50.569 Widerspruchsfreiheit HWPh Bd. 12, 703
12, 703
Mitteil., Abh. Math. Seminar der Hamburg. Univ. 1 (1922)
157–177.
[18] A. N. WHITEHEAD/B. RUSSELL: Principia Mathema-
tica 1–3 (Cambridge 1910–13, 21925–27).
[19] K. GÖDEL: Über formal unentscheidbare Sätze der Prin-
cipia Mathematica und verwandter Systeme. Mh. Math. Physik
38 (1931) 173–198. Coll. works 1, hg. S. FEFERMAN (New
York/Oxford 1986) 144–195.
[20] a.O.; vgl. A. TARSKI: Einige Betrachtungen über die Be-
griffe der ω-W. und der ω-Vollständigkeit. Mh. Math. Physik
40 (1933) 97–112.
[21] G. GENTZEN: Die W. der reinen Zahlentheorie. Math.
Ann. 112 (1936, ND 1967) 493–565.
[22] D. HILBERT: Die Grundlegung der elementaren Zahlen-
lehre. Math. Ann. 104 (1931) 485–494, hier: 491.
Literaturhinweise. D. HILBERT/P. BERNAYS: Grundla-
gen der Math. 2 (1939, ND 1970) § 5. – S. C. KLEENE: In-
trod. to metamathematics (Amsterdam/Groningen 1952, ND
1991). – A. A. FRAENKEL/Y. BAR-HILLEL/A. LEVY s.
Anm. [7] § 4. – K. SCHÜTTE: Beweistheorie (1960).
V. PECKHAUS
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50.570 Widerstand HWPh Bd.
Widerstand (griech. ἀντιτυπία; lat. resistentia; engl.
resistance; frz. résistance)
I. Naturphilosophie. – Die klassische Mechanik
der Neuzeit, die am Ende des 17. Jh. ihre erste Gestalt
ausbildete, unterscheidet in ihrer Bewegungslehre
(Dynamik) zwei verschiedene Formen von W., die in
Bewegungsvorgängen vereint auftreten können, kon-
zeptuell aber unabhängig voneinander sind: 1. den
Strömungs-W. (in viskosen Medien: Reibungs-W.),
d.h. die Kraft, den das Medium, in dem sich ein Kör-
per bewegt, auf ihn ausübt, und 2. den Trägheits-W.,
eine sog. Scheinkraft, die einer Änderung des Zu-
stands der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung
entgegenwirkt und der Masse proportional ist. Neben
diesen dynamischen Begriffen kannte die neuzeitliche
Mechanik bis ins 19. Jh. den W.-Begriff auch auf
dem Gebiet der Festigkeitslehre: 3. Festigkeits-W.,
d.h. der W., den ein fester Körper jedem Versuch ent-
gegensetzt, den Zusammenhang seiner Teile aufzuhe-
ben. Der Begriff perpetuiert Merkmale der Antitypie
 (s.d.), die von der Stoa bis ins 17. Jh. als eine Ma-
terieeigenschaft begegnet, die den W. eines Körpers
gegen Durchdringungerklären soll. – Über das Feld
der Mechanik hinaus verwendet die Physik seit dem
19. Jh. den Begriff ‹W.› auch in anderen Gebieten, so
vor allem in der Elektrizitätslehre (‹elektrischer W.›,
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‹induktiver W.›, ‹kapazitiver W.› usw.), aber auch auf
dem Gebiet des Magnetismus und der Wärmelehre
[1].
1. Strömungs-W. – Der Strömungs-W. ist Gegen-
stand der naturphilosophischen Bewegungslehre seit
ihren Anfängen in der griechischen Antike, auch wenn
sich vor der Neuzeit kein entsprechender Fachtermi-
nus herausgebildet zu haben scheint. Im Griechischen
wie im Lateinischen wird der Strömungs-W. mit Ver-
ben der Alltagssprache beschrieben: ἐμποδίζω [2]
und ἀντικόπτω [3] bzw. ‹resistere› und ‹subsistere›
[4]; manchmal wird er nur indirekt durch eine Aussa-
ge über die Dichte des Mediums zur Sprache gebracht
[5]. Selbst zu Beginn des 17. Jh. ist die naturphiloso-
phische Bedeutung von ‹resistentia› noch deutlich
ihrer logischen bzw. kategorientheoretischen nachge-
ordnet [6], während der Begriff im 18. Jh. vor allem
in seiner naturphilosophischen Bedeutung verwendet
wird [7].
Der Strömungs-W. ist nicht nur einfach ein Gegen-
stand, sondern integraler Bestandteil der naturphilo-
sophischen Bewegungslehre in Antike, Mittelalter
und früher Neuzeit. Eine Ausnahme bildet in dieser
Hinsicht lediglich der antike Atomismus, der den
Strömungs-W. zwar ebenfalls thematisiert [8], für den
aber Bewegung gerade nicht notwendigerweise Bewe-
gung in einem Medium war. Für alle naturphilosophi-
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schen Ansätze dagegen, die die atomistische Annah-
me eines Vakuums  (s.d.) verwerfen, vollzieht sich
alle Bewegung notwendigerweise in einem Medium.
In der Bewegungslehre des ARISTOTELES hat das
Medium als – im Unterschied zu festen Körpern –
wohldurchteilbares (εὐδιαίρετος) [9] darüber hinaus
den Status einer notwendigen positiven Bedingung
der Bewegung [10]. Und im Falle der Projektilbewe-
gung nach der Trennung vom Projektor spricht er dem
Medium sogar die Rolle eines Bewegers zu [11],
wobei diese seine Theorie nicht mit der von ihm abge-
lehnten Antiperistasis  (s.d.) zu verwechseln ist.
Erst mit der Impetustheorie des PHILOPONOS, wel-
che die Fortbewegung des Projektils nach Trennung
vom Projektor mit einer dem Projektil vom Projektor
eingedrückten bewegenden Kraft, eben dem Impetus
 (s.d.), erklärt, verliert das Medium diese Doppel-
rolle, sowohl eine Bedingung der Bewegung als auch
ein sie hindernder W. zu sein, und wird nur noch als
W. verstanden, der eine Bewegung je nach seiner
Dichte stärker oder schwächer retardiert [12].
Eine eingehende Untersuchung der Gesetzmäßig-
keiten des Strömungs-W. beginnt erst im 17. Jh. mit
der neuzeitlichen Hydro- und Aerodynamik, die – im
Unterschied zur Hydrostatik – nicht an eine ausgear-
beitete Theorie der Antike anknüpfen konnte. (Die hy-
drodynamischen Phänomene, die HERON VON
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ALEXANDRIA im Zusammenhang mit gewissen Au-
tomaten ansprach, betrafen nicht den Strömungs-W.)
Die theoretische Behandlung des Strömungs-W., die
mit I. NEWTON einsetzt [13] und im 18. Jh., von D.
BERNOULLI bis J. L. LAGRANGE, ein ausgezeich-
neter Gegenstand der sich entwickelnden analytischen
Mechanik ist [14], hat in der zeitgenössischen Natur-
philosophie kaum Spuren hinterlassen und gehört zur
engeren Geschichte der neuzeitlichen Physik.
2. Trägheits-W. – Das oberste Prinzip der Aristote-
lischen Bewegungslehre, nämlich daß «alles Bewegte
von etwas bewegt wird» (ἅπαν τὸ κινοῦμενον ὑπό
τινος ἀνάγκη κινεῖσθαι; «omne quod movetur ab ali-
quo movetur») [15], liegt allen Bewegungslehren vor
dem 17. Jh. zugrunde, die so den modernen Begriff
der Trägheit  (s.d.) prinzipiell ausschließen. Dem-
entsprechend ist der Strömungs-W. bzw. das Angrei-
fen einer anderenentgegenwirkenden Kraft in diesen
Bewegungslehren nicht die einzige Ursache, die ein
Bewegtes zur Ruhe bringen kann. Nach dem Prinzip
des Aristoteles kann eine Bewegung nicht andauern,
wenn ihre Bewegungsursache zu wirken aufhört. Im
Rahmen der Impetustheorie nehmen zudem einige
ihrer Vertreter an, daß die durch einen Impetus be-
wirkte Bewegung nicht allein durch den Strömungs-
W. endlich zur Ruhe kommt, sondern auch deswegen,
weil der mitgeteilte Impetus mit der Zeit ‘ermüdetʼ
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[16].
Gleichwohl finden sich in diesen Bewegungstheori-
en Erklärungen für unübersehbare Phänomene, die
heute auf den Trägheits-W. zurückgeführt werden. In
der Antike hatte z.B. HIPPARCHOS das Gewicht
(βάρος) der schweren Körper als ein Vermögen ver-
standen, mit dem die Körper jedem Versuch, sie in ir-
gendeine Richtung zu bewegen, W. leisten [17], eine
Auffassung, die möglicherweise für J. KEPLERS Be-
griff der «trägen Materie» von Bedeutung war [18].
Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch
ein mittelalterlicher Begriff, der prima facie der späte-
ren Trägheitsbewegung direkt widerspricht, nämlich
der Begriff einer «inclinatio ad quietem». Diese incli-
natio ist zunächst lediglich eine andere Form der ‘na-
türlichen Bewegungʼ des Aristoteles: Die ‘natürliche
Bestrebungʼ einer materiellen Substanz, an ihren ‘na-
türlichen Ortʼ zu gelangen, ist nichts anderes als das
Bestreben, an diesem Ort zu ruhen. Dies verstehen die
mittelalterlichen Kommentatoren des Aristoteles so,
daß eine materielle Substanz auch bestrebt ist, an die-
sem Ort zu verbleiben; sie weiteten dieses Verständ-
nis im 14. Jh. dahingehend aus, daß die materielle
Substanz an diesem Ort jeder erzwungenen Bewegung
W. entgegensetzt, und zwar nicht nur einer der ‘natür-
lichenʼ Bewegungsrichtung entgegengesetzten Bewe-
gung [19], sondern ebenso einer, die senkrecht zu die-
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ser Richtung angreift, also einer horizontalen Ver-
schiebung [20]. Hier dient also die Bewegungsten-
denz hin zum ‘natürlichen Ortʼ zur Erklärung von
Phänomenen, die in der späteren klassischen Mecha-
nik mit dem Trägheits-W. erklärt werden. In ver-
gleichbarer Weise wird im Rahmen der Impetustheo-
rie der W., den ein Bewegtes jedem Versuch leistet,
es zur Ruhe zu bringen, auf den Impetus zurückge-
führt [21]. Indem zusätzlich die Größe von Impetus
und Masse ins Verhältnis gesetzt werden, kommt
auch die Masse als ein Faktor bei diesen Erklärungen
ins Spiel [22].
Ein Widerhall der impetustheoretischen Erklärun-
gen findet sich noch in NEWTONS ‹Principia›, wo
die Trägheit als eine «vis insita» definiert ist [23].
Gleichwohl stellt das in diesem Werk als «Lex I» for-
mulierte Trägheitsprinzip («Corpus omne perseverare
in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in di-
rectum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur
statum suum mutare») den Bruch mit dem obersten
Prinzip aller früheren Bewegungstheorien dar, daß
alles Bewegte von etwas bewegt sei; es bedeutet zu-
gleich die Etablierung des Prinzips, dem in der klassi-
schen Mechanik der Neuzeit ein vergleichbarer Fun-
damentalstatus zukommt. Auf seiner Grundlage stel-
len sich Strömungs-W. und Trägheits-W. als zwei dy-
namische Faktoren sui generis dar, die nicht länger in-
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einander laufen wie in den verschiedenen Spielarten
der Dynamik vor dem 17. Jh.
3. Antitypie und Festigkeits-W. – PLATON führt
die Eigenschaft eines Körpers, hart (σκλερός) zu sein,
neben der Dichtigkeit darauf zurück, daß er bezüglich
äußerer Einwirkung die unnachgiebigste bzw. wider-
ständigste geometrische Form (ἀντιτυπότατον εἶδος)
besitze [24]. EPIKUR definiert Körper geradezu
durch ihre Ausdehnung und ihr Vermögen, W. gegen
äußere Einwirkung zu leisten, nimmt aber als Erklä-
rung für dieses Vermögen eine den Atomen innewoh-
nende Härte (στερεότης) an, die er dafür verantwort-
lich macht, daß diese der Bewegung anderer Atome
Einhalt gebieten können, während die bloß ausge-
dehnte Leere keinen entsprechenden W. leiste und
sogar die Trennung der einzelnen Atome voneinander
befördere [25]. ‹Härte› und ‹W.› (ἀντιτυπία) scheint
er dabei synonym zu gebrauchen [26]. SEXTUS EM-
PIRICUS diskutiert nach Epikur Härte bzw. Solidität,
aber auch verwandte Materieeigenschaften in der Tra-
dition der Stoa [27], unter dem Begriff «antitypia»
[28]. Er weist eine Unterscheidung zwischen existie-
renden Substanzen (wie Körpern) und ebenfalls exi-
stierenden, mit diesen Substanzen untrennbar verbun-
denen Materieeigenschaften (wie «antitypia») zurück:
Ein W. existiere ebensowenig unabhängig vom wider-
stehenden Körper wie ein Nicht-W. bzw. Nachgeben
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(εἶξις) unabhängig vom Nicht-Widerstehenden bzw.
Leeren [29]. Die Konstitution von Körpern aus Ei-
genschaften wie Größe, Form, W. oder Gewicht wird
von Sextus als Versuch, Existierendes aus Nichtexi-
stierendem aufzubauen, im Gegensatz zu Epikur ver-
worfen [30].
Im Neuplatonismus setzt sich gleichwohl die Auf-
fassung durch, der W. sei eine allgemeine und wesent-
liche Materieeigenschaft: PLOTIN gebraucht die Aus-
drücke ἀντιτυπία wie auch ἀντείρεσις, um eine Ei-
genschaft zu bezeichnen, die zur bloßen Ausdehnung
hinzutreten muß, um physische Körperlichkeit zu
konstituieren [31]. Den W. faßt er dabei als Ursache
der Härte auf, die – etwa bei der Erde bzw. dem Erdi-
gen – nur als eine spezielle und sinnlich wahrnehm-
bare Eigenschaft begegnet [32]. Dem Argument des
Sextus, wonach die Auszeichnung von Eigenschaften
(wie dem W.) bedeute, Seiendes (wie Körper) aus
Nichtseiendem zu konstituieren, sucht Plotin durch
eine Differenzierung des Aristotelischen Qualitätsbe-
griffes beizukommen [33]. Noch im ausgehenden 16.
Jh. kann sich dann der Neuplatoniker F. PATRIZI auf
eine lange naturphilosophische Tradition berufen, in
der physische Körperlichkeit durch die «Antitypie,
welche ein W. ist» («antitypia, quod est resistentia»),
und durch die räumliche Ausdehnung als wesentliche
Eigenschaften bestimmt wird («Corpus est, quod
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50.578 Widerstand HWPh Bd. 12, 706
habet tres diasteses (hoc est distantias) cum antity-
pia») [34]. Dabei stellt er den von ihm behaupteten
ontologischen Primat des Räumlichen, der sich u.a. in
seiner frühen Unterscheidung von mathematischem
und physikalischem Raum und in einem Vorrang der
Mathematik vor der Naturphilosophie manifestiert
[35], nicht in Frage: «antitypia» (bzw. «anteresis»)
unterscheidet zwar als W. («resistentia et renitentia»)
den bloßen Raum vom natürlichen Körper; sie ist
aber als solche ihrerseits auch auf die räumliche Aus-
dehnung angewiesen [36].
In der Neuzeit knüpft besonders P. GASSENDI an
den Atomismus Epikurs an und bestimmt (in Abgren-
zung von Descartes) Materie als Seiendes, das nicht
nur ausgedehnt, sondern auch fähig ist, W. auszuüben
(«Anticipatio, seu notio, quam de corpore habemus
est, vt sit quid dimensiones habens, & capax resisten-
tiae») [37]. Wenn Gassendi an anderer Stelle mit
Bezug auf Epikur nur Größe, Form und Schwere
(«gravitas», «pondus») als essentielle Eigenschaften
der Atome nennt [38], legt er diesen Eigenschaften
Festigkeit («soliditas») und W. («resistentia») gleich-
sam als Substanz («subiectum Naturam») zugrunde
[39]. Synonymisierungen wie «Ἀντιτυπία, Vis resi-
stendi, seu Resistentia» [40] deuten dabei bereits auf
eine dynamische Interpretation des W. hin, wobei die
Bestimmung des Verhältnisses von W. und Schwere
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 50.579 Widerstand HWPh Bd. 12, 707
ein ungelöstes Problem seiner Materietheorie bleibt
[41]. Auch in der von Gassendi stark beeinflußten
frühen Naturphilosophie von G. W. LEIBNIZ ist
neben der Ausdehnung der W. gegen Durchdringung
für physische Körper wesentlich («Nihil igitur ponen-
dum est in corporibus, quod non ex definitione Exten-
sionis et Antitypiae fluat») [42], wobei auch Leibniz
zwischen W. und Undurchdringlichkeit nicht scharf
unterscheidet («Essentia autem materiae seu ipsa
forma corporeitatis consistit in ἀντιτυπίᾳ seu impene-
trabilitate») [43]. Neuplatonistisch geprägt erscheint
hier seine Bestimmung des W. als unterscheidender
Eigenschaft von primärem Raum («Ens primo-exten-
sum, ... corpus mathematicum») und sekundärer Ma-
terie («ens secundo-extensum, ... corpus physicum»)
[44]. In der späteren Ausbildung seiner Dynamik auf
der Grundlage der Monadenlehre [45] versteht er den
W. gegen Durchdringung wie auch den Trägheits-W.
als Wirkungen einer allen Körpern innewohnenden
primitiven passiven Kraft [46]. Faßte somit bereits
der junge Leibniz W. als ein Prinzip auf, das über-
haupt erst Bewegung von einem Körper auf einen an-
deren zu übertragen erlaubt, wird es ihm mit der me-
taphysischen Grundlegung der Dynamik durch kör-
perkonstituierende primitive Kräfte möglich, den W.
als zugleich passives Prinzip (Undurchdringlichkeit,
Trägheit) [47] wie auch als ein aktives, in anderen
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.580 Widerstand HWPh Bd. 12, 707
Körpern Bewegung hervorbringendes Prinzip auszu-
weisen [48]. Geregelt wird dieser Wechselwirkungs-
prozeß durch das Gesetz der Krafterhaltung [49], das
in seiner Nahwirkungstheorie als Prinzip der Bewe-
gungsgesetze («principium legum motus») [50] fir-
miert und zum Aufbau einer mathematischen Mecha-
nik beiträgt, die im späteren 18. und im 19. Jh. ‹anti-
typia› und ‹Undurchdringlichkeit› als nicht quantifi-
zierbare Grundbegriffe der Bewegungslehre für die
Naturphilosophie zunehmend irrelevant werden läßt.
Andererseits bringt es eine von TH. HOBBES, J.
LOCKE und anderen grundgelegte mechanistische
Wahrnehmungstheorie mit sich, daß der Begriff ‹W.›
Eingang in die Erkenntnistheorie findet (vgl. unten:
II.) [51].
Der Festigkeits-W. ist zu keiner Zeit mit der Un-
durchdringlichkeit  (s.d.) gleichgesetzt worden, ob-
wohl der vieldeutige Begriff der Festigkeit oder Soli-
dität  (s.d.) vor dem 17. Jh. zuweilen auch die Un-
durchdringlichkeit umfaßte. Unter dem Einfluß des
neuzeitlichen Atomismus erhält die Undurchdringlich-
keit im 17. Jh. den Status einer materietheoretischen
Grundkategorie mit der Konsequenz, daß die Festig-
keit als eine abgeleitete Eigenschaft gewisser Körper
verstanden wird, die deshalb nicht auf die Undurch-
dringlichkeit zurückführbar sei, weil letztere aller Ma-
terie zukomme. Der neuzeitliche Begriff des Festig-
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keits-W. steht deswegen weder in einem Zusammen-
hang mit dem Leibnizschen Begriff der Antitypie 
(s.d.) noch mit demjenigen der Grundkraft Repulsion
[52] in der Kantischen Materietheorie.
Im Mittelalter wurde der Festigkeits-W. als ein na-
türliches Bestreben eines Körpers nach «continuitas»
verstanden [53] und wie die dynamischen Formen des
W. (Strömungs-W. und Trägheits-W.) als eine Kraft
angesehen. Bis zum Anfang des 18. Jh. war eine Un-
terscheidung zwischen «resistentia activa» und «resis-
tentia passiva» im Gebrauch, die zwischen dem retar-
dierenden bzw. eine Bewegung ganz aufhebenden W.
eines handelnden, nämlich selbst in Bewegung be-
findlichen Körpers und dem eines leidenden, nämlich
ruhenden Körpers differenzierte, wobei der Festig-
keits-W. zusammen mit dem Trägheits-W. eines ru-
henden Körpers unter den passiven W. fiel [54]. E.
CHAUVIN führt aktiven wie passiven W. auf ein Be-
streben der Körper zurück, ihren Zustand zu erhalten.
Dem liegt ein metaphysisches Erhaltungsprinzip
(«omne bonum est sui conservativum») [55] zugrun-
de, das nicht mit der Trägheit der klassischen Mecha-
nik verwechselt werden darf, da es beide Formen des
W. als Kräfte faßt und zwischen gleichförmiger und
beschleunigter Bewegung nicht unterscheidet. Es be-
steht deswegen auch nureine scheinbare Übereinstim-
mung zwischen dieser Unterscheidung von aktivem
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.582 Widerstand HWPh Bd. 12, 708
und passivem W. und der Gegenüberstellung von
Strömungs-W. einerseits und Trägheits-W. sowie Fe-
stigkeits-W. andererseits, wie sie in der Physik des
18. Jh. üblich wurde [56]. Diese Gegenüberstellung
beruhte nämlich auf dem Newtonschen Kraftbegriff
(«Vis impressa est actio in corpus exercita, ad mutan-
dum ejus statum vel quiescendi vel movendi uniformi-
ter in directum») [57], nach dem der Strömungs-W.
als eine Kraft begriffen wird, der Festigkeits-W. (wie
der Trägheits-W.) dagegen gerade nicht. Eine einge-
hende wissenschaftliche Untersuchung der Festigkeit
beginnt erst im 17. Jh. Der ‹Erste Tag› der ‹Discorsi›
G. GALILEIS, der diesem Thema gewidmet ist, stellt
die Geburtsurkunde der modernen Festigkeitslehre
und Materialwissenschaft dar.
Bei I. KANT und in der auf Kant folgenden Natur-
philosophie werden der Sache nach sowohl Strö-
mungs-W. als auch Trägheits-W. und Festigkeits-W.
– wenn auch weitestgehend ohne Bezugnahme auf die
Wissenschaftsentwicklungen ihrer Zeit – diskutiert.
Dabei nimmt das traditionelle, von Epikur bis Leibniz
erörterte Problem, inwiefern der W. eines Körpers
gegen die äußere Einwirkung anderer Körper konsti-
tutiv für physische Körperlichkeit sei, den breitesten
Raum ein, ohne daß grundsätzlich neue Problembe-
handlungen erkennbar wären [58].
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.583 Widerstand HWPh Bd. 12, 708
Anmerkungen.
[1] Vgl. Art. ‹Widerstand›, in: H. FRANKE (Hg.): Lex. der
Physik 3 (1969) 1892–1894.
[2] ARISTOTELES: Phys. IV, 8, 215 a 29.
[3] EPIKUR: Ep. ad Herod. (DIOG. LAERT. X, 61). Opere,
hg. G. ARRIGHETTI (Turin 21973) 34–73, 55f.
[4] LUKREZ: De rer. nat. II, 236.
[5] z.B. in: ARISTOTELES: Phys. IV, 8, 215 b 1–12.
[6] R. GOCLENIUS: Lex. philos. (Frankfurt 1613) 992–993
(Art. ‹resistentia›).
[7] E. CHAUVIN: Lex. philos. (Leeuwarden 1713) 569 (Art.
‹resistentia›).
[8] EPIKUR, a.O. [3]; LUKREZ, a.O. [4].
[9] ARISTOTELES: Phys. IV, 8, 215 a 31.
[10] Vgl. M. WOLFF: Fallgesetz und Massebegriff (1971) 39.
[11] ARISTOTELES: Phys. IV, 8, 215 a 13ff.; VIII, 10, 266 b
40ff.; De caelo 301 b 22ff.
[12] WOLFF, a.O. [10] 38–52.
[13] I. NEWTON: Philos. nat. princ. math. II (1687, 21713).
[14] Vgl. C. A. TRUESDELL: Rational fluid mechanics,
1687–1765, in: L. EULER: Op. omn. II/12 (1954)
VIII–CXXV; zur nicht-analyt. Behandlung des Strömungs-W.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
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im 18. Jh. vgl. J. S. T. GEHLER: Physikal. Wb. 10 (21842)
1723–1860 (Art. ‹W. der Mittel›).
[15] ARISTOTELES: Phys. VII, 1, 241 b 34.
[16] Für die Antike vgl. WOLFF, a.O. [10] 46. 58f. 94; für das
MA vgl. A. MAIER: Die Impetustheorie, in: Zwei Grundpro-
bleme der scholast. Naturphilos. (Rom 31968) 113–314, hier:
184–188.
[17] Vgl. M. WOLFF: Hipparchus and the Stoic theory of mo-
tion, in: J. BARNES/M. MIGNUCCI (Hg.): Matter and meta-
physics (Neapel 1988) 473–545, 488.
[18] J. KEPLER: Mysterium cosmographicum, Notae ad cap.
XVI (1596, 21621). Ges. Werke 8 (1963) 94, 9–14; vgl. P.
PARKER/B. R. GOLDSTEIN: Is 17th-cent. physics indebted
to the Stoics? Centaurus 27 (1984) 148–164.
[19] So z.B. THOMAS VON AQUIN: In Arist. Phys. IV, lect.
12. Op. omn. 18 (Parma 1865) 351.
[20] Vgl. A. MAIER: Zwischen Philos. und Mechanik (Rom
1958) bes. 213–236.
[21] Vgl. z.B. AVICENNA: Kitab as-Sifa, Auszug, in: S.
SAMBURSKY (Hg.): Der Weg der Physik (1978) 191–193,
191; vgl. dazu: A. HASNAOUI: La dynamique d'Ibn Sina, in:
J. JOLIVET/R. RASHED (Hg.): Et. sur Avicenne (Paris 1984)
103–123, 104.
[22] Vgl. z.B. JOH. BURIDANUS: Quaest. sup. octo libr.
Phys. (Paris 1509), ND, in: MAIER, a.O. [16] 207–214, bes.
211, 140–143.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.585 Widerstand HWPh Bd. 12, 708
[23] NEWTON, a.O. [13] def. III.
[24] PLATO: Tim. 62 b 8–c 3; vgl. 55 c 6–56 a 8.
[25] EPIKUR, a.O. [3] 39f. 53f. (DIOG. LAERT. X, 44. 61).
[26] Deperdit. librorum reliquiae frg. 24 [49], a.O. 215–217,
217.
[27] Vgl. SVF 2, 123 (Nr. 381).
[28] SEXTUS EMP.: Pyrrhon. instit. III, 39f. 45–47; vgl.
124–128. 152. Opera, hg. H. MUTSCHMANN/J. MAU/K.
JANÁCEK 1–4 (1911–62) 1, 143f. 145f.; vgl. 167–169. 175.
[29] Adv. dogm. IV, 239, a.O. 2, 352f.
[30] 240, a.O. 353.
[31] PLOTIN: Enn. II, 1 (40), 6f.; II, 6 (17), 2; VI, 1 (42), 26.
Opera, hg. P. HENRY/H.-R. SCHWYZER 1–3 (Oxford
1964–82) 1, 138f. 192; 3, 36.
[32] Enn. II, 1 (40), 6, a.O. 1, 138.
[33] Enn. II, 6 (17), bes. 2; vgl. VI, 1 (42), 10, a.O. 1, 192f.;
vgl. 3, 14–16.
[34] F. PATRICIUS: De rerum natura libri II. Alter de spacio
physico, alter de spacio mathematico (Ferrara 1587), zit. nach:
On physical space (De spacio physico), übers. B. BRIC-
KMANN. J. Hist. Ideas 4 (1943) 224–245, 228.
[35] a.O. 243f.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.586 Widerstand HWPh Bd. 12, 709
[36] 231; vgl. 238.
[37] P. GASSENDI: Syntagma philos., Prooem. Op. omn. 1–6
(Lyon 1658, ND 1964) 1, 55 a.
[38] Synt. philos. III, sec. I, a.O. 1, 266 b.
[39] a.O. 267 a; vgl. O. R. BLOCH: La philosophie de Gassen-
di (La Haye 1971) 206.
[40] a.O.
[41] Vgl. BLOCH, a.O. [39] 206–208.
[42] G. W. LEIBNIZ: Br. an J. Thomasius (20./30. April
1669). Akad.-A. II/1 (1926, ND 1972) 23; vgl. 16.
[43] a.O. 16; vgl. 21f. 23; vgl. auch: G. W. LEIBNIZ: Marii
Nizolii De veris principiis (1670). Akad.-A. VI/2 (1966) 435.
443; hierzu: K. MOLL: Der junge Leibniz 1–3 (1978–96) 2,
146. 149f. 153f. 164.
[44] a.O. [42] 21.
[45] Vgl. Art.  ‹Monade; Monas II. 1.–4.›. Hist. Wb. Philos.
6 (1984) 117–120.
[46] G. W. LEIBNIZ: Gegen Descartes [Mai 1702]. Die phi-
los. Schr., hg. C. I. GERHARDT 1–7 (1875–90, ND 1965) 4,
395; vgl. Br. an F. W. Bierling (12. Aug. 1711), a.O. 7, 501;
Br. an R. Ch. Wagner (4. Juni 1710), a.O. 529.
[47] Specimen dynamicum (1695). Math. Schr., hg. C. I.
GERHARDT (1849–63, ND 1971) 6, 241f.; vgl. 236f.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.587 Widerstand HWPh Bd. 12, 709
[48] Br. an H. Fabri (Mai 1702), a.O. 100.
[49] Vgl. Art.  ‹Energie›. Hist. Wb. Philos. 2 (1972)
494–499, 495f.
[50] a.O. [46] 395.
[51] TH. HOBBES: De corpore III, cap. 15, 2 (1655). Op. phi-
los. lat., hg. W. MOLESWORTH (London 1839–45, ND
1961) 1, 178; cap. 22, 2, a.O. 271f.
[52] Vgl. Art.  ‹Repulsion/Attraktion›. Hist. Wb. Philos. 8
(1992) 884–891, 888.
[53] JOH. BURIDANUS: Quaest. sup. octo libr. Phys. IV, qu.
IX (Paris 1509, ND 1964) fol. 74; vgl. A. MAIER: Die Vor-
läufer Galileis im 14. Jh. (Rom 1949) 69 (Anm. 17).
[54] Vgl. GOCLENIUS, a.O. [6]; CHAUVIN, a.O. [7].
[55] CHAUVIN, a.O.
[56] Vgl. GEHLER, a.O. [14].
[57] Vgl. NEWTON, a.O. [13] def. IV.
[58] Vgl. bes. I. KANT: Metaphys. Anfangsgründe der Natur-
wiss. (1786). Akad.-A. 4, 539. 541. 548f. 552; J. G. FICHTE:
Grundlage der ges. Wiss.lehre (1794, 21802). Sämmtl. Werke,
hg. I. H. FICHTE I/1 (1845) 292f.; F. W. J. SCHELLING:
Ideen zu einer Philos. der Natur (1797). Akad.-A. I/5 (1994)
200f.; Von der Weltseele (1798, 21806). Akad.-A. I/6 (2000)
78f.; G. W. F. HEGEL: Wiss. der Logik 1 (1812). Akad.-A. 11
(1978) 104; Wiss. der Logik 2 (1816). Akad.-A. 12 (1981)
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.588 Widerstand HWPh Bd. 12, 709
143; Encycl. der philos. Wiss. im Grundrisse §§ 261. 265f.
(1830). Akad.-A. 20 (1992) 252f. 257–261; J. F. FRIES: Die
mathemat. Naturphilos. nach philos. Methode bearb. (1822).
Sämtl. Schr., hg. G. KÖNIG/L. GELDSETZER 13 (1979)
560–563; Die Geschichte der Philos. 2 (1840), a.O. 19 (1969)
349f.: mit Bezug auf Leibniz und Newton; 682–684: mit Kri-
tik an Hegel.
W. LEFÈVRE/H. PULTE
II. Erkenntnistheorie. – Eine erkenntnistheoreti-
sche Bedeutung gewinnt der Begriff ‹W.› im 17. Jh.
durch die Erklärung der Wahrnehmung als Folge
einer von außen erfahrenen Einwirkung materieller
Körper auf die Sinnesorgane des Wahrnehmenden,
also als mechanischer Vorgang. So führt etwa TH.
HOBBES aus, daß das Phantasma oder die Vorstel-
lung einem W. des Inneren auf eine von außen erfah-
rene Einwirkung entspringe [1]. Hobbes greift dabei
auf eine naturphilosophische Bestimmung des W. zu-
rück (vgl. oben: I.), der zufolge dieser nicht als etwas
bloßes Passives zu denken sei, sondern als der Impuls
eines Körpers, der dem Impuls eines ihn berührenden
anderen Körpers entgegengesetzt ist [2]. Während bei
Hobbes der Begriff des W. einzig in der mechanisti-
schen Erklärung der Wahrnehmung seinen Ort hat,
wird der W. bei J. LOCKE im Zusammenhang mit
dem Tastsinn zu einem wesentlichen Gehalt der
Wahrnehmung selbst: «The Idea of Solidity we recei-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.589 Widerstand HWPh Bd. 12, 710
ve by our Touch; and it arises from the resistance
which we find in Body, to the entrance of any other
Body into the Place it possesses, till it has left it.
There is no Idea, which we receive more constantly
from Sensation, than Solidity» [3]. Lockes Auffas-
sung bleibt für die auf ihn folgende Philosophie ein
wesentlicher Anknüpfungspunkt [4]. Bei A.-L.-C.
DESTUTT de TRACY wird die W.-Erfahrung zum
Grund für das Bewußtsein des Daseins von etwas
dem Ich Äußerem: «Action voulue et sentie d'une
part, et résistance de l'autre; voilà, j'ose n'en pas dou-
ter, le lien entre les êtres sentans et les êtres sentis»
[5]. Hervorzuheben ist dabei, daß der W. immer rela-
tiv nicht nur zu einem Willen, sondern zu einer durch
den Willen hervorgerufenen Bewegung ist [6]. Konse-
quenterweise ist die W.-Empfindung daher ebenso als
Grund des Bewußtseins des Wollenden von sich
selbst anzusehen, wie F.-P. MAINE de BIRAN im
Anschluß an Destutt de Tracy hervorgehoben hat [7].
J. G. FICHTES Rede vom W. entspricht nur äußer-
lich diesen Überlegungen; zwar ist auch für ihn W.
konstitutiv für das Bewußtsein und seinen Gegen-
stand [8], aber Fichte bleibt nicht dabei stehen, den
W. als bloße Gegebenheit zu betrachten, sondern
denkt ihn als Produkt einer durch die «Gesetze des
Bewußtseyns» zu begreifenden Tätigkeit des Ich [9].
Und das Bewußtsein, von dem im Zusammenhang der
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.590 Widerstand HWPh Bd. 12, 710
Fichteschen Philosophie die Rede ist, ist nicht unbe-
stimmt das Bewußtsein des Menschen, sondern genau
dasjenige des Ich, dessen abstrakten Begriff Fichte am
Anfang der ‹Grundlage der gesamten
Wissenschaftslehre› gibt [10]. F. BOUTERWEK ver-
steht in ausdrücklicher Abgrenzung gegen Fichte den
W. deräußeren Realität als gleichursprünglich mit der
Äußerung subjektiver Kraft und gelangt so zu seinem
Begriff vom Absoluten als Virtualität  (s.d.), d.h.
als der Einheit von Kraft und W. bzw. Subjektivität
und Objektivität [11]. Für W. DILTHEY ist das
W.-Erlebnis der Grund für «unseren Glauben an die
Realität der Außenwelt» [12]. Allerdings schließt er
nicht an die ihm voraufgegangene spekulative Philo-
sophie an, da er das Verhältnis von Willen und W. als
ein schlechthin ursprüngliches und deshalb «uner-
gründliches» Lebensverhältnis denkt. Diese Ur-
sprünglichkeit der jegliches Bewußtsein konstituie-
renden Stellung des W.-Erlebens zeigt sich auch
daran, daß es zeitlich die erste Gestalt des Bewußt-
seins bildet, macht es doch den Kern der mutmaßli-
chen Erlebnisse eines Embryos im Mutterleib aus
[13]. Insofern fließen in Diltheys W.-Begriff transzen-
dentale und empirisch-psychologische Überlegungen
zusammen.
M. SCHELER lehnt auf dem Hintergrundder Hus-
serlschen Phänomenologie Diltheys Begriff der W.-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.591 Widerstand HWPh Bd. 12, 710
Empfindung ab [14]. Der W. sei vielmehr in einem
intentionalen Erlebnis gegeben und konstitutiv für die
praktische Realität [15]. Dabei könne es zu einer pa-
thologischen Verschiebung des W. vom Äußeren in
das Innere kommen, die es zu korrigieren gilt [16].
Dies verweist auf die praktische Bedeutung des
W.-Begriffs, wie sie sich exemplarisch bei I. KANT
zeigt. Mit W. in praktischer Hinsicht benennt Kant
das wesentliche Merkmal des Verhältnisses zwischen
reiner Vernunft und Neigung im Hinblick auf die Wil-
lensbestimmung; die eine Seite leiste der anderen W.
[17]. Für die Bestimmung des Menschen entschei-
dend ist dabei die Überwindung des W. der Neigung
allein durch die reine Vernunft, d.h. durch «die leben-
dige Vorstellung der Würde des Gesetzes» [18].
Damit hängt Kants Begriff vom Erhabenen zusam-
men: «Erhaben ist das, was durch seinen W. gegen
das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt» [19].
F. NIETZSCHE schließt in der Sache, wohl aber
nicht ausdrücklich, an diese Bestimmung des Erhabe-
nen an, wenn er darlegt, inwiefern der W. eine not-
wendige Bedingung zur Größe des Menschen ist:
«Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort
zu suchen, wo beständig der höchste W. überwunden
wird» [20]. Das zielt auf Nietzsches Rede vom «Wil-
len zur Macht»  (s.d.), denn Macht manifestiert sich
darin, «dass ein W. überwunden wird» [21]. In diesen
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.592 Widerstand HWPh Bd. 12, 711
Zusammenhang gehört auch die Bestimmung der mo-
ralischen Handlung durch W. JAMES: «And if a brief
definition of ideal or moral action were required, none
could be given which would better fit the appearances
than this: It is action in the line of the greatest resi-
stance» [22].
Anmerkungen.
[1] HOBBES: De corp. IV, 25, a.O. [51 zu I.] 1, 318.
[2] IV, 15, a.O. 178.
[3] J. LOCKE: An essay conc. human underst. II, 4, § 1
(1690), hg. P. H. NIDDITCH (Oxford 1975) 122f.; vgl. Art.
 ‹Sinne, die, D. 2.›. Hist. Wb. Philos. 9 (1995) 842f.
[4] z.B. G. BERKELEY: Three dialogues (1713). Works, hg.
A. A. LUCE/T. E. JESSOP (London 1948–57, ND 1979) 2,
191; A treat. conc. the princ. of human knowledge § 116
(1710), a.O. 93; G. W. LEIBNIZ: Nouv. ess. sur l'entend. hu-
main II, 4, § 1 [1704] (1765). Akad.-A. VI/6 (1962) 122ff.; D.
HUME: A treat. of human nature I, 4 (1739/40). The philos.
works, hg. T. H. GREEN/T. H. GROSE 1 (London 21886)
515; E. B. de CONDILLAC: Traité des sensations II, 4 (Paris
1754) 152; H. SPENCER: Princ. of psychol. II, 6, 17, §§
347f. 350 (1855). Works 5 (London 1899, ND 1966) 232ff.
239ff.
[5] A.-L.-C. DESTUTT de TRACY: Elém. d'idéologie I, 7
(Paris 1804, 31817) 136; vgl. P.-J. G. CABANIS: Rapports du
physique et du moral de l'homme (Paris 1802) 34.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.593 Widerstand HWPh Bd. 12, 711
[6] DESTUTT de TRACY, a.O. 141f.
[7] F.-P. MAINE de BIRAN: Division des faits psycholog. et
physiolog. Oeuvr. philos., hg. V. COUSIN (Paris 1841) 3,
196.
[8] z.B. J. G. FICHTE: System der Sittenlehre (1798). Akad.-
A. I/5 (1977) 25f.; vgl. Art.  ‹Streben 6. a)›. Hist. Wb. Phi-
los. 10 (1998) 286–291.
[9] a.O.
[10] Grundl. § 1, a.O. [58 zu I.] 91f.
[11] F. BOUTERWEK: Idee einer Apodiktik (Halle 1799) 2,
68.
[12] W. DILTHEY: Beitr. zur Lösung der Frage vom Ur-
sprung unseres Glaubens an die Realität der Aussenwelt und
seinem Recht (1890). Ges. Schr. (1914ff.) 5, 90ff.
[13] a.O. 98; vgl. Art.  ‹Unergründlichkeit›. Hist. Wb. Phi-
los. 11 (2001) 147–150.
[14] M. SCHELER: Erkenntnis und Arbeit (1926). Ges.
Werke 8 (21960) 370ff.; Idealismus und Realismus [1927/28],
a.O. 9 (21995) 210ff.
[15] Der Formalismus in der Ethik und die mat. Wertethik
(1916, 31926), a.O. 2 (51966) 149ff.
[16] Die Idole der Selbsterkenntnis (1911), a.O. 3 (41955)
258f.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.594 Widerstand HWPh Bd. 12, 711
[17] I. KANT: Grundleg. zur Met. der Sitten (1785). Akad.-A.
4, 424; KpV A 57. 133. Akad.-A. 5, 32. 75.
[18] KpV A 265, a.O. 147.
[19] KU B 115, a.O. 267.
[20] F. NIETZSCHE: Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines
Unzeitgemässen 38 (1889). Krit. Ges.ausg., hg. G. COLLI/M.
MONTINARI 6/3 (1969) 134.
[21] Der Antichrist 2 (1895), a.O. 168.
[22] W. JAMES: The princ. of psychology 1–2 (New York
1890) 2, 549.
Literaturhinweis. B. SCHMIDT: Das W.-Argument in der
Erkenntnistheorie (1985).
A. HOMANN
III. Psychoanalyse. – Der psychoanalytische Be-
griff ‹W.› dient zur Bezeichnung jener meist unbe-
wußten Kräfte, die sich dem Ziel der psychoanalyti-
schen Behandlung entgegensetzen und zugleich deren
notwendigen Gegenstand bilden. Das Konzept des W.
steht in enger Verbindung zu den Konzepten der Ab-
wehrmechanismen [1] und der Übertragung  (s.d.).
Im Gegensatz zu der eher okkasionellen Verwendung
des Terminus in der Motivations- und Sozialpsycho-
logie – wie z.B. im Kontext des Begriffes der Reak-
tanz [2] – hat die Psychoanalyse eine systematische
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.595 Widerstand HWPh Bd. 12, 711
Theorie der W.-Phänomene vorgelegt. Der Begriff
‹W.› wurde später auch von anderen psychotherapeu-
tischen Schulrichtungen mit z.T. modifiziertem Be-
deutungsgehalt übernommen und in andere theoreti-
sche Kontexte (z.B. der kognitiven oder Systemtheo-
rie) transponiert [3].
S. FREUD wird mit dem klinischen Phänomen des
W. vertraut, als er sich in der Therapie noch suggesti-
ver und hypnotischer Techniken bedient. Bereits 1889
erwähnt er, die Beeinflussung erfolge «nur selten ohne
W. von seiten des Hypnotisierten» [4]. Besonders in
der Therapie hysterischer Erkrankungen stößt er auf
den engen Zusammenhang zwischen W. und Verdrän-
gung  (s.d.): Hier sei «eine psychische Kraft ... zu
überwinden ..., die sich dem Bewußtwerden (Erin-
nern) der pathogenen Vorstellungen widersetze» [5].
Dieser W. zeigt sich als dieselbe Kraft, die bei der
Genese des Symptoms als Abwehr der unerträglichen
Vorstellung von seiten des Ich wirksam geworden
war. Während Freud zu dieser Zeit noch versucht, die
Phänomene von W. und Verdrängung in einem neuro-
physiologischen Funktionsmodell der Psyche aufzulö-
sen [6], überwindet er therapeutisch die suggestive
Beeinflussung des W. und legt mit der Methode der
freien Assoziation die Grundlage für die psychoanaly-
tische Behandlungstechnik, d.h. der genauen Untersu-
chung und «Aufdeckung des Widerstandes» als ersten
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.596 Widerstand HWPh Bd. 12, 712
«Schritt zu seiner Überwindung». Neben den Theori-
en des Unbewußten und der kindlichen Sexualität bil-
den von nun an die «Lehren vom W. und von der Ver-
drängung ... die Hauptbestandteile des psychoanalyti-
schen Lehrgebäudes» [7] und ein Fundament ihrer
Technik, durch die sich Einsicht in den Aufbau von
Träumen, Fehlleistungen und neurotischen Sympto-
men gewinnen läßt.
In seinen behandlungstechnischen Schriften unter-
sucht Freud zwischen 1911 und 1915 eingehend das
Verhältnis von W. und Übertragung, d.h. der agierten
Wiederholung  (s.d.) anstelle der bewußten Erinne-
rung der «vergessenen Vergangenheit» [8]. Wenn die
Übertragung auf die Person des Analytikers vor allem
deshalb zum Bewußtsein durchdringt, «weil sie auch
dem Widerstande Genüge tut» [9], so gibt es anderer-
seits doch auchkeinen W. ohne Übertragung [10].
Freud entwickelt daraus ein dialektisches Modell des
Verhältnisses von Wiederholung und Erinnerung im
psychoanalytischen Prozeß [11], welcher vor allem
die Analyse von Übertragungs-Widerständen zum In-
halt hat (W.-Analyse).
Die weitere Ausarbeitung der Theorie des W. ist
von der Untersuchung des Wiederholungszwanges
und der genaueren Einsicht in die Abwehroperationen
des Ich geprägt. Während das klinische Phänomen
des Wiederholungszwanges Freud zur Einführung des
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.597 Widerstand HWPh Bd. 12, 712
Todestriebes  (s.d.) und zur Revision seiner Trieb-
theorie führt, ermöglicht ihm die Strukturtheorie eine
genauere Differenzierung der verschiedenen W.-For-
men sowie Einblick in das Verhältnis von W. und
Charakterbildung (sog. Charakter-W.). 1926 unter-
scheidet Freud fünf Arten von W., wobei er den «Ver-
drängungswiderstand», den «Übertragungswider-
stand» und den «Krankheitsgewinn» dem Ich zu-
schreibt. Dem stellt er den W. von seiten des Es
sowie den W. des Über-Ich gegenüber, welcher vom
Schuldbewußtsein oder Strafbedürfnis ausgeht [12].
Letztere W.-Formen bringt er in seiner Arbeit ‹Die
endliche und die unendliche Analyse› mit der «negati-
ven therapeutischen Reaktion» und der Tätigkeit des
Todestriebes in Zusammenhang [13].
Die Entwicklung nach Freud ist durch die weitere
Entfaltung der theoretischen Hauptrichtungen, den Er-
kenntniszuwachs über die frühkindliche Entwicklung
sowie durch die Fortschritte in den behandlungstech-
nischen Konzepten charakterisiert. Während A.
FREUD [14] die vom Ich ausgehenden Abwehrme-
chanismen analysiert und ichpsychologische Autoren
vor allem in den USA die Technik der W.-Analyse
weiter ausarbeiten [15], beschreiben M. KLEIN [16]
und ihre Schüler in Großbritannien bestimmte
W.-Manifestationen bei schweren psychischen Stö-
rungen als Ausdruck und Bewältigungsversuche pri-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.598 Widerstand HWPh Bd. 12, 713
mitiver Destruktivität. Diese kann gegen einzelne psy-
chische Funktionen (z.B. Denkfunktionen) wie auch
gegen die Möglichkeit von Entwicklung und Verände-
rung überhaupt gerichtet sein [17].
Die Berücksichtigung von Erkenntnissen über die
Bedeutung von Loslösungsprozessen für die frühe
Identitätsbildung [18] findet ihren Ausdruck in einer
erweiterten Sichtweise von W.-Phänomenen, die auch
Schritte zur Entwicklung von Selbstkohärenz und Au-
tonomie miteinbezieht. Vor diesem Hintergrundschla-
gen vor allem ich- und selbstpsychologische Autoren
Modifikationen der klassischen Behandlungstechnik
bei bestimmten Störungsformen vor [19].
Andererseits wird das W.-Konzept gerade durch
Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Behand-
lungstechnik vertieft und differenziert. Dies betrifft
zum einen das Verständnis regressiver Prozesse [20],
zum anderen die Rolle der Gegenübertragung, d.h. der
Verwicklung des Analytikers in bestimmte W.-Kon-
stellationen (Gegenübertragungs-W.) [21]. Insbeson-
dere die systematische Berücksichtigung von Gegen-
übertragungsprozessen hat zu einem vertieften Ein-
blick in die Dynamik von W.-Phänomenen geführt.
Neuere interpersonale und sozial-konstruktive Ansät-
ze betonen deshalb den Interaktions- und Prozeßcha-
rakter von Übertragung und W. [22].
In Abhebung vor allem zu ichpsychologischen An-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.599 Widerstand HWPh Bd. 12, 713
sätzen nimmt in Frankreich die strukturale Psycho-
analyse-Interpretation J. LACANS Motive der dialek-
tischen Philosophie Hegels auf. Sie betrachtet W. im
Zusammenhang mit dem imaginären Charakter des
Ich und sieht darin ein konstitutives Element in der
Entfaltung der intersubjektiven Begehrensstruktur
[23].
Freuds Überlegungen zu Charakter-Widerständen
und zur negativen therapeutischen Reaktion werden
von W. REICH [24] und anderen Autoren weiterge-
führt. Schon frühzeitig beschreiben K. ABRAHAM
[25] und J. RIVIERE [26] hochkomplexe Widerstän-
de als Abwehrorganisationen. Daraus gehen in neue-
rer Zeit Theorien über pathologische Organisationen
der Persönlichkeit hervor, die sich sowohl als Inein-
andergreifen von Abwehrmechanismen wie auch als
komplexes Netz von Objektbeziehungen verstehen
lassen [27]. Diese Überlegungen sind auf Gruppen-
prozesse und Institutionen übertragbar und ermögli-
chen in der psychoanalytischen Situation ein genaue-
res Verständnis schwieriger Übertragungs-Gegen-
übertragungs-Konstellationen.
In der philosophischen Rezeption hat das Konzept
des W. vor allem in der Debatte um den erkenntnis-
theoretischen Status psychoanalytischer Aussagen
eine Rolle gespielt. Während einerseits argumentiert
wird, der Begriff des W. unterlaufe die geforderte Fal-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.600 Widerstand HWPh Bd. 12, 713
sifikationsmöglichkeit wissenschaftlicher Aussagen
[28], wird von hermeneutischer Seite der eigenständi-
ge Status der psychoanalytischen Theoriesprache re-
klamiert [29]. Diese läßt sich nach P. RICŒUR [30]
weder in der erklärenden Rede der Naturwissenschaft
noch in der motivierenden Rede der Phänomenologie
auflösen, sondern erfordere einen «discours mixte»,
welcher die Arbeit der Exegese mit Begriffen der
Kraft verknüpft, wie sie in der psychoanalytischen
Praxis als W. und Übertragung erfahrbar werden.
Anmerkungen.
[1] Vgl. Art.  ‹Abwehrmechanismus›. Hist. Wb. Philos. 1
(1971) 67–70.
[2] Vgl. S. S. BREHM/J. W. BREHM: Psycholog. reactance:
A theory of freedom and control (New York 1981).
[3] Vgl. F. CASPAR: Art. ‹W.›, in: A. SCHORR (Hg.):
Handwb. der Angewandten Psychol. (1993) 731–733.
[4] S. FREUD: Rez. von A. Forel, Der Hypnotismus (1889).
Ges. Werke, hg. A. FREUD u.a. [GW] (London 1940–87)
Nachtragsband (1987) 135; vgl. Art.  ‹Hypnose 3.›. Hist.
Wb. Philos. 3 (1974) 1244–1246.
[5] S. FREUD/J. BREUER: Studien über Hysterie: Zur Psy-
chotherapie der Hysterie (1895, 21909). GW 1, 268.
[6] Vgl. S. FREUD: Entwurf einer Psychologie (1895). GW,
Nachtr.bd. 387ff.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.601 Widerstand HWPh Bd. 12, 713
[7] «Selbstdarstellung» (1925). GW 14, 65f.
[8] Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914). GW 10,
130.
[9] Zur Dynamik der Übertragung (1912). GW 8, 369.
[10] Vorles. zur Einf. in die Psychoanalyse (1915–17). GW
11, 300f.
[11] Vgl. a.O. [8]; H. WEISS: Der Andere in der Übertragung
(1988).
[12] Hemmung, Symptom und Angst (1926). GW 14, 192.
[13] Die endl. und die unendl. Analyse (1937). GW 16, 88.
[14] A. FREUD: Das Ich und die Abwehrmechanismen (Wien
1936).
[15] R. GREENSON: The technique and practice of psycho-
analysis (New York 1967).
[16] M. KLEIN: Notes on some schizoid mechanisms. Int. J.
Psycho-Anal. 27 (1946) 99–110; Envy and gratitude (London
1957).
[17] W. R. BION: Learning from experience (London 1962).
[18] M. S. MAHLER/F. PINE/A. BERGMAN: The psycho-
log. birth of the human infant (New York 1975).
[19] Vgl. H. KOHUT: The analysis of the self (New York
1971); G. BLANCK/R. BLANCK: Ego psychology: Theory
and practice (New York/London 1974).
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.602 Widerstand HWPh Bd. 12, 714
[20] Vgl. M. BALINT: The basic fault: Therapeutic aspects of
regression (London 1968); D. W. WINNICOTT: Playing and
reality (London 1971).
[21] Vgl. P. HEIMANN: On countertransference. Int. J. Psy-
cho-Anal. 31 (1950) 81–84; H. RACKER: Transference and
countertransference (London 1968).
[22] M. M. GILL: Analysis of transference (New York 1982).
[23] Vgl. J. LACAN: Fonction et champ de la parole et du lan-
gage en psychanalyse. Ecrits I (Paris 1966) 237–322; La direc-
tion de la cure et les principes de son pouvoir, a.O. 585–645;
Le séminaire II. Le moi dans la théorie de Freud et dans la
téchn. de la psychanalyse (Paris 1978).
[24] W. REICH: Charakteranalyse (Wien 1933).
[25] K. ABRAHAM: Über eine bes. Form des neurot. W.
gegen die psychoanalyt. Methodik. Int. Z. Ärztl. Psychoanal. 5
(1919) 173–180.
[26] J. RIVIERE: A contrib. to the analysis of the negat. thera-
peutic reaction. Int. J. Psycho-Anal. 17 (1936) 304–320.
[27] Vgl. H. ROSENFELD: Psychotic states (London 1965);
J. STEINER: Psychic retreats (London 1993).
[28] A. GRÜNBAUM: Psychoanalyse in wiss.theoret. Sicht
(1987).
[29] Vgl. A. SCHÖPF: S. Freud (1982); W. TRESS: Psycho-
analyse als Wissenschaft. Psyche 29 (1985) 385–412.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.603 Widerstand HWPh Bd. 12, 714
[30] P. RICŒUR: De l'interprétation (Paris 1965) 75; dtsch.:
Die Interpretation (1974) 79.
Literaturhinweise. W. LOCH: Voraussetzungen, Mecha-
nismen und Grenzen des psychoanalyt. Prozesses (Bern/Stutt-
gart 1965). – H. THOMÄ/H. KÄCHELE: Lehrb. der psycho-
analyt. Therapie (1985). – H. R. ETCHEGOYEN: The funda-
mentals of psychoanal. technique (London/New York 1991). –
M. ERMANN: Art. ‹Widerstand›, in: W. MERTENS/B.
WALDVOGEL (Hg.): Hb. psychoanalyt. Grundbegriffe
(2000) 797–802.
H. WEISS
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.604 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 714
Widerstandsrecht (lat. ius resistentiae, ius resi-
stendi). Erst im Zuge der Einrichtung des modernen
Verfassungsstaates und der Auseinandersetzung zwi-
schen monarchischem Anstaltsstaat und konstitutio-
neller Bewegung um Art. 13 Bundesakte (Einrichtung
Landständischer Verfassung) wird ‹W.› zum Sammel-
begriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Rechts-
gründe zum Ungehorsam oder zur Gewaltanwendung
gegen Magistrate, von der Herrscherverlassung bis
hin zu deren Absetzung. Die Gründe reichen von
ständischen Vertragsgarantien zugunsten Dritter bis
zu natur- und strafrechtlichen Begründungen: defensio
ipsi, defensio suae coniugi, defensio in casu necessita-
tis, protectio, Gegenwehr, Notwehr, ius iudicandi, ius
puniendi, nur ausnahmsweise ausdrücklich ius resi-
stendi. Lexika des 18. Jh. kennen nur die durch ius di-
vinum oder ius naturale begründete und strafrechtlich
eingehegte Notwehr für den einzelnen Untertanen (de-
fensio naturalis/necessaria, favor necessitatis). Mit
Hinweis auf Grotius, Pufendorf und Thomasius wird
die organisierte und kollektive Bekämpfung des höch-
sten Magistrats in Abwägung der Folgeschäden für
das Gemeinwesen ausdrücklich ausgeschlossen [1].
Die Abwägung zwischen den Rechten des Einzelnen
und der Notwendigkeit der Unterordnung unter eine
anerkannte Zwangsgewalt zieht sich zwar bereits
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.605 Widerstandsrecht
durch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Dis-
kussion, fußte damals jedoch auf dem konkurrieren-
denNebeneinanderkontroversgedeuteterunterschied-
licher Rechte (ius divinum, ius naturale, Kanonisches
Recht, Gewohnheitsrecht usw.). Der Verfassungsbe-
wegung nach 1806 geht es demgegenüber um den
Schutz der bürgerlichen Privatrechtsgesellschaft ge-
genüber dem Staat, aber ebenso um die völlige Positi-
vierung des geltenden Rechts unter Ausschaltung kon-
kurrierender Rechtsgründe. I. KANT und Juristen wie
A. BAUER folgern: «Wider das gesetzgebende Ober-
haupt des Staats giebt es also keinen rechtmäßigen
Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung
unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein
rechtlicher Zustand möglich» [2]. Ein W. würde «im
Staat, dessen Zweck in Rechtssicherheit besteht, einen
Zustand des Despotismus oder der Anarchie» bewir-
ken [3]. Als jedoch der nach 1806 nicht mehr durch
Reichsgerichte gebundene Staat den Forderungen der
Verfassungsbewegung nach Schutz der bürgerlichen
Privatrechtsgesellschaft nach 1815 nicht nachzukom-
men scheint, fassen deren Verfechter die Vielzahl wi-
dersprüchlicher Deutungen konkurrierender Rechte in
Form eines Rechtsgedankens ‹W.› neu als Teil der
neuen positiven Verfassungsordnung zusammen.
«Vermöge des Unterwerfungs Vertrags behält das
Volk, der Inbegriff der Staatsbürger, ausserhalb des
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
HWPh Bd. 12, 715 50.606 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 715
Staatszweckes seine Selbsständigkeit [d.h. als bürger-
liche Privatrechtsgesellschaft]; und der Regent hat die
Oberherrschaft, nur unter der Bedingung pflichtmäsi-
ger Wahl der Mittel zu Erreichung jenes Zweckes. Es
kann also ... das Volk von dem Regenten als bloßes
Mittel für andere Zwecke (Tyranney, Sultanismus,
Macchiavellismus) nicht behandelt werden (Recht des
gewaltsamen Widerstandes, jus resistendi)» [4].
Neben den Versuch der verfassungsrechtlichen Einhe-
gung der Exekutive durch höchste Gerichte [5] tritt
die publizistische Ausdeutung von Unruhen im Sinne
eines W., so im Gefolge der Revolution von 1830 in
Braunschweig durch F. MURHARD 1832, der die
«Stimmen für die Rechtmäßigkeit des Widerstandes
und der Zwangsübung gegen die bestehende Staatsge-
walt» als Zeichen für die erreichte «höhere Stufe der
Kultur und Zivilisation» als W. geschichtsphiloso-
phisch zusammenfaßt [6].
1. Antike Wurzeln. – Die Notmaßnahmen der römi-
schen Bürgerkriege führen – wie SCIPIO NASICA
SERAPIOS Aufforderung (133 v.Chr.) an diejenigen,
«die wollen, daß die öffentlichen Belange unversehrt
seien» («qui rem publicam salvam esse volunt»), zur
Gewaltanwendung gegen Tiberius Gracchus – zu
Handlungsanweisungen an die Bürger, im Notfall auf
eigene Faust gegen Feinde («hostes») die Rechte von
unverurteilten Bürgern («cives indemnatus») zu bre-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.607 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 715
chen [7]. CICERO verteidigt das dann entstehende In-
strument des «senatus consultum» zu Notmaßnahmen
gegen Feinde zur Bewahrung von Herrschaft und
Würde des römischen Volkes («ut imperium populi
Romani maiestasque conservaretur») [8]. Die von ihm
63 v.Chr. als Konsul befohlene Hinrichtung von be-
reits verhafteten Anhängern Catilinas – also weder
«hostes» im bisherigen Sinne noch mit «senatus con-
sultum ultimum» – führt zu seiner Verurteilung
wegen der Ermordung von unverurteilten Bürgern.
Von ihm selbst wiederum wird die Tat mit dem Hin-
weis darauf, «daß das Wohl des Volkes höchstes Ge-
setz sein soll» («salus populi suprema lex esto»), be-
gründet [9]. Später fügt er die ausdrückliche Rechtfer-
tigung der Ermordung des Senators Clodius durch
Milo – ohne senatorische Deckung – als Verteidigung
des eigenen Lebens («vitam ... liceat defendere») und
des öffentlichen Wohls und Vaterlands («pro salute
rei publicae», «periculis patriam liberare») hinzu
[10]. Während des Krieges mit Caesar unterstreicht
Cicero die Pflicht zum Rechtsbruch durch jeden ein-
zelnen Bürger, der für das Vaterland zum Piraten wer-
den müsse («infero navigabimus, et ... boni cives
amantes patriae mare infestum habebimus») [11].
2. Mittelalter. – Da das Neue Testament (Röm. 12,
17, 13; Mtth. 5, 39) Gehorsam gegen die rechtmäßige
Herrschaft und Verzicht auf Selbstrache (Apg. 5, 29)
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.608 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 716
verlangt, hängt die christliche Reflexion, unabhängig
von der lehensrechtlichen Praxis [12], ganz vom Be-
griff der Tyrannis  (s.d.) und der Gewißheit göttli-
cher Gerechtigkeit ab. JOHANNES VON SALISBU-
RYS Polycraticus folgert vor diesem Hintergrundin
einem an Cicero angelehnten Syllogismus, der Tyrann
könne erschlagen werden, denn er falle dann durch
das Schwert, das er ergriffen hat (Mtth. 26, 52), bre-
che die Gesetze, deren Diener er ist («justitiae et juris
famulus»), und begehe «crimina majestatis». Er ist
darum «publicus hostis» [13], gegen den die bewaff-
nete Hand des Gemeinwesens ausgeübt wird («Arma-
ta itaque manus [rei publicae] in hostem ... exerce-
tur») [14], sofern er nicht anders kontrolliert werden
kann («honestum fuit occidere, si tamen aliter coerceri
non poterat») [15]. THOMAS VON AQUIN entwik-
kelt demgegenüber in Auseinandersetzung mit der
‹Politik› und ‹Ethik› des Aristoteles eine Kasuistik
des Tyrannen «ex parte exercitii» und «defectu tituli»
und kontrastiert Ciceros Befürwortung der Ermordung
des Tyrannen mit dem christlichen Gehorsamsgebot
[16]. Allerdings sind, unter Ausschluß von «privati
personae», gegenüber dem Usurpator «jene, welche
das Gemeine Beste verteidigen, nicht als Aufrührer zu
bezeichnen» («illi vero qui bonum commune defen-
dunt ... non ... dicendi seditiosi») [17].
3. Frühe Neuzeit. – Die Entstehung sich gegensei-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.609 Widerstandsrecht
tig ausschließender Konfessionen läßt die Verteidi-
gung des eigenen Glaubens auch gegen rechtmäßig
eingesetzte Herrschaft zum Strukturproblem werden.
Gegen die andersgläubige Obrigkeit gewinnen das
eine Mal Apg. 5, 29, die «vocatio dei» und «Exempla
Israelitarum», ein anderes Mal ein auf einzelne Amts-
handlungen begrenztes W. mit Bezug auf lehens-, ge-
wohnheits- und naturrechtliche Argumente gesteigerte
Bedeutung und führen in Gebieten unterschiedlicher
monarchischer Legitimität zu völlig verschiedenen
Ergebnissen. Im Reich dominiert von 1530 bis 1542
zunächst die «von natur und recht zugelassene gegen-
wehre» [18], in der bis zu einer Konzilsentscheidung
der causa religionis lehensrechtliche Ansprüche, ob-
rigkeitliche Pflichten und das allein Obrigkeiten zu-
stehende Naturrecht der Selbstverteidigung kombi-
niert werden. In der Krise vor dem Frankfurter An-
stand 1539 argumentiert M. LUTHER, daß auch die
dritte der gegen den Teufel gesetzten göttlichen
Schöpfungsordnungen, «Oeconomicum» (Hausvater-
stand), im Falle der apokalyptischen Bedrohung von
Gottes Ordnung dem «Beerwolf» zu widerstehen habe
(«resistendum est ei sic-ut monstro furioso») [19].
PH. MELANCHTHON differenziert seit 1543 die al-
lein der Obrigkeit vorbehaltene «vindicta» von der in
der ‹Carolina› 1532 strafrechtlich eingeschränkten,
nun jedoch naturrechtlich jedem Hausvater zugestan-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
HWPh Bd. 12, 716 50.610 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 717
denen Notwehr [20] als «defensio» («Paterfamilias
debet defensionem suae coniugi et suis liberis, ergo in
oppugnatione aedium facit officium dilectionis») [21].
In der Pamphletistik wird dieses Naturrecht der
Selbstverteidigung seit 1546 als ‘Notʼ- oder
‘Gegenwehrʼ einem häufig als ‘Vaterlandʼ apostro-
phierten Gemeinwesen zugestanden – mit Bezug auf
Deutschland oder auf eine Region oder Stadt, zum
Schutz von Religion und weltlicher Rechtsordnung.
Eine Inflationierung dieses engen Rechts ist die
Folge.
Im Reich setzen sich Selbstverteidigung des Vater-
landes, obrigkeitliche Gegenwehr und Notwehr bis in
die 1640er Jahre fort. Neben eine fürstenfreundliche
Position der Verteidigung des territorialen Vaterlan-
des allein durch reichsfürstliche Obrigkeiten («sicut
contra se ipsum nemo debet armari, ita nec contra pat-
riam» [22]) tritt eine landständefreundliche Position:
die Verteidigung des auch städtischen Vaterlandes
(«Religio, libertas & jura patriæ sunt defendenda»
[23]) auch durch Landstände, ja sogar «civi boni»
gegen den Fürsten («Defensio contra vim & inju-
riam», «tyrannidem ... removere», «patriæ amantes
optimates & privati resistere ... debent» [24]). Man
beruft sich auf ein bei J. ALTHUSIUS mit einem aus
der Identitätsrepräsentation des regnum begründeten
(«actum jurisdictionis ... & superioritatis» [25]), eige-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.611 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 717
nen ständischen W. der Ephoren («ius resistendi»,
«ius iudicandi vel puniendi») [26]. Die naturrechtli-
che Selbstverteidigung bleibt allein im Sinn der straf-
rechtlichen Notwehr gestattet [27]. Ein W. des Haus-
mannsstandes als vocatio dei zur Verteidigung des
Vaterlandes (z.B. mit 2. Kön. 11; 2. Chr. 23; Jos.)
[28] oder als naturrechtliche Notwehr (mit Cicero
‹Pro Milone›) behalten die reformierten und lutheri-
schen Autoren besonderen Krisensituationen vor. Ent-
scheidend ist die «Unterscheidung zwischen der recht-
mäßigen Verteidigung und Rebellion» («differentia
defensio & rebellionis ingens»): «die Noth- oder Ge-
genwahr ist ein ordentliches Schutzwerck / in allen
Rechten gegruendet und zugelassen / nicht andern zu
schaden fuergenommen / sondern wider unrechte ge-
walt / sich und die Seinigen auffzuhalten / wenn sonst
keine andere Rettungs Mittel obrig sind» [29]. So-
wohl das entstehende Reichsstaatsrecht als auch das
jüngere Naturrecht belassen den Fürsten die Gegen-
wehr und den Untertanen die Notwehr, verzichten
aber in der Regel auf ein W. für Landstände und Un-
tertanen zugunsten des Rekurses auf die Reichsgerich-
te. In den Niederlanden bleibt die Diskussion über-
wiegend auf der Ebene ständischer Privilegien, sei es
in der Terminologie von «Defension, gegenwehr und
rettung» [30], sei es in der natur- und völkerrechtli-
chen Terminologie von H. GROTIUS: Stände («or-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.612 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 717
dines») im Besitz des Herrschaftsrechts und höchster
Amtsgewalt («ius ... gubernandi»; «summam potes-
tam») haben das Recht, sich zu wehren («habe[n]t ius
se defendendi»; «ius potestatis suae iurisdictionem
suam defendere») [31]. J. CALVIN warnt vor einer
Inanspruchnahme der vocatio dei durch einzelne Un-
tertanen und schreibt allein den dem Volk als Vor-
mündern vorgesetzten Ständen ein W. zu [32].
G. BUCHANANS ambivalente Andeutungen selb-
ständiger Gewaltanwendung einzelner Untertanen
unter Bezug auf das römische Beispiel [33] bleiben
die Ausnahme. Da das Wohl des Volkes höchstes Ge-
setz sei, können Bürger, die den Gesetzen gehorchen
und durch ihre Würde geachtet sind, alle Strafen des
Krieges gegen den Tyrannen wenden. In England
kann die Publizistik der marianischen Exulanten auf
die Gegenwehr der niederen Magistrate («ordayned ...
to stande in defence of trewe religion, lawes, and
welth of their nation, and to be a shylde») nicht zu-
rückgreifen und diskreditiert W. durch ihren Rück-
griff auf die vocatio dei für Untertanen (mit Richt.
19f.: «one facte of the Isralites worthie memorie ... at
what tyme they had no lawfull Magistrate in all Isra-
ell. Who notwithstanding rose up whollie together»,
und 4. Mos.: «any priuate man haue som special in-
warde cŏmaundement ... of God: as Moses ..., Phi-
nees ..., and Ahud») [34]. In Frankreich schließt T.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.613 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 718
BEZA in ausdrücklichem Bezug auf Magdeburg und
auf Exempla Israelitarum nach der Bartholomäus-
nacht 1572 zunächst an die Diskussion über die Ge-
genwehr niederer Magistrate zum Schutz der Unterta-
nen und die Verteidigung der Rechtsordnung des Ge-
meinwesens durch die Stände an («ad inferiores ma-
gistratus», «salutem ... procurare [etiam armata manu
si possunt]»; «iusta defensione adversus iniustum per-
secutorem»; «defensores ac protectores iurium ipsius
supremae potestatis ... et coerceant et mulctent») [35].
Die ‹Vindiciae› übernimmt Calvins am Römischen
Recht orientierte Figur der Vormundschaft und kom-
biniert sie mit der Korporationslehre der Postglossa-
toren und einem am AT belegten und am deutschen
Beispiel des Reiches in seinen Konsequenzen illu-
strierten doppelten Bund zwischen Gott, König und
korporativem Volk und König und Volk («duplex ...
fœdus», «pactum», «pactio»), den die Stände in Vor-
mundschaft des Volkes verteidigen («acti[o] tutelæ»)
[36]. Nach der Inanspruchnahme der vocatio dei für
einzelne Untertanen durch die katholischen Monar-
chomachen bleibt die das W. betreffende Publizistik
seit den 1590er Jahren in England und Frankreich
völlig diskreditiert. Die Hugenotten berufen sich zwi-
schen 1610 und der Kapitulation von La Rochelle al-
lein auf die naturrechtliche Selbstverteidigung im
Falle eines bevorstehenden Massakers an ihnen [37].
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.614 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 718
In England und Schottland provoziert der Zusammen-
bruch der monarchischen Ordnung wegen der man-
gelnden ständischen Differenzierung die Symbiose der
Verteidigung des Gemeinwesens – ständisch oder an
Cicero geschult – und der naturrechtlichen Notwehr
des Einzelnen von 1642 bis 1689 zu einem aus dem
Naturzustand überkommenen Rechtsprivileg auf
Selbstverteidigung. Das ältere Naturrecht löst sich
demgegenüber schrittweise auf: «every private man
may defend himselfe by force, if assaulted, though be
the force of a Magistrate or his owne father ... yet here
whole nations being exposed to enmity»; «the law of
Nature will allow this self defence even to private per-
sons, in cases of necessity»; «every man has a right of
resisting ... that which ought not to be done to him»
[38]. Die in der neuen Konzeption des Naturzustan-
des und durch aufgeklärte Ideen des göttlich inspirier-
ten Fortschritts zur irdischen Glückseligkeit begrün-
deten Selbstermächtigungen für Bürger und Adel im
Kampf gegen Tyrannen [39] (jedes «Volck hat so wol
das Recht als jeder priuatus seine Glueckseligkeit und
Wolfahrt auf alle Weise zu befordern und auf festen
Fuß zu setzen» [40]) werden im Verlauf des 18. Jh.
zu Begründungen der Revolution und entstehen im
Schnittpunkt von klassischer Bürgerethik und jünge-
rem Naturrecht, während das ältere ständische W. an
Boden verliert.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.615 Widerstandsrecht
4. 19. und 20. Jh. – Auch wenn die Befürworter
eines W. gegen den verfassungslosen monarchischen
Staat im Deutschen Bund den Bogen zum Mittelalter
schlagen, scheint dem W. mit der Trennung von sou-
veränem Anstaltsstaat und bürgerlicher Privatrechts-
gesellschaft zur Befriedung von Normkonflikten der
Boden «rechtslogisch» jedenfalls entzogen, da der
«Rechtspositivismus als Begrenzung ideologischen
Verfügungsanspruchs» ein W. im engeren Sinne aus-
schließt [41]. Die moderne Erfahrung der nationalso-
zialistischen Schreckensherrschaft scheint die Not-
wendigkeit überpositiver Normen jedoch erneut zu
bestätigen. Nach 1945, besonders aber im Gefolge
der Perhorreszierung staatlicher Strukturen in den
1960er Jahren zugunsten der vermeintlichen normati-
ven Richtigkeit der Handlungen ‘des Volkesʼ oder des
Einzelnen gegen den Staat, gewinnt ‹W.› als Meta-
pher für den legitimen Gesetzesbruch [42] in ganz un-
terschiedlichen Kontexten neue Bedeutung, dies aller-
dings, ohne daß das Problem einer konsistenten über-
positiven Normordnung als Voraussetzung von W.
immer hinreichend reflektiert würde. Auch in der in-
ternationalen Ordnung hat sich das Souveränitätsprin-
zip so weit als zentrale Norm etabliert, daß aus ihm
ein W. der Staaten als Recht zur Selbstverteidigung
gefolgert wird. Bereits die Tatsache, daß dieses im
Verfolg des Schutzes zur Intervention in andere Län-
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
HWPh Bd. 12, 718 50.616 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 719
der führen kann, zeigt aber, daß auch hier ‹W.› ledig-
lich als Metapher für normativ gerechtfertigte Gewalt-
anwendung dient.
Anmerkungen.
[1] Vgl. J. H. ZEDLER: Grosses vollst. Univ.Lex. (1732–54,
ND 1961) 7 (1734) 398; a.O. 24 (1740) 1440–1449; J. G.
WALCH: Philos. Lex. 2 (41775, ND 1968) 284–296.
[2] I. KANT: Met. der Sitten I: Rechtslehre (1797). Akad.-A.
6, 320.
[3] A. BAUER: Lehrb. des Naturrechts (1808) 318.
[4] J. L. KLÜBER: Oeffentl. Recht des teutschen Bundes und
der Bundesstaaten (1817) 291f.
[5] Vgl. z.B. Kurhess. Verfassung von 1831:§ 113 zur ge-
richtl. Überprüfung von Amtshandlungen; Begründung: § 123
II mit Bezug auf das Edikt vom 26. 11. 1743 zur reichsrechtli-
chen Privilegierung des alten landherrlichen Gerichts; vgl. §
126.
[6] F. MURHARD: Über Widerstand, Empörung und Zwangs-
übung der Staatsbürger gegen die bestehende Staatsgewalt in
sittl. und rechtl. Beziehung (1832, ND 1969) 195. 411.
[7] VALERIUS MAXIMUS: Factorum et dictorum memorabi-
lium libri novem III, 2, 17, hg. K. KEMPF (1854, 21888, ND
1966) 119.
[8] CICERO: Pro C. Rabirio perduellionis reo ad quirites oratio
20.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.617 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 719
[9] De legibus III, 3, 8.
[10] Pro T. Annio Milone 6. 96.
[11] Ep. ad Att. IX, 19, 3.
[12] Vgl. Magna Charta 1215; Sachsenspiegel. Quedlinburger
Handschr., hg. K. A. ECKHARDT (1966) Landrecht III, 78, §
2: «unrechtes wederstân».
[13] JOH. VON SALISBURY: Polycraticus III, 15. MPL 199,
512; vgl. CICERO: Laelius de amicitia 24, 89; De off. III, 36.
[14] Polycr. VI, 1, a.O. 589.
[15] VIII, 18, a.O. 788.
[16] THOMAS VON AQUIN: In II Sent., d. 44, q. 2. Op.
omn., hg. R. BUSA 1 (1980) 255 C-257 B.
[17] S. theol. II–II, 42, 2.
[18] Abschied des II. Schmalkaldischen Bundestags zu Nürn-
berg vom 17. 5.–26. 5. 1534 (26. 5. 1534), in: Die Schmalkal-
dischen Bundesabschiede 1533–1536, hg. E. FABIAN (1958)
37–52, 43.
[19] M. LUTHER: Die Zirkulardisputation über das Recht des
Widerstands gegen den Kaiser (9. 5. 1539). Weim. Ausg. 39/II
(1932, ND 1964) 34–91: Thesen 52. 55. 58. 66.
[20] Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl's V.
CXXXIX–CXLV. CL (1532), hg. H. ZOEPFL (1876)
117–123. 129f.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.618 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 719
[21] PH. MELANCHTHON: Loci theologici: De vindicta
(1543). Corp. Ref. 21, hg. C. G. BRETSCHNEIDER/H. E.
BINDSEIL (1854, ND New York/London 1963) 720–724,
723.
[22] H. ARNISAEUS: De iure maiestatis I, V, 12 (Straßburg
1635).
[23] J. ALTHUSIUS: Politica methodice digesta 38, § 84 (Her-
born 31614, ND 1961) 919.
[24] Polit. 7, § 60, a.O. 127; 8, § 91, a.O. 165; 38, § 68, a.O.
913.
[25] 38, § 93, a.O. 921.
[26] Vgl. 8, § 91, a.O. 165.
[27] ARNISAEUS: De iure maiest. II, IV, a.O. [22]; ALTHU-
SIUS: Polit. 38, § 67, a.O. 912: «in casu necessitatis & vitæ
suæ defendendæ».
[28] ALTHUSIUS: Polit. 38, § 68, a.O. 913.
[29] J. FABRICIUS: Einunddreissig Kriegsfragen (Stettin
1630) 223f.
[30] W. VON ORANIEN: Bekentnus sampt andern jrer F.G.
Mitverwandten Defension un Nothwehr wider des Duca de
Alba Unchristliche unnd unerhörte verfolgung gegen alle
Stendt der Niderlanden tyrannischer Weise geübet (o.O. 1568)
A ij.
[31] H. GROTIUS: Commentarius in Theses XI, §§ 22. 16.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
 50.619 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 719
32f. [ca. 1603–1608]; vgl. De iure belli ac pacis I, IV («De
bello subditorum in superiores») (1625).
[32] J. CALVIN: Institut. christ. religionis III, 10, 6; IV, 20, 31
(1559). Corp. Ref. 30/II, hg. G. BAUM u.a. (1864, ND New
York/London 1964) 532. 1116f.
[33] G. BUCHANAN: De iure regni apud Scotos (1579) 34.
89f. 97.
[34] CH. GOODMANN: How superior powers ought to be
obeyd (1558, ND New York 1931) 35. 186; ANON. [J. POY-
NET]: A shorte treatise of politike power ([Straßburg?] 1556)
Seite vor H.
[35] T. BEZA: De iure magistratuum 30. 37. 40. 42 (1574, lat.
1576) (1580), hg. K. STURM (1965).
[36] S. J. BRUTUS: Vindiciae contra tyrannos (Edinburg
1579) 11. 14. 36. 50 (33. 55f. 146) zur Absetzung von Kaiser
Wenzel.
[37] J. BOUCHER: De justa Henrici Tertii abdicatione e Fran-
corum regno, libri quatuor (Paris 1589); Mémoires du Duc de
Rohan. Sur les choses advenues en France depuis la mort de
Henri-le-Grand jusques à la paix faite avec les Réformés au
mois de juin 1629, in: Coll. des mém. relatifs à l'hist. de France
XVIII, hg. M. PETITOT (Paris 1822).
[38] H. PARKER: Observations upon some of his Majesties
late answers and expresses (o.O. 1642) 16f.; J. STEWART:
Ius populi vindicatum 203 (161) (London 1669); A. SIDNEY:
Discourses conc. government, ch. 3, s. 4 (London 1698), hg.
TH. G. WEST (Indianapolis, Ind. 1990) 339.
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
50.620 Widerstandsrecht HWPh Bd. 12, 720
[39] J. LOCKE: Two treat. of government (1690). The works
5 (1823, ND 1963).
[40] W. VON SCHRÖDER/G. S. TREUER: Disquisitio poli-
tica. Vom absoluten Fürstenrecht (1719) 204.
[41] B. KOCH: Rechtsbegriff und W. (1985) 13; vgl. K.
WOLZENDORFF: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre
vom W. des Volkes gegen die rechtswidrige Ausübung der
Staatsgewalt (1916, ND 1961) 498f.
[42] Vgl. Art.  ‹Ungehorsam, ziviler›. Hist. Wb. Philos. 11
(2001) 162f.
Literaturhinweise. A. KAUFMANN (Hg.): W. (1972). –
C. LINK: Jus resistendi, in: A. SCHEUERMANN/R. WEI-
LER/G. WINKLER (Hg.): Convivium Utriusque Iuris (1976)
55–68. – E. WOLGAST: Die Religionsfrage als Problem des
W. im 16. Jh. (1980). – R. VON FRIEDEBURG: W. und
Konfessionskonflikt (1999). – R. VON FRIEDEBURG (Hg.):
W. in der frühen Neuzeit (2001); Self-defence and religious
strife in early modern Europe (2002). – J. MIETHKE/CH.
STROHM: Art. ‹Widerstand/Widerstandsrecht›, in: Theolog.
Realenzykl. 35 (2003) 739–767.
R. VON FRIEDEBURG
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie