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Hans-Georg Gadamer

Hermeneutik 11
Wahrheit und Methode

Ergänzungen
Register

J. c. B. Mohr (Paul Sieb eck) Tübingen 1993


384 Anhänge

Harder meint, daß nämlich Quellen durch ihre Benutzung durchaus nicht
trüb werden müssen. In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und
so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr
Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes
hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat.

VI
zu I, 341 und 471

Zum Begriffdes Ausdrucks


Im Ganzen unserer Darlegungen liegt es begründet, daß der Begriff des
Ausdrucks von seiner modernen subjektivistischen Tönung gereinigt und
auf seinen ursprünglichen grammatisch-rhetorischen Sinn zurückbezogen
werden muß. Das Wort }Ausdruck< entspricht dem lateinischen expressio j

exprimere) das den geistigen Ursprung von Rede und Schrift bezeichnet
(verbis exprimere). Es hat im Deutschen eine erste frühe Geschichte im
Sprachgebrauch der Mystik und weist damit auf neu platonische Begriffsbil-
dung zurück, die als solche noch zu erforschen wäre. Außerhalb des mysti-
schen Schrifttums kommt das Wort erst im 18. Jahrhundert recht in Aufnah-
mc. Damals erweitert es seine Bcdeutung und dringt gleichzeitg in die
ästhetische Theorie ein, wo es den Begriff der Nachahmung verdrängt.
Doch liegt die subjektivistische Wendung, daß der Ausdruck Ausdruck eines
Inneren, etwa eines Erlebnisses ist, auch damals noch fern ll . Beherrschend
ist der Gesichtspunkt der Mitteilung und Mitteilbarkeit, d. h. es geht datum,
den Ausdruck zu finden". Den Ausdruck finden, heißt aber, einen Ausdruck
finden, der einen Eindruck erzielen will, also keineswegs den Ausdruck im
Sinne des Erlebnisausdrucks. Das gilt insbesondere auch in der Terminolo-

11 Der dem Begriff der expressio im Denken der Scholastik entsprechende Gegenbegriff
ist vielmehr die impressio speciei. Allerdings macht es das Wesen derim verbum geschehen-
den expressio aus, daß sich darin, wie Nicolaus Cusanus wohl als erster ausspricht, die
mens manifestiert. So ist bei Nicolaus eine Wendung möglich, wie: das Wort sei expressio
exprimentis et expressi (Camp. eheo!. VII). Aber das meint nicht einen Ausdruck von
inneren Erlebnissen, sondern die reflexive Struktur des verbum: alles sichtbar zu machen
und sich selbst im Aussprechen auch - so wie das Licht alles und sich selbst sichtbar macht.
[Inzwischen ist der Artikel >Ausdruck< von Tonelli im Ritterschen Wörterbuch Bd. I, S.
653-655 erschienen. J
J2 Kant, KdU B 198
Exkurse I-VI 385

gie der Musik". Die musikalische Affektenlehre des 18. Jahrhunderts meint
nicht, daß man sich selbst in der Musik ausdrückt, sondern daß die Musik
etwas ausdrückt, nämlich Affekte, die ihrerseits Eindruck machen sollen.
Das gleiche fmden wir in der Asthetik bei Sulzer (1765): Ausdruck ist nicht
primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als
Ausdruck, der Empfindungen erregt.
Immerhin ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits weiter auf dem
Wege zur Subjektivierung des Ausdrucksbegriffs. Wenn Sulzer z. B. gegen
denjüngeren Riccoboni polemisiert, welcher die Kunst des Schauspielers im
Darstellen und nicht im Empfinden sieht, hält er die Echtheit des Empfin-
dens bei der ästhetischen Darstellung bereits flir erforderlich. So ergänzt er
auch das espressivo der Musik durch eine psychologische Substruktion des
Empfindens des Tonsetzers. Wir stehen also hier im Übergang von der
rhetorischen Tradition zur Erlebnispsychologie. Indessen bleibt die Vertie-
fung in das Wesen des Ausdrucks, und des ästhetischen Ausdrucks im
besonderen, am Ende doch immer wieder auf den metaphysischen Zusam-
menhang zurückbezogen, der neuplatonischer Prägung ist. Der Ausdruck
ist niemals bloß ein Zeichen, durch das man auf ein Anderes, Inneres
zurückgewiesen wird. Im Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da, z. B. in
den Zornesfalten der Zorn. Das weiß die moderne Ausdrucksdiagnostik
sehr wohl, so wie es schon Aristoteles gewußt hat. Offenbar ist es zur
Seinsweise des Lebendigen gehörig, daß derart das eine im anderen ist. Das
hat auch seine spezifische Anerkennung im Sprachgebrauch der Philosophie
gefunden, wenn Spinoza in exprimere und expressio einen ontologischen
Grundbegriff erkennt und wenn im Anschluß an ihn Hegel in dem objekti-
ven Sinn von Ausdruck als Darstellung, Außerung, die eigentliche Wirk-
lichkeit des Geistes sieht. Hege! stützt dadurch seine Kritik am Subjektivis-
mus der Reflexion. AhnIich denkt Hölderlin und dessen Freund Sindair, bei
dem der Begriff des Ausdrucks geradezu eine zentrale Stellung gewinnt. 14
Die Sprache als Produkt der schöpferischen Reflexion, die das Gedicht sein
läßt, ist )Ausdruck eines lebendigen, aber besonderen Ganzen<. Die Bedeu-
tung dieser Theorie des Ausdrucks ist offenbar durch die Subjektivierung
und Psychologisierung des 19. Jahrhunderts gänzlich verstellt worden. In
Wahrheit ist bei Hölderlin wie bei Hege! die rhetorische Tradition weit mehr
bestimmend. Im 18. Jahrhundert tritt ,Ausdruck< überhaupt an die Stelle
von }Ausdriickung< und meint jene bleibende Form, die beim Abdruck eines
Siegels u. dergl. zurückbleibt. Der Bildzusammenhang wird völlig deutlich
aus einer Stelle bei Gellert, »daß unsere Sprache gewisser Schönheit nicht

13 Vgl. den instmktiven Aufsatz von H. H. Eggebrecht, Das Ausdrucksprinzip im

musikalischen Sturm und Drang. DVjs 29 (1955), S. 323-349.


14 Vgl. die Ausgabe von Hellingrath Bd. 3, S. 571 ff.
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fahig und ein sprödes Wachs ist, das oft lusspringt, wenn man die Bilder des
Geistes hineindrücken vvill«. 15
Das ist alte neu platonische Tradition. 16 Die Metapher hat darin ihre Poin-
te, daß die eingeprägte Form nicht teilhaft, sondern ganz und gar in allen
Abdrücken gegcl1v.rärtig ist. Darauf beruht auch die Anwendung des Be-
griffs im femanatistischen DenkenI, das nach Rothacker 17 unserem histori-
schen Weltbild überall zugrunde liegt. Es ist wohl deutlich, daß die Kritik an
der Psychologisierung des Begriffes >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden
Untersuchung durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst( \vic
der an der romantischen Hermeneutik zugrunde liegt. 18

15 Schriften Bd. 7, S. 273


16 VgL etwa Dionysiaka I, 87
I_ Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (Handb. d. Philos. III),

S. 166. VgL in Bd. 1 S. 33 den Lebensbegriffbei Oeringer und S. 246ff. bei Husserl und
GeafYmck. [Vgl. Ge,. Werkeßd. 1, S. 239ff., 253ff.J
18 Andeutungen auch in älteren Arbeiten des Verfassers, z. B. >Bach und Weimar<

(1946), S. 9ff[Kl. Schrif. 11, S. 75-81; Ces. Werke Bd. 9 J und) Über die Ursprünglichkeit
der Philosophie( (1947). S. 25. (Kl. Schrift. I, S. 11-38; Ges. Werke Bd. 4J

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