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Martin Walser

Das Schwanenhaus

Roman

Suhrkamp

Erste Auflage 1980


Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten


Satz: LibroSatz, Kriftel bei Frankfurt
Druck: May u. Co., Darmstadt
Printed in Germany
1.
Als Gottlieb Zürn aufwachte, hatte er das Gefühl, er stehe auf dem Kopf. Offenbar
war sein Kopf im Lauf der Nacht immer schwerer und sein Leib leichter geworden.
Solange sein Kopf mit diesem Gewicht im Kissen lag, hatte er keine Aussicht, wieder
auf die Füße zu kommen. Ich bin das Gegenteil eines Stehaufmännchens, dachte er.
Er öffnete die Augen. Er stand nicht auf dem Kopf. Sobald er die Augen zufallen ließ,
hatte er wieder das Gefühl, er stehe auf dem Kopf.
Plötzlich saß er auf dem Bettrand. Die Füße tief unter ihm auf dem Boden. Die Angst,
er werde nicht mehr aufstehen, hatte geholfen. Die Gefahr auszufallen, war für einen
weiteren Tag gebannt. Gottlieb Zürn fällt aus! Mit diesem aufschreckenden Satz hatte
er es wieder einmal geschafft. Die Schule fällt aus, die Vorstellung fällt aus. Gottlieb
Zürn fällt nicht aus. So beschwor er sich. Der Ruck, mit dem er sich hochgerissen
hatte, wirkte noch nach. Als Annas Schritte sich mit rasch zunehmender
Bestimmtheit der Schlafzimmertür näherten, stand er schon. Obwohl er noch keine
Sekunde zu spät dran war, hätte er sich geniert, wenn sie ihn noch im Bett oder auf
dem Bett sitzend angetroffen hätte. Er wollte nicht, daß sie vor dem Bett stünde und
das Gesicht kriegte, das seine Mutter gekriegt hatte, wenn sie, weil er auf ihre Rufe
nicht reagiert hatte, plötzlich vor seinem Bett stand, dieses Gesicht, das ausgedrückt
hatte, die Familie werde jetzt also in einer Art selbstverschuldeter Lähmung
untergehen. Er bewegte sich, sobald Anna die Tür geöffnet hatte, so leicht wie ein
anderer. Aber Anna war gar nicht gekommen, ihn zu holen. Ihr Gesicht zeigte, daß
sie schon länger etwas suchte und nicht mehr fähig war, ruhig von Stelle zu Stelle zu
schauen, ob es da liege. Den Kopf riß sie immer ein bisschen zu spät in die
Richtung, in die sie schon stürmte. Sie schleuderte Wäschestücke durch die Luft,
rannte hinaus, den Autoschlüssel suche sie, der Ersatzschlüssel sei auch nicht am
Platz. Regina habe sich in der vergangenen Nacht wieder mehrere Male übergeben.
Und wieder bis zu 40 Fieber gehabt. Dr. Freisieben sei verständigt. Sie müsse ihm
Reginas Urin bringen. Einen Rückfall halte er nach den Antibiotika, die Regina von
Dr. Sixt bekommen habe, für unwahrscheinlich. Er werde sich mit Dr. Sixt wieder in
Verbindung setzen. Als Anna weggefahren war, ging er zu Regina hinüber. Ihre
Gesichtshaut sah grau aus, fast violett. Um den Mund eine fahle ovale Zone. Der
Mund zuckte und bebte. Sie würde, wenn er sich beeindruckt zeigte, nicht anders
können, als ihre Krankheit mit seiner Beeindrucktheit zu multiplizieren. Also
beherrschte er sich. Da er so wenig Wirkung zeigte, fühlte sie sich veranlaßt, deutlich
zu stöhnen. Sobald er sie streichelte, wurde ihr Ton passiver, das reine Leid. Alles,
was sie in der vergangenen Nacht ohne sein Dabeisein hinter sich gebracht hatte,
sollte er jetzt zur Kenntnis nehmen und anerkennen. Er streichelte sie heftiger. Das
löste das ersehnte leise Weinen aus. Dieses Weinen hatte fast eine erzählerische
Melodie. Drunten klingelte das Telephon. Ihre Augen kippten, sie sah ergeben zur
Decke, er durfte gehen. Sicher einer, der sich verwählt hatte. Morgens um acht rief
ihn niemand an. Am Samstag vielleicht, wenn die Inserate erschienen waren, aber
nicht am Mittwoch, wenn sie noch gar nicht aufgegeben waren. Um zehn,
Annahmeschluß!
Rosa, was ist, rief er. Nichts Besonderes, sagte sie. Am Freitag komm' ich. Ihre
Stimme klang, als strenge sie sich an, die Stimme hell klingen zu lassen. Sie wollte
ihn nicht erschrecken. Aber, dachte er juristisch, sie nimmt es billigend in Kauf, daß
er bemerke, wie wenig wirklich hell ihre Stimme heute klingt. Sie sei gerade von
einem Fest zurückgekommen, jetzt lege sie sich hin, später müsse sie in die Hoch-
schule, eine Klausur, deshalb habe sie gedacht, sie könne ihre Alten auch einmal in
aller Herrgottsfrühe anrufen. Ob ihr etwas fehle.
Was ihr denn fehlen solle. Das klang fast schon ärgerlich oder tragisch oder patzig
oder vorwurfsvoll oder höhnisch oder.. .
Sie freuten sich also auf Freitag, ach so, da sei er ja in Stuttgart, am Freitag und am
Samstag, aber am Samstagabend sei er zurück. Als er auflegte, hörte er das Kipptor
rucken und ächzen. Anna schleppte zwei Netze und einen Korb Eingekauftes herein.
Er wollte ihr verstauen helfen. Sie verbot es, wie erwartet, mit dem Hinweis, dann
finde sie nachher nichts mehr. Daß Rosa um diese Tageszeit angerufen hatte,
alarmierte sie auch. Seine Schuld. Er hatte den Anruf als etwas Beunruhigendes
geschildert. Regina rief so kläglich als möglich nach ihrer Mutter. Anna rannte hinauf.
Er ging hinaus. Armin bedeutete er, liegen zu bleiben, kein Spiel heute. Else lag fast
rücklings auf der Tischtennisplatte und reckte und streckte sich und fuhr immer
wieder blitzschnell zusammen, als wolle sie sehen, ob sie das Morgensonnengold
jetzt zwischen ihren Pfoten habe. Er griff ihr im Vorbeigehen an den flaumigen
Bauch, sie nahm seine Hand sofort gefangen und ließ sie, den Regeln gemäß, sofort
wieder frei.
Er sah, daß die Feriengäste noch nicht am Ufer waren, auch der öffentliche Uferweg
lag noch verlassen, also ging er hinunter und schwamm seine mittlere Strecke. Das
Wasser wäre warm genug gewesen für die Langstrecke, aber ihm fehlte die Ruhe für
40 oder 50 Minuten gleichmäßiger Schwimmbewegung. Bevor er nicht, mit dem
Alleinauftrag in der Tasche, das Tor der Leistle-Villa in Stuttgart hinter sich zumachen
würde, konnte er Ruhe nur unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft fingieren. Auf
dem Tisch in der Terrassennische stand noch das FrühStücksgeschirr von Julia.
Magda hatte keine Spuren hinterlassen. Kaum saß er, hörte er Frau Schneider rufen:
Ellen, sag em Babba, er soll au bidde mei Sonnebrill mitbrenge. Er sprang auf und
war im Haus, bevor die Stuttgarter Familie, die zur Zeit die obere Ferienwohnung
bewohnte, um die ausschwingenden Wacholderzweige vor der Hausecke bog. So
weit, mit Fremden sprechen zu können, war er noch nicht. Als die drunten bei den
Liegestühlen waren, also nicht in die Terrassennische sehen konnten, ging er wieder
hinaus. Wenn er bloß die Zeit bis zum Samstag raffen könnte. Er hätte jedesmal
Tage und Wochen seines Lebens einfach verschenkt, um der entscheidenden
Stunde nicht so lange entgegensehen zu müssen. Hatte sein Leben bisher nicht
hauptsächlich aus solchem Zuwarten bestanden? Sein Leben war fast zu spannend.
Wahrscheinlich war deshalb, seit er als Makler selbständig war, das Bedürfnis, in die
Spielbank zu gehen, erloschen. Als er noch Dr. Enderies Angestellter gewesen war,
hatte es ausgesehen, als könnte die Roulette-Sucht gefährlich werden. Anna hatte
nicht die geringste Neigung zum Spielen, aber sie war, als er noch Jahreskarten
hatte für die Banken in Lindau und Konstanz, immer mitgegangen. Er begriff jetzt
nicht mehr, warum er sich nicht geniert hatte vor ihr. Immer wieder die gleichen
Versprechungen, Ausflüchte, Rechtfertigungen, Zerknirschungen, Zusammenbrüche.
Anna kam herunter. Regina sei endlich eingeschlafen. Wo war der Autoschlüssel,
fragte er. Anna antwortete, sie habe Regina um elf ein Gelonida gegeben, um zwei
ein Gelonida, um drei ein Valium, um sechs ein Gelonida. Das Wichtigste sei, daß
Regina zur Ruhe komme. Ob man nicht doch ganz zu Dr. Sixt zurück solle. Daß Dr.
Cornelius sich nicht mehr für Regina interessiere, seit Regina durch Annas Übertritt
in die AOK kein Privatpatient mehr sei, sei schon allerhand. Sie sprang auf vom
Frühstück, rief Dr. Sixt an und zwang den, sich anzuhören, wie sich Regina nach
neun Antibiotikawochen befinde. Man hörte an Annas Reaktionen, daß Dr. Sixt das
Gespräch viel knapper haben wollte. Als sie auflegte, war sie ruhiger. Dr. Sixt hatte
versprochen, Regina heute noch anzuschauen. Der hat sich auch drücken wollen,
sagte sie.
Sie räumte das Frühstücksgeschirr ab. Gottlieb wollte ihr helfen, spürte aber sofort,
daß er, wenn er Geschirr abtrüge, bloß so tue, als wolle er ihr helfen; er wollte
eigentlich gar nicht; aber sie müßte dann eben doch einmal weniger hin und her
zwischen Küche und Terrasse; also, greif zu jetzt. Da hatte sie schon alles draußen.
Wenn er sich jetzt zur Strafe einen Fetzen Haut von der Fingerkuppe schnitt - er sah
auf dem Weg ins Büro eine Schere liegen -, hatte sie auch nichts davon. Aber
schülerhafte Lösungen lagen ihm. Er ließ sich in seinen nach allen Richtungen
nachgiebigen, ihn sanft schalenden Schreibtischsessel fallen und entfaltete die
Zeitung. Was in der Welt passiert, ist zum Glück wichtiger. Und war doch gleich
durchgerutscht durch alle Nachrichten und Berichte bis zu den Inseraten. Die las er
am liebsten. Rundfunk- und Fernsehprogramme und Inserate waren seine
Lieblingslektüre. Auch in alten Zeitungen. Er wollte die Programme nicht sehen und
das Inserierte nicht kaufen. Er las gern diese Art Mitteilung. Und heute . . . wäre nicht
Anna so völlig auf Regina konzentriert, wäre er sofort hinübergerannt, ihr das
vorzulesen: 283. Freiwillige Versteigerung. Infolge Auflösung versteigere ich im
Auftrage den RESTHAUSHALT Bansin am Dienstag, den 2. September in Villa
Bansin, Mitten, ab 9 Uhr: 1 antik eingel. Schrank, 1 dkl. und altbem. Bauernschrank,
1 Louis-Seize-Kommode, Barock-, Louis-Seize- und Biederm.-Stühle sowie kl.
Tischchen, 1 alpenld. dkl. Bauerntruhe,gr. rd. Ausz.-Tisch m. 6 Lehnstühlen,geschw.
Füße, 4 rd. und 3 Igl. Tische i. Chippendalestil, 52 Pos. Silber u. versilb. Gegenstände
wie ov. Platten, Schalen, Leuchter, Bestecke, vorz. Jugendstil, alte Teppiche wie
Buchara, Schirwan, Ferraghan, teilw.besch., 1 Ölgemälde (David Teniers 1610—
1690) unsign., sowie a, Ölgemälde, Stiche, Bibliothek, Porzellan (Berlin), Kupfer,
Tischlampen (Jugendstil), grauer Nerz-Mantel und vieles nicht Ermähnte.
Besichtigung am Montag, 1. Sept., von 14 bis 18 Uhr. Jürgen Kant, sachverst.
Schätzer und Auktionator, Kempten. Er würde Anna das beim Mittagessen vorlesen.
Er mußte sein eigenes Samstag-Inserat tippen. Als er es durchgelesen hatte, zerriß
er es. Als er wieder tippte, merkte er, daß er das Inserat gar nicht ändern konnte. Die
Kollegen Konkurrenten würden grinsen, wenn er die zwei Eigentumswohnungen und
die im künftigen Autobahngelände liegende Hof-Mühle mit Brennrecht und eigener
Stromversorgung wieder anpries. Sollten sie. Eine Woche später würde da stehen:
Einmalige Gelegenheit oder. Die Traumvilla oder Jugendstil-Juwel am Bodensee, 19
Zimmer, jedes Zimmer mit anderer Decke. Meisterwerke der Jugendstil-Stukkatur,
Halle (100 qm) mit tropischem Holz getäfert, Hallenfenster (Jugendstil, Buntglas)
über zwei Stockwerke, wilhelminische Bauqualität, ursprüngl. Sitz des Direktors der
Deutschen Bank, eigener Hafen, 30 Bootsliegeplätze, 1,8 ha Park, eigener
Tennisplatz, Uferbreite 65 m, nur für seriöse Interessenten. Alleinauftrag Dr. Gottlieb
Zürn (Dr. Enderle-Immobi-lien).
Vorausgesetzt, Frau Dr. Leistle war zu gewinnen. Mit der Schwester wäre er fertig
geworden. Frau Bansin mußte man nur reden lassen. Ein paar Monate lang hatte er
sie einmal pro Woche ausgeführt. Sie war glücklich, für zwei Stunden aus dem
Hochhaus, in das die Verwandtschaft sie gesteckt hatte, herauszukommen.
Jedesmal hatte sie ihm die Version ihres Schicksals vorgetragen, die ihr gerade noch
greifbar war. Einiges blieb sich gleich. Das mochte das Wichtigste sein. Daß sie in
der DDR 700 Arbeiter verloren hatte, vergaß sie nie. Sie sagte: Man hat uns in der
Ostzone 700 Arbeiter genommen. Dann folgte immer der Satz: Davon haben wir uns
nicht mehr erholt. Zum Glück habe sie 1934 den Einfall gehabt: wir kaufen uns etwas
am Bodensee! Sonst hätten sie nach 45 überhaupt nichts mehr gehabt. Natürlich sei
für sie, die von ihrem Vater her aus der württembergischen Künstlerfamilie
Dannecker stamme, nur ein Besitz mit Niveau in Frage gekommen. Die
Bankpräsidenten-Villa habe sie gekannt, bevor sie je am Bodensee gewesen sei. In
Dresden habe man von dieser Villa gesprochen, weil der Bankpräsident Künstler aus
Dresden-Hellerau und Darmstadt an den Bodensee gerufen habe, damit sie sein
Haus schmückten. Das werde ihr jetzt weggenommen. Von den Banausen.
Banausen, das gebrauchte sie immer mit einer Bestimmtheit, als handle es sich
dabei um einen Volksstamm von unverwechselbarer Eigenart. Daß ihr Eberhärdle
das nicht verhindert habe, nicht nur nicht verhindert, daß er das herbeigeführt, ver-
schuldet habe! Gut, man habe ihnen 700 Arbeiter genommen in der Ostzone, aber
das ist anderen auch so gegangen, man kann doch wieder anfangen, das ist ihre
Meinung, man kann immer anfangen. Bitte, er, Dr. Zürn, gebe das beste Beispiel. Sei
er nicht mit ihrem Eberhärdle in dieselbe Schule, in dieselbe Klasse sogar,
gegangen, und jetzt, wo sei ihr Eberhärdle und wo Dr. Zürn? Habe ihr Eberhärdle
nicht immer glänzende Zeugnisse heimgebracht? Viel besser könnten die von Dr.
Zürn auch nicht gewesen sein. Und jetzt, was sei ihr Eberhärdle? Sektenprediger!
Sektenschriften senkrecht in die Luft haltend, stehe er in Lindau, Wangen und
Ravens-burg an Straßenecken und lächle. Wenn er wenigstens eine andere Gegend
aufgesucht hätte für sein blamables Auftreten. Wenn er noch ein bißchen Anstand
hätte, war' er zur Fremdenlegion, jawohl! Ach, Herr Dr. Zürn, Ihre Mutter hat es
besser getroffen als ich. Sie hat, solang sie lebte, erleben dürfen, wie der Direktor
Enderle ihren Buben zum Teilhaber und Nachfolger gemacht hat. So ein kultivierter
Mensch wie der Direktor Enderle, befreundet sogar mit dem Karl Erb. Sie sage ihm
frank und frei, die Tatsache, daß der Direktor Enderle ihn akzeptiert habe, was habe
sie jetzt sagen wollen . . . ach so, ja, der Direktor sei ja, trotz seines schwäbischen
Namens, Rheinländer gewesen, wahrscheinlich habe er überhaupt den Bodensee für
das Rheinland entdeckt, aber glücklich sei der Direktor Dr. Enderle auch nicht
gewesen, ein Makler, wie es keinen mehr gebe, ein Herr, ein Bonvivant eben, und
kein Banause, sie habe immer gehofft, ihr Eber-härdle, ob Dr. Zürn dem schon
einmal begegnet sei, was er dazu sage, Zeugen Jehovas, vielleicht gibt es ja wirklich
ein Leben nach dem Tod, wir müssen doch alle allzu schnell fort von hier, könne es
nicht sein, daß ihr Eberhärdle doch den Haupttreffer ziehe, weil nämlich sie und Dr.
Zürn, ja sogar der Direktor Enderle habe letzten Endes doch dem Geld nachgejagt,
während ihr Eberhärdle an der Ecke stehe und mit religiösen Drucksachen winke,
also so eine Schande, dabei hätten Eberhärdle und seine Frau, die übrigens ihn und
die Kinder sitzengelassen habe und abgehauen sei mit einem Berliner Spekulanten
oder Berlin-Spekulanten, der hat auf jeden Fall vierzig Häuser in Berlin und lebt in
der Karibik, besser kann es einer überhaupt nicht machen, weg von den Banausen
hier, die Schwiegertochter habe schneller gemerkt als sie, was mit dem Eberhärdle
los sei, aber beide haben ihr Lehren erteilen wollen, weil sie in ihrer Verzweiflung
manchmal in die Spielbank mußte, ja-jaa, wenn sich das eine Dame nicht mehr
leisten darf, dann, Herr Dr. Zürn, haben die Banausen gesiegt, dann verzichtet sie,
Frau Beatrice Ban-sin . . . Mit Bansins wäre er zurechtgekommen, obwohl Frau
Bansin seinen Schulkameraden Eberhard enterbte, soweit sie konnte, und für
geschäftsunfähig erklären ließ. Der vollkommen gutmütige Eberhard hätte seinem
Schulkameraden den Alleinauftrag sofort gegeben. Seine Mutter auch. Aber als sie
unterschreiben wollte, war sie auch entmündigt. Aus der Tiefe einer
unüberschaubaren Verwandtschaft war die Entscheidung gekommen:
geschäftsunfähig, ab ins Altersheim nach Maierhöfen. Man hatte es jetzt mit Frau Dr.
Leistle zu tun, der jüngsten Schwester. Aber inzwischen hatte er einen solchen
Vorsprung vor den Konkurrenten, daß nicht einzusehen war, warum Frau Dr. Leistle
jetzt noch einen anderen vorziehen sollte. Er hatte Pläne kopiert, ein Expose entwor-
fen, Fotos gemacht. Keiner der Kollegen Konkurrenten konnte mit einem funkelnden
Inserat und einem so gut wie druckfertigen vierseitigen Prospekt-Entwurf plus Inser-
tions-Plan aufwarten.
Wenn er diesen Auftrag kriegt, Anna, dann hat sich auch noch die Spielsucht rentiert.
Frau Bansin erinnerte sich noch gut und gern an den Anfänger, an dem vorbei sie
ihre Chipstürme schob und holte und schob. Das Telephon schreckte ihn auf. Es war
Frau Reinhold. Ja, sagte er so hell und hoch als möglich. Er mußte sich, um dieses
ansteigende Jaa zu produzieren, ganz schnell aufrichten. Er wußte, daß seine
Stimme, wenn er nur nach dem Hörer griff und seinen Namen sagte, auf die Leute,
die ihn anriefen, einen Eindruck machte, der ihm nicht recht sein konnte. Frau
Reinhold rief ins Telephon — und bewies ihm, daß ihm der helle Ton gelungen war
—: Ihnen scheint es ja gut zu gehen, Herr Dr. Zürn. Ja, rief er im selben Ton, es geht
mir einfach ein bißchen zu gut, ich geb's zu. Sie gratuliere. Und sie könne da
mitreden, der wichtigste Teil des Wohlbefindens sei nämlich, daß man es sich selber
zu verdanken habe. Ach, wissen Sie was, Herr Zürn, ich wollte Ihnen eigentlich nur
einen Tip geben, aber das kommt mir jetzt schofel vor, fernmündlich miteinander
verkehren, entsetzlich! Sie sehe morgen abend Leute bei sich, wenn er Lust habe,
sie würde sich freuen, dann könne sie ihm das persönlich sagen. Es betreffe die Villa
Bansin. Für ihn könne ihr Tip unter Umständen interessant sein.
Er rannte zu Anna hinüber und rief, jetzt habe er den Alleinauftrag für das
Schwanenhaus praktisch in der Tasche. Allerdings müsse er deshalb morgen abend
zu den Reinholds. Daß Frau Reinhold ihn deutlich ohne Anna eingeladen hatte,
versuchte er zu vertuschen; er hatte das Gefühl, als habe er dadurch darauf
hingewiesen. Anna blieb arglos. Sie achtete Frau Reinhold. Voller Bewunderung
meldete sie jeden Erfolg, den die drei Reinhold-Kinder in der Schule oder auf
Sportplätzen errangen. Die älteste Reinhold-Tochter war Klassenbeste in Magdas
Klasse. Wenn Frau Reinhold in der Zeitung als Sängerin gerühmt wurde, las Anna
die Lobeshymnen auf die schöne und schön singende Frau Reinhold mit
Anteilnahme vor. Für Frau Reinhold gab es Anna wahrscheinlich gar nicht. Daß Anna
von Frau Reinhold trotzdem immer mit Bewunderung sprach, hieß für Gottlieb, daß
Anna Frau Reinhold überlegen sei; allerdings auf eine Weise, die außer ihm nie
jemand wahrnehmen würde. Anna machte nur eine Einschränkung: ihr gefiel nicht,
wie Frau Reinhold mit ihrem Mann umging. Der kann einem leid tun, sagte sie. Frau
Reinhold trat fast immer ohne ihren Mann auf. Öfter als in Wirklichkeit sah man ihn in
der Zeitung, abgebildet mit Bonner oder Stuttgarter Staatssekretären oder NASA-
Leuten aus Houston oder Geschäftspartnern aus Norwalk, Connecticut, denen er
zeigte, was er in seinem Werk, das zum Teil den Connecticut-Amerikanern gehörte,
gerade wieder entwickelt hatte für den nächsten Satelliten. Gottlieb Zürn war, als
Reinholds hierher und in das durch ihn vermittelte Haus gezogen waren, eine
Zeitlang Frau Reinholds Tennispartner gewesen. Sie hatte jahrelang nur Männer als
Partner akzeptiert. Erst seit sie mit einem jungen Soziologen der Universität
Konstanz befreundet war, spielte sie auch mit weiblichen Partnern. Da man diesen
Soziologen im Haus Reinhold ein- und ausgehen sah, ohne daß man wußte, was
man dazu sagen sollte, sagte man: Frau Reinhold emanzipiert sich. Das Haus, das
über der Stadt lag und nach Osten, Süden und Westen einen freien Blick über den
See hin bot, hatte sie allein gekauft.
Von Dr. Terbohm, der sich scheiden lassen wollte, hatte Gottlieb den Alleinauftrag
erhalten, weil er dem Doktor vorschlug, das Haus schon anzubieten, bevor die
beabsichtigte Scheidung perfekt sei, dann wisse Dr. Terbohm, was er zu erwarten
und seiner Frau zu bieten habe. Gottlieb hatte so verhandelt, weil er gehört hatte, wie
furchtbar sparsam die Frau des Arztes sei. Magda, die mit einem der Terbohm-
Söhne in die Schule ging, hatte immer neue Sparsamkeitsexzesse gemeldet, die die
Terbohm-Kinder unter dem Einfluß ihrer Mutter vollbrachten. Bei einem Schulausflug
ins Burgundische hatte der Sohn im letzten Bistro Weinreste in einer Flasche
gesammelt und mitgenommen für seine Mutter, als Kochwein. Wenn die Terbohm-
Kinder zwischen den Mahlzeiten etwas wollten, mußten sie das Butterbrot oder die
Orange der Mutter bar bezahlen. Das Geld dafür mußten sie sich durch
Zeitungsaustragen, Autowaschen oder Ferienjobs verdienen. Magda hatte voller
Mitleid und Bewunderung von dieser Familie erzählt. Gottlieb Zürn konnte dem Arzt
Ratschläge geben, die genau paßten. Der hatte erwähnt, seine Frau habe immer
noch Angst, sie werde einmal verhungern. Sie sei die Tochter eines Jenaer
Philosophieprofessors, der seine Familie zur Verachtung alles Vergänglichen habe
erziehen wollen. So war Gottlieb Zürn Frau Reinholds erster Bekannter geworden.
Das Haus hatte sich bewährt, war nach zehn Jahren mehr als das Doppelte wert,
also gehörten Reinholds zu den Leuten, denen er ruhig ins Gesicht sehen konnte.
Wenn er bloß die Reinhold-Ehe besser beurteilen könnte. Betrog die ihren Mann
ununterbrochen oder überhaupt nicht? Der riesige junge Wissenschaftler mit all
seinem Bart und Haar wirkte neben ihr wie eine Märchenfigur, die auf die
Rückverwandlung zum Prinzen wartet. Ihr Mann sah hilflos und fein aus neben ihr.
Gottliebs Kollege und Konkurrent Paul Schatz hatte einmal auf dem Tennisplatz, als
sie Frau Reinhold beim Spielen zuschauten, zu Gottlieb herübergesagt: Man könnte
zwei Wagner-Sängerinnen machen aus ihr. Wie alles, was Paul Schatz sagte, war
das sehr einprägsam und stimmte überhaupt nicht. Aber irgendwie stimmte es doch.
Wahrscheinlich stimmte es ganz genau. Die Beziehung zu Frau Dr. Leistle kam
sicher durch Herrn Dr. Reinhold. Leistles gehörte ein Chemiewerk zwischen
Göppingen und Plochingen. Vielleicht hatte Dr. Reinhold, bevor er nach Amerika
gegangen war, bei Leistle gearbeitet. Vielleicht war er sogar verwandt mit Frau Dr.
Leistle. Dann hätte Gottlieb schon zwei Drähte zum Objekt. Nein, drei: Schulkamerad
Eberhard, dessen Mutter, Gottliebs Spielbank-Genossin, und, über Lissi Reinhold,
Dr. Reinhold. Diesmal hatte Paul Schatz keine Chance. Und wenn Schatz keine
Chance hatte, wer konnte ihm dann gefährlich werden? Kaltammer! Kaltammer war
nicht halb so gefahrlich wie Schatz. Gottlieb Zürn war, nachdem er Anna das
Wichtigste mitgeteilt hatte, gleich wieder ins Büro gerannt. Er war aufgeregt. Er wollte
rauchen. Aber ohne Alkohol rauchte er nicht mehr. Und Alkohol trank er nie vor dem
Abendessen. Er mußte sich durch solche Willensleistungen beeindrucken. Für ihn
war es schon etwas wie ein Sieg, wenn er irgendwo auf Paul Schatz traf und den
hemmungslos rauchen sah. Der trank an einem Abend eine Flasche Schnaps.
Gottlieb Zürn trank nur leichten Wein. Wenn er seine Willensleistungen an sich
vorbeiparadieren ließ und sein mehr und mehr von Disziplin bestimmtes Leben mit
dem wilden, auf jeden Fall weniger gesunden Leben seines Kollegen Konkurrenten
verglich, kam ihm der deprimierende Gedanke, daß Paul Schatz dieses unordentli-
che oder wilde oder ungesunde Leben vielleicht überhaupt nichts ausmache. Da
Schatz oft über seine Eltern redete, wußte jeder, daß die fast neunzig waren und an
der österreichisch-ungarischen Grenze lebten, weil sie ihrer Heimat Siebenbürgen so
nah als möglich bleiben wollten und das Leben mit Essen und Trinken und Lachen
genossen wie ein bukolisches Paar. Schatz selber war zum vierten Mal verheiratet.
Man hörte nie, daß er an irgend etwas zu leiden habe. Von sich hatte Gottlieb im
Augenblick das Gefühl, er stürze, wenn er sich nicht mit Anstrengung aufrecht halte,
geradezu sofort und senkrecht ab. Er spürte, wenn er an sich dachte, nichts als
Gewicht, Schwere, Niedertracht. Unsinn, dachte er, Unsinn. Und sprang auf.
Er rief Anna zu, er fahre in die Stadt, das Inserat aufzugeben, auch müsse er endlich
zum Friseur. In zwei Stunden sei er zurück. Anna bat ihn, leise zu sein, Regina
schlafe. Er holte sein Rad durch die Halle aus der Garage, weil man das Aufkippen
des Garagentors in jedem Zimmer hörte. Langsam fuhr er am See entlang. Er wollte
nichts von sich wissen. Das waren immer die angenehmsten Augenblicke. Der
Vormittag dehnte sich in der Hitze. Der Wind zählte die Blätter ohne Hast. Der See,
ein Feld aus gleißenden Furchen. Alles grün und grüngold und gleißend und
blendend. Und alles rauscht. Und es scheint auf nichts anzukommen. Unwillkürlich
betätigte er die Fahrradklingel. Das im Erklingen sofort wieder verschwimmende
Klingelgeräusch weckte eine Legion von Jahren. Die gewaltigen Baumarme, unter
denen er gerade durchfuhr, riefen ein Bild aus dem ersten Katechismus herbei:
Absalom reitet auf der Flucht vor seinem Vater, gegen den er sich empört hatte,
unter solchen Bäumen durch, die hochfliegenden roten Haare wickeln sich um die
gewaltigen Äste, das Pferd galoppiert weiter, Absalom hängt an seinen Haaren und .
. . Gottlieb Zürn wäre beinah vom Rad gefallen, weil der Asphalt unter diesen
Bäumen von den Baumwurzeln zu harten Wellen gewölbt war. Als er Frau Sonntag
das Inserat aushändigte, genierte er sich. Nicht viel los zur Zeit, wollte er sagen, aber
er brachte es nicht heraus. Die hatte vielleicht gerade das Inserat von Paul Schatz
oder das von J. F. Kaltammer entgegengenommen, Inserate, in denen es oft von
Schlössern und Villen wimmelte.
Paul Schatz belegte jahraus, jahrein das obere Drittel der ersten Immobilienseite.
Eine etwas ins Breite gezogene, schwarz gerahmte Bildschirmform, innerhalb derer
sich die Einzelanzeigen als schlankere Bildschirmformen abhoben. Im oberen Rand
des Gesamtbildschirms erschien immer in ganzer Breite, weiß in schwarz, die
Überschrift IMMOBILIEN-SCHATZ. Dazu, auch weiß in schwarz, seine schräge,
blitzhaft starke Unterschrift. Neben der Unterschrift, eine altertümliche Siegelform.
Auf dem Siegel, kreisförmig, in ehrwürdiger Reichsmarkschrift: Der ehrliche Makler.
Und unter den edlen weißen Blitzen der Schatzunterschrift, ganz klein und ruhig: Ich
stehe hinter jedem Angebot mit meinem Namen. Das war Schatz. Und das volle
rechte Drittel seiner Inseratfläche füllte er mit allgemeinen Aufklärungen. Er spielte
sich als Volksaufklärer auf. Dafür bezahlte er jeden Samstag teure Inseratfläche. Der
entblödete sich nicht, dem Publikum Gewährleistungs-Entscheidungen des
Bundesgerichtshofes mit Aktenzeichen mitzuteilen. Aber das Publikum fiel darauf
herein. Wenn Herr Schatz das Aktenzeichen V ZR 22/73) abdruckte und dazu das
Datum 29. März 1974, und dann noch mitteilte, daß seit diesem Tag die
Vereinbarungen der im Immobiliengeschäft handelnden Parteien, soweit sie die
Sachmängelhaftung des Bauträgers beträfen, zugunsten des Käufers ausgelegt
würden, glaubte er offenbar selber, er habe der Allgemeinheit wieder wahrhaft
gedient. Überschrift letzten Samstag: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß
von Leistungen. Gottlieb Zürn ärgerte sich jeden Samstag darüber, daß ihm aus dem
Schatz-Inserat Sätze im Kopf blieben. Jeden Samstag las er zwanghaft das Schatz-
Inserat. Gegen .,« seinen Willen las er es sogar mehr als einmal. Da er vor Frau
Sonntag nicht auch noch aussprechen wollte, daß wenig los sei in seinem Geschäft,
sagte er — und versuchte, es ein bißchen spöttisch zu intonieren —: Diese Anzeige
präsentiert nur den kleinsten Teil meines Gesamtangebots. Das war die Zeile, die
jedesmal, weiß in schwarz, im unteren Rahmen des Schatz-Inserats stand. Gottlieb
ärgerte sich sofort über sich. Wenn er den zitierte, kapitulierte er vor dem. Anderer-
seits konnte sich Frau Sonntag sicher nicht vorstellen, daß er vor einem Paul Schatz
in einem anderen Stande als dem der Kapitulation verharren könne. Zwei
Eigentumswohnungen in einem Wohnblock in Immenstaad und die verfallende Alt-
Mühle mit Brennrecht und eigener Stromerzeugung — Konkurrenz konnte man das
nicht nennen. Nächste Woche, Frau Sonntag . . . Sie wohnte nur ein paar Minuten
von ihm weg, deshalb war es ihm peinlich, wenn sie Zeugin seiner Erfolglosigkeit
wurde. Nächste Woche . . . Nein, laß es. Sie hatte das Inserat schon überflogen und
fletschte wie immer ihre Zähne — bei ihr war das Lachen. Außer ihr war im
Augenblick nichts in der Sonne in diesem Raum. Die im Nu entblößten Zähne blieben
entblößt. Man sah ein bißchen Lippenkehrseite. Ein zweites Rot. Zwischen ihrem
Hals und der Bluse oder ihrem Halsansatz und der Bluse oder ihrem Brustansatz und
der Bluse, zwischen ihr und der Bluse war ein Raum, der war voll Licht. Gottlieb
konnte nicht wegschauen. Es war, als sei er verloren. Schaute sie ihn an oder sein
mageres Inserat? Schauten schon mehr Leute zu, wie er wie ein Elfjähriger etwas
von einer Frau sehen wollte, was er nicht sehen durfte. Aber er mußte das sehen.
Welch ein Licht, dieses Sommerlicht zwischen ihr und ihrer weißen Bluse. Sie stand
nackt in diesem Licht, das zwischen ihr und ihrer Kleidung floß. Er zog seinen Blick
ein, kramte in seiner Tasche. Auf Wiedersehen, Frau Sonntag. Auf Wiedersehen,
Herr Dr. Zürn. Daß sie eine quieksende Stimme hatte, tröstete ihn nicht.
Er war nicht froh, als er wieder im Freien war. Er hatte mehr sehen wollen als den
Anfang ihrer Brust. Möglichst viel hatte er möglichst lang sehen wollen. Und er war
gleich fünfzig. Wenn er bloß schon unter dem Umhang des Friseurs säße. Unter dem
Umhang des Friseurs war er nicht gleich fünfzig, sondern elf oder zwölf oder
vierzehn. Er fand, daß das durch das Geburtsjahr bestimmte Alter mit dem wirklichen
Alter einer Person fast nie übereinstimmte. Er wußte noch sehr genau, daß er sich,
als er zwanzig war, überhaupt nicht als Zwanzigjähriger gefühlt hatte. Damals hatte
er geglaubt, er sei viel älter. Und jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich oft wie
vierzehn oder fünfzehn. Durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer war er
zu der unbeweisbaren Ansicht gekommen, irgendwann erreiche jeder sein wesentli-
ches Alter, das er dann bis zu seinem Tode beibehalte. Etwa seit er dem Jahrgang
nach vierzig war, kam er sich immer häufiger vor wie einer, der noch nicht fünfzehn
ist. Wenn er jemanden kennenlernte, fand er bald genug Anlaß, dessen wirkliches
Alter unabhängig vom Geburtsjahrgang zu bestimmen. Seit er diese
Altersbestimmungen betrieb — natürlich konnte er, wegen der völligen
Unbeweisbarkeit seiner Feststellungen, mit keinem darüber sprechen —, sah er, daß
die meisten Menschen viel jünger waren, als sie nach ihrem Geburtsjahrgang
glauben mußten.
Er hatte schon sein Rad umgedreht, um es auf dem Trottoir bis zur Christophstraße
zu schieben, als er sah, wie von der Christophstraße Frau Ruß auf die Hofstatt
einbog. Er verließ das Trottoir, schwang sich auf das Rad und fuhr wie ein Auto um
den Brunnen herum und bog wie ein Auto auf der anderen Seite des Brunnens in die
Christophstraße ein. Seit Jahren wich er Frau Ruß aus. Gelang es ihm nicht, so hatte
er eine Szene oder zumindest ein Schimpfwort zu gewärtigen. Er hatte ihr einen
Bungalow vermittelt, im guten Glauben, der Erwerber komme in den Genuß der 7b-
Abschrei-bung. Der Verkäufer hatte das ihm gegenüber behauptet. Nachträglich
hatte sich herausgestellt, daß der Gesetzgeber zur Dämpfung der Konjunktur vom 1.
Mai bis 1. November 1973 den Paragraphen 7b außer Kraft gesetzt hatte, und genau
in dem Zeitraum war die Baugenehmigung für dieses Haus erteilt worden. Gottlieb
hatte sich nicht auf den Verkäufer, Herrn Rilke, der gerade mit seinem
Kunstgewerbeladen Die Truhe bankrott gemacht hatte, hinausreden wollen. Es war
sein Fehler. Die ausgesetzte 7b-Abschreibung, mein Gott, sowas mußte man einfach
parat haben. Herr Dr. Ruß, der als Zahnarzt an Abschreibungsmöglichkeiten
interessiert sein mußte, grüßte ihn zwar nicht mehr, aber er pöbelte ihn nicht an. Frau
Ruß dagegen schien ihn ihr und sein Leben lang laut über Straßen und Plätze weg
mit Guten Tag Herr Immobilienschwindler verfolgen zu wollen. Oder würde sie nach
acht Jahren, wenn die 40% der 7b-Abschreibung aufgezehrt waren, die Verfolgung
einstellen? Besonders peinlich war es, daß Frau Ruß eine kleine, fast zwergenhafte
Frau war, die an einem etwas zu großen Stock ging. Jeder mußte ihn für einen
grauenhaften Kerl halten. Mine so kleine und wackere Frau übers Ohr zu hauen!
Immer wenn er Frau Ruß sah, hätte er die Stadt, die ganze Gegend am liebsten für
immer verlassen. Falls er den Alleinauftrag fürs Schwanenhaus bekam, konnte er
Frau Ruß eine Entschädigung anbieten für die wegen der entgangenen 60 000 Mark
Abschreibung angefallenen Steuern. Nein, nie! Anbrüllen sollte er diese Stockhexe.
Jedesmal, wenn er sie sah und von Angst und Hitze befallen wurde, betete er in
Gedanken das Hamburger OLG-Urteil vom 25. 6. 75 herunter: Ein Makler ist
grundsätzlich nicht verpflichtet, ihm von seinem Auftraggeber gemachte Angaben
nachzuprüfen. Er haftet daher für sie auch dann nicht, wenn er die Haftung für
Fahrlässigkeit nicht durch Hinzufügung von »unverbindlich« in seinem Angebot
ausgeschlossen hat. . . Den Text sollte Paul Schatz einmal veröffentlichen in seinem
Samstagsinserat! Gottlieb Zürn gelang es heute, Frau Ruß ungesehen zu
entkommen. Als er schon auf die Tür seines Friseurs zuging, fiel ihm ein, daß er
morgen zu Frau Reinhold mußte. Und frisch vom Friseur, sah er aus wie aus dem
Wachsfigurenkabinett. Er radelte auf der Promenade zurück. Zu Dr. Enderies Zeiten
waren am späten Mittwochvormittag immer drei oder vier Kollegen im Garten des
Faulen. Pelzes gesessen. Jetzt saß da meistens nur noch, wenn er überhaupt im
Land war, Rudi W. Eitel. Er saß auch heute da. Unverkennbar starr. Nach hinten
gelehnt. Einen Arm über der Stuhllehne. Den Kopf zurückgeworfen. Den Blick weit
über die Promenierenden hinausgerichtet. Und mit ihm am Tisch, die Ellbogen tief in
der Tischfläche, der Schaden-Maier, der seinen Architektenberuf nur noch als
Schätzer und Gutachter ausübte und - gegen seinen Willen, wie er sagte - zum
Spezialisten für die Fehler seiner Kollegen geworden war. Rudi W. Eitel fiel schon
durch seine Kleidung auf. Heute leuchtete er rotbraun. Dazu ein violettes Hemd.
Dazu eine maisgelbe Fliege mit schwarzem Gekröse; mindestens aus Mexiko. Dazu
rotbraune Schuhe. Dazu Socken, maisgelb. Dazu ein breiter brauner Hut. Und
umgehängt, eine Kamera. Gottlieb Zürn hatte den Eindruck, Rudi W. Eitels Bärtchen
sei seit dem letzten Mal über Wilhelm II. hinaus in Richtung Salvador Dali entwickelt
worden.
Sobald er den lächerlich weit hinausstarrenden Eitel und den tief in die Tischfläche
hängenden Schaden-Maier gesehen hatte, wußte er, daß es sich nicht lohne, wegen
Rudi W. Eitel und Schaden-Maier das Rad abzustellen, Platz zu nehmen, Zeit zu
versäumen. Da hätte schon Jarl F. Kaltammer oder Paul Schatz sitzen müssen. Aber
kurz stehenbleiben mußte er. Schaden-Maier meldete zu Eitels Kopf hinauf: Dr. Gott-
lieb Zürn bittet um Audienz, Signor. Soll antanzen, sagte Eitel, ohne seine Haltung zu
lockern. Hast du gehört, Gottlieble, du darfst antanzen, rief der Schaden-Maier und
rief gleich noch dem Fräulein zu, Gottlieb trinke auch den Bermatinger. Am hellen
Vormittag, sagte Gottlieb. Ja, wo bleibt er denn, rief Eitel zu Schaden-Maier hin. Um
Eitel nicht noch mehr Anlaß zu aufsehenerregenden Rufen zu geben, stellte Gottlieb
das Rad an das niedere Mäuerchen und ging zu denen hin. Rudi W. Eitels Haltung
lockerte sich nicht. Er reichte die Hand, als sollte Gottlieb sie küssen. Sein linkes
Auge schaute ein wenig aus der Bahn. Kam der Ausdruck von Schnödigkeit und
Surrealismus daher? Gottlieb, sagte er gewissermaßen schnarrend, immer noch bei
der Grund- und Bodentruppe, wa! Meister Schatz hat ja wieder einen schönen
Hammer gefietschert im Blatt am Samstag. Jemand, der, wie ich, direkt aus La Jolla
kommt, möchte da am liebsten die Birne schütteln. Aber schüttel ich die Birne? No.
Schüttel ich nicht. Woisch, was ich schüttel? Rudi Weitel schüttelt das Bäumchen
und herab fallen goldene Pfläumchen. So, 'etz woisch, was Rudi Weitel schüttelt,
okay?! Und woisch, wo das Bäumchen schtoht? Z'California! Mei Real Estate Inc
isch ein Hit, vaschtohsch. Soviel ka i ja gar it fresse, wie i kotza mecht, wenn i dem
sein Volkshoch-schul-Special lies! Unverbaubarer Seeblick, wa! Immer noch, ein
Laben lang, unverbaubarer Seeblick. Classified Ad, wa! Woisch, was ich in meine
Classified Ads fietschere, ha?! CAMEL RACING AT THE DESERT FESTIVAL! DE-
SERT GOLF CLASSIC! RETURN OF FLYING FISH! LAGUNA BEACH ART
FESTIVAL! So wird die Immobilie in Southern California gewürzt. Ja, was glaubsch
du denn, wen Franki Boy anruft, wenn er von Hollywood nach Palm Springs moven
will? Seinen german friend Rudi! Aber jaa! Wer woiß denn actually die real safe
places in Southern California, no störe burglary, no shoplifting, no till-tap! Who has
become known for his smashing preventive measures? Rudi Dabbelju Itell! Bezüglich
your security arrangements, please feel free to call Rudi W. Eitel, your real estate
agent. Unverbaubarer Seeblick, wa! Rudi Weitel hat in seinem Inserat andere
Zückerlen. San Marino's voting about 7:1 Re-publican. The John Birch Society
maintains an office in San Marino. Das ist die absolute CSU-Mehrheit for ever! Koin
Neger weit und breit, aber, weil's einen Fortschritt gibt: Juden und Schwule schon, if
they can affortd to pay the dues. Und natürlich, jede Menge Mexikaner zum Schaffen:
das mag die Immobilie! Aber unverbaubarer Seeblick? Sein erfolgreichstes Inserat
war eins für ein La Jolla Showcase House, six bedrooms, seven baths, immaculate
condition, aber jetzt kommt's: das Quartier, wo's liegt, hat eine höhere
Scheidungsrate als Hollywood, und das steht drin in seinem Inserat! Er werde seine
Agencia Immobiliaria in Las Palmas schließen, weil dort ja auch schon die Piffer das
Sagen hätten. Dieser Kontinent hat die Motten. Darum sei er jetzt Mitglied der
Broker's Guild of Southern California! Aufnahmegebühr Dollar vierhundert. So 'etz
bisch du dra, okay?! See your realtor!
Rudi W. Eitel konnte nur laut sprechen. Und dazu machte er scharf, jäh, blitzschnell
Bewegungen. Er säbelte jeden Satz durch die Luft. Wenn er nicht sprach, erstarrte er
sofort wieder. Man hatte nicht den Eindruck, er höre, was ein anderer sagte. Anfang
Februar hatte ihn Gottlieb zum letzten Mal getroffen. Da war Rudi W. Eitel gerade
von den Kana-ren gekommen, hatte soviel Spanisch eingeflochten wie jetzt
Amerikanisch und hatte gesagt, er möchte nur noch in Ländern leben, in denen es
spanisch zugehe. Rudi W. Eitel war aus Biberach. Rudi war, seit er ihn kannte, gleich
alt geblieben. In Gottliebs Einteilung war der neunzehn. Der Schaden-Maier war
deutlich jünger. Mehr als sechzehn war der nicht und würde der, falls nicht
Katastrophen es erzwängen, nie werden. Rudi W. Eitel rief ein-, zweimal im Jahr an.
Meistens aus dem Ausland. Er sagte dann, er wolle nur wissen, wie das Wetter am
Bodensee sei. Dann drehte er gleich auf volle Touren: Sein Real Estate-Schuppen
habe eingeschlagen wie d'Sau. Er gehöre zu dem Kreis von Maklern, der aus
Washington angeschrieben worden sei, dem Expräsidenten Ford, der sich in
Südcalifornien niederlassen wolle, Angebote zu machen. Aber wenn man Eitel dann
im Faulen Pefy oder im Rex traf und die Bedienung kam zum Kassieren, erstarrte er
sofort bis zur vollkommenen Abwesenheit und rührte sich erst wieder, wenn man für
ihn mitbezahlt hatte. Plötzlich sagte er: Was fietschersch'n du grad? Und bevor
Gottlieb sagen konnte: Etwas Sagenhaftes . . . das Schwanenhaus in . . ., rief Rudi:
Komm, sim'r luschtig, lasset uns bäten.
Das war ein Spiel, das sie öfter gespielt hatten in den vergangenen Jahren: die
Aufführung des jeweils letzten Schatz-Inserats mit verteilten Stimmen.
Rudi rief: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß von Leistungen. Der Schaden-
Maier richtete sich nicht auf, hob aber das runde weiße Trauergesicht und sagte so
gestelzt als möglich: Wie sehen diese Leistungen nun aus? Rudi W. Eitel darauf, mit
dem zierlich schwingenden Amateurcharme: Der Makler legt Ihnen die bunte Palette
seines Angebots vor. Es genügte der Schatzsche Wichtigkeits- und Ernstanflug, und
alle drei explodierten vor Lachen. Rudi W. Eitel rief, er würde es ja verstehen, wenn
der Doktor juris Gottfried Zürn dem Publikum mit Seriositätsfetzen die Augen wischte
— Ad majorem professionis gloriam, fügte der Schaden-Maier rasch ein -, aber doch
nicht der Selbstausbilder Meister Paul, und eben das sei das einzige erlangbare
Motiv: sein Nichtabitur! Nur seines Nichtabiturs wegen ernenne sich unser Tamerlan
aus Temesvar andauernd zum Moses und schwenke Tabortäfelchen. Was soll's,
Kameraden, we agree, er lächert uns, okay? Der Schaden-Maier: Tamerlan stimmt
nicht, Hindenburg stimmt, der Hindenburg aus Budweis ist er, heißt ja auch Paul.
Gottlieb sagte: Ganz genau genommen ist er ein Hindenburg, der sich für einen
Bismarck hält. Stimmt, schrie Rudi, stimmt, der ehrliche Makler!
Fräulein, zahlen, rief Gottlieb. Zahlen kann er, aber nicht gehen, rief Rudi W. Eitel.
Oder ob Gottlieb auch ein solcher Piffer geworden sei wie Meister Paul und das
Opportunismusgenie Jarl F. Kaltammer, der, frei nach Kennedy, in JFK-Immobilien
umfunktioniert habe . . . Gottlieb sah, daß er nicht sofort wegkomme. Er hatte ja den
Friseur ausfallen lassen. Er fing — um die Zeit nicht nur zu verlieren — vom
Schwanenhaus an. Was würde Maier, ganz grob, für soundsoein Haus
veranschlagen. Der Schaden-Maier ließ sich nichts erzählen über das
Schwanenhaus. Herrgottnei, wenn er das nicht kennte, dann wäre er wohl den Butter
aufm Brot nicht wert. Also, das Schwanenhaus . . . Helmut, kneif die Gosche zu, rief
Eitel. Tu jetzt bloß nicht deiner Schätzer-Allwissenheit zuliebe so, als ob du je was
von einem Schwanenhaus gehört hettsch, Mensch! Ich schlag dich zusammen, wenn
in unserem intimen Kreis jetzt auch hochgestapelt wird. Wir sind einander nah und
verkehren miteinander demgemäß nur mit heruntergelassenen Hosen! s' Gottlieble
veranstaltet doch Scherze, so ein Schwanenhaus gibt's nicht, und gab's es, wer
hätt's dann nicht? Unser Gottlieble. Weil's nämlich der Bombenkollege Schatz hätte.
Kaltammer hätt's, rief der Schaden-Maier mit einer Stimme, die Gottlieb an Kinder
erinnerte, die Soldaten nachmachen. Ob sie das denn vergessen hätten, daß der
Kollege Kaltammer nicht immer mit Fischblick und starrem Oberkörper eine
hassenswerte Partnerin auf Tanzwettbewerben getriezt habe, weil er schließlich —
und's sei auch kaum ein Jahrzehntchen her — nicht nur für die Abschaffung der
Gesellschaftstänze, sondern der ganzen Gesellschaft gegiftet habe! Ob sie denn die
Flugblättlein verdrängt hätten, die er sich mit Unibuben in Konstanz eronaniert habe,
sagend, daß Makler Vampire seien und Architekten und Makler nichts als Erfüllungs-
gehilfen bei der Optimierung der Grundrente des Monopolkapitalisten?! Die
ihrerseits, die Grundrente, habe als das eigentliche Geheimnis der Versteinerung des
als Ware gehandelten Wohnungsbaus herhalten müssen! Und drum hat doch die
Ideologie des Grundeigentums schuld sein müssen an einer Wirtschaftsweise, die
auf Fertigung immobiler Werte und deren Individualisierung nach Parzellen ausge-
richtet sei. Deshalb war zu fordern die Aufhebung des Privateigentums am
Produktionsmittel Boden. Laut Marx plus Kaltammer habe Grundeigentum mit dem
wirklichen Produktionsprozeß sowieso nichts zu schaffen. Also müsse zur
Seligmachung der Menschheit nur noch ein Feuer angezündet werden: das, in dem
die Grundbücher verbrannt werden . . .
Der Schaden-Maier konnte sich, wenn er auf Kaltammer zu sprechen kam - und nicht
auf den zu sprechen zu kommen, war ihm unmöglich -, nicht mehr fassen. Beide
hatten miteinander studiert und dann zusammen ein Büro gehabt. Kaltammer habe,
laut Schaden-Maier, nur Ideen entwickelt, die ohne Ludwig XIV. nicht zu
verwirklichen gewesen seien. Eben der reine Entwurfsmann, schon auf der Uni,
Baustoffkunde I und II, weil unter dem seiner Würde, geschwänzt. Ihr kennt die
Geschichte von Frank Lloyd Wright, dem ein Bauherr telegraphiert, Dach undicht,
Regen hat schon einen Sessel, Louis-Seize, beschädigt, und Wright telegraphiert
zurück: Move it. Das ist Kaltammer, dieselbe Ästhetenarroganz. Was ihn, Maier, nur
wundere, sei, daß der sich nicht geniere! Vor ein paar Jährchen sind Architekten
Erfüllungsgehilfen des Monopolkapitals und Makler Vampire, und jetzt ist er der
geflutschteste Bursche im Geschäft, schmeißt den idealen Firmenverbund aus
Makeln, Baubetreuen, Verkauf und Verwaltung. Gottlieb sagte, vielleicht geniere sich
Kaltammer, das wisse man doch nicht. Richtig, rief Rudi W. Eitel, denken wir groß
von Jarl F. Kaltammer, der Gesellschaftstanz ist seine Buße! Ja, schaut ihn doch an,
wenn er den Pasodoble reißt, den Tango schändet, die blonde Spindel aus dem
Reisebüro in den Rumba führt wie ein Schwert, und alles mit dem tauben, unebenen
Blaßgesicht und gelben Haaren, gelbhaarig und blaß, aber lateinamerikanisch
ambitio-niert bis ins Mark, ein Revolutionstän2er durch und durch . . . Moment,
Moment, rief der Schaden-Maier, der Weitel, keine Ahnung! Seit Kaltammers
Studentenperiode — Periode! wieherte Rudi und sandte bei gespreizten Fingern
madonnenhafte Blicke in die Höhe — seit diese Periode vorbei sei, lasse sich der
jeden Freitag mit seinem 2 CV Geizmobil nach Konstanz karren, werde dort von
einer Privatmaschine erwartet und ins Burgund hinübergeflogen, jaa! Nur noch Adel,
Adel, Adel! Jedes Wochenende, Adel! Burgundischer Adel! Zwei Prinzessinnen!
Nicht eine Prinzessin, sondern zwei! Jaa! Für ihn sei Kaltammer ein Graf! Mit seinem
changierenden Seidenmantel! Graf Kaltammer. Und er gestatte sich hinzuzufügen:
Kaltammer-Aspergillus niger! Nach dem Pilz, der sich in von Kaltammer
verschuldeten Gebäuden regelmäßig entfaltet habe. Seit Graf Kaltammer in seinem
Büro einen Dipl.-Ing und einen Dipl.-Kauf beschäftige, richte er weniger Schaden an.
Aber im Deuxchevaux zur Privatmaschine. Und warum? Benzin bis zum Flugplatz
müsse Graf Kaltammer selber bezahlen. Und sparsam sei Graf Kaltammer in einem
Ausmaß, von dem selbst sein ausdrucksparendes Gesicht noch keine Ahnung
erlaube. Ob es einen Menschen außer Kaltammer gebe, der mit einund-demselben
Gesicht lache und schimpfe, lustig und zornig sei? Auch bei den
Tanzmeisterschaften, für ALLE Tänze EIN Gesicht, und das wirklich Unheimliche: es
paßt immer! Gottlieb war mit dem dritten Glas fertig. Er hätte längst zu Hause
anrufen sollen. Dieser Mahnungsreiz verlor sich. Er merkte, daß er rauchte, aber er
wollte es nicht merken. Weil Leute um sie herum Platz genommen hatten, hatten sie
sich ins Innere verzogen. Speisekarten hatten sie zurückgewiesen. Irgendwann
erlosch Rudi W. Eitel. Er sagte nichts mehr, starrte nicht mehr schräg nach oben,
sondern schräg nach unten, unter den Tisch. Der Schaden-Maier sagte: Das kenn'
ich. Er starrt auf Cäsars Füße. Von jetzt an kriegst du keinen Kontakt mehr mit ihm.
Ob wir bei ihm sitzen bleiben oder gehen, ist schnurz, nur zahlen müssen wir für ihn.
So saß der Vercingetorix. Als alles verloren war, ist er aus Alesia hinausgeritten und
hat sich in voller Rüstung, also mit dem farbigen Helmbusch, zu Cäsars Füßen
gesetzt. Cäsar hatte seinen Feldherrnsessel samt Podest auf den Belagerungswall
stellen lassen. Vercingetorix spannt sofort, von ihm wird eine möglichst weitgehende
Unterwerfung verlangt. Er war doch viel schöner als dieser Cäsar. Cäsar wollte ihn
anschauen. Im Blickwechsel hätte Vercingetorix zugeben sollen, daß er nichts, Cäsar
aber alles sei. Vercingetorix hat Cäsar nicht angeschaut. Den Blickwechsel hat er
dem nicht gegönnt. Er hat sich hingesetzt auf die Plattform, auf der Cäsars Füße
standen, und hat auf Cäsars Füße gestarrt. Er hat dem Sieger die Anerkennung des
Besiegten verweigert. Und was ist ein Sieg, den der Besiegte nicht zugibt, ha! Cäsar
hat gespürt, daß sein Feind durch die Verweigerung des Blickwechsels ausdrücken
wollte, wie wenig er sich von Cäsar besiegt fühle, da doch Cäsar nur durch die
germanische Reiterei Herr geworden war über die Kelten. Nicht die Römer, die
Germanen haben die Kelten besiegt. Darum hat Vercingetorix dem auf die Füße
gestarrt. Cäsar hat das nicht vergessen. Fünf Jahre später hat er dem Vercingetorix
den Kopf gan2 genau vor seinen, Cäsars Füßen abschlagen lassen. In seinem
letzten Augenblick starrte Vercingetorix wieder auf Cäsars Füße. Ich bin sicher, Rudi
sieht Cäsars Füße. Gehen wir.
Vorher mußte Gottlieb noch die ganze Zeche bezahlen. Dann mußte er noch mit dem
Schaden-Maier ins Rex. Würde er nicht mitgehen, wäre der Schaden-Maier beleidigt.
Dann hätte Gottlieb ein paar Stunden verloren, 82 Mark bezahlt und einen beleidigt,
der andauernd in der Stadt herumlief und Stimmung machte. Auch für Tips war der
gut. Gottlieb konnte sich nicht erinnern, je einen Tip vom Schaden-Maier bekommen
zu haben, aber daß es jederzeit möglich war, stand außer Frage. So jemanden
beleidigt man nicht. Im Rex legte sich der Schaden-Maier sofort wieder über den
Tisch, was, weil er klein war, nicht richtig gelang. Aber die Ellbogen schob er so weit
in die Tischfläche hinein, als es gehen wollte. Gottlieb fragte noch einmal, wie Helmut
das Schwanenhaus einschätze. Der Schaden-Maier war eine Kapazität und eine
Autorität im Schätzen und Bestimmen des Wertes von Bausubstanz. Er war, nach
einer Maurerlehre, über den zweiten Bildungsweg Architekt geworden und hatte sich,
nachdem die Zusammenarbeit mit Kaltammer nicht gelungen war, nicht mehr ans
Bauen, sondern nur noch ans Gutachten, an die Bauschädenschätzung und
dergleichen, gewagt.
Ich sag es dir, Gottlieb, weil du's bist und weil du weniger gegen mich unternommen
hast in den letzten 15 Jahren als jeder andere Erwachsene in dieser Stadt! Ich sage
nicht, daß du nichts unternommen hättest gegen mich. Nichts gegen mich zu
unternehmen, das wäre zuviel verlangt, klar. Aber wenig, sehr wenig gegen Helmut
Maier zu unternehmen, das ist dir gelungen, Gottlieb, wie es keinem anderen in
dieser Stadt gelungen ist. Der Kaltammer, der für immer seinen führenden Platz
behaupten wird in der hiesigen Maierverfol-gung, hat bewiesen, daß man ein
goldener Baulöwe werden kann, wenn man auch keine Dachrinne schadenmeidend
führen kann. Das einzige, was er nicht kann: sich schaden. Er kann tun und sagen,
was er will, es schadet ihm nicht. Ich bleibe beim Thema, Gottlieb. Ich sage dir
voraus, das Schwanenhaus reißt sich Herr Kaltammer unter den Nagel. Du nicht. Der
Schatz nicht. Eine päpe Schwabenfamilie erster Klasse läßt sich nicht von einem
balkanesischen Mister Drei-prozent imponieren, aber Jarl Graf Kaltammer-
Aspergillus niger von der changierenden Seide, der kriegt das Schwanenhaus. Da
kannst du machen, was du willst, Gottlieb. Das ist Gesetz. System. Objekte dieser
Größe werden einfach auf der Kaltammer-Etage rangiert. Dies ist eine
Kaltammergesellschaft. Diese Gesellschaft produziert Kaltammers wie Kalt-ammers
Bauten Aspergillus niger produzieren. Und wie Kaltammers Bauten an dem
kaltammerschen Aspergillus niger zugrunde gehen, so geht diese Gesellschaft an
Kaltammers zugrunde. Aber daß du nicht umsonst gefragt hast: der Leistle-Dame
kannst du, da ein Kostenindex angesichts der historischen Substanz keine Rolle
spielen kann, vorschlagen, sie könne 2,5 verlangen, VB, das tut ihr gut. Kriegen darf
sie für die 3000 Kubikmeter historischen Raums, Baujahr null-fünf, einsacht bis zwei.
Substanz, einwandfrei. Gebrauchswert, wegen des feudalen Konzeptes,
problematisch. Liebhaberobjekt. Schön, wenn du's kriegen könntest. Zum Wohl,
Gottlieb. Ich sage immer: andere reden über ihre Krankheiten, ich rede über
Kaltammer. Ich sage dir aber: ich habe noch nie und nirgends gesagt, warum ich
über ihn reden muß. Was er mir getan hat, weiß nur ich. Ich bezweifle, daß er es
weiß.
Als der Schaden-Maier eine Sekunde lang schwieg, sagte Gottlieb zur Seite hin:
Mario, zahlen. Er zahlte für beide. Der Schaden-Maier protestierte. Zog mit einem
Griff Scheine aus der Tasche, sagte, er werde dieses Lokal nie mehr betreten, wenn
man ihn nicht zahlen lasse. Gottlieb, sagte er und schmierte sich in seiner Not den
Schweiß mit den zerknäul-ten Scheinen von der Stirn, Gottlieb, Freund, ich
beschwöre dich, tu das nicht! Wenn du jetzt zahlst, tust du etwas gegen mich.
Gottlieb gab nach. Ecco, rief der Schaden-Maier, nochmal zwei vom selben! Jetzt
protestierte Gottlieb. Es sei drei vorbei, zu Hause warteten sie seit Stunden. Der
Schaden-Maier zeigte, daß er Gottlieb dieses verfrühte Davonrennen für immer
verübeln werde. Gottlieb setzte sich noch einmal. Keiner sagte etwas. Es war ein
stummer Kampf. Dann stand Gottlieb auf, legte dem Schaden-Maier die Hand auf die
Schulter und sagte: Helmut, ich muß. Der reagierte wie Eise, wenn man sie zu wenig
fest streichelt: er hob die Schulter der Hand entgegen. Das war wie eine Bitte, die
vorgebracht wird mit Tränen in den Augen. Gottlieb spürte, daß er eine Wut brauchte,
um zur Trennung vom Schaden-Maier fähig zu sein. Der Rudi ist doch allmählich der
reine Hochstapler, sagte der Schaden-Maier, findest du nicht. Er tut mir leid, wirklich.
Er und ich und du, alle anderen kommen doch sowieso nicht in Frage. Und jetzt ist
einer von uns dreien ein Hochstapler. Einer ein Säufer. Er zeigte auf sich. Und einer,
auf Gottlieb deutend, ein Kind. Gottlieb bohrte den Zeigefinger in die Schläfe, dann
legte er die Hand auf Schaden-Maiers Kopf. Wie alt Gottlieb jetzt sei? Gleich fünfzig,
sagte Gottlieb. Das sehe man ihm nicht an. Mach's gut, Helmut, sagte Gottlieb und
ging so langsam hinaus, daß der Schaden-Maier hätte rufen können. Rief er nicht,
hatte er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er jetzt allein sitzen blieb. Er rief nicht.
Gottlieb schaute nicht mehr um, weil er sonst wieder zurückgegangen wäre. Daß er
es fertig brachte, den sitzen zu lassen, nahm er sich übel. Aber wenn er bei dem
sitzen blieb, dann gehörte er dazu. Zu Schaden-Maier und Rudi W. Eitel. Er war
erschrocken, als der Schaden-Maier sagte, Eitel, er und Gottlieb gehörten
zusammen. Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre Gottlieb vielleicht sitzen geblieben.
Er schob sein Fahrrad bis dahin, wo der Fußweg begann, auf dem man nicht fahren
durfte, schwang sich langsam auf den Sattel und fuhr trotz sausender Gedanken,
trotz des dringenden Wunsches, freihändig zu fahren, mit den Händen fest auf der
Lenkstange heimwärts. Ihm fiel ein, daß er schon zweimal überrascht gewesen war,
den Schaden-Maier zu treffen, weil er der Meinung gewesen war, der sei an
Leberkrebs gestorben. Der hielt also Rudi für einen Hochstapler. Natürlich fragte sich
Gottlieb auch, ob, was Rudi erzähle, nicht übertrieben sei. Aber da er alles, was Rudi
erzählte, wenn der es sagte, irgendwie vor sich sah, glaubte er auch, was Rudi
sagte. Es kostete ihn auf jeden Fall Kraft, an dem, was Rudi sagte, zu zweifeln. Er
konnte das immer erst versuchen, wenn er Rudi verlassen hatte. In dessen
Gegenwart an dem, was der sagte, zu zweifeln, wäre ihm unmöglich gewesen. Rudi
ist ein Hidalgo, dachte er und wußte nicht, was er damit meinte. Als Gottlieb vorhin
nach der japanischen Kamera hatte greifen wollen, die Rudi umhängen hatte, hatte
der gerufen: Nicht, du verbrennst dich. Und als Gottlieb fragend geschaut hatte:
Mensch, die ist heiß. Kostet dafür nur Zwei-hundertneunzig.
Jetzt hätte Gottlieb Zürn am liebsten alles rückgängig gemacht, was er auf der
Terrasse des Faulen Pelzes gesagt hatte. So konnte man doch nicht reden über Paul
Schatz. Paul Schatz hatte mehr getan für den guten Ruf des Maklerberufes als
irgendein anderer. Es war idiotisch, sich in einem öffentlichen Lokal über Paul Schatz
lustig zu machen. Das mußte der doch erfahren. Wenn Gottlieb wenigstens so
gedacht hätte, wie er da unter Rudis und Schaden-Maiers Einfluß dahergeredet
hatte. Immer bestimmten andere, wie und was gesprochen wurde. Zu ein paar
Boshaftigkeiten über Paul Schatz wäre er allzeit bereit gewesen. Aber doch nicht zu
einer solchen Verhöhnungs-Schau. Und zwei Tische weiter war ein Rentner mit einer
fleckigen Glatze gesessen und hatte eine Wanderkarte studiert. Und hatte einen
Stock mit Gummikappe dabei. Und sah aus, als könne er nur noch zittern. Und
studiert eine Wanderkarte! Ein Spion. Natürlich ein Spion. Gottlieb wußte, daß zu
solchen Vorstellungen kein Anlaß sein konnte. Aber er hatte Angst. Aber Paul
Schatzens Volksaufklärer-Pose in den Inseraten war doch lächerlich.
Mit Abschluß des notariellen Kaufvertrages läßt sich in aller Regel die sofortige
Überschreibung im Grundbuch noch nicht bewerkstelligen. Auf diese
Zunftstubensprache fällt das Publikum herein. Paul Schatz ist der Inbegriff des
Maklers in der ganzen Bodenseegegend, des seriösen Maklers. Er riecht überhaupt
nicht nach Geschäftemachen. Dabei macht er die größten und die besten Geschäfte
von allen Maklern in dem Dreieck Zürich, Stuttgart, München. Es gab keine besser
aufgemachten Inserate als die seinen. Kleine Kunstwerke waren das. Ja, war denn
Paul Schatz etwa kein Künstler? Hing diesen Sommer etwa keine Ausstellung seiner
Bilder im Cavasgen in Lindau? Und wer nicht hinging, war Gottlieb Zürn. Weil er sich
lächerlicherweise eine Konkurrenzposition einbildete gegen einen Mann, für den er
doch unter der Wahrnehmungsgrenze blieb. Wie hatte er sich bloß von Rudi, diesem
nicht ganz durchschaubaren Herumlungerer, zu einem so miesen Verhalten
hinreißen lassen können! Rudi W. Eitel existierte, obwohl er aus Biberach war,
exterritorial. Unbe-langbar. Gottlieb mußte von sich endlich verlangen, Paul Schatz
vernünftig einzuschätzen. Er spürte, wie wenig er dazu bereit war. Warum mußte
ausgerechnet er einen Konkurrenten haben, der in jeder Hinsicht besser war als er
selbst! Seit Paul Schatz neuerdings auch noch eine Bürgerinitiative für eine seeferne
Trasse der Autobahn anführte, gab es überhaupt keine Position mehr gegen ihn. Das
ist ein Mann. Der kümmert sich um das Richtige. Und um was der sich alles
kümmert! Der schreibt Artikel in der Zeitung, wenn die Bundesbahn, trotz
Elektrifizierung, die Schwarzwaldstrecke Offenburg-Konstanz nicht so schnell schafft,
wie sie das offenbar sollte oder könnte, aber eben nicht schafft, weil sie ... Gottlieb
hatte den überzeugenden Beweisgang des Zugreisenden Schatz schon wieder
vergessen. Der schreibt gegen landschaftszerstörende Flußbegradigun-gen und für
Altbausanierungen. Und du lebst vor dich hin, egoistisch, häßlich, klein! Ein
häßliches, kleines, egoistisches Kind, das sich in der Stunde sechzig Mal
anzupassen versucht vor lauter Angst, Schwäche, Gefallsucht. Ein Kind . . . er hatte
sich mit aller Kraft beherrscht, als der Schaden-Maier das aussprach. Vielleicht
vergaß der seine Entdeckung wieder. Wenn Gottlieb widersprochen hätte, wäre es
zu einer Diskussion gekommen, und Gottlieb wäre für immer als Gottlieb, das Kind m
Schaden-Maiers Trunkenheits-Oratorien vorgekommen. An Paul Schatz sieht man:
nichts lohnt sich so wie Mutigsein. Gottlieb nahm sich vor, endlich auch einmal mutig
zu sein. Die meisten Menschen, die er kannte, waren mutiger als er. Anna hatte
einmal gesagt, von ihm erfahre man nie, was er denke, sondern nur, was er denke,
das die anderen hören wollten. Auch den Kindern gegenüber sei er nichts als
taktisch. Das zeige schon verheerende Auswirkungen. Die Kinder hätten sein
Verhalten unwillkürlich angenommen und seien schon durch und durch verbogen.
Der Vorsatz, endlich auch einmal mutig zu sein, versetzte ihn jetzt schon in eine Art
Angst. Er wußte doch, bei ihm würde das Mutigsein anders enden als bei Paul
Schatz. Mit einer fürchterlichen Blamage. Oder mit einer Art Vernichtung. Mutigsein. .
. das muß man sich leisten können. Irgendwann, ja. Er hatte schon ein Bedürfnis
danach. Aber wenn er daran dachte, daß er jetzt endlich einmal mutig hervortreten
wolle, kamen ihm sofort alle rundum wie Erwachsene vor. Und er ... Er hätte
versuchen müssen, dem Schaden-Maier das mit dem Kind auszureden, ohne daß
der das hätte bemerken dürfen. Er war gleich fünfzig. Und durfte keinem Menschen
sagen, daß er am liebsten die meisten Leute Erwachsene nennen würde. Die würden
glauben, er wolle sich jünger machen, als er war. Das wollte er überhaupt nicht. Na
ja, vielleicht um zwei bis vier Jahre. Aber keinesfalls um fünf. Hoffentlich vergaß der
Schaden-Maier wieder, was ihm da ein- bzw. aufgefallen war.
Daheim kam er von der Gartenseite unbemerkt in sein Büro. Das Haus war voll von
prasselnden Klaviertönen. Julia und Czerny. Als sie dann zu durchlichteteren Bach-
Inventionen überging, hörte man die auf- und abeilenden Violintöne Magdas aus dem
oberen Stock. Wenn beide sich so ungehemmt ihren Übungen hingaben, hieß das,
Regina war wach. Er lag angenehm schwer in seinem Schreibtisch-Sessel. Gab es
etwas Künstlicheres, Verletzenderes als Tätigkeit? Eise kam zum Fenster herein,
blieb auf der Fensterbank sitzen, schaute sich einen Augenblick völlig unerschüttert
im offenen Fensterflügel an, dann legte sie sich in Lauerstellung und spähte in das
Gebüsch hinaus. Eine Katze tut immer etwas. Und wenn sie nichts tut, tut sie das.
Plötzlich stand Anna neben ihm. Er hatte gehört, wie auf einmal das Klavier direkt
hereinprasselte. Aber er war nicht imstande gewesen zu reagieren. Anna war ... ja,
war sie so entsetzt, so außer sich, wie sie sich gab? Einfach nicht zum Essen zu
kommen. Er sei schlimmer als jedes Kind. Und wie es Regina geht, ist ihm egal, ja?!
Er sagte, Eitel und Schaden-Maier . . . Auch das noch! Ausgerechnet mit diesen
zwei! Er bat sie, die Predigt zu verschieben. Wie geht es Regina? Dr. Freisieben
habe angerufen. Nach seinem und Dr. Sixts Urteil rechtfertige der Urinbefund die von
Anna geschilderten Symptome nicht. Er habe Regina sehen wollen. Also sei sie mit
Regina hin. Im Wartezimmer fing Regina plötzlich an zu weinen. Anna fragte: Tut es
so weh? Anna konnte ihre Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Alle Leute starrten
die mit ihrem Kind weinende Mutter an. Als Regina sieht, daß ihre Mutter auch weint,
lacht sie und fragt, warum die Mutter weine. Deinetwegen, sagt Anna. Darauflacht sie
noch mehr. Sie ist wie du, sagte Anna. Dr. Freisieben hat sie untersucht. Er und Dr.
Sixt seien der Meinung, daß der roten Quaseln wegen ein Hautfacharzt zugezogen
werden soll. Sie sei aber zuerst noch zu Dr. Sixt. Der habe schließlich Regina die
längste Zeit behandelt. Jetzt sagt er, mit Nieren, also mit ihm, habe das nichts mehr
zu tun. Eher schon mit den Eierstöcken, Regina sei ja ziemlich groß für ihr Alter. Er
wolle in diesem Fall nur noch konsiliarisch tätig sein, nur um dem Kind zu helfen. Wie
das bis jetzt gelaufen sei, sei typisch für unser heutiges System. Kein Arzt fühle sich
für den Fall zuständig. Er persönlich glaube, es handle sich um einen nicht ganz
herausgekommenen Herpes. Die Klopfempfindlichkeit deute nur auf Hyperästhesie,
nicht auf Nieren. Also wieder zum Hautfacharzt Dr. Landwehr, der am letzten Freitag
gesagt hatte: Vielleicht ein Zeckenbiß. Der hatte inzwischen mit dem Nervenfacharzt
Dr. Niebergall, der, auf Dr. Landwehrs Anraten hin, am Montag Reginas Reflexe
geprüft und für normal befunden hatte, gesprochen. Ohne Ergebnis. Dr. Freisieben,
der jetzt betont, daß er diesen Fall nur von Dr. Cornelius übernommen habe, schlägt
vor, noch einen anderen Nervenarzt zuzuziehen, da er dem von Dr. Landwehr
zugezogenen offenbar nicht ganz traue. Er schlägt Dr. Finkbeiner vor. Für die
nächste Nacht hat er Dolviran und Neurobion verordnet.
Gottlieb ging mit Anna hinauf. Im Vorbeigehen begrüßte er Julia. Magdas Tür war
geschlossen. Regina lag wie kraftlos. Wenn sie redete, bewegte sie kaum die Lippen.
Es ging ihr sicher nicht gut. Aber sie konnte es noch darstellen, daß es ihr nicht
gutging. Oder unterstellte er das nur, um seine Ruhe zu haben? Wenn man nur
wüßte, warum man etwas denkt. Wir müssen jetzt das Sitzbad machen, sagte Anna.
Zwanzig Minuten lang müsse sie Regina die äußeren Geschlechtsteile kalt abreiben.
Das ziehe die Entzündung nach unten. Das habe ihr Vetter Leonhard empfohlen, als
Magda die schlimme Angina hatte. Zuschauen wollte Gottlieb der Prozedur nicht.
Wie ernst Anna den Kampf gegen Reginas Krankheit nahm, sah er daran, daß sie
ihm nichts mehr zu essen angeboten hatte. Das war noch nie vorgekommen. Eise
bemerkte, daß er sich keiner Arbeit zuwenden konnte, sprang vom Fensterbrett auf
den Schreibtisch, von da ließ sie sich, nachdem sie mit den zwei gedehnten
Vorderpfoten zuerst tastend Quartier gemacht hatte, auf seinem Schoß nieder. Das
warme weiche Fellgewicht bewirkte, daß sein Geschlechtsteil reagierte. Daß dieses
Teil zu grotesken Reaktionen neigte, war ihm nicht neu. Den Alkohol könnte man
auch noch verantwortlich machen.
Wenn es nur schon Samstag wäre. Stuttgart, Parierstraße, Dr. Hortense Leistle. Der
Schaden-Maier hielt 1,8 oder z Millionen für möglich. Bei 1,8 wären zweimal drei
Prozent 108 000. Auch wenn er nach einer Seite zwei Prozent nachlassen mußte,
waren es noch 72 000. Das war fast schon wieder wenig. Aber warum sollte man
nicht einen finden, der 2 Millionen zahlte! Dann kriegte er, auch wenn er sich um zwei
Prozent herunterhandeln ließ, noch 80 000. Das war eine Summe, die man gelten
lassen konnte, eine Zahl, die ihm Wohlgefallen bereitete. Die Aussicht auf 80
000 Mark brachte ihn in Fluß. Paul Schatz war berühmt dafür, daß er über die
Provision niemals mit sich handeln ließ. Es hieß, er habe schon mehr als 2 x 3,33%
verlangt. Und bekommen! Trotzdem galt Paul Schatz überhaupt nicht als geldgierig.
Und er, der meistens nur von einer Seite die Provision ertrotzte — vom Verkäufer
oder vom Käufer, je nachdem, ob gerade ein Verkäufer- oder ein Käufermarkt war —,
mußte sich für geldgierig halten. Er war es ja auch. Das spürte er an dem
schwingenden Schwindel, in den er verfiel, wenn er dachte: 80 000. Die Aussicht auf
größere Summen weckte in ihm die Erinnerung an seine Eltern. Er verdiente Geld
immer vor den Augen seiner Mutter. Vielleicht ging es Paul Schatz genauso. Jetzt, da
er an seine Mutter denken wollte, fiel ihm Paul Schatz ein. Manchmal hatte er Angst,
er werde immer, wenn er an seine Mutter denken wolle, an Paul Schatz denken
müssen. Je heftiger er sich dagegen wehren würde, desto unauflösbarer konnte die
Verbindung seiner Mutter mit Paul Schatz werden. Aber warum bloß, bitte?! Seine
Mutter war nie geldgierig gewesen. Daß sie ihr Leben lang nichts anderes hatte tun
können, als bis zur völligen Erschöpfung Geld zu verdienen, lag daran, daß sie nie
Geld hatte, weil sein Vater ungeeignet gewesen war, Geld zu verdienen; dazu krank
und, bevor er fünfzig war, tot. Sie hatte ihr Leben lang die Schulden abtragen
müssen, die sich durch die hilflose Geschäftsführung des Vaters angehäuft hatten.
Gerade daß sie sich ihr Innerstes noch für Gott hatte freihalten können. Alles sonst
diente dem Geldverdienen. Sie verdiente Geld wie jemand, der ins Wasser gefallen
ist, Schwimmbewegungen macht. Ihre Kinder wären doch geradezu physisch bedroht
gewesen, wenn der Konkurs die Familie aus dem Haus gejagt hätte. Konnte er sich
seine Mutter anders als rechnend vorstellen? Immer kopfrechnend.
Wechselfälligkeiten memorierend, Schuldzinssummen von vielleicht erwartbaren
Einkünften abziehend, Gläubigerposten addierend, so saß sie, mit auf den Tisch
gelegten Händen, die einander manchmal kratzten oder sich miteinander
beschäftigten wie zwei allein gelassene kleine Tiere. Wenn seine Mutter rechnete,
bewegten sich ihre Lippen, als bete sie. Aber es waren Zahlen, die diese Lippen
bewegten. Die Augen waren kleiner, als sie von Natur aus gewesen wären. Ein durch
Anspannung aller inneren Kräfte immer enger gewordener Blick. Die großen offenen
Augen, die sie auf den zwei Fotos hatte, die sie zur Zeit ihrer Heirat als
Fünfundzwanzigjährige zeigen, als sie von Wigratsweiler herunter an den See
gekommen war, hatte er an ihr nie gesehen. Er konnte sich nur an diese kritische
oder leidende Zusammenziehung der Augen erinnern. Seine Mutter war NICHT
geldgierig. Er schon. Geld einzunehmen, verschaffte ihm eine Genugtuung. Die
Maklerprovision vernichtete jedesmal die Beziehung zwischen ihm und dem Kunden.
Mit der Provision war, was er getan hatte, vernichtet. Seine Tätigkeit hatte sich in
nichts als Geld verwandelt. Mein Nihilismus, dachte er, und fühlte sich wohl dabei.
Wenn er einmal genug Geld hätte, würde er wahrscheinlich anders über das Geld
denken. Aber was ist genug Geld? Keine Schulden mehr. Aber das wäre ja die
Dummheit selbst. Das hatte er bei seiner Mutter gelernt. Trotzdem kam er sich in
seiner ungesicherten Verdienstlage oft vor wie ein Motorbootfahrer, der ein Loch im
Bootsboden hat, also schnell fahren muß, damit sich die vordere Bootshälfte, in der
das Loch ist, durch die Geschwindigkeit aus dem Wasser hebt, das Wasser also
nicht eindringen kann. Sobald er das Tempo verlangsamte, sänke er. Er nannte das
sein relatives Boot. Wenn alles gut ginge, würde irgendwann sein Leben nur noch
aus dem Geld bestehen, das er während seines Lebens verdient, aber noch nicht
verbraucht hatte. Seine Gedichte waren das einzige, was er vor jener alles
Gegenständliche und Inhaltliche vernichtenden Beziehung zum Geld bewahren
konnte. Da er fast täglich ein paar Minuten — manchmal auch ein paar Stunden —
Gedichte schrieb oder an früheren Gedichten herumbosselte, dachte er öfter
unwillkürlich an Verwertung. Aber er erschrak jedesmal, wenn er an so etwas
dachte. Die Unverwertbarkeit seiner Gedichte war doch ihre wichtigste
Eigenschaft. Und ohne jeden Humor dachte er weiter: abgesehen davon, daß sie
wahrscheinlich gar nicht verkäuflich wären. Aber selbst wenn sie es wären . . .
verkauft, wären sie wertlos, vernichtet, auch wenn sie vorher einen Wert oder Sinn
gehabt hätten. Es waren keine guten Gedichte. Trotzdem konnte er sich nicht einre-
den, es seien schlechte Gedichte. Gut sind sie sicher nicht. Auch das sagte er sich
ohne jeden Humor. In keiner Seelenfalte ließ er eine Gegenmeinung dieses Urteil
überleben. Gut sind sie nicht. Aber schlecht auch nicht. Es waren seine Gedichte.
Basta. Er hielt sich für nichts lieber als für einen Dichter. Aber er wußte, daß er das
niemandem sagen durfte.
Sofort sah er sich von Erwachsenen bzw. Experten umstellt, die streng und besorgt
auf ihn herabschauten. Er lag in seinem nach hinten gekippten Sessel und schaute
zu denen hinauf. Wenn er denen sagte, er sei ein Dichter, wollten sie sicher seine
Gedichte sehen, um ihm dann mitzuteilen, ob er ein guter oder ein schlechter Dichter
sei. Sagten sie ihm, er sei ein schlechter Dichter, wäre er unglücklich. Auch wollte er
hoffen, man sei ein Dichter, unabhängig davon, ob man ein guter oder ein schlechter
Dichter sei. Basta. Ihm waren seine Gedichte näher als die der wirklichen Dichter.
Mußte nicht jeder seine eigenen Gedichte machen? An den meisten zeit-
genössischen Dichtern störte ihn, daß sie sich aussprachen. Jeder wollte den
anderen im Gestehen übertreffen. Ihn interessierte, was man durch Aufschreiben
verschweigen konnte. Das kam wahrscheinlich von seiner Schüchternheit oder
Feigheit oder Unaufrichtigkeit oder Unerwachsenheit. Da war er wieder bei Annas
Kritik. Anna behauptete, man wisse bei ihm nie, ob er meine, was er sage, oder ob
er, wenn er etwas sage, dadurch verberge, was er meine. So genau empfand Anna.
In den Gedichten versuchte er auszudrücken, daß er, wenn er etwas sage, dadurch
immer etwas verheimlichen wolle. Gelänge es ihm, auszudrücken, was er
verheimlicht, wenn er etwas sagt, dann hätte er ausgedrückt, warum er dichten
wollte. Andere bauen ihre Kindereisenbahn bis an die Wände des Hobbyraums oder
sammeln Steine, bis die Vitrinen voll sind, oder krümmen sich über Briefmarken, er
dichtete, basta. Das war allerdings eine Lieblingstätigkeit, die man verheimlichen
mußte. Es gab dafür keinen Verein. Seine Lieblingstätigkeit ertrug keine Zeugen.
Auch nicht in der eigenen Familie. Sie brauchte auch keine Zeugen. Der Ton der
Verstiegenheit war sein Lieblingston. Aber nur solang, als er mit diesem Ton allein
war. Wenn er tatsächlich ein Dichter wäre, auch für andere — das war für ihn schon
ein Widerspruch Dichter auch für andere —, würde er wieder den Namen seines
Vaters annehmen. Er hatte vor seiner Promotion zum Doktor den Namen seiner
Mutter angenommen und hatte deshalb seinem toten Vater gegenüber ein schlechtes
Gewissen gehabt. Er hatte damals ein hochgestimmtes Nachtgespräch geführt mit
dem schon seit dreizehn Jahren toten Vater. Mon tres eher pere, hatte er ä la Mozart
begonnen und hatte geredet, bis er überzeugt war, der Vater sei jetzt damit
einverstanden, daß einer seiner Söhne den Namen der Mutter annehme. Leicht hatte
er es sich nicht machen dürfen, weil jeder Versuch dieses Vaters, für sich oder seine
Kinder ein wenig Halt und Bleibe zu besorgen, von der Umwelt sofort mit
Zerstörungsschlägen beantwortet worden war. Daß eins der beiden noch lebenden
Kinder seinen Namen ablegen wollte, war wie eine Fortsetzung dessen, was diesem
Vater zu Lebzeiten passiert war. Aber gerade weil es eine Fortsetzung war, hatte
Gottlieb seinem Vater die Zustimmung abgerungen. Weltkrieg eins,
Gefangenschaft, Krankheit, Bankrott und Tod, bevor er fünfzig war: brandete diese
elende Suite nicht in einer Art wildem oder dichterischem Glanz auf, wenn jetzt der
Vorletzte auch noch den Namen tilgte? Man muß verschwinden können. Wie sein
Vater. Dessen Leben und Sterben war für ihn der Inbegriff des Dichterischen. In der
Figur seines Vaters richtete er sich ein Beispiel her von einem, fähig, mit
hoffnungslosem Verschwinden einverstanden zu sein. Als der Vater mit offenen
Wunden seinem Ende zufaulte, hat er täglich noch den ebenso rasch
fortschreitenden geschäftlichen Ruin zur Kenntnis genommen. Er wurde Zeuge
seiner vollkommenen Vernichtung. Er soll weder geflucht noch geschrieen haben. Er
sei eher gewesen wie ein Hauch. Aber immer schon. Das haben mehrere gesagt,
daß er immer leise gewesen sei. Nach allem, was Gottlieb über seinen Vater
aufgeschnappt hatte, war ihm der Eindruck geblieben, sein Vater sei etwas Leises
und Duftendes gewesen. Obwohl er selber noch erlebt hatte, daß der Vater, als er
dahinfaulte, süßlich und widerlich stank, hatte sich bei ihm die Vorstellung
durchgesetzt, das Leben seines Vaters sei etwas Leises und Duftendes gewesen.
Vielleicht gerade wegen des schlimmen Verlaufs und des stinkenden Endes. Ein
braver Metzgermeister hatte zu Gottliebs Mutter mehr als einmal gesagt, ihr Mann sei
ein Batsche. Das Wort wurde mit offenem a wie im englischen ivall oder ball
gesprochen. Batsche, so nannte man in Mitten einen verformten, vor Ausgetretenheit
fassungslos gewordenen Hausschuh. Als Gottlieb Zürn einmal aus Interesse für Paul
Schatz ein Buch über Siebenbürger Sachsen und Banat-Deutsche gelesen hatte, war
er darin auf den Ausdruck Batschker gestoßen; so habe man dort einen gestrickten
Pantoffelstrumpf genannt. So etwas war also sein Vater in den Augen eines seiner
Verächter. Wenn er an seinen Vater dachte, dachte er immer an das Schimpfwort
des temperamentvollen Metzgermeisters. Wie der hereinstolziert war, hatte er selber
noch erlebt, den Zahnstocher im Mundwinkel und eine Ecke der Schürze in den um
den Bauch führenden Schürzenbendel gesteckt; wahrscheinlich weil sie ihn, da er
immer mit dem Rad in die Wirtschaft kam, die Gottliebs Mutter führte, beim Treten
gestört hätte. Seit jener Lektüre ging über Batsche und Batschker auch von seinem
Vater eine Verbindung, die er nicht unterbrechen konnte, zu Paul Schatz. Er
beneidete Paul Schatz nicht um die Immobilien-AG in Vaduz, die zwei 19-
Familienhäuser in St. Gallen, die Wohntürme in Chur. Aber daß seine Eltern noch
lebten, daß man hier, viele hundert Kilometer von ihnen entfernt, durch die
Bemerkungen des Sohnes, die weitererzählt wurden, ein so deutliches Bild von ihnen
hatte, als seien sie das römische Ehepaar aus dem Lateinbuch, daß also Paul
Schatz alles, was er tat, vor stolz und zufrieden zuschauenden Eltern tat, das fand
Gottlieb Zürn beneidenswert. Andererseits, was hätte er seinen Eltern vorführen
können? Sein Haus! Jawohl, sein Haus. Wenn die Berufstätigkeit einem ein solches
Haus einbrachte, dann . . . dann . . . Das Wort Immobilienhändler hätte in den Ohren
seiner Mutter keinen guten Klang gehabt. Sie hätte ihre Augen zusammenge2ogen,
als müsse sie in ein schmerzendes Licht schauen, und ihre rechte Hand hätte den
linken Handrücken heftiger gekratzt. Immobilienhändler, das wäre für sie fast so
schlimm gewesen wie Dichter. Vor keinem Menschen hätte er sein Dichtergeheimnis
sorgfältiger hüten müssen als vor ihr. Insofern war seine Mutter geradezu eine
Garantin seines Dichtertums, das ja vor allem im Geheimsein bestand. Solange er es
keinem sagte, konnte er die Einbildung, er sei ein Dichter, ungeniert pflegen. Aber
glauben konnte er es sowenig wie jemand, der von sich sagt: Ich bin schön! sich das
glauben kann. Es gibt offenbar Sätze, die müssen andere zu einem sagen.
Hoffentlich hatten viele etwas so vollkommen Verschwiegenes, was ihr Wichtigstes
war. Wahrscheinlich waren alle in Wirklichkeit Dichter. Am wenigsten die Armen, die
Tag und Nacht bestrebt sein müssen, als solche zu gelten.
Im Haus kämpften immer noch Julias Anschläge und Mag-das Striche miteinander.
Magda und Julia musizierten, wie Gefangene mit beiden Fäusten anfallhaft und
hoffnungslos auf unzerstörbare Türen losschlagen. Er hörte ihr Musizieren als
Hilferufe. Wollten sie Musikerinnen werden? Sie mußten wohl. Sonst wäre der
Aufwand, dieses hemmungslose Aufgaben- und Zeitversäumen nicht zu
verantworten. Ein riskantes Treiben. Das sollte, bitte, Anna, auf sich nehmen. Es war
ihr Fach. Er mußte an das Schwanenhaus denken. Am liebsten wäre er sofort wieder
hingefahren. Er war süchtig danach, in die Halle zu treten und die verschieden
blauen Schwäne auf dem hallenhohen Glasfenster durch die schmalen
Wasserwindungen wie vom Licht getrieben auf sich zuschwimmen zu sehen. Links
des schilfgesäumten und gewundenen Wasserlaufs, ein nackter Jüngling; rechts, ein
nacktes Mädchen; er, in einem noch kränkeren Grün als sie. Beide, soweit
auseinander als das Bild es erlaubt. Weshalb beide sich über das ganze
Schilfschwänewasserbild hinweg zu einander hinsehnen. Er streckt die Arme und
Hände so sehr aus, daß er sie eigentlich brechen oder doch verrenken müßte. Sie
greift sich auf das Schmerzlichste mit beiden Händen an den Kopf. Und über dem
hohen dreiteiligen Glasbild ging es so anziehend weiter. Ein Glashalbrund, in dem
alles vollends zum Sehnsuchtsmuster wurde. Schwäne, Seerosen, Wasser und ein
Goldbrände spendender Abendhimmel. Und das hatte er noch nicht zu fotografieren
versucht. Für den Prospektentwurf. Auch das hochschlanke Reliefrechteck außen,
rechts neben dem Portal, mußte er noch fotografieren. Weniger wegen des Schwans,
der da aus steinernen Lianen schaute, als wegen der Schrift, die, mit
ausdrucksgierigen Buchstaben, dieses Schwanenrelief umlief. Hichabitetfelicitas, nil
mali intret stand da. Wenn er diesen Spruch dem Prospekt als Motto voransetzen
wollte, mußte er dokumentieren, daß der Spruch am Haus vorkam, sonst wurde er
zum Epigonen Schaden-Maiers. Es gab kein Schaden-Maier-Gutachten ohne ein
grimmig-lateinisches Zitat. Ein lateinischer Spruch im Bau- und Immobilienbereich,
das war Schaden-Maier! Diese Zitiersucht verriet den zweiten Bildungsweg. Er fühlte
sich dem Schaden-Maier sehr verwandt. Aber er hoffte, er könne, was sie
gemeinsam hatten, besser verbergen. Er strich den Spruch aus dem Expose. Jetzt
die Überschrift. Auf einem seiner Zettel fand er: Einmaliges Jugendstil- Traumjtmel
am Bodensee. Kaltammer hätte das ohne Zögern hingesetzt. Ihm fiel der erste Satz
eines Paul-Schatz-Exposes ein: Wahrlich, es handelt sich um DAS Angebot des
Jahrzehnts. Das war in der Rücksichtslosigkeit der Übertreibung ein Kaltammersatz,
aber durch das zunftstubenhaft zinnerne Wahrlich wurde es ein Schatzsatz. Er tippte:
Dieses Haus hat weit und breit nicht seinesgleichen. Bei Kaltammer war jeder zweite
Bungalow, wenn nur ein Fenetre Anglaise daran klapperte, ein Luxus-Landhaus im
engl. Stil. Und mindestens einmal pro Saison handelte es sich bei ihm mit Abstand
um eines der schönsten Anwesen im gesamten süddeutschen Raum. Wenn er an
solche Sätze dachte, wurde er ganz lahm. Damit konnte er nicht konkurrieren.
Sozusagen aus Trotz schrieb er über seinen ersten Satz als Überschrift: Jugendstil-
Haus am See. Er fand, das Wort Villa sei eine Herabwürdigung dieses Hauses.
Vielleicht sollte er den Nordostturm noch extra aufnehmen. Wenigstens dessen zwei
obere, auf vorspringenden Gesimsen sitzenden Stockwerke mit den senkrechten
Ovalfenstern im Linanenrelief. Und die Wandmalerei, entlang der Treppe, die von der
Halle hinauf in die Galerie führte! Eine nackte Frau stand auf einem dahinrasenden,
gerade startenden Schwan. Offenbar bewirkte sie sein Dahinrasen - sein
Hinaufrasen muß man sagen, da er ja von der Halle in die umlaufende Galerie
hinaufraste - mit einem dünnen weißen Stab, der von ihren Händen an die Nacken-
stelle führte. Die Frau und ihr Schwan rasen auf einem dunkelgrünen, vom Wind zu
Schaum gepeitschten Wasser. Man müßte einen Bildband machen, um dieses Haus
zu dokumentieren. Er mußte sich zwingen, Daten nüchtern zu versammeln. 19
Zimmer, 13 Bäder, 622 qm Wohnfläche, Halle, Eßsalon, Jagdsalon, Billardsalon,
Musiksalon, Blauer Damensalon, Trinkstube, Sauna, Wirtschaftstrakt, Tennisplatz,
Hafen mit 35 Bootsliegeplät5en, alter Baumbestand, Wandmalereien,
kunsthandwerkliche Decken in fast allen Zimmern . . . Und wo blieben die Lampen?
Und die Tapeten! Goldene Fischgrätformen aufweinrotem Grund! Ob er die Farben
des gewaltigen Hallenfensters aufs Foto bringen würde? Im grünen Wasser blaue
Schwäne, die, je näher, also je tiefer im Bild, desto heller wurden. Der vorderste,
unterste Schwan, praktisch weiß.
Und Eberhard Bansin bietet am Ravensburger Bahnhof Er-weckungsschriften an.
Und seine Mutter hätte ihre letzten Monate lieber beim Spiel 7/9 und Finale 4/7
verbracht, statt im Altersheim. Und wenn der frühere Gärtner Dionys, der vorläufig
noch im Kutscherhaus Wohnrecht hatte, nicht ein Trinker gewesen wäre, der mit zwei
Flaschen Müller-Thurgauer leicht zu bestechen war, hätte Gottlieb nicht gewußt, wie
er überhaupt in das Juwel hineinkommen sollte. So nah er dem Auftrag gewesen
war, durch die beiden Entmündigungen war er wieder weit von ihm entfernt. Er war
schon dreimal zum Abendessen gerufen worden. Jetzt riß Julia die Tür auf und sagte
in einem lustig-schrillen Zorn: Gottlieb, komm jetzt. Und sich zurückwendend rief sie,
der Gottlieb — sie war die einzige der Töchter, die ihn immer häufiger so nannte —
hock da, schau in die Luft und seine Familie laß er warten. Auf der Terrasse waren
sie dann nur zu dritt. Reginas Fieber nähere sich wieder 39. Magda sei noch in der
Küche und mache sich, wie immer, selber was. Eine Zeitlang war es still, dann sagte
Anna: Wenn die jetzt nicht kommt, eß ich nicht weiter. Sie hörte auf, drehte sich vom
Tisch weg, aber nicht der offenen Tür zu, durch die Magda herauskommen mußte,
sondern nach außen, dem Garten zu. Jetzt iß doch, sagte Gottlieb, der Angst hatte,
er müsse sich Annas Eßstreik anschließen. Er hatte Hunger. Wenn die vom Tisch
wegbleibt, kann ich auch wegbleiben, sagte Anna ins abendliche Grün hinaus. Julia
sagte: Kwwaddsch. Gottlieb nickte. Julia sagte - wahrscheinlich um die schnell
entstandene Spannung abzuleiten -, Stefan Schatz habe gerade wieder eine
ungeheure Schau abgezogen. Als niemand reagierte, sagte sie zu ihrem Vater hin:
Du interessierst dich doch sonst so für den, oder? In der neuesten Nummer der
Schülerzeitung habe der den Direktor einen Geschenkpapierdemokraten genannt,
weil der Direktor abgelehnt habe, auf dem Schulhof das Motzfäßle aufzustellen, das
Stefan Schatz in der letzten Nummer gefordert hatte. Sie erinnerten sich doch. Anna
erinnerte sich nicht und wollte jetzt nicht an etwas so Unwichtiges erinnert werden.
Stefan Schatz, sagte Julia nur noch zu ihrem Vater hin, habe die Spitalkellerei
überredet, ihm ein altes Faß zu überlassen, das er auf dem Schulhof aufstellen wolle,
damit jeder Schüler und jede Schülerin Zettel und Blätter daranheften könnten, auf
denen alles, was ihnen stinke, zu lesen wäre. Stefan Schatz sage, er sei als
Hauptmacher der Schülerzeitung draufgekom-men, daß in der Zeitung immer
dieselben schrieben, und die schrieben eher um ihrer selbst als um einer
allgemeinen Sache willen. Also müsse ein Medium gefunden werden, in dem jeder
öffentlich Kritik üben könne, auch wenn er nichts mit Literatur im Sinn habe.
Der Direktor habe die Erlaubnis, das Motzfäßle aufzustellen, verweigert, weil Stefans
Artikel zeige, daß es ihm nicht um kritische Mitarbeit, sondern um Konfrontation zu
tun sei. Stefan beweise das durch sein unentwegtes Personalisieren. Schließlich sei
das Schulgesetz für Baden-Württemberg nicht seine, des Direktors, Klausurarbeit.
Jetzt schlage in der neuesten Nummer Stefan zurück. Er suche, wenn der Direktor
dieses bißchen Demokratiebeginn verweigere, einen anderen, dann aber ganz und
gar öffentlichen Platz in der Stadt für sein Motzfäßle — womöglich mit Hilfe einer
Bürgerinitiative-, dann werde eben die ganze Stadt die Klage- und Kritikzettel der
Schülerschaft auf dem Landeplatz oder auf der Hofstatt zur Kenntnis nehmen. Ich
weiß, du bewunderst ihn, sagte Julia. Ihr dagegen sei die Art, wie der das jetzt
durchziehe, nicht mehr sympathisch, obwohl sie glaube, daß er, was die
Demokratieechtheit des Direktors angehe, nicht ganz falsch liege. Aber es ist eben
doch wieder eine Schau, sagte sie. Gottlieb Zürn spürte, daß er das Thema, Annas
wegen, durch Nichtantworten erlöschen lassen mußte. Kaum hatte Julia aufgehört zu
sprechen, sprang Anna auf und sagte, sie halte das nicht mehr aus. In diesem
Augenblick kam Magda, ihren Teller mit zwei Händen tragend, heraus und setzte
sich ohne jeden Aufwand auf ihren Stuhl. Gottlieb wußte, daß Anna von ihm
erwartete, er werde Magda irgend etwas Tadelndes, Rächendes sagen. Also sagte
er es. Er wählte eine Formulierung, in der vorkam, es sei jeden Tag dasselbe. Das
gab allerdings Magda die Gelegenheit, ruhig darauf hinzuweisen, daß sie eben
deshalb nicht verstehe, warum man sich darüber aufhalte, wenn sie ihr Essen selber
zubereite. Anna wollte protestieren. Gottlieb bat sie, darauf zu verzichten.
Hauptsache, sie säßen an einem Tisch, sagte er, auch wenn sie nicht das gleiche
äßen. Dieses Vegetariertum, sagte Anna, könne sich Magda jetzt, wo es bald aufs
Abitur zugehe, nicht mehr leisten. Das Gehirn brauche . . . Bitte, bitte, sagte Gottlieb.
Das Telephon läutete. Julia rannte hin. An ihrem Dialektgrad hörte man sofort, mit
wem sie sprach. Jeder in dieser Familie, das hatte ihn schon oft erbittert, stellte sich
am Telephon immer sofort und voll und ganz auf den ein, der anrief. Rief ein
Norddeutscher an, so verfügte jedes Familienmitglied sofort über die norddeutsche
Färbung. Bei Anna hatte er den Eindruck, sie gehe in der instinktiven
Sofortanpassung noch weit über das Klangliche hinaus. Die hatte es nötig, ihm
Unaufrichtigkeit vorzuwerfen! Bei ihr hörte man nicht nur Landschaften, sondern die
Individuen und Charaktere durch, mit denen sie sprach. Sie sprach frech-hell oder
düster-sanft, je nach dem Partner. Wenn das fast unverfälschte Hiesige erklang, war
Wigrats-weiler am Apparat. Diese Gespräche waren die kürzesten. Julia kam auch
schon fröhlich aufgeregt zurück: ihre Cousine, die Wigratsweilerer Julia, sei seit zwei
Tagen nicht mehr heimgekommen. Falls sie hier auftauche, bitte Agnes um
sofortigen Bescheid. Amtshilfe, dachte Gottlieb. Diese Nachricht war offenbar das
erste Tröstliche, was Anna heute zu hören bekam. Die arme Agnes, sagte sie.
Warum hast du mich denn nicht an den Apparat geholt. Anna hätte offenbar gern ein
bißchen Klage ausgetauscht mit Agnes, und sei es nur, weil sie momentan, da keine
der Ihren durchgebrannt war, trotz allem ein bißchen besser dran war als Agnes in
Wigratsweiler. Mütter sind auch Menschen, dachte Gottlieb und fühlte sich wohl bei
dem Gedanken. Julia fand es echt gut, daß ihre Namensbase untergetaucht sei. Wie
Magda das finde? Die zuckte mit einer Schulter. Sie stellte jetzt erst den
Suppenteller, der bis zum Rand mit einer weißgrauen, offenbar kalten breiartigen
Masse gefüllt war, auf den Tisch und begann, ihn auszulöffeln. Dazu aß sie einen
Apfel. Gotdieb dachte: Sie sitzt unter uns wie eine Gefangene. Die arme Agnes,
sagte Anna noch einmal in dieser Mischung aus Bedauern und Befriedigung. Unter
der Tür erschien Regina und rannte, einen Bogen um ihre Mutter machend, auf
Magda zu und klammerte sich an sie und sagte, daß es ein Herpes sei. Aber da war
Anna schon bei ihr und zerrte sie ins Haus hinauf. Nur Reginas Erscheinen hatte
Magdas Gesicht eine Sekunde lang belebt. Jetzt löffelte sie wieder wie vorher. Es
läutete. Julia rannte zur Tür. Magda hatte ihr Löffeln nicht unterbrochen. Julia kam
enttäuscht zurück. Nur Antje. Sie will Regina die Aufgaben bringen. Nach ein paar
Minuten wurde Anna unruhig. Wieso denn Aufgaben! Regina könne doch keine
Aufgaben machen. Sie rannte hinauf. Gleich darauf hörte man, wie sie Antje ziemlich
schroff verabschiedete. Als sie zurückkam, sagte sie, Antje sei droben vor Reginas
Bett hin und her getanzt und habe mit halb geschlossenen Augen gesummt: Ich bin
die Beste, ich bin die Beste. Herr Gerber habe ihr heute vor der ganzen Klasse
gesagt, die Klasse könne sich glücklich schätzen, daß sie Antje Jensen habe, sie sei
ein Gewinn für die Klasse. Und weil Regina diesen Triumph nicht miterlebt hat,
kommt sie ins Haus, um ihn ihr vorzuspielen. Magda stand auf, nahm ihren leeren
Teller und ging. Magda, rief Gottlieb, jetzt bleib doch noch eine Sekunde. Zu was?
sagte sie. Er wollte sagen: So halt. Aber sie sah ihn so an, daß er nichts sagen
konnte. Der lange dünne Hals schien dieses schwere Gesicht nicht mehr tragen zu
können. Jetzt komm doch, sagte er. Sie müsse arbeiten. Was? Ein Referat. Wor-
über? Madame Bovary. Immer noch Madame Bovary, sagte er leiser. Ja, sagte sie
und ging. Schon vor den großen Ferien hatte sie, immer wenn sie sich entzog,
gesagt: Ein Referat. Madame Bovary. Schon um Ostern herum, beim Skifahren,
hatte sie, wenn sie mit auf die Piste sollte, gesagt: Madame Bovary. Am Anfang hatte
er es für Pflichtbewußtsein gehalten. In diesem Augenblick kam draußen im Garten
Frau Schneider vom Ufer herauf und legte es, anstatt vorbei- und schnurstracks in
die obere Ferienwohnung zu gehen, darauf an, mit Zürns ins Gespräch zu kommen.
Sie sei noch einmal drunten gewesen, weil sie gedacht habe, Ellen, die sie ihre im
Liegestuhl vergessene Sonnenbrille zu holen geschickt habe und die ohne
Sonnenbrille zurückgekommen sei, habe einfach nicht richtig hingeguckt. Aber
tatsächlich habe sie die Sonnenbrille, als sie jetzt selber drunten gewesen sei, auch
nicht gefunden. Zürns verstünden sicher, da sie selber Kinder hätten, daß ihre Frage,
ob Ellen, ohne richtig hinzugucken, gemeldet habe, die Sonnenbrille sei nicht
drunten, trotzdem nicht ganz aus der Luft gegriffen gewesen sei. Gottlieb sagte, Frau
Schneiders Frage müsse man realistisch nennen, wenn auch bei einem so gut
erzogenen Mädchen wie Ellen die generell richtige und nötige Frage ausnahmsweise
nicht nötig sei. Aber warum nicht nötig?! Weil Frau Schneider diese um ein Gran zu
strenge Frage immer gestellt habe. Die Frage sei also nur überflüssig, weil sie immer
gestellt wurde. Wo sie nicht gestellt werde, sei sie auch nicht überflüssig, sondern
dringend geboten. Stimmt's? Obwohl er das mehr als Jurist formuliert habe, könne
sie als Mutter ihm zustimmen, sagte Frau Schneider. Herr Schneider und Ellen
kamen um den Wacholderstrauch herum, um zu sehen, wo ihre Mutti bleibe. Frau
Schneider sagte, die Sonnenbrille sei tatsächlich nicht drunten. Des hab ich dir aber
g'secht, sagte Ellen. Herr Schneider sagte: Die kann ja net vom Erdbode
verschwunde sei, also kommed no, solang ma no ebbes siecht.
Frau Schneider und Ellen starrten Herrn Schneider an. Sie begriffen nicht, warum sie
noch einmal zu dritt hinunter sollten. Mutter und Tochter wußten, die Sonnenbrille
war nicht drunten. Einen Augenblick lang war es still. Über jedem der drei Köpfe der
Familie Schneider kochte ein Mückenschwarm im Abendlicht. Die schwere Luft trug
plötzlich Glockenschläge vom See herauf, wo gewiß keine Kirchen sind. Die Rosen
sahen sofort aus, als seien sie überrascht. Und die Malven, hätte Gottlieb am
liebsten gerufen, schaut doch, die Malven drehen die Blüten zum Horchen wie Rehe
die Ohren. Aber er hütete sich. Kommed, sagte Herr Schneider. Ellen, hasch du
ghörd, was der Papa — das sagte sie anders als am Morgen — gesagt hat. Aber weil
sich immer noch niemand rührte und vielleicht nie mehr jemand gerührt hätte, sprang
Herr Schneider zwischen Mutter und Tochter, ergriff beide an den Händen und zog
sie, laut über die Sonnenbrille redend, zum Ufer hinab. Gottlieb fing an, das Geschirr
hineinzutragen. Er dachte mit Bewunderung an Herrn Schneider. Wie der
vorgesprungen war. Wie der zugegriffen hatte. Wie der gehandelt hatte. Gottlieb
konnte sich nicht erinnern, je so zugegriffen zu haben. Er hätte sich am liebsten auch
an der Hand packen lassen von Herrn Schneider, daß er hätte hinabstürmen können
mit denen, um sich wild zu beteiligen an der Suche nach einer unauffindbaren
Sonnenbrille. Aber das ging nicht. Das ging ja nicht. Eine Familie sucht die
Sonnenbrille, die andere trägt Geschirr hinein. Drinnen stellte er das Geschirr nicht
nur ab, sondern brachte es in der Spülmaschine unter. Er wollte Anna, obwohl er
keine Lust dazu hatte, helfen.

2.
Anna, die sich in Reginas Zimmer ein Bett gerichtet hatte, stürmte herein. Sie hat
einen Termin bei Dr. Finkenbein für das EEG, aber sie muß auch Dr. Freisieben
Reginas Morgenurin bringen, kann allerdings dort mit dem Auto kaum halten, also
wäre sie froh, wenn Gottlieb sie bei Dr. Freisieben aussteigen lassen und mit Regina
zu Dr. Finkenbein weiterfahren würde, oder ob er lieber den Urin . . . Nein, nein, er
bringe Regina zum EEG. Die Nacht sei furchtbar gewesen, sagte Anna. Man sah es
ihr an. Regina sah aus, als hätten ihr eine Nacht lang Gespenster im Gesicht
herumgepatscht. Was gestern grauviolette Schatten im Augenumfeld gewesen
waren, schien jetzt Farbe zu sein. Die Augen sahen rot daraus hervor.
Als Anna aus dem Auto stieg, sagte sie, sie werde nachher zu Dr. Finkenbein
hinaufkommen und den Überweisungsschein mitbringen. An der Tür zum
Wartezimmer des Nervenarztes war angeschlagen: /. Oktober nicht vergessen, die
Krankenscheine zu bringen. Außer ihm und Regina saß noch ein altes, von aller
Farbe verlassenes Paar im Wartezimmer. ER sagte zu IHR hin: Ich saach, daß du
nich' bist wie sonst. Daß du'n Schwächeanfall gehabt hast. Sie schaute geradeaus,
als habe sie nichts gehört. Nach einer langen Zeit sagte sie: Schwächeanfall. Sie
sagte das, als sei sie von ihrem Mann tief enttäuscht, als habe sie etwas ganz
anderes erwartet. Er, eigensinnig: Ich saache nich' Kollaps. Sie reagierte nicht. Er,
fast verzweifelt: Was soll ich denn saachen!? Dann kommt eine Frau mit Hörapparat
herein, setzt sich in dem leeren Raum eng neben das Paar, als gehöre sie dazu, und
starrt Gottlieb Zürn hemmungslos ins Gesicht. Die Sprechstundenhilfe holt Regina
ab. Gottlieb soll nicht mit hinein. Als sie mit Regina zurückkommt, fragt sie nach dem
Überweisungsschein. Gottlieb sagt, den werde seine Frau gleich bringen. Die Hilfe
sagt, das Kind könne er erst mitnehmen, wenn der Schein da sei. Sie hält tatsächlich
Reginas Hand. Das hatte bis zu diesem Augenblick ausgesehen wie Betreuung. Da
geht die Tür auf, Anna tritt ein, mit dem Schein, die Hilfe läßt Regina los, man kann
gehen. Regina erzählt aufgeregt, wie ihr die Hirnströme gemessen wurden.
Zu Hause rennt er in sein Büro. Er muß Kunden anrufen. Er möchte Frau Dr. Leistle
am Samstag ein paar beeindruckende Interessenten präsentieren können, damit es
ihr leichter falle, ihm den Alleinauftrag zu geben. Den qualifizierten, bitte! Verkäufer,
besonders Frauen, glauben immer, sie müßten möglichst viele Makler beschäftigen.
Daß dann keiner sich wirklich mit ihrer Sache beschäftigt, ist ihnen kaum
klarzumachen. Zuerst rief er seinen Vetter Franz Hörn an, der für die Firma, in der er
arbeitete, auch die Liegenschaften besorgt. Erst vor einem halben Jahr hatte Gottlieb
der Firma ein Industriegrundstück in Markdorf vermittelt. Er hatte seinem Vetter von
der 22 000-Mark-Provision 2200 Mark überwiesen, der hatte sie ihm — womit
Gottlieb gerechnet hatte — zurücküberwiesen, also hatte er ihm 120 Flaschen
Hagnauer ins Haus geschickt, die waren angenommen worden. Die Sekretärin
verband ihn. Gottlieb sagte: Franz, bist du's? Franz sagte: Ach, Gottlieb, du bist's. Ja,
er sei's, sagte Gottlieb. Wie es Franz gehe, und Hilde, ob es Hilde auch gutgehe, ob
sie eigentlich noch singe, was, immer noch mehr, und davon höre man nichts, vor
lauter Hetzerei, man komme ja nirgends mehr hin, und die Kinder, mein Gott, schon
gleich ins Abitur, aber so ist es, aus Kinder werden Leut', ist es nicht so, es ist doch
so, und wir werden auch nicht jünger, stimmt's oder stimmt's nicht? Ist der Thiele
zufrieden mit dem Markdorfer Platz? Für den müßte er inzwischen gut und gern 10
000 mehr hinlegen. Jetzt hätte Gottlieb tatsächlich das, was Thiele seit Jahr und Tag
sucht, also wirklich was ganz was Feins. Gebaut anno nullfünf. In der ganzen Welt
liegt so ein Haus kein zweites Mal unter solchen Bäumen, mit einem solchen Hafen,
an einem solchen See, Tennisplatz sowieso, also eben Occasion, was Occasion
heißt. Wenn Franz und Gottlieb das Richtige tun wollten, müßten sie ihre Häuschen
sofort abstoßen und das Anwesen dort kaufen. Ein besseres Geschäft könnten sie in
ihrem Leben nicht mehr machen. Und warum tun sie das nicht? Mensch, Franz,
Heilandzack! Warum nicht? Er weiß es nicht. Er weiß es wirklich nicht. Ein
Notverkauf, Franz! Die Frau Bansin, Franz hat sicher von ihr gehört, die hat alles ver-
dummt, sie und ihr Sohn; 's Eberhärdle, mit Gottlieb in die Schule gegangen, dadurch
hat er doch die Hand drauf auf der Occasion. Also Mutter und Sohn haben das Sach'
verdummt. Sie hat gespielt, da war kein Segen mehr drauf. Der junge Bansin steht
heute als Zeuge Jehovas bei ihnen in Ravens-burg drüben, am Marienplatz, neben
sich einen Basset, gell, den kennt Franz, ja, genau, das ist der junge Bansin, der mit
dem komischen Hund. So geht es eben, wenn es letz geht. Die haben ja ihre
Fabriken im Osten gehabt, 1000 Arbeiter, so um den Dreh, und ohne Fabriken sind
die nicht lebensfähig. Webstühle produziert, und zwar in Chemnitz. Bitte, das muß
man dem Thiele doch sagen! Wer hier Chemnitzer Zähne aufgebaut hat, hat einfach
ein Anrecht darauf, der erste zu sein, wenn ein hauptsächlich von Dresdner
Künstlern ausgestattetes Haus zu haben ist. Etwas historisch Einmaliges zieht
natürlich Käufer und Kenner an. Gottlieb glaubt, man müßte es für einsneun kriegen
können. Dann noch die Renovierung. Die haben ja seit dreißig Jahren nichts mehr
richten lassen. Ein neues Dach, neue Heizung, frisch verputzen, vor allem der Hafen
hat gelitten, aber mit vierhunderttausend tut einer da viel. Dann hat er was, was er im
Handumdrehen ums Doppelte verkaufen kann. Wie Gottlieb Arthur Thiele einschätzt,
verkauft der das nie mehr! Ein solcher Bootsnarr und Tennisspieler! Allein wie diese
Bäder ausgestattet sind! Säle sind das, Fran2! Thiele das sehen und kaufen ist eins!
Womit sie, Franz und Gottlieb, einen guten Lohn verdient hätten. Franz Hörn stöhnte.
Oh Gottlieb, sagte er. Also dümmer könne es sich nicht mehr fügen. Auf dem
Markdorfer Grundstück werde, weil man nicht alles, was die Zähne brächten, in
Zähne investieren könne und weil die zwar immer blühende, aber doch recht
spezielle Zahn-Produktion eine Diversifizierung habe geraten erscheinen lassen, ein
Werk für eine neue Produktion gebaut. Nur zu Gottlieb gesagt: Surf-Bretter. Da man
in Kunststoff firm und Thiele dem Wasser verschworen sei, liege das nahe. Aber die
Kapitaldecke werde arg knapp. Man übernehme sich einfach. Das sei seine Meinung.
Thiele gehe immer mutwillig, wenn nicht sogar prinzipiell über das, was Franz Hörn
für möglich halte, hinaus. Und nun noch ein Engagement von über zwei Millionen,
bloß so zum Verwohnen, das sei überhaupt und im Augenblick ganz besonders
unmöglich. In fünf Jahren, wenn sie ihr erstes Ziel, jährlich 30 000 Surfbretter zu ver-
kaufen, erreicht hätten, dann könnte man darüber reden . . . Franz, Mensch,
unterbrach Gottlieb seinen Vetter, der in der Verwandtschaft als Umstandskrämer
und Schwarzseher bekannt war. Franz solle doch Thiele nur einmal den Ball
zuspielen, nur so, zur Gaudi. Schließlich wisse Gottlieb von keinem anderen als von
Franz, daß Arthur Thiele so was suche und der Mann sei für sowas. Das stimme ja,
stimme ja alles, rief Franz Hörn, Thiele fluche jeden Tag über seinen
Sichtbetonflachdachbungalow, obwohl der jetzt schön eingewachsen sei. Jeden Tag
zitiere Thiele irgendeinen Biobau-apostel, der Studenten in Holz und in Betonzellen
testet und nachweist, wie Beton und Kunststoff Geist und Seele kränken. Es sei
ergreifend, diesen Mordsmann rufen zu hören: Ich ersticke, in dieser Betonkiste
erstick' ich. Also bitte, bitte, rief Gottlieb, und jetzt kann er raus! Allein schon
fünfhunderttausend macht er gut, wenn er im Hafen 30 bis 40 Liegeplätze vermietet,
da zahlt jeder die Miete für 10 Jahre voraus, damit er bloß reinkommt. Aber Thiele
behält den Hafen für sich, der erklärt ihn zum Versuchsgelände für die
Surfbrettentwicklung und finanziert den Preis durch Abschreibung, das ist Thiele,
stimmt's?! Gleichsehen täte es ihm, sagte Franz. Aber über einsfünf geht nichts,
Gottlieb, das schwör' ich dir. Einsfünfist auch schon Wahnsinn. Jede Mark darüber,
Verbrechen. In Markdorf schaffen wir ein-hundertzwanzig Arbeitsplätze, Gottlieb!
Jetzt spiele Franz dem Thiele einmal den Ball zu, dann sehe man weiter. Thiele sei
gerade in Norwegen, um in Bergen mit einem der führenden europäischen
Kieferorthopäden zu verhandeln. Auch ein bißchen zum Angeln, nebenher, der
Wassermensch, der er ist. Am Montag sei Thiele zurück. Franz werde ihn sofort
informieren, obwohl er fürchte, daß Thiele, wenn er die von Gottlieb geschilderten
Zimmer und Bäder sehe, in all seiner Vitalität und Hinreißbarkeit nur noch daran
denke, was man da für Feste feiern könne, und einfach zugreife. Etwas zwischen
Neuschwanstein und Karinhall schwebe Thiele jetzt vor. Schon die zweite Breker-
Plastik hab' er gekauft. Franz werde Thiele natürlich alles sagen, was er von Gottlieb
gehört habe. Obwohl Thiele keinen Tag jünger sei als Franz, sei Thiele inzwischen
der junge Prinz und Heißsporn, Franz dagegen the eider statesman. Franz komme
also, wenn er Herrn Thiele das Anwesen mit größten Vorbehalten schildere, in
keinen Konflikt mit der Loyalität gegenüber seinem Vetter. Je mehr er Herrn Thiele
warne, desto heißer werde der. Das leuchtete Gottlieb ein. Er bat Franz, Herrn Thiele
kräftig zu warnen und Hilde und die Kinder zu grüßen. Dann holte Gottlieb die Mappe
Baptist Rauh aus seiner Kartei. Er wußte allerdings von der Telephonnummer bis
zum letzten Geschäftsvorgang alles, was diesen Kunden betraf, auswendig. Wie
seine Mutter wäre er fast ohne Schriftliches ausgekommen, da sein Gedächtnis wie
das seiner Mutter, vor allem wenn es sich um Zahlen handelte, von unerschöpflicher
Kapazität zu sein schien. Baptist Rauh sei im Studio. Frau Rauh war so unfreundlich,
daß Gottlieb es nicht für Laune halten konnte. Wahrscheinlich haßte sie ihn all-
mählich, weil er ihren Mann immer wieder zu Grundstückskäufen in der
Bodenseegegend animierte. Fünf Grundstücke hatte er Herrn Rauh in den letzten
fünfzehn Jahren vermittelt. Das erste noch als Dr. Enderies Angestellter. Frau Rauh,
eine geborene Hamburgerin, interessierte sich überhaupt nicht für die Heimat ihres
Mannes. Er kam von Hergensweiler. Sie wollte ihn zum Hamburger machen. Aber -
und das war schlimmer — sie konnte oder wollte überhaupt nicht rechnen. Sonst
hätte sie gemerkt, daß die fünf Grundstücke, die zusammen 160400 Mark gekostet
hatten, inzwischen 750- oder 800 000 wert waren. Frau Rauh war nie erschienen zu
den Besichtigungen oder Protokollierungen, an die sich immer rechte Gelage
anschlössen. Als Mannequin für Pelze und Hüte hat sie immerzu Termine in
Hamburg und in Berlin. Baptist Rauh sah jedesmal aus, als brauche er Erholung. Er
war als Komponist und Textdichter wahrscheinlich von noch mehr Terminen belagert
als seine Frau. Herr Rauh sagte, sobald er sich aus Hamburg zurückziehe und auf
eines seiner hiesigen Grundstücke ein Haus baue, werde er keine Zigarette mehr
anrühren. Dann werde er ein anderes Leben führen, ein anderer Mensch werden,
eine andere Musik schreiben. Diese Wende schien er immer dicht vor sich zu sehen.
Er schien sich in Hamburg und sonstwo zu schinden nur für die Rückkehr in seine
Gegend. Neuerdings war es oft genug er, der Gottlieb anrief und sagte, ob Gottlieb
nicht einen Bauernhof habe für ihn oder ein altes eingewachsenes Haus am See. Am
liebsten einen Bauernhof am See. Er habe überhaupt keine Lust mehr, selber zu
bauen, obwohl ihm in den letzten zwanzig Jahren nichts so anziehend erschienen sei
wie das Bauen, wie das Dabeisein, wenn ausgeschachtet wird, fundiert wird, die
Wände wachsen. Jetzt fehle ihm dafür auf einmal der Sinn, das Verlangen. Etwas
Altes, am allerliebsten einen alten Hof mit möglichst vielen überflüssigen Gebäuden
und abseits, das sei jetzt die Vorstellung, die ihn verfolge.
Gottlieb bedankte sich sehr bei Frau Rauh und sagte, er gestatte sich, wenn er dürfe,
nachmittags noch einmal anzurufen. Er versuchte, den zwei Sätzen eine geradezu
magische, ganz unwiderstehliche Herzlichkeit einzuflößen. Aber das ungerührte Bitte
am Hamburger Ende der Leitung ließ ihn an seiner Herzlichkeitskraft zweifeln.
Er kippte seine Sesselschale nach hinten und lag reglos. Zu seinem Entsetzen
sozusagen stellte er fest, daß er froh war, Baptist Rauh nicht erreicht zu haben. Das
passierte ihm öfter, daß er froh war, wenn er einen, den er anrief, nicht erreichte. Er
lag mit geschlossenen Augen und sah, wie in Leuchtschrift an einem Hochhaus
immer wieder der Satz durchlief: Das größte Glück ist es, wenn ich jemanden anrufe
und erreiche ihn nicht. Draußen gingen gerade Schneiders ans Wasser hinab.
Offenbar kamen sie vom Tennisplatz. Frau Schneider sagte zu Herrn Schneider:
Sodde Ball' sollt ma als nimme nehme.
Anna rief in dem Ton, der sofort verriet, daß sie schon überanstrengt sei und im
Augenblick nichts als Folgsamkeit ertrage, zum Essen. Den Kaffee, der nach dem
Essen getrunken wurde, nahm er heute mit ins Büro. Er mußte sich und der Familie
demonstrieren, daß er keine Zeit hatte. Er mußte öfter prüfen, ob er in Gefahr sei,
faul zu werden. Wenn er andere beobachtete, sah er, daß sie entweder arbeiteten
oder nichts taten, ruhten, sich erholten. Diesen Unterschied kannte er nicht. Er war
immer in Gefahr, nicht nur nichts, sondern nie mehr etwas zu tun; deshalb mußte er
sich ununterbrochen zwingen, etwas zu tun. Er hütete sich, jene innerste, tiefste,
gründlichste Stimmung durchdringen zu lassen, die auf das Geständnis hinauslaufen
mußte, er arbeite nie etwas und wolle nie etwas arbeiten und tue immer nur so, als
arbeite er. Daß er fast ununterbrochen arbeitete, hatte er nur der Angst vor seiner
fürchterlichen Neigung zum Nichtstun zu verdanken.
Er mußte heute abend Frau Reinhold über Frau Dr. Leistle ausfragen, dann konnte
er morgen Expose und Inserat noch dem Charakterbild anpassen, das ihm Frau
Reinhold liefern würde.
Um vier Uhr rief er Baptist Rauh an. Er wolle sich den Vorwurf, Herrn Rauh von
diesem Objekt nichts gesagt zu haben, nicht machen. Herrn Rauhs Grundstücke
ließen sich heute für 800-, vielleicht für 900 000 verkaufen. Für 1,6 oder 1,7 sei
vielleicht - er sage ausdrücklich VIELLEICHT -dieses wunderbare Jugendstil-Ding zu
kriegen, mit allem süßen Drum und Dran; dem Türmchen, dessen runde Stockwerke
— die oberen zwei zumindest - von steinernen Gewächsen mehr umarmt als
umrahmt würden; dem sanften Portal, das einen Giebel über sich habe, der an die
Haube einer gotischen Madonna erinnere ... er beherrsche sich, er wolle doch Herrn
Rauh nicht beunruhigen. Daß er überhaupt anrufe, könne er nur mit seiner eigenen
Unruhe rechtfertigen. Seit er das Schwanenhaus gesehen habe, versuche er sich zu
beweisen, daß er dieses schönste Ding nicht kaufen könne. Aber jeder dieser
Beweise, je klarer er ihm die Unmöglichkeit, selber der Käufer zu sein, vor Augen
führe, rufe ihn am Ende auf zu kaufen, zu kaufen, zu kaufen. Er tue jetzt nichts
anderes, als Herrn Rauh an seiner eigenen ratlosen Unruhe teilhaben zu lassen. Aus
alter gegendmäßiger Verbundenheit. Sagen Sie selber, Herr Rauh, hätte ich Ihnen
das verheimlichen dürfen? Baptist Rauh sagte leise, schwach: Nein, Herr Dr. Zürn.
Ich danke Ihnen. Gottlieb hörte Herrn Rauh mehrere Male an der Zigarette ziehen.
Aber wie, sagte Herr Rauh dann, wie? Das ist es eben, sagte Gottlieb Zürn. Natürlich
könnte man den Hafen leicht für 300- oder 400 000 an einen Segelclub loswerden,
aber hieße das nicht, die Nase aus dem Gesicht verkaufen?! Eher riete er noch, den
Tennisplatz für 80 000 an eins der Hotels zu geben. Also wenn Herr Rauh 700 000
finanzieren könnte, müsse er ihm zuraten. Herr Rauh sprach die Summe leise nach.
Eine Art Erschütterung bemächtigte sich dabei seiner Stimme. Er müsse das Haus
sehen. Er wisse nicht, wie er 700 000 finanzieren könne, aber er müsse das Haus mit
dem Madonnenhaubenportal und dem Steinlianenturm und so weiter einfach sehen.
Und direkt am See? Und einen solchen Hafen? Ja, 70 cm dicke Mauern! Den würde
er nie verkaufen! Herr Dr. Zürn, wo denken Sie hin, den Hafen verkaufen! Der Hafen
sei doch genau das, was seine Frau endlich dazu bewegen werde, einmal mitzukom-
men. Sie sei eine Seglerin! Und was für eine! Das wäre die Lösung, sagte Gottlieb.
Mein Gott, Herr Dr. Zürn, sagte Baptist Rauh, das ist die Lösung. Endlich! Wenn
Bruni mitzieht, bin ich mehr als doppelt so stark. Sie muß das Haus und den Hafen
sehen, sagte Gottlieb. Wir kommen, sagte Herr Rauh. Jetzt mußte Gottlieb bremsen,
die Lage schildern, das Vorzeitige, aber Berechtigte seines Anrufs, weil er doch
einen seiner besten Kunden vor dem großen Trubel benachrichtigt haben wollte. Herr
Rauh spricht mit seiner Frau, Gottlieb spricht mit Frau Dr. Leistle, in der nächsten
Woche ruft Gottlieb wieder an. Warum erst so spät, sagt Herr Rauh aufgeregt, warum
nicht am Samstag, wenn Herr Dr. Zürn aus Stuttgart zurück sei. Gottlieb sagte, er
wolle Herrn Rauh gleich auch die Verkaufschancen für die Grundstücke Hochbuch,
Motzach, Taubenberg, Rehlings, Hoyerberg konkret offerieren; das koste Zeit, also
bis Mittwoch mindestens. Moment, rief Herr Rauh. Ob er mit Bruni nach Zürich
fliegen und herüberfahren könne, ob es sich empfehle, das Ding einfach einmal
anzuschauen, das könne Herr Dr. Zürn ihm doch schon am Wochenende
durchsagen.
Gut, also, wir telephonieren am Sonntag! Baptist Rauh, immer noch der alte. Wenn
der Feuer fängt, kostet es mehr Mühe, ihn vom Objekt fernzuhalten, als es bei
anderen kostet, sie hinzubringen.
Anna kam und teilte mit, daß Dr. Freisieben jetzt rate, Regina morgen in die
Kinderabteilung des Krankenhauses zu bringen. Das EEG habe nichts Negatives
erbracht, aber der Zustand des Kindes sei doch so, daß eine stationäre gründliche
Untersuchung nicht länger aufgeschoben werden sollte. Gottlieb fand das richtig. Er
werde sofort Frau Ortwein, die ja freitags zum Schreiben komme, anrufen und sie
fragen, ob sie am Montag oder Dienstag Zeit habe. Frau Ortwein, die sowieso nur in
einem klagenden, schleppenden, immer beleidigten und ein bißchen aufbegehrenden
Tonfall sprechen konnte, sagte, das komme ihr aber gar nicht geschickt.
Wahrscheinlich wollte sie aus der Änderung des Routinetermins möglichst viel
herausschlagen; nichts Materielles; aber Gottlieb sollte sich vielmals entschuldigen
und sich vor ihr krümmen. Jeder muß andauernd versuchen, aus allem soviel als
möglich herauszuschlagen. Gottlieb sagte: Lassen wir's, Frau Ortwein, kommen Sie
morgen. Ja, ob das denn gehe? Dann müsse eben seine Frau Regina allein ins
Krankenhaus bringen. Nein, nein, das wolle sie auch nicht, dann rufe sie eben ihre
Schwester an in Freiburg, daß die einen Tag früher oder später komme. Aber das
kann ich doch nicht verlangen, sagte Gottlieb. Nix da, das wird probiert. Er solle
auflegen, sie rufe ihn gleich wieder an. Sie rief gleich wieder an. Es gehe. Ihre
Schwester müsse nur noch den Inspektionstermin ihres Autos verlegen. Also dann
am Montag. Zuletzt schien es ihr eine reine Freude gemacht zu haben, alles
umzudirigieren. Noch nie war ihr schleppender Ton so in Bewegung geraten.
Wahrscheinlich hatte er Frau Ortwein immer falsch eingeschätzt und dann auch ihren
Sprechton falsch verstanden. Ist das nicht komisch, daß man zu jemandem, dem
man Geld gibt, eine unkomplizierte Beziehung zu haben glaubt, während man zu
einem, von dem man Geld bekommt, eben deshalb gar keine mehr hat. Wenn man
alles, besonders die Logik, dachte er, auf diese Erfahrung gründen würde . . .
Anna kam herein mit einem Rosenstrauß, dessen Rosen nach der Mitte zu immer
tiefer rot wurden. Sie hielt ihm den Strauß hin. Frau Reinhold finde nur Sträuße
schön, die aus Blumen einer Sorte bestünden, aber keinesfalls dürften diese Blumen
dann von einer Farbe sein, sagte Anna. Für solche Daten hatte sie ein genauso
unerschöpfliches Gedächtnis wie er für die Daten seiner Kunden. Er zog Anna an
sich. Sie streckte den Strauß weit weg, um die Rosen zu schützen. Er ging hinauf,
zog seine zitronenfarbene Hose an, das Hemd in dem blassen, fast schon weißen
Rosarot und seine cognacfar-bene, tropicalleichte Jacke, die mit einem dünnen
schwarzen Gitter gemustert war, das flache Rechtecke produzierte. Da er, wie immer
bei solchen Anlässen, viel zu früh fertig war und Anna nicht merken lassen wollte,
wie aufgeregt er war, hielt er sich, ohne etwas tun zu können, in seinem Zimmer auf.
Er versuchte, sich Frau Dr. Leistle vorzustellen, und landete immer wieder bei einer
unwirklich biederen Frauenfigur, frisch vom Friseur, panzerhaftes Kostüm, Rubinbro-
sche, cremefarbene Seidenbluse, deren Kragen in eine knüpfbare Schleife auslief.
Zu allem Überfluß noch ein törtchenhaftes Hütchen mit einem Schleierfetzen. Und
auf steinige Art hager. Und was noch? Schnurrbartansatz? Ja. Er hätte ihr noch
zwanzig Einzelheiten nachsagen können, er sah sie einfach nicht. Das Gesicht, die
Augen . . .? Er brauchte dringend ein paar Daten mehr, damit er, wenn er in der
Parierstraße durch eine helle Halle in ein noch helleres Wohnzimmer träte, nicht
auch noch mit Überraschungen zu kämpfen hatte. Am liebsten möchte er in seinem
Zimmer bleiben dürfen und keinem Menschen sagen müssen, warum er nicht hinaus
wolle. Er weiß, warum er nicht hinaus will. Aber seine Gründe sind so lächerlich, so
blamabel, daß er sie höchstens auf einer Folter gestehen könnte. Er sehnte sich
schon hinaus. Und wie. Aber unter anderen Bedingungen. Doch nicht, wenn er bei
Frau Reinhold auftreten mußte. Antreten mußte gegen Frau Reinholds Gäste. Jeder
von denen, gut, klug, wohlriechend, verschlossen, attraktiv, unerreichbar. Gottlieb
hätte sich am liebsten auf seinen Kirman-Teppich gesetzt. Einen Augenblick lang
stellte er sich vor, er könne sich im dichten Rankenwerk seines Teppichs
verkriechen. Oder wenigstens darauf herumkriechen. Aber auch das mußte er sich
verbieten. Er mußte gehen.
Auf dem Kiesplatz stand der immer makellos glänzende schwarzweiße Monteverdi
Safari. Mit dieser Autokutsche fuhr der junge Soziologe Frau Reinhold zum
Einkaufen, zum Tennisspielen, zum Segeln. Das gleichermaßen für blendendes
Kutschieren wie für Steppe und Wüste geeignete Großfahrzeug schien für Fahrten
mit dem jungen Soziologen reserviert zu sein. Wenn der allein unterwegs war, fuhr er
seinen kleinen Renault, in dem er lustig gebückt und gedrückt aussah. Er war ja ein
Riesenkerl. Ein Bernhardiner. Wenn er und die auch zur Supererscheinung
tendierende Frau Reinhold im Monteverdi Safari saßen, stimmte alles. Anna wollte
nicht verstehen, daß Frau Reinhold ein Auto fuhr, das, wo auch immer es stand,
sofort und weithin verriet, daß Frau Reinhold in der Nähe sei. Anna hätte es
verstanden, wenn Frau Reinhold sich und den Soziologen verborgen hätte. Anna
dachte nicht emanzipativ. Schlimmer, als der zu früh kommende erste Gast zu sein
war es, auf die schon als Clique plaudernde Gruppe der vor einem Eingetroffenen
zugehen und dabei entscheiden zu müssen, wem in welcher Reihenfolge die Hand
hinzustrecken sei. Frau Reinhold nahm die Blumen, erkannte die Konzeption als die
ihre, war gerührt. Weil er tatsächlich der erste war, konnte er nicht einfach von Frau
Dr. Leistle anfangen, sonst wäre der Eindruck entstanden, er sei nur deshalb so früh
gekommen. Frau Reinhold hätte davon anfangen können. Aber sie schickte ihn
gleich auf die Terrasse. Die Entschuldigung für sein Zufrühkommen brachte er nicht
heraus. Sie hatte gleich gerufen: Giselher, eine Vase! Und wo war Dr. Reinhold?
Judith hieß die Tochter, die in Magdas Klasse die Beste war, das wußte er. Benjamin
hieß der, der in Julias Klasse mit Stefan Schatz um den ersten Platz kämpfte. Au-
ßerdem war er Landesjugendmeister in einer Fechtart. Aber in welcher? Und die
jüngste hieß . . .? War die in Amerika? Anna hatte ihm alles gesagt, aber er hatte
nicht aufgepaßt. Er hatte sich wieder einmal den Ernstfall nicht vorstellen können.
Dabei gibt es wirklich nichts Einfacheres — und schon gar nichts Billigeres —, wenn
man Leuten gefallen muß, als sich ein paar Daten ihrer Kinder zu merken. Wenn er
jetzt hätte fragen können, ob es der Tochter, deren Namen er nicht wußte, in
Amerika, in der Stadt, die er vergessen hatte, immer noch so gut gefalle bei der
Familie, von der Frau Reinhold irgendwo irgendwann etwas berichtet hatte, was
Anna erfahren und weitergemeldet und er schon beim Anhören vergessen hatte,
wäre der Abend wahrscheinlich gewonnen gewesen. Wenn er endlich einmal
einsähe — und sich dementsprechend verhielte -, daß der Ernstfall immer ist. Sobald
Frau Reinhold meldete, man sei vollzählig, wandelten die Grüppchen auf die
Terrasse und wurden von jetzt an von Giselher und dem italienischen
Dienstmädchen, die man Anna rief, bedient. Giselher hatte auch keine Krawatte an.
Bei dem fiel das, weil sein Bart den krausen Kopf zur krausen Kugel rundete, nicht
auf. Dr. Terbohm und seine junge Frau hatten, als sie ihm die Hand gaben, noch mit
Kaltammer gelacht. Kaltammer war, als er Gottlieb sah, noch überraschter gewesen
als Gottlieb, als er Kaltammer sah. Kaltammer, in petroleumfarbenem Seidenanzug,
hatte eine neben ihm besonders gesund aussehende Baronesse Reitmor dabei.
Kaltammer war in Gottliebs Altersfeststellung eine Monstrosität. Gottlieb empfand ihn
als Säuglingsgreis. Dazwischen gab es keine Altersstufe, in die er besser gepaßt
hätte. Die zweite Frau Terbohm sah noch genauso aus wie vor zwölf Jahren, als sie
den Doktor geheiratet hatte. Aber auch damals hatte sie, obwohl sie viel jünger
gewesen war, wie eine Neunundzwanzigjährige ausgesehen. Jetzt war sie vielleicht
gerade so alt geworden. Sie war also gerade in voller Übereinstimmung mit sich
selbst. Sie strahlte, ohne etwas dazuzutun. Es gibt nichts, was ich nicht lieben kann:
so eine Ausstrahlung hatte sie. Gottlieb schaute so loyal als möglich zu Frau
Reinhold hin und mußte sofort zugeben, daß sie -was er gerade noch für unmöglich
gehalten hatte - bestehen konnte. Das Grünspangrün ihrer reinen Seide war so
durchsichtig, daß man, soweit man sah, unter ihrem Kleid nichts als sie selbst sah.
Allerdings doch wieder so ins Grün-schummrige getaucht, daß man nicht soviel sah,
wie man meinte, gleich sehen zu dürfen. Gottlieb Zürn konnte seine Augen nicht
hindern, den Abend lang immer wieder auf Frau Reinholds großer Figur auf- und
niederzutasten, weil seine Augen sich von ihm einfach nicht sagen lassen wollten,
daß man mehr als beim ersten Blick auch beim hundertsten nicht erreiche. Und weil
er, um seine Angst und Spannung loszuwerden, rasch viel trank und, wenn er etwas
getrunken hatte, nichts, was ihm gerade wichtig war, ganz verschweigen konnte, riß
er einmal das Wort an sich und erzählte - und wußte selbst nicht, woher er, was er
erzählte, nahm -, sie hätten in diesem Sommer in einer ihrer Ferienwohnungen ein
Ehepaar aus Mönchen-Gladbach gehabt, und der Mann, ein Diplom-Physiker, habe
17 Tage hinter einem auf ein Stativ montierten Fernglas verbracht und habe damit
Männer und Frauen, aber wahrscheinlich doch eher Frauen als Männer, auf den
vorbeifahrenden Booten beobachtet. Sobald etwas Lohnendes entdeckt gewesen
sei, habe der Diplom-Physiker es mit Hilfe eines enormen Teleobjektivs fotografiert.
Als an einem Samstagabend einer dieser Motorkreuzer zirka 70 Meter draußen
geankert habe, sei der Mönchen-Gladbacher erst bei völliger Finsternis
heraufgekommen, wie schrill auch seine Frau ihr Heinrisch hinuntergerufen habe.
Und am Sonntagmorgen schon ab sieben wieder auf dem Posten. Und den ganzen
Sonntag über das nahezu nackte Nichtstun des jungen Paars beobachtet. Wie
langsam, zum Beispiel, die einander das Sonnenschutzöl in die Haut gerieben
hätten. So langsam eben, daß man nicht mehr habe wegschauen können. Am
Nachmittag habe der junge Mann begonnen, sich zu duschen. In halb liegender
Stellung. Auf dem Vorderdeck. Sie habe ihm dazu die Dusche gereicht. Knieend.
Dann er ihr die Dusche zurückgegeben. Dann sie ihn eingeseift. Das Einseifen noch
langsamer als am Vormittag das Einölen. Dann gebürstet. Immer noch sie ihn. Dann
wieder geduscht. Nicht er sich, sondern sie ihn. Und zwar alles an ihm. Dann er sie.
Genau so feierlichkeitserzeugend langsam und gründlich wie sie ihn. Zuletzt habe
der junge Mann draußen langsam das Fernglas aus ihrer zureichenden Hand
genommen und habe hereingeschaut. Der Mönchen-Gladbacher war ihnen
aufgefallen. Dann das Fernglas an das Mädchen zurück, aufgestanden, klar Schiff
gemacht, Anker gelichtet und langsam fortgefahren. Ihn, Gottlieb Zürn, würde
interessieren, was zwei, die einander mit gleich starken Ferngläsern ansehen, dabei
für Gesichter machen! Damit schloß er. Also wenn Dr. Zürn nicht erwähnt hätte, daß
dieser Voyeur ein Diplom-Physiker aus Mönchen-Gladbach sei, hätte sie, rief Lissi
Reinhold, geglaubt, es handle sich um einen Fünfzehnjährigen. Sagen Sie lieber
zwölf, sagte Dr. Terbohm in einem Leidenston. Aber Sie haben offensichtlich den
Beobachter auch ganz schön beobachtet, sagte Frau Reinhold. Gottlieb Zürn
errötete. Er erzählte öfter etwas in dieser Art, um zu erfahren, wie andere, was er tat
oder gern täte, beurteilten. Frau Reinhold fand es entzückend, daß Gottlieb Zürn rot
wurde. Er hatte das Gefühl, seine Errötung habe sich, als Frau Reinhold auch das
noch bemerkte, intensiviert. Er spürte es direkt, daß er jetzt einen hochroten Kopf
hatte. Purpurrot wahrscheinlich. Purpurrot bis violett. Wie unter Umständen der Kopf
seines Geschlechtsteils, dachte er, konnte er sich nicht enthalten zu denken. Bevor
das Angestarrtwerden völlig unerträglich wurde, sagte die Baronesse: Es ist das
Abendrot. Das war ein wunderbarer Satz. Alle schauten jetzt nach Westen hinaus,
wo die Sonne gerade hinter dem violetten Waldpelz des Bodanrücks abgerutscht war
und ein glühendes Theater zurückgelassen hatte. Frau Reinhold sagte: Ist doch
schön, wenn einer noch rot wird, der nicht mehr zwanzig, sondern . . . Da Gottlieb
glaubte, sie zögere, fühlte er sich verpflichtet zu sagen:. . . gleich fünfzig ist. Ach ja,
rief sie, das habe er schon gesagt, als sie sich kennenlernten, vor 10 Jahren. Und,
sagte Gottlieb, es ist seitdem immer wahrer geworden. Am jüngsten, sagte Frau
Reinhold, sehe ja immer Kaltammer aus. Ob die anderen nicht auch fänden, daß
Kaltammer gespenstisch jung aussehe. Gottlieb fand, besser könne man es nicht
ausdrücken. Daß der das Tanzen aufgegeben habe, sei ihr unverständlich.
Kaltammer sagte: Aber ich werde leider nicht mehr rot. Alle lachten. Gottlieb fühlte
sich verurteilt. Nicht fünfzehn, zwölf! Niemand hatte den Mönchen-Gladbacher
Diplom-Physiker verteidigt. Giselher sagte, Erikson habe gesagt, das große
Handicap der Industrienationen sei es, daß sie wenig Erwachsene hervorbrächten.
Lissi wollte das auf Männer eingeschränkt haben. Ihr Mann, den sie übrigens für den
Augenblick noch entschuldigen müsse, er spiele heute abend gegen seinen Schach-
Computer zum ersten Mal im 6. Grad, das ziehe sich offenbar hin - leider falle
dadurch auch Judith aus —, ihr Mann habe sie, als man neulich von Jarl gesprochen
habe, gefragt, was das wohl für ein Vorname sei, und sie habe, einfach ihrem Gefühl
nach, gesagt: vom Niederrhein. Kaltammer hat unheimlich große, wimpernlose
Augen. Wenn er sie bewegt, sieht man, wie er sie von da nach da ruckt. Man hat das
Gefühl, der Blick treffe, wo er stehenbleibt, mit einem deutlichen kleinen
Zimbelschlag auf. Es macht ding. Zu Giselher hingeschaut: ding. Von ihm zur
Baronesse, zu Frau Reinhold: ding, ding. Sein Blick schweift nie. Er ruckt von Ziel zu
Ziel. Niederrhein trifft es nicht ganz, sagte er. Seinen ersten Vornamen habe er
seiner norwegischen Großmutter mütterlicherseits zu verdanken. Prima Ballerina in
Kopenhagen, geheiratet vom deutschen Militärattache, mitgenommen nach
Warschau, Madrid und so weiter. Aus lauter Heimweh sorgt sie, solang .sie lebt, in
der Familie für nordische Namen. In Norwegen sei Jarl eine Art
Häuptlingsbezeichnung. Jedes Tal habe seinen Jarl. Im Englischen sei das Earl, also
so eine Art Graf. Gottlieb bewunderte Schaden-Maiers Empfindungsfeinheit. Der
hatte das gespürt. Earl Kaltammer, riefen Frau Reinhold und Giselher gleichzeitig. Er
sei nie ein Jarl gewesen, habe immer bloß so geheißen, sagte Kaltammer ernster als
es nötig gewesen wäre. Dann stoppte er, schaute Frau Reinhold mit gelifteten
Brauen ungeheuer bereitwillig an. Die gelben Haare - Rudi hatte recht, sie waren
gelb -, die, überall gleich kurz, den Kopf genau faßten, leuchteten im Abendlicht. Ist
das nicht komisch, sagte Frau Reinhold, jetzt sehe ich Ihr Blond auf einmal völlig
anders. Ihr Blond hat nichts zu tun mit Giselhers Berliner Blond. Kaltammers sei
echter. Und erst recht echter als ihr eigenes Hedelfinger Blond. Jarls Blond sei im
besten Sinne penetrant. Und erzählte sofort, was ihr wegen ihres doch eher
unbeträchtlichen Blonds vor fünfzehn und mehr Jahren in Boston passiert sei, weil
sie eben keine Norwegerin, sondern so eine furchtbare Deutsche gewesen sei.
Jüdische Taxichauffeure, jüdische Kürschner, jüdische Zahnärzte ... oh je. Und sie
müsse wohl, da sie jüdische Freunde auf mehreren Kontinenten habe, nicht extra
betonen, daß sie diese Blondinenpogrome nicht aus antisemitischen Motiven
schildere. Sie hat zweieinhalb Jahre mit ihrem Mann in Boston gewohnt. In Brookline.
Jedes Haus ein Brickstone-Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, das summt, sich reimt
und wärmt. Und zu 70 Prozent jüdisch. Deswegen wollte ihr Mann ja da wohnen.
Wegen der Kinder. Wo Juden in der Mehrheit sind, gibt es die besten Schulen. Und
die jüdischen Kinder sind die ehrgeizigsten, das konnte den eigenen nur guttun. Tat
es auch. Aber einmal klemmt sich Judith den Finger in die elektrisch schließende
Chevy-Scheibe - war man ja nicht gewohnt von Haus aus! -, also mit ihr, am
Sonntag, ins Hospital, Judith sofort auf den Schrägen, sie hält ihr das Köpfchen, aber
als der den Nagel abhebt, treibt es ihr das Wasser aus den Augen, und er, der
schöne Schwarzlockige mit dem Rubinsteinkopf: Hören Sie auf, als ihr unsere Kinder
vergast habt, habt ihr auch nicht geflennt. Aber da habe sie doch erst recht heulen
müssen. Und was hat ihr Schäferhund nicht alles mitmachen müssen! Das sind ja
alles Privatstraßen dort. Und ob man's glaube oder nicht: die Empfindlichkeit war
noch so akut, den Hund mußte Lissi doch glatt nach Deutschland zurückschicken.
Die Baronesse verstand jetzt überhaupt nicht, wovon Frau Reinhold zuletzt geredet
hatte. Es wurde ihr von allen erklärt. Hitler habe Schäferhunde geliebt, deshalb
hätten die jüdischen Nachbarn in Brookline gebeten, diesen Schäferhund, bitte, nicht
mehr sehen zu müssen. Ach so, sagte die Baronesse. Und wo der Hund dann
hingekommen sei? Es war eine Tragödie, sagte Frau Reinhold. Zu ihrer Mutter nach
Garmisch habe man den armen Hund transportiert. Nach einem Jahr sei er tot
gewesen. Eingegangen, verkümmert, erledigt. Le pauvre chien, sagte die Baronesse
in einem so protestierenden Crescendo, daß chien am hellsten und heftigsten ausfiel.
Gottlieb bewunderte den Takt, der sie bewogen hatte, ihre Parteinahme für den
deutschen Hund in Französisch auszudrücken. Kaltammer sagte: N'en parlons plus.
Danach war es einen Augenblick still. Nur Kaltammer ruckte seinen Blick. Dr.
Terbohm räusperte sich und fragte, wie Frau Reinholds Hund geheißen habe?
Tristan. Alle nickten, als habe er, nach allem, was man gehört hatte, gar nicht anders
heißen können. Er habe einmal einen Yorkshire Terrier gehabt, sagte der Doktor, der
hieß Winston. Dann erzählte er, was ihm mit Winston in Passau passiert war. Er
sagte, er erzähle das, obwohl Barbi, wenn er diese Geschichte erzähle, ihm immer
vor allen Leuten sage: Du weißt nicht, wie du wirkst, wenn du diese Geschichte
erzählst. Ja, sagte Barbi fünfmal so laut wie er, er woiß es au it, aber bitte, no zua,
vazell din Win-ston-Porno. Er erzählte ihn. Gottlieb konnte Dr. Terbohm nicht
zuhören, weil er Barbi anstarren mußte. Ihre Brüste reichten, von links und von
rechts, weit in den Ausschnitt des wild gemusterten Romantikkleides herein. Keine
Frage, an diesem Abend gab es keine Stelle, die ansaugender sein konnte. Aber
Frau Reinhold und Dr. Terbohm hatten rechtzeitig jeden, der dahin schauen würde,
mit dem Fluch ewiger Pubertät bedroht. Dabei hatte sicher jeder Barbi schon beim
Surfen zugeschaut. Da trug sie, von Schnüren gehalten, vier gleich große winzige
Dreiecke, zwei oben und zwei unten. Goldene, blaßrote oder blaßgrüne. Vor ein paar
Tagen hatte Gottlieb sie beobachtet, wie sie bei wüstem Wetter zwei kräftigen
Orientalen das Surfen gezeigt hatte. Die konnten sich keine Sekunde auf ihren
Brettern halten, während sie überhaupt keine Probleme hatte. Sie hielt immer wieder
bei einem der immerzu aus dem Wasser Kletternden an. Dazu ließ sie einfach das
Segel an einer Hand flattern. Das Brett verhielt sofort, und Brett und Segel an ihrer
Hand wirkten wie ein Pferd, das wartet, daß die Reiterin wieder aufspringe. Dann,
das Segel her, der Wind greift zu, sie wirft sich weit nach hinten, das Haar im Wasser
schleifend, rauscht sie ab. Frau Reinhold kreischte. Und schon lachten alle. Zum
Glück lachten die so laut, daß es auf einen mehr oder weniger nicht ankam. Giselher
lachte am gewaltigsten. Wenn Bernhardiner lachen könnten, würden sie so lachen.
Giselher lachte nicht nur furchtbar laut, sondern auch furchtbar langsam. Das
Langsame war das Erschütternde. Plötzlich fing Frau Reinhold wieder zu kreischen
an, aber deutlich höher als beim ersten Mal. Sie zeigte in die Mitte zwischen
Giselhers weit auseinanderstehende Beine. Seine Jeansnaht war genau da gerissen,
wo sie nicht reißen durfte. Da war nun, gelb verpackt, doch soviel herausgequollen,
daß er das eigentlich selber als Erleichterung hätte spüren müssen. Daß Frau Rein-
hold eine ausgebildete Sängerin war, hörte man auch noch, wenn sie kreischte. Barbi
sagte, nach diesem Erfolg werde sie gegen ihres Mannes Winston-Porno nichts mehr
sagen. Sie sei eben prüde, das wisse sie, seit sie mit diesem Frauenarzt verheiratet
sei. Giselher rief: Anna! Serviette! Anna brachte ihm eine. Für heute sei er außer
Gefecht, sagte er, als er die Serviette so in den Bund gesteckt hatte, daß sie weit
über den Schaden läppte.
Il faut celebrer les faux baptemes, sagte Kaltammer und trank Giselher zu. Dr.
Terbohms Geschichte habe ihn daran erinnert, daß er einmal einen Angestellten, ja,
eigentlich schon fast einen Kompagnon gehabt habe — Leute aus der Branche wie
Dr. Zürn wüßten wahrscheinlich, wen er meine —, dieser sein vorübergehender Fast-
Kompagnon, der sich inzwischen zu einem seiner aufmerksamsten Feinde entwickelt
habe — wirklich, der verfolge ihn wie Nero die Christen —, dieser hervorragende
Kaltammerverfolger also sei ein solches Mitleidsgenie gewesen, der habe die Hunde
in der Nachbarschaft regelmäßig durch Masturbation aus ihrer sexuellen Not befreit.
Da könne man genauso wie bei Dr. Terbohms Terrier-Geschichte fragen, ob der
Befreier nicht auch sich selbst etwas zuliebe getan habe. Gottlieb Zürn sah, daß
Kaltammer seinen Blick deutlich zu ihm herruckte. Offenbar war das die Sekunde,
sich wieder ins Spiel zu bringen. Er konnte die Geschichte durch Erwähnung des
Namens würzen. Das war eine Situation, die ihm entsprach. Er durfte eine deutliche
Erwartung erfüllen. Nichts tat er lieber. Ohne jedes Zögern setzte er in Kaltammers
Geschichte ein, was ihr noch fehlte: Schaden-Maier. Er hätte auch den Namen seiner
Mutter oder seines Vaters preisgegeben in einer solchen Situation. Auch den
eigenen. Tun zu können, was ein anderer wollte, das machte ihn vollkommen
willenlos. Nicht aus Uneigennützigkeit fügte er sich so gern. Es befriedigte ihn doch.
War es Selbstlosigkeit?
Der Erfolg dieser Geschichte, samt Entlarvung Schaden-Maiers, wäre ohne Dr.
Reinholds Auftritt mäßig geblieben. Aber mit Dr. Reinhold und der ihrer Mutter
stürmisch nachwachsenden Judith kam die schwarze Labradorhündin Wunni. Und
Wunni schaffte sich sofort zu Giselher hin und, einmal dort, wollte sie unbedingt mit
der Schnauze unter die Serviette. Und Dr. Terbohm, prompt: Jetzt gibt's Schaden-
Eier. Das gab das große, das mit Schrecken gewürzte Lachen. Barbi sagte, Dr.
Terbohm in die Rippen boxend, daß der quiekste: Also woasch, du bisch au ain.
Kaltammer gab sich peinlich überrascht. Daß ein Mädchen, das man sofort
international assoziiere, diesen zähneziehenden Dialekt spreche! Dialekte seien
peinlich, der hiesige sei schmerzlich. Barbi sagte: Etz brich dr no kain ab. Kaltammer
hatte sich gleich beim ersten Ton die Ohren zugehalten. Kaltammer sagte leise - das
hieß: ich sag es leise, aber ich muß es sagen -, der hiesige Dialekt und die hiesige
Bevölkerung seien ihm gleich schwer erträglich. Daß es einzelne gebe — er
verbeugte seinen langen Oberkörper weit zu Barbi hin -, die über alle Schrecken
solcher Herkunft triumphierten, sei aufregend wie alles, was gegen die
Wahrscheinlichkeit gehe. Die hiesige Normalmentalität, diese auf sich selbst stolze
Tapsigkeit, diese sich andauernd spreizende Biederkeit. . . Dr. Terbohm zog Barbi an
sich und sagte: Du bist durch Heirat Westfälin! . . . und man müsse doch zugeben,
sagte Kaltammer, bei allem Verständnis, das man neuerdings für das Provinzielle
aufzubringen bereit sei, was hier dann tatsächlich laufe, sei Zugereisten zu
verdanken. Giselher, selber Berliner, wollte das nicht abstreiten; aber er, der in
Konstanz als Provinzforscher tätig ist, könne beweisen, daß es politisch-historische
Umstände seien, die an der auftrumpfungssüchtigen Zurückgebliebenheit der Leute
hier schuld seien. Frau Reinhold, die, seit ihr Mann und ihre älteste Tochter sich in
die Runde gesetzt hatten, dichter neben Gottlieb saß, flüsterte ihm zu: Das wäre jetzt
ein Thema für IHN. Gottlieb nickte einfach. Er wußte nicht, wovon sie sprach. Wenn
ER da wäre, hätte Kaltammer es nicht gewagt, so gegen den Dialekt zu sprechen.
Und noch leiser, richtig verschmitzt: Wenn ER gekommen wäre, hätte ich Jarl gar
nicht einladen dürfen, stimmt's? Gottlieb nickte, ohne zu wissen, was sie meinte.
Aber er ahnte es jetzt. Von wem konnte sie denn so sprechen, wenn nicht von IHM?!
Haben Sie SEINE Ausstellung gesehen? Jetzt war es sicher. Er, das war Paul
Schatz. Wollte sie sich lustig machen über Gottlieb? Laut sagte sie jetzt in die Runde,
als gebürtige Hedelfingerin könne sie jeden verstehen, der unter Dialekten leide, aber
sie warte schon den ganzen Abend darauf, daß jemand von der Ausstellung im
Cavaygen anfange! Daß die, außer ihrem Mann, keiner versäumt habe, setze sie
voraus. Kaltammer stand ziemlich jäh auf. Die Baronesse und er müßten seit einer
Stunde gegangen sein. Aber es solle nicht so aussehen, als ob er sich
wegschleichen wolle, um nichts sagen zu müssen über die Bilder seines Kollegen,
die er für genial halte; das wage er zu sagen auch im Namen der Baronesse, die ja
selber eine Malerin werden wolle oder schon sei. Julienne, qu'est ce que tu aimes
plus, etre ou naitre? Naitre, sagte sie. Bien sür, sagte er. Es sei ein Jammer, daß
dieser Mann seine ebenso herkulische wie zarte Phantasie an einen so
schrecklichen Beruf wie den des Immobilienhändlers verschwende. Andererseits, wie
wäre es um diese Branche bestellt, wenn ER nicht wäre. Daß man das Grausen,
Makler zu sein, kleinhalten könne, sei am meisten dem Wirken dieses Mannes zu
verdanken. Aber vielleicht dürfe er, Kaltammer, schon gar nicht mehr mitreden, weil
er sich doch zurückgezogen habe auf die eher besinnlich-kustodische Tätigkeit eines
burgundischen Schloßmaklers. Was hierzulande gebaut werde, sei weder zu
bewohnen noch zu verkaufen, ohne daß man an seiner Seele Schaden nehme. Nach
dem 18. Jahrhundert sei eben nichts mehr gebaut worden. Der Bürger habe nie
bauen gelernt. Also sei es nicht nur Maklers Schuld, daß er zu tun habe mit nichts als
Scheußlichkeit. Also, ER lebe hoch! Wir hoffen, ER komme heil zurück aus Wien.
Gottlieb war es während dieser Sprüche eng geworden. Flucht nach vorne, dachte er
und sagte: Wer damals SEINE Rede an Dr. Enderies Grab gehört habe oder eine
SEINER Reden in Sachen Autobahn, oder wer einen SEINER Artikel gelesen habe,
in denen ER der Bundesbahn die Leviten lese oder den Bauern oder der
Naturschutzbehörde, dem Oberschulamt, der Bootsmotorenindustrie, der
Bodenseewasserversorgung, der Architektenkammer, den Verbänden der Jäger, der
Angler und und und, der wisse, daß ER nicht nur ein begnadeter Maler, sondern
auch ein wahrhafter Wörterschmied sei. Kaum sei man mit IHM einmal auf die
heutige Gastgeberin zu sprechen gekommen, habe ER sofort und absolut sicher
geprägt: Man könnte ZWEI Wagner-Sängerinnen machen aus ihr. Darum trinke er,
Gottlieb Zürn, auf IHN. Ein Riß Schweigen im Redegeräusch, dann rief Lissi
Reinhold: Hoffen wir nur, ER habe das Stimmvolumen gemeint! Dann lachte sie mit
ihrem ganzen geschulten Volumen los, daß man eine Zeitlang nichts mehr sagen
mußte, so anhörenswert war dieses Lachen. Niemand lachte mit. Gottlieb hatte das
Gefühl, daß er etwas sagen müßte. Kaltammer und seine Julienne gingen jetzt. Er
bugsierte sie hinaus. Zuletzt drehte er sich noch um, verneigte sich, lächelte allen
noch einmal zu, dann spielte er, wie er sich von jedem hier losreißen müsse: mit
einer südamerikanischen Heftigkeit drehte er sich auf einem Fuß, winkte über den
Kopf zurück, fort waren sie. Den Beifall muß er noch gehört haben. In der dann
übrigbleibenden Stille fragte Frau Reinhold, ob Gottlieb über den Maklerberuf auch
so denke wie Kaltammer. Gottlieb sagte, der Maklerberuf mache ihn glücklich, weil er
aus nichts bestehe als aus der Person, die ihn ausübe. Kaltammer habe diesen Beruf
immer schon gehaßt. Gottlieb Zürn erinnerte daran, daß Kaltammer im Jahr der
demokratischen Entzündung mit Konstanzer Studenten Flugblätter zur Abschaffung
des Maklerberufs verfaßt und verteilt habe. Das habe die SPD auch getan, sagte
Giselher gemütlich. Welche SPD, fragte Gottlieb so scharf als möglich zurück. Die
vom Parteitag 73, in Hannover, sagte Giselher. Eben, sagte Gottlieb, die gibt's doch
gar nicht mehr. Sie können doch nicht sagen, die SPD habe etwas gegen den
Maklerberuf. . . Gehabt, habe ich gesagt, brummelte Giselher. Mein Gott, gehabt
oder nicht gehabt, schrie Gottlieb mehr als er rief, habe aber nicht mehr, während der
Herr, der sich da gerade auf einem Fuß verabschiedet habe wie der
Pferdefußbesitzer persönlich, immer, immer noch diese Verachtung eines Berufes
predige, mit dem er Millionen verdiene. Die SPD dagegen, lieber Herr Soziologe, das
könnten Sie sich ruhig einmal hinter Ihre grünen Ohren schreiben, die SPD hat,
zusammen mit der dafür zu lobenden FDP, die Neuordnung des Maklerrechts
eingeleitet, um einer seit Jahrzehnten kasuistisch sich hinschleppenden
Rechtsfortbildung durch nicht immer erleuchtete Gerichte endlich ein Ende zu
machen. Das sogenannte stille Berufsverbot, das auf Hannover folgte, ist über-
wunden, während das kulturrevolutionäre Dandytum im reinseidenen Schöße einer
beifallklatschenden Bourgeoisie immer noch Triumphe feiert, flattiert von einer
bodenlosen, weil bodenverachtenden, sich gleichwohl grün dünkenden Soziologie.
Also er fühle sich jetzt zum Glück schon längst nicht mehr attackiert, sagte Giselher
schmunzelnd. Das liegt an Ihnen, schrie Gottlieb. Schade, daß der Herr, der sich
einen burgundischen Schloßmakler zu nennen beliebe, aber wahrscheinlich seinen
Millionenumsatz zu 95 Prozent als Veranstalter von Großbauten-Betonsilos mache,
die er dann zimmerchenweise an von ihm als Spießer verachtete deutsche und
Schweizer Bürger verkaufe, deren Dialekte ihm innerstes Ohrenweh bereiteten,
schadeschade, daß der hier seine Berufsschelte, seine zynische, ohne Widerspruch
habe abziehen dürfen! Gottlieb Zürn, selbst Makler, habe ja schlecht widersprechen
können, von einem inzwischen vielleicht zur Vernunft gekommenen Soziologen hätte
man es eher erwarten können...
Ende der Debatte, sang Frau Reinhold hoch hinaus. Obwohl, fuhr sie normal
sprechend fort, ich sogar weiß, daß ER Ihnen auch zustimmen würde. Sie haben
praktisch in SEINEM Namen gesprochen. Ist Ihnen das bewußt? ER hätte natürlich
nicht geschrieen, klar. ER schreit nicht. Lissi, entschuldige, sagte mit seiner leisen
Stimme Herr Dr. Reinhold, da ich nicht von Anfang an dabei war, sag mir nur schnell,
wer ist ER? Typisch mein Mann! rief Lissi Reinhold. Ich weiß genau, daß du schon
da warst, als heute abend zum ersten Mal von IHM gesprochen wurde. Heute wurde
nämlich erst unglaublich spät von IHM gesprochen. Trotzdem, sagte Dr. Reinhold,
wisse er immer noch nicht, wer ER sei, sie möge es ihrem dummen Mann verzeihen.
Das ist unverzeihlich, nicht sofort zu wissen, daß von IHM gesprochen wird, wenn
von IHM gesprochen wird. Herr Dr. Zürn nehme es ihr gewiß nicht übel, wenn sie
jetzt mitteile, daß sie Kaltammer erst eingeladen habe, nachdem ER abgesagt habe.
ER habe plötzlich nach Wien fliegen müssen. Zu einem Professor. Eine dringende
Untersuchung, die hoffentlich nichts Böses erbringe. Sie finde, es gebe zur Zeit
keinen, der die altmeisterliche Technik beherrsche wie ER. Die winterliche Uferpartie
bei Langenargen, fahl, ungewiß, und plötzlich diese nur ein bißchen zu große
Frauenbrust, fleischfarben und fest, am kalten Strand. Oder die urtümlich einge-
wachsene Argenmündung in schwerem Gewitterlicht, und genau im entscheidenden
Feld, wo das Wasser nicht mehr Argen und noch nicht See ist, taucht dieses nackte
Damenbein auf, schräg nach oben, aber nicht ganz gestreckt und mit Schuh, wieder
die schreiende menschliche Fleischfarbe in sonst reiner Natur. Oder das kleine
überirdisch leuchtende Himmel- und Wasserbild, in dem dann diese menschliche
Zunge den Ausschlag gibt, die so rot und graziös, und diesmal gar nicht schrecklich,
im Wasser schwimmt, als gehöre sie da hin und genösse es, als genösse sie
überhaupt alles. Aber am besten habe ihr das Malvenbild gefallen. Der Malvenstock
mit den drei hohen Stengeln. Die Blüten von hell rosa bis violett. Und aus der
obersten Blüte schaut ER selbst. Paul Schatz, flüsterte Gottlieb rasch zu Dr.
Reinhold hinüber.
Anna brachte zum letzten Mal etwas zum Essen. Nach dem Lachs mit Senfsauce,
von dem Jarl F. Kaltammer gesagt hatte, er sei fast so gut wie sein von ihm selbst
gebeizter Gravet Lachs, nach den in Parmaschinken gewickelten grünen Feigen und
den diversen Käsesorten gab es jetzt eine Mousse. Die schluckte man so langsam
als möglich und sprach noch ein wenig über SEINE Bilder. Plötzlich war Herr Dr.
Reinhold verschwunden. Er war noch leiser gegangen, als er gekommen war. Judith
dehnte und streckte sich und sagte: Giselher, bleibst du über Nacht? Dieses Sich-
strecken schreckte Gottlieb auf. Er sagte, er sei zwei Stunden länger geblieben, als
er vorgehabt habe. Wir auch, sagte Dr. Terbohm. Wird au wohr si, sagte Barbi und
stand schon und griff sich selber, ohne daß Gottlieb verstand, wozu, in ihren
Ausschnitt. Jetzt saß nur noch die Frau von Dr. Cornelius. Sie sagte, sie erlebe die
Zeitdifferenz diesmal ungeheuer stark. Frau Reinhold intonierte die Schlußweise.
Nett, daß man sich wieder einmal gesehen habe. Diesmal dürfe es aber nicht mehr
so lange dauern bis zum nächsten Mal. Sie seien auf jeden Fall da die nächste Zeit.
Wir telephonieren dann. Muß ja ein doller Abend gewesen sein, sagte Judith. Frau
Reinhold sagte, es sei unverantwortlich, daß Judith, die übermorgen zum ersten Mal
öffentlich auftrete, in Konstanz, mit dem Bodensee-Symphonie-Orchester, jetzt noch
auf sei. Immer diese Vorwände, hörte man noch von Judith. Das Auto ließ er im
Freien. Ohne ein Licht anzumachen, schlich er ins Haus. Sobald er lag, flüsterte
Anna: Du kommst spät. Sie fragte noch, wie es gewesen sei. Er sagte, Dr. Cornelius
und Frau seien zurück aus Amerika. Und, was sage jetzt Dr. Cornelius zum Verlauf
der Krankheit? Ach, sagte Gottlieb, der sei praktisch noch gar nicht ansprechbar
gewesen. Wegen der Zeitdifferenz. Ausrede, sagte sie und drehte sich um. Es war zu
warm im Zimmer. Schwül. Er schlich zur Balkontür, öffnete sie ganz. Als er wieder
lag, spürte er, daß er sich nicht entspannen konnte. Er lag, als sei er aus etwas total
Sprödem. Auf seiner linken Seite zog sich etwas immer mehr zusammen. Er konnte
nichts dagegen tun. Anna hätte ihn lösen können. Aber dazu müßte sie zugeben,
daß er da sei. Es war schon erbitternd, wie wenig sie ihn bemerkte. Er dachte, daß er
ununterbrochen etwas Geschlechtliches brauchen könnte. Es müßte nichts
Besonderes sein. Nur etwas, das der Tatsache entspräche, daß er das Zimmer mit
einer Frau teile. Diese Tatsache konnte doch, solang Anna im Zimmer war, keine
Sekunde lang außer Kraft gesetzt werden. Und was könnte nicht alles aus dieser
Tatsache folgen! Daß dieser Tatsache so selten und gewissermaßen nur
anfallsweise entsprochen wurde, verursachte jene Art Schmerz, die durch einen
Mangel entsteht. Sei vorsichtig jetzt! Du willst nur in eine Richtung denken, bis du
rücksichtslos genug bist, die arme Anna zu überfallen. Du willst dich in Stand setzen,
eheliche Gewalt zu gebrauchen, gib's zu. Die manus-Ehe Alt-Roms praktizieren,
was! Beim Hinausgehen hatte er Lissi berührt. In der Hüftgegend. Er war auf eine
Schnur gestoßen. Was trug sie an dieser auf bloßer Haut um die Hüften
geschlungenen Schnur? Warum hat sie Frau Dr. Leistle nicht erwähnt? Warum hat
sie so über Schatz gesprochen? Warum hat sie sich damit zuerst nur an ihn
gewendet? Hat sie ihn demütigen wollen? Weit weg hörte er ein Gewitter. Es
beruhigte ihn, daß sein verkrampftes Daliegen auch eine Wetterursache haben
konnte. Also mußte er nur warten, bis das Gewitter da sein und sich entladen würde,
Regen niedergehen würde, dann würde sich auch in ihm alles lösen. Wahrscheinlich
wird Frau Reinhold im Lauf des Tages anrufen, sich vielmals entschuldigen und ihm
dann die nötigen Tips für die Verhandlung mit Frau Dr. Leistle geben.
Er schlief ein. Träumte. Mit Paul Schatz ging er einen Bergweg hinauf. Links des
Wegs fiel die Wiese steil hinab, rechts hinauf ging ein Rain mit Haselbüschen.
Herbst. Sie stapften langsam aufwärts, als wolle jeder dem anderen den Weg leicht
machen. Aber der andere sollte nicht den Eindruck haben, man halte ihn nicht für
fähig, rüstiger auszuschreiten. Dieses friedliche Aufwärtsgehen beendete Gottlieb
Zürn dadurch, daß er plötzlich nicht mehr ging, sondern, ohne die Füße zu bewegen,
weiterrückte. Mit dicht geschlossenen Füßen ruckte, rutschte er bergauf. Durch
seinen bloßen Willen. Weil er Paul Schatz zum Staunen bringen wollte. Und als er
sah, daß Paul Schatz staunte, hielt er ein. Sich durch nichts als Konzentration so
vorwärtszurucken und dabei anstrengungslos lächelnd zu Schatz hinzuschauen, war
so anstrengend gewesen, daß er fürchtete, er werde gleich keine Luft mehr kriegen.
Ein paar Schritte gingen sie wieder langsam nebeneinander her, da hob Gottlieb mit
einem sanften Ruck ab und schwebte vor Paul Schatz her und hätte ihm gern die
Hand gereicht und ihn emporgezogen zu sich. Mit Paul Schatz zu schweben und zu
wissen, daß dieses gemeinsame Schweben ihm, Gottlieb Zürn, zu verdanken sei,
das wäre das Höchste gewesen. Aber zu der dieses Schweben ermöglichenden
Konzentration gehörte, daß er den Atem anhielt — das geringste Atmen würde sofort
zum Sturz führen — und zum Atemanhalten gehörte ein Andenkörperpressen der
Arme, also konnte er Paul Schatz die Hand nicht reichen. Als er sich nicht mehr in
der Luft halten konnte, gelang ihm gerade noch eine Landung neben Paul Schatz,
die aussah wie freiwillig.
Er erwachte und war starr vor Atemnot. Es dauerte, auch als er wach war, noch ein
paar Augenblicke, bis er wieder Atem zu holen vermochte. Er durfte zuerst nur ganz
wenig Luft holen. Einen tiefen Atemzug, das spürte er, hätte er noch gar nicht
ausgehalten. Das Gewitter war schon in der Nähe. Er sollte aufstehen, an die frische
Luft gehen. Aber wo war die? Die Luft, die er einatmete, blieb ohne Effekt. Dieses
nichts bewirkende Atmen machte ihn mutlos. Er mußte Frau Reinhold liebenswürdig
finden, erst dann konnte er auf Erleichterung hoffen. Aber sie wäre doch die erste,
die jeden einen Neurotiker nennen würde, der sich zwänge, jemanden lieben zu
wollen, in dessen Gegenwart jede Sekunde zur Schrecksekunde wird. Ihr Wesen ist
Übertreibung. Wen sie nicht mißhandeln kann, verehrt sie. Von denen, die sie
mißhandelt, erwartet sie Verehrung. Sie ist die vollkommene Laune. Am attraktivsten
sähe sie aus mit einer Mundharmonika, über die sie simpel spitzbübisch in die
Kamera blickt. Zu Anna dagegen würde nichts so wenig passen wie eine
Mundharmonika. Überhaupt, der Blick in die Kamera wäre bei Anna undenkbar. Anna
ist das Gegenteil des Menschen, der auftritt. Sobald überhaupt ein Mensch ins Haus
kommt, ist sie nicht mehr sie selbst. Solang die Ferienwohnungen belegt sind, meidet
sie das Klavier. Aber im Herbst, aber im Winter, da setzt sie sich hin, dann ist es, als
öffne sich mitten im Wald der Boden zu einer Kluft, und aus einer sonst nirgends
vorkommenden Tiefe ströme die Musik. Also manchmal ärgert es ihn schon, daß sie
so sehr Eise ähnelt, die auch sofort verschwindet, wenn Fremde kommen. Herr Dr.
Reinhold ist vielleicht ähnlich wie Anna. Er hat überhaupt nichts gesagt. Seine Frau
spricht immer über ihn weg, an ihm vorbei. Die Baronesse hat ihn wenigstens noch
gefragt, wie das Spiel gegen den Computer ausgegangen sei. Der Computer habe
gemeldet I lose. Ob Lissi ihm sagt, daß Gottlieb ihr beim Hinausgehen wie
unabsichtlich an die Hüfte gegriffen hat? Er hatte sich nicht beherrschen können.
Lieber sterb' ich, als daß ich da nicht hinlang', hatte er gedacht. Aber da war die
Hand schon dort. Und er hatte in Kauf genommen, daß sie auch noch die
Absichtlichkeit der Berührung spüre. Sie hatte ihn nicht auf die Hand geschlagen.
Obwohl er auf ihrer Haut auf diesen interessanten zarten Strick gestoßen war, hatte
er die Hand gleich wieder weggebracht. Ob es Dr. Reinhold recht war, wenn man ein
bißchen nach seiner Frau griff? Was man alles nicht weiß! Vielleicht hatte sie auch
geglaubt, es sei Giselhers Hand. Natürlich! Er hatte nach ihr gegriffen, um ihr die
Illusion der Unwiderstehlichkeit zu vermitteln. Sie mußte ihm helfen, den wichtigsten,
schönsten Auftrag seines Lebens zu bekommen. Kein anderer Makler hatte soviel
Anrecht auf diesen Auftrag wie er. Er war kein Baulöwe, der Betonsilos baute! Er
hatte keine Verwaltungsfirma für Miethäuser und Zweitwohnungen in Vaduz. Er hatte
zwei Ferienwohnungen im Haus und ein Einfamilienhäuschen in Immenstaad. Das
waren Notgroschen. Er war immer noch der reine Makler. Er produzierte nichts. Das
demütigte ihn und machte ihn stolz. Diese Herren Kaltammer, Schatz und Konsorten
mit ihren Firmen in Vaduz oder Zug! Die könnten doch alle längst von den Zinsen
leben. Aber sie machen immer weiter. Bauen bösartige Häuser und spielen den
feinen Max! Verboten gehört das! Nein, verboten gehört das überhaupt nicht. Sie
wollen eben Geld. Immer mehr Geld. Geld ist das beste gegen den Tod. Weil Zahlen
entscheidend sind. Weil die Zahlen, mit denen man die Zeit zählt, falsch konzipiert
sind. Man braucht Gegenzahlen. Zeit vergeht! Kwwaddsch! Sie akkumuliert. Mit jeder
Sekunde, die angeblich vergeht, gibt es eine Sekunde mehr in der Welt. Aber die
Empfindung, daß Zeit vergehe, hat sich durchgesetzt. Das Verlustdenken herrscht.
Darum braucht man Geld. Gewinn. Immer mehr. Das Geld ist das Positive. Vielleicht
weil es noch jünger ist. Als Anschauungsform. Es ist die universalste bis jetzt.
Anarchisten wie Kaltammer scheffeln Geld, sind märchenhaft geizig. Der tadellose
Großmensch Schatz läßt keiner Witwe auch nur einen Zehntelprozent nach. Und ist
berühmt für Kommunal-Sinn, Güte und so weiter. Wenn man soviel Geld verdient
hätte, daß es für zehn Lebenszeiten reichen würde, hätte man wahrscheinlich das
Gefühl, durch ein offenes Tor ins vollkommen Freie zu schauen. Geld, das hieße,
leben ohne Stoppuhr und Peitsche. Geld, das wäre das Gefühl von Unsterblichkeit.
Wenn er zehnmal soviel Geld hätte wie er voraussichtlich noch brauchte in seinem
Leben, dann hätte er unwillkürlich das Gefühl, sein Leben dehne sich in die Zukunft
aus. Kein Geld zu haben, schneidet ab. Und diese Überanstrengung, kein Geld zu
haben! Schon mit etwas Geld muß man sich nicht so anstrengen, ein guter Mensch
zu sein. Man kann sich gehen lassen. Es kann einem ja keiner was. Was hat er
wieder alles gequatscht bei Reiiv holds. Ein Satz schlimmer als der andere. Er hört
jeden Satz. Kaltammer hat nie etwas von selbst gesagt. Ihn muß man bitten, etwas
zu sagen. Er muß nicht imponieren. Jeder weiß, wie groß die Etage im Ritter-Haus
ist, auf der seine Büros liegen. Gottlieb hatte auch noch dahingeplaudert, Tochter
Julia müsse, um ihren Jeansreißverschluß zu schließen, auf dem Boden liegen, mit
einer Zange die Reißverschlußzunge fassen und so, auf dem Rücken liegend, die
Luft anhaltend, den Bauch einziehend, den Reißverschluß zuziehen. Dabei habe sie,
als man am letzten Sonntag in die Birnau wollte, dem Reißverschluß die Zunge
abgerissen, die Hose sei nicht mehr zu schließen gewesen, eine andere habe sie
nicht angezogen — es gebe ja immer nur eine, die wirklich fit sei —, also habe sich
ein Streit entzündet, der der Familie dann letzten Endes den Konzertbesuch versaut
habe. Deshalb, Frau Reinhold, haben wir Sie leider am Sonntag nicht hören können.
Wir waren nach einer halben Stunde so zerstritten, und zwar alle mit allen —, es ging
nichts mehr. Davon war nichts wahr. Er konnte nur hoffen, daß Judith es nicht in der
Schule weitererzählte. Julia würde vereisen vor Verletztheit, wenn sie von dieser
Verleumdung erführe. Aber er mußte so etwas erzählen. Er brauchte Geld, war
angewiesen auf Frau Reinhold, mußte sich also dafür entschuldigen, daß er am
letzten Sonntag gefehlt hatte, als sie in der Birnau sang. Jetzt leistete er Abbitte bei
Julia. Es wäre ja nicht schlimm, Julia, wenn du dich rücklings auf den Boden legen
und den Reißverschluß mit der Beißzange zuziehen und dabei die Reißverschluß-
zunge abreißen und dadurch einen Streit verursachen und den Konzertbesuch der
Familie verhindern würdest. Julia, vergib deinem Vater, der, wie du vielleicht schon
gemerkt hast, Schwierigkeiten hat, einer zu sein. Der gelbhaarige Millionärsanarchist
im olivgrünen Seidenanzug hat es nicht nötig, solche Klimmzüge zu machen.
Der scharfe Druck unter Gottliebs Brustbein schien jetzt zu sieden. Wo der linke Arm
auflag, schmerzte er. Ein einziger Schmerzbalken. Gottlieb legte ihn über den Kopf,
nach oben hinten. Dadurch wurde er leichter. Für ein paar Minuten. Inzwischen war
das Gewitter da. Über Haus und Garten. Es blitzte und gleichzeitig knallte der
schärfste Donner. Dann prasselte auch schon der Regen herab. Der Regen schlug
förmlich ein auf das Haus. Aber Gottlieb Zürns linke Seite entspannte sich immer
noch nicht. Draußen ging es auch noch weiter. Er hörte in der Ferne schon das
nächste Gewitter kommen. Wieder dauerte es, bis es da war, bis der Regen
herabprasselte. Fünfmal kam in dieser Nacht das Gewitter. Fünfmal konnte der
Regen. Gottlieb lag hellwach, zählte mit. Nicht, daß ihn die Klemme links beunruhigt
hätte. Die kannte er. Er empfand sie nicht als Krankheit. Eher als etwas
Persönliches, Bestimmendes. Je länger er sich mit dem Abend bei Reinholds
beschäftigte, je öfter er alle Sätze, seine eigenen und die der anderen, abhörte, desto
starrer wurde er. Er ersetzte die Sätze, die er gesagt hatte, durch andere. Er
verbesserte seine Sätze, konnte mit keiner Version zufrieden sein. Er hatte ja nicht
nur Giselher angeschrieen, sondern auch Lissi Reinhold. Sie hatte ihm Redeverbot
erteilen müssen, so hatte er gebrüllt! Und daß Kaltammer von Lissi jedes Wort, das
Gottlieb nach Kaltammers Weggang herausgebrüllt hatte, erfahren würde, war auch
sicher. Sie würde sogar die Lautstärke sängerisch parodistisch darstellen. Er konnte
den Abend um- und umstellen, zu retten war nichts mehr. Er wußte aus Erfahrung,
daß er noch mindestens zwei Wochen lang die Sätze dieses Abends — seine und
die der anderen — als Schmerz verspüren werde. Nach zwei Wochen verfliegt der
Abend allmählich und mit ihm der Schmerz. Aber noch schlimmer als das Gesagte ist
ja das Ungesagte! Daß man soviel verschweigen muß. Und das wird nicht nur ihm so
gehen. Er muß annehmen, daß die anderen sich genauso verstellt haben wie er.
Stell dir das vor. Die denken über dich mindestens so wie du über die denkst. Damit
hört sich doch alles auf. Alles. Es kann nicht sein. Es ist unmöglich, daß die über ihn
denken, wie er über sie. Das wäre nicht auszuhalten. Von der Illusion, daß die
anderen über dich nicht denken, wie du über sie, lebt der menschliche Umgang. Aber
er denkt doch gar nichts Schlimmes über die anderen! Was er da über Kaltammer
herausgebrüllt hat, könnte er jederzeit durch das Gegenteil ersetzen. Könnte er?
Jetzt schon. Nachdem er gesagt hat, was er gesagt hat. Aber vorher mußt du das
sagen können. Auf die Frage, ob du den Maklerberuf auch so schlimm findest wie
Kaltammer, MUSST du lächelnd, wie Dr. Enderle in prekären Situationen pflegte,
zurückfragen: Künnt ihr misch nit wat Leischte-ret frajen. Dann lachen alle und die
Unterhaltung geht zum Thema Robbenfang, Walfang, rigorose Sowjets, unheimliche
Japaner, Dias ... So einfach wäre das, wenn . . . wenn . . . Am liebsten wäre er jetzt
aufgestanden, wenn er nicht hätte fürchten müssen, Anna zu wecken. Offenbar will
dieser Herr Schatz den winzigen Rest der Menschheit, der noch nicht bereit war, vor
ihm, dem Schönsten, Stärksten, Größten, Männlichsten, Vernünftigsten bewundernd
in die Knie zu gehen, jetzt durch eine an das Gewölbe der Öffentlichkeit projizierte
Krebskrankheit bezwingen: er ist also nicht nur der Gesündeste, sondern auch noch
der Kränkste! Gottlieb fühlte sich zu der Meinung ermächtigt, Paul Schatz sei ihm im
Leben so sehr in allem vorangegangen, daß diese Rangordnung auch dem Tod
gegenüber beibehalten werden dürfe. Es gelingt dir überhaupt nicht, das Bedauern
überwiegen zu lassen, dachte Gottlieb. Ihm fiel seine derzeitige Lieblingsmusik, die
Eroica, ein. Einer stirbt vor dir. Glück und Schauder. Erfüllte er nicht, wenn er über
Schatz per Tod triumphierte, das Gesetz? War er jetzt nicht fast ein Profi? Nein, eben
nicht. Kaltammer war, als er sagte, er hoffe nur, daß Schatz heil aus Wien
zurückkomme, wirklich bewegt. Das sind eben Menschen. Wie falsch wieder, wie
lächerlich voreingenommen, tendenziös, übelnehmerisch, bösartig war vorher deine
Überlegung, Reiche könnten sich mehr leisten, müßten sich nicht so anstrengen,
menschlich zu sein u.s.w. Siehe Kaltammer! Der nimmt teil. Der IST ein Mensch. Du
noch nicht. Noch lange nicht. . .
Aber sosehr er sich zu kritisieren versuchte, er konnte nichts dagegen tun, daß er
sich jetzt wohler fühlte. Richtig wohl fühlte er sich. Vielleicht auch, weil jetzt kein
Gewitter mehr in der Luft war und das Morgenlicht hereindrang und ein nuschelnder
Regen alles verwischte.

3.
Den Schildern folgend, fanden sie das Krankenhaus. Eine Betonburg, wie von einem
anderen Stern in diesen Wald gefallen. Manches war, wahrscheinlich dem Wald
zuliebe, grün gestrichen. Der Arzt rauchte, solange sie bei ihm waren, als werde er in
einer halben Stunde hingerichtet. Das wirkte entspannend auf Gottlieb Zürn. Er hatte
das Gefühl, mit dem Arzt auf einer Stufe zu stehen. Regina hatten sie vorher in der
Kinderabteilung, in der die Betonwände von Kindern bunt verziert worden waren,
abliefern müssen. Anna sollte erzählen. Sie berichtete. Der Ton war, weil er so an
sich hielt, sich spürbar dämpfte, alarmierend ernst. Eigentlich trommelte Anna. Leise
und inständig. Also wenn er der Arzt gewesen wäre, er wäre sofort hinuntergerannt in
die Kinderstation und hätte sich dieses Kindes angenommen. In der Nacht vom 13.
auf 14. Juni, kolikartige Bauchschmerzen. Am nächsten Morgen, Blutschleim im Urin.
Ein paar Tage später, heftige Blasenschmerzen. Am 20. Juni, Besuch beim
Nierenfacharzt Dr. Sixt. Röntgenaufnahmen. Es zeigen sich zwei winzige weiße
Fleckchen in der Blase. Am 21., Blasenspiegelung unter Vollnarkose. Der Arzt hatte
Fremdkörper vermutet. Außer einer Blasenentzündung kein Befund. Verordnung von
50 Stück Eusaprim. Am 20. Juli, erneute Vorstellung bei Dr. Sixt. Der Urin ist noch
nicht in Ordnung. Dr. Sixt: Wir wollen doch heilen, nicht nur bessern. Weitere 50
Eusaprim verordnet. Am 22. Juli, auf dem Rücken, ein fünfmarkstückgroßer
roterhabener Fleck. Juckreiz. Wird mit Heilerde behandelt. Wird größer. In der Nacht
nach dem 3. Tag der erneuten Eusaprimbehandlung, Erbrechen, Kopfschmerzen.
Am 24. Juli, 39 Fieber, weiteres Erbrechen. Der Kinderarzt Dr. Cornelius
diagnostiziert Darmgrippe, verordnet Perenterol. Die Frage, ob der inzwischen noch
größer gewordene Fleck eine Folge der Eusaprimbe-handlung sein könne, verneint
er. Der Fleck sei Folge eines Insektenstichs. Ab 28. 7., kein Fieber mehr. Der
Juckreiz jetzt rings um die Taille, allgemeine Berührungsempfindlichkeit der Haut. In
der Nacht vom 10. zum 11. August, diffuse Schmerzanfälle. Dr. Cornelius spricht von
einer Nervenentzündung, verordnet Baycillin und Neurobion. Der noch größer
gewordene Fleck wird innen blaß, am Rand aber feuerrot. In der Nacht vom 11. zum
12. August, wieder Schmerzanfälle. Dr. Cornelius überweist, weil er in Urlaub fährt,
den Fall an Dr. Freisieben. In den Tagen nach dem 12., deutliche Besserung. Die
Berührungsempfindlichkeit der Haut bleibt. Am 24. August abends, Kopfschmerzen.
Der Kinderarzt Dr. Freisieben überweist wegen der roten Qua-seln an den
Hautfacharzt Dr. Landwehr. Am 25. August besieht sich Dr. Landwehr den roten
Fleck und spricht von einem Zeckenbiß. Zeigt in einem Buch das Bild eines roten
Flecks, der dem Fleck auf dem Rücken der Tochter sehr ähnlich ist. Dr. Landwehr
hält eine Hirnhautirritation für möglich. Überweisung an den Nervenarzt Dr.
Niebergall. Der prüft am 28. August die Reflexe, findet alles normal. Am gleichen Tag
macht Dr. Freisieben ein Blutbild. Kein Befund. Die Schmerzen nehmen zu. Dr.
Niebergall verordnet Gelonida. Dr. Cornelius, vom Urlaub zurück, kann oder will sich
nicht mehr einschalten. Am 29. 8. fängt das Kind wieder an zu erbrechen wie in der
ersten Juniwoche. Am 30. gelingt es, den Nierenfacharzt Dr. Sixt noch einmal
einzuschalten. Dr. Freisieben, der betont, nur in Vertretung von Dr. Cornelius zu
handeln, verschreibt Peremesin und Cibalen. Am 31. macht Dr. Finkbeiner, der
Nervenarzt, den Dr. Freisieben vorgeschlagen hat, das EEG. Kein Befund. Dr. Freis-
ieben und Dr. Sixt beschließen die Überweisung in das Krankenhaus. Im Augenblick
ist das Kind zwar elend, hat aber keine Schmerzen mehr, auch das Erbrechen hat
aufgehört.
Der Arzt hatte sich Notizen gemacht. Er stellte nur eine Frage, und die, nach
Gottliebs Eindruck, auch nur, weil er in Annas Sprachgebrauch das Wort Quaseln
durch Quaddeln ersetzen wollte. Ob die roten Quaddeln noch sichtbar seien? Nein,
sagte Anna, die seien seit dem Morgen des 27. August verschwunden. Gottlieb
glaubte nicht, daß Anna das Angebot, Quaddeln statt Quaseln zu sagen, überhaupt
wahrgenommen hatte. Sie war ganz bei der Sache, auch bedeuteten ihr Töne mehr
als Worte.
Sie gingen noch einmal hinunter, versuchten bei den Schwestern nachhaltiges
Wohlwollen zu erwirken und die zwei anderen Kinder, eine fast schon genesene
Griechin und eine schwer verunglückte Ailingerin, für Regina einzunehmen. Die
Griechin Theano, deren Vater, als sie eintraten, gerade ging, wollte sie gleich wieder
vertreiben. Regina begriff zuerst, warum. Da ihr Vater nicht mehr da sei, wolle sie
nicht, daß von Regina gleich Vater und Mutter da seien, insbesondere weil Regina
selber ja noch keine Stunde da sei. Los, los, rief sie und stampfte in ihrem Bett,
gehen! Regina bat ihre Eltern zu gehen. Sie sahen ein, daß sie Regina am meisten
nützten, wenn sie sofort gingen. Auf der Bundesstraße bog Gottlieb nicht nach
Westen, sondern nach Osten ein. Er wollte mit Anna nach Mitten, ins
Schwanenhaus. Weißt du noch, am Hochzeitstag, als wir für eine Stunde aus der
Verwandtschaft ausscherten und auf Eberhärdles Einladung Kaffee tranken im
Wintergarten, scharf beobachtet von der Dame Bansin? Als wir aufatmend
zurückkehrten in den Duft der Verwandten, erzählten wir, daß die gnädige Frau die
ganze Kaffeezeit über nur Fragen gestellt habe, um herauszubringen, ob ihr
Eberhärdle in der Entwicklung hinter Gottlieb zurück sei. Offenbar hatte es sie
alarmiert, daß ein ehemaliger Klassenkamerad des Sohnes heiratete, während der
immer noch am liebsten allein herumexperimentierte.
Ihm wurde jedesmal schummrig, wenn er in den Schatten der hohen Bäume
eintauchte. Was am See unter solchen Bäumen auf grünen Polstern für Häuser
standen! Wieviel Toskana! Und was für Steinbaukastenhäuser! Und die Bäume
hatten die Bauherrn mitgebracht von dort, wo sie ihr Geld gemacht hatten, von
Sumatra, Kenia, Canada, Georgien. Er parkte das Auto weit vom Tor. Man kann nie
wissen. Die Fußgängerpforte war offen. Hoffentlich war Dionys da. Am Telephon
hatte sich niemand gemeldet. Dionys' Frau ging nicht ans Telephon, das wußte
Gottlieb. Und Lydia, die Tochter, war in Vancouver. Beim letzten Besuch hatte Dio-
nys gesagt, Lydia werde ihre Mutter hinüberkommen lassen. Vancouver! Im letzten
Winter, Schnee bis zu den Fenstern des ersten Stocks. Zum Glück wohne Lydia im
zweiten. Gottlieb kannte Dionys Dummler seit eh und je. Den größten Teil seines
Lebens war Dionys Küfer in einer Mittener Weinhandlung gewesen. Und hatte diese
schöne, blasse, hochdeutsch sprechende Frau und die genauso schöne, genauso
hochdeutsch sprechende Tochter. Mutter und Tochter waren immer durch den Ort
gegangen, als sei das Wetter schlecht und sie seien fremd hier oder beleidigt. Dionys
war wegen eines Wirbelsäulenleidens, das er sich in den Kellern zugezogen hatte,
Hausmeister bei Bansins geworden. Er ging jetzt gebogen wie jemand, der seine
Fußspitzen mustert oder vor einem barbarischen Richter steht. Gottlieb wartete,
damit das Schwanenhaus wieder auf Anna wirken konnte. Der Giebel über dem
Portalvorbau mit seinen schwermütigen Kurven und der Nordostturm mit den von
Lianen-Reliefs umwucherten oberen Stockwerken kamen Gottlieb heute vor wie eine
Frau und ein Mann, die sich nebeneinander gestellt haben. Die Tür zum
Wirtschaftstrakt war offen. Sie gingen durch zur Halle. Ein riesiges Spinnweb hatte
sich zum Teil von der Decke gelöst und hing wie eine Schmutzgeisterfahne
meterlang über die Treppe, an der entlang die nackte Frau mit ihrem weißen Stab
den Schwan nach oben starten läßt. Als Anna von der dramatisch stillen Spinnweb-
fahne wieder geradeaus auf das Südfenster schaute, auf dem, von Bach Windungen,
Schilf und immer weißeren Schwänen getrennt, die zwei Nackten standen mit ihrer
direkt ansteckenden Sehnsüchtigkeit, las er Anna den im oberen Fensterhalbrund in
harmvollen Buchstaben umlaufenden Text vor, den er schon vor mehr als 20 Jahren
entziffert hatte, als Eberhard Bansin ihn zum ersten Mal mit ins Schwanenhaus
genommen hatte: nu bräht im aber sinfriunt der sivan/ eine kleine gefüege seitiez./
stns kleinoetes er da liez./ ein swert, ein hörn, ein vingerlin\ hin fuor Loherangrm.\ wel
wir dem maere reht tuon,\ so was er Parziväles suon.
Damals hatte sich herausgestellt, daß Eberhard selbst diesen Spruch noch nie
buchstabiert hatte. Eberhard interessierte sich nur für Chemie. Er machte in seinem
Souterrainlabor Versuche, die er an der Schule wiederholen mußte. Mehrere
Professoren diskutierten mit ihm vor den Schülern, die auf Eberhard stolz waren,
auch wenn sie von dem, was er mit seinen fahrigen Bewegungen dann an die Tafel
warf, nichts verstanden. Eberhard war das Genie. Als erster von allen hatte er das
Gesicht voller Pickel gehabt, und am längsten; auch jetzt noch, an der Ravensburger
Straßenecke, wo er den Wachtturm schwenkt und Leute, die seinem edlen Basset
etwas zuwerfen wollen, bittet, es nicht zu tun, da er dieses Tier für internationale
Ausstellungen konkurrenzfähig halten müsse.
Gottlieb hörte Dionys Dummlers Stimme. Aus dem Billard-Salon. Gottlieb schaute
hinein und sah, wie Dionys, von einem farbigen Schwan verfolgt, rückwärts zur Tür
her kam. Der wütende Schwan würde seinen harten Schnabel Dionys im nächsten
Augenblick in das der Körperkrümmung wegen unrettbare Gesicht schlagen. Es war
ein ausgewachsenes Tier, aber so hellbraun gefleckt wie die ganz jungen Schwäne,
die noch im Kielwasser oder gar auf dem Rücken ihrer Mutter schwimmen! Gottlieb
rief: Dionys, komm! Dio-nys griff hinter sich, Gottlieb reichte ihm die Hand, zog ihn
heraus, schloß die Tür gerade noch, bevor der fauchende, hochgereckte Wüterich
Dionys erreicht hatte. Jetz' luag no den dumme Siach a, sagte Dionys. Obwohl er
sicher seit 30 oder 40 Jahren in der Gegend lebte, hörte man noch, daß er
ursprünglich aus dem Bayerischen gekommen sein mußte. Ohne dich hätt' er mir
den Ohrring stibitzt, sagte Dionys und grinste. Den winzigen goldenen Ring sah man,
seit Dionys so gebeugt ging, deutlicher als früher. Jetzt müsse er auf seine alten
Tage hin noch Tierwärter spielen. Frau Leistle sei eben viel zu gutherzig. Dem
Tierschutzverein, der wegen eines Umbaus im Tierheim Raumprobleme habe, zu
erlauben, das Viechzeug hier unterzubringen! Und er hat das Gfrett! Dieser Baraber
da sei von seinen Alten vertrieben worden, weil er die braunen Flecken nicht verloren
habe, obwohl er schon lang so groß sei, daß er hätte weiß werden müssen. Praktisch
sei das jetzt ein Erwachsener, der ein Kind geblieben sei. Das sei das Gefährlichste.
Jetzt sei der schon so bösartig, daß er mit niemandem mehr auskomme. Dionys
habe versucht, ihm ein Haubentaucherjunges, das auch eingeliefert worden sei, zur
Pflege zu geben, damit er was zu tun habe. Der hätte es sofort umgebracht, wenn
Dionys nicht mit einem Bengel dazwischen wäre. Auch mit kranken Enten, die sich
überhaupt nicht rühren, hat es Dionys probiert, der hat auf alles die gleiche Wut. So
ein Tier gehört erlöst, sagte Dionys.
Gottlieb Zürn wollte Anna vorstellen, aber Dionys duldete das nicht. Als ob er Anna
nicht kennen täte! Gottlieb solle sich einmal an den Kopf greifen. Lydia sei doch auch
zum Professor Eisele in die Klavierstunde gegangen, genau wie Anna, wenn's auch
bei Lydia ganz gegen die Natur gegangen sei, das Klavierspielen, nur ein Zwang,
von der Mutter her, die eben alles, was sie für vornehm gehalten habe, an dem Kind
hatte ausprobieren müssen, bis es dem zuviel geworden sei, und jetzt sei Lydia in
Vancouver. Aber sie lasse ihre Mutter nachkommen. Da kenne sie nix. Und die fahre.
Übermorgen. Den Hund lasse sie da. Lydia habe geschrieben, die Mutti, ja, aber
nicht der Hund. Von ihm, dem Vater, hab' sie nix geschrieben. Aber er war' auch
nicht gefahren. Nicht für viel Geld ginge er nach Vancouver. Er komme schon durch
hier. Nur Bubi mache ihm Sorgen. Mit Hunden habe er's nie können. Heute nacht sei
der schon wieder fort. Und noch nicht da. Anna fragte, was es für einer sei. Ein
Spaniel, sagte Dionys. Ja, die sind so, sagte Anna, wir haben auch einen gehabt.
Weißt du noch, Gottlieb, in der Nacht, nachdem der Präsident Kennedy ermordet
worden ist, ist Flori zum ersten Mal fort und dann immer wieder. Gottlieb wunderte
sich wieder über Annas Gedächtnis. Das war eigentlich kein Gedächtnis mehr,
sondern die vollkommene Unfähigkeit, etwas zu vergessen. Er drückte Dionys die
Plastiktasche mit den zwei Flaschen in die Hand. Also, Gottlieb, rief Dionys, Gottlieb,
Gottlieb, was machst jetzt auch du wieder! Das war' doch nicht nötig gewesen! Was
Anna dazu sage! Aber so sei eben der Gottlieb! Immer schon. Er wisse noch gut, wie
der Gottlieb als kleiner Spunt, ihm, als er noch beim Zanolari geküfert habe, für 5
Pfennig jedes Faß putzte. Und wie! Picobello! So sauber wie nicht so schnell ein
anderer. Die größten Fässer. Für 5 Pfennig, Anna! Und heut ist er ein Doktor und
verdient, was er will. Recht hat er! Dumm war' er, wenn er's nicht tat. Dionys hängte
die Tasche mit den Flaschen an die Türklinke, horchte schnell und sagte: Da los'
bloß, sobald der Kerle alloa ischt, ischt er brav. Dann holte er aus einer Tasche
seines blauen Kittels eine Bierflasche, öffnete sie und trank sie unter schrecklichen
Verdrehungen, ohne abzusetzen aus. Weil es mühsam war, sich so zu verdrehen,
daß er trinken konnte, trank er, wenn er sich einmal in diese Lage gebracht hatte,
offenbar soviel, als jeweils zu kriegen war.
Gottlieb fragte, ob es etwas Neues gebe. Am Dienstag, die Versteigerung, sagte
Dionys. Im Blauen Salon. Den Schlüssel habe das Gericht. Am Mittwoch komme
Frau Dr. Leistle persönlich. Gottlieb sagte, am liebsten wäre er um die Wege, wenn
Frau Dr. Leistle komme. Er besuche sie ja morgen in Stuttgart, mache alles ab. Ob
sie denn mit jemandem verabredet sei hier? Ja, mit einem Herrn Schatz, habe die
Sekretärin der Frau Doktor gesagt.
Mit einem Herrn Schatz, rief Gottlieb. Das sei insofern lustig, als er doch morgen den
Auftrag abhole in Stuttgart. Und Schatz sei ein Kollege bzw. Konkurrent. Was will sie
denn mit dem noch, sagte Gottlieb. Überhaupt sei der doch krank! Der sei doch in
Wien!
Er drehte sich um und herum. Am liebsten hätte er geweint. Hei-jei-jei, sagte er. Und
noch einmal: Hei-jei-jei. Und zu Anna: Also kommt es drauf an, morgen. Mit Dionys
machte er ab, daß er in der Nähe sei, wenn Frau Dr. Leistle sich hier mit Schatz
treffe. Sicher sei sicher. Und Dionys habe sich, sobald der Auftrag Gottliebs sei,
sowieso ein 13. Monatsgehalt verdient. Da geb's keine Widerred'. Ob sie jetzt noch
schnell einen Gang durchs Haus machen dürften. So lang sie wollten. Nur nicht im
Parterre. Da sei alles voll Viecher. Igel auf Parkett! Mövsn auf Marmor! Er schüttelte
den Kopf. Er gehe ins Souterrain, Hasen füttern.
Gottlieb zog Anna an sich und ging, sie eng an sich pressend, als müsse sie ihm
gegen Schatz helfen, mit ihr die breite Treppe hinauf und durch die einzelnen Zimmer
mit den farbigen Wänden und den Decken voller Gipsgewächse. Laß nur, sagte er,
diesmal zeig ich dem, wo der Barthel den Most holt. Laß nur. Er zog sie in das
Zimmer mit dem Wandgemälde, auf dem die nackte Leda neben dem aufgerichteten
und zu ihr aufschauenden Schwan stand. Obwohl Leda den Schwan zu sich herzog,
schaute sie nicht hin zu dem, der sich an ihre linke Seite drängte, sondern nach
rechts hinunter auf den Boden, wo gerade zwei Eier zerbrochen waren, und
herauspurzelten vier Kinder. Die Geburt Helenas, sagte Gottlieb. Eigentlich wollte er
dazusagen, er habe das im Lexikon nachgeschlagen. Er stellte sich so nahe neben
Anna, daß er sie ein wenig berührte. Er wollte sie mobilisieren. Gegen Schatz. Für
sich. Die Sonne schien bis auf Ledas Füße und die vier Kinder. Das brachte das
kleine Wiesenstück, von dem Leda eine Blume gepflückt hatte, zum Leuchten. Einen
Schritt hinter der mächtig und leicht stehenden Leda zeigte der Schilfsaum Ufer an.
Wenn Anna den Augenblick empfand wie er, müßte sie die winzige Tuchfühlung um
ein bißchen verstärken. Dann könnte er ihre Nähe auch ein bißchen deutlicher
suchen. Dann wieder sie. Dann wieder er. Kein Möbel mehr im Raum. Aber am
Kachelofen noch eine Ofenbank. Anna, eine Ofenbank. Ohne daß Anna reagiert
hätte, tat er, als komme er ihr dadurch, daß er wie Leda auf dem Bild das Standbein
wechsle, unabsichtlich näher. Aber Anna reagierte nicht. Laß nur, sagte er und legte
den Arm um sie und zog sie an sich. Sie sagte, auf die uninteressanteste Stelle des
Bildes, auf die vier Ausgeschlüpften, hinweisend: Genauso viel wie bei uns.
Er ließ den Arm fallen. Daß sie ihn an sich zöge, wie Leda den an ihr
hochschmeichelnden Schwan, war, weil sie nur auf die Kinder schaute, nicht zu
erwarten. Leda schaut zwar auch nur auf die Kinder. Aber trotzdem zieht sie den
Schwan noch zu sich hin. Mit beiden Händen. Er drehte sich um, wußte nicht, wohin
mit dem Unmut, machte ein paar heftige Schritte, stand vor einer Schranktür und
mußte, um den Schritten nachträglich einen Sinn zu geben, die Tür öffnen. Er tat
also, als interessiere er sich dafür, wie dieser Einbauschrank ausgestattet sei. Zu
seiner Überraschung war in der Rückwand des Schrankes noch eine Tür. Das ist ja
wie in Reginas Narnia-Chronik, dachte er, öffnete und fand sich auf der untersten
Stufe einer kleinsten Wendeltreppe; er kletterte in ihr hinauf und war einen Stock
höher wieder in einem Wandschrank, stieß die Tür auf und war in dem Zimmer mit
der roten Tapete, auf der immer zwischen sechs schräg ansteigenden
Ammonshörnern eine nackte, mit Edelsteinketten umschlungene Frau stand, deren
Kopf vor dem sechsten Ammonshorn immer so placiert war, daß die Steinwindungen
des Horns wie ein heidnischer Heiligenschein wirkten. Er hatte keine Lust mehr,
Anna dieses Zimmer zu zeigen. Als sie heimkamen, leuchtete ihnen von der Haustür
ein Anschlag entgegen. Julia sei mit Armin auf den Hundeübungsplatz gegangen.
Magdalena fanden sie auf dem Sofa liegend, reglos, zur Decke starrend. Auf der
Sofalehne, als sei sie ein Schmuckstück der Sofagestaltung, kauerte Else. Irgendwie
wirkte Magda, weil die Katze über ihr kauerte, bemitleidenswert. Auf den Eintritt ihrer
Eltern reagierte sie nicht. Daß sie nicht Violine spielte, wenn Julia nicht Klavier
spielte, war nichts Neues. Gottlieb hatte manchmal den Eindruck, Magda spiele nur,
um zu verhindern, daß Julia auf dem Klavier weiter sei als sie auf der Violine. Anna
setzte sich sofort zu Magda und fragte, was ihr fehle. Was soll mir denn fehlen, sagte
sie, ohne jeden Aufwand. Ob sie gegessen hätten. Sie schon, Julia nicht. Warum sie
jetzt so daliege. So halt. Wenn ihr nichts fehle, könne sie doch genausogut sitzen! Zu
was? fragte Magda. Anna schaute zu Gottlieb hin. Gottlieb sagte: Geh doch ein
bißchen an die frische Luft. Magda sagte: Zu was? Cui bono, dachte Gottlieb. Hatte
sie in letzter Zeit nicht öfter mit dieser Gegenfrage reagiert? Jetzt laß sie halt, sagte
Gottlieb in einem friedenstifterischen Ton. Aber Anna ertrug es nicht, daß Magda, zur
Decke starrend, liegen blieb. Vielleicht fehle ihr was. Magda reagierte nicht mehr.
Sonst habe sie nie eine Sekunde Zeit und jetzt liege sie so da, sagte Anna fast schon
verzweifelt. Magda, komm, jetzt
steh halt auf. Wasch dir die Haare. Zu was? sagte Magda. Weil du sie seit drei
Wochen nicht mehr gewaschen hast und heute Freitag ist. Magda reagierte nicht
mehr. Mein Gott, ich werde noch wahnsinnig in diesem Haus, rief Anna, stand auf
und ging in die Küche. Gottlieb rief, weniger tröstend als triumphierend, so schnell
werde man nicht wahnsinnig. Sie werde sich wundern, wie lange das daure, bis sie
wahnsinnig werde. Er ging in sein Büro hinüber, setzte sich in seinen Sessel, kippte
ihn und sah die Hundsrosen an, die durch das offene Fenster hereinhingen, daß es
aussah, als seien sie Giraffen und neugierig. Morgen wird Judith Reinhold ihr erstes
Konzert geben. Seine Kinder mußte man schieben wie Schubkarren; wenn er eine
Sekunde lang aussetzte, blieben sie an Ort und Stelle liegen. Die Kinder anderer
Leute zogen ungeheuer an. Die schleiften förmlich noch ihre Eltern mit. Vielleicht
erlebte er das nur so, weil er gehofft hatte . . . was hatte er gehofft? Wahrscheinlich
irgend etwas Märchenhaftes, Blödsinniges, Rettendes. Wahrscheinlich wollte er nur
noch im gekippten Sessel liegen und warten, bis die letzten Fremden abgereist sind,
und dann einen Winter lang Geld zählen. Er wollte nicht in dröhnenden Werkshallen
nach Luft schnappen. Die Kinder sollten auch nicht in solchen Hallen nach Luft
schnappen. Mehr wußte er nicht. Würde er nicht wissen. Wollte er nicht.
Bastabastabasta. Ihn regten diese Wespen auf. Die Wespen stürmen das Haus. He,
du, Verteidiger! Er sprang auf, erschlug die Wespen, warf sie hinaus. Jetzt war es
ruhig. Draußen bog Frau Constabler um die Ecke. Ihr Mann kam, solange die Familie
hier Ferien machte, übers Wochenende von Baustellen, wo man, wie er Anna
mitgeteilt hatte, sich nur brüllend verständigen konnte. Frau Constabler rief ganz
langsam: Isolde, isch geh mal eben einkaufen. Isolde rief herauf: Ja-a. Frau
Constabler rief noch langsamer: Aber ihr macht da kein Quatsch. Und Isolde rief
genauso: Ne-ee. Die wunderbare Harmonie der Familie Constabler aus Solingen.
Was für eine unerschütterliche Frau! Diese fabelhafte Langsamkeit! Und Isolde, für
sich und drei Geschwister antwortend, der vollkommene Widerhall! Was für ein
Nachmittag. Auf dem Stück See, das die Eichenäste freigaben, fand die Handlung
statt. Leichtes Gewell, in das die Sonnenstrahlen schlagen. Und jeder Strahl, der ein-
schlägt, zersprit2t in Gefunkel. Und diese Funkelfontänen wandern, während
andauernd neue Strahlen neue Funkelfontänen erzeugen, mit den leichten Wellen
vor leichtem Wind nach Nordost. Ist das etwa kein leidenschaftlicher Tag? Magda!
Man müßte in Eichenkronen klettern, dort eine Hütte bauen, vom Rauschen
umgeben. Oder im Licht stehen wie Leda, die Hände beim Schwan, den Blick auf
den Kindern. Aber doch nicht diese ausgestreckte Totenstarre auf einem kalten Sofa!
Oder hatte sie recht? Er sollte sich längst hüten. Daß Lissi Reinhold nicht anrief,
bewies ihm, wie wenig er sich gestern abend gehütet hatte. Sein Tonband hatte nicht
einen einzigen Anruf registriert. Sollte er sie anrufen? Sie wollten mir doch einen Tip
geben, gnädige Frau, betreffend Frau Dr. Leistle, die Präsidenten-Villa, um 18.19
geht nämlich mein Zug, ich bin morgen auf neun bestellt . . .
Aber wenn sie nicht anrief, konnte er auch nicht anrufen. Wieder mußte er die Sätze
des Abends und der Nacht durchnehmen und durch bessere ersetzen. Das mit den
zwei Wagner-Sängerinnen war wahrscheinlich der schlimmste Fehler gewesen.
Reiner Rohrkrepierer. Wie sie gelacht hatte. Sie konnte auf die Idee gekommen sein,
er habe den Satz zitiert, weil er ihn für eine Beleidigung halte. Wenn er aber glaubte,
mit diesem Satz Paul Schatz denunzieren zu können, mußte er selber der Ansicht
sein, der Satz beziehe sich auf das Körper-, nicht auf das Stimmvolumen. Und damit
war er der Beleidiger! Er hatte den Satz gesagt. Vor Zeugen. Diesen Satz hätte es
nicht gegeben, würde es nicht geben, wenn er nicht ausgesprochen worden wäre.
Und er hatte ihn ausgesprochen. Und das furchtbare Lachen, in das Lissi hatte
ausbrechen müssen, hatte ihm bewiesen, wie schlimm dieser Satz für sie war. Und
er dachte noch an einen Tip! An Protektion! Wahrscheinlich hatte sie, anstatt ihn
anzurufen, nach Stuttgart telephoniert und gesagt: Hortense, diesen Dr. Zürn kannst
du vergessen. Der einzige, der diesen Auftrag verdient, ist ER, gib ihn IHM, wenn
ER, was Gott gebe, heil aus Wien zurückkommt.
Zum Glück werden reiche Leute, wenn es um ein Geschäft geht, sehr sachlich. Das
war seine Chance. Sollte Frau Dr. Leistle doch prüfen, wer für dieses Haus der
bessere Makler war. Armin winselte draußen. Er ließ ihn ein. Der ging sofort in die
Knie, legte sich so flach als möglich hin. Das tat er, wenn er Angst hatte.
Wahrscheinlich war er Julia auf dem Übungsplatz davongelaufen und hatte jetzt
Angst vor Vergeltung. Genau wie ich, dachte Gottlieb. Du hast mich, aber wen habe
ich, dachte Gottlieb. Diesen Satz hatte einmal Ludwig zu ihm gesagt, den er auch
nicht mehr hatte. Der war im Bankgewerbe so aufgestiegen, daß er Gottlieb
notwendigerweise hatte aus den Augen verlieren müssen. Gottlieb beruhigte Armin,
versprach ihm Hilfe gegen Julias Zorn und nahm ihn mit auf die Terrasse, wo Anna
das Essen gerichtet hatte. Else kauerte immer noch über Magdas Kopf. Als sie beim
Kaffee waren, traf Julia ein, erhitzt und fast weinend vor Wut und Enttäuschung, weil
ihr Armin schon auf dem Weg zum Übungsplatz einfach davongerannt war. Nur weil
ein Leichtmotorrad, das vorbeifuhr, eine Fehlzündung gehabt hatte. Und sie hatte
den ganzen Sommer geübt, Armin schußfest zu machen! So ein blöder, dummer,
feiger, unmöglicher Hund! Das wird überhaupt nie ein Hund, rief sie. Armin legte sich
immer noch flacher. Nur die Augen drehte er herauf. Ein elender Blick. Gottlieb
versuchte zu vermitteln. Armin habe nun einmal eine schwere Kindheit gehabt.
Abgeliefert im Asyl, monatelang hinter Gittern. Wahrscheinlich hat er etwas mit einem
Knall erlebt, womit er nicht fertig wird. Kwwaddsch, sagte Julia. Sie verlange, daß er
endlich mit seiner Kindheit fertig werde. Andauernd blamiere sie sich mit diesem
infantilen Viech! Gottlieb sagte seinen Standardsatz: Dafür ist er der schönste Hund
der Welt. Julia legte sich zürnend neben Armin, ließ sich aber allmählich die
Wiedergutmachungszärtlichkeiten, die der schöne Infantile anbot, gefallen. Ein
seliges Paar. Anna dagegen wollte wissen, wie es weitergehe, mit Magda. Da die Tür
offen war, konnte Magda hören, was über sie gesprochen wurde. Wenn sie
überhaupt auf Hören eingestellt war. Zu ihr habe sie gesagt, sagte Julia, sie gehe
nicht länger in die Schule. Und warum nicht, fragte Anna. Frag sie doch, sagte Julia.
Weiß sie, was sie machen will, fragte Gottlieb. Ja, Steuerhelferin oder
Anwaltsgehilfin, sagte Julia. Gottlieb rief hinein: Stimmt das? Keine Antwort. Ob das
stimme, fragte er noch einmal. Anna sagte, wenn Magda vor dem Abitur aus der
Schule herauswolle, müsse man doch wenigstens sprechen darüber. Von drinnen
kam ein interesseloses Zu-was. Gottlieb sprang auf. Und weil er aufgesprungen war,
mußte er lauter sprechen, als es nötig gewesen wäre. Und weil er jetzt schon brüllte,
hatte er das Gefühl, er müsse noch lauter brüllen, er könne gar nicht so laut brüllen,
wie er brüllen müßte, um von dieser tollohrigen Tochter gehört zu werden. So könne
sie, brüllte er, behandeln, wen sie wolle, ihn nicht. Wenigstens hätte sie sagen
müssen, was man ihr getan habe, bevor sie sich benehme, wie sie sich benehme.
Warum, bitte, warum! Aber inzwischen verzichte er sogar auf ihre Gründe. Und zwar
- daß sie das, bitte, zur Kenntnis nehme! — ein für alle Mal. Schluß-Schluß-Schluß!
Es gebe ja, außer Kindern, noch ein paar andere Beanspruchungen in der Welt. Er
sei auch nicht zu seinem Vergnügen auf der Welt. Dummerweise habe er immer
gedacht, in einer Familie, ja er sei so hochmütig gewesen zu meinen, in seiner
Familie gehe es nicht zu wie in der sogenannten Wirklichkeit. Irrtum seinerseits! Es
sei offenbar hier genauso wie überall. Jeder gehe so weit, als er glaube, gehen zu
können. Jeder leiste sich alles. Gut. In Ordnung. Führen wir das Realitätsprinzip ein
in diese Familie. Magda dürfe sich das Verdienst zuschreiben, das geschafft zu
haben. Was das aber für sie selber bedeute, das werde sie noch sehen.
Er war im Zimmer vor Magda auf- und abgegangen, immer rascher, bis er soviel
Schwung hatte, daß es zur Bürotür reichte und hinein. Die Tür schlug er zu, dann
saß er in seinem Sessel und bebte und zitterte. Vor Schwäche. Am Vormittag, als der
Arzt bei ihrem Eintritt schon rauchte, hatte er befriedigt notiert: Der Schwächere
raucht. Jetzt notierte er: Der Schwächere schreit. Durch das offene Fenster hörte er,
wie Julia Armin verständlich zu machen versuchte, daß nicht er angeschrieen worden
sei. Wenn wenigstens Frau Reinhold anrufen würde. Sie hatte doch vorgestern extra
angerufen, um ihm einen Tip zu geben. Dann hatte sie sich animiert gefühlt, ihn
einzuladen. Dann kommt sie den ganzen Abend nicht dazu, das zu tun, um
dessentwil-len sie ihn eingeladen hat. Also mußte sie jetzt doch jeden Augenblick
anrufen und sagen: Entschuldigen Sie, bitte, daß ich . . . Mußte sie? Sie mußte
überhaupt nicht. Ihr Mann machte mit einer Firma, die ihm wahrscheinlich zu einem
Drittel gehörte, 100 Millionen Umsatz. Und das mit nicht mehr als zweihundert
Beschäftigten. Zuerst hatte die Firma Shulmann und Frost geheißen, jetzt hieß sie
Reinhold-Werk. Und wenn man jemanden, der dort arbeitete, fragte, was er mache
oder was man überhaupt dort mache, erfuhr man nur, daß man nichts erfahren dürfe.
Die Amerikaner, hieß es, die NASA! Um sich nicht vorzukommen wie ein russischer
Spion, fragte man nicht weiter. Nein, Frau Reinhold hatte es nicht nötig, ihn
anzurufen. Er hatte es nötig, vor dem Telephon zu sitzen wie die Katze vor dem
Mausloch. Und das tat er. Als es Zeit war, sein Zeug zusammenzupacken und sich
von Anna zum Bahnhof fahren zu lassen, war kein Anruf gekommen. Dann also ohne
Tip und Protektion. Er bat Anna, als er ausstieg, sie möge versuchen, mit Magda zu
sprechen. Auch solle sie Regina grüßen. Und Rosa, die heute noch eintreffen wollte.
Er ging rasch von Anna weg, weil er fürchtete, es werde sie deprimieren, wenn sie
sehe, wie schwach er war im Augenblick der Abreise. Und es ging ins Feld. Er rückte
aus. Morgen die Schlacht. Da er doch wohl als eine Art Sieger über Kaltammer und
Konsorten zurückkehren wird, ist es besser, den Blickwechsel auf die Sekunde der
Ankunft zu verschieben. Als er auf das Bahnhofsgebäude zuging, fühlte er sich mit
jedem Schritt wohler, freier, stärker. Wer glaubte, ihn schon für erledigt halten zu
können, hatte sich getäuscht. Bis er bei den Stufen zur Bahnhofstreppe war, hatte er
das Gefühl, er federe bei jedem Schritt vor Unternehmungslust. Bleib du liegen,
Magda, ich komm' zurück und richte dich auf. Morgen nachmittag. Magda hatte mit
keinem Mucks zu erkennen gegeben, ob sie überhaupt bemerkt habe, daß er, als er
sein Büro verließ, an ihr vorbeiging. Sie starrte zur Decke. Er durfte sich davon nicht
beeindrucken lassen. Einmal hingeschaut und sofort wieder weg. Es war furchtbar,
wie sie da lag. Unvorstellbar, was sie dachte, Sekunde um Sekunde, nichts im Blick
als die musterlos weiße Decke. Er hätte gern beobachtet, ob ihre Lider sich noch
bewegten, aber er konnte nicht so lange hinschauen. Morgen, Magda. Verschieb,
bitte, alles bis morgen. Wenn er zurückkommt. Dann.
Ein Blick auf die Uhr. Er hatte Zeit. Es gab keinen Termin, zu dem er nicht viel zu früh
kam. Er war noch nie in seinem Leben zu irgend etwas zu spät gekommen. Das war
unvorstellbar. Solche Behauptungen, das spürte er auch gleich, waren für ihn
typisch. Immer stürmte etwas auf, was er gleich wieder dämmen, zurücknehmen,
widerrufen mußte. Wie sollte man da zu etwas kommen. Etwas sein. Am Schalter
löste eine alte Frau für ihren stumm neben ihr stehenden Mann eine Karte, von der
der junge Beamte, bevor er sie aushändigte, mit einer riesigen Schere ein Drittel
abschnitt. Gottlieb dachte: Wir sind eine eher rohe Gesellschaft. Er fuhr erster
Klasse. Er kam sich in der ersten Klasse immer noch fremd vor, aber seine
Kundschaft fuhr erster Klasse und hätte jedes Zutrauen zu ihm verloren, wenn sie
ihn, im Vorbeigehen, in der zweiten Klasse gesehen hätte. Wenn ich Zahnarzt wäre,
würde ich zweiter Klasse fahren, dachte er. In Singen, beim Umsteigen, geriet er in
Scharen Elf- bis Dreizehnjähriger, Mädchen und Buben, die sich die Treppen
hinabgossen, drüben hinaufdrängten, den Zug überfluteten, ohne es zu wissen, ohne
daran zu denken, daß sie auf einem Bahnhof waren. Sie kamen von einem Ausflug.
Alle erregt. Alle sprachen, schrieen andauernd, gleichzeitig. Einer riß den anderen zu
sich hin. Ein gewaltiger, hoher, hämmernder Ton entstand, ein universaler Sopran
aus Hunderten von Kinderstimmen, ein nicht endenkönnender Höhepunkt. Gottlieb
ließ sich mitschwemmen. In diesem Schwärm bleiben, für immer, das war's. Aber er
mußte sich herausreißen aus dem seligen Geschrei und in einem Abteil Platz
nehmen, in dem zwei Herren sich über einen dritten unterhielten, der den
Anforderungen, die an ihn zu stellen waren, einfach nicht mehr entsprach. Offenbar
arbeitete dieser die Anforderungen nicht Erfüllende für einen der Herren in der
Schweiz. Dieser, der Chef also, sagte, als Gottlieb Zürn eintrat: Die Landschaft is ja
scheen, hab ich trocken jesaacht, aber keene Kunden. Beide lachten. Der Chef fuhr
fort: Ich mecht Ihnen 'n Trost geben, sach' ich, da dirfen Se nich gleich durchdrehen,
ich dreh ja auch nich' durch! Noch größeres Gelächter. Ich dreh ja auch nich' durch!
wiederholte er, um das Lachen noch einmal zu füttern. Gottlieb entfaltete die Zeitung
und hörte zu: Ich bin nicht umsonst 24 Jahre selbständig in der Branche. Ich bin jetzt
einfach soweit, ich geh' kaputt, ehrlich jesacht, ich geh' kaputt. . .
Die Luft in Stuttgart war eigentlich nicht mehr zu atmen. Er brachte seine Tasche ins
Unger, dann ging er weiter, nach Stadtplan, Richtung Parierstraße. Bergauf. Er fand
das Haus, ging aber auf dem gegenüberliegenden Trottoir rasch vorbei. Roter
Sandstein, Buckelquader, leicht wiederzufinden. Zu sehen ist wegen Mauer,
Bäumen, steil ansteigendem Grundstück sowieso nichts. Morgen, kurz vor neun, wird
er hier, wieder zu Fuß, eintreffen, läuten und dem Mädchen seine Karte geben. Es ist
überhaupt nicht gesagt, daß eine schwarze Karte mit Buchstaben in Goldprägung,
wie sie Kaltammer führt, ein Vorteil wäre. Eine Frau Dr. Hortense Leistle, wie auch
immer sie selbst daherkommt, hat nichts übrig für eine schwarze Karte mit Gold
drauf. Es gibt ein paar Dinge, auf die ist in Stuttgart Verlaß. Er wird beim ersten
Blickwechsel mit Frau Dr. Leistle feststellen, ob sie zwar schwarze Karten ablehne,
sonst aber ein fühlloser Seidendrachen sei. Vielleicht war sie eine patente Person,
ein Wort gäbe das andere, man könnte reden mit ihr, nach zwei Stunden wäre man
sich einig und tränke, nach dem strengen, aber wunderbaren Tee, noch ein Viertele
Hohenloher. Wieder drunten, trieb er sich noch in den Straßen zwischen Bahnhof
und Hotel herum, studierte die Schaufenster, verglich Preise, als sei er nur
hierhergekommen, um morgen groß einzukaufen. Sobald er lag, merkte er, daß die
Nacht ein Problem werden konnte. Hätte er doch eine Flasche Rotwein getrunken.
Geizhals. Morgen 60- bis 90 000 Mark verdienen wollen, und sich jetzt keine Flasche
Rotwein leisten. Geiz war es nicht. Er hatte einfach nicht getan, was er wollte. Das
kannte er. Oft bestellte er in Gasthäusern das Gericht, das er nicht wollte, genau
wissend, welches er eigentlich wollte. Er hätte dann gern gewußt, wer in ihm das
Wort führte oder wie da überhaupt entschieden wurde. Also kein Wein. Also
wachgeblieben. Lieber morgen übernächtigt aufs Schlachtfeld. Schlachtfeld. Daß die
nicht ein verlogeneres Wort eingeführt hatten.
Er rief Anna an. Ob Frau Reinhold etwas habe hören lassen. Nein. Mhm. Und
Regina? Kein Erbrechen mehr. Sie sei ganz ruhig gewesen, aber kleinlaut. Was das
heißen solle, kleinlaut. Anna gebrauchte öfter Wörter so, daß man meinen mußte, sie
habe das genauso willkürlich wie unwillkürlich getan. Nachfragen hatte keinen Sinn.
Rosa sei angekommen. Aber nicht allein. Er heiße Max. Ein Kameramann. Sie könne
noch nicht viel sagen. Magdalena sei, sobald die Stimme dieses Max an der Haustür
hörbar geworden sei - er spreche ziemlich laut und arg bairisch —, aufgesprungen
und dann um's Haus herum und, als Rosa und dieser Max auf der Terrasse gewesen
seien, in ihr Zimmer hinaufgeschlichen. Rosa gehe es nicht gut, das habe sie sofort
gesehen. Sie habe noch nicht sprechen können mit ihr. Falls Frau Reinhold noch
anrufe, solle Anna ihn bitte sofort benachrichtigen. Wie es ihm gehe? Ihm?! Wie es
ihm denn gehen solle?! Gut natürlich. Sehr gut. Er hat ein schönes Zimmer, ein
wunderbares Bett, also bitte. Dann lag er wieder. Er war ziemlich sicher, daß es der
Satz mit den zwei Wagner-Sängerinnen war, der ihm alles verdorben hatte. Herrn
Schatz hatte er das zu verdanken. Nein, sich. Er mußte wieder die Sätze, die auf der
Terrasse gesagt worden waren, vorbeiziehen lassen. Auch die, die er schon durch
bessere ersetzt hatte. Immer klarer schälte sich aus dem Wust des Abends sein
eigenes Bild heraus als das eines Eiferers, der anderen ins Wort fällt, dann gleich
doppelt so laut spricht wie die, die er unterbrochen hat, der dabei auch noch mit den
Händen zu oft und zu jäh durch die Luft fährt - er war der einzige, der ein Glas
umgestoßen hatte an diesem Abend —, der sichtbar schwitzt vor lauter Hektik. Und
dann hört dieser krawattenlose Choleriker, wenn ihn die Dame des Hauses nicht mit
aller Autorität unterbricht, nicht auf zu sprechen, bevor er nicht jeden in der Runde
oder wenigstens einen Freund eines jeden Gastes aufs Unsinnigste beleidigt hat.
Und diesem Menschen hatte Frau Reinhold einen Tip geben wollen! Er hätte sich ja
auch lieber anders aufgeführt. Er hatte sich doch nicht so aufgeführt, wie er sich gern
aufgeführt hätte. Es war mißglückt. Aber das konnte er keinem sagen. Wie er oft
genau das bestellte, was er nicht essen wollte, so führte er sich oft auf, wie er sich
nicht aufführen wollte. Wenn Frau Reinhold inzwischen Kaltammer erzählt hatte, wie
Dr. Zürn Jarl F. Kaltammer hasse und schmähe, hatte sie nicht die Wahrheit erzählt.
Er haßte weder Kaltammer noch Paul Schatz. Wenn er dem Gefühl nachgäbe, das
sich in ihm jedes Mal regte, wenn er Kaltammer oder Schatz persönlich begegnete,
müßte er sagen, jeder der beiden nehme ihn jedesmal für sich ein. Er fühlte sich von
denen jedesmal erobert. Hätte er das einmal zugeben sollen? Jetzt, in diesem
Augenblick sollte er auf Frau Reinholds Terrasse sitzen und sie sollte ihn über IHN
prüfen. Jetzt würde ihm jeder Satz gelingen. Frei und leicht könnte er sich jetzt in
eine am Anfang noch ein bißchen verlogene, aber mit jedem Satz wahrer werdende
Rede zum Ruhm seiner Konkurrenten hineinreden. Es gibt ein Glück des
Unterlegenen, von dem der Überlegene keine Ahnung haben kann. Das wäre sein
Thema. Und er und seine Zuhörer müßten den Eindruck haben, seit dem Augenblick,
in dem der Satz, man solle seine Feinde lieben, zum ersten Mal ausgesprochen
wurde, habe noch keiner eine so weitgehende Verwirklichung dieses Satzes erreicht
wie jetzt Gottlieb Zürn. Und der Glanz dieser Rede würde Schatz und Kaltammer
erreichen, sie blenden, daß sie zu ihm kämen und ihn ohne weiteres umarmten. Aber
es sollte nicht zu spät sein. Er hielt sie jetzt. Im dunklen Hotelzimmer. Wichtig war,
daß er spürte, er sei fähig, Paul Schatz zu bewundern. Und Kaltammer auch. Das tat
ihm schon gut. Löste ihn unendlich. Warum hatte er diese Bewunderungsrede nicht
schon längst geübt? Sie wurde doch überall verlangt. Auf Schritt und Tritt stieß man
auf Bewunderer Schatzens und Kaltammers. Ohne einen Beitrag zur Schatz-
Kaltammer-Bewunderung konnte man keinen Schritt vorwärtskommen. Und er be-
wunderte die doch wirklich. Also was soll's! Daß er andererseits die beiden gar nicht
bewunderte, nicht einmal beneidete, sondern beide in ihrer ganzen Gelungenheit aus
innerstem Hochmut verachtete, mußte er ja niemandem sagen. War es Hochmut?
Andere würden es so nennen, er nicht. Er verachtete die zwei Herren, weil sie sich
zu wenig schämten. Bitte, das war sein Gefühl von ihnen. Das mußte er für sich
behalten. Man würde das für Futterneid und Ressentiment halten. Aber hatte er nicht
immer, wenn er auf einen der beiden reagieren mußte, mit Neid und Ressentiment
reagiert? Er hatte. Seine innerste Unangreifbarkeit durch die Stärke dieser zwei
Herren hatte er immer verborgen. Jetzt sah er zum ersten Mal, in welch ungeheurem
Ausmaß er sich den Erwartungen der Leute anpaßte. Er tat sogar das, was ihn in der
Meinung der Leute herabsetzen mußte. Da er es für sicher hielt, daß die Leute
glaubten, er könne auf seine überlegenen Konkurrenten nur mit Neid, Haß und
Minderwertigkeitsgefühl reagieren, äußerte er, sobald die Rede auf einen der beiden
kam, Neid, Haß, Minderwertigkeitsgefühl. Würde er etwas anderes zeigen, mußten
sie glauben, er lüge. Man kann der Welt nicht mit etwas kommen, was sie nicht
erwartet. Also doch keine Bewunderungsrede auf Schatz und Kaltammer? Nein. Also
hatte er doch richtig reagiert auf der Terrasse? Er hätte deutlicher eine möglichst
niedrige Antipathie ausdrücken müssen; dadurch hätte er die beiden größer und sich
kleiner gemacht und so das herrschende Urteil bestätigt. Lieblinge sind Lieblinge,
basta. Er war, das empfand er nun wirklich durch und durch, kein Liebling. Auch nicht
sein eigener. Und das merken die Leute. Sie lieben nur jemanden, der sich liebt.
Gottlieb hatte das Gefühl, er habe sich in einen Hexenkessel hineingedacht. Liebte er
Schatz und Kaltammer oder liebte er sie nicht? Das war die einzige Frage, die wog.
Er wollte sich ausstrecken im Bett, sich wieder zusammenziehen, aber er wollte mit
dieser Frage nichts zu tun haben. Er hatte Angst vor der Antwort. Er ahnte eine
Antwort. Die wäre doch vernichtend. Mein Gott, rief er fast aus, ich werde die doch
nicht auch noch mögen müssen. Aber er möchte. Und er könnte. Und . . .
Gottlieb Zürn hielt manchmal, wenn es in seinem Innern hoch herging, eine
Ansprache an seine Kinder. Jetzt war ihm wieder danach. Liebe Rosa, Magda, Julia
und Regina, sagte er leise ins Dunkel. Vielleicht sei er sich vor lauter Tarnung
verschwunden. Immer hingeschaut, wo er nicht wollte. An ihm sei nichts zu lernen,
als wie es nicht sein soll. Dafür stehe er grad. Er lasse den Vortritt dem Gegenteil
seiner Wünsche. Vielleicht habe er immer die falschen gehabt. Gute Nacht. Er ging
noch einmal unter die Dusche. Irgendwann schlief er doch ein.
Als er wieder aufwachte, war es noch dunkel. Er hoffte, es sei wenigstens drei vorbei.
Auf die Uhr zu schauen traute er sich nicht, weil er fürchtete, es könne auch erst halb
eins sein. Das Einschlafenkönnen gehörte längst zu den Leistungen, die er von sich
verlangen mußte wie das, was der Beruf am Tag verlangte. Was habe ich da bloß
wieder geredet, sagte er leise ins dunkle Zimmer. Er war beim Reinhold-Abend. In
einem Winselton sagte er: Was habe ich da bloß wieder geredet. Dann sagte er: Ich
möchte auf die Zähne beißen, bis sie splittern und mein Mund aussähe wie der Wald
nach dem Tornado. Stuttgart liegt im Kessel, dachte er. Da gibt es auch nachts keine
Luft. Seine Nase war wie zugeschwollen. Er atmete auf Kommando. Er schlief ein.
An einem unerfreulichen Traum wachte er auf. Obwohl es schon keinen Sinn mehr
haben konnte, war er mit der ganzen Familie durch den Nürnberger Bahnhof gerannt.
Der Zug sollte auf Gleis 10 stehen. Sie waren alle naß, dreckig, über-schlammt,
Baustellen bis tief in den Bahnhof hinein. Für Fahrkarten reichte es nicht mehr. Er riß
Regina, die nicht mehr konnte, durch die Luft. Plötzlich stieß sie mit dem linken Fuß
gegen eine Stahlspitze, die den Fuß in der Mitte zwischen Gelenk und Zehen
durchstach. Ein Loch im dreckigen, schlammigen Schuh. Ein Loch im Fuß. Blut
spritzte heraus. Er riß alle weiter. Regina schrie. Er auch. Er stoppte, weil aus dem
blutigen Loch, in Pulsfrequenz, Fleischbrocken herausgeschleudert wurden. Er kniete
nieder, um sein frisches Taschentuch um den Fuß zu binden, aber er zog ihr dazu
den Schuh nicht aus. Eine Frau sagte: Vergessen Sie nicht, ihr nachher die Strümpfe
auszuziehen. Er erkletterte mit allen noch einen Prellbock. Der Zug — aber das hatte
er gewußt - war fort. Jetzt fiel ihm ein, daß das Loch in Reginas Fuß genau an der
Stelle war, an der bei Christus der Nagel eingeschlagen worden war. Er sah oben am
Kreuz die Initialen von Paul Schatz: PS. Dazu mußte er denken: Paul Schatz ist
gleich PS-Christus. Was er da in der linken Seite spürte . . . natürlich war es kein
Nagel. . . aber wenn man diesen Stich spürte, dachte man an einen Nagel, an einen
heißen, nein, Nadel, nicht Nagel, an eine heiße Nadel. Man möchte die linke Seite
bewegen, um, was da sticht, zu verteilen. Man probiert's mit Verreiben. Das hilft. Hört
man auf, kehrt der Stich an die Stelle mit einer so heißen Schärfe zurück, daß man
sich nicht mehr traut, sich zu rühren. Plötzlich hatte er Angst vor jeder Bewegung. Ein
Gefühl, als werde der Stich, sobald er sich bewege, unerträglich schmerzhaft. Er
müßte sich um den Stich herumbewegen können. Aber wie? Dieser Stich bewachte
ihn. Der nahm von allem Notiz. Jedes Auto aktivierte ihn. Jeder Gedanke. Alles
Bevorstehende. Gottlieb versprach, nichts mehr zu unternehmen. Er hatte das
Gefühl, er müsse dem Stich Opfer bringen. Sofort. Was sollte er denn bei Frau Dr.
Leistle! Lächerlich. Um 9 Uhr oder 10 Uhr wird er heimfahren. Er wird schwimmen,
mit den Kindern singen, milde Weine trinken und im Schatten seiner Bäume sitzen.
Schon der Gedanke, daß dies nur eine Vorstellung sei, die er momentan brauche, in
Wirklichkeit aber werde man am Morgen, bei Tageslicht, wie schon oft, weitersehen,
auch der geringste Betrugsversuch dieser Art aktivierte den Stich, trieb ihn tiefer; es
war vorstellbar, daß der Stich ein Ziel erreichen werde. Gottlieb ließ gar alles los. Er
hatte keinen Plan mehr. Sofort spürte er, daß die Geräuschstriche der Autos milder
ausfielen. Er spürte es, er war endlich auf dem richtigen Weg. Je leichter du atmest,
desto sicherer kannst du sein, daß du jetzt in der richtigen Richtung gehst.
Draußen war es hell. Er spürte direkt, wie von Sekunde zu Sekunde Festigkeit und
Stärke zunahmen in ihm. Als er, ohne auf die Uhr zu schauen, wußte, daß es etwa
acht Uhr war, stand er mühelos auf, zog sich an, frühstückte — nahm aber nur Tee
und Brot zu sich, weil er reinen Tee- und reinen Brotgeschmack wollte und sonst
nichts, und auch genau wußte, daß er nichts wollte als das —, zahlte, verließ das
Hotel: aber nicht in Richtung Killesberg und Parierstraße, sondern in Richtung
Bahnhof. Aber gleich über der Straße drüben blieb er vor den Schaufenstern des
Teppichgeschäftes stehen, die er gestern abend geprüft hatte. Er blieb wieder vor
demselben Teppich stehen, einem Keshan mit dunkelblauem Grund,
scharfschnittigen hellen Ranken und Blumen, die im Feld für sich und in der
Umrahmung dichter standen. Er ging weiter, als sei nichts gewesen. Ging wieder
zurück. An die Stelle, wo der Teppich seine größte Wirkung hatte. Er fühlte sich
gefangen. Er ging hinein. Er hörte: 8290 und wußte, daß er irgendeine Zahl darunter
sagen sollte, aber er wußte nicht, wieviel darunter, und vor dem jungen und
vollkommen wirkenden Mann wollte er sich nicht blamieren, also sagte er, nachdem
er, nur zum Schein, den Teppich betastend, den Fachmann gespielt hatte, er nehme
ihn. Er bezahlte mit Scheck. In spätestens 8 Tagen treffe der Teppich bei ihm ein.
Bevor er den Bahnhofplatz unterquerte, ging er in ein Fotogeschäft und kaufte eine
Polaroidkamera, 10 Pakete Film und ebensoviel Blitzlicht. 727 hörte er. Hier zahlte
er, weil er die Ware gleich mitnahm, mit Eurocard. Dann rannte er zum Schalter. Er
hatte Glück. In sechs Minuteri fuhr ein Zug. Einmal zweiter einfach. Weil er sparen
wollte. Aber auch, weil er heute in seiner Klasse fahren wollte. Heute konnte er sich
das leisten. Heute wäre es ihm gleichgültig gewesen, wenn einer seiner Kunden
vorbeigekommen wäre und unverschämt hergeschaut oder verschämt weggeschaut
hätte. Gottlieb Zürn hätte dem zugewinkt. Fröhlich. Problemlos. Heute hatte er
endlich wieder einmal das Gefühl, ihm könne nichts passieren. Er fühlte sich so
unabhängig wie schon lange nicht mehr. Ganz neu war es ihm nicht, dieses
Glücksgefühl. Aber heute war es selten stark. Wahrscheinlich weil er etwas so
Bedeutendes unterlassen hatte. Ein bißchen von dieser Stimmung hatte er
vorgestern gespürt, als er Baptist Rauh anrufen wollte und der war nicht zu erreichen
gewesen, dieses Glücksgefühl, wenn etwas unterblieb. Sobald er im Zug saß — vom
Bahnsteig aus hatte er noch telephonisch seine Ankunftszeit mitgeteilt —, wurde
seine Hochstimmung noch brisanter. Als der Zug aus dem Bahnhof hinauszog —
Gottlieb war allein im durchsonnten Abteil —, war er glücklich vor Sicherheit. Alle
wollen aus der Schmerz- und Leidenszone heraus. Er war heraus. Nur wer nichts
mehr macht, leidet nicht mehr. Wer handelt, leidet.
Böblingen, hier Böblingen, hörte er von draußen und konnte sich nicht erinnern, daß
ihn je ein Satz glücklicher gemacht hatte. Es war 10.32. Im Gelände, Krane wie
Galgen am Feiertag. Hinweg über die Autobahn, weg über die nach Süden rasenden
Autos. Und in die Wälder. Gottlieb lehnte sich mit allen Gedanken, die ihn drängten,
in die Kurven, in die der Eilzug flog. Er fuhr mit. Er sah sich auf der Suche nach einer
Täuschung. Sein Fehler all die Jahre, daß er eine Illusion entwickeln wollte, die
aussah wie Wirklichkeit. Er hätte gleich etwas ganz und gar Täuschungshaftes,
Glaubenstiftendes suchen sollen. Ihm schwebte, wie er so durch die Täler heimwärts
kurvte, etwas vor vom Unwahrscheinlichkeits-grad der unbefleckten Empfängnis.
Was nicht diesen Unmöglichkeitsgrad erreichte, war nichts. Also, wo ist sein Werk
dieser Art? Das einzige, was er bis jetzt geschafft hat: er ist nicht zu Frau Dr. Leistle
gegangen. Er weiß, daß er die Sicherheit, die ihn jetzt ausfüllt, wieder verlieren wird.
Aber er muß diese Sekunde Sicherheit nachhaltig machen, erinnerbar. Er muß
jederzeit sagen können: wie an dem Samstag im Zug Stuttgart—Singen. Jetzt traf ihn
die Zahl 8811. Die Käufe hatten sich, gegen seinen Willen, addiert. Er mußte sich
den Folgen dieses Anfalls stellen. Ein Anfall von Kaufwut. In Gedanken an Anna. Er
mit Anna. In den Ranken dieses Teppichs. Die Kamera hatte er kaufen müssen, weil
er Anna fotografieren wollte, ohne das Bild in der Stadt entwickeln lassen zu müssen.
Dazu waren diese Kameras erfunden worden. Oder war er wieder allein der
Fünfzehn-, nein, der Zwölfjährige? Er hatte gestern abend, als er vor dem
Schaufenster mit dieser Kamera stand, das Gefühl gehabt, in allen Häusern
Stuttgarts sei man längst mit solchen Kameras ausgerüstet und produziere damit
andauernd die ungeheuersten Aufnahmen. Nur bei ihm gab es so etwas noch nicht.
Und zu Hause konnte er eine solche Kamera nicht kaufen. Die Verkäuferin sähe ihm
sofort an, was er damit wollte. Er freute sich auf abends. Anna, du wirst sehen . . .
Aber das Geld. Anstatt zu verdienen, hatte er ausgegeben. Er durfte, bis er wieder
festen Boden unter den Füßen haben wird, weder an die Käufe noch an die
Parierstraße denken. Er betete Vorsätze herunter wie ein Verbrecher kurz nach der
Tat. Wenn es diesmal, wenn es noch ein einziges Mal gutgeht, verspricht er, nie
mehr so etwas zu tun. Am schlimmsten, das Gefühl, daß ihm das schon öfter
passiert ist. Wenn er unterwegs war. Diese Kaufanfälle. Und jedesmal werden sie
schlimmer, verheerender.
8811 Mark. Ohne daß er ... Das heißt, er ist nicht nur nicht imstande, etwas zu
lernen, sondern muß mit immer größeren Fehlentscheidungen rechnen. Er durfte
nicht an die Familie denken. Für ihn war, was er getan und was er nicht getan hatte,
erträglich. Notwendig. Befriedigend. Aber wie das daheim darlegen? Die Abteiltür
ratterte bösartig. Die Her-renberger Kirche, die Superglucke, erinnerte ihn an die Fa-
milie. Ein sonniger Tag. Wenn auch an den Rändern der Himmel auf Wolken ruht,
auf weißen. Nur noch der Mais steht. Eutingen/Württemberg. Das kann nur heißen,
daß man gleich in Baden ist. Noch Kleeäcker mit violetten Blüten. Weil er immer mit
dem Rücken zur Fahrtrichtung fährt, bleibt alles, was er sieht, zurück. Auf der
Schulter des Tals entlang. Drunten im Grünen macht der Neckar kleine Bögen.
Runter zum talfüllenden Horb. Dann wird's aber eng. Eine grüne Schlucht. Eingleisig.
Aber doch gleich wieder eine Befreiung. Auf einem Damm schwingt sich das Gleis
durch den gebogenen Grund. Neckar, Straße und Zug kommen miteinander aus
zwischen steileren Seiten, tannenbewachsenen. Aha, Bienenvölker hausen hier.
Neckarhausen haust hier. Der Neckar wird kleiner. Man fährt seiner Verjüngung zu.
Große Weidenbäume probieren ihr Silber in seinem Grün. Steeb-Werke, samstäglich
tot. Sulz, 11.15. Er müßte, obwohl er so sitzt, daß er anscheinend nur von irgendwo
fortfährt, zugeben, daß er auch irgendwohin fährt. Das wollen die liegenden Kühe,
die Denkmäler des nachdenklichen bzw. nichts auslassenden Kauens ihm sagen.
Und jede Biegung demonstriert, wo man gerade gewesen ist. Der Neckar zeigt schon
mehr Steine als Wasser. Oberndorf 11.30. Das Tal steht herum und schweigt. Heute
ist niemand zu Hause in Oberndorf. Da kommt der Gegenzug. Gottlieb könnte wieder
zurückfahren nach Stuttgart. Lächerlich. Aber lächerlich ist er auch, wenn er
heimfährt und mitteilt: Den Auftrag habe ich nicht, aber 8811 Mark habe ich ausge-
geben. Die Kamera würde er heimlich ins Schlafzimmer tragen. Lächerlich.
Lächerlich zu sein ist nicht lächerlich. Auf jeden Fall nicht lächerlicher, als nicht
lächerlich zu sein. Der Neckar muß sich von den Steinen bremsen lassen, die er
selber placiert hat. Noch ein paar Mal streiten Fluß und Straße und Gleis um die
Oberhand. Nach dem hohen Rottweil nehmen die Wiesen zu, was Hang ist, flieht,
der Wald bedeckt nicht mehr alles, auch meldet sich wieder mal kurz Württemberg.
Unter einer Brücke sitzt ein Mädchen und läßt den Samstagszug an sich
vorbeibrausen. Deshalb tut der auch nichts als das. Wenn schon für einen Bahnhof
gebremst werden muß, noch schnell über die Donau. Tuttlingen. Es wird angesagt,
dieser Zug werde weiterfahren nach Konstanz. Aber zuerst wird ausgetauscht mit
dem Zug von München nach Freiburg und mit dem von Freiburg nach Ulm. Wenn
alle drei Züge da sind, wird es auch hier samstäg-lich still. Elektrisches summt.
Zugtüren, die zugeworfen werden, hallen wie Kirchentüren. Auf der Strecke wird
noch einmal gehalten. Bitte, seinetwegen nicht. Er ist froh, wenn er es rasch hinter
sich bringen kann. Von ihm aus kann geeilt werden wie am Schluß der Symphonie.
Bereitgelegter Draht, der nicht mehr drankam, liegt jetzt über das Wochenende als
Kreis in der Sonne. Nachdem man sich vom Schnellzug Zürich—Stuttgart hat
anlärmen lassen müssen, darf der Eilzug weiterrumpeln. Jetzt erst sieht man, daß
nicht in der freien Natur, sondern in Hattingen gewartet wurde. Dann so lange durch
ein Tunnel, daß man mit neuer Landschaft rechnen muß. Tatsächlich, freie, weite,
nur noch vorsichtige Anhebungen. Und doch gleich wieder tief im Wald und hoch
über einem jäh eingeschnittenen Tal. Der Zug wird noch einmal vorsichtig, als könne
er sonst abstürzen. Gelbgraue Felsschichten zeigen, durch welche Sorte
Aufgebautheit es diesmal geht. Hoch überquert man ein Tal und wird von der
Autobahn noch höher überquert. Gottlieb wunderte sich, daß er dachte endlich, als
der Zug aus den hin- und herwissenden Tälern hinaus in den Hegau flog und jetzt —
ganz und gar Eilzug — zwischen den Vulkanveteranen schnurgerade auf Singen
zuschoß. Grüß Gott, Herr Hohentwiel. Wer in Singen ist, muß sich auf Radolfzell
gefaßt machen. Der Mais findet endlich Flächen. Keine Macht für niemand, steht für
den Umsteigenden in Revolutionsfarbe an der Mauer. Der Satz wollte ihm schon
gefallen, als ihm einfiel, daß er vor allem Kaltammer gefallen würde. Also zog er
seine Zustimmung zurück. Er war wieder in der Gegend, die am Samstag und
Sonntag kaltammerlos war. Solang er hier sei, hatte er auf der Terrasse getönt, habe
er noch nie ein Wochenende hier verbracht. An burgundischen Kaminen hat man ihn
sich samstags vorzustellen. In einem wirklich winzigen Züglein rumpelt man von
Radolfzell noch gar heim. Alle beieinander im ununterbrochenen Raum. Kinder
probieren Spielzeug aus und sagen sich alles, was sie mit den Händen tun, um es
doppelt zu haben, so laut als möglich vor. Das Mädchen, dem die Haare auf beiden
Seiten vorgefallen sind, möchte gern die Illustrierte lesen, die ihr der rumpelnde Zug
andauernd wegschlägt. Auch Luftballons fahren mit. Auf dem dünnen Pulli eines
Mädchens steht, selbst gestickt: San Franzisko. Mühselig sitzt ein alter Mann neben
einer alten Frau. Hier stehen die Bänke so eng, daß man dem, dem man
gegenübersitzt, die Knie zwischen die Knie stellen muß. Dieses seine Reisenden
zusammenschüttelnde Züglein hastet am eingerüsteten Turm der Sipplinger Kirche
vorbei und beansprucht noch mehrere Kilometer lang den Uferstreifen, der jetzt
zehnmal soviel wert wäre wie so ein Bahnveteran. Gottlieb ließ sich die
Zielstrebigkeit gefallen. Sein Blick schleifte drüben über dem Seearm, auf dem die
letzten Kilometer begleitenden Bodan-rück, der mit seinem grünen Pelz immer aus
dem Wasser steigt wie an einem ersten Tag. Als der Zug unter der steilen Sand-
steinwand entlangfuhr, die das Plateau mit der Reinholdschen Villa plus
Schicksalsterrasse trägt, sprang Gottlieb auf, sah dem Bahnhof entgegen, suchte im
Schatten des Gebäudes die immer nah an Wänden und im Schatten bleibende Sanft-
heitsgestalt Annas und sah, daß viel weiter vom Bahnhofsbau, als Anna je sich
aufstellen würde, Rosa in der Sonne auf ihn wartete. Was für eine wunderbare
Enttäuschung. Rosa zeigte ihr Gefühl auf die spöttische Weise, die zwischen ihnen
eingeführt war. Einander ernsthaft zu begrüßen oder zu verabschieden war in seiner
Familie nicht üblich. Das war schon seiner Mutter gegenüber nicht möglich gewesen.
Er hatte das Gesicht seiner Mutter ein einziges Mal berührt: als sie im offenen Sarg
lag und er einen Augenblick lang im Zimmer mit ihr allein gewesen war. Alle waren
sich in dieser Sippe, ohne es je auszusprechen, darüber einig, daß der kleinste
Gefühlsausdruck für sie der beste sei. Meistens berührte der eine den anderen
schnell mit zwei Fingerspitzen an einer unerheblichen Stelle. Rosa war mehr als
blaß. Und hatte sich noch blaß geschminkt. Wahrscheinlich, daß man nicht sehe, wie
blaß sie war. Du bist ja ganz blaß, sagte er und ärgerte sich gleich über seine
Unbeherrschtheit. Sie zuckte unter seinem Satz zusammen, als habe er
zugeschlagen. Deshalb fragte er schnell nach: Oder hast du dich bloß so blaß
geschminkt? Sie sagte mit einer unechten, keinen Ton findenden Stimme: Ein
bißchen. Das klang auch viel zu hochdeutsch. Sie fuhr. Er schaute sie nicht mehr an.
Sie sieht aus, wie angefüllt mit Tränen; wo man hindrücken würde, entsprängen sie.
Max Stöckl konnte sie ihm im Augenblick nicht vorstellen, weil der gerade seine
Meditation hielt. Im Schatten der leuchterhaft weit ausschwingenden Essigbaum-
zweige saß im Lotussitz ein nackter Mann - oder er hatte etwas an, was man, so wie
er saß, nicht sah. Das schwarze Haarpolster, gekämmt nach Ludwig II., das Gebarte,
genau geschnitten nach einem anderen aus der Sippe, sah er aus wie zwei
Wittelsbacher. Auf dem Pflaster der Terrasse lag über Zeitungen, die wohl Rosa und
Max ins Haus gebracht hatten, Stellenanzeigen studierend, Magda. In der Rechten,
die Schere. Sie demonstrierte die Konzentration so, daß er wußte, er mußte die erste
Frage an sie richten. Sie habe schon ein paar interessante Angebote, sagte sie und
las vor: Jeune fille au pair qui s'occupe de l'enfant, consciencieuse et de bonne
education. So eine wird von einem couple suisse in Parly, 15 km von Paris, gesucht.
Und erst hier, horch einmal. Ihre Stimme war so hell wie schon lange nicht mehr. Das
war so auffallend, wie wenn nach vielen Tagen zum ersten Mal wieder die Sonne
scheint. Leicht und gelöst lag sie in ihrem Bikini auf den rauhen Granitplatten. Keine
Spur mehr von der Starre der letzten Tage. Sie las mit einer sich vor Begeisterung
fast überschlagenden Stimme vor, daß eine Firma Theis und Co. in München
jemanden für eine Kartei suche. Kenntnisse werden nicht verlangt. Gottlieb, der noch
sein Gepäck in der Hand hatte, sagte, das sei sicher eine langweilige Arbeit. Genau
das fand Magda schön und attraktiv. Sie sagte immer The-is, obwohl er ihr gleich
gesagt hatte, daß das mit ziemlicher Sicherheit Theis heiße. Das Beste sei aber das,
sagte sie und holte unter ihrem Oberschenkel ein Buch über Berufe im öffentlichen
Dienst und las den Abschnitt vor über Verwaltungsangestellte im Justizdienst. Daß
man da als Protokollantin beschäftigt werde, begeisterte sie. Hauptschulabschluß
genüge. Gottlieb sagte, dann sei doch Rechtspflegerin für sie das richtige, wozu
mittlere Reife, 2 Jahre Praktikum und 3 Jahre Verwaltungshochschule in Berlin
gehörten. Sie kam wieder auf die Verwendung als Protokollantin zurück. Sie wolle
etwas, wo man zuschaue und keine Verantwortung habe. Es komme ihr doch nicht
auf die Bezahlung an, sagte sie ganz sachlich; vielleicht ein bißchen flehend.
Rosa und Anna hatten den Mittagstisch gerichtet. Vom Wasser heraufkamen Armin
und Julia. Rosa sah auf die Uhr und rief dann: Max, es tat' reichen. Gottlieb ging
hinein und hinauf, versteckte die Kamera hinterm Vorhang, zog sich um, lernte Max
Stöckl kennen. Der tadelte gerade Rosa, weil sie ihn so derb gerufen habe. Eine
Meditation könne man nicht abschalten wie den Fernseher. Weil Anna am Telephon
gesagt hatte, der spreche immer laut und bairisch, hatte Gottlieb ihn sich größer,
kräftiger vorgestellt. Kräftig war er schon. Aber auf eine leichtathletische Art. Seine
Haare waren blauschwarz. Er hätte ein jüngerer Bruder von Anna sein können.
Solange er nicht sprach. Gottlieb hatte nichts dagegen, daß dieser Max so laut
sprach. Auch die Ununterbrech-barkeit dieses Redestromes war ihm, im Augenblick,
eher angenehm. Anna hatte nur ganz schnell gefragt: Wie war's bei dir? Das werde
sich zeigen, hatte er gesagt. Und warum er nicht frage, wie es bei ihr gewesen sei.
Schon ihre erste Frage war so gestellt gewesen, daß er hätte symmetriebildend
zurückfragen sollen: Und bei dir? Jetzt tat er's. Sie habe die Mühle verkauft, da. Und
streckte ihm den unterschriebenen Vorvertrag hin. Das alles schnell und leise. Max
Stöckl sprach ja mit Magda oder Rosa oder überhaupt weiter. Er sprach über
Karrieren. Er hatte offenbar schnell erfaßt, daß das in dieser Familie zur Zeit ein
Thema war, und glücklicherweise wußte er darüber am meisten. Gottlieb konnte, als
er den von Anna geschlossenen Vorvertrag überflogen hatte, nur staunend den Kopf
schütteln und glücklich lächeln. 3 Prozent plus Mehrwertsteuer. Ja, haben die nicht
nach der Autobahntrasse gefragt? Anna habe sie beruhigt. Könne man doch. Über
500 m weg und halb hinterm Hügel. Und so schnell? Ja, sie habe von zwei heißen
Interessenten erzählt. Konnte sie, es hätten zwei angerufen gehabt. Heiße? Gut
warm. Morgen um 9 Uhr kommt der Vater, der das dem jungen Paar kauft. Der fliegt
für vier Wochen nach Mallorca. Deshalb die Eile. Und weil die Jungen nicht warten
können. Für die Immenstaader Wohnung hat auch einer angerufen. Diese Frau. Das
wäre seit vier Wochen der erste Abschluß. Vom Verkäufer zehn pauschal, vom
Käufer dreizehnzwo plus Mehrwertsteuer. Diese Frau. Er sah Anna an. Sie deutete
mit einer fast flehenden Geste an, daß er sich auf Max Stöckl konzentrieren solle. Sie
und Rosa trugen das Essen herein.
Gottlieb hörte mit Staunen, daß Rosa das Jurastudium aufgeben müsse oder schon
aufgegeben habe oder es doch gleich - unter Max Stöckls Einfluß und Leitung -
aufgeben werde. Rosa müsse Schauspielerin werden. Und Magdalena, mit der er
sich in der vergangenen Nacht gleich nach seiner Ankunft vier Stunden unterhalten
habe - nachdem er sie erst mal aus ihrem Zimmer herausgeholt habe, sagte er zu
Gottlieb Zürn herüber —, Magda müsse Jura studieren, da sie genau die Anlagen
habe, die Rosa fehlten, nämlich das Bedürfnis und die Fähigkeit, alles Vorkommende
mit Hilfe eines dafür zur Verfügung stehenden Vokabulars seiner Einmaligkeit zu
berauben und es zu einem Fall zu machen, für den man dann aus bereitgestellten
Lösungsmöglichkeiten, ohne persönliche Anteilnahme, die optimale wähle. Genau
das werde Rosa nie und Magda immer schaffen: die leidenschaftlich
persönlichkeitslose Operation. Auf der gewaltigen Platte lag in Krautern und
Gemüsen schwimmend eine mindestens vierpfündige Lachsforelle. Es gelang Anna,
in einen Atemriß Max Stöckls hineinzusagen, da sie die Mühle habe verkaufen
müssen, habe Rosa gekocht. Gottlieb drückte der schöpferhaften Köchin seine
Bewunderung pantomimisch aus, weil Max Stöckl wieder redete, ohne dabei — weil
er flink und sicher alles mit allem verbinden konnte — einen Bissen zu versäumen.
Auch beim Kaffeetrinken fedete er weiter. Als Julia aufgestanden war, weil sie mit
Armin auf den Übungsplatz wollte, sagte ihr Max Stöckl, der offenbar auch ihr
Problem erkannt und gelöst hatte: Oiso, etzat paßt amoi auf, daß'd net deine Angst
vorm Schiaßa auf ihn überdrogst, wirst seng, was'd für an Erfoig host dann. Und
zurück zu Magda: S'Abi auf koan Foi naus lossn, aufgor koan Foi. Zu Gottlieb Zürn:
Es sei ganz klar, daß Magdalena aus der Schule nur fliehen wolle, weil sie Angst
habe, sie bekomme in 2 Jahren, wenn sie das Abitur habe, keine Stelle mehr. Aber
genau das sei die Politik derer, die diese Angst schürten. Die wollten durch
Angstmache so viele als möglich von den Gymnasien vertreiben, um unter den
Eingeschüchterten billige Arbeitskräfte en masse rekrutieren zu können. Deshalb
müsse es Magdalenas Politik sein: Draufbleiben auf der Schule. Um jede Note bis
auf zwei Stellen hinterm Komma kämpfen. Wenn sie jetzt abgehe, sage jeder, der in
den nächsten, den entscheidenden 10 Jahren ihres Lebens sich ihre Papiere
anschaue, warum ist die 11/2 Jahre vorher runter, dann könne sie nicht jedesmal
erklären, wie es ihr da zumute gewesen sei. Gottlieb nickte. Er nickte auch noch, als
Max verfügte, daß Magdalena das Abitur schon deshalb machen müsse, weil sie die
ideale Juristin sei. Die operative Intelligenz par excellence. Gottlieb dachte: Daß ein
Kameramann sich so ausdrücken kann, toll! Magdalena lächelte mysteriös. Sie
mußte seit gestern durch ein Tauwetter gegangen sein. Auf einmal schien sie es zu
genießen, daß man über sie sprach. Gottlieb überlegte, was er tun könnte, um
diesem Max zu zeigen, wie dankbar er ihm sei. Er hätte wirklich nicht gewußt, wie er
ohne den alles auftauenden Redestrom aus dem schwarzen Bartzierat mit Magdas
Erstarrung hätte fertig werden sollen. Im Lauf des Tages begriff er, daß Rosa eine
noch größere Rolle gespielt hatte bei Magdas Auftauung als Max. Sie war dabei
gewesen bei dem Nachtgespräch. Gelöst war zwar noch nichts, diese fanatische
Stellensuche zeigte es, aber man war wieder im Kontakt, wußte, wo Magda war.
Sobald sie vom Tisch weg war, legte Max Stöckl dar, wie es mit Rosa weitergehen
werde. Es war fast tröstend, daß ihn sein Einsatz auch anzustrengen schien. Auf
Stirn und Oberlippe glänzten Schweißperlen. Des öfteren fuhr er mit seinem Gesicht
ganz rasch auf die neben ihm sitzende Rosa zu, und zwar mit offenem Mund, als
wolle er schnell wieder ein Stück von ihr abbeißen. Etwas ähnliches tat er dann auch.
Sollte Gottlieb ihn auf den Duft verbreitenden Zwetschgenkuchen mit den tief in die
Zwetschgen eingesunkenen Nußsplittern hinweisen? Der legte nicht nur den Arm um
Rosa, sondern zog sie andauernd zu sich herüber, als müsse er sie einem, der auf
der anderen Seite an ihr ziehe, entreißen. Rosa zeigte der Familie, daß sie diese
Gefühlsaufführung mit der hierorts dafür entwickelten Komik pariere. Aber allmählich
wirkte ihr Versuch, seinen Besitzergreifungseifer mit freundlicher Komik aufzufangen,
doch angestrengt. Auch mußte Gottlieb Zürn öfters an Kaltammers Dialektschimpfe
denken. Wenn sie ihr Alemannisch so hemmungslos sprächen wie der sein Bairisch,
wäre eine Unterhaltung unmöglich. Offenbar ist immer nur ein Dialekt möglich, und
der duldet keinen anderen Dialekt neben sich. Wahrscheinlich sollten Dialekte
einfach daheim bleiben. Auswärts kriegen sie was Herrschsüchtiges. Jedes
Familienmitglied bemühte sich Max Stöckl gegenüber instinktiv um Hochdeutsch. Nur
Rosa, die arme, hatte offenbar das Gefühl, sie müsse zeigen, daß es eine Brücke
gebe von Maxens Bairisch zur hiesigen oder überhaupt zu einer Sprache. Was dabei
herauskam, war eine mutlose Version der Max-Stöckl-Sprache. Gottlieb tat sie in den
Ohren bzw. in der Seele weh. Also wenn der der Schwiegersohn werden würde,
müßte man vielleicht einmal darüber reden, ob das, was der sprachlich trieb, wirklich
sein mußte. Wenn er im Ausland war. Und das hier war, bitte, für ihn Ausland. Si
senga jo dees net vu Ehnarem hiesigen Standpunkt aus, naa, wirkli, gengas zua,
lossns Ehna des ruahig song. Schaung's, i bi jo boild zeng Johr in dem Gscheft, i hob
jo in dera Zaait mehr wia zwanzig Fuim draht. I derf mir, glaub i, ein Uurteil erlaam.
Wos moanas, wos i scho fir Waiber vor der Obbdick g'hobt hob. I sog Bahne, die
Rosa, des Madl, grad dufte is die. Sie senga des hoit net, is jo klor. Sie san die
Öitern. I dageng muaß jo den brofessionellen Blick hom, ein erzongs Aug,
vaschtengas mi. Dann legte er einleuchtend dar, daß und warum die meisten
anderen Kameraleute Stümper, Nichtskönner, ja, wann man bedenke, was sie
verdürben, sogar Verbrecher seien. Die mehreren Regisseure sowieso. Er will ja auf
Regie hinaus. Glaam Sie, i druck mir's Kraiz schiach fir diese Regiedilettanten, na-
naa. Obgseng do davo, daß in dera Brangsch a so vui Nietn rumlaffa, daß oafach
moi oaner kumma muaß und hinlanga muaß. Fuim, wissa's, wos des is? Fuim, ah-
naa, des hot gor koan Sinn net, Eahna des z'song, Sie kenna jo no gor koan g'seng
hom. Fuim, vaschtenga's mi, Fuim, des muaß ma mach'n. Net redn drieba. Die redn
jo oie vui'z'vui. Und i mach Fuim. Des werrns seng. Mai, woos i fir Fuim mach, do
wern's schaung, oie mitanand.
Rosa war trotz der zarten Komik, mit der sie Max Stöckls Vehemenzen aufnahm,
stolz auf ihn, das sah man. Gottlieb begriff das. Der strahlte etwas aus. Gottlieb fühlte
sich weniger von der Begeisterung bewegt, die den ergriff, wenn er sprach, als von
seinem Ernst. Im Lauf des Tages und des Abends kriegte man doch eine Ahnung
von der Vielfältigkeit seiner Interessen und von dem Einsatz, mit dem er alles, was er
tat, betrieb. Alkohol lehnte der ab. So etwas imponierte Gottlieb. Und hat noch nie in
seinem Leben geraucht. Und wie er sich auf seine Regiekarriere vorbereitet. Seine
Lehrmeister sind die Japaner. Aber man kann nicht einfach in die Schule gehen bei
denen. Das läuft, sagt er, nur über die Existenz. Und erteilte der Familie den
neuesten Religionsunterricht. Gottlieb trank also seinen Hagnauer allein. Es war, als
verabschiede er sich damit für heute von Anna, die Malventee trank, und würde ihr
nicht mehr begegnen. Wenigstens um Rosa mußte man sich, wie es schien, von jetzt
an weniger sorgen. Max Stöckl war offenbar ganz gierig, ein Leben mit Rosa
aufzubauen. Am meisten beeindruckte Gottlieb, daß Max Stöckl in Rosas Wesen
eine Art Kraftquell entdeckt haben wollte. Etwas noch überhaupt nicht Hervor-
getretenes. Etwas gänzlich Unberührtes, Nurvonihmer-kanntes. Eine Art
SuperJungfräulichkeit. Und das sei, so Max Stöckl, heute so einmalig, daß man, falls
man diese märchenhaft reine Ausstrahlung auf Filmmaterial zu bannen verstehe,
einen Weltklassefilm im Kasten habe. Der Film habe ja, seit es ihn gebe, Frauen nur
ausgebeutet. Noch nie habe sich eine Frau auf Filmmaterial entfaltet. Ob sie
verstünden, nicht entblößt, sondern entfaltet. Dadurch daß die Aufgaben, die die
menschliche Entwicklung der Frau gestellt habe, vielfältiger gewesen seien als die an
die Männer gestellten, sei die Frau differenzierter als der Mann. Aber das sei
unbekannt. Zumindest im Film. Darin sehe er eine Aufgabe. Für sich. Für Rosa. Für
sie beide. Göi, Madl. Merkwürdigerweise dachte Gottlieb, als er Max Stöckl zuhörte,
öfter daran, daß er doch richtig gehandelt habe, als er sich dem Bittgang in die
Parierstraße entzogen hatte. Es war nicht Desertion, es war Selbstachtung,
Selbstverwirklichung. Max Stöckl baute alles auf Eigensinn. Er drückte das so aus:
man müsse den Mut haben, an sich selber interessiert zu sein. Er war ganz sicher,
daß innerhalb der nächsten zehn Jahre die ganze Branche vor ihm kapitulieren
werde. Vor ihm und Rosa natürlich. Ohne Rosa könne er sich den Anfang, der auch
der Durchbruch sein müsse, gar nicht vorstellen. Gottlieb war, als er die zweite
Flasche öffnete, drauf und dran, Max Stöckl und der Familie sein Stuttgarter
Verhalten als eine Bestätigung von allem, was Max Stöckl ihnen darlegte, zu
schildern. Aber eine unbegründbare Hemmung hinderte ihn. Das war Rosas Abend.
Die Jahre der Unbestätigtheit sind hinter ihr. Statt Befürchtung, Aussicht auf Triumph.
Sein Stuttgarter Verhalten war auch Triumph. Das empfand er, je länger er Max
Stöckl zuhörte, um so deutlicher. Die rücksichtslosen Einkäufe - es war fast ein
Schock, plötzlich wieder der Summe 8811 konfrontiert zu sein -, die bedenkenlose
Desertion vom Schlachtfeld, die rauschhafte Heimfahrt, es war Triumph. Er sah sich
in einem blitzhaft-schnellen Film, den niemand je drehen konnte, durch
Tälerwälderflüssebrückenkurven und hinaus in die Ebene fliegen und landen, hier,
zwischen Sandstein und See, wo Rosa frei in der Sonne stand; und er in seiner
überprompten Angst, die er wahrscheinlich auf sie übertrug, hatte nicht erkannt, wie
glücklich sie war. Er trank allen laut zu. Alle lächelten ein bißchen. Er war eben der
einzige, der Wein trank. Man gönnte es ihm ja. Es war doch ein schöner Abend. Auf
der Terrasse. Noch einmal eine warme Nacht. Nur Regina fehlte. Ihr Tag war ruhig
verlaufen. Kein Fieber, kein Erbrechen. Also bitte. Gottlieb Zürn freute sich auf das
Schlafzimmer. Die Kamera lag hinter dem Vorhang. Um seine Erwartungen vor allen
zu verbergen, nahm er die Zeitung an sich und sagte, er habe heute noch nicht
einmal die Immobilienseiten studiert; das sei ihm in 15 Jahren nicht ein einziges Mal
passiert. Zu Rosa sagte er noch, sie möge dann, bitte, die Lichter löschen. Max
Stöckl brach sofort in Gelächter aus und rief: Genau wia mei Oidda! Er sprang sogar
auf, stieg hinter Magda vorbei, tanzte auf der Terrasse herum, um vorzuführen, wie
sein Vater immer verschwörerisch und beschwörend auf ihn zugegangen sei und ihm
seriös und scharf zugeflüstert habe: Max, machst aber's Licht aus nachher. Dieser
Auftritt bewies, daß Max Stöckl etwas haargenau darstellen konnte. Wie alt war der
in Gottliebs Einteilung? Der stimmte mit sich überein. Der war 37, für länger. Ganz
sicher war Gottlieb nicht. Als Gottlieb mit Anna ins Schlafzimmer trat, wagte er nicht,
die Zeitung in die Ecke zu schleudern, wohin sie jetzt gehört hätte; er legte sie
vorsichtig auf sein Nachttischchen und zog sich aus, ohne zu Anna hinzuschauen.
Da er etwas getrunken hatte, sie aber nicht, mußte er sich, so gut es ging, nach ihr
richten. Oder sollte er einfach die Kamera hinter dem Vorhang hervorholen und
Anna, bevor sie im Nachthemd verschwinden konnte, ein ums andere Mal
fotografieren? Er konnte ja Max Stöckl parodieren. Einen günstigeren Augenblick für
die Einführung der Kamera in die Umgangskunst ihres Schlafzimmerlebens konnte
es nicht geben. Mit einer angestrengt ruhigen Stimme sagte Anna vor sich hin: Rosa
bekommt ein Kind. Gottlieb Zürn hatte manchmal den Eindruck, daß Anna, wenn sie
nichts von ihm wissen wollte, verhindernde Bemerkungen machte. Sie brauchte dazu
nie viele Wörter, weder Gesten noch Lautstärke. Es waren meistens Sätze wie
dieser: Rosa bekommt ein Kind. Solche Sätze müssen sitzen. Es muß aus ihnen
hervorgehen, daß sie nicht früher gesagt werden konnten und nicht länger
verschwiegen werden durften. Sie konnten also gar nicht anders als in diesem
Augenblick ausgesprochen werden. Sie durften keinesfalls als Verhinderungssätze
anklagbar sein. Am besten funktionierten die, in denen das Schicksal das Wort
führte. Wie, zum Beispiel, in dem Satz: Rosa bekommt ein Kind. So, Eroica, jetzt bist
du dran. Sosehr er sich vorstellen konnte, gleich fünfzig zu sein — er hatte seit
Jahren trainiert für dieses Ereignis und er würde in den Jahren, die noch dafür zur
Verfügung standen, weitertrainieren -, das Wort Großvater kam ihm, auf sich
angewendet, komisch vor. Er war noch nicht damit fertig, Vater geworden zu sein. Er
mußte um weitere Einarbeitungszeit bitten. Zwanzig Jahre sind zu wenig. Er forderte
fünfundzwanzig. Und Anna? Anna verkraftet so etwas. Anna ist in Gottliebs
Alterszuweisung das Wunder. Sie ist in mehreren Altern daheim. Sie kann tagelang
zuverlässig vierzig sein, und sobald der Druck nachläßt, blüht aus ihr —
Sorgenabwesenheit vorausgesetzt — in wenigen Stunden die Siebzehnjährige durch,
wird sie ganz von Siebzehnjährigkeit überblüht. In Anna würde dieser Schick-
salsstreich bereitliegende Fähigkeiten wecken. Bezeichnungen hatten über sie wenig
Gewalt. Sie konnte sachlich sein. Aber — und deshalb war diese Mitteilung eher
tonlos und gar nicht jubelhaft ausgefallen — sie zweifelte an Max Stöckl. Der brauche
Rosa, aber er könne Rosa nichts sein. Fünfzig Studentinnen hätten sich für die
Statisterie gemeldet, aber dieser verschränkte Fanatiker stürzt sich auf Rosa. Das
war wieder Annas Wortwahl. Der brauche Rosa, weil er sonst seine Ideen nicht
aushalte. Ihr komme der vor wie aufgezogen und dann gesperrt. Ob Gottlieb Rosa
beobachtet habe? Die sei doch andauernd kurz vorm Heulen. Nur weil sie schwanger
sei, sage sie nichts. Aber er, Gottlieb, hätte etwas sagen sollen! Wie er sich
benommen habe, das sei schlimm. Er habe doch, sagte er, nicht wissen können, daß
Rosa schwanger sei. Und für ihn sei das auch kein Schwiegersohn, sondern ein . . .
ein Entdecker. Rosas Entdecker. Anna stieß Laute der Verachtung aus. Daß Gottlieb
nicht sofort protestiert habe, als der sagte, Rosa müsse aufhören zu studieren, sei
schlimm. Sie habe nichts sagen können, weil sie immer an Rosas Schwangerschaft
habe denken müssen. Aber er! Er hätte Rosas Ausbildung verteidigen müssen.
Jahrelang habe man diskutiert, dann gefunden, ihre Fähigkeiten könnten sich
nirgends natürlicher entwickeln als im Rechtswesen. Richterin, Jugendrichterin
vielleicht! Und jetzt? Nicht mit einem Satz verteidige er das Ergebnis jahrelanger
Überlegungen. Er wolle doch Rosa nicht zwingen, sagte er schwach. Anna: Aber der
darf sie zwingen, ja?! Rosa habe den mitgebracht, weil sie nicht mehr weiterwisse.
Rosa passe genau auf, wie dieser arme Kerl auf die Eltern wirke. Und was sehe sie,
ihr Vater läßt sich von dem sofort überrennen, einwickeln, mundtot machen. Rosa
habe Hilfe erwartet. Er aber habe sie total im Stich gelassen. Das sei schlimm. Dann
ist eben alles schlimm, sagte er mürrisch. Und nach einiger Zeit: Schlag ihr vor, die
Schwangerschaft zu unterbrechen, dann ist sie wieder frei. Sie könne doch Rosa so
etwas nicht vorschlagen. Ja, wenn Rosa davon anfinge. ICH kann nicht davon
anfangen, sagte er und war froh, endlich etwas gesagt zu haben, was nicht kritisiert
werden konnte. Ihm wäre es am liebsten, wenn alles gutginge, sagte er. Anna stieß
einen Laut aus. Sie lag auf dem Rücken, die Augen weit offen, sie arbeitete.
Wahrscheinlich konnten die Kinder froh sein, eine solche Mutter zu haben. Er drehte
sich auf seine Seite, starrte eine Zeitlang auf den Vorhang, hinter dem die Kamera
lag. Dann streichelte er noch schnell sein Geschlechtsteil, als sei es etwas ihm in
Pflege Gegebenes, dem er Tröstung schulde. Anna war im Recht. Die arme Rosa.
Offenbar hatte er diesen Bartpedanten falsch eingeschätzt. Er war einfach kein Men-
schenkenner . . . Etwas Stumpfsinnigeres und Groteskeres als diesen
Fortpflanzungsbefehl kann man sich überhaupt nicht ausdenken. Obwohl in diesem
Zimmer zwischen Anna und ihm jetzt nichts so unmöglich war wie Geschlechtsver-
kehr, konnte er an nichts anderes denken. Er mußte es sogar zulassen, daß sich in
ihm eine Art Wut gegen Anna ausbildete, weil sie wieder einmal alles verhindert
hatte. Vielleicht war mit Rosa und Max alles anders als sie es dargestellt hatte, und
sie hatte es nur so dargestellt, weil sie ihn von sich weghalten wollte. Je genauer
man etwas erkennt, desto weniger kann man's beweisen. Aber hatte sie nicht recht,
wenn sie ihn nicht in ihre Nähe kommen lassen wollte? Sie spürt immer alles, bevor
man darüber redet. Wie er Stuttgart verlassen hatte, das hatte sie intus. Aber daß er
das als Triumph gedacht hatte, wußte sie nicht. Das müßte er ihr sagen. Aber für sie
gab es jetzt nur Rosa und Rosas Not. Anna hatte recht, es gab nichts Wichtigeres als
Rosa. Entschuldige, Anna, dachte er, entschuldige, daß ich eine Wut habe auf dich,
weil du alles wieder verhindert hast. Als Anna ihr Licht löschte, fiel ihm die Zeitung
ein. Er zündete sein Licht an. Zuerst suchte er immer das eigene Inserat. Sie hatten
es nicht gut placiert. Dann erst las er, was Paul Schatz heute dem Publikum
zukommen ließ. Ein Sermon über notarielle Festpreisgarantie. Für so manchen Kauf-
interessenten ist der Immobiliensektor glattes Parkett. Er sucht nach sicherem Halt.
Vorzüglich bietet sich ihm der Notar an. Ach ja, dachte Gottlieb Zürn. Aber als er den
Sermon gelesen hatte, war er beeindruckt. Das war doch eine imponierende Offen-
heit, mit der Paul Schatz hier die Illusion zerstörte, die notarielle Bestätigung einer
Bauträger-Erklärung bedeute, der Notar könne damit auch nur im mindesten etwas
für die Verwirklichung des Erklärten tun. Paul Schatz war es völlig gleichgültig, ob die
Notare das gern läsen oder nicht. Andererseits war er wahrscheinlich bei den
Notaren der beliebteste Makler, weil er seinen Parteien immer nahelegte, zum Kauf-
abschluß vor dem Notar nicht in Hemd und Hose zu erscheinen. Ob man sich von
einer Immobilie trenne oder sich mit einer verbinde, das sei ein das Leben
verändernder Akt. Er brachte es in die Nähe der Hochzeit. Gottlieb dachte: Wieder
ein Samstag, den Paul Schatz für sich entschieden hat. Soviel Leistung, und immer
noch keine Anerkennung durch den Konkurrenten?! Oh doch. Ohne jeden Vorbehalt.
Er las die Schatz-Postille noch einmal. Aber diesmal erst entdeckte er den Spruch,
den Schatz heute in den schwarzen Balken gesetzt hatte, der sein Inserat von den
Inseraten aller anderen Makler trennte: Um gut zu sein, muß man besser sein. Den
Spruch verkraftete Gottlieb nicht. Er war doch wieder einmal bereit gewesen zur
Anerkennung, zur Bewunderung sogar. Aber so nicht. Der kann es doch einfach nicht
lassen, das Protzen, das Einmaligsein. Schluß. Er überflog noch die anderen
Inserate. Und was er da entdeckte, trieb ihn aus dem Bett. Die lange Latte der JFK-
Angebote war angeführt von einer JFK-Fanfare: Die Jahrhundert-Chance. Villa, 19
Zimmer, / Salons, in einmaligem Park (1,8 ha), exotische Bäume, eigener
Tennisplatz; märchenhafter Hafen (40 Liegeplätze) mit Badehaus. Ein Besitz für
Besitzer. Preis: Verhandlungssache Das gibt es nicht, rief Gottlieb, das gibt es doch
nicht. Er las es Anna vor. Sein Haus. Sein Auftrag. Frau Reinhold! Klar. Anstatt ihm,
hatte sie den Tip Kaltammer gegeben, der hatte . . . Moment, das Inserat war am
Mittwoch . . . Na ja, da der immer seine lange Latte an der Seite der Seite hat, kann
der auch noch am Freitag kommen. Oder er hatte alles schon am Mittwoch gehabt.
Aber Frau Reinhold würde doch Paul Schatz vorziehen. Wahrscheinlich hatte sie
zuerst Paul Schatz und dann Kaltammer verständigt. Aber da Schatz gründlicher und
solider arbeitet als Kaltammer, hatte Kaltammer Schatz überholt. Und als die
Reinhold diese beiden verständigt gehabt hatte, war es ihr peinlich, daß sie den
Makler, durch den sie ihr Haus bekommen hatte, nicht berücksichtigt hatte! Dann
hatte sie ihn noch angerufen, ihn eingeladen, um ihm dann doch nichts zu sagen. Er
mußte ihr schreiben. Das mußte sie von ihm schriftlich kriegen. In ihm formulierten
sich in rasendem Tempo Briefe an Frau Reinhold. Er verwarf einen nach dem
anderen. Aber dann hatte er einen, von dem er hoffen konnte, ihn auch noch am
nächsten Vormittag gut zu finden. Den legte er in seinem Kopf ab. Bis morgen.
Plötzlich sagte Anna: Hast du's auch gehört? Sie hatte Türen gehört. Einbildung,
sagte er, löschte sein Licht und überlegte, von welchem Punkt aus er jetzt am
ehesten in den Schlaf hineinfinde. Anna behauptete noch einmal, Türen gehört zu
haben. Eine sei die Haustür gewesen. Ach, Anna, sagte er, gute Nacht. Da hörte er
das Metallgeräusch. Das war ihre Schlafzimmertür. Er fuhr hoch, machte sein Licht
an. Rosa. Sie ging sofort auf Annas Seite, setzte sich dort aufs Bett. Sie wollte
lachen, aber es gelang ihr nicht. Sie kämpfte gegen Weinen. Sie habe Krach gehabt
mit Max. Jetzt könne sie nicht allein im Zimmer sein. Sie habe Angst. Wo Max sei?
Fort. Sie habe ihn hinausgeworfen. Weil sie ihn nicht mehr ertragen habe. Er habe
von ihr eine Abtreibung verlangt. Sie habe gesagt, sie könne sich das noch nicht
vorstellen. Sie habe nicht gesagt, das komme für sie nicht in Frage. Nur, daß sie es
sich noch nicht vorstellen könne. Dann habe er gesagt, sie wolle ihn vernichten, das
sehe er. Noch zwei andere Frauen seien im Augenblick schwanger von ihm. Eine
Bedienung und eine vom Ballett. Er stehe dazu. Kinder zu machen, soviel man wolle,
dürfe nicht länger ein Privileg des Adels sein. Aber im Augenblick dürften diese
Kinder noch nicht auf die Welt kommen. In drei Jahren, ja. Aber nicht jetzt. Die zwei
anderen Frauen seien primitiver als Rosa, daß die sich gegen eine Unterbrechung
sträubten, wundere ihn jetzt nicht mehr, wenn sogar Rosa, die über ganz andere
Kenntnisse und Einsichten verfüge, die Notwendigkeit einer Unterbrechung nicht
einsehen wolle. Also, sagte Rosa, ich soll abtreiben, weil's die zwei anderen nicht
tun! Und verheiratet sei er auch. Obwohl das jetzt eine schon vollkommen komische
Mitteilung war, brach sie in lautes Heulen aus. Anna zog sie zu sich ins Bett. Rosa
heulte noch lauter. Sie schrie fast ein bißchen. Es klang, als sei es für diesen Ton
höchste Zeit gewesen, als wäre sie gestorben, wenn sie jetzt nicht hätte aufschreien
können.

4.
Als Gottlieb Zürn um sieben Uhr aufstand, sah er, daß Anna und Rosa wach und
stumm nebeneinander lagen; offenbar hatten sie die ganze Nacht ins Dunkel
gestarrt, wie sie jetzt zur Decke starrten. Und er hatte geschlafen und geschlafen. Er
ging so unauffällig als möglich hinaus. Sobald er draußen war, rannte er. Rannte
hinunter und über den Weg und ins Wasser. Weil noch niemand zuschaute, kraulte
er. Ludwig, das war ein Schwimmer, mein Gott. Wie bei dem, wenn er kraulte, alles
zusammenwirkte. Bei Ludwig bewegte sich, wenn er kraulte, alles langsam, aber
Ludwig kam dadurch schnell voran. Gottlieb hatte das Gefühl, bei ihm bewege sich
alles heftig und schnell, nur komme er dadurch nicht vorwärts. Deshalb kraulte er nie,
wenn ihn jemand hätte vom Uferweg aus beobachten können. Daß einer so ins
Wasser schlug und nicht vorwärtskam, sah sicher komisch aus. Ludwig war immer
vorausgeschwommen, wieder zurück und um ihn herum. Gottlieb hatte Ludwig immer
bewundert, nie beneidet. Zum letzten Mal hatte er Ludwig auf der Bootsausstellung in
Friedrichshafen getroffen. Zufällig waren sie beide vor einem Folkeboot
stehengeblieben. Sie hatten dann im Messerestaurant ein Viertel Rotwein getrunken,
das jeder dem anderen hatte bezahlen wollen. Ludwig arbeitete damals in Paris. In
einer Banque israelite, sagte er. Da sein Vater Nazi gewesen sei, habe er sich
vorgenommen, daß für ihn, falls es ihm gelinge, in Frankreich in eine Bank zu
kommen, keine Banque protestante in Frage komme. Aber dein Vater war doch kein
Nazi, hatte Gottlieb gesagt. DEIN Vater war kein Nazi, hatte Ludwig gesagt, der
meine schon. Dein Vater war Blockwart, hatte Gottlieb gesagt. Eben, hatte Ludwig
gesagt und sein Kinn war in diesem Augenblick geradezu furchtbar gewachsen.
Wenn Gottlieb schwamm, dachte er meistens an Ludwig. Sie waren stundenlang
geschwommen miteinander. Bei Tag und bei Nacht. Ludwig und er waren keine
Freunde mehr. Aber wenn er nicht aufpaßte, fing er wieder an, auf Ludwig zu warten.
Das hatte er jahrelang getan. Dann hat er sich beigebracht, an Ludwig nur noch zu
denken wie an seine tote Mutter, seinen toten Vater, seinen toten Bruder.
Als er weit draußen umdrehte, sah er auf ihrem Extrahügel in einem hohen
Silberdom aus Nebel, in den gerade die Sonne wollte, als zierliche Figur die Birnau-
Kirche stehen. Ob Anna und Rosa immer noch so starr nebeneinander lagen? Er
hätte diesen Max Stöckl, wenn er ihn jetzt zur Hand gehabt hätte, erwürgt. Anstatt
den zu erwürgen, mußte er den Brief an Frau Reinhold schreiben, in dem er sich nur
noch sanft darüber beschwerte, daß sie den Tip einem anderen gegeben habe. Dann
weckte er Julia. Sie wollte mitgenommen werden bis Andelshofen, da sie für Armin,
zum letzten Mal vor seiner Prüfung, eine Fährte ins taufrische Gras legen wollte.
Gottlieb mußte vor den Interessenten am Objekt sein. Das wäre sein Prinzip
geworden, auch wenn es nicht Dr. Enderies Prinzip gewesen wäre. Als er vom
Fahrweg um die Stadelecke in die Zufahrt zur Baiten-Mühle bog, hätte er bald einen
Mercedes gerammt. Eine hiesige Nummer. Der Vater des jungen Paars sollte aber
aus Kempten kommen. Auf dem Rücksitz lag ein Mann. Schlafend oder tot?
Schlafend. Obwohl der größere Teil des Gesichts von einem Arm bedeckt war, sah
Gottlieb, daß da Herr Dr. Terbohm lag. Und wo ist Barbi? Er ging in den Hofraum vor,
der vom Haupthaus, vom Stadel mit Stall, von Schuppen und Remisen umstanden
war. Der letzte Müller war vor vier Jahren gestorben. Vor einem guten Jahr hatten
sich die siebzehn Erben, die überall in der Welt wohnten, darüber geeinigt, daß sie
und wie sie verkaufen wollten. Offenbar hatten sie zuerst einen pensionierten Hausl
hinausprozessieren müssen, der mit der schon vor zwanzig Jahren gestorbenen Frau
des Baiten-Müllers eher flüchtig verwandt gewesen war. Als pensionierter Ho-
teldiener aus Zürich war der in die Mühle gezogen und hatte den alten Baiten-Müller,
sagten die Erben, ausgenützt. Vor allem habe er ihm beigebracht, ihn als Erben
einzusetzen. Das mußte angefochten werden. Das Anfechten war dadurch verkürzt
worden, daß Josef, der Hausl, sich im oberen Dachboden erhängt hatte. Am selben
Balken, an dem der alte Baiten-Müller die Schaukel befestigt hatte, von der er — töd-
lich - gefallen war. Daß das Schaukeln ein Einfall Josefs gewesen sein mußte, hatte
Gottlieb im Dorf gehört. Man nahm an, daß der alte Baiten-Müller schon arg verkalkt
gewesen sei, sonst wäre er auf den komischen Vorschlag des offenbar überhaupt ein
bißchen kindischen Josef nicht eingegangen. Daß die beiden alten Männer ausgiebig
im oberen der beiden Dachböden geschaukelt haben, ist erwiesen, weil man sie oft,
wenn man mit Holz oder Frucht kam — und der Stallschweizer war nicht da -, erst
lange rufen und suchen mußte, bis man sie droben fand. Sie haben es aber
immerhin zu verheimlichen gesucht, sagen die Leute. Und eben dadurch, daß der
Hausl Josef den Baiten-Müller zum Schaukeln hatte verführen können, schien die
nachträgliche Entmündigung des Erblassers möglich gewesen zu sein. Nach Josefs
Tod stand das Haus leer. Jetzt war keine Scheibe mehr unversehrt. Die hintere,
durch die Küche ins Haus führende Tür war aus den Angeln gerissen worden und
konnte nur noch angelehnt werden; drinnen sah es aus, als kämen öfter
beutesuchende Soldaten durch. Gebetbücher, Einlegesohlen, Schachfiguren,
Pfeifenstocher, Fotografien, Auftragsbücher, Stuhlbeine, Seifenstücke, Socken,
Glitzersplitter von zertretenen Christbaumkugeln . . . Auf den Fruchtböden watet man
bis zu den Knien in Körnern, und rundum stieben wie Geister die Mäuse. Ins
Haupthaus würde Barbi nicht eindringen. Am ehesten in den Stadel, den Stall. Da
sah es noch am freundlichsten aus. Der Heuboden noch halb voll Heu. Der
Futtergang, voller Heuballen. Der Besen an der Wand, als sei gestern noch mit ihm
hinter den Kühen gekehrt worden. Oder war Barbi am Bach entlanggegangen, Rich-
tung Weiher und Wald? Bevor er sich für eine Richtung entscheiden konnte, kamen,
auf dem Feldweg vom Wald herab, ums Haupthaus herum und Hand in Hand, Herr
Dr. Reinhold und Barbi. Die zierliche Knabenfigur Dr. Rein-holds und sein großer
Kopf ergaben eine unverkennbare Proportion. Da die beiden Gottlieb noch nicht
gesehen hatten, drehte er sich weg und bückte sich nach einem rostigen Kessel in
den Brennesseln. Sie sollten ihn entdecken, nicht er sie. Erst als sie heran waren und
ihn erkannt hatten, drehte er sich um. Sie kämen praktisch direkt aus Konstanz,
sagte Barbi ein bißchen eifrig: Judith habe gespielt, also so was habe sie nicht für
möglich gehalten. Jetzt müsse sie aber den Frauenarzt wecken, um zehn Uhr, Start
zur Surfregatta. Schade, sagte Gottlieb, er habe schon gehofft, sie hätten Interesse
für die Mühle. Er sagte das, als seien sie ein Paar. Sie lachten nicht. Gottlieb setzte
sein Auto zurück, drei fuhren ab, zwei winkten ihm zu. Der arme Dr. Reinhold, sagte
Anna immer, wenn von Frau Reinhold eine weitere Emanzipationsgeste zu berichten
war. Von anderen Ehepaaren weiß man soviel wie von Kontinenten, auf denen man
noch nicht war. Sollte er den Brief noch ändern? Es gibt unverwendbares Wissen.
Aber es war ein prächtiger Zufall, daß der Mercedes der Partei Kristlein-Dr. Gramer
und der Reinhold-Mercedes auf dem schmalen Weg vom Dorf her langsam
aneinander vorbei mußten. Warum inszeniert man das nicht für jede Besichtigung?
Es gibt überhaupt nichts, was ein Objekt so begehrenswert macht wie das Erlebnis,
daß ein anderer es einem wegnehmen will. Er muß das endlich einbauen in seine
Praxis. Herr Kristlein machte Gottlieb sofort ein Kompliment, weil Dr. Zürn auch am
Sonntagmorgen schon so früh auf dem Posten sei. Die Tochter Irmgard fragte
beunruhigt, ob das Interessenten gewesen seien. Gottlieb sagte, ja, das seien auch
Interessenten gewesen. Herrn Kristlein beeindruckte das nicht. Er schüttelte den
Kopf. Das sei doch alles nur noch für die Planierraupe. Ein altes Glump sei das,
sonst nichts. Der Schwiegersohn, Dr. Gramer, schüttelte den Kopf über das
Kopfschütteln seines Schwiegervaters, aber er sagte nichts. Niemand außer Herrn
Kristlein sagte etwas, und der wiederholte immer wieder, daß das alte Glump nur
noch für die Planierraupe sei. Aber Herrn Kristlein war auch daran gelegen, daß
Gottlieb Zürn, während man durch das Haus ging, Kristleins Standpunkt kennen-
lerne. Er hat einen Steinmetzbetrieb aufgebaut. Mit nichts als einer Persilschachtel
voller Unterhosen und Socken ist er vor 50 Jahren zu Fuß von Primisweiler nach
Kempten, in die Lehre. Und zwar morgens um drei. Und noch vor zehn in Kempten
gewesen. Jetzt hat er den Betrieb, in dem zuletzt zweiunddreißig Mann beschäftigt
waren, verkauft. An die Konkurrenz. Die habe ganz schön bluten müssen. So. Er hat
Geld. Aber nicht zum Hinauswerfen. Dazu hat er's nicht leicht genug verdient. Er ist
siebenundsechzig und erledigt. Gottlieb widerspricht. Ja sowieso, ruft Herr Kristlein
geradezu streitsüchtig, erledigt sei er! Und was sein Schwiegersohn, ein
Gewerbelehrer, hier zwischen den Brennesseln wolle, müsse man ihm zuerst einmal
erklären. Leben, sagt der trotzig aus seinem rötlichen Bart. Die Tochter schaltete sich
ein. Sie nahm ihren Vater ein Stück weg von Gottlieb und ihrem Mann. Sie hatte von
ihrem Vater die zart geschwungene Nase, die tiefen Augenhöhlen, über die sich
schön die Brauenbögen schwangen. Ihre Gesichtshälften waren auffällig gleich. Es
ging eine gebietende Wirkung aus von dieser Symmetrie. Gottlieb mußte den Kopf
schütteln; er wollte sich der Wirkung entziehen. Herr Kristlein sah neben seiner
großen schönen Tochter tatsächlich erschöpft aus, erledigt. Der wirkliche
Rassenunterschied ist doch der zwischen jung und alt. Als sie mit ihm zurückkam,
zeichnete sie sich bei jedem Schritt ab in ihrem Kleid. Gut, sagte er, er versteht
nichts vom Holz, in Ordnung. Daß das Holz das Wichtigste ist an diesem Bau, gibt er
zu. Er hat einen alten Zimmermeister zum Freund in Tettnang, den bringt er heute
nachmittag, der wird das Gebälk prüfen. Auf dem Weg zum Wald und zum Weiher
hinauf war Herr Kristlein nach hundert Metern stehengeblieben. Er wollte nicht weiter.
Irmgard sah ihn ängstlich an. Sie wollte ihn weiterziehen. Ob das nicht schön sei,
zwischen Pfefferminz und Storchenschnabel zu gehen. Der Steinmetz lehnte ab. Er
wolle so rasch als möglich zu seinem Freund, dem Zimmermeister. Morgen will er
nach Mallorca, für ihn der erste Urlaub seit 1945. Der Schwiegersohn hatte nichts
mehr gesagt. Das fand Gottlieb klug. Er hatte auch gemerkt, daß man diesem Mann
nichts vormachen mußte. Da sich Gottlieb wochenlang die Hoffnung und Illusion
gestattet hatte, die Baiten-Mühle selber zu kaufen, wußte er, daß dieser Besitz mehr
wert war, als er kostete. Wenn nicht die gefürchtete Autobahn durch dieses Tal
käme, hätte sich längst ein Käufer gefunden. Paul Schatz hatte mit seiner Initiative
die Autobahn immer weiter ins Hinterland gedrängt, bis sie schließlich 500 Meter vor
der Baiten-Mühle gelandet war. Die Leute hier herum konnten sich nicht so gut
wehren. Sie hatten den Schwarzen Peter vorerst. Und wahrscheinlich für immer.
Gottlieb hätte die Mühle trotz Autobahn gekauft. Er hatte es auf Anna geschoben,
ihm beweisen zu müssen, daß sie sich so einen Waldwei-herwiesenbesitz nicht
leisten konnten. Kauf und Renovierung würden durch keine Vermietung finanzierbar
sein. Er hätte es sowieso nur gekauft, um es zu haben. Anna fand das geradezu
unerträglich, Wohnraum zu besitzen und ihn dann leer stehen zu lassen. Das ging ihr
gegen jedes Gefühl. Die drei fuhren ab. Man würde sich um 5 Uhr wieder treffen. Das
Paar hatte Gottlieb noch einmal zugeflüstert, ob er versprechen könne, daß er vor
fünf nichts unternehme. Er versprach's gerne. Dr. Gramer war hoch erregt, das sah
man. Er konnte sich momentan sein Leben ohne die Baiten-Mühle nicht vorstellen.
Seine Frau zog mit. Ihm zuliebe. Er wollte hier sein mit ihr. Allein mit ihr zwischen
sieben Gebäuden und siebzig Bäumen und Weiherschilf und Gras. Er hatte sie
immer wieder einmal an sich gedrückt und seinen Kopf zu ihr hin sinken lassen.
Immer an Stellen, an denen er sich etwas vorstellen konnte mit ihr.
Gottlieb Zürn wußte das längst, daß Häuser und Grundstücke hauptsächlich gekauft
werden, weil ein Paar sich etwas vorstellt. Meistens war es, nach seiner Erfahrung,
der Mann, der sich etwas vorstellte. Die Frauen sahen mehr darauf, wieviel Sonne
auf den Balkon fiele, wie weit die Kinder in die Schule und sie zum Einkaufen hätten.
Gottlieb hatte sich gehütet, auf den von dem Paar unterschriebenen Vorvertrag
hinzuweisen. Er wußte nicht, ob der Alte die beiden dazu ermächtigt hatte. Durch ihre
Unterschrift war die Käuferprovision eigentlich schon gesichert. In römisch Zwei der
vorgedruckten und vom Verkäufer schon unterschriebenen Vereinbarung hieß es
fettgedruckt: Zur Zahlung verpflichtet sich der Teil, der die Verbriefung auf der obigen
Grundlage unterläßt. . . Gottlieb hatte allerdings das Gefühl, daß diesen Steinmetz
nichts und niemand hindern könnte, einem so ein Papier vor dem Gesicht zu
zerreißen. Daheim saßen alle stumm beim Frühstück. Der Platz, auf dem gestern
Stöckl gesessen hatte, war leer. Gottlieb setzte sich auf diesen Platz. Rosas blasse
Gesichtshaut sah aus wie aufgerauht. Um eine andere Stimmung zu produzieren,
sagte er so schadenfroh als möglich, Annas Kundschaft habe einen halben
Rückzieher gemacht. Aber das interessierte niemanden. Anna hätte wenigstens
sagen können: Sie haben unterschrieben, also müssen sie zahlen. Dann hätte er
wieder einmal sagen können, daß es sein Stolz sei, noch nie eine Provision auf dem
Prozeßweg eingetrieben zu haben. Sollte man nun von diesem Stöckl reden oder
nicht? Wieviel wußte Magda? Sie saß eher so, wie sie vor dem Tauwetter gesessen
hatte. War es doch nur Stöckl, der sie bewegt hatte? Das Telephon ging. Ein Herr
Fichte. Er und seine Frau machen gerade Urlaub in der Gegend und würden sich für
eine Immenstaader Wohnung interessieren. Gottlieb verabredete sich mit denen für 2
Uhr nachmittags. Als er auf die Terrasse zurückkam, schlug Gottlieb Rosa vor, froh
zu sein. Sie sei doch froh, sagte Rosa. Eigentlich hätte er jetzt mit dem JFK-Satz Il
faut celebrer les faux baptemes angeben wollen, aber er hatte gerade noch bemerkt,
daß das Rosa verletzen konnte. Er legte den Arm um Rosa wie noch nie und sagte:
Ach Rosakind. Anna sagte: Hauptsache, er ist fort. Magda schaute vor sich hin; das
sah aus, als wolle sie sagen, durch ihre Gegenwart wolle sie nichts verhindern oder
befördern. Armin stürmte um die immer weiter ausschwingenden Wacholderzweige
herum und duckte sich demütig auf den Boden hinab. Da folgte auch schon Julia,
verschwitzt und über Armins schlechte Suchleistungen erbittert. Gottlieb sah plötzlich
die ganze Welt vor sich; ein System, in dem jeder von einem anderen zuviel verlangt,
weil von ihm ein anderer auch zuviel verlangt. Ihn rettete das Telephon vor Julias
Anklageschwall. Baptist Rauh. Gottlieb hörte schon bei der Namensnennung, daß
Rauhs Frau nicht mitzog. Der Bodensee sei für sie kein Gewässer, auf dem es sich
lohne, ein Schiff aufzutakeln. Sie will ihn auch gar nicht sehen. Für sie ist die
Vorstellung, andauernd gegen Ufer zu stoßen, deprimierend. Er hat jetzt folgenden
Vorschlag: Wenn Gottlieb Zürn nach fachmännischer Prüfung der Meinung ist, daß
dieses Anwesen mehr wert ist als die fünf Plätze mit ihren verschiedenen Aussichten
auf Lindau, und wenn dann noch die fünf Plätze zu verkaufen sind für 900 000, noch
besser eine Million, dann kommt Rauh, dann greift er zu, auch ohne Bruni. Er hat ja
die Vorbereitung seines zweiten und eigentlichen Lebens auch bisher ohne Bruni
betreiben müssen. Irgendwann wird sie mitziehen, oder man weiß nicht, was dann
passiert. Der arme Baptist Rauh. Und jedesmal fragte er, wie das Wetter am
Bodensee sei. Bei Föhn verlangte er von Gottlieb scharfe Schilderungen der vor
Nähe und Glanz blendenden Gegenständlichkeit der Bodenseewelt. Gottlieb Zürn
sah durch das offene Fenster die Hundsrosen an und hatte das Gefühl, sie sähen ihn
an. Er studierte noch einmal den Vorvertrag, den er für die Mühle ausgefüllt hatte,
der jetzt dank Annas Energie unterschrieben war. Anna hatte recht gehabt, als sie
dem jungen Paar die Unterschrift abgenötigt hatte. Im Immobilienhandel muß man
den Leuten ein bißchen Fassung geben, sonst schwanken sie gar zu sehr. Diese
Mühle, hergerichtet, war in fünf Jahren das Doppelte wert. Je mehr Grund und Boden
mit einem Objekt verbunden war, desto mehr interessierte es ihn. Er hätte am
liebsten alle Grundstücke, die er vermittelte, selbst gekauft. Daß Leute, die Geld
hatten, überhaupt etwas anderes als Grundstücke kauften, war ihm unverständlich.
Nicht daß er spekulieren wollte. Er wollte Grund und Boden haben. Anna dagegen:
nicht mehr, als man selber bearbeiten kann. Er dagegen hätte das Land gern sich
selbst überlassen. Möglichst viel Land sich selbst überlassen, das wäre ihm schön
vorgekommen. Oft phantasierte er an einer Gesellschaft herum, in der die
Geburtenzahlen sänken. Erholung der Natur, sanfter Überfluß, Entspannung als Na-
turprodukt, man streckt einander wieder die Hände entgegen, muß aber fast gar nicht
mehr reisen, weil es an Ort und Stelle wieder auszuhalten ist. Großväter und
Großmütter hätten Platz und Essen; der Vorwand, daß wegen deren Renten immer
weiter expandiert werden müsse, entfiele. Weil es Sonntagvormittag war, holte er
seine Gedichtbücher aus der Schublade. Der Sonntagvormittag, fand er, eigne sich
am besten zum Dichten. Er war auch gern fromm. Aber als er jetzt seine Gedichte
lesen wollte, waren ihm seine Sätze zuwider. Das waren überhaupt keine Gedichte.
Was da stand, war nichts als mühsam und leer: Er war sicher, daß ihm nie mehr
etwas gefallen würde. Und je mehr es mit ihm selber zu tun hatte, desto abstoßender
würde es sein. Er hatte das Gefühl, er sei innerhalb weniger Minuten bis auf den
tiefstmöglichen Punkt gestürzt und könne sich nie mehr aufraffen. Er mahnte sich.
Sei zufrieden, sagte er, dir geht es gut. Was ist denn das? Sein Leben wurde immer
erträglicher, und er wurde immer häufiger von dieser Unglücksschwere überfallen. Er
war überhaupt nicht zufrieden. Und gerade Zufriedenheit hätte er jetzt allmählich
erwartet von sich. Heiter würde er wahrscheinlich nie werden. Aber dieses bald
keinen Tag mehr ganz verschonende Unglücksgefühl wollte er sich nicht gefallen
lassen. War das Wohlstandsschwermut? Er wagte nicht, mit irgend jemandem
darüber zu sprechen; er genierte sich, weil er sich so unglücklich fühlte, obwohl es
ihm gutging. Er verlangte von sich, gleichmütig zu sein. Es war wieder, als könne er
den Kopf nie mehr heben, die Augen nicht mehr bewegen, den Telephonhörer nie
mehr abnehmen. Tatsächlich verschrillten manche Anrufe vor seinem Gesicht, ohne
daß er fähig gewesen wäre, die Hand bis zum Hörer zu bewegen. Aber es wäre ihm
nie in den Sinn gekommen, deshalb etwas gegen das Leben oder die Welt oder die
menschliche Lage vorzubringen. Verwünschungen fand er komisch. Auch ahnte er,
daß es seine Schuld war. Zumindest seine Sache. Auch in den schlimmsten
Momenten wußte er noch, wie schön es war zu leben. Nur hatte dieses Wissen dann
keine Kraft mehr über ihn. Er konnte sich nicht bewegen, nicht teilhaben. Jede
Bewegung hätte nur die Last fühlbarer gemacht. Nicht einmal die Todesbanalitäten
regten ihn dann noch auf. Also Verzweiflung war es nicht. Verzweiflung war ein Wort,
das in ihm nur eine Empfindung erregte wie Zwiebeln mit Seife. Für den Druck, der
auf ihm lastete, hatte er keinen Namen. Es war etwas Luxuriöses, Eingebildetes,
Selbstverschuldetes. Etwas, das man unbedingt verheimlichen mußte.
Plötzlich sprang er auf und ging, rannte fast, zum Briefkasten vor. Sein Brief war
noch drin. Morgen früh um 5 Uhr 45 wird er zur Leerung hier sein und den Brief
zurückbitten. Er begriff nicht mehr, daß er geglaubt hatte, Frau Reinhold schreiben zu
können, was er dachte. So was Lächerliches, ihr vorzutragen, er sehe einen
Widerspruch darin, wenn sie immer gegen Leute wettere, die sich krümmten und
unterdrückten, und andererseits verlange sie von ihm, daß er Kaltammer reizend
finde und von Paul Schatz hingerissen sei. Sie sei doch die erste, den einen
Neurotiker zu nennen, der sich zwinge, Leute sympathisch zu finden, die er nicht
ausstehen könne. Also glaube er sich sozusagen nach ihren Anweisungen zu
verhalten, wenn er deutlich sage, wie widerwärtig ihm Kaltammer sei und wie
enttäuscht er, Gottlieb Zürn, sei, weil sie Frau Dr. Leistle den empfohlen habe. Er
habe nach der Lektüre dieses Inserats Frau Dr. Leistle gar nicht mehr aufgesucht.
Vielleicht könne sie ihm noch den Gefallen tun und dort sein unentschuldigtes
Wegbleiben erklären.
Abgesehen davon, daß es idiotisch war, sich jetzt, nachdem alles verloren war, noch
Blößen zu geben, stimmte nichts mehr richtig in diesem Brief. Eben dadurch, daß er
ihn geschrieben hatte, war er aus der Lage, die der Brief ausdrückte,
herausgekommen.
Nach dem Mittagessen fuhr er mit Herrn und Frau Fichte nach Immenstaad. Die
anderen fuhren zu Regina ins Krankenhaus. Herr Fichte nannte seine Frau, die am
Steuer saß, Muddi. Er war Sachse und sagte, daß er in seinem Leben nur noch ein
Interesse habe, nämlich mit seiner Muddi ein paar ruhige Jährchen zu verbringen.
Sein Leben lang hat er als Mondör im Außendienst gearbeitet, in Südafrika,
Singapur, Mexiko, hat'n schön' Haufen Spesen gespart und angelegt und seine
Muddi nur alle Jubeljahre mal gesehen, und immer unter fremdem Dache. Beide ham
sich aber, wie jeder ihnen bisher bestätigt hat, auf diese Weise prächtig konserviert
und möchten nu endlich ihr Scheibschen abschneiden dürfen vom süßen Leben,
nich' wohr, Muddi. Wenns nicht zuviel koste, das Scheibschen, sagte Frau Fichte und
imitierte ein bißchen seinen sächsischen Ton. Da konnte Gottlieb mitreden. Das war
sein Thema: das eigene Dach, der eigene Boden unter den Füßen. Weg war die
Konversationsmühe, unter der er öfter bei Besichtigungen litt. Daß so viele immer
noch auf fremdem Grund geboren werden und gehen lernen, wo sie nichts zu sagen
haben, das sei das letzte große Rechtsübel aus den Zeiten des Mittelalters, ein an
Leibeigenschaft erinnerndes Feudalrelikt. Alle Mieterschutzgesetze blieben
Augenwischerei, solang es de jure den Hausherrn noch gebe. Dabei dachte er immer
daran, daß er auch ein bißchen Hausherr sei. Aber er brauchte seinen Rückhalt.
Schatz natürlich, der Snob, wohnte zur Miete. Niemand sei so privilegiert wie der
Mieter, davon wolle er auch profitieren. Schatz konnte es einem vorrechnen. Gottlieb
begriff es nicht. Ihm kam es über jede Rechnung hinaus unerträglich vor, auf
fremdem Boden zu leben. Fichtes stimmten zu. Als man die erste Wohnung betrat,
war man hochgestimmt und einig darüber, daß die Basis der Demokratie, die
Gleichheitsforderung, erst einen Sinn bekomme, wenn keiner mehr auf fremdem
Boden existieren müsse. Herr Fichte ließ auf Fingerdruck das Maßband aus dem
Gehäuse springen. Frau Fichte entfaltete Listen mit Maßen ihrer Möbel. Beide
knieten und krabbelten herum, riefen einander in glücklicher Erregung Zahlen zu. Ja,
der große Ratan-Tisch, den er aus Singapur mitgebracht hat, paßt! Großer Gott, jetzt
fällt ihm ein Stein vom Herzen. Mit allen 10 Stühlen paßt er herein. Und die Felle aus
Afrika auch. Endlich wird er die aus ihren Kisten befreien können. Aber Muddi
möchte die gar nicht im Wohnzimmer haben. Er sieht sich schon hier die Beine in die
Felle strecken. Aber Muddi möchte nun mal die Felle nur im Schlafzimmer. Erich
Fichte geht noch einmal hinüber in den als Schlafzimmer vorgesehenen Raum.
Kommen die Felle hier überhaupt zur Geltung? Oder werden sie da praktisch zu
Bettvorlegern herabgewürdigt? Das möchte Muddi natürlich auch nicht. Vielleicht in
das Herrenzimmer? Ja, damit könnte er eher einverstanden sein, laß mal sehen. Das
Herrenzimmer ist ziemlich klein. Also er finde einfach die Fernsehecke mit'm
Gaudsch-Halbkreis erst gemütlich, wenn Boden und Gaudsch voller Felle wären.
Zum Donner, Muddi, 30 Jahre lang ist er in der Welt herumgädiecherd, nu will er es
eben noch was kuschelig. Übrigens, heute sei Sonntag, der PKW-Verkehr recht
erträglich, aber- dies scharf zu Gottlieb Zürn -: unter der Woche, der LKW-Verkehr,
hört man den? Künnt ihr misch net wat Leischteret frajen, denkt Gottlieb und sagt:
Der hält sich sehr in Grenzen, wissen Sie. Aber sie haben doch gestern am Telephon
gesagt, kein Verkehrslärm at all. Ich? Nicht ich, meine Frau, Herr Fichte, war gestern
am Telephon. Fichtes werden den Punkt werktags prüfen. Nach fast zwei Stunden
haben sie ihre Möbel und ihre Vorstellungen beiden Wohnungen anprobiert, und Herr
Fichte, offenbar ein Fachmann in allen Handwerken, hat mit einem Rechenschieber
die Preise der Wohnungen überprüft und weiß jetzt, jede dieser Wohnungen ist um 3
5 000 Mark zu teuer. Sie seien allerdings erst am Anfang ihrer Campagne, sagten
sie, sie würden sich, wenn sie der Sache nähertreten wollten, wieder melden. Beide
atmeten auf und aus. Offenbar hatten sie sich jetzt völlig aus dem Bann beider
Wohnungen gelöst. Gottlieb war froh, daß er die Rückfahrt mit Anna verabredet
hatte. Mit diesem Ehepaar hätte er nicht gern noch einmal die Enge ihres Kleinautos
geteilt. Eine halbe Stunde saß er neben der Omnibushaltestelle im Gras. Angesichts
der auf der Bundesstraße hintereinander herjagenden Autos war es
unwahrscheinlich, daß Anna und die Kinder heil einträfen. Sollte er den Gedanken
einüben, er und Regina seien allein übriggeblieben? Dann kurvten sie doch noch her,
Rosa am Steuer. Rosa hatte auf dem Krankenhausparkplatz ein Auto beschädigt,
dem Zürnschen Auto war ein Rücklicht zerquetscht und die hintere Stoßstange
geknickt worden. Gottlieb sagte: Wie kann man bloß! Auf einem Parkplatz! Da er
selber vor zwei Jahren einen 13 000-Mark-Schaden angerichtet hatte, durfte er nicht
brüllen. Wo er hinsah, sah er Kosten aufschießen. 8811 Mark hatte er gestern
verjubelt. Man hätte Rosa heute nicht ans Steuer lassen dürfen, sagte er aus einem
sich nicht öffnen könnenden Mund. Jetzt stellte sich auch noch heraus, daß Anna
dem Mercedesfahrer 350 Mark sofort bar bezahlt hatte für dessen von ihm selbst
geschätzten Schaden. Wegen der Prämien-rückgewähr, sagte sie. Das kann man
doch absetzen, sagte sie. Nein, sagte Gottlieb. Die weitere Erhöhung der Versi-
cherungsprämie wegen dieses Schadenfalles hätten wir absetzen können. Anna
sagte: Scheiße. Rosa sagte, man hätte überhaupt nichts zahlen, sondern die Polizei
holen sollen. Sie sei, als sie rückwärts aus der Parklücke fuhr und den kommen sah,
stehengeblieben und sei, als der auffuhr, schon gestanden. Aber alle seien sofort aus
dem Auto gestürzt und hätten sich bei dem Heini entschuldigt, da habe sie auch
nichts mehr machen können. Sie ist nicht gestanden, sagte, etwas steinern, Julia.
Rosa schrie Julia an. Sie sei gestanden, schrie sie so laut sie konnte. Julia schrie:
He! Sie lasse sich nicht 's Maul verbieten, das nerve sie echt. Anna rief, wenn Julia
Rosa so anschreie, passiere gleich wieder was. Magda hörte, das sah man ihrem in
irgendeine Ferne gerichteten Blick an, nichts von dem, was um sie vorging. Julia und
Rosa stritten weiter. Gottlieb war froh, als er alle absetzen und allein zur Mühle
weiterfahren konnte. Da stand schon Dr. Gramer, neben ihm leuchtete purpurrot der
kugelrunde Kopf und violett die Nase des alten Zimmermeisters. Gottlieb erschrak
unwillkürlich, als er nur diese beiden sah. Und erfuhr, der Schwiegervater sei im Rad
in Tettnang beim Mittagessen vom Stuhl gesunken und, als er den Boden erreicht
habe, schon tot gewesen. Jetzt erst sah Gottlieb, daß Irmgard im Auto saß und vor
sich hinschaute und sich nicht rührte. Er konnte nicht hingehen und kondolieren. Dr.
Gramer flüsterte Gottlieb zu, er habe die vom Schwiegervater erwünschte Begut-
achtung durch den Zimmermeister nicht abblasen wollen. Man stieg in den ersten
und dann in den zweiten Dachboden hinauf. Der Zimmermeister zog sein
Taschenmesser und stach immer wieder in die Balken und fand sie gesund. 150
Jahre alt. Er bewunderte die Binder. Eine alte Nordgiebelwand, der längst eine neue
vorgesetzt worden war, zog ihn besonders an, weil die Wand aus Holz geflochten
und mit Lehm gemörtelt war. Das heiße man gestrickt. Als man auf dem Rückweg
durch den Mühlenteil ging, sagte er anerkennend: Und Mühlenschläuch' für fünf
Körnungen. Nur in Küche und Brennerei fand er mürbe Balken; aber auch der
mürbste davon halte noch gern 50 Jahre. Er hätte das dem Karle, seinem alten
Freund, selber gesagt, aber so sei es halt, man wolle einem was sagen, dann sei der
schon tot. Dr. Gramer sagte, die Protokollierung könne sich jetzt um 14 Tage
verzögern, aber, weil die Erbverhältnisse problemlos seien, um mehr als drei
Wochen nicht.
Julia föhnte Rosa die frisch gewaschenen Haare. Das war ein wunderbarer Anblick.
Aber Magda lag wieder auf dem Sofa und starrte zur Decke. Er erfuhr, daß Rosa
versucht hatte, sie zum Haarewaschen zu überreden. Daraufhabe sie gesagt, sie
werde sich die Haare waschen, sobald sie es schaffe, ein Erwachsener zu sein. Und
zu Rosa habe sie gesagt: Du schmückst dich, weil zu erwachsen bist, das verstehe
ich.
Wenn Stöckl geblieben wäre, dachte Gottlieb, wäre sie auch geblieben. Über Stöckl
sprach niemand. Über Rosas Zustand sprach niemand. Er hoffte, Anna habe mit
Rosa gesprochen. Das könnte doch noch ein Sonntagabend werden. Fast die ganze
Familie unter einem Dach. Von Regina keine dramatische Nachricht. Sie müsse sich
dort behaupten gegen die zwei Zimmergenossinnen. Vor allem die Griechin sei
herrschsüchtig. Regina habe, offenbar um mit dem Fremdheitsgrad des
Griechenkindes konkurrieren zu können, ihren zweiten Vornamen angegeben, und
den in englischer Version. Sie habe Anna sofort in einer gespielten Begrüßungs-
szene zu sich hinabgezogen und ihr zugeflüstert, sie heiße Mary. Das klingt ja sehr
gut, sagte Gottlieb. Als sie beim Abendessen saßen, rief Herr Rauh an. Große,
schöne Neuigkeiten. Bruni sei plötzlich eingeschwenkt. Sie müsse etwas
Scheußliches erlebt haben, worüber sie mit ihm noch gar nicht sprechen könne. Und
es müsse etwas Hamburgisches sein, da in ihr geradezu jäh die Einsicht dämmere,
daß man Hamburg überschätzen könne. Er will noch nicht zuviel sagen, aber eins ist
sicher: seine Plätze in Hochbuch, Motzach, Taubenberg, Rehlings und auf dem
Hoyerberg — er zählt die Plätze immer in der Reihenfolge auf, in der er sie erworben
hat - werden nicht verkauft. Er wird doch nicht fünf Plätze verschleudern, von denen
aus man sieht, wie Lindau im See liegt vor einem Kranz aus Bergen. Offenbar
brachte es Baptist Rauh in seiner Vorstellung fertig, von allen fünf Plätzen
gleichzeitig auf die Insel Lindau hinzuschauen. Ihm wagte Gottlieb nicht
entgegenzuhalten, daß man in Wirklichkeit ja nur einen dieser fünf Plätze brauchte,
um zu sehen, wie Lindau im See und vor dem Kranz aus Bergen liege. Wenn Bruni
mitzieht, flüsterte Baptist Rauh, dann wird das Schwanenhaus gekauft. Bruni hat
Schmuck geerbt, der immer nur im Tresor liegt. Was ist Schmuck im Tresor gegen
ein Haus am See mit Turm, vier Giebeln und bunten Scheiben. Und auf dem Dach,
sagte Gottlieb schnell dazwischen, eine Fahnenterrasse. Wahnsinnig, sagte Baptist
Rauh leise und langsam. Sobald Bruni das volle Ausmaß ihrer Hamburger
Resignation zugibt, ruft Rauh an, dann fliegen sie her. Sollte ein seriöser Käufer
auftauchen, will Rauh sofort angerufen werden, alles klar? Alles klar. Als er
zurückkam, sagte Anna gerade, sie habe, als sie Rosa kriegte, gedacht, die gehöre
ihr jetzt zwanzig Jahre und das sei ihr vorgekommen wie's ganze Leben. Und jetzt
sei das so schnell vorbeigegangen. Unsinn, wollte Gottlieb rufen. Er drückte auf den
Knopf für die Tagesschau. Rosa stand sofort auf und sagte, sie müsse
zusammenpacken, wenn sie noch mit dem letzten Zug nach München wolle. Je
heftiger Anna sie zurückhalten wollte, desto unerbittlicher bestand Rosa auf ihrer
Abreise. Beide gingen diskutierend hinaus. Eine Tagesschau-Meldung traf ihn: fünf
große Wirtschaftsinstitute haben gesagt, die Konjunkturanzeichen seien ein Irrtum
gewesen. Es gehe schon wieder abwärts. Zunahme der Arbeitslosigkeit.
Lohnsteuereinnahmen bleiben hinter den Schätzungen zurück. Das rührte direkt an
die Stelle, die er sich gestern durch den Teppich- und durch den Kamerakauf
verwundet hatte. Er hätte aufschreien wollen. Der Fehler, den er durch diese
Kauferei gemacht hatte, wurde stündlich größer. Wenn der Immobilienmarkt einfror
wie anno 75! Zehn, zwanzig, fünfzig Besichtigungen einer Zweieinhalb-
zimmerwohnung, und kein Abschluß! Dann fehlt nur noch, daß die Notenbankherren,
weil sie sich eine Konjunktur einbilden, die's nicht gibt, die Diskontschrauben
anziehen. Die Dreizehnzwo von den Mühlekäufern sind wenigstens sicher. Aber auch
nur, weil der einzige Gegner des Kaufs tot vom Stuhl fiel. Dazu die Pauschale vom
Verkäufer: zehn, wenn Gottlieb vierhundertvierzig erlöst. Also kann er mit
dreiundzwanzig rechnen. Und davon hat er neun schon hinausgeworfen. Und
dreiundzwanzigtausend sind, wenn man ihnen einmal näherkommt, überhaupt nicht
mehr soviel, wie man gemeint hat, als man noch fast keine Aussicht hatte,
dreiundzwanzigtausend zu kriegen. Mit den sechzig- bis neunzigtausend für das
Schwanenhaus waren die Monate bis zur nächsten Saison warme Monate gewesen.
Sie brauchen jeden Monat mehr Geld. Eine sparsame, alles auspressende, klug
wirtschaftende Frau, vier sparsame bis geizige Kinder, und jeder Monat teurer als der
vorangehende. Manchmal befiel ihn die Angst, daß sie das Geld einfach verlören.
Vielleicht fehlte ihm und Anna eine unerläßliche Wachheit und Kontrollfähigkeit.
Vielleicht legen er und Anna öfters gedankenlos einen Hundertmarkschein auf das
Fensterbrett und der Wind weht ihn weg. Oder sie lassen zur Freude unterbezahlter
Lehrlinge Fünfzigmarkscheine auf dem Ladentisch liegen. Manchmal beherrschte ihn
die Vorstellung, im Haus existiere ein Transportband, nicht breiter als ein Brief,
darauf würden ununterbrochen Geldscheine aus dem Haus transportiert. Was ihm
bar nicht abgenommen werden konnte, wurde ihm entrissen per Dauerauftrag.
Dieser Teppich! Diese Kamera! Anstatt daß er für 88 Mark 11 für alle Kinder und für
Anna Entzücken auslösende, das Haus mit Freuderufen füllende Kleinigkeiten
gekauft hatte, hatte er für 8811 Mark nur für sich gesorgt. Aber konnte er mehr gegen
sich tun, als soviel zu kaufen? Aber er hat es doch für sich getan. Aber das einzige,
was man gleichzeitig für sich und gegen sich tun kann, ist, etwas kaufen. Je teurer,
schöner, unverantwortbarer, desto mehr erlebt man es als etwas, was man für sich
und gegen sich getan hat. Er und Anna fuhren Rosa nach Friedrichshafen zum Bahn-
hof. Sie ließ nicht zu, daß man über etwas, was sie betraf, sprach. Sie sah
fürchterlich blaß und entschlossen aus. Als der Zug anfuhr, winkten sie ihr nach. Sie
versuchte, hinter der geschlossenen Scheibe zurückzuwinken. Aber weil ihr
Handgelenk sich offenbar überhaupt nicht lockern ließ, wurde aus ihrem Winken jene
Bewegung, mit der man entschieden verneint. Wir hätten sie nicht gehen lassen
dürfen, sagte Anna nachher. Aber Rosa habe sich nicht halten lassen. Sie wolle
morgen früh sofort zum Arzt und zu Pro Familia, daß sie das Sozialberatungsattest
und das Indikationsattest bekomme und einen Kliniktermin. Gottlieb versuchte, aus
dem, was Rosa bevorstand, eine Art Zahnarztbesuch zu machen. Er wollte eine
Schutzschicht erzeugen, damit er und Anna für den Rest des Abends für sich wären.
Anna wirkte kooperativ. Magda und Julia waren schon in ihren Zimmern. Gottlieb
schenkte noch Wein ein. Er spürte, wie in ihm die Fähigkeit zunahm, sich
einzubilden, er und Anna seien allein auf der Welt. Das war die Voraussetzung. Ohne
die lief nichts. Er erzählte ihr in optimistischer Verzerrung von den Besichtigungen,
vom traurigen Schicksal des Steinmetz, das sich für sie so günstig auswirke; von
seiner erfolglosen Geduld mit dem Getändel der Familie Fichte; er erzählte wohlig
bewegt, wie er frühmorgens den von Anna öfters bedauerten Dr. Reinhold an der
Hand der braungebrannten Surferin Bärbel habe aus Wald und Wiese und Weiher
zurückkommen sehen; sie erzählte von Regina und Rosa; er mischte in ihre
Erzählung Verharmlosendes; sie schien an Erleichterung auch interessiert zu sein;
die Umgangskunst blühte; er dachte schon an die Kamera hinter dem Vorhang. Aber
als sie ihr Schlafzimmer betraten und er ihr zuschaute, wie sie sich auszog, sagte
Anna: Wenn bloß das schon vorbei wäre, dann könnte man wieder schnaufen. Sie
kam nicht von dem los, was Rosa bevorstand. Als er sie sofort mit Verharmlosung
immunisieren wollte gegen den Leidandrang aus Richtung Rosa, schrie sie ihn
verzweifelt und bittend an, er solle still sein, sie halte es nicht aus, am liebsten würde
sie jetzt sofort nach München fahren, daß sie Rosa am Bahnhof abholen könnte. Sie
hätte Rosa nicht gehen lassen dürfen. Und wenn Rosa nach München fuhr, hätte sie
sie nicht allein fahren lassen dürfen. Rosa könne, was ihr in der kommenden Woche
angetan werde, nicht allein tragen und ertragen. Aber er habe ja diesen Stöckl ganz
toll gefunden. Mein Gott, mein Gott... Er löschte das Licht. Er hätte wieder gern eine
Wut gehabt gegen sie. Sie hatte die Schutzschicht, die er hatte bilden wollen, daß
man in einer Art Illusionshülle den auferlegten Geschlechtsverkehr hätte ausüben
können, zerrissen. Unheilbar. Als sie bemerkte, daß er ihr beim Entkleiden
zuschaute, hatte sie den ersten Schlag gegen sein Illusionswerk geführt. Am liebsten
hätte er gedacht, sie benutze Rosas Leiden nur, um ihn von sich abhalten zu können.
Gestern abend war es ihm gelungen, eine Wut zu sammeln. Das gelang ihm jetzt
nicht mehr, obwohl er glaubte, 24 Stunden mehr Grund zur Wut zu haben als
gestern. Um fünf Uhr stand er auf, um 5 3/4 war er am Briefkasten und ließ sich von
Herrn Nothhelfer den Brief an Frau Reinhold wiedergeben. Zum Glück hatte er
gestern erst auf dem Heimweg von der Baiten-Mühle ans Einwerfen gedacht, sonst
wäre der Brief weg gewesen und Frau Reinhold hätte Gelegenheit gehabt, sich über
seine Schwächlichkeit verratenden Klagen zu mokieren. Daß Herr Nothhelfer den
Kasteninhalt mit einem Eifer nach dem Zürn-Reinhold-Brief durchsuchte, als könne
er dadurch Dr. Zürn einen schier unendlichen und von dem nie mehr gleichwertig zu
erwidernden Gefallen tun, mußte Gottlieb über sich ergehen lassen. Er bedankte sich
so heftig, wie der es erwartete. In seinem Büro legte er den Brief in die Schublade, in
der er zurückgeholte Briefe aufbewahrte. Er öffnete sie nie. Jetzt hatte er wieder
jenes Triumphempfinden wie vorgestern in Stuttgart, als er es geschafft hatte, Frau
Dr. Leistle ausfallen zu lassen. Etwas, was er angefangen hat, noch rechtzeitig
rückgängig gemacht zu haben, befriedigte ihn tief.
Die für den täglichen Lebensbeginn notwendige Steigerung war durch nichts so leicht
zu produzieren wie durch Schwimmen. Nach zehn Schwimmzügen hätte er über die
Schwierigkeiten, täglich ins Leben zu finden, kaum noch mitreden können. Im
Wasser wurde er immer übermütig bzw. zeitlos. Der Dunst war heute schon dichter.
Die Birnau, ein schlanker Schatten in einer Septemberseide aus Sonne und Dunst.
Auch die Entfernung, eine Seide. Arme Rosa. Wie etwas erlebt werden muß, muß
ihm immer zuerst Anna vormachen. Ohne ihren Anstoß würde er oft überhaupt nicht
teilnehmen. Beim Frühstück zeigte Anna, daß sie nicht mehr an gestern abend
erinnert werden wollte. Sie las die Zeitung, als suche sie etwas. Dreimal unterbrach
sie ihr verbissenes In-die-Zeitung-Starren und teilte ihm durch Vorlesen einiger
Zeilen mit, daß sie schon Kontakt wünsche, aber höchstens den, den man durch
Vorlesen von Zeitungsmeldungen kriegt. Es waren allerdings einschlägige
Meldungen. Dr. Terbohms erste Frau ist tot in ihrer Wohnung gefunden worden; sie
hat offenbar zu essen aufgehört, hat sich verhungern lassen. Dr. Terbohms zweite
Frau ist Surfmeisterin geworden. Judith Reinholds erstes öffentliches Konzert hat in
purer Begeisterung geendet. Anna geriet beim Vorlesen der Konzert-Kritik in den
Jubel, mit dem das Publikum auf den Kritiker gewirkt hatte. Gottlieb hätte diesen alle
Wörter zirkushaft aufzäumenden Hymnus gern ertragen, wenn da Julia oder Magda
gerühmt worden wären. Um den Hymnus zu entwerten, wies er auf die Machart hin.
Ob Anna sich wirklich einem überlassen wolle, der Fräulein Reinhold Schumann-
Anschläge von sinnlich wohliger Schlankheit nachsage? Und wohin ziele er mit der
ungespreizt bravourösen Bescheidenheit? Und das: technische Probleme verwaisen
unter ihren jubilierenden Fingern. Anna, selbst Ex-Meisterschülerin, könne ihm das
sicher erklären. Anna wollte sich ihre helle Freude über Judiths Erfolg nicht trüben
lassen. Sie werde Judith einen Blumenstrauß schicken. Immerhin sei Magda in
Judiths Klasse, sagte Anna, und es gab Zeiten, da waren sie befreundet. Waren,
sagte Gottlieb. Sie werde die Blumen schicken, sagte sie. Gottlieb tat, als gebe er
nach. Vielleicht war es sogar eine gute Idee, das Haus Reinhold mit einem
Blumenstrauß zu beschämen. Das Telephon läutete. Er hatte Angst, es sei Baptist
Rauh, der ankündige, er und seine Frau hätten schon den Flug gebucht. Es war Rudi
W. Eitel. Er sprach langsam, leise und abgehackt, seine Stimme war so tief wie noch
nie. Er ist in einer kleinen Klemme. Hat sich mit so Berlin-Brüdern eingelassen. So'n
Abschreibungsprojekt eben. Ist er schon mal'n paar Wöchel-chen aufm
Mottenkontinent, beteiligt er sich an den Spielchen hier herum, klar?! Hat sich also
anleiern lassen von'm Vetter eines bayerischen Exfmanzministers — du weißt schon
—, die waren zusammen in Stella Maris. Schon'n Projekt mit Substanz, wenn auch
für Rudi W. Eitels Geschmack zu konservativ. Zwar 50 000 Prospekte offsetgedruckt,
aber alles nur am Schalter angeboten. Jetzt sind die eingebrochen. Da war ein
Faulmann drunter. Jetzt heißt es nachschießen, sonst bist du draußen und was du
drin hast, hast du gesehen. Das wäre für ihn im Moment, sagen wir einmal, peinvoll!
Er hat für den Nachschuß alles zusammen, bis eben auf lächerliche 5000. Das ist
doch das Capriziöse; es hängt immer an lächerlichen 5000. Wegen lächerlicher
5000, die du grad nicht hast, aber nächste Woche, wenn es zu spät ist, zehnmal
hast, verlierst du'n ganzes Bein und vielleicht sogar noch 'ne Hüfte dazu. Jetzt hat er
schon viel zu lang geredet. Wegen 5000 redet er hier 'ne halbe Stunde. Echt
Mottenkontinent, wa. Also, Gottlieb kriegt 40% Zins und in einem Monat hat er das
liebe kleine Sümmchen plus Zins zurück. Also, ihm, seinem alten Freund Rudi W.
Eitel, wäre momentan verdammt gelegen an dieser 5ooo-Mark-Bagatelle. Obwohl
Gottlieb, solange der geredet hatte, Zeit genug gehabt hätte, sich eine Antwort zu
überlegen, hatte er, als der aufhörte, keine parat. Er hatte einfach wieder nur
zugehört. Ja, Rudi, Hei-jei-jei, so was Dumm's. Wenn er den Auftrag gekriegt hätte,
Rudi erinnere sich, am Mittwoch im Faulen Pelz hat er ihm davon erzählt, wenn ihm
den nicht Kaltammer weggeschnappt hätte, wie ja Helmut richtig prophezeit habe,
dann hätte er, da er für dieses Projekt inzwischen schon zwei gierige Interessenten
gehabt hätte, Rudi nach einem Satz unterbrochen und hätte gesagt: Rudi komm her,
der Scheck liegt da. So aber, Rudi, was soll er machen, der letzte Abschluß zweiter
achter, ein August ohne Abschluß hinter und ein September ohne Abschluß vor ihm,
Rudi, und vier ganz abhängige Kinder. Okay, sagte Rudi, leise und kurz. Und noch
einmal, lang und leise ausschwingend: Okay. Und hängte auf. Gottlieb hatte das
Gefühl, er sei geohrfeigt worden. Der nächste Anruf dieses Vormittags: Vetter Franz
Hörn teilt mit, daß Thiele einmal geseufzt und einmal geschluckt habe, dann sei er
drüber weg gewesen. Das Mark-dorfer Projekt geht ihm an den Nerv. Thiele läuft
herum mit einem richtigen Entweder-Oder-Gesicht. Man machte aus, einander
wieder einmal zu besuchen. Wie war's denn nächsten Sonntag? Franzens Mutter
feiert am Sonntag den Fünf-undsiebzigsten, da könnten Zürns doch nach Bodnegg
kommen, oder? Die Wigratsweilerer und die Torkelweilerer kommen auch. Ein
bißchen Hochstuben tat' uns allen wieder einmal gut. Man sieht einander so gut wie
nie. Auf einmal haben die Kinder dann keine Verwandten mehr. Gottlieb war froh,
daß man nicht mehr auf das Schwanenhaus zurückgekommen war. Nachmittags
fuhren er und Anna zu Regina. Die Griechin war nicht mehr da. Jutta, das Mädchen
mit den zwei Brüchen, war munter. Regina zog beide Eltern zu sich hin. Flüsternd
mußte sie den Ekel gegen das Gewaltsame abreagieren, das sie erfahren hatte. Sie
verzog ihr Gesicht zu Grimassen, klopfte auf Anna und Gottlieb nervös und innig mit
Fäusten herum. Zuerst das Füllen der Blase mit dem Kontrastmittel. Sie deutete an,
wie sie lag, die Beine angezogen und geschlossen. Wie ihr dann die Beine
auseinandergenommen worden seien. Sie wolle sofort mit! Anna und Gottlieb
müßten gleich mit ihr fortfahren, an die Nordsee und auf die Mainau und in den
Stadtgarten. Es dauerte über zwei Stunden, bis sie Regina so weit hatten, daß sie
dablieb und die Eltern gehen ließ. Daheim unterschrieb er die 41 Briefe, die Frau
Ortwein geschrieben hatte. Draußen sagte im Vorbeigehen in ihrer schwingenden
Langsamkeit Frau Constabler zu Isolde: Du kanns' ruhich am Wasser gehn. Und
Isolde fragte zurück: Gehs' du denn nich am Wasser? Und die Mutter: Du kanns'
ruhich am Wasser gehn, ich geh noch nich einkaufen. Gottlieb durfte eine Sekunde
lang über den Zaun ins Paradies sehen. Beim Abendessen beantwortete Magda
wieder jede Frage mit der Gegenfrage zu was. Julia ärgerte sich offenbar darüber,
daß sie in einer solchen Familie den Abend bzw. das Leben verbringen mußte. Aber
als Gottlieb mit ihr ein Bündnis schließen wollte gegen die Stimmung am Tisch,
lehnte sie ab. Sie saß, aß Trauben, blies die Kerne in die hohle Hand und sagte
Kwwaddsch. Als Gottlieb und Anna neben einander im Dunkel lagen, fiel ihm ein,
daß er sich von dem Mannheimer Ehepaar nicht einmal die Adresse hatte geben
lassen. Für seine Offerten-Kartei. Wahnsinn! Die suchen eine Wohnung hier, melden
sich bei ihm, und er läßt sich nicht einmal die Adresse geben. Unglaublich. Ja, was
denn noch, bitte! Jetzt war auch noch der Name weg. Jetzt konnte er nicht einmal
über die Telephonauskunft an die Adresse kommen. Wie hießen denn die? Das
gibt's doch nicht. Bei seinem Gedächtnis! Er mußte das laut vor sich hinsagen. Anna
war ohnehin noch wach. Er sagte ihr den Grund seiner Unruhe. Das kann 15 000
Mark ausmachen, Anna. Anna sagte, er solle doch einfach den ersten Buchstaben
sagen. Ohne daß er wußte, warum, bildeten seine Lippen unter der ruhigen Kraft von
Annas Aufforderung nach kurzem Tasten ein F. Er hängte probeweise alle fünf
Vokale an das F. Nach dem fünften Vokal sagte Anna genauso ruhig: Fichte. Ja, rief
er, Anna, ja! Ob du's glaubst oder nicht, das stimmt, das ist der Name, Erich Fichte.
Hei-jei-jei, Anna, das war wieder sehr gut von dir. Jetzt tu' doch nicht so, sagte Anna.
Und nach einiger Zeit: Es ist doch deine Schuld, wenn du mich nicht öfter als Medium
benutzt. Er werde jetzt einmal feststellen, wie oft sie das könne, sagte er. Das letzte
Mal hast du es im Juni gekonnt, in München, als wir, auf dem Weg in den Biergarten,
auf der Straße den Krach hatten, weil du immer noch in ein weiteres Geschäft rennen
mußtest, obwohl Regina und ich vor Müdigkeit und Hunger schier umkamen und dir
davonliefen und uns in den Biergarten setzten und aßen und tranken, und du kamst
und kamst nicht, so daß wir schließlich zahlten und auf dem Weg, auf dem wir
gekommen waren, zurückgingen, dich nirgends mehr trafen, aber als wir dann nach
einer weiteren Stunde in den riesigen Biergarten zurückkamen, sitzt du unter 100
Tischen genau an dem Tisch, an dem wir vorher gesessen waren, und nicht auf dem
Stuhl, auf dem Regina, und nicht auf dem, auf dem ich gesessen hatte, sondern auf
dem Stuhl rechts von meinem Stuhl, auf dem du auch gesessen hättest, wenn wir
zusammen hingegangen wären. Sie sagte nichts. Er suchte ihre Schläfe und küßte
sie da hin. Als er sich wieder in sein Bett zurückzog, versuchte sie nicht, ihn
zurückzuhalten. Wenn er mit Anna irgendwohin fuhr, kam er meistens zu spät. Also
auch zur Versteigerung. Gerade, daß sie sich noch über die Schwelle des blauen
Damenzimmers drängen konnten, in dem versteigert wurde. An den Wänden
standen Sofas und Sessel. Gottlieb nötigte Anna, wenn der Auktionator etwas
besonders Interessantes ausrief, auf ein zierliches Sesselchen, damit sie das
Ausgerufene sehe. Einen Posten, Jugendstilschale mit diversem Zeug, Zuckerzange,
Serviettenring etcetera, ersteigerte er für 75 Mark, ohne es genauer zu sehen. Er
wurde sehr schnell gierig. Als er zum ersten Mal den Zuschlag erhalten hatte und
seinen Namen über die Leute hinrufen mußte, drehte sich dicht vor ihnen eine Frau
um und grüßte: es war Frau Schneider. Sie sei mit zwei Freundinnen da, die mit
ihren Familien in Nonnenhorn Ferien machten. Obwohl sie hastig gesprochen hatte,
als spräche sie aus einem abfahrenden Zug, wurde sie von einer Freundin, die
offenbar weggelaufen war, um bei den im Cafe sitzenden Männern weiteres Geld zu
holen, unterbrochen. Da, Suse, sagte die Freundin, 500, das muß reichen. Die dritte,
die der Versteigerung unbeirrbar folgte, zischelte schräg herüber, ohne den Blick von
den vorne vom Auktionator hochgestreckten Appliquen zu nehmen: Des send se, die
hab i in meim Schlafzimmer, die kaasch nehme, die send schö', die andere mit de
Blume send kitschig, abr die net, des send genau die, wo i en meim Schlafzimmer
hab. Frau Schneider steigerte mit, aber sie kriegte die Leuchter nicht. Die Freundin
zischte: Du musch dich wehre, Suse, net so zimperlich. In der Mitte der Menge schrie
ein kleines Kind; Herr Kant, der Auktionator, rief: Könn' Se ihm nich die Brust geben,
daß es still is. Und ohne Atemholen weiter: Vierbahnige Korallenkette, 33, 36, 37, 38,
40, also wenn ich von Mark zu Mark gehe, das könn' Se sich merken, dann will ich
nich' viel, 51 zum ersten, zweiten, und dritten, ein Kreuz, man hat mir gesagt, die
fehlenden Smaragde könn' Se in Pforzheim kriegen, ein Weihwasser-Terracotta plus
Kruzifix-Relief, die Weihwasserschale darunter als Mädchenkopf ausgebildet,
schätze italienisch . . . Eine unverkennbar feste Männerstimme, offenbar aus der
ersten Reihe, korrigierte souverän: Südtirol. Paul Schatz! Gottlieb merkte, wie er
sofort unter den Armen zu schwitzen begann. In der ersten Reihe standen auch ein
paar Antiquitäten-Händler; die kauften das meiste; einer nahm das Südtirolische. Für
110. Und gleich auch die rotgoldene Emailleschale gefüllt mit Mineralien. Für 75. Und
das Postkartenalbum, reichend von 1909 bis 1925. Herr Kant liest Grüße vor aus
Manila, San Francisco, Panamaribo. Für 95. Ein anderer Händler — junger Riese mit
einer bairisch-getönten Mädchenstimme und klassischer Beatlefrisur — nimmt Stöße
alter Bilder — Herr Kant lobt die Rahmen — für 110. Ein Scherenschnitt von
Weißferdl kriegen die Händler nur gegen den Widerstand einer Frau. Als sie
aufgeben muß, sagt sie: Schade, das ist doch mein Onkel. Frau Kant, die er
Jakobine ruft, und eine Mitarbeiterin Olga schleppen aus dem Nebenraum eins ums
andere herbei. Die Teppiche kommen dran. Weil von hinten bemängelt wird, daß
man die zu wenig sehe, steigt vorne ein Mann auf ein Tischchen und läßt sich von
den Frauen die Teppiche reichen und hält sie in die Höhe. Gottlieb hätte bald
gerufen: Eberhärdle. Er war es. Grinsend wie früher an der Tafel, wenn er seine
Formelketten genial hingefuchtelt hatte. Die schwarze fettige Locke hing ihm jetzt
genauso in die runde glänzende Stirn wie damals. Sogar ein paar Pickel hatten sich
erhalten. Er erzielte einen großen Lacherfolg, als er den ersten Teppich, nachdem
der Zuschlag erteilt worden war, umdrehte und so zeigte, daß der Teppich auf der
anderen Seite nur noch ein Lumpen war. Ob der vorher bemerkt hatte, daß der Dr.
Zürn, der die Zuckerzangen etcetera ersteigert hatte, sein Schulfreund Gottlieb war?
Gottlieb genierte sich. Aber Anna war ihm näher. Und Anna wollte etwas mit
heimbringen. Und er auch. Hätte Eberhärdle dafür gesorgt, daß Gottlieb den Auftrag
gekriegt hätte! Hätte er sich nicht entmündigen lassen! Überhaupt, es muß weiterge-
hen! Jetzt sind Zürns dran, liebes Eberhärdle! Damals, als ihr Kammerkonzerte
veranstaltet habt in diesem Haus, sind die Zürns und Ehrles und Völkles und
Krezdorns und andere Verwandtschaften in Rußland und sonstwo verreckt. Und
noch früher, als die Regimentsmusik der Lindauer Garnison hier aufzog zur
Garnierung der Feste dieses Hauses, da dienten sich Gottliebs und Annas Vorfahren
in unbarmherzigen Verhältnissen krumm und krank oder lagen vor Verdun und
blieben dort liegen oder kamen wie sein Vater kaputt zurück. Also nichts für ungut,
Eberhärdle, daß wir dich so ausweiden. Es erinnert dich sicher an Szenen aus
Tierfilmen, in denen man sieht, wie in'der Wildnis viele Kleinere endlich was
Größeres wegputzen und dabei noch untereinander auf das Unanständigste in Streit
geraten. Dieser Streit folgte sozusagen auf dem Fuße. Ein Empire-Stuhl war für 400
Mark an eine Frau Feuerstein gegangen, die nicht selber steigerte, sondern
Schaden-Maier für sich bieten ließ. Der war offenbar ihr Echtheitsberater. Gottlieb
hatte die martialische Stimme sofort erkannt. E,r schien ein Routinier zu sein; er
kriegte alles, was er wollte. Und jedesmal rief er nach dem und zum dritten des
Auktionators für die nachherige Abrechnung: Frau Feuerstein. Dieser Name, den er
immer ganz triumphal ausrief, lautete in Schaden-Maiers Schwäbisch Foierschdein.
Des öfteren überbot er auch Paul Schatz, der sich zwei-, dreimal dafür bedankte, daß
er überboten worden war. Ach ja, die souren Trouben, nicht wahr, rief dann,
tenorschwäbisch, der Schaden-Maier. Aber als dem Schaden-Maier der gewaltige
Empire-Stuhl zugeschlagen wurde, erhob Schatz Einspruch. Er habe den Arm noch
in der Höhe gehabt. Vielleicht hatten Herrn Kant die Schatz-schen Kommentare
geärgert und er hatte das Schatz-Gebot gern übersehen. Aber er hatte sich als
Auktionator offenbar angewöhnen müssen, seine Entscheidungen in Versteige-
rungsfragen für unfehlbar zu halten. Deshalb übersah er Schatzens Protest und
notierte in seine Kladde das triumphal gerufene Frau Feuerstein. Da blieb Paul
Schatz nur noch übrig auszurufen: Wenigstens ist er nicht echt. Jetzt mußte Kant
sich stellen. Er rief: Auf jeden Fall 19. Jahrhundert, legen Sie mich nicht fest auf
1820. Paul Schatz, der sich offenbar gern auf diesem thronartigen Stuhl gesehen
hätte, zu Schaden-Maier: Ich nahm' ihn trotzdem. Darauf Schaden-Maier:
Vierhundertundfünfzig! Gekauft, sagte Schatz. Jetzt mischte sich Frau Feuerstein ein
und rief empört: Ich hab drei Wohnungen, gelletse. Großes Gelächter. Das ertrug
Frau Feuerstein nicht. Herr Maier sei von ihr nur zum Kauf, nicht aber zum Verkauf
ermächtigt. Sie hatte keinen Sinn für den Triumph, den der Schaden-Maier gerade
über Paul Schatz erzielt hatte, als der etwas aus Schaden-Maiers Hand erwerben
mußte, was er, als er es gegen ihn erwerben wollte, nicht gekriegt hatte. Jetzt konnte
Paul Schatz agieren: Bitte, wenn Herr Maier seine Kompetenz überschritten hat, ist
er gerne bereit, der gnädigen Frau den Stuhl wieder zurückzugeben. Der Schaden-
Maier rief: Nur über meine Leiche. Dann redete er auf Frau Feuerstein ein. Sie sah
man nicht, weil sie in der ersten Reihe saß. Dieser Stuhl sei so sicher nur eine
Empire-Nachahmung aus altdeutschem Geist, wie er ein Urenkel Uhlands sei. Er rate
dringend, Herrn Schatz im Besitz dieser Fälschung zu lassen und die 50 Mark
Reingewinn zu kassieren. Herr Kant beendete das Gezerfe, indem er eine Louis-
XVI.-Kommode, beschädigt, für 2400 ausrief. Jetzt revanchierte sich Schatz. Er gab
dem Schaden-Maier keine Chance. Der Antik-Schrank, Hartholz, mit Einlegearbeiten
ging, für 15 000, auch an ihn. Der Bauernschrank mit Altbemalung, für 3000, ging an
den schönen Pilzkopf. Ein Louis-XVI.-Stuhl, für 750, an Paul Schatz. Der Schaden-
Maier bot zwar immer mit, aber Paul Schatz kriegte den Zuschlag. Der Schaden-
Maier stieß dann schrill Hohnlaute aus. Jetzt langt'r aabr nei, gelletse, rief er und alle
lachten. Vorne eine strenge Stimme zu Paul Schatz: Sie müssen aber auch alles
haben. Ich hab auch drei geschiedene Frauen, rief Paul Schatz fröhlich und hatte
damit den größten Lacherfolg. Die Leute glaubten wahrscheinlich, da sie nicht
wußten, daß Paul Schatz wirklich zum vierten Mal verheiratet war, er wolle Frau
Feuerstein mit ihren drei Wohnungen parodieren. Jetzt kamen die Lampen dran.
Gottlieb hob Anna sofort wieder auf das Sesselchen. Einen Barockleuchter, für 390,
kriegte er. Zwei kleine Lampen auf Biedermeier-Sockeln, für 200, kriegte er auch.
Zwei Lampen aus Alabaster nahm ihm der Händler mit der Mädchenstimme ab.
Dann kam eine Jugendstil-Lampe. Hauptsächlich eine nackte, ekstatisch gebogene
Frauenfigur, die den flachen Lampenschirm auf ihren Händen trägt. Sie streckt und
biegt den Kopf ganz nach hinten, dadurch soll die Hingabe, mit der sie die Lampe
darbietet, rasant wirken. Gottlieb stieg sofort wieder ein. Da er schon mehrere
Kerzenständer, Appliquen und Lampen ersteigert hatte, schaute Herr Kant zu
Gottlieb her. Er konnte einen ja, wenn er wollte, auch übersehen. Gottlieb sah, daß
Anna diese Lampe wollte. Solche Frauen liegen ihr, dachte Gottlieb,
Jugendstilfrauen. Aber vielleicht waren die gar nicht so. Ganz sicher waren die nicht
so. Aber man hatte damals Sehnsucht nach solchen Frauen. Oder nur damals wagte
man zu gestehen, wie man sich eine Frau wünscht. Ach nein. Man gesteht das heute
auch. Damals kam die nicht enden könnende Innigkeit heraus. Da man annehmen
muß, daß Frauenbilder mit Frauen fast nichts, aber viel mit den sie entwerfenden
Männern zu tun haben, war ihm der Jugenstil-mann lieber als der jetzige. Er hoffte, er
wäre damals besser weggekommen. Ab tausend Mark bot außer Paul Schatz und
Gottlieb Zürn niemand mehr mit. Sie rasten die Zahlentreppe hinauf, die Herr Kant
ihnen durch flinke Zurufe schuf. Bei 1500 spürte Gottlieb Annas Hand an seiner
Schulter. Aber er konnte nicht halten. Er hatte das Gefühl, die Lampenfigur erwarte
von ihm, daß er sie nicht in die Hände von Paul Schatz fallen lasse. Bei 2000 boxte
ihn Anna in die Schulter. Bei 2500 zwickte sie ihn und zwickte ihn immer fester, bis
er, weil ihm plötzlich klar wurde, daß Paul Schatz es bis zu Gottliebs Vernichtung
treiben konnte, die Hand bei 2950 fallen ließ; das Publikum atmete aus. Paul Schatz
sagte Herrn Kant rituell seinen Namen. Jakobine trug die Jugendstilfrau zu dem, was
Schatz schon ersteigert hatte. Der Schaden-Maier rief über alle Köpfe zurück: Gut
gemacht, Gottlieb! Gratuliere! Und weil er mit seinem Tenor plus Schwäbisch plus
Temperament auch in den kürzesten Satz etwas spielerisch Martialisches brachte,
lachten die Leute wieder. Paul Schatz war der Sieger, aber jetzt auch der Blamierte.
Da der Schaden-Maier sich auf dieser Auktion schon als Kenner eingeführt hatte,
konnte sein Zuruf nur bedeuten, Gottlieb habe Paul Schatz mutwillig hochgetrieben
und sei dann wie beim Poker rechtzeitig ausgestiegen, so daß Paul Schatz die
Lampe viel zu teuer zahlen mußte. Gottlieb war das nicht recht. Jetzt hatte er nicht
nur die Lampe nicht, sondern hatte auch noch Paul Schatzens Zorn erregt. Wenn der
glaubte, Gottlieb habe ihn mutwillig hereingelegt, mußte er wütend sein. Gottlieb
hätte auf Schaden-Maiers Zuruf sofort antworten müssen, daß er die Lampe wirklich
gern gehabt hätte. Aber die Antwort hätte auch irgendeinen Witz enthalten müssen.
Und so was fiel ihm vor so vielen Leuten nicht sofort ein, deshalb sagte er lieber
nichts. Dieser Schaden-Maier! So was von einem Depp! Hatte der ihn schon wieder
in eine Position gegen Schatz geschubst. Und er, der Depp aller Deppen, hatte sich
schubsen lassen. Vorne sagte Kants Stimme ein Bild von David Teniers an. Wir
sehen ein Bild, sagte Kant, frühes 17. Jahrhundert, Felslandschaft mit Wolken, im
Hintergrund Schafe mit einem Hirten, im Mittelgrund eine Zigeunerin, die einem
Landmann aus der Hand liest, hoffentlich was Schönes, 15 000. Das kriegte ein
Händler so prompt, daß es aussah wie Schiebung. Jakobine und Olga schleppten
schon das nächste Bild herein. Im Prunkrahmen, fast in Lebensgröße, Frau Bansin.
Nackte Schultern, ein blaßrotes Kleid, vielleicht Batist. Eberhärdle hatte seine runde
Stirn von ihr. Ein Bein — das Bild reichte nicht ganz bis zu den Knien - hatte sie
vorgestellt. Dies und der maßnehmende Blick und die Lippen, die schon die
kreuzschnabelartige Schürzung zeigten, die später aussah, als wollten Ober- und
Unterlippe an einander vorbei, gaben Frau Bansin ein brillantes,
unternehmungslustiges Aussehen. Herr Kant murmelte kurz herunter, das sei die
Dame des Hauses, Maler Fiete von Loßwitz, 110 sind geboten — und blitzschnell,
also ununterbrechbar — zum erstenzweitenunddritten. Und sagte auch selber den
Namen dazu: Berta Fiegle. Jakobine und Olga hatten das Bild schon weggestellt und
trugen zwei Pelzmäntel herein. Einen Nerz und einen Persianer. Aber bevor Herr
Kant seine Zahlen anlaufen lassen konnte, sagte vorne Frau Feuerstein: Noi, des
duom'r it. Jetzt lond doch dera arme Frau au no ebbes. Jene nach strengem
Beamten klingende Stimme darauf: Sie sind eine dumme Schwätzerin. Herr Kant
hatte schon wieder Luft geholt, da fuhr Paul Schatz dazwischen. Schon im ersten
Satz kam fürwahr vor. Er machte sich Frau Feuersteins Einwand ganz zu eigen.
Nicht um Frau Feuerstein zu flattieren — sie habe zwar so viele Wohnungen wie er
geschiedene Frauen —, nein, er denke an Frau Bansin, die er nur vom Hörensagen
kenne, deren Schicksale ihm zu Herzen gingen. Er habe gehört, daß Frau Bansin
ihre letzten Jahre im Allgäu verbringen werde, was, außer Spazierengehen, könnte
sie dort tun? Und acht Monate sei es dort kalt. Also würde ihr, wer ihr die Mäntel
nähme, das einzige nehmen, was dort das Leben noch lebenswert mache. Beifall.
Paul Schatz war der Held. Herr Kant sagte: Ick will ihr nischt Böses nich zufüjen.
Eberhärdle trug die Mäntel seiner Mutter ins Nebenzimmer zurück. Dabei rief er: Wie
ich meine Mutter kenne, wäre ihr Geld lieber gewesen, aber bitte. Einige lachten.
Um ein Uhr hörte Kant auf. In einer Stunde gehe es weiter. Gottlieb drängte sich
durch die Hinausströmenden, vermied den Schaden-Maier und Paul Schatz und lud
Eberhärdle zum Mittagessen ein. Der freute sich über's ganze Gesicht, als er Gottlieb
sah. Er sprach das Honoratiorenschwäbisch seiner Mutter. Sein pommerscher Vater
hatte sich lautlich nicht ausgewirkt. Er holte seinen Basset, der im Nebenzimmer auf
einem seidigen Kissen lag. Auf dem Weg fragte Gottlieb, wie Eberhärdle mit der
Versteigerung zufrieden sei. Eberhärdle blieb stehen, drehte sich ganz zu Gottlieb
und sagte, er sei glücklich, weil alles ein ganz offener Schwindel sei. Der Auktionator
versuche zum Glück nicht, so zu tun, als sei es eine Versteigerung. Es sei ja sowieso
nur noch das, was die Banken und Rechtsanwälte dem Pöbel übriggelassen hätten.
Und jetzt so zu tun, als werde ernsthaft versteigert, hätte er degoutant gefunden.
Diese lustige Verschleuderung dagegen finde er gut. Am besten sei doch gewesen,
wie dieser Kant Berta das Bild der Mutter zugeschanzt habe. Dieser Kant habe
einfach Sinn für Pointen. Gottlieb kenne doch Berta noch, Berta Fiegle, die über 30
Jahre Köchin war im Haus und die über 30 Jahre lang gesagt habe, sie halte es bei
Frau Bansin keine Woche länger aus. Und jetzt gibt sie 110 Mark für das Bild ihrer
Quälerin aus. Seine Mutter sei für das Küchenpersonal ein Horror gewesen, weil sie
vom Kochen überhaupt nichts verstanden, aber, um das zu kaschieren, um so
impertinenter dreingeredet habe. Aber Anna, wie denn das komme, daß Anna noch
ausseh' wie früher. Er kapiere das nicht. Einerseits sehe sie noch aus wie damals,
als Eberhard und sie zum selben Klavierlehrer gegangen seien und Eberhard immer
eine halbe Stunde früher gekommen sei, um noch zu hören, wie Meister Eisele mit
seiner Lieblingsschülerin vierhändig spiele, andererseits sei seitdem unleugbar Zeit
vergangen. Anna sagte, das könne sie ihn genausogut fragen, da er immer noch
aussehe, als müsse er sich jetzt bald zum ersten Mal rasieren. Gottlieb sagte, er
habe Anna auch nur durch das Aneinandervorbeigehen und Nichtgrüßen im
dunkelgrünen Gang zur Tür des Unterrichtszimmers kennengelernt. Eberhard war
offenbar schrecklich überrascht worden, als er dann Anna mit Gottlieb im Theater in
Lindau gesehen hatte. Sofort habe er aufgegeben. Er habe von diesem Tag an das
Gefühl gehabt, er müsse zu Gottlieb furchtbar nett sein, dann werde der sicher bei
Anna gut über ihn reden, dann werde Anna ihn dafür auch ein bißchen lieber mögen.
Gottlieb mußte, da die Stunde fast vorbei war, ganz direkt fragen, ob Eberhard eine
Chance sehe für Gottlieb. Eberhard merkte, warum Gottlieb ihn zum Essen
eingeladen hatte. Gottlieb mußte also sagen: Glaub nicht, ich hätte dich deshalb zum
Essen eingeladen, es fiel mir nur jetzt gerade ein, dich zu fragen, wie du mit Tante
Hortense stehst. Die hat doch jetzt alles in der Hand. Eberhard sagte, alles in der
Hand hätten die Rechtsanwälte, und die gäben dem alles, der sie am meisten
schmiere. Das ist ja klar, sagte er dann so, als sei das das Vernünftigste. Weil
Gottlieb erstaunt schaute, sagte er, das sei doch egal, wer jetzt den Haufen Geld
bekomme, das Finanzamt, die Banken, die Leistles oder die Rechtsanwälte, wichtig
sei nur, daß viel bezahlt werde, weil nur dadurch das ganze Anwesen seine Würde
wiedergewinne. Die, die das Geld letzten Endes in Empfang zu nehmen hätten, seien
eher die Opfer als die Nutznießer dieses Prozesses. Die müßten sich, um den hohen
Wert dieses Anwesens zur Erscheinung zu bringen, als Habgierige gerieren.
Vielleicht seien sie es auch geworden. Die Rechtsanwälte sicher. Die seien am
bedauernswertesten, die Rechtsanwälte. Die fräßen sich krank an diesem Handel,
keiner von denen könne sich moralisch je wieder davon erholen. Es sieht aus wie ein
Glück, wirkt wie eine Krankheit, ist aber eine Auszeichnung. Sie sind auserwählt,
unsere Ehre wiederherzustellen. Daß das in dieser Gesellschaft über den Preis läuft,
fordert eben seine Opfer. Gottlieb fragte, wie er zu Tante Hortense stehe. Die sei seit
vorgestern hier, habe er von Herrn Dummler erfahren. Wo sie wohne? Er habe nicht
gefragt. Aber sie komme, laut Dummler, täglich her, und zwar mit einem Motorboot.
Er wolle sie nicht sehen, sie ihn auch nicht. Sie sei ja auch ein Opfer. Er sei
sozusagen auf ihre moralischen Kosten fein heraus. Er könne leicht sagen: seht her,
meine Hände bleiben rein. Aber sie und die Rechtsanwälte müßten sich beschmut-
zen. Ärgernis muß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt.
Wenn George, der Basset, nicht unruhig geworden wäre, wären sie wahrscheinlich
überhaupt nicht mehr weggekommen. Zu spät waren sie ohnehin dran. Eberhard
drängte sich rücksichtslos durch die Leute durch, dabei rief er unter ungeheuren
Armbewegungen ein ums andere Mal: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des
Hauses, sein Lieblingstier und seine letzten Freunde. Gottlieb und Anna war das
peinlich. Sie blieben stehen. Aber Eberhard drängte sich wieder nach hinten durch,
rief: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des Hauses holt seine Freunde. Dann
wieder in der Gegenrichtung: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des Hauses,
sein Lieblingstier und seine letzten Freunde. So peinlich es war, Gottlieb und Anna
mußten folgen, sonst hätte sich Eberhard noch mehr erregt. Erregt war er, das spürte
jeder; auf eine furchtbare und unverständliche Weise erregt. Vielleicht wie ein Kind,
das ein Holzschwert schwingt und Herodes spielt und gänzlich vergißt, daß es ein
Kind ist. Anna und Gottlieb kamen bis in die erste Reihe. Gottlieb wagte Paul Schatz
nur mit ein bißchen Kopfnicken zu grüßen, aber der streckte sofort die Hand her,
drückte Annas Hand, Gottliebs Hand, lachte, als habe man sich hier zu einer lustigen
Verschwörung getroffen. Gottlieb war sofort wieder hingerissen von diesem Mann.
Was für ein Kerl. Diese Gesichtsfestigkeit. Wie Nase und Kinn einen Schwung
anstreben, der so zwingend ist, daß man andauernd an die Stelle starren müßte, wo
sie sich eigentlich treffen sollten. Dieser Mann ist großzügig. Der läßt sich doch nicht
von einem bleichen, schwitzenden und dröhnenden Schaden-Maier provozieren.
Braungebrannt und gut gelaunt stand Schatz in seinem altmodisch
blauweißgestreiften Anzug, zu dem er eine blaßblaue Weste trug. Der Anzug schien
gemacht, um an Matrosenanzüge der Kindheit zu erinnern. Gottlieb mußte sich
beherrschen, sonst hätte er unentwegt Paul Schatz angestarrt. Der sah doch wirklich
selber schon aus wie ein Kunstwerk. Wenn ein Kunstwerk etwas ist, wo eine Partie
die andere steigert. Der war doch nicht krank. Niemals. Der hätte sich den Flug nach
Wien sparen können. Wahrscheinlich wieder nur so ein Gerücht. Das gehörte auch
zu ihm. Auf Schritt und Tritt — wo er hintrat, sozusagen — sprießten die Gerüchte.
Das war einfach seine Fruchtbarkeit. Gottlieb war jetzt doch froh, durch die Sohn-
des-Hauses-Fanfare in diesem Versteigerungspublikum eine Art Ansehen
bekommen zu haben. Gottlieb und Anna boten am Nachmittag nicht mehr mit. Die
drei Händler, der Schaden-Maier für Frau Feuerstein und Paul Schatz für seine drei
Frauen, steigerten das meiste. Als Paul Schatz gegen den mädchenhaften Händler
ein kleines Elfenbeinding ersteigert hatte, von dem Herr Kant gesagt hatte, es sei ein
erotisches Netsuke in Form einer Frucht — eine ovale Öffnung biete Einblick in das
Innere mit kopulierendem Paar—, da sagte der beamtenhaft Strenge in der ersten
Reihe: Das ist aber für die vierte Frau.
Als man bezahlt hatte und alle ihre Beute zu den Autos schleppten, kam es noch zu
Bereinigungen. Frau Feuerstein beschimpfte Schaden-Maier, weil er nur einen der
beiden weißen Lehnstühle mit roter Polsterung erworben hatte. Schaden-Maier
sagte, die Lehne des anderen habe einen Sprung gehabt. Sie will ihn trotzdem.
Schaden-Maier rannte der jungen Frau nach, die den Stuhl gerade verlud. Er deutete
auf den Sprung, redete, zahlte, brachte den Stuhl. Die junge Frau hatte jetzt nichts
mehr. Frau Feuerstein war selig. Sie umarmte Schaden-Maier. Das sah gefährlich
aus, weil sie mindestens fünfundsiebzig war und, total abgemagert, am Stock gehen
mußte, offenbar eines Holzbeines wegen. Sie trug eine weiße Hose und um den
fleckigen Hals aus leerer Haut eine lange schlangenleibartige Goldkette. Ihre künstli-
chen Zähne standen, weil ihre Kiefer vorgewölbt waren, vor dem Gesicht. Homerisch,
dachte Gottlieb. Der Schaden-Maier machte sie mit Zürns bekannt. Als sie hörte, daß
Gottlieb Makler sei, sagte sie: Nei, nei, nix da, i hab' Woh-nunge g'nug, komme Se,
Maier, mir misse fahre. Der Schaden-Maier warf Gottlieb einen um Verständnis
werbenden Blick zu und rief noch, der Barockleuchter, den Gottlieb gekauft habe, sei
echt, alle anderen seien Imitationen. Gottlieb tat, als sei das wohl klar. Eine der
Freundinnen von Frau Schneider schimpfte laut auf Herrn Kant, weil er keinen
Tesafilm hatte, mit dem sie die losen Delfter Kacheln für den Transport auf den
Couchtisch kleben konnte. Herr Kant wunderte sich darüber, daß jemand erwartete,
ein Auktionator habe Tesafilm dabei. Er sagte, ein dickes Bündel Blätter
schwenkend, er werde sich jetzt 14 Tage mit diesen Papieren an die Ostsee
begeben, daß er wieder klar komme. Los, Olga, auf, Jakobine! Etz luag bloß dän
Schnalletrieber aa, sagte Jakobine und nahm die Stahlkassette an die Brust. Er
nahm das Papierbündel, Olga den kleinen goldenen Reisewecker von 1926, den er
ihr in einem Satz, ohne ein Gegengebot zuzulassen, für 70 Mark zugeschlagen hatte.
Wenn man die Leute mit ihren Bildern, Stühlen, Ministrantenglöckchen, Altardecken,
Tempelhunden, Teppichen, Sofas, Kommoden usw. vorbeihasten sah, wußte man,
daß in der Nähe ein Unglück geschehen sein mußte. Zürns hatten ergattert 3
Lampen, 4 Appliquen, 2 Sesselchen, 2 Beistelltischchen, 1 Stuhl, 1 Schöpflöffel, 1
Schale mit silbernem Zeug drin, 1 Schweinslederkoffer, 1 Früchtekörbchen aus
Porzellan (leicht beschädigt). Alles zusammen 2110. Als sie im Auto tatsächlich alles
untergebracht hatten, starrten die Stuhl- und Tischbeine links und rechts aus den
Fenstern, sie würden kaum mehr hineinkommen. Sie hatten sich an einem Raubzug
beteiligt, das spürte er. Aber als, zum Beispiel, die Wikinger oder die Engländer ihre
Raubzüge veranstalteten, fühlten sie sich auch im Recht. Er war auch im Recht. Aber
ja. Das einzige, was ihm leid tat, daß er nicht noch viel mehr ersteigert hatte. Er war
gespannt, ob er die nackte Frau, die den Kopf nach hinten biegt und die Lampe
herstreckt, je vergessen werde. Als sie schon fast alles verladen hatten, kam noch
Dionys Dummler mit dem jetzt ganz ihm anvertrauten Bubi. Er zog ihn an einem
Strick mit sich. Schee sind die Sacha scho, sagte Dionys, wemma bloß wüßt, wo
ma's na-stelle sollt. Gottlieb hatte ihm wie immer die Plastiktüten mit den zwei
Flaschen überreicht. Also Gottlieb, des war' doch nicht nötig g'wese. Gottlieb fragte:
Wie geht's dem Schwan? Dionys sagte, jetzt hab' er schon zwei, der zweite sei
braver, den hab' es bös' erwischt, der sei in eine Schiffsschraube gekommen. Aber
ob es Gottlieb glaub' oder nicht, seit der so elend bei dem Wildling drinliege, sei der
Wildling bloß noch halb so wild. Gottlieb erinnerte Dionys noch einmal daran, daß er
morgen vormittag komme. Er ging ganz nah zu Dionys hin und sagte leise: Ich muß
wissen, was die da kuppeln, Dionys, verstehst du das. Dionys sagte: Gottlieb, da gibt
es nix, auf mich kannst du dich verlassen. Im Hinausfahren überholte er Berta Fiegle,
die mit einer noch älteren Frau das Ölbild fortschleppte. Auf der Dorfstraße fuhr vor
ihnen Schatzens dunkelblauer Dreihunderter; am Steuer, Oswin, der auch aus dem
Balkan stammende Schatz-Chauffeur. Ob die die Jugendstildame gleich
mitgenommen hatten? Dem Dreihunderter sah man nicht an, woher er kam. Als sie
die ewig überfüllte Bundesstraße erreichten, sah Gottlieb, daß in der vorbeirasenden
Autokette, bis sie an der Einmündung sein würden, eine Lücke zu erwarten war, die
man nutzen mußte. 100 Meter weiter näherte sich schon der nächste Pulk, der einen
wieder zum Warten zwingen würde. Also behielt er den heranrasenden Pulk im Auge
und drückte das Gaspedal durch, um hinter dem Schatz-Auto auch noch von dieser
Lücke zu profitieren. Aber Oswin, bekannt als Gemütsmensch, hatte anders
entschieden. Gottlieb fuhr ungemildert auf den Dreihunderter drauf. Das schwere
Schatz-Auto wurde zwei Meter in die Bundesstraße hineingestoßen. Aber die Lücke
war wirklich so groß gewesen, daß der nächste Pulk sich noch ganz auf dieses
Verkehrshindernis einstellen konnte. Vorne passierte also nichts mehr. Gottlieb ließ
seinen Kopf sinken. Er wollte sich jetzt endgültig nie mehr bewegen. Er spürte eine
Tischkante im Nacken. Anna hing unter einem Stuhl. Da Anna und Gottlieb
angeschnallt waren, waren die Möbel auf sie aufgeprallt. Gehört hatte er nichts. War
er bewußtlos gewesen? So ein Aufprall konnte doch nicht lautlos vor sich gehen. Er
sah Oswin und Paul Schatz herankommen. Beide schienen heiter zu sein. Der
Kofferraumdeckel des Dreihunderters war aufgesprungen. Paul Schatz schaute
hinein und holte Teile der Jugendstilfrau heraus. Er brachte einen Torso mit
zurückgebogenem Kopf und einem ausgestreckten Arm, an dem die Hand fehlte. Der
Leib war in der Taille gebrochen. Jetzt können wir uns die Schöne teilen, sagte er
und reichte Gottlieb die Hälfte. Gottlieb dachte an den Schatz-Satz, daß man aus
Frau Reinhold zwei Wagner-Sängerinnen machen könne. Es war, als wolle Schatz
ihn beschämen. Gottlieb konnte überhaupt nicht reagieren. Er nahm alles bloß wahr.
Schatz sah, daß es offenbar Zürns nicht so gutging wie ihm und Oswin. Er winkte
Oswin her. Sie öffneten die Türen an Zürns Auto und halfen Gottlieb und Anna aus
den Möbeln. Oswin holte sein Unfall-Dreieck und stellte es hinter Zürns Auto auf die
Straße.
Gottlieb konnte nur immer Paul Schatz und Oswin anschauen. Ein paar Mal deutete
er auf die Bundesstraße, auf die Einfahrt, auf die zwei kaputten Autos. Er wollte
sagen: Oswin, Herr Schatz, da wäre doch soviel Gelegenheit zum Einbiegen
gewesen, warum sind Sie denn nicht... Er sah, daß aus seinem Auto das Kühlwasser
ausgelaufen war. Er wollte sehen, wieviel da drin kaputt war. Als er unter die
zerbeulte Kühlerhaube griff, um die Sperre zu lösen, griff er voll in eine Schneide.
Seine Hand blutete heftig. Sobald Anna Gottliebs Blut sah, schien sie wieder zu
erwachen. Oswin holte in seinem Kofferraum Verbandszeug. Anna verband Gottlieb
die zwei zerschnittenen Finger. Gottlieb ging in eines der neuen Häuser in der Nähe.
Da wohnten — darauf zählte er — Leute, die zu seiner Zeit noch nicht in Mitten
gewohnt hatten, ihn also nicht kannten. Er bat, den Abschleppdienst anrufen zu
dürfen. Der Mann, in ledernen Bundhosen, dressierte neben dem Haus einen jungen
Schäferhund, der, ungehorsam wie er noch war, Gottlieb anfiel. Gottlieb wehrte sich
nicht. Der Mann schaute zu, wie weit es sein Hund treiben wollte. Dann brüllte er ihn
an, daß der Hund sofort den Boden suchte. Als Gottlieb zurückkam, hatte Paul
Schatz mit Anna besprochen, daß Anna und Gottlieb mit ihm führen. Der
Dreihunderter hatte zwar ein eingeknicktes Heck, aber er fuhr noch. Die
Schadensregulierung überlassen wir unseren Büros, sagte Schatz. Hauptsache, wir
sind heil. Gottlieb weigerte sich, sein Auto zu verlassen. Er konnte nur abwinken, den
Kopf schütteln. Zuletzt begnügte sich Paul Schatz mit Anna. Er würde sie zu Regina
bringen, etwas in Friedrichshafen erledigen und sie dann mit nach Überlingen
nehmen. Gottlieb war froh, als die fort waren. Paul Schatzens Freundlichkeit und
Hilfsbereitschaft peinigten ihn. Er hätte weinen können vor Unglücksglück.
Endlich kam Rupert Schobloch, der Gottlieb schon vor zwei Jahren abgeschleppt
hatte. So, Herr Doktor, haben Sie jetzt wenigstens eine Kasko? Gottlieb schüttelte
den Kopf. Schobloch sagte: Sie sind mir einer. 7000 sind das auch diesmal. Gottlieb
sagte: Niemals! Das bißchen Blech! Schobloch hob schwörend beide Hände und rief
wie in großem Schmerz: Oh-je-oh-je! Ihm fehlten Finger an beiden Händen, auch
konnte er nur mühsam gehen, weil ihm bei seinem Unfall ein Hüftgelenk
zerschmettert worden war. Mit seinem Unfall tröstete er jeden, den er abschleppte.
Er hängte Gottliebs Auto an den Haken, drückte den Knopf eines Schalters, den er
an einem langen Kabel im weiten Umkreis mit sich nehmen konnte, dann zog sein
Schlepper Gottliebs Auto langsam heran und lud es sich auf. Schobloch überwachte,
prüfte, korrigierte. Gottlieb nahm Platz neben ihm. Man konnte fahren. Gottlieb hätte
am liebsten gekichert, weil er schon wieder neben dem Fergen im
Kadaverbeseitigungsroboter saß. Eroica gekichert hätte er gern. Der Abend bei
Reinholds war auf jeden Fall abgespielt jetzt. Von diesem Augenblick an würde die
Unfallplatte laufen, bis ... auf weiteres. Wie leicht waren, von jetzt aus gesehen, 8811
Mark zu verschmerzen gewesen. Kurz nach Friedrichshafen kreischte der
Sprechfunk. Schoblochs Frau meldete, wo in Hagnau ein Unfallfahrzeug liege.
Schobloch sagte, er sei in wenigen Minuten dort. Dieses zweite Auto hängte er sich
so hinten an einen Haken, daß es noch auf zwei Rädern mitfuhr. Der Fahrer dieses
Autos war schon im Krankenhaus. Da sehen Sie, was Sie für ein Schwein haben, rief
Schobloch. Schobloch fuhr bei Zürns vorbei, daß Gottlieb alles ausladen konnte,
dann fuhren sie zu den zwei Garagen, die demolierten Autos loszuwerden, dann zu
Schobloch. Rupert Schobloch redete, wie vor zwei Jahren, ununterbrochen von dem
Arrangement, das er bieten könne, weil er weit und breit der einzige sei, der zwei
Wagen draufnehmen könne, also die Kosten dem berechnen, für den die
Versicherung zahle, vorausgesetzt, man nehme den Mietwagen von ihm. Als Gottlieb
mit dem Mietauto heimkam, konnte er die Schwanenhaus-Beute besichtigen. Nichts
war so zerstört wie die nackte Lampenfrau. Daß Schatz sofort daran gedacht hatte,
ihm die Hälfte zu geben! Er legte das Stück nackte Frau auf das steinerne
Fenstersims vor seinem Schreibtisch. So hatte er das Innigkeitsfragment immer vor
Augen. Jedesmal würde er an Paul Schatz denken. Der Unfallaugenblick hatte sich
eingebrannt. Für immer sozusagen schaute Gottlieb jetzt auf die Bundesstraße
hinaus, sah in 70 oder 100 m Entfernung den nächsten Pulk herrasen, gab Gas und
hing im Gurt, aus dem Kühler stieg dünner Rauch. 7000, sagte der Fachmann
Schobloch. 7000 plus 8811 ist gleich 15 811, von Samstag bis Dienstag. Und er hatte
Rosa anbrüllen wollen wegen des Parkplatzkratzers. Warum schlug ihn niemand?!
Anna kam erst zwei Stunden später. Schatz läßt noch einmal grüßen. Der Unfall
habe ihm gezeigt, daß man viel zu wenig Kontakt habe miteinander. Er verstehe
Gottliebs Auffahren als einen Wink des Schicksals, den er, schicksalshörig wie er sei,
nicht ohne positive Antwort lassen wolle. So, sagte Gottlieb.
Regina, sagte Anna, wie die da drin liegt. Ganz gefleckt. Sie hat sich wieder
übergeben. Die Ärztin hat zu ihr gesagt, sie soll nicht so faul im Bett liegen, sondern
aufstehen. Sie hat geheult. Auf ihrem Zeichenblock habe sie ein frisches Grab
gemalt. Mit Holzkreuz. Und Kranz. Vor der untergehenden Sonne. Und auf einer
Kranzschleife steht ihr Name. Maria oder Mary? Mary, sagte Anna. Dann ist es nicht
so schlimm, sagte Gottlieb. Anna hatte auch geheult, das sah man. Sie hatten
einander wieder hineingesteigert. Aber diesmal hatte Regina nichts durch Lachen
beendet. Anna sagte, länger als bis Freitag lasse sie Regina nicht da drin. Abends
rief Rosa an. Sie hat einen Kliniktermin. Am nächsten Montag. Gottliebs Kopf fuhr jäh
in die Höhe, so leicht war er auf einmal. Anna sagte, ihr Nacken fühle sich an, als
habe sie heißes Blei drin. Sie könne den Kopf nicht mehr bewegen. Gottlieb hatte
den Eindruck, das Leben tobe.

5.
Wenn etwas nichts ist, ist alles nichts. Er hatte ganz sicher gewußt, warum dieser
Satz, mit dem er aufgewacht war, stimmte. Jetzt sah er, daß er nie mehr auf den
Punkt zurückkommen konnte, von dem aus dieser Satz unangreifbar schien.
Anna lag wieder auf dem Rücken und starrte zur Decke. Bald wie Magda. Anna hatte
wieder so gut wie überhaupt nicht geschlafen. Sie hatte sich Umschläge gemacht.
Der Schmerz im Nacken und Hinterkopf hatte dann nachgelassen. Gottlieb ging aus
dem Zimmer, als habe er darin gerade ein Verbrechen begangen. Ganz langsam ließ
er sich ins herbstliche Wasser.
Zum ersten Mal seit Monaten fehlte an diesem Mittwoch in seinem Inserat die Mühle.
Frau Sonntag bemerkte es. Ihre Lippen flutschten von den Zähnen. Sie trug heute
eine solide dunkelgrüne Bluse, die am Hals dicht schloß, war also für Gottlieb völlig
uninteressant. Andererseits freute er sich, daß sie durch ihre Kleidung genau dem
Hauch von Herbstannäherung, den man selber spürte, Ausdruck gab. Die Bluse von
letzter Woche wäre jetzt grotesk gewesen. Daß sie ihm zum Verkauf der Mühle
gratulierte, gab ihm vollends das Gefühl, aufgenommen zu sein in einen
Zusammenhang. Leider traute er sich nicht zu fragen, ob das Schwanenhaus bei JFK
wieder drin sei oder ob es jetzt gar bei Schatz glänze. Er hatte, als Neuestes, eine
ehemalige Hopfenhalle in Meckenbeuren anzubieten. Nicht mehr ganz frisch der
Bau, aber 923 qm Lagerraum auf drei Ebenen. Er schob sein Rad langsam in
Richtung Friseur. Es stand nichts mehr bevor, wobei ihn die Frischgeschorenheit
gestört hätte. Als er zehn und zwölf Jahre alt gewesen war, hätte er sich in den
Tagen nach dem Friseur am liebsten nur unter der Bettdecke aufgehalten. Er ging
jetzt zum Friseur, um sich zu beweisen, daß er nicht mehr auf ein Gespräch mit Frau
Dr. Leistle hoffte. Seit er gehört hatte, daß die mit dem Motorboot unterwegs sei, war
er fast sicher, daß er sich ein falsches Bild von ihr gemacht hatte. Plötzlich hielt
neben ihm der weißschwarze Monte-verdi Safari und Frau Reinhold sang ihr Guten
Tag. Das Tag eine Oktave höher als das Guten. Und dann lachte sie noch höher
hinauf. Wie, wo, wann, als wer oder was mußte man geboren sein, um so lachen zu
können? Er möchte das Rad hinwerfen und mitfahren. Aber sie hatte ja schon den
Emanzipationsgehilfen Kugelbart Giselher als ihren Fahrer. Aber warum sollte diese
Frau nicht zwei Fahrer haben! Wenn ihr Mann, der Wasserkopfknabe, eine Barbi an
der Hand durchs Taugras führte, dann MUSSTE diese Frau, um der Verhält-
nismäßigkeit willen, neben ihrem Mann zwei Männer haben. Er hätte sie liebend gern
mit Giselher Kugelbart geteilt. Sie war eine Frau für zwei. Und schon fielen ihm die
zwei Wagner-Sängerinnen ein, mit denen er sich alles verdorben hatte. Aber hatte er
überhaupt? Die lachte doch, als sei sie, wenn sie ihn sehe, entzückt. Oder macht sie
Stimmübungen? Nein, sie bedankt sich in den höchsten Tönen für den Blu-
menstrauß. Anna hatte es wieder einmal geschafft. Jetzt hat sie ihn nur überfallen,
weil sie ihm neulich nicht gesagt hat, daß ihre Cousine, Frau Dr. Leistle, diese
Woche im Hotel Bad Schachen wohnt.
Er sei, falls er an der Sache noch Interesse habe, für morgen angemeldet. Zwei Uhr,
im Hotel. Aber der Tip, den sie ihm eigentlich habe geben wollen: Hortense sei so
geldgierig, daß man schon eher von einer Geldsucht sprechen sollte. Wer ihr eine
möglichst irre Summe verspreche, dem folge sie. Wieviel sie dann kriegt, ist nicht so
wichtig, da sie ja mehr als genug hat. Aber machen Sie ihr Aussicht auf eine unwahr-
scheinliche Summe, dann ists Hortensele wehrlos. Inzwischen hupten schon Autos.
Lissi Reinhold winkte und rief ein Auf Wiedersehn über die Hofstatt hin, das den Platz
eine Sekunde lang zur Opernbühne machte. Giselher erhielt Fahrbefehl. Der
Monteverdi Safari zog dahin. Nudel, dachte Gottlieb und spürte, wie er Lissi Reinhold
liebte. Er kehrte um. Bloß nicht zum Friseur. Zu einer Frau, die mit einem Motorboot
unterwegs ist, kommt man nicht ohne Haare. Er schob sein Rad auf der Promenade
heimwärts. Vor dem Faulen Pelsz , kein Schaden-Maier, kein Rudi W. Eitel. Auf den
leeren Stühlen saß der Herbst. Im Augenblick hätte sich Gottlieb imstande gefühlt, zu
Rudi zu sagen: Wart' bis morgen, vielleicht kann ich dir helfen. Anna sagte, Dionys
habe angerufen, um Gottlieb an den Termin zu erinnern. Er legte seine Arme um
Anna, zog sie vorsichtig zu sich her und hielt sie fest. Er dachte an den Moment nach
dem Unfall. Anna sagte: Den Schatz hab' ich, glaub' ich, immer falsch eingeschätzt.
Gottlieb dachte an die Summe, die Schobloch genannt hatte. Er ging in sein Büro,
rief die Garage an und fragte nach dem Ergebnis. 7200, wenn der Rahmen nicht
gestaucht sei. Zu prüfen, ob er gestaucht sei, koste 900; das nicht zu prüfen, sei,
angesichts dieses Unfalls, unerlaubt. Sei der, was zu erwarten sei, gestaucht, kämen
noch 15 00 dazu, also 9600, netto. Der Zeitwert des Wagens sei 10 200, eine
Reparatur also nicht mehr zu empfehlen, vielmehr biete man Dr. Zürn für das Wrack
entgegenkommenderweise 3000, so daß er für 21 000 einen neuen Wagen habe. In
einer Woche. Die Reparatur daure drei Wochen. Eine Zeitlang saß er und hatte das
Gefühl, er verliere Blut. Er sah das Transportband, mit dem das Geld hinausbefördert
wurde, Höchstgeschwindigkeit annehmen. Er sah das Leck in dem Boden seines
relativen Bootes größer werden. Er mußte also, wollte er nicht untergehen, noch
schneller fahren. Aber wie? Auf jetzt, nach Mitten, ins Schwanenhaus, Frau Dr.
Leistle zu belauschen und Paul Schatz. Konnte er das denn noch? Nachdem, was
gestern passiert war? Unmöglich. Aber wenn er das Schwanenhaus kriegen wollte . .
. Am Treppenpfosten in der Halle fand er Bubi an seinem Strick. Dionys war bei den
Schwänen; der gefleckte stand und schaute zu, wie Dionys dem verletzten am
Halsansatz eine grüne Salbe auf eine wüste breite Wunde strich und dann ein Tuch
auflegte und festband; der lag auf seinem Strohbett wie ein gestrandetes Schiff.
Sobald der mit den Infantil-Flecken Gottlieb bemerkte, richtete er sich auf und schlug
mit den Flügeln. Gottlieb rief Dionys zu, er werde sich einen Platz suchen, von dem
aus er Frau Dr. Leistle und Herrn Schatz ein bißchen im Auge behalten könne. Aber
laß dich nicht erwischen, rief Dionys. Gottlieb hängte die Tasche mit den Flaschen
über den als Artischocke geschnitzten Kopf des Treppenpfostens, an dem Bubi lag,
und ging neben dem unter Führung der nackten Frau nach oben rasenden Schwan
hinauf. Seine Hand glitt auf den sanften hölzernen Wellen des Geländers nach oben.
Die zwei von Bachlauf, Schilf und Schwänen getrennten Sehnsüchtigen auf dem
Südfenster sahen heute, weil der Tag sich eingetrübt hatte, noch schmerzlicher aus,
als wenn ihre nackten Leiber von der Sonne belebt waren. Gottlieb ging ins Leda-
Zimmer, stieg durch den Schrank hinauf, öffnete oben die Tür und auch noch die, die
vom zweiten Stock in den Turm führte. Für alle Fälle. Oder war es besser, sofort
abzuhauen? Wenn ihn Schatz und die Dame entdeckten, war es eine furchtbare
Blamage, und die letzte winzige Aussicht auf den Auftrag war hin. Seinen Termin mit
der Dame hatte er. Und diesmal abzuhauen ist weder Triumph noch Niederlage,
sondern einfach Vernunft. Basta. Ja. Also. Bitte. Aber er konnte nicht gehen. Er ging
hinab ins Zimmer der nackten Leda, die sich darin gefiel, die Huldigungsbiegung des
Schwans mit beiden Händen zu empfangen, während ihr Blick ganz und gar
hinuntergebunden war zu den aus den Eiern purzelnden Kindern, die Anna so
angezogen hatten. Anna hatte recht gehabt. Wer diese Frau anschaute, den wies sie
weiter an das Gepurzel zu ihren Füßen. Aber Gottlieb schickte seinen Blick ohne
Anstrengung zurück auf sie. Sie war schließlich das Größte, Nackteste, Schönste auf
dem Bild. Der an ihr sich hochschmiegende Schwan war fast ganz in ihrem Schatten,
nur ein Flügelviertel kriegte Licht. Gottlieb hätte sich am liebsten vor Ledas schöne
Zehen auf den Boden gesetzt, um sich auf der gemalten Wiese zu fühlen und sich
dann auch aufzurichten zu ihr. Die Leere des Zimmers, das Tosen der Stille, diese
ausführliche und frontal dargebotene Nacktheit: daß einen eine gemalte Frau so
anmachen konnte. Er hörte Stimmen. Eine Frau lachte. Die Dame. Ein Mann sprach.
Paul Schatz. Hei-jei-jei. Er schlich zur Tür. Als die beiden in der Halle herum- und auf
die Südterrasse hinausgingen und wieder zurückkamen, durchquerten sie immer
wieder einmal sein Blickfeld. Frau Dr. Leistle, größer als Schatz, gekleidet wie ein
Tropenoffizier. Er hatte sich das falscheste Bild gemacht, das man sich machen
konnte. Jedes Wort, das sie sagten, hörte man wie in einer Kirche. Schat-zens Urteil:
Für einen, der das mag, ist das viel wert. Wieviel, wollte sie wissen. Er lachte von
Herzen. Er sei ja nicht der, dem es viel wert sei. Er könne den aber zweifellos finden.
Das mache sein Computer fast allein. In weniger als fünf Minuten spucke der, wenn
er ihm die Daten dieses Romantik-Doms eingebe, alle Kunden aus, die für so was in
Frage kämen oder gar leidenschaftlich danach suchten. Dann sähe man, was für
Kunden, also was für Preise. Aber sie wollte überhaupt einmal eine Zahl von ihm
hören. Er lachte wieder. Warum denn über Zahlen reden. Er garantiere, den
höchsten Preis, der für dieses innige Gehäuse zu erzielen sei, erziele er. Keiner
verfüge über einen solchen Kundenstamm wie er. Er denke, zum Beispiel, auf
Anhieb an den ehemaligen griechischen Marineattache in London, der den Obristen
diente, deren Nachfolger nicht mag, sich gerade scheiden ließ, die Kinder sind in der
Schweiz, er konstruiert jetzt Segelboote, hat radikale Ideen für Yachtkonstruktionen,
möchte sein Konstruktionsbüro plus Versuchshafen am Bodensee placieren: diese
Art Käufer sehe er. Oder: ein Düsseldorfer Kunde, Schönheitsfarmen in Marbella und
am Tegernsee, will eine am Bodensee aufziehen. Aber er, Schatz, könne nicht mit
der Computerselektion konkurrieren. Natürlich werde er dem Computer, zur
Objektabgleichung, Preislimits eingeben, vielleicht 1,8 bis 2,3 Millionen. Realistische
Preise kristallisierten sich bei ihm erst aus dem Zusammenspiel von Objekterfassung
und Kundenpotential. So: Jetzt interessiere ihn dieses Haus schon ein bißchen
weniger als Hortenses Motorboot. Ob sie nicht einfach eine Fahrt nach Romanshorn
machen sollten zusammen. In der Seemitte ein bißchen baden, dann ein Mittagessen
im Inseli in Romanshorn. Falls sie auch auf dem Boot über nichts als Preise
sprechen wolle, bitte.
Frau Dr. Leistle sagte, sie habe einen Termin nach dem anderen. Rechtsanwälte,
Banken, Makler. Mit welchen Maklern noch, wollte er wissen. Sie nannte vier Namen,
darunter auch JF. Kaltammer und Dr. Gottlieb Zürn. Sie wolle das schnell hinter sich
bringen, weil sie im Herbst in Spanien sei. Ihn fasziniere, daß sie mit dem Motorboot
hergekommen sei, sagte er. Er verehre Frauen, die mit Maschinen umgehen
könnten. Er könne es nämlich überhaupt nicht. Manche Leute glaubten, er halte sich
einen Chauffeur als Statussymbol. Keine Spur. Er könne einfach nicht Auto fahren.
Anfangs habe er Komplexe gehabt. Jetzt bereite ihm das Herumgefahrenwerden nur
noch Lust. Immer mehr Lust. Vorne in einem Auto zu sitzen, scheußlich! Aber hinten,
alleinseligmachend. Und wie das erst im Boot sein müßte. Hinter ihr zu sitzen, ihr
zuzuschauen, wenn sie das mächtige Boot leichthin lenke wie diese Dame da ihren
Schwan. Ob sie schon einmal in Romanshorn im Inseli mittaggegessen habe. Sie
versäumen vielleicht den schönsten Nachmittag Ihres Lebens, wenn Sie bei Ihrem
Routine-Nein bleiben. Gottlieb hörte noch, daß sie lachte. Daß man einen Vorschlag,
der so deutlich abgelehnt worden war, noch einmal und noch einmal machen konnte!
Er war jetzt fast sicher, daß Frau Reinhold Schatz keinen Tip gegeben hatte. Sie sah
also doch in Gottlieb ihren Makler. Paul Schatz war für sie ein Künstler, ein Genie,
irgendeine Supererscheinung, der Makler war Gottlieb. Als er am nächsten Tag zum
Termin mit der Dame fuhr, nahm er Anna, die unter der Nackenprellung weniger litt
als unter der nichtswürdigen Sache, die Rosa vor sich hatte, mit bis zum
Krankenhaus. Gottlieb genierte sich vor ihr, weil er sich so sorgfältig angezogen hatte
für seinen Besuch bei der Dame. Zum Glück sagte Anna nichts. Der Beruf, seufzte er
heuchlerisch tief innen. Er fürchtete, ihm würde es unter fast allen Umständen Spaß
machen, sich anzuziehen. Diesmal war's wieder die zitronenfarbene Hose, das
Hemd in dem blassesten Rosa der Welt, die cognacfarbene Tropicaljacke mit den
schwarzen Gitterlinien, die tomatenroten Schuhe. Er hatte sich lange angesehen, im
Spiegel, den Mund geübt, die Hände. Es ist schließlich der alles entscheidende
Besuch, Anna. Jetzt, in dieser Stunde und der nächsten kommt es darauf an. Mehr
als zwei Stunden werden ihm nicht gegeben werden. Rechnen wir mit Verlust. Also,
Anna, grüß, grüß Regina. Anna sagte nichts. Seit Samstagnacht hatte sie praktisch
aufgehört zu sprechen. Er tat, als bemerke er es nicht. Er wollte das Elend nicht
durch Echo verstärken. Sollten sie sich doch alle an ihn klammern. Je schwerer sie
würden, desto eher konnte er fliegen.
Auf dem Weg nach Mitten merkte er, daß er sich angezogen hatte, ohne auf das
Wetter und die Jahresstelle dieses Tages zu achten. Er war angezogen für den
brennenden Sommer. Aber heute schwelte rundum der Herbst. Seine Kraft nahm ab
proportional mit der Entfernung zu der Dame. Er hatte keine Macht mehr über das,
was in ihm vorging. Andere beherrschten ihn. Brich zusammen, bitte. Demonstriere
dadurch, daß du dir das nicht gefallen läßt. Nervenzusammen-bruch, wie macht man
das? Nicht einmal das kannst du. Diese Straße ist er gefahren, auch in der ersten
Septemberhälfte, um seiner Mutter den 10 000-Mark-Scheck zu bringen. Die erste
Erfolgsprämie, die ihm Dr. Enderle gewährte. Von heute aus gesehen, hatte Dr.
Enderle ihn mit diesen 10 000 Mark für immer an sich gebunden. Dadurch war er
Makler geworden. Ihre Courtage, hatte Dr. Enderle gesagt. Dr. Enderle hatte nie
Provision gesagt. Als er ihm den Scheck überreicht hatte, hatte er sich in seinem
riesigen, aber unbeweglichen Sessel — mehr Thronstuhl als Sessel —
zurückgelehnt, hatte sein tiefrotes gewaltiges Taschentuch gezogen und hatte auf
eine Entfernung von einem halben Meter in das entfaltete Taschentuch
hineingespuckt. So beendete er Gespräche. Mit 10 000 Mark konnten Zürns damals
fast ein Jahr lang leben. Aber er nahm den Scheck und trug ihn zu seiner Mutter. Wie
das auf Anna gewirkt haben mochte? Schon Kinder, knappes Auskommen, und er
trägt 10 000 Mark einfach weg. Seine Mutter hatte inzwischen gebaut gehabt, hatte
Schulden gemacht, aber beherrschte Schulden, kluge Schulden, den inflationären
Tempi genau angepaßte Schulden; also keinesfalls die wild aufschießenden,
überschwappenden und als vernichtende Gewalt hereinschlagenden Schulden, die
sein Vater bewirkt hatte, sobald er die Hand geschäftlich regte. Man darf die
Schulden nicht ausgehen lassen, hatte seine Mutter gesagt, als sie begriffen hatte,
wie die Wirtschaft der zweiten Nachkriegszeit gedacht war. Wer die richtigen
Schulden macht, dem zahlt sie die Notenbank, sagte das Bauernmäd-chen aus
Wigratsweiler, das nie eine höhere Schule als die des sogenannten Lebens bzw. des
Unglücks besucht hatte. Sie wäre inzwischen, obwohl sie sich immer bis an die
Grenze des Erträglichen verschuldet hielt, also gewissermaßen mit angehaltenem
Atem lebte, ohne ihn ausgekommen. Seiner Mutter hatte Gottlieb den 10 000-Mark-
Scheck überreicht, als war's ein 2o-Mark-Schein. Se, hatte er gesagt, weil dieses
Darreichungswort des Dialekts am ehesten die Dringlichkeit und Gelassenheit der
Geste enthielt mit der er den Scheck hingab.
Er hatte sie nicht angeschaut dabei. Wahrscheinlich hatte er Fieber. Sie hatte den
Scheck nicht angenommen. An seinem Benehmen hatte sie gesehen, daß es sich
um eine große Summe handelte. Unwillig, verdrossen, wie beleidigt, hatte sie den
Kopf geschüttelt und mit der linken Hand den rechten Handrücken gekratzt. Jetzt hör'
bloß auf, hatte sie gesagt. Den nehme sie! Dieser Befehlston, den er weder vorher
noch nachher ihr gegenüber zustande gebracht hatte, wirkte. Demütig nahm sie den
Scheck. Einen Augenblick lang begegneten sich ihre Blicke. Sie sah weinerlich aus.
Oder dem Weinen nahe. Erbarmenswert. Geschlagen. Von ihm. Aber er wußte, daß
es ihr jetzt wohl war. Sie schwamm förmlich in ihrer Besiegtheit und Unterworfenheit.
Das war ihr Glück. Sie waren sich in diesem Augenblick so einig wie nie zuvor und
nie mehr nachher. Daß davon nichts gesagt und nichts gezeigt werden durfte, war
klar. Sofort mußte man zu irgend etwas Unwichtig-Unangenehmem übergehen. Der
10000-Mark-Augenblick durfte nur ein Augenblick sein. Schließlich handelte es sich
um nichts als Geld. Und Geld ist, bei Gott, nicht alles. Aber ohne Geld ist alles nichts.
Also bitte. Aber Geld ist auch nichts. Besonders wenn man viel davon hat. Sollte er
es vielleicht jetzt noch extra entsetzlich finden, daß er den Augenblick des höchsten
und tiefsten Einvernehmens mit seiner Mutter einem 10 000-Mark-Scheck zu ver-
danken hatte? Aber es war doch das Natürlichste, daß er und seine Mutter nur über
so etwas wie einen Scheck in ein solches Einvernehmen kommen konnten. Und
wenn das etwas Entsetzliches geheißen werden mußte, so wollte er, weil er da nicht
Bescheid zu wissen glaubte, nicht widersprechen, aber er wollte in seinem Gefühl
geltend machen, daß das Entsetzliche dieser Einvernehmensbedingung die Innigkeit
des Einvernehmensaugenblicks schier ins Unendliche erhöhte.
Als ihn der vom Portier mitgegebene Boy zum Apartment der Dame führte, fiel ihm
plötzlich ein, daß er von den fünf Maklern, die empfangen wurden, wahrscheinlich
der letzte sei. Was er erreichte, wenn noch etwas zu erreichen war, konnte kein
anderer mehr aus dem Feld schlagen. Wieso sollte sie ihn noch empfangen, wenn
alles schon abgemacht war? Also.
Er hörte die Eroica. Aus irgendeinem der Zimmer, an denen ihn der Boy vorbeiführte.
Oder ertönte die inzwischen schon in ihm? Wenn er makellos Italienisch gekonnt
hätte, hätte er dem vorausgehenden Boy zugeflüstert: Ich bin so jung wie du. Aber,
Glück ist, sich jung fühlen, wenn man jung ist, und sich alt fühlen, wenn man alt ist.
Er hatte sich alt gefühlt, als er jung war. Jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich
jung. Er war nie synchron. Nie eins mit sich. Immer im Streit mit dem Augenblick.
Dieser Streit heißt Symphonie bzw. Roman. Gottlieb ließ sich von der Eroica richtig
tragen. Er genoß es, ergriffen zu werden von der Schicksalsnervosität. Ich werde
nicht sterben, dachte er. Mein Tod fällt aus wegen Unvorstellbarkeit. Der Boy klopfte
an. Das war schon gut. Der war sein Herold. Err Dottor Zirn, rief der Boy mit
italienischem Knabensopran. Gottlieb hatte 5 Mark vorbereitet. Eine Opfergabe. Der
schaute ihn dafür an wie ein Verwandter den Verwandten, wenn der etwas Schweres
vorhat. Frau Dr. Hortense Leistle stand auf, legte die Neue Zürcher Zeitung auf den
Schreibtisch und gab Gottlieb die zerbrechliche Hand. Auf die
Wetterverschlechterung seit gestern hatte sie deutlich reagiert. Sie trug eine
sandfarbene Hose, die der neuesten Linie folgte, also noch kühn wirkte: gleich nach
dem Bund etwas ballonig, nach unten eng werdend, sich ganz unten um Fuß und
Ferse klammernd. Dazu eine zweireihige, sicher flaumleichte Kaschmirjacke in einem
noch nicht penetranten Ocker; zwischen Kamel und Kürbis eben. Und nichts
darunter. Nichts, was man sah. Sehen ließ sie nur braune Haut. Und Gold. An Hals
und Händen. Sie bot Platz an, Tee an. Wie lächerlich er sich verrannt hatte in seinen
Versuchen, sich Dr. Hortense Leistle vorzustellen, sah er erst jetzt. Auf dem
Tischchen zwischen ihnen stand außer dem Teegeschirr noch ein Tonbandgerät,
daneben das aufgepflanzte Mikrophon. Das sah auch aus, wie es nicht aussehen
sollte. Ihre Haare wirkten bewirtschaftet; man hatte sie sorgfältig nach innen gedreht,
daß sie um den Hals lagen als ein sanfter Wall aus blondem Messing. Die war 41
oder 39. Soll sie 46 sein oder 36. In seiner unbeweisbaren Einteilung war sie älter als
er. Sie war eine Sechzehnjährige. Jedesmal wenn er ihr des Gesprächs wegen ins
Gesicht sehen wollte, mußte er seinen Blick sofort wieder weglenken; er hatte Angst,
sie sähe ihm sonst an, was er dachte bzw. wollte. Er traute sich auch nicht, was er in
ihren Augen sah, für wahr zu halten. Die war nur so angezogen und saß nur so da
und sah ihn nur so an, als denke sie auch an etwas anderes als an das, worüber sie
zu sprechen hatten, aber in Wirklichkeit hatte sie einen Termin nach dem anderen
und erledigte jeden so wie den gestern mit Paul Schatz und den jetzt mit ihm. Was er
ihr für ein Angebot machen könne, sagte sie leise, als habe sie Angst vor ihm. Er sah
vor sich hin, dann zu den Fenstern hinaus, da war der See, das war sicher
verständlich. Er sagte, er habe noch in der Nacht von Freitag auf Samstag erfahren,
daß sein Kollege Kaltammer die Villa Bansin anbiete, deshalb sei er nicht nach
Stuttgart gekommen. Eigentlich wollte er sagen: Ich sah, als ich kurz vor Ihrem Haus
war, keinen Sinn mehr darin, Sie zu besuchen. Auch wollte ich mich nicht
unterwerfen. Das will ich immer noch nicht. Ich weiß, Sie können diesen Auftrag
geben, wem Sie wollen. Jeder kann dieses Gefühls-Gebäude, das mein männlicher
Kollege Schatz Romantik-Dom nennt, verkaufen. Ich bin also sehr überflüssig hier
und bitte Sie, mir das zu- bestätigen. Durch ein Kopfnicken etwa. Dann gehe ich
nämlich. Um einen Einfamilienhaus-Auftrag kann man kämpfen. Aber doch nicht um
den Auftrag, das Schwanenhaus zu verkaufen. Der kann nur, wenn es noch eine
Gerechtigkeit gibt, vom Himmel fallen, irgendeinem Schurken in den Rachen. Also,
ich geh jetzt. Sie können mich ja, wenn sie wollen, zurückhalten . . . Aber er sagte, er
habe das Haus, das er seit seiner Jugend kenne, in dem er mit seinem Schulfreund
Eberhard schöne Stunden verbracht habe, jetzt genau studiert, er könne also sagen,
Substanz und Form dieses Hauses seien ihm ziemlich vertraut. Bei einem Besitz, der
weit über 2 Millionen hinausgehe, sei das nicht unwichtig, weil jeder hier in Frage
kommende Käufer Experten anschleppe, um alles durch und durch prüfen zu lassen;
das führe zu einem endlosen Gerangel, wenn man nicht jede Frage sofort konkret
beantworten könne. Wer 2 1/2 Millionen Mark oder mehr ausgebe, habe ein Recht
auf seriöse Behandlung. Er habe seine Kundenliste durchgeblättert. Zuerst habe er
geglaubt, fünf Kunden zu haben, die in Frage kämen für ein Haus zwischen z und 3
Millionen Mark. Begonnen habe er mit dem ehemaligen griechischen Marineattache
in London. Der nächste, ein Finanzier aus Düsseldorf, der sich auf Schönheitsfarmen
spezialisiert hat. Der dritte, jetzt in Ascona, hat sein Geld, das muß man ganz klar
sehen, aus Bordellen gezogen. Es kommt darauf an, ob man das mag. Er muß es,
findet er, erwähnen. Der vierte ist der erste, den er empfehlen kann: Arthur Thiele,
Chemnitzer Zähne, der sucht dieses Haus seit längerem. Für den fünften, Baptist
Rauh, als Komponist in Hamburg lebend wie im Exil, wäre das Haus der Anfang der
Verwirklichung seiner Person. Er, Gottlieb Zürn, kann ihr solche Namen jetzt nur
flüchtig vorführen. Das Wichtigste sei ja der Preis. Selbst wenn 3 Millionen zu hoch
gegriffen sei, bei 2,5 habe er schon wieder das Gefühl, man verschenke etwas. Sie
dankte ihm für seinen Besuch. Er stand sofort auf. Sie werde ihn, falls alles gutgehe,
bis Sonntag benachrichtigen. Sie drückte auf einen Knopf am Tonbandgerät. Er habe
doch sicher nichts dagegen, daß sie das Tonband, falls nötig, als Gedächtnisstütze
benutze. Sie hatte ihm die Hand gegeben, er war draußen, dachte an den Prospekt,
den er vorbereitet hatte, wollte noch einmal klopfen, den Prospekt vorzeigen.
Auf dem Krankenhausparkplatz wartete er, bis Anna kam. Er konnte nicht aussteigen
und Regina besuchen. Jetzt erst spürte er, wie richtig es gewesen war, am Samstag
nicht zu dieser Leistle-Dame zu gehen. Anna kam mit einem von Schatten
zerschnittenen Gesicht. Regina ist wieder appetitlos. Muß Antibiotika nehmen. So
lang, bis aus der Bakterienkultur zu ersehen sein wird, welches Mittel speziell
geeignet sei. Anna hat gebeten, Eusaprim abzusetzen. Der Arzt: Man muß das
ausheilen, schließlich will Regina später doch auch einmal Kinder kriegen, oder?
Anna hat durchgesetzt, daß sie Regina morgen holt. Sie hat schon aus der
Telephonzelle ihren Vetter Leonhard angerufen. Der kommt morgen aus dem Allgäu,
um Regina anzuschauen. Daß sie in einem für Gottlieb bestimmten Satz erwähnte,
Leonhard komme morgen aus dem Allgäu, konnte, da Gottlieb doch wußte, woher
Leonhard komme — nämlich aus Simmerberg —, nur beschwörend, Heil
beschwörend gemeint sein. Und bei dir? Er zuckte mit den Schultern. In seinem
Aufzug kam er sich jetzt vor wie ein Fasnachtsbutz am Karfreitag. Wahrscheinlich
hatte er bei Frau Dr. Leistle schon durch seine Aufmachung alles verdorben. Er sah
doch aus wie jemand, der hofft, einem Farbfilmregisseur aufzufallen. Der einzige
Lichtblick war, daß er der Dame Aussichten auf 2,5 Millionen gemacht hatte. Paul
Schatz wollte offenbar nicht über 2,3 Millionen hinaus. Mit Recht. Gottlieb konnte sich
niemanden denken, der 2,5 Millionen bezahlen würde.
Abends rief Baptist Rauh an. Bruni ziehe'jetzt voll mit. Am Samstag kämen sie.
Gottlieb schwitzte. Er kämpfe täglich mehrere Stunden mit der anderen Partei um
den Preis. Die habe sich, verführt durch einen leichtfertigen Maklerkollegen, bei 2,5
festgebissen. Bevor er sie nicht auf 2,1 habe, könne er einen Besuch Rauhs nicht
verantworten. Jetzt verstehe er überhaupt nichts mehr, sagte Herr Rauh. Habe Dr.
Zürn nicht in der letzten Woche gesagt 1,6 oder 1,7? Vielleicht habe er gesagt, rief
Gottlieb geradezu flehentlich ins Telephon, ausdrücklich VIELLEICHT. Inzwischen
summe es um diesen Besitz wie um den Bienenstock im Juni. Täglich schössen
neue Zahlen auf. Die jetzigen 2,5 bedeuteten nicht mehr als die 1,6 der letzten
Woche. Nerven, Herr Rauh. Herr Rauh und er, die bewährte Formation auf dem
hiesigen Immobilienschlachtfeld, müßten jetzt, wo der Kampf um das Herzstück
beginne, Gleichmut bewahren. Sie sind der einzige meiner Kunden, Herr Rauh, dem
ich die absolute Formel des Realitätenhandels anvertraut habe: nur wer verlieren
kann, kann gewinnen. Herr Rauh schnaufte schwer. Es wäre einfach tragisch, wenn
ihm dieses Anwesen entginge. Für Bruni sei im Augenblick ganz Hamburg ein
Pöseldorf, sie wolle echt weg. Von ihrem nach klassisch jüdischem Rat an drei
Fronten kämpfenden Geld möchte sie das Golddrittel nicht angreifen, aber sie wäre
jetzt bereit, das Industriepapierdrittel dem Immobiliendrittel zuzuschlagen. Eine ein-
malige Situation, Herr Doktor, sagte Baptist Rauh mit schwacher Stimme. Gottlieb
sagte, er erlebe die Schwere des Moments fast so scharf wie Herr Rauh. Dieses
Haus haben, heißt, teilhaben, und zwar am Schönsten, was in Europa die strömende
Geschichte so hingekriegt hat. Aber man muß es verlieren können, sonst bekommt
man's nicht. Ja, sagte Herr Rauh und zog noch zweimal stumm an der Zigarette und
hängte auf. Gottlieb sagte der Garage durch, er kapituliere, das heiße, sie könnten
die Bestellung als durchgesetzt buchen. Er wunderte sich öfter darüber, daß dann
immer alles doch noch irgendwie ging. Von drüben rief, schon von der Erfolglosigkeit
ihres Rufens überzeugt, Anna zum Essen. Bis Gottlieb kam, saßen alle am Tisch. Er
fiel schwer auf seinen Stuhl. Hatte aber vergessen, im Souterrain seinen Abendwein
zu holen. Bitte, Julia, hol mir die Flasche, ich sitze schon, sagte er. Ich auch, sagte
Julia so groß und patzig als möglich. Er mußte sofort aufstehen und brüllen und
hinausrennen und die Tür zuschlagen und auch noch die Tür zu seinem Büro
aufreißen und zuschlagen und dabei immer noch brüllen, bis er im Sessel saß. Was
er brüllte, waren erpresserische Anklagen. Nicht einmal eine Flasche Wein könnte
die für ihn holen. Ihm reiche es jetzt endlich in dieser Familie ... Er hatte noch gehört,
daß Julia auch vom Tisch aufgesprungen war, hinaufgerannt war in ihr Zimmer. Von
dort dröhnte jetzt ihre Musik. Er wartete, bis Anna an seiner Tür erschien. Sie sagte
nichts. Das hieß: verlang' nicht zuviel von mir, sonst... Er verstand sofort und ging
möglichst langsam mit ihr hinüber. Er ahnte, wie komisch es war, wenn er sich nach
seinen Schreiausbrüchen wieder brav an den Tisch zurückführen ließ. Allein hätte er
nicht zurückkommen können. Seine Flasche Wein stand jetzt vor seinem Teller. Es
war klar, daß Magda sie geholt hatte. Er sagte leise und leidend zu ihr hin: Danke.
Dann bat er Magda, Julia zurückzuholen. Magda ging sofort hinauf, stand lange dro-
ben und klopfte an die Tür, aber Julia öffnete nicht. Also ging auch Anna hinauf. Julia
öffnete nicht. Gottlieb ging hinauf, schickte Anna und Magda zurück, machte sich bei
Julia bemerkbar, bat sie zu öffnen, nur zu öffnen, sonst nichts. Nachdem er noch
eine Zeitlang stumm gewartet hatte, öffnete sie. Er nahm ihre Hand. Als er die Hand
hatte und spürte, daß sie sie ihm ließ, ging er mit Julia zur Tür und die Treppe
hinunter. Er zog überhaupt nicht. Er trug lediglich ihre Hand neben ihr her. Dann
saßen sie alle stumm am Tisch. Das Essen war kalt, man konnte beginnen. Der
Tagesschau-Sprecher meldete — und ließ sein Gesicht eine boshafte Zufriedenheit
ausdrücken —, daß am nächsten Tag mit einer Erhöhung des Diskontsatzes auf 7
Prozent gerechnet werden müsse. Gottlieb dachte: Natürlich. Im Bett drehte er sich
auf seine Seite. Heute verstand er Annas Fürsichbleibenmüssen. Da er wußte, daß
sie lag und an Rosa dachte, mußte er auch an Rosa denken. Wenn die sich nicht zu
dieser Statisterie gemeldet hätte, hätte dieser Stöckl sie nie zu Gesicht bekommen.
Und gemeldet hatte sie sich, weil sie Geld verdienen wollte. Und Geld verdienen
wollte sie, weil er in der Familie seit 20 Jahren den Anschein erweckte, man habe zu
wenig Geld. Aber man hatte ja auch zu wenig. Allein 1800 pro Monat für Zins und
Tilgung . . . Hatte man ein einziges Mal wirklich zu wenig gehabt? Oder ist das die
eingerichtete Natur des Geldes, daß man von ihm immer meinen muß, man habe zu
wenig? Und das geplante Normale: die Angst, man werde gleich überhaupt keins
mehr haben. Das war die Angst des Motorbootfahrers, der wegen des Lecks im
Bootsboden nur Vollgas fahren darf. Die Angst, wenn man ein relatives Boot fährt.
Diese Angst hatte er mitgebracht. Von daheim. Das waren die in seine Kindheit
hineinreichenden Folgen der Jahre 1918 und 1929. Wenn man in der Kindheit etwas
erlebt hat, was man nicht mehr vergißt, bleibt man offenbar durch dieses Erlebnis an
die Kindheit gebunden und insofern ein Kind. Am Morgen konnte er sich sagen —
und das war zu empfinden als ein Erfolg —, daß er nicht mehr geschlafen hatte als
Anna. Kurz nach neun rief Herr Fichte an. Er fragt, sagte Frau Ortwein, ob er noch
einmal einen Blick in die untere Immenstaader Wohnung werfen könne. Soll die dürre
Dame ihr Märchen stülpen über wen sie will, Gottlieb Zürn macht weiter, wie es sich
gehört. Sofort ließ er Frau Ortwein Herrn Ammon in München anrufen und schlug
dem vor, mit dem Preis für die Immenstaader Wohnungen zurückzugehen, we-
nigstens mit dem für die untere, um zirka 15 000. Herr Ammon schien schon seit aller
Früh' mit entsetzlichen Nachrichten zu kämpfen. Es klang, als rede er jetzt einfach
weiter in dem Ton, in den er seit frühmorgens getrieben wurde. Jetzt komme auch
noch Herr Dr. Zürn daher. Ein Kesseltreiben sei nichts, gegen das, was zur Zeit
gegen ihn veranstaltet werde. Und die Bundesbank macht natürlich mit. Auf 7% jetzt
den Diskont, den Lombard auf acht. Und wen trifft's? Den Bauunternehmer! Und
zwar den kleinen! Den Mittelstand eben. Die Gewerkschaft treibt den Betonstahl
hinauf, der Staat die Zinsen. Dazwischen wird zerrieben, systematisch vernichtet:
Herr Ammon. Und was tut Herr Dr. Zürn? Der will die Preise senken! Wo lebt denn,
bitte, Herr Dr. Zürn? In München auf jeden Fall nicht. Auf Herrn Ammons Baustellen
steigen die Kosten in der Woche um das, was Dr. Zürn ihm in Immenstaad
verschleudern will. Und Herr Ammon hat Festpreise unterschrieben. Heute noch
hätte er Dr. Zürn angerufen, um ihm zu sagen, daß man angesichts der
Preistreibereien auf dem Baumarkt mit den Immenstaader Wohnungen endlich um je
10 000 hinauf müsse. Aber herunter, niemals! Gottlieb sagte, logisch sei Herrn
Ammons Schluß einwandfrei, nur auf den Markt lasse er sich nicht anwenden. Auf
den Immobilienmarkt zumindest nicht. Wenn alles noch hinaufgeht, gehen die
Immobilien schon herunter. Die Immobilie reagiert immer am sensibelsten. Sie ist
auch die, die nachher den Wiederanstieg wieder anführt. Sie ist das Flaggschiff der
Konjunktur, Herr Ammon. Da hat er nichts davon, er geht nicht runter. Eher könnte er
sich gezwungen sehen, den Alleinauftrag mit dem September auslaufen zu lassen.
Ja, ja, die Inseratkopien kriegt er regelmäßig, aber was nützen ihn Inserate ohne
Abschlüsse. Also bitte, Dr. Zürn hat noch einen halben Monat Zeit. Aber nicht zum
Verschleudern, sondern zum Verkaufen, ja! Schon heute nachmittag habe er wieder
Termin, sagte Gottlieb ein bißchen leidend. Herr Ammon wünschte Erfolg. Frau
Ortwein, die er heute lieber nicht in der Nähe gehabt hätte, sagte: Habet Sie au so
schlecht g'schlafe? Frau Ortwein war aus Ehingen. Heute peinigte ihn ihr
weinerliches, entenbreites Schwäbisch. Bevor der Kaltammer-Effekt sich herstellte,
erklärte er sich: Das ist nicht Dialekt, das ist Frau Ortwein. Anna verlangte jede
Woche mindestens einmal, Frau Ortwein nicht mehr kommen zu lassen. Sie wollte
alles wieder selber schreiben. Hatte sie es nicht jahrelang gemacht? Und da waren
die Kinder noch kleiner! Aber solange Frau Ortwein einen halben Tag in der Woche
für ihn schrieb, war er eine Firma. Kaum war Anna abgefahren, um Regina zu holen,
brachte die Bundesbahn-Expedition eine riesige Plastikwurst ins Haus: den Teppich
aus Stuttgart. Er schnitt die Wurst auf, legte den dunkelblauen Keshan an die Stelle
des hellen Kir-man ins Wohnzimmer; der Kirman kam ins Büro. Frau Ortweins tranige
Bewunderungsschreie über den neuen Teppich verdarben ihm fast die Freude an
dem schönen Stück. Anna führte Regina herein wie eine otote. Frau Ortwein rief—
und jetzt endlich paßte ihre silbendehnende Weinerlichkeit -: Ja, Madie, wie siehscht
au du aus! Gottlieb hatte wieder das Gefühl, daß Regina, was sie leide, auch noch
darstelle. Diese Kraft hatte sie nach wie vor. Vielleicht wächst die bei manchen mit
dem Leiden. Er mußte nach Immenstaad. Geh' mer's an, Muddi, sagte Herr Fichte. In
der Wohnung vergaßen sie sofort wieder, daß Gottlieb Zürn auch noch da war. Sie
waren in einer anderen Stimmung als am Sonntag. Er wies ihr im Grundriß nach, daß
sie einiges falsch eingetragen habe. Die Orinoko-Truhe gehe überhaupt nicht ins
Wohnzimmer. Der Ratan-Tisch und die Truhe in einem Raum, wo denke Muddi denn
hin. Sie wehrt sich dafür um so heftiger gegen die Felle. Da ist sie ewig am Bürsten
und Saugen. Ihn ärgert ihre Unlogik. Wenn sie FÜR die Truhe im Wohnzimmer ist,
kann sie das doch sagen, ohne die Fellfrage damit zu verbinden, ja oder nein?! Es
wird doch noch möglich sein, die Truhenfrage an und für sich zu diskutieren. Was ihn
so schlaucht, ist das Beliebige ihres Votums. So, rief sie, wer habe denn das
Orinoko-Monstrum ins Wohnzimmer bugsiert? Doch wohl er! Sie habe nur gesagt,
lieber noch die Truhe als die Felle. Und jetzt sei sie auf einmal die Befürworterin der
Truhe im Wohnzimmer, also wenn das Erichs Logik sei, dann lasse sie sich gern von
ihm unlogisch schimpfen. Herr Fichte sagte schmunzelnd, sie hätten jetzt doch
wieder genug Eindrücke, die sie miteinander besprechen könnten. Er sagte
bekakeln. Eine Wohnung kaufen ist ja nicht Kappentauschen, oder?, sagte sie, die
aus der Gegend stammte. Das Problem ist, sagte er, die Wohnung ist zu klein und zu
teuer. Mindestens 15 000 Mark zu teuer, das habe der Vergleich mit anderen
Projekten bestätigt. Vor acht Wochen, sagte Gottlieb, hätte er das auch gesagt.
Angesichts der wie rasend steigenden Baukosten werde dieser Preis stündlich
gerechter. Herr Fichte rief: Aber jetzt hören Sie, wo das Geld täglich teurer wird, wer
kauft denn da überhaupt noch? Künnt ihr misch nit wat Leischteret frajen, sagte
Gottlieb und lachte mit Fichtes. Fichtes seien jetzt richtig hungrig. Gottlieb sah ihnen
nach. Am schlimmsten waren die, die hier Urlaub machten. Sobald das Wetter
eintrübte, hatten sie Zeit und Lust, Häuser anzuschauen. Bis die Sonne wieder
schien. Diesmal hatte er sich wenigstens die Mannheimer Adresse geben lassen. Als
er Fichtes gehen sah, hatte er das Gefühl, dieses Paar kenn' er jetzt auch. Sie lieben
sich nicht, aber sie sind sich furchtbar einig. Frau Ortwein war aus dem Haus, also
konnte er Anna an den Rand des Teppichs ziehen und sie fragen, wie sie ihn finde.
Schön, sagte sie. Der Ton verriet, sie konnte wegen Rosa und Regina jetzt alles nur
zu einem geringen Teil erleben. Er fragte Magda und Julia, wie ihnen der Teppich
gefalle. Magda, die seit Gottliebs Unfall zugänglicher war, sagte, sie wisse nicht, zu
was man Teppiche brauche. Man sah immerhin, daß es ihr leid tat, keine andere
Antwort geben zu können. Julia sagte: Was hat der gekostet? Das sei doch
unwichtig, sagte Gottlieb. Ob er über 2000 gekostet habe? Ja. Über 3000? Ja. Über
4000? Ja. Sie sagte: das ist ja furchtbar, und ging weg. Er stand wieder allein vor
dem blauen Grund, durch den sich grüngelbe Ranken bogen; die kleinen Ovale in
dem dickichthaften Rankenwerk der Umrahmung, die er zuerst für blumenvolle
Vasen gehalten hatte, waren weder Blumen noch Vasen; sowenig die Ranken
Ranken waren; alles war Farbe, Windung, Muster. Selber eine Natur. Musternatur.
8811. Plus 21 000 ist gleich 29 811. Und die kleine Konjunktur am Kippen.
Wahrscheinlich schon gekippt. Abgewürgt. Vielleicht kein Abschluß mehr bis Ostern.
Oder Pfingsten. Wie genau die Kinder reagierten. Etwas kaufen. Nur mit Geld. Das
ist die Sünde. Die Konsumsünde. So hätte seine Mutter auch reagiert. Er dagegen,
das spürte er, grinste immer noch. Hat man ein schlechtes Gewissen, weil man sich
den Teppich leisten kann oder weil man ihn sich nicht leisten kann? Sowohl als auch.
Während er noch da stand, hatte sich ein Zitronenfalter durch das Fenster
hereinverirrt. Jetzt schaukelte der über die Ranken des Teppichs hin. Wie für immer.
Dann fand er wieder hinaus. Gottlieb hatte das Gefühl, der Schmetterling habe ihm
eine Zustimmung überbracht.
Anna kam nicht zum Essen. Sie blieb bei Regina. Regina wollte offenbar in einen
Zustand hemmungslosen Krankseins zurückfallen. Sie jammerte, weinte, stieß kleine
Schreie aus. Entdeckte den Schmerz im Rücken, im Bauch, im Ohr. Innen, außen.
Wie ein Sonnenbrand tut es. Wie wenn ihr Gesicht riesig geschwollen wäre, tut es.
Wie wenn sie angefault wäre. Nein, das nicht. Sie weiß es auch nicht. Andauernde
Ansagen, Schmerzbeschreibungen, Visionen. Regina findet, auch wenn sie nicht
weint, nicht zu ihrer Normalstimme zurück. Auch dann behält sie die hohe, das
Artikulieren scheuende, über alles schwach weghuschende Heul- und Klagestimme
bei. Dann läutete es. Der Vetter Leonhard aus Simmerberg. Mit seiner schönen
steinharten Stimme, die es in Berggegenden oft gibt, rief er seinen Gruß jedem, dem
er die Hand gab, laut ins Gesicht. Obwohl er seit Magdas furchtbarer Angina, also
seit drei Jahren, nicht mehr da gewesen war, wußte er jeden Namen. Er war kaum
größer als Anna. In seinem vollen schwarzen Rollenkopf fehlte kein Haar und keins
war grau. Die rasierten Flächen des Gesichts schimmerten heidelbeerblau. Im wie
geschliffen vorspringenden Kinn, sein unveränderliches Kennzeichen: das scharfe,
besonders dunkle Grübchen. Ein jedes schaute er an, als müsse er alles in sich
aufnehmen, was mit dem, seit er nicht mehr da gewesen war, vorgegangen ist;
schaute aber auch — das Verwandtschaftsgenie — zu den anderen zurück und
unterhielt sich mit denen über dasjenige, dessen Hand er immer noch hielt. Er war
zweifellos ein Augenmensch. Er mußte alle im Augenblick an den Kindern
erscheinenden Merkmale aus dem traditionellen Merkmalsbestand der Anna-
Familien Völkle und Krezdorn ableiten und sie damit diesem Bestand für weitere
Tradierung zuschlagen. Größe, Statur, Haarfarbe, Augenform und -färbe, Nase,
Hautfarbe. Die Tanten- und Onkelnamen klingelten nur so aus seinem Mund. Es gab
offenbar nichts in dieser Familie, was der Vetter Leonhard nicht schon bei Tante
Rese und Onkel Alfons und anderen Völkles und Krezdorns zwischen Stuttgart und
Zürich gesehen hatte. Zürns und Unsicherers kommen nicht vor. Jetzt aber der
Patient. Anna will Reginas Geschichte erzählen. Vetter Leonhard will sie nicht hören.
Er will Regina anschauen. Im Händehalten und Anschauen ist er unersättlich. Regina
liegt ruhig. Dann zieht er aus einem Leinensack seine Kupferrute. Das wußte man.
Dafür war er bekannt. Er näherte sich damit Regina. Je näher er ihr kommt, desto
mühsamer scheint es zu werden. Sein Gesicht verzerrt sich. Der Mund geht ganz in
die Breite. Dann läßt eine Hand die Rute los. Ob sie Quarzsteine hätten. Er muß
selber ans Ufer hinab und im Leinensack Quarzkiesel sammeln. Unten und oben
belegt er in allen Räumen die Ecken mit nassen quarzhaltigen Steinen. Gegen die
Strahlungen des Wassers. Dieses Haus schwimme ja geradezu auf einer Was-
serblase. Wahrscheinlich kreuzten sich auch wasserführende Schichten unterm
Haus. Ob sie unter Ameisen litten? Und wie! Das glaubt er. Die unterirdische
Wasserwirtschaft habe er schon beim Hereinkommen gesehen, an den
Wasserschös-sern der Büsche und Bäume. Direkt unter Reginas Bett legt er
Extrasteine. Die seien alle zu klein, er werde richtige mitbringen. Er probiert's noch
einmal. Jetzt schlägt die Rute aus. Immer wenn sie ausschlägt, fährt er ein bißchen
zusammen. Danach streicht er mit beiden Händen Reginas Körper von oben bis
unten ab. Dann den Hals. Dann den Kopf. Jedesmal schüttelt er die Hände aus, als
wolle er etwas, was beim Streifen daran hängengeblieben ist, loswerden. Dann holt
er aus seiner ziemlich neuen Ledertasche ein paar Fläsch-chen, in denen Tees sind,
legt Regina verschiedene Tee-Auswahlen auf den Bauch, testet die mit seiner Rute,
dann ist er fertig. So, jetzt also. Zuerst einmal hinunter. Alle. Vor allem Regina. Ihr
wird ein Bett gemacht auf dem Wohnzimmersofa. Er legt Extrasteine unter das Sofa.
Als Regina liegt und alle darum herumsitzen, spricht er. Regina bleibt jetzt herunten,
bis sie gesund ist. Immer mitten in der Familie. Nur nachts schläft sie oben. Dann
aber allein. Sie hat, sagt er, eine Entzündung, mit der die Leber nicht fertig wird, also
ist auch die Leber angegriffen worden und jetzt ist schon eine Niere dran. Sofort alle
Medikamente absetzen. Dafür einen Tee aus je 2 Eßlöffeln Brennessel, Goldrute,
Ringelblume, Schafgarbe, 1 Eßlöffel Johanniskraut, 1 Kaffeelöffel Wacholderbeeren,
1/2 Zwiebel, 1 Knoblauchzehe, 1 Petersilie. Davon 5 Tassen mit Milch trinken.
Dreimal täglich 1 Eßlöffel Sonnenblumenöl vor den Mahlzeiten. Und 3 Teelöffel
Mischung aus Calcibronat und Heilerde. Und ja nichts Frisches, nichts Rohes. Nur
mit viel Öl gekochtes Gemüse und Kartoffeln püriert. Obst auch nicht in gekochtem
Zustand. Der Körper sei völlig übersäuert. Morgen komme er wieder. Er habe sie
heute nicht völlig entmagnetisieren können.
Als Vetter Leonhard aus dem Haus ging, ließ er eine helle Stelle zurück, um die sich
alles drehte. Gottlieb bewunderte Vetter Leonhards Mut und Sicherheit. In der
nächsten Nacht erbrach sich Regina nur einmal. Am Morgen sagte sie, als Gottlieb
sie fragte, ob sie noch Schmerzen habe, wenn sie sage, es tu' weh, dann tu' es weh;
wenn sie sage, es sei nicht so schlimm, dann sei es nicht so schlimm. Das war eine
Auskunft, die ihm zeigte, daß es dem Vetter Leonhard gelungen war, sich zwischen
Regina und ihre Krankheit zu stellen. Gottlieb wurde von einer als Wärmeschwall
spürbaren Glücksempfindung durchströmt, als er sah, daß an diesem Samstag in der
langen Latte des JFK-Inserats das Schwanenhaus fehlte. Der Kerl hatte also wieder
einmal geblufft. Das konnte heißen, Dr. Gottlieb Zürn führte. Im Augenblick. Wieso
sollte die Dame nicht dem den Auftrag geben, der die älteste Beziehung zu dem
Haus hatte UND der auch noch das höchste Angebot gemacht hatte! Er spürte es, er
hatte den Auftrag. Dieses Mädchen hatte einfach ein normales Gefühl. Nichts gegen
Paul Schatz. Paul Schatz ist ein wunderbarer Mann. Also wirklich. Aber diesmal hat
er sich selber ausmanövriert. Der hätte dieses Mädchen ja am liebsten vergewaltigt.
Dieses zarte Ding, mit einem Mund, der sich beim Sprechen andauernd zuspitzen
wollte. Gottlieb sehnte Hor-tense Leistle herbei. Er war nicht der Mann, der irgend
etwas hätte sagen können über das, was sie dächte oder meinte, wenn sie ihn
anschaute. In einer solchen Situation würde es genügen, wenn man einander ein
bißchen streicheln dürfte. Am besten an einer nicht ganz unempfindlichen Stelle.
Man hätte einander etwas ausgedrückt. Nichts sagen. Um Gottes Willen keine
Mißverständlichkeiten. Nur einander einen Augenblick lang streicheln. Dann hätte
seine Sehnsucht jetzt mehr Halt. Aber weil das Wichtigste nicht üblich ist und er nicht
fähig ist, Unübliches zu tun, hockt er jetzt da und hißt Hortenses fast penetrante
Ockerfarbe in seinem Gedächtnis und tastet nach dem anspruchslosen Blond, das
als sanfter Wall um ihren Hals lag.
Die Paul-Schatz-Postille bot an diesem Samstag eine mahnende Belehrung unter
dem Titel Darf man? Soll man? Es ging darum, ob man bei steigenden Kreditzinsen
bauen oder kaufen soll. Am Ende, die Weisheit: Auf gravierende Fragen gibt es nur
individuelle Antworten. Und die hat natürlich er, Ihr ehrlicher Makler. Heute erregte
die Schatz-Postille in Gottlieb die reine Freude. Sogar das Glanzstück des heutigen
Angebots gönnte er ihm: Sehnen Sie sich nicht schon lange nach einem privaten See
in Wisconsin? Fläche 21 ha, umgeben von 62 ha waldigem Ufer, darauf zwei
Blockhäuser, je vier Zimmer. Landesteg. Unerschöpflicher Fischbestand. Völlige
Einsamkeit. Für 200 000 $.
Zum ersten Mal tauchte in der Lokalzeitung ein amerikanisches Objekt auf. Und
natürlich war es Paul Schatz, der die Epoche eröffnete. Das Bedürfnis, in Amerika zu
kaufen, wuchs seit längerem. Das war fällig. Warum sollten solche Märchen nur in
der FAZ aufgetischt werden! Er hatte geschlafen. Wieder einmal. Nächste Woche
würde er aufdrehen: Jugendstil-Juwel am Bodensee . Pfeif auf Wisconsin. Sein
Juwel brauchte man so wenig wie den See in Wisconsin, also konkurrierte man um
die Träume. Schön, mein Herr, konkurrieren wir: hie Schwanenhaus, dessen Wesen
heißt Inständigkeit, dort Märchen, das heißt Wildnis. Aber mit was für Mücken, Herr
Schatz? Gottlieb kennt die Mücken, die der Käufer zu erwarten hat. Mit Schnaken
kann man leben. Aber mit Moskitos . . .?
Im Wohnzimmer zahlten gerade Schneiders ihre Rechnung und verabschiedeten
sich. Er war immer froh, wenn er sich dem Kassiervorgang entziehen konnte. Frau
Schneider rief: Jetzt hoffe mer bloß, daß es onserm Schbätzle bald wieder besser
geht, gell. Leider kam Anna und sagte: Gottlieb, Familie Schneider möchte sich
verabschieden. Ihm fehlten die Hin- und Herformeln. Anna hatte davon soviel wie der
See in Wisconsin Fische. Ein Läuten kam zu Hilfe. Gottlieb rief seinen Gruß und
rannte zur Tür. Rudi W. Eitel und der Schaden-Maier. Die beiden sahen, sobald sie
miteinander auftraten, wie ein Abenteuer aus. Gottlieb sagte: Es ist doch noch nicht
Winter. Beide hatten sich offenbar heute auf lange Schals geeinigt. Da dem
Schaden-Maier der Kopf direkt auf dem runden Rumpf saß, stand ihm der Schal vor
dem Mund. Gottlieb ging mit beiden außen herum in sein Büro. Armin streifte sich in
seiner ganzen Länge an Schaden-Maier hin. Jo, rief Schaden-Maier, Hund' möge
mich äba, etz laß doch dem Dierle sei Blässierle. Gottlieb dachte an Kaltammer. Sie
hätten sich zu diesem Fußmarsch bei windigem Wetter entschlossen, sagte Rudi W.
Eitel, weil Wichtiges zu besprechen sei. Rudi gab dem Schaden-Maier
Sprecherlaubnis. Der schaute zuerst überall hin, wo Gläser stehen könnten, aber
keine standen. Gottlieb holte Gläser und Wein, man hob die Gläser, der Schaden-
Maier probierte. Das Urteil über den Wein drückte er durch die Augenbrauen aus, die
jäh aus kritisch konzentrierter Zusammengezogenheit in eine Bewunderung
ausdrückende Hochgewölbtheit gerissen wurden. Also. Er hat herausgebracht... Er
unterbrach sich. Er findet es komisch, wenn drei Freunde wie sie zusammensitzen
und reden, ohne Skat zu spielen. Er säße lieber hier in diesem gemütlichen
Zimmerchen, wenn man neben der Aussprache und dem Wein auch noch ein
Skatblättchen springen lassen würde. Rudi nickte wie ein Stummer, der sehr zustim-
men will. Gottlieb holte die Karten. Der Schaden-Maier hatte jetzt zwei Rollen: die
des Berichterstatters und die des Skatbarden. Seine kriegerische Stimme und die bis
zum Zerplatzen gewölbten Vokale seines schwäbischen Dialekts und sein immer
zum Rufen, Klagen, Schimpfen, Fluchen, Höhnen und Stöhnen bereites
Temperament gierten nach solcher Verwendung. Wenn er, weil er auf amerikanische
Art virtuos mischen will, steckenbleibt, ruft er gleich, und extra hochdeutsch: Haben
sich wieder diverse Damen quergelegt, wa! Rudi kichert schrill. Gottlieb sagt,
nebenan liege ein Kind, das erst gestern aus dem Krankenhaus gekommen sei.
Darauf brüllte jeder der beiden den anderen an, der solle gefälligst leiser sein. Dann
erschraken sie und versprachen flüsternd, von jetzt an nur noch zu flüstern. Aber
sobald Gottlieb, wenn Rudi einen Null spielte — und Rudi spielte einen Null nach
dem anderen —, die Farbe anzog, die nach Schaden-Maiers überlegener Einsicht
die falsche war, brüllte der, Gottlieb sei dem lieben Herrgott sein Skatspieler. Gottlieb
bat Rudi, dem Schaden-Maier piano zu befehlen. Schaden-Maiers riesige Augen
lagen auf den Unterlidern wie zwei schwere Vollmonde, die gleich herausrollen
würden. Er heiße doch Helmut, bitte-bitte. Also, warum sie gekommen seien.
Erstens: Kaltammer ist noch nie am Freitag von Konstanz ins Burgund geflogen,
sondern immer nach Genf. Dort hat er eine Wohnung. Die betritt er als Kaltammer,
verläßt sie als Dame, mit schulterlangen kastanienroten Haaren, im hautengen
Lederkostüm und auf hochhackigen Stiefeln. So geht er aus. In die City. Zurück
kommt er mit verwegenen Männern. So etz, was duom'r. Moment, Moment, sagte
Rudi, das andere auch noch. Gut, sagte Helmut, Paul Schatz hat sich mit Frau Dr.
Leistle getroffen. Er kauft selber. Am Montag wird protokolliert. Am Dienstag beginnt
der Abbruch. Der baut nämlich einen Apartmentsblock dorthin. Gottlieb sagte, er sei
mit Frau Dr. Leistle in ständiger Verbindung und wisse bis aufs Wort, was zwischen
ihr und Schatz gesprochen werde. Schaden-Maier sagte, als hätte Gottlieb nichts
gesagt: Und was seggsch jetzt! Als Dame! Im Läderkoschtüm! Mit sodde Absatz!
Und dieser Mensch habe zu Anni, Helmuts jüngster Schwester, gesagt. . . Nein, das
wiederhole er nicht. So etwas könne nur ein Kaltammer, der in Genf als in Leder
gekleidete Lombardin ausgehe, zu einem Mädchen sagen. Jetzt habe ein Zahnarzt
Kaltammers Werk vollendet. Der habe Anni die zwei Schneidezähne abgetötet, die
seien nun schwarz. Schwarz, meine Freunde, sind die Schneidezähne meiner
jüngschten Schweschter. Als Gottlieb die nächste Flasche Wein holte, fragte ihn
Anna, wie lange die zwei bleiben wollten. Er wußte es nicht. Aber doch nicht zum
Mittagessen, sagte Anna. Nachher komme Leonhard. Ja, ja, sagte Gottlieb
bekümmert, er habe die beiden nicht eingeladen. Sie verstehe ihn nicht, sagte Anna
und ließ ihn stehen. Als Gottlieb in sein Büro zurückkam, zog Rudi die Immobilien-
Seite mit dem Schatz-Inserat heraus und rief: Jetzt will der Guy mir die Neue Welt
abluchsen, Brüder. Wisconsin! Ridiculous! 40 Grad Kälte und 40 Grad Hitze, das
reine Kartoffel-Klima! Und dann diese für Opfer des sozialen Wohnungsbaus
maßgeschneiderte Imponier-Story. Nee, Freunde, jetzt kommen die Hosen runter.
Langsam, langsam, sagte Helmut, zuerst hab er hier einen Grang . . . Das Telephon
läutete. Endlich, dachte Gottlieb. Aber es war Paul Schatz. Gottlieb schaltete sofort
auf seine hellste Tonart, vermied aber den Namen. Paul Schatz fragte, wie es Anna
gehe, wie es Gottlieb gehe, ob sie den Schock gut überstanden hätten, ihn habe
dieses längst fallige und einer anderen Form würdige Zusammentreffen auf eine Idee
gebracht, nämlich: er wolle dem Verbandsorgan eine Artikelserie vorschlagen unter
dem Titel GROSSE MAKLER. Dafür würde er gern ein Dr. Enderle-Porträt schreiben.
Ob Dr. Zürn noch Briefe, Dokumente, biographisches Material habe? Gottlieb sagte,
die Witwe habe ihm auch das letzte Zettelchen genommen. Aber er werde
nachforschen. Als er auflegte, war er wütend auf die zwei. Wenn die nicht dage-
wesen wären, hätte er ganz anders sprechen können mit Paul Schatz. Da ruft der
einmal an, dann hocken diese Vogelscheuchen herum! Er war sauer. Er weigerte
sich, dem neugierigen Schaden-Maier zu sagen, wer angerufen hatte. Etz isch er
bees, sagte der Schaden-Maier zu Rudi. Rudi sagte: Ich höre. Und was du hören
wirsch, Junge, die Posaunen von Jerichokehricho. . . Nach fünf Minuten rief Anna
von drüben an und sagte, der Krach, den die beiden machten, sei für Regina
unerträglich. Gottlieb sagte es weiter. Also Krach, rief der Schaden-Maier, dieses
Wort hör' ich nicht gern angewendet auf das, was ich verlautbare. Rudi, womit das
Wort auf dir laschten bliebe. Anna rief wieder an. Sie äßen jetzt. Er sagte es weiter.
Also er habe keinen Hunger, sagte Schaden-Maier. Wenn Gottlieb ihnen schnell
noch zwei Fläschle reinstelle, könnten sie sich bereit finden, ihn für einige Minütchen
zu entbähren. Gottlieb stellte ihnen eine Flasche hin und ging hinüber zur Familie.
Als er Anna sah, wußte er, daß sie nicht mehr konnte. Schneiders haben die
Ferienwohnung in einem Zustand hinterlassen, daß Anna praktisch alles von Grund
aufputzen muß. Und das nennen die in gereinigtem Zustand hinterlassen, sagte
Anna. Und das seien Stuttgarter! Was wolle man da noch von anderen erwarten. Und
um vier Uhr trifft die Familie Paffrath aus Remscheid ein. Gottlieb empfahl, Julia
einzuspannen. Die müsse um drei mit Armin auf dem Hundeplatz sein, heute sei
doch Prüfung. Und Magda? Es ist mehr Arbeit, wenn sie hilft, sagte Anna. Gottlieb
spürte, daß Anna das gesagt hatte, um Magda zum Widerspruch, zum Gegenbeweis
zu provozieren. Aber Magda zeigte durch nichts, ob sie den Satz der Mutter
überhaupt gehört habe. Anna sagte, in einer halben Stunde müßten die zwei
draußen sein, sonst gehe SIE. Gottlieb nickte. Bevor man mit dem Essen fertig war,
traf Leon-hard ein. Als erstes schaute er in die Teekanne und bemängelte, daß
Regina jetzt noch Tee trinke, der morgens um sechs gemacht worden sei. Mit
Brennesseltee könne man, wenn er länger als 10 Stunden herumstehe, Blattläuse
töten. Also bitte! Er schaute Regina wieder lange an, als habe er sie noch nie
gesehen. Mit welchem Interesse der einen anschauen konnte. Dann
entmagnetisierte er wieder. Der Teemischung fügte er Bärentraubenblätter zu. Anna
sagte, Reginas Schmerzen hätten sich im Lauf der Nacht immer mehr in der
Leistengegend konzentriert. Leonhard nickte, als seien die Schmerzen damit ganz
genau seiner Anweisung gefolgt. Da ging plötzlich die Bürotür auf und Schaden-
Maier erschien und sagte: Guten Tag, Signore e Signori, betrachten Sie mich, bitte,
nicht als Störenfried, ich, von einem Bedürfnis belästigt, bitte, Sie unauffällig
passieren zu dürfen. Anna sagte zu Gottlieb: Das geht einfach nicht, solange das
Kind so krank ist. Schaden-Maier blieb stehen und sagte, wieso man das denn nicht
erfahre! 'sGottlieble habe wissen lassen, ein Kind sei aus dem Krankenhaus zurück,
also gesund oder nicht, Frau Zürn! Wo sind wir denn, Frau Zürn, punkto
Verständlichkeit menschlicher Rede etcetera? Also wenn das Kind krank ischt, sind
mein Freund Rudi und ich die ersten, die Ihr Haus verlassen. Ruudi! Auf der Stell'
kommsch jetzt her do, hier ischt nämlich ein krankes Kind noch nicht gesund. Via,
amigo, via! Rudi W. Eitel erschien unter der Tür, nahm sich sichtlich zusammen.
Helmut, sagte er, laß dein Remmidemmi und Lettengeschwätz. Und zu Zürns hin: Er
bedaure, nicht noch ein bißchen bleiben zu können. Man habe sich schier gar
verplaudert. Aber er müsse nun fort. Adieu, adieu. Er packte Schaden-Maier wie
einen Hasen am Genick bzw. am Schal und schleifte ihn mit sich hinaus. Anna
atmete auf.
Vetter Leonhard holte aus seinem Auto kinderkopfgroße blaugraue Quarzsteine und
legte sie in alle Ecken. Gottlieb sammelte die Kiesel ein. Dann mußte Gottlieb nach
Mecken-beuren und Immenstaad, die Hopfenhalle und die Wohnungen vorführen. In
Meckenbeuren besichtigte ein junger Schreinermeister, der eine Fensterfabrikation
aufbauen wollte. Der lachte über den Preis. Das Lachen ging in Schimpfen über.
Gottlieb mußte sich Vorwürfe machen lassen. In Immenstaad setzte ein junger
Dornier-Ingenieur das fort. Man konnte ihn heute beschimpfen. Auf dem Heimweg fiel
ihm ein, daß der letzte Abschluß in Kluftern, Anfang August, auch schon Annas Werk
gewesen war. Die Baiten-Mühle auch. Mit Fichtes war er zweimal am Objekt, Effekt
null. Der Verdacht, daß er keinen Abschluß mehr schaffe, drängte sich auf. Ein
Makler ist nur solange einer, als er in seinen Kunden das Gefühl erweckt, sie könnten
sich ganz in den von ihm bewirkten Entschluß fallen lassen, er trage sie durch alle
Schwierigkeiten bis ans Ziel. Wenn er dieses Vertrauen nicht mehr ausströmte,
konnte er aufhören. Daheim lag Magda auf dem neuen Teppich und studierte
Stellenangebote. Julia hing kraftlos im Sessel. Aber Regina saß vor Kissen und las.
Anna sprach draußen mit Herrn und Frau Paffrath und deren fünf Kindern. Armin war
bei der Schutzhundprüfung durchgefallen. Hochkantig. Der Depp, sagte Julia.
Gottlieb ging in sein Zimmer und legte Karteikarten an für die Parteien, mit denen er
heute besichtigt hatte. Dann rief er Franz Hörn an und sagte, ein anderes Mal ganz
bestimmt, morgen aber nicht. Es klopfte. Das war Magda. Erstens klopfte nur sie an,
zweitens konnte unter Milliarden Menschen kein zweiter in vier kaum hörbaren
Anschlägen soviel zögernde Zurückhaltung offenbaren wie Magda. Sie blieb an der
Tür stehen und fragte, wie man putzen lernen könne. Sie hob kein Wort auch nur im
mindesten an. Wieso sie das wissen wolle? Sie: Eine Putzfrau müsse doch putzen
können. Wo lernt sie das? Was muß man da wissen? Was können? Gottlieb hatte
nicht zum ersten Mal den Eindruck, daß Magdas Vorstellungskraft am regsten war,
wenn es darum ging, sich Schwierigkeiten vorzustellen. Auch wußte sie offenbar aus
Erfahrung, daß es nichts gab, was sie von selbst konnte. Sie mußte alles erst lernen.
Das Leben kam ihr als etwas vor, was sie nie schaffen werde. Das war ihm vertraut.
Aber er mußte ihr gegenüber so tun, als wundere er sich. Während er versuchte, sie
zu beruhigen, spürte und sah er, daß seine Verharmlosungsversuche ihr keinen
Eindruck machten. Irgendwann sagte sie in sein Reden hinein: Du weißt es also auch
nicht. Und ging. Er öffnete alle Fenster und die Tür zum Garten, um den beißenden
Zigarettengestank, den seine zwei Besucher zurückgelassen hatten, zu vertreiben,
trug Aschenbecher und Gläser hinaus, holte den Staubsauger, setzte eine
Möbelpolitur ein, bis er glaubte, jetzt sei auch der letzte Hauch der beiden Abenteurer
getilgt. Dann saß er und vermißte sie.
Er rief den Schaden-Maier an. Es meldete sich Gerda, die ältere Schwester. Sie
hatte auch die ausrufende Redeweise ihres Bruders. Aber bei ihr klang es schrill und
hart. Oh je, der sei schon am Morgen geholt worden. Von Rudi. Da täten sie immer
ganz wichtig. Meistens sei es dann eine Sauftour.
Er merkte, daß er sich nach Helmut und Rudi sehnte. Er mußte sich entschuldigen
bei denen. Auch hatte er seine Spielschulden nicht bezahlt. Helmut hatte
geschrieben und den Zettel mitgenommen. Die hockten jetzt irgendwo, hauten auf
den Tisch und riefen den Mond zum Zeugen an für Behauptungen, deren
Kühnheitsgrad so rasend anstieg wie das Wasser bei einer Sturmflut. Er hätte es
niemals zulassen dürfen, daß Anna die beiden so behandelte. Sie hatte sie praktisch
hinausgeworfen. Er hätte noch mehr hören wollen über die lombardische
Langhaarige im violetten Lederkostüm. Alles, was mit Kaltammer zu tun hatte, war
faszinierend. Eine norwegische Ballettgroßmutter, Beinah-Profes-sional
lateinamerikanischer Tänze, jeden Freitag ein Flugzeug, Schloß-Makler in Burgund,
eine taufrische Baronesse, Darsteller eines lombardischen Ledermädchens in Genf.
Kaltammers neuester Rang wirkte auf Gottlieb mehr als jeder frühere. Gottliebs
innerste und geheimste, weil wahrscheinlich lächerlichste oder doch komischste
Neigung war die, dem Geschlechtslager, dem er zugeteilt war, ein bißchen zu
entlaufen. Wenn ihn manchmal jemand ein Kind nannte oder schimpfte - Annas
Stereotype: Du bist schlimmer als jedes Kind —, dachte er automatisch dazu: aber
ein Mädchen. Er wollte kein anderes Geschlecht ergattern. Er fand zwar
Mädchenhaftigkeit schöner als jede andere -haftigkeit, er aber träumte über die
Spaltung hinaus oder vor sie zurück. Er hoffte, was man wirklich sei, habe nichts mit
jenen Geschlechtsmerkmalen zu tun, die einem die Rolle vorschreiben, die man bei
der Fortpflanzung zu spielen hat. Gottlieb wollte nicht als lombardische Lederdame
im abendlichen Genf flanieren, aber manchmal hätte er sein Innerstes auch gern ins
Freie geführt. Daß das komische Wesen auch einmal Ausgang hätte. Und vielleicht
hätte es seinem Äußeren nicht ganz entsprochen. Andererseits hatte er sein bißchen
Kraft doch durch Verbergenmüssen entwickelt. Oh Jarl Fritz Kaltammer, du gehst,
die teilnahmslosen Augen ruckend, aufmerksam und weiblich am Leman spazieren,
und der Meister Paul reißt mir hier mein Juwel ab. Das tut der nicht. Gottlieb stellte
sich Schatzens Augen vor. Witz oder Pathos, aber immer teilnehmend. Ein Postillen-
Spender. Der meint es doch gut mit fließenden und stehenden Gewässern, achtlosen
Bundesbahnreisenden, fallsüchtigen Altstadtgiebeln, ahnungslosen Wiesen und
unfallgeschockten Ehepaaren, der reißt doch ein solches Haus nicht ab. Er dachte,
eher kannst du ins Mondlicht beißen als dem Eitel und dem Schaden-Maier etwas
glauben.
Vor dem Einschlafen sprach Anna senkrecht zur Decke von den Schmerzen
Reginas, die sich jetzt in den Beinen aufhielten, und darüber, daß Rosa nicht
angerufen habe, und darüber, daß Gottlieb einen Fehler mache, wenn er Magdas
Ausweichversuche begünstige. Tat er das? Ja, weil er nicht strikt widerspreche,
wenn sie versuche, dem Abitur aus dem Weg zu gehen. Er wollte sagen: Unsere
Kinder sind eben nicht für Prüfungen. Aber Anna würde sagen, das sei seine Schuld.
Er sagte: Unsere Kinder genieren sich zu zeigen, was sie können. Anna:
Kwwaddsch. Dann sagte sie noch, Paff-raths seien nette Leute, der Mann sei
Masseur und wolle jetzt drei Wochen lang hier fasten, das habe er sich, weil er in
seinem Beruf immer soviel essen müsse, als sein Urlaubsvergnügen vorgenommen.
Die sechsjährigen Paffrath-Zwillinge habe sie, da die untere Ferienwohnung für
sieben Personen doch zu klein sei, in Rosas Zimmer gelegt. Nur daß er's wisse,
wenn die nachts mal durchs Haus liefen und riefen, weil sie den Abort nicht fänden.
Gottlieb schaute auf die Stelle des Vorhangs, hinter dem die Kamera stand. Er über-
ließ sich Vorstellungen, in denen er sich an Anna rächte. Am nächsten Morgen war
er schon um sieben Uhr auf seiner Schwimmstrecke. Wieviel natürlicher ist
Schwimmen als Gehen. Auch für einen tapsigen Schwimmer. Ludwig hätte natürlich
ganz anders hineingelangt in diese Wellen, die heute grün und mit Gischtkämmen
aus Südwest herschoben. Und weil Gottlieb so einzig und allein unter dem schweren
Wolkenhimmel hinschwamm, war es ihm ein heroisches Theater. Nachher sammelte
er die vom Sturm aufs Land geworfenen Algenfliese auf und legte damit einen
weichen Pfad von dem täglich weiter zurückweichenden Wasserrand über den Kies
und quer über den Uferweg bis zu seiner Gartentür. Und für wen tat er das? Auch für
die durch Fasten empfindlich werdenden Fußsohlen des Masseurs Paffrath aus
Remscheid. Aber daß es so empfindliche Fußsohlen gab, das kannte er von Ludwig
her. Eine ganze Kindheit und Jugend lang hatte Ludwigs Feinfühligkeit seinen
Fußsohlen keine Hornhaut erlaubt. Jeder Barfußschritt auf Kieseln hatte bei Ludwig
Leidenstöne geschürft. Die Hände hatte er in die Luft geworfen und taumelnd war er
eingeknickt. Gottlieb legte diesen weichen Algenpfad immer in Gedanken an Ludwig
auf die Steine. Die Vorstellung, Ludwig käme und der Pfad liege bereit, machte ihm
Freude. Vom Garten nebenan hörte Gottlieb den schnarrenden Elsterton. Hatte er
den nicht in der letzten Woche schon einmal gehört? Den hört man erst, wenn man
ihn zum zweiten Mal hört. Frau Sonntag steckt jetzt in einer dichten Bluse.
Beim Frühstück saßen alle um Regina herum. Julia sagte, ihr stinke es echt, daß die
dauernd mittendrin liege. Als nämlich sie, Julia, krank gewesen sei, habe man sie in
ihr Zimmer hinaufgesperrt, deshalb sei sie auch schnell wieder gesund geworden.
Wenn alle um die herumtanzten, werde die nie gesund. Da war' sie ja schön blöd.
Regina sagte, bevor jemand Julia antworten konnte, sie habe heute nacht geträumt,
Antjes Hund habe toll Klavier spielen können und Antje habe den Hund auf der
Klarinette begleitet, bis alle Leute begeistert geklatscht hätten. Und Herr Gerber, der
der Dirigent gewesen sei, habe dann im Publikum auf Regina gezeigt und habe
gerufen: Da siehst du, was man können kann. Das Telephon. Frau Dr. Leistle?! Aber
zum Glück auch nicht Baptist Rauh. Nur Herr Fichte. Sie hätten gern noch'n Blick in
die obere Wohnung geworfen. Um halb drei am Objekt. Er fragte Anna, ob sie ihm
diese überflüssigste, nutzloseste, nur von der Wetterverschlechterung verursachte
Besichtigung wohl abnehmen könne, im Fall Frau Dr. Leistle bis dahin noch nicht
angerufen haben würde. Da der Vetter Leonhard, weil es Sonntag war, schon um elf
da sein will, kann Anna um halb drei. Er sah Regina an und spürte das abflauende
Unglück. Es würde keine Katastrophe geben. Diesmal nicht. Zuletzt hatte der
Facharzt noch gedroht, wenn die Eltern das Antibiotikum absetzten, den Blasen-
Infekt nicht ausheilten, erleide das Mädchen mit dreißig eine Nierenschrumpfung,
also einen überhohen Blutdruck, mit vierzig oder fünfzig letal. Der Vetter aus
Simmerberg nahm Bärentraubenblätter wieder weg, gab Goldrute rein. Morgen
abend will er wiederkommen. Biet ihm ja kein Geld an, flüsterte Anna Gottlieb noch
zu. Als Leonhard fort ist, erklärt sie Gottlieb, der empfinde Geld als Beleidigung. Das
verstand Gottlieb einerseits. Andererseits arbeitete Leonhard hauptberuflich in
Lindenberg am Volksbankschalter. Da Frau Dr. Leistle um ein Uhr noch nicht
angerufen hatte, mußte Anna die Fichte-Besichtigung übernehmen. Gottlieb schlich
an der schön schlafenden Regina vorbei und setzte sich in seinen nachgiebigen
Schreibtisch-Sessel. Wenn Frau Dr. Leistle anrief, sollte sie an der Promptheit seiner
Antwort sehen, daß er auf ihren Anruf gewartet hatte. Wenn alles gutgehe, rufe sie
ihn an, hatte sie gesagt. War das ein Rätsel oder Hilflosigkeit? Plötzlich wurde er
wieder von dem Wunsch überfallen, aus dem Haus zu kriechen. Zum Glück spürte er
genauso stark, daß er sich beherrschen mußte. Er hatte sich wahrhaftig schon gegen
andere Versuchungen gewehrt. Sich auf Hände und Knie niederlassen und dann
durch die Tür ins Freie kriechen zu wollen, eine solche Anwandlung mußte man nicht
gleich Versuchung nennen. Dieses Ausdemhauskriechenwollen war nichts als ein
lächerlicher Einfall. Daß er mit dergleichen rechnen mußte, wußte er. Wenn er nicht
fast allein im Haus gewesen wäre — Anna hatte Julia und Magda mitgenommen, weil
sie nach der Besichtigung noch Völkle-Verwandtschaft besuchen wollte —, wäre ihm
so etwas gar nicht erst eingefallen. Aber was einem einfällt, wenn man sonntags mit
einem eingeschla-fenen Kind allein im Haus ist, darf man nicht ernst nehmen. Allein
sein, heißt, auf dumme Gedanken kommen. Als Gottlieb Zürn so weit gedacht hatte,
hatte er das Gefühl, er könne sich jetzt ruhig auf Hände und Knie niederlassen, um
einmal ein bißchen hin- und herzukriechen. Nicht zum Haus hinaus. Niemals. Aber
warum nicht in seinem Zimmer herum? Er empfand es immer ein wenig quälend, daß
man in Europa mit Straßenschuhen auf diesen Teppichen herumtrampelt, Tisch und
Stühle mit schneidenden Beinen daraufstellt. Er hätte lieber drunten auf den
Teppichen gelebt. Ging das nicht, wollte er wenigstens ein bißchen herumkriechen
auf ihnen. Wenn er schon nicht ins Freie kriechen sollte. Daß das seine wahre
Neigung war, spürte er deutlich. Aber seit wann gab er Neigungen nach? Und wer tut
das? Er wußte doch, was seine Nachbarn, Jägers und Paweks, dazu sagen würden.
Wenn sie da wären. Meistens waren sie nicht da. Aber die übernächsten Nachbarn.
Und überhaupt die Leute stadteinwärts. Sie würden sagen, wie furchtbar überrascht
sie seien und — noch schlimmer — wie sie doch auch überhaupt nicht überrascht
seien. Wollte er Frau Dr. Leistle beschwören, sofort hier anzurufen, anderenfalls sie
verantwortlich sei für alles, was er hier tue? Erpresserisches lag ihm. Frau Dr. Leistle,
nun treten Sie doch endlich den Gerüchten entgegen, die sich ums Schwanenhaus
ranken wie eine Gefahr. Er sah nach Regina. Die schlief und schlief. Er nahm seine
Gedichtpapiere aus der Schublade. Aber kaum hatte er ein paar Zeilen gelesen,
legte er alles wieder zurück. Heute könnte er nur durchstreichen, zerreißen. Das ging
schon eine ganze Zeit so. Die Illusion, er sei ein Dichter, gelang immer seltener.
Worauf mußte er sich gefaßt machen? Er hätte jetzt seine momentane Symphonie
laufen lassen wollen. Aber er durfte Reginas Genesungsschlaf nicht stören. Also ließ
er, während er einfach dem stürmischer werdenden Tag zuschaute, die Symphonie
oder das, was er von ihr noch wußte, in seinem Kopf ablaufen. Einen schöneren
Anfang kann nichts haben. Ein junger Mensch, der glaubt, es werde so sein, wie er
es sich vorstellt. Der Triumph der Vorstellung über die Erfahrung. Die Verhinderung
von Erfahrung durch Vorstellung. Der zweite Satz gibt zu, daß der erste zu frech war.
Daumen und Zeigefinger spreizen sich zu einer edlen Gabel, in die man das vom
Energischsein ermüdete Kinn legt, um den Blick einer nach unten wachsenden Weite
zu überlassen, in der es keinen bestimmten Schmerz mehr gibt. Es entsteht ein
dunkles Licht. Innen. Von innen. Darf sich da der Himmel lumpen lassen? Eine
Wolkenschlucht läßt Sonne triefen. Glanz rinnt zusammen. Die Welt bedient sich.
Innen und außen, ein Team. Zeit, ein Irrtum. Phänomen ist alles. Solang etwas ist, ist
alles. Die zwei Sätze nachher . . . Vom dritten wußte er nichts. Aber an den vierten
konnte er denken. Wie etwas, was leicht zu sein scheint, schwer wird. Aber weil man
doch noch Ansprünge von sich verlangt, wird die Stimmung heldenhaft. Seine
Stimmung. Er kam sich eigentlich meistens heldenhaft vor. Weil die Gefahr nicht
nachließ. Die Abweisung neuer Einfalle. Die lag ihm. Endlichkeit des Materials.
Unendlichkeit des Ausdrucks durch Einwirkung von außen. Also bleibt die
Vorstellung nicht unangetastet. Sie wird geknickt durch Erfahrung. Etwas ist lernbar.
Feines folgt auf anderes, ohne sich darauf etwas zugute zu tun. Jeder Ton geht dann
aufs Ganze. Effekt: Geschichte. Beziehungsweise Tanzmöglichkeit. Gottlieb sah sich
sogar mittanzen. Alles ist gleich leicht und gleich schwer. Aber dann macht er
Schluß. Der junge Mann. Der Vorhang, der so rasch fällt, will sagen: es war Theater.
Anna kam zurück, kam in sein Zimmer, blieb nicht an der Tür stehen wie meistens,
sondern kam bis zu ihm und legte vor ihm auf den Schreibtisch den von Fichtes
unterschriebenen Vorvertrag, mit dem die vom Käufer zu zahlende Provision
gesichert war. Sie spielte, was sie erreicht hatte, herunter. Gottlieb wollte aber
wissen, wie sie's geschafft habe. Sie habe nur auf die gesunde Umgebung
hingewiesen, den geraden Wuchs der Bäume auf dem Grundstück, also keine
Wasseradern und schon gar keine, die sich kreuzten; Ziegelmauern, also keine
Betonzellen; sie habe einfach geredet, wie es ihr in der Umgebung zumute gewesen
sei; die Wohnung, offen für die positive Strahlung von oben und keine negative
Strahlung aus der Tiefe. Also habe sie empfunden, dort könne man gesund wohnen.
Die verblichenen und mürben Kunstfaserböden sollen Fichtes rausreißen, habe sie
empfohlen, und einen Boden aus Holz oder Travertin legen lassen. Fichtes seien
ganz glücklich gewesen. Und die Felle, die Orinoko-Truhe, der Ratan-Tisch? Die
habe Anna verteilt. Die Felle an die Wände, die Truhe ins Herrenzimmer, den Ratan-
Tisch ins Wohnzimmer. Dann können wir ja ein Fest feiern, sagte Gottlieb. Der Blick,
den Anna ihm jetzt zuwarf, hieß: Rosa! In diesem Augenblick läutete das Telephon.
Laß es Frau Leistle sein! Aber Annas Wunschkraft war wieder einmal größer. Es war
Rosa. Sie sagte, sie werde morgen nicht in die Klinik gehen. Die hätten sie behandelt
wie eine Verbrecherin. Gottlieb sagte: Hoi. Dann gab er den Hörer sofort an Anna
weiter. Er ging hinaus und rannte laut stöhnend im Garten hin und her. Nachher kam
Anna und sagte: Gottseidank. Ihm war ihre Erleichterung unverständlich. Wenn Rosa
dieses Kind kriegte, hatten sie fünf Kinder. Na und, sagte Anna. Man sah direkt, wie
bei ihr die Lust zu Bewegungen zurückkehrte, wie ihre Gesichtszüge sich wieder hell
zusammenfanden. Gottlieb fühlte sich zerquetscht. Während Kaltammer als
lombardisches Mädchen in Genfer Abende hineinging, während Paul Schatz eine für
immer Sechzehnjährige zu einer Bootstour nach Romanshorn nötigen will —
vielleicht hat er's inzwischen geschafft, Nachgeben liegt Schatz nicht —, während
Helmut und Rudi von überflüssigen Schals umflattert als bedenkenloses Paar
ausschweiften, hatte er zur Kenntnis zu nehmen, daß . . . Noch einmal das Telephon.
Hortense Leistle? Nein. Aber Dionys. Er teilt mit, ihm sei gerade befohlen worden, bis
morgen abend alle Viecher transportfähig zu machen. Das habe er Gottlieb doch
sagen müssen, oder? Auf jeden Fall, Dionys. Ob es nicht am besten war', Gottlieb
kam' am Dienstagmorgen wieder einmal herüber, im Fall sich hier was tue. Gottlieb
sagte: Um neun Uhr bin ich da. Gottlieb blieb neben dem Telephon bis Mitternacht.
Dann legte er sich völlig unermü-det ins Bett. Er begriff nicht, warum Hortense Leistle
nicht angerufen hatte. Er vergegenwärtigte sich jedes Wort des Gesprächs, sah noch
einmal ihren Teetassenhänden zu. Hatte er sich nicht schon dort gesagt, daß diese
Blicke absolut nichts bedeuteten. Lissi Reinhold: Hortense erlebt nur Zahlen. Er
konnte diese Auskunft keine Sekunde lang mit seiner Sechzehnjährigen
harmonisieren. Das war er! Sich einzubilden, er teile mit anderen ein Gefühl!
Jahrelang hatte er es überhaupt nicht begriffen, daß Ludwig ihn nicht mehr besuchte.
Der kam bestimmt zweimal im Jahr in die Gegend. Seine Mutter lebte noch. Gottlieb
begriff nicht, daß Ludwig sich zu einem Mann entwickelt hatte, der mit Gottlieb Zürn
weder schwimmen noch skifahren, noch Schach spielen, noch Pistolen schießen,
noch angeln, noch wandern, noch Tennis spielen, noch im Gras liegen und Halme
kauen wollte. Und wenn Hortense sechzehn war und er deutlich ein paar Jahre
jünger als sie, dann war es doch erst recht klar, daß sie nichts mit ihm zu tun haben
wollte. Das zu lernen hatte er Gelegenheit gehabt. Die Frauen, die er anschaute, wie
er Hortense Leistle angeschaut hatte, wurden dadurch um genau die paar Jahre
älter, mit denen sie ihn dann distanzierten. Aber er hatte 2,5 bis 3 Millionen geboten!
Dann hatte eben ein anderer mehr geboten. Trotzdem soll sie ihn bevorzugen. Das
ist seine innerste Regung. Er möchte einfach bevorzugt werden. Einseitig. Alle
sollten seine Eltern sein wollen. Alle sollten sich reißen darum, seine Mutter sein zu
dürfen. Und er möchte diesem Wettbewerb andauernd zuschauen dürfen. Er mußte
hoffen, es handle sich bei diesem Bedürfnis um eine normale Anomalie, eine
alltägliche Abnormität. Den Daumen in den Mund nehmen wollen, also rauchen, das
genügt nicht. In eine Schwingung geraten wollen wie an der aus-und einatmenden
Brust der Mutter. Und die war größer als dein Kopf. Und wo, bitte, gibt es die noch?
Mit Blaulicht hin. Auch der Schwung, mit dem man in ihren Armen eingeschläfert
wurde, wo ist der jetzt? Ja, wie soll er denn ohne diesen Schwung, den er noch in
allen Knochen und Nerven hat, einschlafen? Und im Kinderwagen hin- und
hergeschuckt. Wie soll man auskommen ohne das?
Am nächsten Tag mied er sein Büro. Er setzte sich in die Terrassennische und sah
dem Sturm zu. Er liebte den Leerlauf des Winds durch die Bäume, dieses Rauschen
für nichts. Ihn ergriff die Eitelkeit der Wolken, die den Augenblick beherrschen wie für
immer und dabei vergehen. Er konnte nicht nach Herdwangen fahren, wo er hätte ein
Bauernhaus aufnehmen sollen. Frau Leistle würde nicht mehr anrufen. Und wenn
Baptist Rauh anriefe, würde er sich verleugnen lassen. Er konnte nichts
unternehmen, solange er nicht wußte, wer das Schwanenhaus gekriegt hatte. Die
Entscheidung war gefallen. Gegen ihn. Aber für wen? Er mußte den Namen hören.
Dann konnte das Leben weitergehen. Er wußte noch nicht, wie. Es regnete.
In den vor ihm wie in gläsernen Stangen herunterrasenden Regenmassen sah er den
Sommer ertrinken. Herr Dr. Gramer rief an. Er sei zum Protokollieren bereit. Gottlieb
sagte, er werde den Notarstermin vereinbaren und ihn Dr. Gramer mitteilen. Er
hängte auf und ging wieder hinaus, setzte sich in die innerste Ecke der Nische und
schaute die Rosen an, die im Regen standen, als wüßten sie's. Drinnen im Haus
hörte er Anna stürmen und schaffen. Sie wirkte so frisch, als sei noch nie etwas
gewesen. Armin gesellte sich zu ihm. Eise legte sich neben ihn. Für die beiden galt
er noch. Die wußten nicht, würden nie wissen, daß er den Schwanenhaus-Auftrag
nicht bekommen hatte. Er wollte nur noch mit solchen zusammenkommen, die nicht
wußten, daß er den Auftrag nicht bekommen hatte. Das war zu machen. Er konnte
auf Lissi Reinhold usw. verzichten. Aber die Familie? Wenn Anna nachfragte! Er
hatte Niederlagen immer geheimgehalten vor Anna. Diesmal hat er den Mund schon
zu voll genommen. Diesmal ließ sich nichts verheimlichen. Er könnte natürlich auch
durchs Gras hinunter, zur Gartentür hinaus und auf dem Uferweg stadteinwärts
kriechen. Es hatte wieder aufgehört zu regnen. Sogar die Sonne war durchge-
brochen. Die Wolkenränder an der Durchbruchstelle gleißten. Gottlieb starrte in den
blendenden Glanz, der aus dem Wolkenloch strömte. Wenn er so etwas sah, dachte
er immer noch an Gott. Das war eine Vorstellung aus seiner Kindheit. Dieser aus
einem Wolkenloch brechende Glanz kommt von Gott. Hinter dem Glanz wohnt Gott.
Der Glanz, von dem er, weil die Augen schmerzen, jetzt wieder wegschauen muß, ist
Gott. Er konnte sich sagen, er verfalle, wenn er in diesem aus den Wolken
brechenden Glanz Gott sehe, lediglich einer Vorstellung, die in seiner Kindheit in ihm
fixiert worden sei; aber dadurch ließ sich das Gefühl, der Glanz aus den Wolken sei
Gott, nicht vertreiben. Dieses Gefühl ließ sich nur widerlegen. Aber das Widerlegen
nützt nichts. Die Macht der Vorstellung aus der Kindheit ist nicht durch Widerlegung
zu brechen. Du hättest dich entwickeln müssen, denkt Gottlieb Zürn. Es ist nicht so,
daß du jetzt zurückfällst, du bist nicht weitergekommen. Du bist geblieben, was du
warst. Primitiv.
Ein Kind. Deshalb haben Mitteilungen der Wissenschaft auf dich keinen Eindruck
machen können. Los, kriech jetzt endlich im Garten herum. Durchs nasse Gras. Das
wird dir guttun. Aha, du willst also keinen Kompromiß. Vorne zur Haustür hinaus
willst du. Hinein in die Stadt. Feigling, du traust dich ja doch nicht. Aber wer wagte
das denn? Sicher wollte jeder gern in die Stadtmitte kriechen und auf dem
Münsterplatz oder auf der Hofstatt verharren. Aber es tat's doch keiner. Also mußte
er sich auch keine Vorwürfe machen. Man kann wirklich zuviel verlangen von sich. Er
war nicht feiger als andere. Trotzdem, gerade er hätte es tun müssen, das spürte er.
Ehrgeiz. Wahnsinniger Ehrgeiz. Sein altes Leiden. Den Leuten imponieren, beliebt
sein wollen, das war doch bei ihm das Motiv für alles. Wahrscheinlich war er ein
Politiker. Einer, der sich verzehrte im Dienst für das Gemeinwohl und der dafür nichts
wollte, als immer mit 98,8% der Stimmen wiedergewählt zu werden. Und der
wahrscheinlich nicht mehr hätte einschlafen können, bis er die restlichen 1,2%
aufgetrieben und von sich überzeugt hätte. Wehe, wenn er die nicht fände. Schütteln
würde es ihn nachts vor Angst und Unsicherheit, weil da noch 1,2% waren, die gegen
ihn gestimmt hatten. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn. Und daß jemand gegen
ihn war, war unerträglich. Nein, er hätte es keinen Tag ausgehalten, Politiker zu sein.
So genau zu erfahren, wie viele gegen einen sind! Da nützt es doch überhaupt
nichts, daß soundsoviele für einen sind. Eine Negation kann durch nichts gutgemacht
werden. Jetzt kriech doch wenigstens im Zimmer herum, Feigling. Nein, er würde
allen durch sein öffentliches In-die-Stadt-Kriechen beweisen, daß er nicht wissen
wollte, wie sie über ihn dächten. Er hatte sich schon zu lange nach allen Leuten
gerichtet. Aber war das Kriechen nicht auch schön, ohne daß die Leute es sahen,
ohne daß er den Leuten damit irgend etwas bewies? War es nicht schon eine
Demonstration der Freiheit, wenn er herumkroch, auch wenn niemand ihn sah? War
nicht das die wahre Freiheit? War er, wenn er hier allein herumkröche, nicht viel
freier, als wenn er dem Zwang, den Leuten durch sein Kriechen seine Freiheit, seine
Unabhängigkeit zu beweisen, nachgeben würde? Gab es etwas Freieres als dieses
gänzlich unbeobachtete Herumkriechen auf eigenem Grund und Boden? Gab es
etwas Sinnloseres? Das war klar: nur wenn ihn jemand gesehen hätte, hätte das
Kriechen einen Sinn gehabt. Nur wenn es öffentlich stattfand, war das Kriechen ein
Beweis für Mut und Unabhängigkeit. Seit wann meinte er, mit dem Kriechen eine
Mutprobe ablegen zu müssen? Das hatte er doch nicht vorgehabt. Kriechen hatte er
wollen, sonst nichts. Allerdings öffentlich. In die Stadt hinein. Aber ohne etwas zu
denken oder zu beabsichtigen. Ein reines Bedürfnis war es gewesen. Jetzt war alles
schon durch Denken und Meinen verdorben. Er mußte gar nicht erst hinknien. Das
Kriechen war ihm verleidet. Er hatte schon wieder den Fehler gemacht, etwas, was
er tun wollte, in Gedanken gleich allen Leuten vorzulegen zur Beurteilung. Das Beste
auf der Welt wäre, wenn immer so verfahren worden wäre, unterblieben. Er aber
würde am liebsten zuerst zu Lissi Reinhold, der großen Banalen, rennen, um sie zu
fragen, was sie von einem halte, der gern in die Stadtmitte kröche. Zum Psychiater
mit ihm, würde sie sagen. Also, falls er je wieder diese Anwandlung verspürte, nicht
nach Öffentlichkeit trachten, einfach sich niederlassen, loskriechen. Auch wenn es
als ein von keinem wahrgenommenes Kriechen keinen Sinn hat. Als sinnloses
Herumkriechen ist es doch am ehesten dein Kriechen und niemandes Kriechen
sonst.
Spät am Nachmittag stand Magda unter der Tür und sagte: Leider bleib' ich in der
Schule. Dazu verzog sie das Gesicht, wie wenn sie hätte lächeln wollen. Ein Lächeln
wurde es nicht, aber die Vorführung eines guten Willens. Gottlieb sprang sofort auf,
ging hin zu ihr und berührte sie an der Schulter. Lieber hätte er ihr einen Kuß
gegeben. Abends kam Vetter Leonhard. Er war zufrieden. Schmerzen nur noch in
den Beinen. Aussehen tut Regina allerdings, als sei sie noch nicht wieder da. Keinen
Hauch Farbe hat sie im Gesicht. Aber Leonhard weiß, die Leber arbeitet wieder, die
Galle fließt, eine Niere, sagt er, will noch das Käschperle machen, aber, sagt er, nicht
mehr lang. Beim Abendessen spricht Magda von selbst. Sie ißt, was alle essen. Sie
erzählt, was man in der Schule von der ersten Frau Terbohm erzählt. Die hat
offenbar Zettel hinterlassen. Am Schluß, als sie zu schwach war, aufzustehen, hat
sie an die Wand geschrieben. Sie habe aufgehört zu essen, solang ihr Kühlschrank
noch voll sei. Sie fühle sich wunderbar. Entsetzlich sei es, nichts mehr essen zu
können, weil der Kühlschrank leer sei. Sie sei drauf und dran, dem Entsetzlichen für
immer zu entgehen. Gegen Ende scheint sie gut aufgelegt gewesen zu sein. An-
dererseits hat man, wie immer in solchen Fällen, unter den Fingernägeln der Toten
Teppichfilz gefunden. Magda konnte nicht aufhören, von dieser Frau zu sprechen.
Sie hätte sie besuchen sollen. Sie war doch mit Bernhard Terbohm in die Klasse
gegangen. Da der jetzt in Salem ist, hätte sie seine Mutter besuchen sollen. Sie hätte
Bernhard das anbieten müssen. Sie begreife nicht, warum sie ihn in den Ferien nicht
gefragt hatte, ob es ihm recht sei, wenn sie manchmal seine Mutter besuche. Die
Schwester ist ja für ein Jahr in Connecticut. Julia will etwas viel Wichtigeres erzählen.
Stefan Schatz hat den Direktor besiegt. Das Motzfäßle wird aufgestellt. Probeweise
zwar, aber schon geht Stefan Schatz durch die Schule, als sei er der Direktor. Julia
verlangte, daß ihr Vater endlich einmal begreife, was für ein brutaler Egozentriker
dieser Stefan Schatz sei. Natürlich setze der sich immer für die richtigen Projekte ein,
immer ganz tolle Projekte, aber er tue es nur, um sich hochzuspielen, um allen
anderen zu beweisen, daß er der ganz große Typ sei. Für sie sei einer, der es nur
aushalte, wenn er Spitze ist, das Hinterletzte. Gottlieb widersprach ihr laut und immer
lauter. Das sei eben typisch Julia, typisch für seine Kinder: selber flau und schlaff und
erzbequem, aber schimpfen auf die, die etwas unternehmen, die sich einsetzen, die
nicht nachgeben, bis sie etwas Tolles geschafft haben! Bitte, wenn sie schon selber
lieber rumgammle, als sich einzumischen, wenn es ihr schon lieber sei, daß sie
später von denen, die es geschafft haben, herumkommandiert wird, weil sie sich zu
fein ist, andere herumzukommandieren, dann solle sie ihr selbstverschuldetes
Jammerlappenleben eben in Kauf nehmen, aber nicht auch noch stänkern gegen die,
die sich aufgeschwungen haben und jetzt für immer droben sind, über den Nulpen,
Flaschen, Nieten . . . Er konnte sich wieder nicht fassen. Er mußte vom Tisch weg,
hinüber in sein Büro und die Tür zuschlagen. Sobald er saß und der den ganzen
Körper durcheilende Krampf allmählich nachließ, nahm er Papier und machte eine
Aufstellung aller Werte, die er erworben hatte. Das Haus mit den zwei
Ferienwohnungen, das Häuschen in Immenstaad, die Pfandbriefe, Bausparverträge,
Sparkonten. Dann versuchte er, daraus vier Teile zu machen. Zum Essen ließ er sich
erst holen, als er ausgerechnet hatte, wie jedes der vier Kinder zu eigenem Grund
und Boden komme. Jede sollte etwas haben, worüber nur sie selber verfügen
könnte. Ihm drängte sich die Vorstellung auf, daß er die Kinder zu kleinen, aber
autarken Schlachtschiffen ausbauen würde, auf daß sie niemals fremdem Willen
unterworfen sein konnten. Oder daß es doch wenigstens einen Platz gebe, wo sie
unangreifbar wären. Er errechnete, daß er, wenn er durchhielt und die Umstände
günstig blieben, noch 15 bis 20 Jahre arbeiten müßte, bis er die Kinder mit jenem
Eigentum ausgestattet hatte, das sie in dieser Gesellschaft vor den schlimmsten
Erfahrungen bewahren konnte. Als Kind hatte er am liebsten Baumlager gebaut.
Hoch in Tannen hatte er mit Ludwig winzige Hütten gefügt und geflochten, in denen
sie dann tagelang unerreichbar lagen und rauchten und Karten spielten. Eine eigene
Wohnung, ein eigenes Haus, das ist das, was früher Waffen waren. Er erwartete in
jedem Augenblick, die Kinder kämen und würfen ihm vor, daß er sie in eine Welt
gesetzt habe, in der sie gar nicht gebraucht würden, in der man nur bemerkt werde,
wenn man sich aufdränge. Sie hatten — und er wußte nicht, wie es dazu gekommen
war — diese luxuriöse Art der Zurückhaltung entwickelt. In der Schule fanden sie es
peinlich, wenn jemand, der etwas gelernt hatte, sich meldete, um zu zeigen, was er
gelernt hatte. Er war schon oft genug von Lehrern bestellt worden, die ratlos waren,
weil seine Kinder im Mündlichen einfach ausfielen. Wie sollte das erst in der
Wirklichkeit werden? Als er sich schon ganz verstrickt hatte in die Schwierigkeiten,
die vor allem nachts gedeihen, rief Schaden-Maier an. Rudi W. Eitel sei
verschwunden oder verhaftet, ob Gottlieb etwas wisse? Schaden-Maier rief aus dem
Krankenhaus an. Von seiner stählernen Stimme war nur noch ein Krächzen übrig. Er
habe wieder einen Blutsturz gehabt. Das werde sein letzter sein. Er wünsche Gottlieb
alles Gute. Gottlieb, das Kind, solle Rudi, den Hochstapler, von Helmut, dem Soifer
grüßen. Der Schaden-Maier hängte auf. Gottlieb beschloß, das alles für
Alkoholphantasie zu halten, und ging ins Bett. Als er lag, kam Annas Hand herüber.
Auch redete sie so zu ihm, als lebten sie wieder im tiefsten Frieden und alles glückte.
Mit einer lebendig leisen Stimme gab sie den oberflächlich bleiben wollenden, sich
räkeln wollenden Seufzerton, diesen Anstifterton, für den in ihrer Umgangskunst ein
Antwortton Gottliebs fällig gewesen wäre. Er konnte, was er hörte, nur benützen, wie
der Astronom ein Sternenlicht nur benützt, um die Entfernung zu messen. Die schien
ihm unendlich. Anna wußte offenbar überhaupt nicht mehr, wo er zur Zeit war. Und er
fühlte sich unfähig, es ihr mitzuteilen. Er konnte nicht über sich verfügen. Er war nicht
sein eigener Herr. Er mußte voller Peinlichkeit und Scham warten, bis Anna
eingeschlafen sein würde, dann konnte er sich wieder der Szene zuwenden, in der
das Schwanenhaus unvertreibbar herumgeisterte; in der feindselig brodelnden
Atmosphäre leuchteten die Zahlen auf, die seine Schulden ausdrückten; was
erschien, wurde Drohung; die Konjunktur krümmte sich, erstickte. Gottlieb grinste.
Alles war so ungünstig als möglich. Aber was ging es ihn an? Er spürte, wie er nur
zum Schein daran teilnahm. Man konnte zwar meinen, es gebe nichts als diesen
Schein. Aber vielleicht gab es doch noch etwas. Seine Teilnahmslosigkeit. Wie hätte
er, wenn die Misere alles gewesen wäre, grinsen können?
Um 9 Uhr war er in Mitten. Nach Detektivmanier parkte er wieder ein paar hundert
Meter vor der Einfahrt. Vor und nach der Einfahrt und innen, zwischen dem Tor und
den beiden das wirkliche Tor bildenden Linden, die er erst heute erkannte als das,
was sie waren, zwei Hoheiten nämlich, zwischen dem steinernen Tor und den
Linden-Hoheiten also war ein hauptsächlich gelber, militärisch wirkender Fuhrpark
aufgefahren. Lkws, Schaufelbagger, Kranfahrzeuge, Feuerwehrwagen. Und
Soldaten, sozusagen. Und Schlachtenbummler. Unwillkürlich dachte Gottlieb:
Karfreitag. Er ging sofort auf das Kutscherhaus zu, rannte die steile, enge und
gerade Treppe hinauf, klopfte an der Wohnküche, Dio-nys rief: Herein. Gottlieb stellte
die zwei Weinflaschen auf den Tisch. Dionys schüttelte den Kopf, winkte ab, dann
machte er eine Geste in Richtung Villa. Um zehn Uhr wird gesprengt. Gottlieb setzte
sich. Neben Dionys. Beide sahen hinaus. Dionys zeigte auf das Zentrum. Ein
Kastenwagen. In dem saßen an einem Tisch drei Herren, einer hatte einen gelben
Schutzhelm auf. Das sei der Sprengmeister. Einer sei der Herr von Reventlow, ein
Architekt. Den dritten kenne er nicht. Den kannte Gottlieb. Der heißt Kaltammer,
sagte Gottlieb. Der Sprengmeister erläuterte offenbar an Hand eines Grundrisses,
wie er die Sprengung vorbereitet habe. Manchmal kamen noch Arbeiter vom Haus
her und meldeten etwas in den Kastenwagen hinein. Manchmal sagte der
Sprengmeister etwas in sein Sprechfunkgerät. Dionys hatte gehört, eine Firma habe
den Bau gekauft, lasse sprengen, abreißen und baue dann einen Apartmentsblock
mit 5 o oder 100 Wohnungen. Der reiche dann bis dahin, wo jetzt die Linden stehen.
Die kämen auch weg. Aus zwei Arbeitskanzeln sägten Arbeiter schon mit
Motorsägen in den Kronen herum. Die stehen unter Naturschutz, das weiß ich ganz
sicher, sagte Dionys. Wenn die weg sind, sagte Gottlieb, gewinnt der Bauherr
tausend Quadratmeter dazu, die sind hier 150 000 Mark wert, dafür kann er der
Behörde, wenn überhaupt Anzeige erstattet wird, gern 10 000 Mark Strafe zahlen.
Das ist so üblich, Dionys. Gestern abend, als sie die Tiere abholten, habe man den
lädierten Schwan erschießen müssen, darauf sei der andere wieder so wild
geworden, daß nichts anderes übriggeblieben sei, als ihn auch zu erschießen. Dann
hätten sie von ihm verlangt, die Kadaver zu beseitigen. Er habe sich geweigert. Dann
hätten sie gesagt, da ja doch gesprengt werde, könnten die beiden Viecher auch drin
liegen bleiben. Nur so habe er überhaupt erfahren, daß gesprengt werde. In die
Grundmauern haben sie 150 Sprengsätze hineingebohrt. Um fünf Uhr in der Früh'
haben die angefangen. Das gehe alles hoppdihopp, weil ein Sauhaufen Kapital
drinstecke. Bubi fehle seit gestern abend. Gottlieb sagte: Schau! Kaltammer, der
Sprengmeister und der Architekt waren ausgestiegen. Der schlanke Kaltammer war
einen Kopf größer als die beiden anderen. Seine gelben Haare konnten es an
Leuchtkraft mit dem Helm des Sprengmeisters aufnehmen. Kaltammer stützte, wenn
er stand, immer die Hände in die Nierengegend, daß seine Arme wie Henkel von ihm
abstanden. Auch beugte er immer seinen Kopf ein wenig herunter, als wolle er den
Leuten zeigen, wie leicht es sei, mit ihm zu sprechen. Heute trug er zu seinem
changierenden Seidenmantel einen bauschigen beigen Schal. Punkt zehn Uhr
ertönte das Hörn, die Neugierigen wurden zurückgedrängt in den Raum zwischen
Linden und Tor; die Arbeiter, die die Linden entasteten, wurden heruntergeholt. Der
Sprengmeister machte darauf aufmerksam, daß jeder auf eigene Gefahr hier stehe.
Dann drückte er. Ein dumpfer, erstickter Krach, durchkreischt von spitzem Geklirr.
Und sofort, aus allen Kellerfenstern schießend, eine schmutzige Staubwolke, in der
das Haus verschwand, die Bäume verschwanden und die Fahrzeuge und die
Menschen. Gottlieb hustete. Er verlor das Zeitgefühl. Als sich die brodelnden
Schwaden senkten, als man das Haus allmählich wieder sah, konnte eher eine
Ewigkeit als ein Augenblick vergangen sein. Das Schwanenhaus hatte den Anschlag
offenbar überstanden. Nur der First hing in der Mitte ein wenig durch. Die
Flaggenterrasse war ins Schiefe verrutscht. Kaltammer und der Architekt waren mit
dem Effekt nicht zufrieden. Sie machten dem Sprengmeister Vorhaltungen. Der
drehte sich dann weg, als wolle er sagen, es habe keinen Sinn, mit Laien zu streiten.
Er winkte vier seiner Leute her, die trugen vier Pakete ins Haus. Kaltammer
schüttelte nur noch den Kopf. Der Architekt wollte ihn beruhigen. Kaltammer ließ sich
nicht beruhigen. Er deutete auf seine Armbanduhr, spreizte zählend die Finger in die
Luft. Die Arbeiter, die die Linden zurichten mußten, wurden wieder hochgehievt. Der
Sprengmeister war seinen Leuten ins Haus gefolgt. Als sie zurückkamen, ging einer
von den Arbeitern auf das Kutscher-Haus zu, öffnete unten die Tür und rief: Dionys,
dein Hund ist hin. Bubi liege in der Halle, angebunden an der Hallentreppe, die die
Sprengung unversehrt überstanden habe. Auch dem Hund sehe man nichts an.
Vielleicht ein Herzschlag. Von dem Schrecken. Laß ihn liegen, sagte Dionys und
stellte zwei Gläser auf den Tisch und schenkte ein. Gottlieb und er prosteten
einander zu und tranken. Dionys schloß die Augen beim Trinken. Wegen seiner
Verkrümmtheit sah es aus, als könne für ihn nichts so anstrengend sein wie das
Trinken. Er sagte, solang er lebe, seien die Weine immer besser geworden. Der
winzige Goldring an seinem Ohr leuchtete in der dämmrigen Küche. Sobald der
Sprengmeister und seine Gehilfen aus dem Haus zurückkamen, wurden die Arbeiter
aus den Lindenkronen heruntergefahren, alle Zuschauer mußten das Grundstück
verlassen. Noch eine Warnung, dann wurde die zweite Sprengung gezündet.
Diesmal gab es fast keine Staubwolke. Man sah, wie die Erschütterung durch das
Gemäuer fuhr. Das Haus stand zwar noch immer, aber nur noch wie ein Mensch
steht, der, an einen Pfahl gebunden, erschossen worden ist. Jetzt fuhr schon der
Seilkran auf das Portal zu, hielt, schwenkte aus und ließ die Stahlkugel in den Por-
talbau schlagen. Das Schwanenrelief mit dem Spruch wurde zerschmettert. Die
Kugel holte aus, schlug zu, der melancholisch geschwungene Giebel rührte sich
nicht. Dionys sagte, die Kugel wiege eine Tonne. Motoren heulten auf. Ein
Schaufelbagger fuhr an, zwei gewaltige Haken wurden links und rechts ins Portal
geklinkt, der Bagger fuhr zurück, die Stahltaue hoben sich, spannten, der Bagger
stand, fuhr noch einmal, mit noch mehr Kraft, zurück, bäumte sich, ein Knall, die
Stahltaue rissen, das Portal stand. Kaltammer drehte sich zweimal auf einem Bein,
pirouettenhaft. Der Sprengmeister selber brachte neue Ladungen nur im Portalbau
an. Nach dieser Sprengung brach der Giebel unter dem Schlag der Stahlkugel
zusammen. Aus zwei Strahlrohren schoß die Feuerwehr Wasser in den
Zusammenbruch. Kaltammer versöhnte sich mit dem Sprengmeister. Offenbar
gratulierte er ihm. Dann gingen Kaltammer und Herr von Reventlow plaudernd zum
Park hinaus. Dionys sagte in witzigem Ton: Es ist prachtvoll ... äh . . . vollbracht. Aber
schau, die Handwerker freuen sich. Er deutete auf eine Gruppe von lachenden
Männern. Hoffentlich komme seine Frau mit Lydia nicht so schnell zu Besuch. Er
habe es seiner Frau gleich gesagt, daß er fürchte, er könne Bubi nicht durchbringen.
Aber dabei habe er mehr an das Füttern und an den Auslauf gedacht. Und jetzt läßt
er ihn da drin. Mein Gott und Vater. Der wird schön erschrocken sein. Aber leiden hat
er nicht mehr müssen. Wer weiß, was ihm so alles erspart geblieben ist. Gottlieb
verabschiedete sich. Wie lange Dionys noch hier wohne? Bis zum ersten, sagte
Dionys, dann ab ins Spital. Gottlieb sagte, er werde vorbeikommen und nach Dionys
schauen. Gottlieb habe was Besseres zu tun, als ihn im Spital zu besuchen, sagte
Dionys. Nix da, sagte Gottlieb, du wirst sehen, ich komm'. Er lass' doch Dionys nicht
verdursten. Es sei schon recht, sagte Dionys. Als Gottlieb hinausging, sahen die
Linden schon aus wie Krüppel. Über den Stücken der niedergelegten Hecke richteten
Arbeiter gerade eine Reklamewand auf. Gottlieb las: Hier entstehen Luxusapparte-
ments. Als er auf der anderen Straßenseite den Friseurladen sah, wußte er, wohin er
jetzt mußte.
Er fuhr sehr langsam. An der Unfallstelle atmete er tief durch. Bei seinem Friseur
mußte er eine Stunde warten. Aber er brauchte keine Zeitung. Als er unter dem
Umhang saß, sagte der Friseur: Wie immer. Und wie immer sagte Gottlieb: Wie
immer. Danach — das war auch immer so — sprach nur noch der Friseur. Wenn
Gottlieb nach der Prozedur ins Freie tritt, überläuft ihn jedesmal ein Schauer. Auch
im Sommer. Am liebsten würde er jedesmal umkehren, zurücklaufen und fragen, ob
er sich wieder unter die Tücher des Friseurs setzen dürfe. Nicht daß er sich unter
diesen Hüllen selig fühlte. Er saß da eher wie im Tetanus. Alle paar Sekunden mußte
er sich befehlen, die Beine zu lockern, die Füße aus der Stangenvo-
gelklammerhaltung zu lösen. Er mußte sich immer wieder sagen: der Friseur werde
ihn garantiert nicht in den Kopf schneiden. Diese Angst stammte aus der Zeit jenes
ersten Friseurs, der sein Geschäft gegenüber der Einfahrt zum Schwanenhaus hat.
Der hatte von Gottliebs Mutter den Auftrag gehabt, ihm die Haare jedesmal
vollkommen wegzuscheren. Dazu hatte der einen Apparat benutzt, der wahr-
scheinlich dem System entsprach, das auch mit Elektrizität betrieben werden kann.
Für 30 Pfennig zahlende Kinder wollte der damals keinen Strom verbrauchen. Wenn
er dann mit seinem Apparat in die Kopfhaut zwickte und das Kind leise aufschrie,
schrie er laut, ob man nicht ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben könne. Die Schuld,
die er einem so zuschob, nahm man auf sich, weil man hoffte, neben den
unvermeidlichen, durch den Handapparat bedingten Kopf-hauteinklemmungen nicht
auch noch beabsichtigt erdulden zu müssen. Von heute aus gesehen, war es
nirgends mehr so schön gewesen wie unter dem blaukarierten Überwurf des ersten
Friseurs. Nirgends mehr waren die Verletzungen, die man zu gewärtigen hatte, so
harmlos gewesen. Gottlieb wäre auch jetzt gern noch länger als nötig unter dem
Überwurf geblieben. Er stellte sich vor, daß er, je länger er unter dem Überwurf sitze,
desto kleiner werde. Schließlich würde er so klein werden, daß der Friseur ihn
gänzlich wegkämmen konnte. Nachher käme er in die Bürste, mit der der Friseur
seinen Kamm reinigt. Womit der Friseur die Bürste reinigt, hat man noch nie
gesehen, also weiß man nicht, wohin man zuletzt kommt. Als er im Auto saß, merkte
er, daß er nicht heimfahren konnte. Er rief Anna an. Das Schwanenhaus sei
gesprengt worden, sagte er und redete weiter, bevor sie etwas dazu sagen konnte.
Er müsse dringend nach Herdwangen fahren, einen Hof aufzunehmen. Er steigerte
seine Stimme so sehr er konnte. Hoffentlich gehe es Anna und den Kindern so gut
wie ihm. Sie wisse, daß Höfe aufzunehmen seine Lieblingsbeschäftigung sei, da er,
als er nach den zwei Semestern Kirchenarchitektur und dem Jura-Studium Makler
geworden war, immer gehofft hatte, Hof-Makler werden zu können. Er redete schnell,
hemmungslos, vorbeugend. Und, bitte, Anna, schick' ein Telegramm an Baptist
Rauh: Schwanenhaus gesprengt, stop, Apartment-Gesellschaft überbot alle. Gruß
Zürn. Dann fuhr er langsam landeinwärts. Ach, er hätte Anna doch sagen sollen, daß
Paul Schatz das Schwanenhaus auch nicht bekommen hat. Kaltammer hat es
bekommen. Weder Schatz noch Zürn, aber Kaltammer. Der Schaden-Maier ist das
wirkliche Genie. Er erkennt das Gesetz. Du hast das Schwanenhaus nicht auf dem
Gewissen. Das ist ganz einfach. Darum kannst du grinsen, während das Auto
langsam die Steigungen frißt und sanft durch Mulden taucht. Du bist einer, der im
Augenblick zu einer Arbeit fährt, die er gern tut. Die Nase in die von Stube zu Stube
streng wechselnden Gerüche eines jahrhundertealten Bauernhauses stecken, die
Finger feinfühlig werden lassen auf altem Holz, Fertigkeiten erfahren, die gegen Not
entwickelt wurden, ein schöner Nachmittag. Er fuhr erst heim, als er sicher sein
konnte, daß die Kinder schliefen. Anna war auch schon im Bett. Sie las aber noch in
einem Buch über Erdstrahlungen. Er legte sich so dicht als möglich neben sie. Sie
hatte, als sie merkte, daß er sich zu ihr legen wollte, den Arm ausgelegt. Sie las
weiter, drückte ihn aber ein wenig an sich. Jemand, der jetzt zur Tür hereingekom-
men wäre, hätte den Eindruck haben müssen, sie schütze ihn. Hatte er von seinem
Vater je etwas anderes gehört, als daß er von seiner Frau beschützt werden mußte?
Er sah an die Stelle des Vorhangs, hinter der der Apparat stand. Morgen kommt der
ins Büro. Der Familie wird mitgeteilt, der sei angeschafft worden, damit Interessenten
von Besichtigungen gleich Bilder mitnehmen könnten; familiäre Verwendung nicht
ausgeschlossen. Irgendwann konnte er sich immer noch rächen an Anna mit dem
Apparat. Wie unlebendig waren jetzt die Rachevorstellungen, die er in letzter Zeit
gegen Anna gehegt hatte. Sie las weiter, weil er gestern nicht auf sie gehört hatte.
Sie würde Jahrhunderte lang nur noch lesen, wenn er nicht zeigte, daß er bedaure,
gestern eine Antwort versäumt zu haben. Nach den Regeln ihrer Umgangskunst
mußte er nach ihr rufen. Er würde nach ihr rufen, sobald er konnte. Daß er das Auto
zerstört hatte, war harmonisch beantwortet worden durch den Mißerfolg bei Frau Dr.
Leistle. Das einzige, was er im Augenblick sagen könnte, wäre: Anna, Schatz hat das
Schwanenhaus auch nicht gekriegt. Nicht einmal Schatz. Aber Kaltammer. Natürlich
Kaltammer. Aber auch Kaltammer . . . Gottlieb erkannte, daß etwas tatsächlich hinter
ihm war. War ihm, was ihm gegen jemanden eingefallen war, nicht immer künstlich
vorgekommen? Er hatte es sich nur nicht eingestanden. Er hatte es für nötig
gehalten, sich als Gegner fühlen zu können. Aber hatte er nicht, sobald er gegen
jemanden gewesen war, den Boden unter den Füßen verloren? Und sobald er etwas
für jemanden empfand oder sagte, spürte er, wie wahr es war. Auch ging sofort eine
Wärme von dem aus, was er zu Gunsten eines anderen sagte. Sooft er etwas gegen
Schatz oder Kaltammer gesagt hatte, hatte er sich nachher beklommen gefühlt, so
als habe er sich selber verletzt. Stimmte das, oder holte er das aus seinem Illusions-
Gewächshaus, um endlich einschlafen zu können? Er konnte doch noch grinsen,
oder? Innerlich wenigstens. Hatte er je so deutlich gespürt, daß Kaltammer und
Schatz in ihm verblassen konnten? Sollte es auch das Leben selbst sein, das
verblassen mußte, damit die zwei ihm unwichtiger wurden, ihm war es recht.
Vielleicht war, seit das Schwanenhaus im Himmel war, doch eine Zeit vorbei. Er
schmiegte sich an Anna wie die nestende Amsel, die sich durch das Schmiegen das
Material gefügig macht. Vielleicht sollte er versuchen, ein Schlußwort an Frau Dr.
Leistle zu richten, besagend, daß es schon ein arger Zufall gewesen wäre, wenn sie
sich aus ihrer angestammten Natur dazu verirrt hätte, ihm das Schwanenhaus
anzuvertrauen. Eigentlich war das immer unmöglich gewesen. Sein Freund Helmut
hat es ihm doch gesagt. Man hat nichts miteinander gemein. Kein Wort, keine Geste.
Die Eroica, noch einmal. Durch schimmernde Türen. Und zum Abschied mit Schluß.
Eine Beendigung muß unpersönlich sein. Her mit Finaleeile, Beendigungsdonner,
Witzlosigkeit. Opus 5 5, bitte. Es-dur, bitte. Was will man denn da! So alt, wie der
Komponist war, als er diese Musik machte, fühlte er sich jetzt doch auch. Der Sieg
der Erfahrung über die Vorstellung. Er drehte sich zu Anna hin. Sie war
eingeschlafen. Er nahm ihr das Buch von der Decke, löschte das Licht und zog sich
vorsichtig zurück. Grins' doch. Und schneuz dich. Dann kannst du auch einschlafen.
Im Augenblick fanden nur die Atemzüge statt, die er selber machte. Er tastete nach
dem Taschentuch, zog sich mit dem Taschentuch unter seine Decke zurück, machte
nach außen dicht und fing an, sich zu schneuzen; aber aus Rücksicht auf Annas
Schlaf schneuzte er sich langsam und leise. Plötzlich wurde ihm die Decke vom Kopf
gezogen und Anna fragte voller Angst: Gottlieb, was ist denn? Jetzt schneuzte er
sich laut und kräftig. Sie fragte, warum er denn nicht schlafe. Er fragte, warum denn
sie nicht schlafe. Sie sagte, weil er nicht schlafe. Dann muß ich jetzt also schlafen,
damit du schlafen kannst, sagte er. Ja, sagte sie, schlaf jetzt. Das war nicht nur ein
rücksichtsloser Wunsch, es war auch die Übertragung der Kraft, die man zum
Einschlafen braucht. Gottlieb wollte noch Anna, danke! sagen, aber dazu fühlte er
sich schon zu schwer.

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