10,26Ȭ27ȱleitenȱbereitsȱ1Samȱ11ȱein,ȱvgl.ȱWagner,ȱGeistȱundȱToraȱ(wieȱAnm.ȱ35),ȱ
87Ȭ88;ȱvgl.ȱvorȱallemȱdieȱInklusionȱinȱ10,27ȱundȱ11,13bȱ(sowieȱinȱ11,3.9a).ȱȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 145
Nimmt man keinen Quellencharakter für V 1-11 an, so drängt der Kon-
text die Frage nach Entstehung und Motivation auf. In 10,26-27;
11,12-13 rahmen korrespondierende Elemente die Rettung der Jabeschi-
ten vor den Ammonitern. Diese reflektieren Sauls Königtum in Israel
kritisch. Angesichts seines Sieges gegen die Ammoniter weist das
„Volk“ jedoch Sauls Kritiker (11,12) zurecht. Diese Einwände gegen
Saul, der „nicht helfen“ kann (10,27 [), widerlegt der in Jabesch Gi-
lead gegen die Ammoniter durch JHWHs Hilfstat in Israel (11,13
JYV) errungene Sieg. Doch die durch das Leitwort „Hilfe“ geschaffe-
ne Struktur in 1Sam 10,26-11,15 belegt nicht zwingend deren literari-
sche und intentionale Zusammengehörigkeit.42
Die Intention von 11,1-11 wird nun im Folgenden zunächst inner-
halb der Saulüberlieferung ermittelt, ohne Voraussetzung ihres Quel-
lencharakters oder ihrer positiven Wertschätzung der Saulfigur; an-
schließend wird dann das Verhältnis der Rahmenabschnitte zu 11,1-11
reflektiert.
Der Abschnitt ist als Dialogfolge aufgebaut. Als Konstellationen
finden sich: Jabeschiten-Nahasch (V 1-3.10); Boten-Saul (V 4); Volk-Saul
(V 5-9); Boten-Jabeschiten (V 9). V 1-3.10 berichten von der Kommuni-
kation zwischen Belagerern und Belagerten. Während die Jabeschiten
sich angesichts einer militärischen Bedrohung durch Nahasch zum
Bündnis mit diesem bereit erklären, nützt Nahasch die Notlage aus, um
sie zu demütigen. Dabei wertet der Erzähler. Die Einwilligung der Ja-
beschiten zu einem Bündnis mit Ammon ist eine Verzweiflungstat der
Bedrängten. Der Ammoniterfürst verbindet mit der Unterwerfung43 die
Blendung eines Auges44 „zur Schande für ganz Israel“ (V 2b). Diese
Forderung kompromittiert die Bittsteller und bereitet ihnen die beab-
sichtigte Schmach als Besiegte. Die Jabeschiten lehnen ab und erbitten
sich eine Bedenkzeit. Mit diesem Zug setzt die Erzählung die unwahr-
scheinliche Situation voraus, die Jabeschiten hätten sich noch in einer
Verhandlungsposition gegenüber den anstürmenden Ammonitern
42 Vgl.[YO11,3; JYV11,9; vgl. als Beleg für literarische Zusammengehörigkeit der
Rahmenstücke 10,26-27 und 11,12-14 mit der übrigen Erzählung Wagner, Geist und
Tora (wie Anm. 35), 88-89.
43 11,2a.
44 Vgl. dazu die Blendung des Zedekia 2Kön 25,7; Jer 39,7; 52,11 und vgl. in nachexili-
schen Kontexten Num 16,14; Ri 16,21.
146 Klaus-Peter Adam
befunden und ihre Ältesten hätten mit diesen die Aussendung von
Boten nach Israel erreichen können (V 3). Die Vereinbarung einer Frist
mit diesem Bedränger, um Boten nach Israel um Hilfe auszusenden,
wirkt nicht plausibel als Nachzeichnung eines faktischen Belagerungs-
verlaufs in einem neutralen Belagerungsbericht. Hätte Nahasch die
Stadt einzunehmen vermocht, hätte er dies sogleich getan. Doch erfüllt
der Erzählzug einen vom Erzähler intendierten Zweck. Das Angebot
des Ammoniterkönigs dient dem Erzähler dazu, die Sendung an Saul
und seine Hilfeleistung in die Erzählung einzufügen. Die Androhung
von Israels Schmach (11,2b) durch die Demütigung der Jabeschiten
setzt voraus, Jabesch gehöre zu Israel und nur deshalb ergibt sich eine
Zwangslage der Israeliten, bzw. Sauls, dessen Stellung als israelitischer
König in der von ihm beanspruchten Vormacht in Frage gestellt wird.
Die Bitte der Jabeschiten aus dem Ostjordanland kann nur eingefügt
werden, weil die Israeliten mit deren Schicksal verbunden sind. Doch
schildern 1Sam 11,1-11 den Handlungsverlauf wohl ironisch-
distanziert aus judäischer Sicht. Dies liegt nahe, wenn die Erzählung
die Überlieferung in 2Sam 2,4b-7 voraussetzt. Sauls Vormachtstellung
in Jabesch Gilead erklären 2Sam 2,4b-7 damit, dass die Jabeschiten es
nach der vormaligen Saulidenherrschaft ablehnen, sich dem Judäer
David anzuschließen.45 Die Ablehnung Davids und die Saulidenherr-
schaft in Jabesch bedingen einander. In eben diesem Spannungsfeld der
Figurenkonstellation von David und Saul muss die Erzählüberlieferung
eingeordnet werden, weil die Ammoniterkriegsberichte 2Sam 10; 12,26-
31 ausführlich von Rabbas Einnahme durch Davids Truppen berichten.
45 Den späteren Untergang der Jabeschiten mit ganz Gilead setzen Kriegserzählungen
über den omridischen König Ahab in 1Kön 20,1-43 und 22,1-38 voraus. Deren lite-
rargeschichtliche Einordnung bleibt einer ausführlicheren Darstellung vorbehalten.
H.-C. Schmitt, Elisa. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur vorklassischen
nordisraelitischen Prophetie, Gütersloh 1972, 32-72; 133-136 und ihm folgend S. Otto,
Jehu, Elia und Elisa. Die Erzählungen von der Jehu-Revolution und die Komposition
der Elia-Elisa-Erzählungen, (BWANT 152), Stuttgart 2001, 202; 207-208 weisen die
Erzählungen (neben 2Kön 3,4-27; 6,24-7,20) einer separaten Erweiterungsschicht von
Kriegserzählungen zu. Die etwas schematische Einordnung als Zufügung zur Dtr
Grundschrift muss um literarische Binnendifferenzierung in den Erzählungen erwei-
tert werden. Bereits die Einordnung als Zufügung (nach H.-C. Schmitt, Elisa,
32-51; 68-72, allerdings aus einer alten, prophetisch redigierten Sammlung von
Kriegserzählungen; vgl. auch die Einordnung von 2Kön 16,31bΆ-22,38 als Nachträge
zu DtrG, bei Kratz, Komposition [wie Anm. 5], 192) zeigt die Distanz zur israeliti-
schen Beherrschung Jabeschs in der Omridenzeit. Die rhetorische Frage des israeliti-
schen Königs „Wisst ihr nicht, dass Ramoth in Gilead uns gehört?“ (vgl. 1Kön 22,3a)
steht für einen hybriden israelitischen Anspruch auf das Gebiet, das kaum je genuin
israelitisches Territorium war. Kriegserzählungen wie 1Kön 22,1-38 reflektieren in
ihrer Tendenz den Verlust dieses Gebietes als Konsequenz einer von der Prophetie
Micha ben Jimlas kritisierten Überheblichkeit der israelitischen Monarchie.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 147
46 Vgl. z.B. 1Kön 22,29-37; die literarischen Verhältnisse können hier nicht berücksich-
tigt werden. Von Teilerfolgen gegen die Ammoniter berichten neben 1Sam 14,47 nur
1Sam 11,1-11.
47 Vgl. zu diesem Verständnis der Erwähnung von Gilead in 2Sam 2,9 ausführlich
Adam, Saul und David (wie Anm. 34), 56-60; 66-68.
48 Vgl. als ammonitischer König 2Sam 10,2; 1Chr 19,1-2; und (abhängig von 1Sam 11)
1Sam 12,12; vgl. noch den Vater von Abigail und Zerujah 2Sam 17,25 und die Stadt
1Chr 4,12.
49 Dies spricht für eine Entwicklung von 1Sam 11 aus 2Sam 10. Dass es sich um eine
aus der Erzählung und aus 2Sam 10,1-2 zu erschließende Voraussetzung handelt,
notiert auch K. Budde, Die Bücher Samuel (KHC), Tübingen 1902, 73. Vielleicht ist
nur der Name des Ammoniters aus 2Sam 10 übernommen.
50 1Kön 20,2-6 fordert Benhadad die sofortige Auslieferung eines Tributes in Form von
Silber und Gold von den Unterworfenen.
51 Vgl. die Terminologie VZP, das in Zusammenhängen kultischer Schlachtung auf
Brandopfer verweist, Lev 1,6.8.12; 8,20; vgl. auch Ri 19,29, dessen Zusammengehö-
148 Klaus-Peter Adam
rigkeit mit 1Sam 11,7 stets gesehen wurde, was zur Annahme desselben Verfassers
führte, vgl. Budde, Samuel (wie Anm. 49), 75. Zum Derivat VCZP vgl. Ex 29,17;
Lev 1,6.8.12; 8,20; 9,13; Ez 24,4.6 (cj. 24,5); Sir 50,12.
52 Für diese kritische Sicht auf Sauls als „archaisches“ israelitisches Verhalten geschil-
derte Zerstückelung spricht auch ihre Wirkungsgeschichte in der karikierend-
kritischen Benjaminitenüberlieferung Ri 19,29, die den befremdlichen Zug ins Gro-
teske übersteigert.
53 Die Zahlen der Musterung beruhen auf Übertreibung, vgl. bereits Budde, Samuel
(wie Anm. 49), 75; die getrennte Erwähnung von Israel und Juda spiegelt das Ge-
schichtsbild. Bezek ist Jud 1,4-5 erwähnt; vgl. zur Besiedlungsgeschichte ab der
Amarnazeit und zur Identifikation mit ‹irbet ‰bziq P. Welten, Bezeq, ZDPV 81 (1965)
138-165, bes. 164-165.
54 Vgl. V 9. Wagner, Geist und Tora (wie Anm. 35), 107-111 zeigt den traditions- und
religionsgeschichtlichen Hintergrund in Jos 10,12-13 (vgl. JYYJ10,6; und JHWHs
Eintreten nach 10,14b für Israel) und Ex 17,8-16 auf. Vgl. den Hinweis auf die von
B. Janowski, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Got-
tes am Morgen im Alten Orient und im Alten Testament, Band I: Alter Orient,
(WMANT 59) Neukirchen-Vluyn 1989, aufgezeigten Kontexte; vgl. dort 198-199 zu
1Sam 11,9.11; Ex 17,8ff. Doch ist in 11,9 das Heraneilen der Hilfe in der Hitze der
Sonne (das nicht textkritisch in „wie“ die Hitze der Sonne zu ändern ist), dem ironi-
schen Erzählstil geschuldet.
55 Vgl. 1Kön 15,22. Die Unbestimmtheit der Bezeichnung von Gibeah/Geba „Hügel“
entspricht in ihrer Allgemeinheit der Offenheit der Saulüberlieferung. Sauls Veror-
tung in Benjamin spiegelt eine entsprechende Bedeutung Gebas in Benjamin, das Ju-
da von Israel erobert hat, vgl. 1Kön 15,22b. Zur Bedeutung des Ortes in der dtr. His-
toriographie s. die Überlegungen in Adam, Saul und David (wie Anm. 34),
69-73.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 149
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
derȱEroberungȱundȱVerteilungȱ(Josȱ9,6;ȱ10,6Ȭ7.9;ȱ10,15.43;ȱ14,6)ȱundȱwirdȱmitȱIdolenȱ
inȱVerbindungȱgebrachtȱ(Riȱ3,19.26).ȱ
64ȱȱ Vgl.ȱ1Samȱ7,16,ȱinȱderȱSaulsȱTragikȱundȱVerwerfungȱsichȱvollzieht,ȱebensoȱ1Sam10,8;ȱ
13,4.7.12.15;ȱ 15,12.21.33.ȱ Saulsȱ törichterȱ verfrühterȱ Beginnȱ mitȱ derȱ Opferhandlungȱ
nachȱ siebenȱ Tagenȱ aberȱ nochȱ bevorȱ Samuelȱ kamȱ 1Samȱ 13,8Ȭ9,ȱ wirdȱ alsȱ Grundȱ fürȱ
seineȱ nichtȱ alsȱ bewussteȱ Fehlhandlungȱ verübteȱ schuldhafteȱ Handlungȱ dargestellt,ȱ
vgl.ȱNMUȱ13,13a.ȱȱ
65ȱȱ Vgl.ȱ dieȱ ausdrücklicheȱ Erwähnungȱ desȱ Essensȱ Levȱ 7,15.18.20Ȭ21;ȱ Exȱ 32,6;ȱ Dtnȱ 27,7;ȱ
2Samȱ6,19;ȱ1Könȱ3,15.ȱ
66ȱȱ Vgl.ȱLXXȱ1Samȱ11,15ȱȚȤIJտįȣ Ȝįվ ıԼȢșȟțȜոȣ.
67ȱȱ Vgl.ȱ 1Samȱ 10,8.ȱ Manȱ wirdȱ wieȱ fürȱ 11,14Ȭ15ȱ fürȱ eineȱ nachexilischeȱ Entstehungszeitȱ
dieserȱ retrospektivenȱ Geschichtssichtȱ ausgehenȱ können,ȱ dennȱ dieȱ Basisȱ möglicherȱ
vorexilischerȱBelegeȱistȱzuȱschmal,ȱumȱausgehendȱvonȱdiesenȱErwähnungenȱeineȱalteȱ
TraditionȱdieserȱOpferȱanzunehmen.ȱAndersȱdieȱAnnahmeȱvonȱSeidl,ȱ][ON,ȱThWATȱ
8ȱ (wieȱ Anm.ȱ 17),ȱ 101Ȭ111,ȱ hierȱ 104,ȱ zurȱ Verteilungȱ derȱ 86ȱ alttestamentlichenȱ Belegeȱ
(50ȱP,ȱ8ȱChrGWȱundȱ6ȱ Ez).ȱDieȱübrigenȱfindenȱsichȱinȱ Altarbaugesetzenȱundȱderenȱ
AnwendungȱExȱ20,24;ȱDtnȱ27,7;ȱJosȱ8,31;ȱbzw.ȱüberȱdieȱErrichtungȱvonȱAltärenȱundȱ
derenȱAnwendungȱExȱ24,5;ȱ32,6;ȱJosȱ22,23.27;ȱ1Könȱ9,25;ȱ2Könȱ16,13;ȱbeiȱKlageritenȱ
imȱBenjaminitenkriegȱRiȱ20,26;ȱ21,4;ȱbeiȱSaulsȱKönigskürȱ1Samȱ10,8;ȱvorȱseinemȱPhiȬ
listerfeldzugȱ13,9;ȱvonȱDavidȱ2Samȱ6,17Ȭ18//1ȱChrȱ16,2ȱundȱ2Samȱ24,25//1Chrȱ21,26;ȱ
Salomoȱ1Könȱ3,15;ȱundȱbeiȱderȱTempelweiheȱ1Könȱ8,63Ȭ64//2Chrȱ7,7.ȱȱ
68ȱȱ Vgl.ȱ dasȱ Opfermahlȱ inȱ 1Samȱ 14,32Ȭ35,ȱ nachȱ demȱ unrechtmäßigenȱ Blutverzehrȱ desȱ
Volkesȱ undȱ Saulsȱ Altarbau,ȱ bzw.ȱ nachȱ derȱ Beschwörungȱ desȱ Totengeistesȱ Samuelsȱ
1Samȱ28,21Ȭ25aȱmitȱAnklängenȱanȱeinȱTotenmahl.ȱȱȱ
69ȱȱ T.ȱ Veijola,ȱ Dasȱ Königtumȱ inȱ derȱ Beurteilungȱ derȱ deuteronomistischenȱ HistoriograȬ
phie.ȱEineȱredaktionsgeschichtlicheȱUntersuchunȱ (AASF,ȱSer.ȱBȱ198),ȱHelsinkiȱ1977,ȱ
84ȱwillȱdieȱRedeȱinȱ12,ȱdieȱerȱDtrNȱzuordnet,ȱwieȱalleȱdessenȱRedenȱohneȱLokalisieȬ
rungȱverstehen.ȱHingegenȱwirdȱ1Samȱ11,14Ȭ15ȱhäufigȱauchȱalsȱzugehörigȱzuȱ12ȱverȬ
standen,ȱvgl.ȱWagner,ȱGeistȱundȱToraȱ(wieȱAnm.ȱ35),ȱ111,ȱA.ȱWeiser,ȱSamuel.ȱSeineȱ
geschichtlicheȱ Aufgabeȱ undȱ religiöseȱ Bedeutungȱ (FRLANTȱ 81),ȱ Göttingenȱ 1962,ȱ 82;ȱ
L.ȱM.ȱEslinger,ȱKingshipȱofȱGodȱinȱCrisis.ȱAȱCloseȱReadingȱofȱ1Samuelȱ1Ȭ12,ȱSheffieldȱ
1985,ȱ383Ȭ384.ȱ
ȱ ErzählerwertungȱundȱGeschichtsverständnisȱinȱdenȱSamuelbüchernȱ 151ȱ
litischeȱ Königtum,ȱ dessenȱ ersterȱ Vertreterȱ Saulȱ ist.70ȱ Dieȱ mitȱ Gibeah,ȱ
Mizpaȱ undȱ Gilgalȱ verbundenenȱ Wertungenȱ entsprechenȱ demȱ judäiȬ
schenȱUrteilȱüberȱdieȱFrühzeitȱdesȱisraelitischenȱKönigtumsȱalsȱparadigȬ
matischerȱ Unheilszeit.71ȱ Dieȱ Tendenzȱ vonȱ 11,1Ȭ11ȱ alsȱ retrospektivȱ ausȱ
2Samȱ2,4bȬ7ȱbzw.ȱ14,47ȱherausgesponnenerȱFeinderzählung,72ȱsetztȱsichȱ
mitȱdenȱspäterȱvonȱIsraelȱabgefallenenȱGileaditenȱauseinander,ȱdieȱnachȱ
2Samȱ 2,4bȬ7ȱ Davidsȱ Angebotȱ alsȱ Königȱ überȱ Judaȱ überȱ ihreȱ Stadtȱ zuȱ
herrschen,ȱ ablehnten.ȱ Ausȱ kritischȬdistanzierterȱ Haltungȱ gegenüberȱ
Israelȱ schildertȱ dieȱ Erzählung,ȱ wieȱ Saulȱ denȱ Ammoniterangriffȱ inȱ derȱ
Vorzeitȱ abwehrte.ȱ Derȱ mitȱ derȱ Omridenzeitȱ verbundeneȱ Verlustȱ JaȬ
beschsȱinȱGileadȱwirdȱschonȱinȱIsraelsȱVorzeitȱbegründet.ȱȱ
Jabeschsȱ ammonitischeȱ Bedrohungȱ undȱ Saulsȱ Befreiungsfeldzugȱ
sindȱ überȱ 11,1Ȭ11*ȱ hinausȱ auchȱ inȱ denȱ Rahmenpartienȱ erkennbar.ȱ AuȬ
ßerȱ inȱ 11,14Ȭ15ȱ entspringenȱ auchȱ dieȱ vonȱ Saulȱ toleriertenȱ BeschuldiȬ
gungenȱalsȱ„Nichtswürdiger“,73ȱderȱnichtȱhelfenȱkannȱ(10,27)ȱeinerȱkriȬ
tischenȱSichtȱaufȱdenȱisraelitischenȱDynastiebegründer.ȱȱ
Aufȱ demȱ Hintergrundȱ derȱ skizziertenȱ kritischȬdistanziertenȱ SichtȬ
weiseȱlässtȱsichȱdieȱliterarischeȱEntwicklungȱderȱErzählungȱimȱwesentȬ
lichenȱ anȱ ihrenȱ Rändernȱ rekonstruieren.ȱ 1Samȱ 11,1Ȭ5.6*.7a.9Ȭ11ȱ bildenȱ
eineȱ literarischeȱ Einheit,ȱ währendȱ 10,27ȱ inȱ denȱ Zusammenhangȱ vonȱ
11,12Ȭ13ȱgehört.ȱDieȱForderungȱnachȱderȱHinrichtungȱderȱUnwürdigenȱ
inȱ11,12ȱundȱdieȱVerhinderungȱdieserȱRachetatȱdurchȱSaulȱistȱredaktioȬ
nellȱeingebrachteȱThematik.74ȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
70ȱȱ Vgl.ȱ?NOinȱderȱRedeȱSamuelsȱ12,2.13ȱbezogenȱaufȱSaul.ȱȱ
71ȱȱ Auchȱdasȱinȱ11,8ȱgenannteȱBezekȱistȱkaumȱalsȱalterȱOrtsnameȱbelegt.ȱAngesichtsȱderȱ
ParalleleȱRiȱ1,4Ȭ5ȱistȱvonȱeinerȱVerbindungslinienȱzurȱRichterüberlieferungȱinȱnachȬ
exilischerȱZeitȱauszugehen;ȱnebenȱderȱmöglicherweiseȱdurchȱBearbeitungȱeingefügȬ
tenȱGeistbegabungȱSauls,ȱdieȱdieȱErzählungȱmitȱRichterüberlieferungenȱverbindet.ȱȱ
72ȱȱ DerȱBezugȱvonȱ2Samȱ2,4bȬ7ȱzuȱ1Samȱ11ȱwirdȱstetsȱgesehen,ȱdochȱwird,ȱimȱBemühenȱ
umȱ eineȱ Ermittlungȱ derȱ „historischen“ȱ Hintergründeȱ einerȱ chronologischȱ frühȱ verȬ
standenenȱ Herrschaftȱ Sauls,ȱ beidenȱ Überlieferungenȱ letztlichȱ Quellencharakterȱ zuȬ
geschrieben,ȱvgl.ȱexemplarischȱfürȱvieleȱD.ȱEdelman,ȱSaul’sȱrescueȱofȱJabeshȬGileadȱ
(IȱSamuelȱ1,ȱ1Ȭ11):ȱSortingȱStoryȱfromȱHistoy,ȱZAWȱ96ȱ(1984)ȱ195Ȭ209,ȱhierȱ206Ȭ207,ȱ
dieȱ eineȱ Gestaltungȱ einerȱ literarischȱ mitȱ 11,1Ȭ2a.ȱ oderȱ 2b.4a.8a.9Ȭ11ȱ bestimmtenȱ
GrunderzählungȱimȱStilȱköniglicherȱAnnalenȱinȱeineȱstilisierteȱRichtererzählungȱ(šoȬ
petȬtale)ȱannimmt,ȱdieȱdannȱdenȱMittelteilȱderȱinȱ1Samȱ9Ȭ11ȱausformuliertenȱKompoȬ
sitionȱvonȱderȱKönigseinsetzungȱSaulsȱbildet.ȱȱ
73ȱȱ N[ND[PD10,27aȱ istȱ einȱ abschätzigerȱ Terminus.ȱ Dassȱ Saulȱ sichȱ gegenüberȱ diesenȱ
abschätzigȱ bezeichnetenȱ verräterischenȱ Untergebenenȱ (vgl.ȱ etwaȱ inȱ 1Samȱ 25,17.25;ȱ
1Könȱ21,10.13)ȱnichtȱdurchsetzenȱkann,ȱdieȱverweigern,ȱihmȱeineȱTributgabeȱalsȱKröȬ
nungsgeschenkȱzumȱRegierungsantrittȱzuȱbringen,ȱwirftȱeinȱebensoȱschlechtesȱLichtȱ
aufȱ ihn,ȱ wieȱ aufȱ seinenȱ unfähigenȱ Nachfolgerȱ Ischbaal,ȱ derȱ vonȱ „Frevlern“ȱ
(][T2Samȱ4,11)ȱgemeucheltȱwird.ȱ
74ȱȱ Vieleȱ derȱ SaulȬDavidȬErzählungenȱ inȱ 1Ȭ2Samȱ erweiterteȱ manȱ aufȱ derȱ Grundlageȱ
juridischerȱUnterscheidungȱzwischenȱvorsätzlicherȱTötungȱundȱTotschlagȱohneȱVorȬ
satz.ȱVgl.ȱbesondersȱdieȱlangenȱjuridischenȱErörterungenȱinȱdenȱRedepartienȱinȱ1Samȱ
152 KlausȬPeterȱAdamȱ
DieȱdramatisȱpersonaeȱderȱErzählungȱwurdenȱbearbeitet.ȱNebenȱ„IsȬ
rael“75ȱ stehtȱ alsȱ Bezeichnungȱ fürȱ dieseȱ Größeȱ auchȱ „dasȱ Volk“.76ȱ Ausȱ
dieserȱ (späteren,ȱ universaleren)ȱ Geschichtssichtȱ überlagernȱ sichȱ dieȱ
beidenȱ Größenȱ Israelȱ undȱ Judaȱ immerȱ stärkerȱ undȱ „Israel“ȱ wirdȱ Teilȱ
desȱ(judäischen)ȱVolkes.ȱEineȱweitereȱliterarischeȱBearbeitungȱfügteȱdenȱ
Gottesschreckenȱ inȱ Vȱ 7bȱ sowieȱ Judaȱ inȱ Vȱ 8ȱ ein.ȱ Dieȱ Erzählungȱ wirdȱ
dadurchȱ fürȱ eineȱ Geschichtssichtȱ beansprucht,ȱ inȱ derȱ Judaȱ ganzȱ Israelȱ
vertrat.ȱ Nochȱ immerȱ istȱ Saulȱ abgewertet,ȱ wieȱ dieȱ Erneuerungȱ desȱ KöȬ
nigtumsȱinȱGilgalȱinȱ11,14Ȭ15ȱzeigt,ȱdochȱsetztȱdieȱEpisodeȱeineȱEinheitȱ
zwischenȱIsraelȱundȱJudaȱunterȱderȱproblematischenȱHerrschaftȱIsraelsȱ
voraus.ȱ Dieȱ Retterterminologieȱ undȱ Saulsȱ temporäreȱ Geistbegabungȱ
(Vȱ6a)ȱentspringenȱeinerȱkritischenȱSichtȱaufȱSaul,ȱdieȱdieȱTendenzȱderȱ
Grundschriftȱ verstärkt.ȱ Dieȱ Rahmenverseȱ 10,26Ȭ27ȱ undȱ 11,12Ȭ13ȱ sindȱ
sekundäreȱ Ergänzung;ȱ währendȱ dieȱ Erneuerungȱ desȱ Königtumsȱ inȱ
Gilgalȱ Vȱ 14Ȭ15ȱ derȱ gegenüberȱ Israelȱ kritischȬdistanziertenȱ Haltungȱ derȱ
Grundfassungȱ entsprichtȱ undȱ vonȱ dieserȱ nichtȱ aufgrundȱ derȱ saulkritiȬ
schenȱ Tendenzȱ getrenntȱ werdenȱ kann.ȱ Daȱ Vȱ14Ȭ15ȱ jedochȱ Samuelȱ erȬ
wähnen,ȱ gehenȱ sieȱ aufȱ prophetischeȱ Überarbeitungȱ zurück,ȱ dieȱ Gilgalȱ
entsprechendȱderȱprophetischenȱÜberlieferungȱalsȱproblematischenȱOrtȱ
mitȱdemȱUrsprungȱdesȱisraelitischenȱKönigtumsȱverbindet.ȱLiterarischȱ
wurdeȱ somitȱ dieȱ ausȱ 2Samȱ 2,4bȬ7ȱ herausgesetzte,ȱ kritischȬdistanzierteȱ
Erzählungȱ 1Samȱ 11,1Ȭ11*ȱ vonȱ derȱ Vernichtungȱ derȱ Ammoniterȱ mitȱ
Zügenȱ einesȱ Schwanksȱ inȱ Vȱ 11Ȭ12.14Ȭ15ȱ undȱ 10,26Ȭ27,ȱ sowieȱ inȱ Vȱ 7bȬ8ȱ
weiterȱ bearbeitet. 77ȱ Vȱ 7ȱ istȱ derȱ Zusatzȱ „undȱ hinterȱ Samuel“ȱ eineȱ ganzȱ
späteȱErgänzung.78ȱ
DieseȱRekonstruktionȱergibtȱeinȱneuesȱGesamtbildȱderȱSaulfigurȱinȱ
1Samȱ11.ȱDieȱErzählkompositionȱwertetȱSaulȱausȱSichtȱderȱmitȱSamuelȱ
verbundenenȱ judäischenȱ Prophetie79ȱ ab.ȱ Dieȱ Zügeȱ Saulsȱ wurdenȱ wirȬ
kungsgeschichtlichȱ bisȱ inȱ hellenistischeȱ Zeitȱ hineinȱ ausgeführt,ȱ alsȱ derȱ
ersteȱ israelitischeȱ Königȱ nochȱ immerȱ alsȱ Flächeȱ derȱ Rückprojektionȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
24ȱundȱ26,ȱdieȱdieȱUnterscheidungȱderȱErweiterungȱvonȱExȱ21,12ȱinȱVȱ13Ȭ14ȱnarrativȱ
umsetzen.ȱZuȱweiterenȱliterarischenȱBestandteilenȱdieserȱSchichtȱvgl.ȱdenȱNachweisȱ
dieserȱMotivikȱinȱdenȱFluchtgeschichtenȱ1Samȱ23Ȭ27ȱinȱK.ȬP.ȱAdam,ȱSaulȱundȱDavidȱ
(wieȱAnm.ȱ34),ȱ98Ȭ122.ȱȱ
75ȱȱ Vgl.ȱVȱ2.3.7.8.13.15.ȱȱ
76ȱȱ Vgl.ȱVȱ5.7b.11a.12.14ȱsowieȱbeiȱderȱEinsetzungȱSaulsȱVȱ15.ȱȱ
77ȱȱ Vgl.ȱ Wagner,ȱ Geistȱ undȱ Toraȱ (wieȱ Anm.ȱ 35),ȱ 99.ȱ Kratz,ȱ Kompositionȱ (wieȱ Anm.ȱ 5),ȱ
176,ȱordnetȱdieȱErzählungȱdemȱpositivenȱderȱbeidenȱErzählsträngeȱderȱSaulüberlieȬ
ferungȱquellenhaftȱzu;ȱVȱ5Ȭ8ȱsindȱalsȱBearbeitungȱimȱGeistȱdesȱRichterbuchesȱliteraȬ
rischȱsekundär,ȱebd.ȱ180.ȱȱ
78ȱȱ Vgl.ȱBudde,ȱSamuelȱ(wieȱAnm.ȱ49),ȱ75.ȱ
79ȱȱ Vgl.ȱdasȱErgebnis,ȱdasȱVerhältnisȱzwischenȱSamuelȱundȱSaulȱseiȱnichtȱpositivȱgeweȬ
sen,ȱsondernȱbeideȱFigurenȱstandenȱeinanderȱfeindlichȱgegenüberȱbeiȱMommer,ȱSaȬ
muelȱ(wieȱAnm.ȱ30),ȱ211.ȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 153
82 Die Analyse der Botenberichte und der Figur des Boten stützt sich weitgehend auf
I.J.F. De Jong, Narrative in Drama. The Art of the Euripidean Messenger-Speech
(Mnemosyne. Bibliotheca Classica Batava Suppl. 116), Leiden 1991.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 155
Der Bote mit der Nachricht von Sauls Tod in 2Sam 1 ist im Erzählver-
lauf der Daviderzählungen83 herausgehoben. Dies entspricht seiner
sachlichen Bedeutung im Plot. Mit der Ankündigung von Sauls Tod
markiert der Botenbericht den Endpunkt der persönlichen Auseinan-
dersetzung Davids mit Saul. Die Zentralstellung des Botenberichts vom
Tod Sauls wird auch an der Doppelung des Berichts von Sauls Tod in
den beiden literarisch verbundenen Episoden 1Sam 31 und 2Sam 1
erkennbar: Eine kürzere Fassung von 2Sam 1 mit einer Botenszene
wurde später erweitert und 1Sam 31 wurde als eine Version des Ge-
schehens, die Sauls tragisches Schicksal betont, aus einer kürzeren
Form von 2Sam 1 gebildet und dieser vorangestellt. 1Sam 31 fügt das
Motiv des Waffenträgers hinzu, der sich weigert, Saul zu töten und
damit auch Sauls Suizid auf dem Schlachtfeld. Die Rolle des Dieners ist
hier variiert und im Kontrast zu 2Sam 1 positiv ausgeführt: Der Diener
stirbt mit seinem Herrn. Die Grundfassung von 2Sam 1 findet sich in
1a΅.2*.3-4.11.12*.84 Sie bezeichnet den Boten als „Mann“; seine Mittei-
lung ist nur knapp geschildert. Zunächst wurden 2Sam 1,5-7.10 er-
gänzt; eine weitere Bearbeitungsstufe nennt den Boten „Amalekiter“.
Der Grundfassung von 2Sam 1 mag 1Sam 31,1 als (schriftliche) Quelle
vorausgegangen sein. Eine weitere Bearbeitung fügte in 2Sam 1 das
Amalekitermotiv und eine genauere Schilderung von Sauls Tod durch
den Waffenträger ein.
83 Vgl. 2Sam 11,3-4.6; 11,14; 18-25; 14:29; 2Sam 17,17-21; 2Sam 19,2. Nur wenige der
Boten sind namentlich genannt, wie Ahimaaz und Jonatan 2Sam 17,17-21.
84 Vgl. zur Rekonstruktion der Grundfassung A. A. Fischer, Von Hebron nach Jerusa-
lem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zur Erzählung von König David in
II Sam 1-5 (BZAW 335), Berlin 2004, 18-23. Zur Voraussetzung einer Grundform von
2Samuel 1 für 1Sam 31 s. auch J. Vermeylen, La loi du plus fort. Histoire de la rédac-
tion des récits davidiques de 1 Samuel 8 à 1 Rois 2 (BETL 154), Leuven 2000, 182.
156 Klaus-Peter Adam
Als literarische Entstehung von 1Sam 31,1-2 Sam 1,16 ergibt sich:
der Bühne präsent ist.87 Entsprechend berichtet der Bote in der Grund-
form von 2Sam 1 von Sauls Niederlage. Die „dramatische“ Erzählweise
der judäischen Geschichtsschreibung bedient sich damit in den Boten-
szenen derselben formalen und erzählerischen Mittel wie die griechische
dramatische Literatur.
87 Vgl. die Figur des Kriegsboten, z.B. in Euripides’ Bakchen, bzw. die Boten in Aischy-
los’ Persern bei J. Barrett, Narrative and the Messenger in Aeschylus' Persians,
AJPh 116 (1995), 539-557 und dazu unten.
88 Sechs der sieben Tragödien des Sophokles enthalten Suizide (Aias, Antigone, Eury-
dike, Haemon, Deianeira, Iokaste) bzw. entsprechende Androhungen (Elektra, Phi-
loctetes). Suizid in der Tragödie wird nicht grundsätzlich als verwerfenswert darge-
stellt, vgl. den Überblick bei E. P. Garrison, Attitudes toward Suicide in Ancient
Greece, TAPhA 121 (1991) 1-34, zur Tragödie bes. 20-33.
89 Zur Bewertung des Suizids in Abhängigkeit von der durch soziale Hintergründe
und aufgrund individueller Vorgaben verursachten Motivation des Helden für den
Suizid, vgl. E. P. Garrison, Suicide (wie Anm. 88), 1-20. Vgl. zur Motivation für Sui-
zid aus Verzweiflung und aus Notwendigkeit A. J. L. van Hooff, From Autothanasia
to Suicide. Self-killing in Classical Antiquity, London / New York 1990, 85-96.
90 Vgl. Aias 455-456, H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson (Hgg.), Sophoclis Fabulae, Oxford
1990.
91 Vgl. Aias 479.
92 Er will seinem Vater beweisen, dass er kein Feigling sei, Aias 462-466.
93 Die Szenerie, in der Aias inmitten geschlachteter Tiere sitzt 384-595, zeigt ihn als von
blinder Tötungswut verführten Krieger. Sophokles fordert mit dieser Darstellung
das Heldenideal seiner Zeit heraus.
94 Das wird allein darin deutlich, dass er den Suizid am helllichten Tag und als reflek-
tierte Tat und auf offener Bühne stattfinden lässt und darin bewusst seine Vorlagen
158 Klaus-Peter Adam
99 Verändert hat sich bei der Bearbeitung die Beschreibung des Boten, vom „Mann“
(V 2) in der ersten Version zum „Jungen, der David berichtete“ (V 5.6.13).
100 Während nach 1Sam 31 der Bote und der Herr ein vorzeitiges tragisches Ende fin-
den, wertet 1Sam 31 verglichen mit dem Erfolg Davids, keinesfalls Saul positiv.
Sauls vorzeitiger Tod auf dem Schlachtfeld wird als Konsequenz seines übrigen Le-
bens verstanden.
101 Zur Interpretation der Amalekitererzählungen, die als späte, hexateuchübergreifen-
de Kommentierung gelten können, vgl. den Überblick von S. Timm, Amalekiter, in:
RGG4, Bd. 1, Tübingen 1998, 386.
160 Klaus-Peter Adam
102 Siehe De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 5. Das Muster „Ich” – „Wir”, „Er”,
„Sie (sgl.)”, „Sie (plur.)“; „Ich“ – „Wir“ findet sich in allen Botenberichten bei Euri-
pides.
103 In den Botenberichten der euripideischen Dramen verdeutlichen dies häufig explizi-
te Formulierungen; vgl. Hippolyt 1201-1205: „und dann entließ ein unterirdisches
Rumpeln, wie Zeus’ Donnern, ein tiefes Getöse ... und eine starke Furcht überkam
uns alle, woher denn der Laut käme.“ Textausgabe J. Diggle, Euripides Fabulae I,
Oxford 1984. Vgl. auch die Ratlosigkeit der Boten in Heracles furans 950-952: “und
beides, Lachen und Furcht, wurden uns, seinen [= Herakles’] Dienern, zu Begleitern;
und jemand sagte dies, während wir einander ansahen: scherzt unser Herr mit uns,
oder ist er rasend geworden?” Textausgabe J. Diggle, Euripides Fabulae II, Oxford
1981, vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 14.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 161
heit104 in die Situation hinein wechselt mit der er den Angeredeten kon-
frontiert und an der er ihn Anteil haben lässt. Von der Schilderung der
Tötung V 10a, die noch mit dem Hinweis auf die Erkenntnis des Boten
um den Zustand Sauls gerechtfertigt wird, lenkt der Bote auf die Über-
gabe der Insignien des Diadems und der königlichen Armspange als
hinüber. Diese Überleitung vom reinen Erzählen des „aftermath“ mes-
sengers105 zur Übergabe einer Kriegsrealie als Handlung zwischen den
Dialogpartnern ist auf Performanz angelegt.106 Die Einschätzung des
Boten durch den Rezipienten erfolgt auf der Grundlage der Darbie-
tungsform. Bei der Aufführung beschränkt allein die Bühnenpräsenz
und die Verwendung der Ich-Form jeglichen Anspruch des Boten auf
Objektivität. „Der Unterschied zwischen szenischer Präsentation und
narrativer Vermittlung, zwischen ‚offener’ und ‚verdeckter Handlung’
ist ein doppelter: ... die narrative Präsentation in verdeckter Handlung
[ist] rein verbal und figurenperspektivisch. ... [Der Rezipient ist] auf
einen figurenperspektivisch gebrochenen und in seiner reinen Sprach-
lichkeit weniger konkret-anschaulichen Bericht angewiesen, bezieht ...
seine Informationen also ‚aus zweiter Hand’.“107 Die persönlichen Mit-
teilungen eines erzählenden, physisch auf der Bühne präsenten Ichs
haben in der Empfindung des Rezipienten weit stärker subjektiven
Charakter, als wenn diese nur vorgelesen werden:108 „By the very fact
that they see them through the eyes of another, someone who, more-
104 Formal entspricht diese Darstellung insofern Konventionen, als sie Vergangenheits-
formen verwendet, wie sie bei Bühnenaufführungen für Reden des in Drama und
Epos üblich sind; vgl. die Rede des Boten bezogen auf die Schlacht in den Persern.
Das historische Präsens wird häufig in Botenreden in Dramen des Euripides ver-
wendet, das Perfekt dominiert in den Reden im homerischen Epos, vgl. De Jong,
Narrative in Drama (wie Anm. 82), 38-39. In der Botenrede in Medea finden sich 10
historische Präsensformen, 19 Aoriste und 22 Imperfekta. Das Präsens ist eine Form
der spannend erzählenden Literatur, vgl. H. Weinrich, Besprochene und erzählte
Welt, Stuttgart 21971, 125-126. In 2Sam 1,10 beschreibt der Bote dieser Konvention
entsprechend seine Handlungen durchgehend mit wayyiqtol-Formen, mit Ausnahme
des begründenden qatal und des folgenden yiqtol in V 10a [VF[[M, J[Z[N[M; vgl.
teils abweichend 2Sam 1,4.
105 O. Taplin, The Stagecraft of Aischylos. The Dramatic Use of Exits and Entrances in
Greek Tragedy, Oxford 1977, 83-84, vgl. als Beispiel für diesen Typ des Boten den
Boten in den Sieben gegen Theben, 792. Diesen Botentyp verwenden fast alle Tragö-
dien des Euripides und, in sehr ausgedehnter Form, auch Aischylos in den Persern.
106 Entsprechend lässt sich diese Technik auch in Botenszenen der Dramen des Euripi-
des erkennen, vgl. Hekuba 518-520: „Du bittest mich, zweifach Tränen zu vergießen,
Frau, aus Erbarmen über deine Tochter. Nun aber, da ich von ihrem Unheil rede,
werde ich mein Antlitz benetzen, so wie ich es tat, als ich an ihrem Grab stand, als
sie zugrunde ging.” Diggle, Euripides Fabulae I (wie Anm. 103).
107 Pfister, Drama (wie Anm. 29), 276.
108 Vgl. De Jong, Narrative in Drama (wie Anm. 82), 68, mit Bezug auf J. Lintvelt, Essai
de typologie narrative. Le „point de vue“, Paris 1981, 39.
162 Klaus-Peter Adam
over, has himself been involved in the events, they are presented with a
coloured version.”109 Die physische Präsenz der Figur bei der Auffüh-
rung wirkt sich auf die Interpretation der Erzählung, besonders auf die
Wertung der Botenfigur aus. In der Botenrede in 2Sam 1,10a ist dieses
Moment der subjektiven Wertung des Boten zentral für dessen Ent-
scheidung, Saul zu töten. Der Bote begründet dies mit eigenem Ermes-
sen, weil er „wusste, dass er (Saul) nicht überleben würde, nach seinem
Fall.“110
Während in Botenreden häufig auch emotionale Aspekte mit-
schwingen, mittels derer der Bote seine Befindlichkeit im Blick auf das
von ihm Berichtete ausdrückt,111 fehlen in 2Sam 1,6-7.9-10 alle Hinweise
auf die emotionale Verfassung des Boten. Seine emotionale Beteiligung
und seine Bedeutung für die Situation der Überbringung der Nachricht
sind deutlich in der Botenszene 2Sam 18,19, in der Joab Ahimaaz von
der Überbringung der Botschaft abhalten will, weil dieser vom Tod
Absaloms als Anlass zur Freude berichten will. Doch ist dies angesichts
der Trauer des Königs um Absalom nicht angebracht.112
Als dritte Funktion der Botenrede ist ihre Gestaltung des Dramas
durch ihr eigenes Profil innerhalb des größeren Erzählzusammenhan-
ges zu nennen. Im dramatischen Ablauf der Szene hat die Botenrede
V 6-7.9-10 verdichtenden Charakter. Ihre Kennzeichnung als Stimme
eines vom Erzähler eingeführten subjektiven, anonymen Boten rückt
als Distanzierung die genauen Ereignisse um den Tod Sauls in die
Form einer subjektiven Äußerung des Boten, die der Bote seinerseits
nicht kommentiert. Die narrative Funktion der Botenrede in
2Sam 1,6-7.9-10 besteht daher in einer reflektierten, perspektivisch ge-
brochenen Form der Schilderung des Herganges von Sauls Tod aus
dem Mund einer Erzählfigur.113 Nicht der Erzähler selbst, sondern der
Bote berichtet ein Geschehen. Die entscheidende Funktion der Distan-
zierung des Erzählers von dem in der Botenrede Berichteten ist inso-
fern hervorgehoben, als die Figur angesichts der Tötung des israeliti-
schen Königs in ihrer eigentlichen Botenrolle versagt.
Die Figur des Boten hat im Figurengeflecht des Dramas um den
tragischen Charakter Sauls weitere Funktionen. Sie dient der Ausges-
taltung von Sauls tragischem Ende. Die Botenfigur in 1Sam 31 wird
durch den lügnerischen Boten in 2Sam 1 problematisiert. Zum anderen
hebt sie Davids rechtliche Überlegenheit im Umgang mit dem Mörder
Sauls hervor, die seiner Funktion als Rächer des Königsmörders in
2Sam 4,9-12 entspricht. Während diese Erzählung ausdrücklich mit der
Formulierung „er jedoch meinte, ein Freudenbote vom Tod Sauls zu
sein (Y[P[DT DOMJ[JYJY)“ (4,10a) auf 1Sam 31 anspielt,114 dürfte der
gesamte Erzählzusammenhang 2Sam 1 vorausgegangen sein.115
Botenberichte stehen, wie bereits erwähnt, häufig an exponierten
Stellen in der Handlung, bereiten im Gesamtkontext des Dramas etwas
vor, leiten über oder schließen ab. Ihre verschiedenen Funktionen ver-
ankern Botenberichte besonders in Euripides’ Dramen fest in der
Handlungsstruktur. Botenberichte veränderten durch die mitgeteilten
Inhalte die nachfolgende Situation radikal. Die Botenrede in Herakles
furans stellt die Wandlung des Protagonisten vom Retter zum Zerstörer
seiner Familie dar. In den Bakchen vollzieht sich im Verlauf der zweiten
Botenrede Pentheus’ Verwandlung vom Jäger zum Gejagten
(1043-1152). Die dramatische Funktion der Botenrede liegt im durch sie
bewirkten Situationsumschwung. Mutatis mutandis gilt dies auch für
die Botenrede 2Sam 1. Sie setzt Sauls Tod (in 1Sam 31,1), den die Boten-
rede näher beschreibt, voraus und berichtet dann von der Rache für die
verursachte Blutschuld.116
Welcher Entwicklungsstufe des sich verändernden Formenreper-
toires im griechischen Drama man die Botenfiguren in den biblischen
Erzählungen zuordnen muss, kann hier nicht abschließend geklärt
werden. In der nachklassischen Zeit entwickelt sich eine spätere Form
der Botenrolle, die verglichen mit den erhaltenen Beispielen klassischer
griechischer Tragödie ungewöhnlich stark ausgestaltet ist, wie sich in
der Tragödie Rhesus aus dem 4. Jh. zeigt.117 Anstelle des sendenden
Thrakerkönigs Rhesus rückt der Bote selbst stärker ins Zentrum des
Geschehens und, anders als zumeist, ist dieser Wagenlenker selbst
verwundet.118 Auch seine Rede ist auffällig.119 Diese ironische Ausges-
taltung in der nachklassischen Tragödie ähnelt insofern strukturell
2Sam 1, als die Botenauftritte die Integrität des Boten in Frage stellen
und ihn als Betrüger präsentieren.
117 Die beiden kleineren Charaktere des Schäfers und des Wagenlenkers ragen inner-
halb des Stückes als sprechende, unabhängige Männer, die das Drama stark beleben,
heraus. Als spätes, nachklassisches Stück stellt der Rhesus sehr hohe Anforderungen
an die beteiligten Akteure auf der Bühne. Vgl. E. Hall, Euripides. Iphigenia among
the Taurians, Bachhae, Iphigenia at Aulis, Rhesus, translated by J. Morwood, with
introduction by Edith Hall, Oxford 1999, XXVII.
118 Vgl. auch die zerrissenen Kleider und die Kopfwunde des Boten in 2Sam 1,2.
119 Er klagt Hektor an, er, bzw. einer der anderen Verbündeten habe die zu Hilfe eilen-
den Thraker überfallen (832-834). Diese Botendarstellung verlässt die Rollenkonven-
tionen der Tragödie, wenn der Bote die eigene Verwundung sowie den eigenen
schmachvollen Tod bejammert (741-742; 750-754) und dem eine Schilderung seines
eigenen Traumes folgt, während Rhesus an seiner Seite ermordet wird (780-790) und
er das warme Blut des Thrakerkönigs hautnah spürt. Zur ironisch verzerrten Schil-
derung trägt der vom Boten erhobene Vorwurf gegen Hektor bei, dieser habe ihn im
Rahmen einer Verschwörung überfallen; ebenso die vage (richtige) Vermutung des
Wagenlenkers, die Götter hätten die Hand im Spiel gehabt (852-854). Textausgabe
I. Zaneto, Euripides Rhesus, Stuttgart / Leipzig 1993. Zur ironischen Verzerrung der
Botenrolle im Rhesus vgl. ausführlich J. Barrett, Staged Narrative. Poetics and the
Messenger in Greek Tragedy, Berkeley 2002, 179-185.
ȱ ErzählerwertungȱundȱGeschichtsverständnisȱinȱdenȱSamuelbüchernȱ 165ȱ
ZumȱAufbauȱdesȱBotenberichtsȱinȱ2Samȱ18,19Ȭ19,1ȱ
ȱ
Dieȱ folgendeȱ Darstellungȱ listetȱ dieȱ beteiligtenȱ Figurenkonstellationenȱ
undȱbesondersȱrelevanteȱHandlungenȱaufȱ(linksȱundȱmittig),ȱsowieȱdieȱ
StationenȱderȱÜbermittlungȱderȱBotschaftȱ(rechts).ȱ
ȱ
Szeneȱ1ȱAussendungȱdesȱBotenȱdurchȱJoabȱȱ
ȱ
18,19ȱAhimaazȱ–ȱJoabȱIȱȱ T DL:Tȱ Botschaftȱbeimȱ
Sender:ȱWissenȱumȱ
InhaltȱundȱWirȬ
kung
ȱ ȱ
18,20ȱAblehnung:ȱKeineȱ T DȱN(2x)ȱT D Unverständigerȱ
Freudenbotschaftȱȱ BoteȱIȱȱ
18,21ȱAufforderungȱzurȱ JTȱ/ȱFIPL:T Unverständigerȱ
VerkündigungȱdesȱGeseheȬ BoteȱII
nenȱȱ
JTY D_[L:T(4x)ȱ
18,22Ȭ23ȱAhimaazȱ–ȱJoabȱIIȱȱ ȱ
ȱ
Szeneȱ2ȱErwartungȱdesȱBotenȱ
ȱ
18,24ȱDavidȱsitztȱzwischenȱ LT [ Unwissenȱ/ȱHoffȬ
denȱTorenȱȱ nungȱderȱEmpfänȬ
gerȱ
18,25ȱDerȱSpäher:ȱeinȱFreuȬ T D
denboteȱ
18,26ȱDerȱSpäherȱsiehtȱeinenȱ JTȱ ȱ
zweitenȱBotenȱ
DerȱKönigȱhältȱihnȱfürȱzweiȬ LT [(2x)ȱ/ȱT D
tenȱFreudenboten
18,27ȱSpäher:ȱAhimaaz,ȱderȱ JTȱ ȱ
SohnȱdesȱZadokȱȱ
König:ȱguterȱMann,ȱguteȱ DY[T D
Freudenbotschaftȱȱ
ȱ
166 Klaus-Peter Adam
schaft nicht übermitteln.120 Der erste Bote kennt den Inhalt der Bot-
schaft, hat jedoch falsche Vorstellungen über die Wirkung, die sie aus-
lösen wird, weil er den Tod Absaloms als Freudenbotschaft inter-
pretiert.
120 V 29: [VF[NY[V[T; vgl. den ersten Botenauftrag V 21a: „Berichte, was du gese-
hen hast (JV[TT)!“
121 Vgl. 18,21: „Berichte dem König, was du gesehen hast (JT)!”
122 Das Hitpael drückt die Sichtbarkeit des Status’ einer Person oder Sache aus, den das
Verb im Piel ausdrückt. Vgl. auch die Bedeutung von DPhitp, „sich als Prophet ge-
bärden; vorgeben, Prophet zu sein“ in 1Sam 19,18-24. Zum „Vortäuschen“ als Be-
deutungsaspekt des Hitpael vgl. Gesenius-Kautzsch, Grammatik, § 54 als Reflexiv
zum Piel; P. Joüon, A Grammar of Biblical Hebrew, Vol. 1, Part One: Orthography
and Phonetics, Part Two: Morphology, Subsidia Biblica 14/I, Rom 1996, 159; sowie
im Arabischen das Reflexiv zum II. Stamm mit der Bedeutung des Sich-Verstellens,
tanabba’a „sich für einen Propheten ausgeben“, W. Fischer, Grammatik des Klassi-
schen Arabisch, Porta Linguarum Orientalium 11, Wiesbaden 32002, 88. Zu DP hitp
168 Klaus-Peter Adam
sich eine gute Botschaft bringen lassen“ – und wie bei einer Siegesbot-
schaft verhalten. Nicht ohne Ironie wird geschildert, wie der Kuschit
den König indirekt auffordert, sich nach außen hin wie beim Empfang
einer Frohbotschaft zu verhalten.
Die Anweisung zur Freude über die Siegesbotschaft entspricht in
ihrer Absicht Joabs Empfehlung 2Sam 19,6-8, David möge um der ihm
gegenüber loyalen Mitstreiter willen nun die Trauer um den abtrünni-
gen Absalom beenden und die Regierungsgeschäfte wieder aufnehmen
(19,9). Die Intention der Botenszene erschließt sich ausgehend von der
Thematik des Verhaltens des Königs nach dem Tode Absaloms im fol-
genden Gespräch zwischen Joab und David. Literarisch dürften die
beiden Abschnitte von der Botensendung in 18,19-19,1 und der folgen-
de Abschnitt von 19,2-8 der Abschlussnotiz des Absalomaufstandes in
19,9 gefolgt sein.123
Die Paralelle zwischen der Mahnung Joabs an David, die Regie-
rungsgeschäfte wieder aufzunehmen in 2Sam 19,6-8 und der Anwei-
sung zur Freude über die „Siegesbotschaft“ in 18,31 unstreicht die Be-
deutung der differenzierten Darstellung der Kommunikationsvor-
gänge. Der Bote nötigt David seinen Bericht als Siegesmeldung auf, mit
dem Ziel, dass David sich nach außen hin als Empfänger einer Sieges-
meldung zeige. David verweigert sich ihr. Seine Fixierung auf eine
Freudenbotschaft bewirkt, dass er alle Ankündigungen eines anderen
Ausganges ebenso überhören will, wie die Aufforderung, eine Sieges-
botschaft entgegenzunehmen. Weitere Einzelheiten beschreiben die
komplexen Kommunikationsvorgänge in dieser Szene, so das wieder-
holt genannte „Sehen“ des Boten (V 21 und 29) und das Sehen des Spä-
hers des Königs (V 26.27), mit dem dieser von der Schlacht berichtet.
Während David auf den Boten wartet, werden die Widersprüche ge-
schildert, in die sich David verrennt, weil er seine Hoffnung auf einen
als Vortäuschen von Prophetie, vgl. R. R. Wilson, Prophecy and Ecstasy: A Reexami-
nation, JBL 98 (1979) 321-337, 330-331 und zur Bedeutung „vorgeben, etwas zu tun“
vgl. auch FSVJ „sich als heilig zeigen“mit exilisch-nachexilischen Belegen, vgl.
M. Kornfeld / H. Ringgren, FS, ThWAT 6 (wie Anm. 17), 1179-1204, 1186: „sich in
den Status der Weihe, der kultischen Reinheit versetzen” Jos 3,5; 7,18; Num 11,18
u. a. Vgl. ferner ]MZVJ Ex 1,10; Koh 7,16; Sir 10,26 und dazu Krause / Müller, ]MZ,
ThWAT 2 (wie Anm. 17), 920-944, 927: das Moment der Überspitzung schwingt mit.
Vgl. auch TVJProv 13,7; Sir 11,18; TT VJ Num 16,13(2x); Ri 9,22; Jes 32,1;
Prov 8,16; Est 1,22, vgl. Niehr, T , ThWAT 7 (wie Anm. 17), 855-879, 864: mit abwer-
tendem Aspekt.
123 In der relativen Abfolge setzen 18,19-19,1 die folgende Szene 19,2-8 voraus; letztere
dürfte die voranstehende Szene aus sich herausgesetzt haben. Als literarische Folge
(ohne hier eine absolute Datierung vorzuschlagen) ergibt sich 19,9 – 19,2-8 – 18,18-
19,1, wobei der Schlussvers 19,9 in einer Grundfassung des Absalomaufstandes ent-
halten ist, wie sie Kratz, Komposition (wie Anm. 5), 190 vorschlägt.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 169
Explizit geht die Szene auf das unterschiedliche Verständnis der Bot-
schaft bei beiden Dialogpartnern ein. Während der Bote denkt, er be-
richte, Ödipus sei König von Korinth, weiß Iokaste (und Ödipus), dass
der eigentliche Inhalt seiner Botschaft der Tod des Polybos ist. Der Bote
weiß nicht, dass er (falsche) Nachricht über die Verlässlichkeit des Ora-
kels des Apollo bringt. Die Nachricht vom Tode des Polybos’ kann
daher auf mehr als eine einzige Art verstanden werden und diese Dis-
krepanz spiegelt sich in der unkonventionellen Form der Botschafts-
übermittlung, wie sich in der folgenden Begegnung Ödipus’ mit dem
Boten ebenfalls zeigen lässt.130
Der Exangelos, der in 1223 eintritt, entspricht formal dem konventi-
onellen Boten. Er informiert den Chor (und die Zuschauer) über Io-
kastes Tod und Ödipus’ Blendung und er erklärt ausführlich, wie die
Ereignisse zustande kamen, die er berichtet. Dabei reflektiert er, wie
unzureichend und unvollständig sein eigener Bericht notwendig ist,
liefert seinen eigenen Bericht als bewusst subjektive Darstellung und
benennt ausdrücklich die Grenzen seines Wissens.131 Er bezieht sich auf
das Sehen, dessen sich Ödipus durch seine Blendung enthoben hat. Als
ein am Ende physisch Geblendeter reflektiert das Stück an Ödipus und
den übrigen dramatis personae die metaphorisch mit dem Sehen be-
zeichnete Thematik der Erkenntnis, wie oft dargelegt wurde.132
128 Soph. Oid. T. 936-941, übersetzt von W. Willige / K. Bayer, Sophokles. Dramen.
Griechisch und Deutsch, Düsseldorf / Zürich 2003. Textausgabe Lloyd-Jones / Wil-
son, Sophoclis (wie Anm. 90): Ȋó İ’Ԥʍȡȣ ȡՙȠıȢ – ijչȥį Աİȡțȡ Ȟջȟ ʍȣ İ’ ȡȜ Ԕȟ;
ԐIJȥįȝȝȡțȣ İ’ՀIJȧȣ. ijտ İ’ԤIJijț; ʍȡտįȟ İփȟįȞțȟ կİ’ Ԥȥıț İțʍȝ׆ȟ; ijփȢįȟȟȡȟ įijրȟ ȡՙʍțȥօȢțȡț
ȥȚȡȟրȣ ij׆ȣ ՄIJȚȞȔįȣ IJijșIJȡȤIJțȟ, թȣ șİֻij’ ԚȜıה. ijտ İ’ ȡȥ Ս ʍȢջIJȖȤȣ ȇցȝȤȖȡȣ ԚȗȜȢįijռȣ
ԤIJijț;
129 Soph. Oid. T. 943-944 übersetzt von Willige / Bayer, Sophokles. Dramen (wie Anm.
128). Textausgabe Lloyd-Jones / Wilson, Sophoclis (wie Anm. 90): ʍȣ ıՀʍįȣ; Բ
ijջȚȟșȜı<ȟ ȆԼİտʍȡȤ ʍįijսȢ>; ıԼ Ȟș ȝջȗȧ ijԐȝșȚջȣ, ԐȠț Țįȟıהȟ.
130 Vgl. Barett, Staged Narrative (wie Anm. 119), 192-193.
131 1251: ȥլʍȧȣ Ȟպȟ ԚȜ ijȟİ’ ȡȜջij’ ȡՂİ’ ԐʍցȝȝȤijįțǝ
132 Vgl. 1238.1253.1254.1263.1267.1271.1273-1274.1295. Vgl. zur Thematik des Sehens
auch Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), 196-205; 207-209 und vgl. die Zu-
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 171
134 Vgl. die Bellerophontessage in Homer, Ilias VI, 167-193, Textausgabe M. L. West,
Homerus Ilias, Vol. 1 Rhapsodiae I-XII, Stuttgart 1998. Vgl. zur Parallele J. Schick,
Das Glückskind mit dem Todesbrief, Vol. 1 Orientalische Fassungen, Vol. 2: Europä-
ische Sagen des Mittelalters und ihr Verhältnis zum Orient, Corpus Hamleticum 1.
Abteilung, Berlin 1912, Leipzig 1932; H. Gunkel, Das Märchen im Alten Testament,
Tübingen 1921, 132 und zu weiterer Literatur T. Naumann, David als exemplari-
scher König. Der Fall Urijas (2 Sam 11) vor dem Hintergrund altorientalischer Er-
zähltraditionen, in: De Pury / Römer (Hgg.), Thronfolgegeschichte (wie Anm. 1),
136-167, hier 139 Anm. 6 und 7; 142-143.
135 Ihr mag eine lykische Sage aus vorhomerischer Zeit zugrunde gelegen haben, vgl.
P. Frei, Die Bellerophontessage und das Alte Testament, in: B. Janowski / K. Koch /
G. Wilhelm (Hgg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien,
Nordsyrien und dem Alten Testament im 2. und 1. vorchristlichen Jahrtausend
(OBO 129), Göttingen / Fribourg 1993, 39-65, hier 40-42.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 173
Ergebnis
141 Vgl. zur Verwendung eines kulturell vorgegebenen Plots für die Beurteilung und die
Interpretation einer Erzählung auf der Ebene der mimesis II, P. Ricœur, Temps et
récit. Tome 1 (wie Anm. 23), 125-135. Die Einordnung der Erzählfiguren und -motive
in einen Handlungsablauf hat P. Ricoeur in der Analyse fiktionaler Erzählungen als
mimesis II ausführlich beschrieben, vgl. dazu oben S. 137-138.
142 Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), XIX.
143 Barrett, Staged Narrative (wie Anm. 119), XVI.
144 Von ihr unterscheiden sich ältere kurze biblische Erzählsequenzen von Boten, die
lediglich Nachrichtenübermittlung thematisieren, wie z.B. 1Kön 15,16-22 und
2Kön 16,5.7-9.
145 Vgl. oben zu 2Sam 11. Strukturelle Parallelen in der Art der Botenberichte zeigten
sich zur nachklassischen Form der Tragödie des 4. Jh., vgl. oben.
146 Eine direkte literarische Beziehung zwischen Epos und Drama ist aufgrund der
Mischung unterschiedlicher Elemente aus den Genres Epik, Lyrik, Elegie im Drama
unwahrscheinlich, vgl. C. J. Herington, Poetry into Drama. Early Tragedy and the
Greek Poetic Tradition, Berkeley 1985. Die Dramen bedienen sich allerdings einer
Fülle von Redeformen und die Funktion der Botenszenen in der Tragödie entspricht
in vielerlei Hinsicht derjenigen im Epos.
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 175
Schilderungen von Kriegen mit den Ammonitern (1Sam 11; 2Sam 11),
sowie Botenberichte der Daviderzählungen (1Sam 31; 2Sam 1.18) dien-
ten als Beispiele narrativer Geschichtsschreibung über die frühe Kö-
nigszeit. In der Wertung der Figuren entsprechen sie einer Tendenz der
narrativen Überlieferung der beiden Dynastiebegründer Saul und Da-
vid. Es wurde deutlich, dass die Kriegserzählung 1Sam 11 vor allem
dazu dient, den Kontrast zwischen den Figuren Saul und David erzäh-
lerisch auszugestalten. Die beiden gegensätzlich geschilderten Figuren
der Erzählüberlieferung dienen dabei als Folie für die Reflexion späte-
rer Entwicklungen der judäischen und israelitischen Dynastie. Auch
die Botenberichte in 1Sam 31 und 2Sam 1 erwiesen sich als narrative
Ausgestaltungen des Geschicks Sauls. Als Element des als tragisch
geschilderten Verlaufs einer Königsdynastie thematisiert der Bericht
von Sauls Tod (wie auch 2Sam 18) anhand der Botenfigur auch episte-
mologische Fragen. Diese verschiedenen aufgezeigten Intentionen der
Erzählungen prägen nicht nur die Episoden selbst, sondern auch deren
Anordnung. Sie werden als Einzelüberlieferungen aneinander gereiht
und diese Reihung bedingt eine besondere Form der Handlungsfolge.
In einer Ablauflesung erscheint der Plot auf der Textoberfläche an
mehreren Stellen als gebrochen. Verbindende Elemente zwischen den
Einzelerzählungen stellen hingegen besonders Analogien und Ätiolo-
gien149 sowie die eingesetzten Orakelzitate150 her, die später Eintreffen-
147 Diese Ordnungsfunktion deckt der epische Erzähler ab; vgl. Barrett, Staged Narrati-
ve (wie Anm. 119), 4.
148 In den Daviderzählungen ist dies zumeist eine projudäische Tendenz; davidkritisch
jedoch sind u.a. 2Sam 11.
149 Vgl. dazu aus der Fülle der Literatur R. Smend, Elemente alttestamentlichen Ge-
schichtsdenkens (ThSt 95), Zürich 1968, 11-14; 18-23. – Literarische Formen der Re-
flexion der Vergangenheit bilden einen Teil jeder Geschichtsdarstellung. Man kann
176 Klaus-Peter Adam
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ
155ȱȱ HerodotȱverbindetȱverschiedeneȱErzählungenȱdurchȱdenȱZusammenhangȱvonȱRacheȱ
oderȱVergeltung;ȱvgl.ȱThomas,ȱFloatingȱGapȱ(wieȱAnm.ȱ153),ȱ201.ȱVglȱinȱdenȱPerserȬ
kriegenȱ etwaȱ Aeginasȱ Streitȱ mitȱ Athenȱ derȱ chronologischȱ schwerȱ zuȱ platzierenȱ ist;ȱ
dochȱhatȱdieȱEpisodeȱinȱHerodotsȱBerichtȱeineȱentscheidendeȱFunktionȱfürȱdieȱRolleȱ
vonȱAthensȱEntwicklungȱvorȱdemȱEinmarschȱderȱPerser,ȱvgl.ȱ5.81Ȭ89;ȱ82.1:ȱ„DenȱAnȬ
lassȱzurȱFeindschaftȱderȱAiginetenȱgegenȱdieȱAthenerȱhatteȱfolgendesȱgegeben.“ȱDieȱ
feindliche,ȱfreundschaftlicheȱundȱvonȱVergeltungȱgeprägteȱBezügeȱzwischenȱSamos,ȱ
Sparta,ȱ Korinthȱ undȱ Corcyraȱ enthaltenȱ eineȱ Reiheȱ vonȱ Kontaktenȱ zwischenȱ diesenȱ
Staaten,ȱ dieȱ nichtȱ inȱ einemȱ chronologischenȱ Ordnungsschemaȱ eingeordnetȱ sind,ȱ
sondernȱderenȱAnordnungȱvonȱdenȱVerhältnissenȱzwischenȱdenȱbeteiligtenȱMonarȬ
chenȱ abhängtȱ (3.44Ȭ53).ȱ Cylonsȱ Coupȱ undȱ derȱ Ursprungȱ desȱ Alcmaeonidenfluchesȱ
bildenȱUrsprungserzählungenȱmitȱexplikativerȱFunktion,ȱderenȱchronologischeȱVerȬ
ortungȱvölligȱoffenȱbleibtȱ(5.71),ȱvgl.ȱThomas,ȱFloatingȱGapȱ(wieȱAnm.ȱ153),ȱ205.ȱ
156ȱȱ Derȱ Erfolgȱ undȱ dasȱ Scheiternȱ desȱ Krösusȱ erklärenȱ nichtȱ dasȱ ganzeȱ Schicksalȱ desȱ
Xerxes,ȱaberȱKrösusȱpräfiguriertȱinȱVielemȱdenȱspäterenȱXerxes;ȱvgl.ȱD.ȱLateiner,ȱTheȱ
HistoricalȱMethodȱofȱHerodotus,ȱTorontoȱ1989,ȱ196.ȱ
157ȱȱ DiesȱlässtȱsichȱexemplarischȱamȱKrösusȬLogosȱerkennen.ȱWährendȱKrösus’ȱScheiternȱ
denȱPriesternȱinȱDelphiȱimȱVorausȱbewusstȱgewesenȱseinȱmag,ȱfindetȱseineȱVerwerȬ
fungȱ dochȱ genügendȱ Grundȱ inȱ seinerȱ verrücktenȱ Entscheidung,ȱ einenȱ armen,ȱ aberȱ
dochȱstarkenȱundȱtapferenȱFeindȱanzugreifen,ȱvgl.ȱLateiner,ȱMethodȱ(wieȱAnm.ȱ156),ȱ
208.ȱȱ
158ȱȱ MöglicheȱdirekteȱBezügeȱderȱDarstellungsformȱbiblischerȱGeschichtsschreibungȱaufȱ
griechischeȱParallelenȱsindȱsorgfältigȱzuȱprüfen.ȱEinenȱbeabsichtigtenȱKontrastȱzwiȬ
schenȱHerodotsȱundȱderȱbiblischenȱUrgeschichteȱ(primaryȱhistory)ȱerwägtȱJ.ȱW.ȱWesȬ
selius,ȱTheȱOriginȱofȱtheȱHistoryȱofȱIsrael.ȱHerodotus’ȱHistoriesȱasȱBlueprintȱforȱtheȱ
FirstȱBooksȱofȱtheȱBibleȱ(JSOT.Sȱ345),ȱSheffieldȱ2002,ȱ99Ȭ100.ȱDochȱlegtȱsichȱangesichtsȱ
derȱallgemeinenȱVergleichsebenenȱzwischenȱbeidenȱGeschichtswerkenȱeineȱKenntnisȱ
HerodotsȱbeiȱdenȱbiblischenȱAutorenȱderȱUrgeschichteȱnichtȱnahe.ȱȱ
159ȱȱ Vgl.ȱ F.ȱ W.ȱ Walbank,ȱ Historyȱ andȱ Tragedy,ȱ in:ȱ ders.,ȱ Selectedȱ Papers:ȱ Studiesȱ inȱ
Greekȱ andȱ Romanȱ Historyȱ andȱ Historiography,ȱ Cambridgeȱ 1985,ȱ 224Ȭ241,ȱ hierȱ
238Ȭ239.ȱȱ
Erzählerwertung und Geschichtsverständnis in den Samuelbüchern 179
Abstract
The lack of the author’s expressed view is often thought to be the main
characteristic feature of biblical as opposed to Greek historiography. In
juxtaposing biblical and Greek ways of dealing with the past, it is as-
sumed that both Greek tragedy and the narratives of the early kingship
in Israel use the review of the foundational or mythic past in order to
consider current issues.
Consequently, the first part shows conceptual and formal parallels
between Greek drama and the exemplaric narrative of Saul’s campaign
against the Ammonites 1Samuel 11. It is claimed that Saul is described
from a distanced perspective and with ironic undertones.
The second part deals with messenger scenes in Greek tragedies, in
1Sam 31, 2Sam 1 and 2Sam 18:19-19:1. The character of the anonymous
messenger is an ideal means to express an author’s particular intention,
especially in a dramatic setting. This character of the anonymous mes-
senger indicates the closeness of biblical and Greek historiography.
The concluding third part considers the episodic structure of bibli-
cal historiography in narratives about oracular announcements, the oral
narration and the aural reception and, the reasons for a critical percep-
tion of the Israelite kings as non-Judeans.
Periodizing Egyptian History:
Manetho, Convention, and Beyond1
Thomas Schneider
1 The main ideas of this contribution were first formulated for a lecture given at the
University of Chicago in January 2001 and published in German as T. Schneider, Die
Periodisierung der ägyptischen Geschichte: Problem und Perspektive für die ägypto-
logische Historiographie, in: T. Hofmann / A. Sturm (Hgg.), Menschen-Bilder / Bil-
der-Menschen. Kunst und Kultur im Alten Ägypten, Norderstedt 2003, 241-256,
where a periodization attempt was made for the 1st millennium BC. This section has
been omitted here and the main text partly modified and revised. I should like to
thank Mrs Ruth Washington (Zurich) for having improved the style of my Chicago
paper and Dr. Kasia Szpakowska for having read and commented upon the present
version.
2 M. Liverani, Ramesside Egypt in a Changing World. An Institutional Approach, in:
I. Brancoli (Hg.), L’impero ramesside. Convegno internazionale in onore di Sergio
Donadoni, Roma 1997, 101-115 (who sees territory vs. ethnicity as the distinctive fea-
tures of Bronze Age vs. Iron Age states, 113f.).
3 A. Wiedemann, Ägyptische Geschichte, Gotha 1884.
182 Thomas Schneider
ruler of dynasty 20, all the more as it appears quite naturally delimited
by two other historical periods, the erratic block of the Amarna Period
and the distinct Third Intermediate Period. Is it important to reappraise
this and other traditional divisions of Egyptian history? In a memoran-
dum on the historiography of the Ancient Near East, Marc van de
Mieroop has emphasized with regard to classic periodization schemes
that „such images are not entirely invented, but (...) their determinism
(is) so strong, that they impede historical insight“.4 This view is not
commonly accepted in Egyptology. It is true that Donald B. Redford
has argued, along the same lines, that the shape given by Manetho to
our sense of Egyptian history is by no means sacrosanct, or even mean-
ingful, and cries out to be abandoned.5 More reluctant to do so was
William Murnane who called for not discarding lightly the ancient
Egyptian framework and maintained that he did not see Manetho as
monopolizing, or exerting any kind of stranglehold on our understand-
ing of Egyptian history.6 It is crucial here to clarify that the structure
given to the Egyptian past by modern Egyptology is only partly
Manethonian (or even genuinely Egyptian). Its key elements were
forged in the second half of the 19th and the first half of the 20th cen-
tury when a preliminary modern understanding of Egyptian history
was superimposed on a much more basic chronological grid. This dy-
nastic grid was provided by Manetho, while the superimposed struc-
ture was directly informed by the political state of affairs of to the late
19th and early 20th century. This conventional framework that is basic
to presentations of Egyptian history is characterized by a sequence of
golden ages and alleged times of crisis. The prevalent designation of
the former ones as „Kingdom“, „empire“ and „Reich“ was modeled in
the latter half of the 19th and the early 20th century on contemporary
models of European national states labeled. The first to propose a tri-
partite division for Egypt’s history was C.C.J. Bunsen in 1845 (with the
three periods of Altes Reich = Menes until the beginning of dynasty 13,
Mittleres Reich = Hyksos until dynasty 17, and Neues Reich = the history
from the 18th dynasty onward). In this periodization, the Old Kingdom
included what is today the Middle Kingdom, whereas Bunsen’s Middle
Kingdom encompassed what is today the Second Intermediate Period.
4 M. van de Mieroop, On Writing a History of the Ancient Near East, in: BiOr 54
(1997), 285-505: 290ff., citation from p. 292.
5 D. B. Redford, The Writing of the History of Ancient Egypt, in: Z. Hawass (Hg.),
Egyptology at the Dawn of the Twenty-First Century. Proceedings of the Eighth In-
ternational Congress of Egyptologists, Cairo 2000, vol. 2, Cairo 2003, 1-11: p. 4.
6 W. Murnane, Response to D. B. Redford, in: Hawass (Hg.), Egyptology (as n. 5), 15-
19: p. 17.
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 183
15 H. Frankfort, Egypt and Syria in the First Intermediate Period [highlighted TS], in: JEA
12 (1926), 80-99. In J. H. Breasted’s earlier History of Egypt, the time of the First In-
termediate Period is still linked directly to the Old Kingdom without any term of its
own.
16 An attestation from 1929 is referred to by R. Müller-Wollermann, Krisenfaktoren (as
n. 7), 7. Cf. also A. M. Blackman / E. Peet, The Intermediate Period and Middle King-
dom [highlighted TS], in: E. Denison Ross (Hg.), The Art of Egypt through the Ages,
London 1931, 21-28. In 1933, H. Junker, Die Ägypter, in: H. Junker / L. Delaporte, Die
Völker des Alten Orients, Freiburg i.Br. 1933, uses the paraphrasing term „Die Über-
gangszeit zwischen Altem und Mittlerem Reich“, whereas H. Kees (Ägypten, Mün-
chen 1933, 356) adheres to the dynastic reference „Herakleopolitenzeit“.
17 A. Erman, Eine Revolutionszeit im Alten Ägypten, in: Internationale Monatsschrift
für Wissenschaft, Kunst und Technik 6 (1912), 19-30 (designation applied to the time
described in the Admonitions); „in der Revolutionszeit“ (= time after the First World
War): A. Erman, Mein Leben und Wirken. Erinnerungen eines alten Berliner Gelehr-
ten, Leipzig 1929, 289.
18 M. Pieper, Die ägyptische Literatur, Wildpark-Potsdam 1928, 22.25.
19 E.g. J. Vandier, Stèles de soldats de la Première Période Intermédiaire, 1943;
H. Stock, Die erste Zwischenzeit Ägyptens (Studia Aegyptiaca II), 1949 (ms. comple-
ted in 1947); J. J. Clère / J. Vandier, Textes de la Première Période Intermédiaire et de
la XIe dynastie (BiAeg 10), Brüssel 1948; A. Weigall, Histoire de l'Égypte Ancienne,
Paris 1949.
20 H. Stock, Studien zur Geschichte und Archäologie der 13. bis 17. Dynastie unter
besonderer Berücksichtigung der Skarabäen dieser Zwischenzeit [highlighted TS]
(ÄgFo 12), Glückstadt 1942 (ms. completed in 1940).
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 185
21 H. Ritter, art. Periodization, in: id., Dictionary of Concepts in History, New York etc.
1986, 313-319: 316. On the category of times of decline cf. also R. Koselleck / P. Wid-
mer (Hgg.), Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema (Sprache und Ge-
schichte, Band 2), Stuttgart 1980. Cf. also Robert Ritner’s pertinent remarks in: id.,
Implicit Models of Cross-Cultural Interaction: A Question of Noses, Soap, and Pre-
judice, in: J. Johnson, Life in a Multi-Cultural Society: Egypt from Cambyses to Cons-
tantine and Beyond (SAOC 51), Chicago 1992, 283-290: p. 284.
22 Cf. L. D. Morenz, Personennamen und eine familiäre Gottesbeziehung in der Zeit
der Regionen (Erste Zwischenzeit), in: BN 101 (2000); id., Geschichte(n) der Zeit der
Regionen („Erste Zwischenzeit“) im Spiegel der Gebelein-Region. Eine fragmenta-
risch dichte Beschreibung, unpublished Habilitationsschrift Universität Tübingen
2001.
23 T. Schneider, Ausländer in Ägypten während des Mittleren Reiches und der Hyk-
soszeit. Teil I: Die ausländischen Könige (ÄAT 42/1), Wiesbaden 1998, 167. Cf. id.,
The Relative Chronology of Dynasties 12-17, in: E. Hornung / R. Krauss / D. A. War-
burton, Ancient Egyptian Chronology (Handbook of Oriental Studies. Section 1: The
Near and Middle East, 83), Leiden / Boston 2006, n.1.
186 Thomas Schneider
It needs to be said here that the work of art singled out here as extraor-
dinary by Assmann is not so much a pattern modelled by the past but
an artificial construction set up by modern historiography. In general
terms, assuming history to be so simply patterned is very improbable.
As the historian R.G. Collongwood put it: „This (...) is not and never
can be historically true. It tells us much about the historians who study
the facts, but nothing about the facts they study.“25 Egyptological usage
of the aforementioned conventional periodization may have had some
pragmatic or didactic value. But, as Harry Ritter in the Dictionary of
Concepts in History holds, „convention easily seduces the unwary into
taking periodization too literally and naively confusing mental con-
structs with the events one wishes to analyze; thus, concepts such as
‘antiquity,’ ‘middle ages,’ or ‘Renaissance’ are often endowed with a
cognitive status they do not deserve.“26 It seems apparent that the Ma-
nethonian dynastic grid and conventional periodization which have
become the two-layered structure for standard interpretations of Egyp-
tian history are a stranglehold. The very fact that no other attempts at
periodizing Egyptian history exist and that the description of cultural
phenomena has been conducted more often than not along these preset
framelines is an outspoken proof to the fact that this view can indeed
be seen as a compulsion.
Problem der Periodisierung, Köln 1980; A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die
Perspektiven historischer Periodisierung, in: HZ 239 (1984), 309-351; H. Ritter, art.
Periodization, in: id., Dictionary of Concepts in History, New York etc. 1986, 313-319;
R. Herzog / R. Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, Mün-
chen 1987 (Poetik und Hermeneutik, 12); J. Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien histori-
schen Denkens, Frankfurt a.M. 1990; O. Dumoulin / R. Valéry (Hgg.), Périodes. La
construction du temps historique. Actes du Ve colloque d‘Histoire au Présent, Paris
1991; J.R. Hall, Periodization / Sequences, in: P. N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of So-
cial History, New York / London 1994, 558-561; L. Besserman (Hg.), The Challenge of
Periodization: Old Paradigms and New Perspectives, New York etc. 1996, 3-27; H.-J.
Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek
bei Hamburg 1996, 168ff.; J. Topolski, Periodyzacja w konstrukcji narracyjnej [Perio-
dization in the narrative construction], in: id., Jak sie pisze i rozumie historie. Tajem-
nice narracji historycznej [How to write and understand history. The secrets of histo-
rical narration], Warszawa 1996, 129-140; M. Golden / P. Toohey (Hgg.), Inventing
Ancient Culture. Historicism, Periodization, and the Ancient World, London / New
York 1997; K. E. Müller / J. Rüsen (Hgg.), Historische Sinnbildung: Problemstellun-
gen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei
Hamburg 1997; J. H. J. van der Pot, Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte.
Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen, Leiden / Boston /
Köln 1999; R. Bonnaud, Tournants et périodes. Essais sur les durées historiques et les
années récentes, Paris 2000.
188 Thomas Schneider
Since, however, the relics of the past become a history imbued with
significance only through the order and interpretation of the historian,
since history does not exist as a fact but merely as problems and con-
structions,30 this criticism misses the point. Similar was the judgment
the Italian historian Benedetto Croce put forward when he stressed, in
a famous vote from 1919, that periods are fabrications that have no e-
xistence apart from the minds of historians, and that periodization is
basically „an affair of imagination, of vocabulary, and of rhetoric,
which in no way changes the substance of things“31 – much too subjec-
tive an affair for enabling an understanding of history. It must, though,
be emphasized that no substance of things of the past exhibits itself
without the intermediary of a modern interpreter, a bias acknowledged
universally in historiography. Periods consist of both an objective and a
37 A. Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre ge-
schehen, wenn ...? 3., erw. Aufl., Göttingen 2001.
38 U. Heimann-Störmer, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtsschreibung. Eine
Fallstudie zur Historiographie des Bismarck-Reiches (Europäische Hochschulschrif-
ten. Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 463), Frankfurt a.M. etc.
1991; P. Burg, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtswissenschaft, AfK 79 (1997),
211-227; W. Suerbaum, Am Scheideweg zur Zukunft. Alternative Geschehensverläu-
fe bei römischen Historikern, in: Gymnasium 104 (1997), 36-54; N. Ferguson (Hg.),
Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London 21998 (German edition:
Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1999);
K. Macksey (Hg.), The Hitler Options. Alternate Decisions of World War II, London
1998; M. Salewski (Hg.), Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brü-
cken zwischen Phantasie und Wirklichkeit (Historische Mitteilungen, Beiheft 36),
Stuttgart 1999; K. Brodersen, Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte,
Darmstadt 2000; J. C. Exum (Hg.), Virtual History and the Bible, Leiden 2000;
J. North (Hg.), The Napoleon Options. Alternate Decisions of the Napoleonic Wars,
London 2000.
39 A. Dodson, Two Who Might Have Been King: Crown-Prince Thutmose (V) and
Generalissimo Nakhtmin, Amarna Letters. Essays on Ancient Egypt, I, San Francisco
1991, 26-30; D. Wildung, Le frère aîné d'Ekhnaton. Réflexions sur un décès prématu-
ré, in: BSFE 143 (1998), 10-18.
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 191
gere Sicht auch mit der jungen abendländischen Kultur gewahrt werden.
Selbstverständlich kann weder Haremhab noch einem seiner Zeitgenossen eine sol-
che Alternative als bewußte Überlegung unterstellt werden. Aber dem Historiker
muß es erlaubt sein, an geschichtlichen Wendepunkten mit seiner Bewußtheit
deutlich zu machen, wie eine Entscheidung, aus was für Gründen immer sie ge-
troffen sein mag, den Gang der Geschichte für Jahrhunderte in eine bestimmte
Richtung weisen kann [text highlighted by TS].“ 40
dismissal had a long line of defenders before Helck, from Adolf Erman
(decline and decadence of Egypt after Amarna) to Kurt Lange, as had
the evolutionist dismissal of the first millennium (J. H. Breasted), or
even the New Kingdom as a whole (H. Kees’s view of the Epigonentum
des Neuen Reiches). Although this position is now by and large obsole-
te,45 the question remains how continuity and discontinuity from the
18th dynasty to the Ramesside Age and within the latter should be
weighted, and if the Amarna Age deserves a specific status within tho-
se times.
The break at the second side of the Ramesside dynasties is reiter-
ated in all recent outlines of Egyptian history which see a clear histori-
cal cut under Ramesses XI.:
„Der Übergang von der Spätbronzezeit zur frühen Eisenzeit, anders aus-
gedrückt, der Übergang vom Neuen Reich zur Spätzeit, bedeutet für die
gen werfen sich die Menschen in die Arme Gottes, d. h. sie verzichten auf eine eige-
ne Führung ihres Lebens.” He perceives the lack of ethical obligations as a result of
the abolition of „truth” which had been discredited in the Amarna Age. „Damit aber
verschwindet auch jede Rechtssicherheit, was in der Bevölkerung zu Unruhe und
letztlich zu Resignation führt. Es entsteht das, was wir beschönigend „Persönliche
Frömmigkeit“ nennen; in Wahrheit ist es die Aufgabe des Strebens nach Recht und
Gerechtigkeit und die Übergabe der Person und des Lebens an den unerforschlichen
Ratschluß eines Gottes. Hiermit kapituliert man vor den übermächtigen chaotischen
Kräften innerhalb der ägyptischen Gesellschaft. Wenn aber niemand mehr danach
strebt, die Welt aus eigenen Kräften heraus zum Guten zu lenken, ist der Bestand ei-
nes Staates nicht mehr zu retten. In der Tat verfault der ägyptische Staat in dieser
Zeit“ (p. 71). „Es wird von manchen Ägyptologen energisch bestritten, daß die ägyp-
tische Kultur im Grunde seit der Katastrophe von Amarna todkrank und mit der 20.
Dynastie gestorben ist, weil wir ja bis tief in die römische Kaiserzeit in den Tempeln
von Edfu, Dendara, Kom Ombo und manchem anderen kleinen Ort unendliche Tex-
te besitzen, die uns geistiges Leben vorspiegeln. Doch diese Texte sind entweder
Überlieferungen der Vergangenheit oder Spekulationen von Priestern, im Elfenbein-
turm ihrer Tempelzellen erspielt (...). Wenn man den Kampf des Menschen um ein
Leben in Vernunft und eine Befreiung von magischen Vorstellungen und die Besei-
tigung von repressiven Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft als Zeichen einer
lebendigen Kultur ansieht, so ist das letzte Jahrtausend der altägyptischen Geschich-
te zu vernachlässigen; am Todesstoß von Amarna verblutet Ägypten geistig, bis nur
noch eine leblose Mumie übrigbleibt, die letztlich auch, ehrfurchtsvoll bestaunt, in
Staub zerfällt“ (p. 78f.).
45 Miriam Lichtheim has judged Helck’s statements as follows: „This final paragraph
yields the key to Helck’s sweeping dismissal of Egypt’s last millennium. An odd
key. For if the criteria of a living culture are rationality and freedom from absolutist
power structures, then the Old, Middle, and New Kingdoms do not qualify as live
cultures either. The facts, it seems to me, are two. One, Helck’s dismissal of the first
millennium B.C. was a personal idiosyncrasy. Two, most of the work on Egypt’s cul-
tural history in the first millennium B.C. has yet to be done.“ (Moral Values in An-
cient Egypt [OBO 155], Fribourg / Göttingen 1997, 60).
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 193
49 Cf. Málek, La division de l'histoire d'Egypte (as n. 47), p. 6: „Ce terme [dynastie]
implique souvent de façon incorrecte une période historique bien définie.“
Periodizing Egyptian History: Manetho, Convention, and Beyond 195
Abstract
154, 160, 162, 170, 176, 178, 60-61, 66, 82-83, 90, 93, 97-
184 98, 101, 103, 117 Anm. 35,
Erinnerung, Erinnerungskultur 120, 131-133, 137, 147 Anm.
19, 21, 23 Anm. 113, 53, 57- 50, 153-156, 159-163, 166-
58, 93, 124, 150 Anm. 63, 167, 170-172, 174-179, 180,
184 Anm. 17 186-187, 189, 194
Erlass 34-35 Formeln 4, 6-7, 11-12, 16, 21, 37,
Erra 126 Anm. 54-55 63, 96
Erzählen, Erzähler, Erzählung Fragment 35, 54, 90 Anm. 6, 103
3-4, 45-46, 53, 57, 60-61, 63- Anm. 32, 118 Anm. 37, 119
64, 66, 70, 72-73, 76, 83-84, Freiheit 56-57, 74, 80, 81, 83, 177
90, 107-115, 117, 119-120, Anm. 153
122-125, 127, 134, 137-139, Freudenbotschaft 165-168
141 Anm. 30, 145-146, 154, Führer 79-80, 83
156, 160-163, 172, 174-175 Funktion 14, 28 Anm. 7, 33-35
Erzählerkommentar 134 Anm. 27, 37, 46, 107, 110,
Erzählerrolle 109, 121-122 116, 117 Anm. 32, 134-136,
Erzählerstimme 107, 109-110, 140, 154-156, 159, 162-163,
112, 114, 117, 122-123, 154 171, 173-174, 176 Anm. 152,
Erzählstruktur 37, 138 178 Anm. 155
Euripides 134, 157 Anm. 87, Gedächtnis 4, 17, 23, 53, 57, 68-
160-164, 171 Anm. 133, 176 70, 113, 127-128, 135, 137,
Anm. 151 154, 177
Eurystheus 119 Gegenwart 4, 53, 66
Even ha-Ezer 111 Generation 4, 18-19, 21 Anm.
Exegese 60 Anm. 42, 107 Anm. 104, 49 Anm. 3, 53, 55, 62,
2, 109 Anm. 10, 124 93, 100, 105, 127, 138 Anm.
Exodus 128 24
Figur 13-14, 21-23, 29, 122, 133, Genre 15 Anm. 73, 26, 30 Anm.
135-138, 140, 141 Anm. 30, 12, 32-33, 36, 48, 174 Anm.
143, 153-154, 157, 159-160, 146, 175, 194
162-164, 167, 169, 171-176, Gerechtigkeit 3, 5, 8-12, 15, 18,
178 20-21, 23, 158 Anm. 97, 192
Figurenkonstellation 138-140, Anm. 44
143, 146, 159, 165-166, 173 Gericht 20
Fiktion, fiktional, Fiktionalität 5 Geschichte 4-5, 12-13, 21, 27, 29-
Anm. 18, 39, 45-46, 60 Anm. 30, 33, 39, 45, 47, 49-50, 59-
40, 89-91, 109, 127 Anm. 56, 60, 64, 83-84, 98, 107-108,
137, 138 Anm. 24, 174 Anm. 113-114, 116, 122, 124-125,
141, 175 Anm. 140 128, 131 Anm. 1, 133, 136
Floating gap 53, 177-178 Anm. 19, 139 Anm. 25, 140-
Form 3-4, 23, 28-30, 32, 34, 49, 141, 149 Anm. 60, 162 Anm.
200 Index
113, 172, 176 Anm. 149, 177, 126, 128, 135 Anm. 16
181, 185-193, 195 Griechenland 53, 59, 62, 67, 72,
Geschichten, Geschichtenerzäh- 79-80, 82, 90, 92-93, 95, 99
ler 4, 45, 47, 50 Anm. 6, 53- Anm. 24, 124 Anm. 51, 134,
54, 84, 107, 110, 118 141 Anm. 31, 172, 176, 178,
Geschichtsbewusstsein 30, 47, 193 Anm. 46
52-53, 56-57, 65 ̈ammu-rapi 1, 3-26
Geschichtsbezug 27 Haremhab 190-191
Geschichtsmodelle 28 ̈atti 40, 43-44
Geschichtsschreiber, Ge- ̈attušili I. 31, 33, 35-36, 46
schichtsschreibung 5, 27-28, ̈attušili III. 33, 35-36
32, 45, 47, 49-50, 52, 54, 58- Hegemonie, hegemonial 57, 82,
60, 62, 64-65, 69, 82, 89, 91, 88
111 Anm. 13, 118-120, 129, Heiligtum 9, 112
131-136, 140, 142 Anm. 34, Hekataios von Milet 54-56, 58,
147-148, 157, 174-179, 190 118
Anm. 38, 195 Helena 90
Geschichtssicht 139, 150 Anm. Hellanikos von Lesbos 62 Anm.
67, 152 46, 118
Geschichtsüberlieferung 1, 55 Herakles 160 Anm. 103, 163,
Anm. 22, 107-109, 111, 116, 171 Anm. 133
131 Anm. 1, 150, 178-179 Hermon 114
Geschichtsverständnis 5 Herodot 28, 49, 55-58, 60-63, 67,
Geschichtswissenschaft 28, 49, 71, 73, 82-83, 93, 118 Anm.
51, 187-188, 190 Anm. 38 37, 119-121, 123, 125, 131
Gesetz 11-12, 19, 24, 74-75, 77- Anm. 2, 135, 153 Anm. 81,
78, 94, 101 171 Anm. 133, 176-178
Gesetzessammlung 8-9, 15, 21 Heroen, Heros 53-54, 114, 118
Gesetzesstele 9-12, 17-19, 23 Herrschaft, Herrscher 3-9, 11-
Gibeah/Geba 148 14, 16-24, 27-28, 31, 60, 62-
Gilgameš 2-3 63, 66, 73-74, 77, 81-82, 91,
Glorifizierung 27 135 Anm. 17, 142 Anm. 35,
Glückskind 172-173 147, 151 Anm. 72, 152, 158
Gott, göttlich 2-20, 22, 24, 31, Anm. 96, 170
35, 54, 71, 75-76, 78, 112- Hesiod 54, 90-91, 95, 118-119,
113, 118, 126, 148 Anm. 54, 126-127
157-158, 164 Anm. 119, 171 Hethiter, hethitisch 27-36, 38-
Anm. 133, 192 47, 118 Anm. 39
Götternamen 95 Hilfe 44, 76, 79, 111, 127-128,
Griechen 28, 49, 52-54, 56, 59- 138, 145-146, 148-149, 158
61, 66-67, 71 Anm. 67, 83, Anm. 95, 164 Anm. 119, 171
86, 90, 100, 118-119, 124- Historiker 5, 50, 70, 73 Anm. 72,
Index 201
16Ȭ25,ȱ108,ȱ126ȱAnm.ȱ54,ȱ132ȱ 158,ȱ180ȱ
Anm.ȱ4ȱ Jabeschȱ144Ȭ146,ȱ153,ȱ156ȱ
Benjaminȱ148Ȭ149,ȱ153ȱ Jảrešša 42ȱ
Bethelȱ114,ȱ128ȱ Jerusalemȱ112,ȱ155ȱAnm.ȱ84ȱ
Bethscheanȱ156ȱ Jordanȱ121,ȱ147,ȱ149Ȭ150ȱ
Bezekȱ144,ȱ151ȱAnm.ȱ71ȱ Josuaȱ108Ȭ109,ȱ149ȱAnm.ȱ60ȱ
Borsippaȱ5ȱ Judaȱ114,ȱ116,ȱ128Ȭ129,ȱ132,ȱ134,ȱ
Chiosȱ80ȱAnm.ȱ88ȱ 140,ȱ 141ȱ Anm.ȱ 30Ȭ31,ȱ 143ȱ
Corcyraȱ78,ȱ178ȱAnm.ȱ155ȱ Anm.ȱ38,ȱ148Ȭ149,ȱ151Ȭ152ȱ
Dilbatȱ5ȱ Karienȱ60ȱ
Dilmunaȱ36ȱ Kiš 5
DjebelȱSindjarȱ6ȱ Korinthȱ72,ȱ169Ȭ170,ȱ178ȱ
Dukkammaȱ41Ȭ42ȱ Korkyraȱ78ȱ
Elisȱ70ȱAnm.ȱ64ȱ Kuruštamaȱ40ȱ
EsaÁilaȱ10Ȭ11ȱ Kutha 16ȱ
Ešnunnaȱ6ȱ Kynossemaȱ61ȱAnm.ȱ43ȱ
EvenȱhaȬEzerȱ111ȱ Larsaȱ5,ȱ16Ȭ19,ȱ22ȱ
Gebaȱ148ȱ Mantineiaȱ70ȱAnm.ȱ62Ȭ64ȱ
Gilboaȱ159ȱ Marathonȱ57ȱ
Gileadȱ 144Ȭ147,ȱ 149ȱ Anm.ȱ 61,ȱ Mariȱ5Ȭ6,ȱ13ȱ
151ȱ Melosȱ75ȱ
Gilgalȱ144Ȭ145,149Ȭ153ȱ Mesopotamienȱ2Ȭ6,ȱ9,ȱ19Ȭ20,ȱ27Ȭ
Griechenlandȱ 53,ȱ 59,ȱ 62,ȱ 67,ȱ 72,ȱ 28,ȱ30ȱAnm.ȱ12,ȱ112,ȱ172ȱ
79Ȭ80,ȱ 82,ȱ 90,ȱ 92Ȭ93,ȱ 95,ȱ 99ȱ Miraȱ43ȱ
Anm.ȱ24,ȱ134,ȱ172,ȱ176,ȱ178ȱ Mizpaȱ148Ȭ149,ȱ151,ȱ153ȱȱ
̈akpišȱ36 Moabȱ121ȱ
Halikarnassosȱ 55ȱ Anm.ȱ 23,ȱ 60Ȭ Nabûȱ126ȱAnm.ȱ54ȱ
61,ȱ120ȱ Niniveȱ20ȱ
haȬMizpaȱ111ȱ Peloponnesȱ73Ȭ74ȱ
haȬSchenȱ111ȱ Piggainareššaȱ42
̈attiȱ40,ȱ43Ȭ44ȱ Pikurziȱ42ȱ
̈attušaȱ41Ȭ42ȱ Plataiai 56, 73ȱ
̈awarkinaȱ36ȱ RabbatȱAmmonȱ173ȱ
Hazorȱ114ȱ Salamisȱ56Ȭ57,ȱ73,ȱ134ȱ
̈uršamaȱ42ȱ Samosȱ178ȱAnm.ȱ155ȱ
Ionienȱ128ȱ ŠẻaȬFlußlandȱ43Ȭ44ȱ
Israelȱ 59Ȭ60,ȱ 113Ȭ117,ȱ 119ȱ Anm.ȱ Sipparȱ5,ȱ7Ȭ8,ȱ12,ȱ16,ȱ19,ȱ22Ȭ23ȱ
42,ȱ 121,ȱ 124Ȭ125,ȱ 127Ȭ129,ȱ Sizilienȱ66ȱAnm.ȱ54ȱ
132ȱ Anm.ȱ 1,ȱ 133ȱ Anm.ȱ 9,ȱ Spartaȱ 56Ȭ57,ȱ 63,ȱ 70ȱ Anm.ȱ 64,ȱ
137ȱ Anm.ȱ 21,ȱ 139Ȭ141,ȱ 143Ȭ 72Ȭ74,ȱ 76,ȱ 80ȱ Anm.ȱ 88,ȱ 88,ȱ
146,ȱ 148Ȭ149,ȱ 151Ȭ152,ȱ 156,ȱ 178ȱAnm.ȱ155ȱ
171ȱ Anm.ȱ 133,ȱ 178ȱ Anm.ȱ Sumerȱ 6,ȱ 9Ȭ10,ȱ 14,ȱ 17Ȭ19,ȱ 126ȱ
Index 207
Dr. habil. Klaus-Peter Adam ist seit 2005 Privatdozent Altes Testament
an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Re-
daktionsgeschichte in den Königebüchern, antike Geschichtsschrei-
bung, frühe Königszeit.
Prof. Dr. Erhard Blum lehrt seit 2000 Altes Testament an der Universi-
tät Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte des Alten
Testaments, insbesondere im Pentateuch, altisraelitische Geschichts-
schreibung, Erzähltheorie.
Prof. Dr. Jörg Klinger lehrt seit 2003 Hethitologie an der Freien Univer-
sität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Hethitische und hurritische Tex-
te mit geschichtlichen Bezügen, archäologische und philologische Stu-
dien zum Ursprung und zur Entwicklung der hethitischen Kultur im
mittleren Schwarzmeergebiet (hethiterzeitliches Nordanatolien).
Dr. habil. Rosel Pientka-Hinz ist seit 2004 Hochschuldozentin für Alt-
orientalistik an der Philipps-Universität Marburg; 2007/2008 an der
Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Textüberlieferung der
altbabylonischen Zeit, u.a. TUAT; Kulturwissenschaft des Alten Orients
(Magie und Mythologie, Fauna und Flora, Architektur).
Prof. Dr. Thomas Schneider lehrt seit 2005 Ägyptologie an der Univer-
sity of Wales in Swansea; 2007/2008 Gastprofessur University of British
Columbia, Vancouver. Herausgeber von Culture and History of the An-
cient Near East und von Journal of Egyptian History, (Leiden). Forschung
zur ägyptischen Geschichte, Chronologie, Beziehungen Ägyptens zu
Vorderasien und Nordafrika.
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer, lehrt seit 2006 Alte Geschichte an der
Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Hellenis-
mus, Spätantike, Staat und Politik, Geschlechterverhältnisse, antike
und moderne Historiographie, griechische Epigraphik.