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4.812 Einheit und Vielheit der Wesensform HWPh Bd.

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Einheit und Vielheit der Wesensform. Bei der Er-


örterung des Hylemorphismus spielt in der Scholastik
die Frage nach Einheit oder Vielheit der die Materie
bestimmenden Wesensform eine besondere Rolle, die
am platonisch-aristotelischen Ursprung dieser Theorie
noch nicht ausdrücklich gestellt wurde.
1. Darstellung der Theorien in den Grundzügen.
– Beide Erklärungsversuche, die Lehre von der Ein-
zigkeit der substantiellen Wesensform wie die Annah-
me einer Vielheit von Wesensformen, halten sich im
Rahmen des Hylemorphismus, nach welchem die Na-
turkörper, belebte wie unbelebte, zusammengesetzt
sind aus Materie und Form.
a) Die Lehre von der Einzigkeit der Form. Der
Hauptvertreter der Lehre von der Einzigkeit der sub-
stantiellen Wesensform ist der hl. THOMAS VON
AQUIN, der in seiner Abhandlung ‹De spiritualibus
creaturis› die Behauptung aufstellt, daß eine Materie
jeweils nur von einer Wesensform informiert werden
könne, wobei dann diese eine Form der Materie alle
wesentliche formelle Vollendung gibt, so daß diese
einzige Form virtuell oder der Möglichkeit nach die
Wirkungen der ihr untergeordneten Formen in sich
enthält. Als Beispiel nimmt Thomas die vernünftige
Seele des Menschen, die ihn als Wesensform zum
Menschen, zum Lebewesen, zum Körper und zu einer
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
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Substanz macht [1].


Voraussetzung für diese Theorie ist ein entspre-
chendes Verständnis der Begriffe ‹Materie› und
‹Form›. Die Materie ist hier im streng metaphysischen
Sinne verstanden als materia prima, als reine Potenz
ohne jede aktuelle Bestimmtheit; sie kann nicht als
solche existieren, sondern erhält Existenz erst durch
die Verbindung mit der Form. Die Form ist die Be-
stimmtheit, durch welche die Substanzen als wesent-
lich Bestimmtes in der Wirklichkeit konstituiert wer-
den. Durch die Verbindung der Form mit ihrem Ko-
Prinzip, der Materie, entsteht das konkrete Einzelwe-
sen.
Um die echte Einheit der konkreten Realität auf-
rechterhalten zu können, meint Thomas die Einzigkeit
der substantiellen Form fordern zu müssen, welche
einzige Form der Sache Sein und Einheit verleiht [2].
Die Vorgänge des Entstehens (generatio) und Verge-
hens (corruptio) und der Veränderung (transmutatio,
alteratio) erklärt man so, daß zunächst die Materie die
vorhandene einzige Form verliert und in den Zustand
reiner Potentialität zurückkehrt, um dann eine völlig
neue Bestimmtheit zu empfangen. Die Einzigkeit der
Form soll auch gestützt werden durch die psychologi-
sche Erfahrung der Einheit des Handlungsprinzips,
als das wir uns selbst erleben.
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Anmerkungen.
[1] De spirit. creaturis a. 3. c.
[2] Quodlibet I q . 4, a. 6c; XII q. 7, a. 9 c; zit. R. ZAVAL-
LONI: Richard de Mediavilla et la controverse sur la pluralité
des formes (Louvain 1951) 255.

b) Die Lehre von der Vielheit der substantiellen


Wesensformen. Für die Anhänger der Pluralität von
Formen in einer Realität ist es unvorstellbar, daß eine
einzige Form alle Vollkommenheiten eines Seienden
erklären könnte: Man muß in jeder Substanz eine
Vielheit von hierarchisch geordneten Formen anneh-
men. Der hl. BONAVENTURA erklärt, daß es ohne
Vielheit von Potenzen keine vielfach unterschiedli-
chen Handlungen geben könne; Vielheit von Potenzen
aber fordere vielfach verschiedene Naturen; solche
Vielfalt aber könne wegen der Einheit des Realen nur
eine formelle, nicht jedoch eine numerische Vielheit
sein [1].
GONSALVUS VON BALBOA sagt: «Agere est a
forma; ergo diversa agere requirunt diversas formas;
sed in eodem sunt diversae actiones et operationes;
igitur et diversae formae» [2].
Ebenso wie die Theorie von der Einzigkeit der sub-
stantiellen Wesensform setzt auch diese Theorie von
der Vielheit der Formen ein bestimmtes Verständnis
der Hauptbegriffe des Hylemorphismus voraus. Die
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Materie wird nicht mehr als reine Potenz, ohne jede


Bestimmtheit verstanden, sondern als eine bereits
wirklich existierende Realität, obwohl die Wirklich-
keit dieser Realität nur eine sehr unvollkommene sei.
Die Pluralisten behaupten, nur die so verstandene
Materie, die bereits etwas Wirkliches, irgendwie Vor-
geformtes sei, könne mit den Formen die konkreten
Dinge bilden. Sie wissen, daß diese Materie «qua-
tenus est applicata formis» etwas anderes ist als die
Materie «secundum essentiam sive secundum se et
metaphysice», die der aristotelischen materia prima
entspräche [3].
Die substantielle Form ist zwar zunächst wie bei
den Anhängern der Einzigkeit der Wesensform Prin-
zip der Bestimmung, sie ist aber bei den Pluralisten
zugleich auch ein Prinzip, das für weitere Bestimmun-
gen disponiert. Die metaphysisch betrachtete materia
prima kommt also zur Existenz durch eine unterste
Form: damit gibt es die physische Materie, die ein
wesensmäßig Zusammengesetztes ist und als schon
Zusammengesetzes die «Materie» darstellt für eine
höhere Form. Dieses neue Zusammengesetzte dient
wieder als Materie für eine höhere Form. Erst die letz-
te Form läßt das Zusammengesetzte zu einem bestän-
digen Etwas werden, bestimmt es endgültig und gibt
ihm die spezifische Vollkommenheit: Diese letzte
Form heißt darum zum Unterschied von allen vorher-
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gehenden und im Gesamtzusammengesetzten weiter-


bestehenden Formen die forma completiva.
Jetzt erklärt nicht mehr die einzige Form alle Voll-
kommenheiten eines Seienden, sondern in jeder Sub-
stanz gibt es eine Hierarchie von Formen, die ihre je
entsprechenden Fähigkeiten haben. Entstehen, Verge-
hen und Veränderung setzen jetzt nicht die Rückkehr
zur materia prima voraus. Wenn auch eine Form ver-
schwindet, so bleiben andere, und die jeweils höchste
davon übernimmt die Funktion der forma completiva.
Gerade diese Lehre hat der Theorie von der Pluralität
der Formen viele Anhänger gewonnen, da sie besser
mit den Glaubensgegebenheiten zusammenzustimmen
schien als die Lehre von einer einzigen Wesensform.
Die Anhänger der Pluralität der Wesensformen erklä-
ren ihre Lehren auf sehr unterschiedliche Art, wäh-
rend die Theorie von der Einzigkeit der substantiellen
Wesensform von Thomas von Aquin voll ausgebildet
ist und kaum Nuancierungen, sondern nur noch Ver-
teidigungen bringt.
Zu den Pluralisten muß man auch die sogenannten
Dualisten zählen, die zwar für die übrige Körperwelt
Thomas zustimmen, zumindest aber für den Men-
schen von der Notwendigkeit einer forma corporis
neben der Vernunftseele als der eigentlichen Wesens-
form des Menschen überzeugt sind, und zwar vor-
nehmlich aus christologischen Gründen. Zu diesen
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Dualisten gehören HEINRICH VON GENT und


wohl auch GOTTFRIED VON FONTAINES.
Anmerkungen.
[1] BONAVENTURA, II Sent. dist. 15, a. 1, q. 2, ad opp. 3;
zit. ZAVALLONI, a.a.O. (Anm. [2] zu 1a) 310f.
[2] GONSALVUS HISPANUS, Quaest. disp., q. 14; zit. ZA-
VALLONI, a.a.O. 311.
[3] Vgl. a.a.O. 304f. Anm. 3.

2. Die Entwicklungsgeschichte der Lehren von


Einheit und Vielheit der Wesensform. – Die Frage-
stellung der Pluralisten finden wir in PLATONS
‹Staat› vorgeprägt: «Das ist aber wohl schwer, ob wir
mit demselben alles verrichten, oder von dreien mit
jeglichem ein anderes: mit einem von dem, was in uns
ist, lernen, mit einem andern uns mutig erweisen, und
mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung
und Erzeugung verbundene Lust begehren, und was
dem verwandt ist, oder ob wir mit der ganzen Seele
jegliches von diesen verrichten, wenn wir auf eines
gestellt sind?» – Platon entscheidet die Frage mit
Hilfe des Satzes vom Widerspruch: «Offenbar ist
doch, daß dasselbe nie zu gleicher Zeit Entgegenge-
setztes tun und leiden wird, wenigstens nicht in dem-
selben Sinne genommen und in Beziehung auf ein und
dasselbe, so daß, wenn wir etwa finden sollten, daß in
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ihnen dies vorkommt, wir wissen werden, daß sie


nicht dasselbe waren, sondern mehreres» [1]. Wenn
auch Platon nach H. Gauss mit seiner Lehre von den
Seelenteilen nur meint, «daß wir in der Seele eine
dreifache Funktionsweise nach verschiedenen Rich-
tungen wahrnehmen können, eine Divergenz ihrer Ak-
tivität, die ihr als einer hinter diesen verschiedenen
Handlungsweisen liegenden Einheitlichkeit keinen
Abbruch tun muß» [2], so wurde doch Platon und den
«platonisch Philosophierenden» der Vorwurf ge-
macht, sie verletzten die Einheit der menschlichen
Seele als der einzigen Körperform.
Von Aristoteles gingen in die Diskussion um Ein-
heit oder Vielheit der Wesensformen die Erörterungen
über den Hylemorphismus ein, aber auch die Untersu-
chungen über die Seele, welche den platonischen See-
lenteilen entsprechend eine anima vegetativa, eine
anima sensitiva und eine anima rationalis oder intel-
lectiva unterscheiden. Aber Aristoteles spricht sich
nicht so entschieden und deutlich aus, daß nicht spä-
ter seine Überlegungen von beiden Seiten als Beleg
hätten beigezogen werden können. R. ZAVALLONI
stellt fest, daß die Pluralisten dem echten Aristoteles
treuer sind als der hl. Thomas [3].
Deutlicher und für das abendländische Mittelalter
unmittelbarer einflußreich werden die Stellungnahmen
in der arabisch-jüdischen Philosophie, die ja die
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ganze Aristotelesrezeption im Abendland gefärbt


haben. Hier wird AVICENNA zum Bürgen für die
thomistische Lehre von der Einzigkeit der substantiel-
len Form, während AVICEBRON (nicht, wie vielfach
angenommen wurde: Augustinus) am Ursprung der
Lehre von der Vielheit der Formen bei den mittelalter-
lichen Denkern steht. Mit Zavalloni wird man aber
zugeben müssen, daß AVICENNA wohl mit mehr
Recht für die Pluralität beigezogen wird, wenn auch
die Texte nicht unbedingt zwingend, sondern eher am-
bivalent sind [4], wie man auch von AVERROES
sagen muß, auf den sich ebenfalls beide Richtungen
berufen. Die Pluralisten waren überzeugt, eine tradi-
tionelle Lehre zu verteidigen; darum beriefen sie sich
immer wieder auf den hl. Augustinus, den aber auch
die Vertreter der einzigen Wesensform für sich bean-
spruchten [5]. Es scheint jedoch, daß AUGUSTINUS
mehr an der Sicherung der tatsächlichen Einheit der
Seele interessiert ist als an der Frage, wie diese Ein-
heit zu fassen sei, daß er also das Problem selbst
nicht in dieser Form gestellt hat, wenngleich sich
wohl eine Pluralität von Formen besser mit seinem
Denken vereinbaren läßt, wobei besonders die Frage
der rationes seminales als inchoatio formae oftmals
eine Rolle spielt [6]. Über BONAVENTURA und
ROGER MARSTON gehen diese Einflüsse in die ge-
samte Franziskanerschule über.
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Der erste Denker des Mittelalters, der die Lehre


von der Pluralität der Formen ausdrücklich formuliert
hat, dürfte PHILIPP der Kanzler sein. Ausführlicher
über diese Lehre handelt zuerst JOHANNES PECK-
HAM. Weitere Namen sind dann ROBERT KIL-
WARDBY, WILHELM de la MARE, MAT-
THAEUS VON AQUASPARTA, ROGER MAR-
STON, RICHARD VON MEDIAVILLA, ROGER
BACON, HEINRICH VON GENT, sowie PETRUS
JOHANNES OLIVI und seine Schule, die den Über-
gang zu JOHANNES DUNS SCOTUS bilden.
Bei den Vertretern des Pluralismus gab es unter-
schiedliche Auffassungen, die zum Teil eine Annähe-
rung an die Position des THOMAS versuchten. Das
ist besonders der Fall bei HEINRICH VON GENT
und GOTTFRIED VON FONTAINES, die Thomas
für alle Körperwesen mit Ausnahme des Menschen
(vornehmlich aus christologischen Motiven heraus)
zustimmten.
Die Position des Thomas, die zwar von WIL-
HELM VON AUVERGNE, ROLAND VON CRE-
MONA und in etwa auch von ALBERT dem GRO-
SSEN schon vorbereitet worden war, deren volle Aus-
bildung aber ausschließlich sein Werk ist, wurde
übernommen und verteidigt von RICHARD KNAP-
WELL, THOMAS SUTTON, WILHELM MAC-
KLESFIELD, BERNHARD VON
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TRILIA, AEGI-
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DIUS VON LESSINES, JOHANNES QUIDORT,


BERNHARD VON AUVERGNE, HERVAEUS NA-
TALIS, PETRUS de PALUDE, AEGIDIUS ROMA-
NUS.
Die Diskussionen hatten zunächst mehr akademi-
schen Charakter, wenngleich sich die Gegensätze am
Ende des 13. Jh. äußerst schroff gegenüberstanden.
AEGIDIUS ROMANUS glaubt sagen zu können:
«Velle enim ponere plures formas est velle philoso-
phare non humano modo nec modo aristotelico, qui
ait nostram scientiam incipere ex sensu, et qui voluit
ex sensibilibus (ad) intelligibilia ascendere; sed velle
philosophare modo non humano, sed platonico qui,
relicto sensu, ex intelligibilibus voluit in sensibilia
descendere» [7]. – Dagegen beschließt der aus dem
OLIVI-Kreis kommende PETRUS de TRABIBUS
seine Quaestio «Utrum in una re et eadem possint
esse plures substantiales formae» mit den Worten:
«Nullus ergo formidet tenere formarum pluralitatem,
quia nulla ratio efficax contra eam invenitur; ratio
etiam probabilis vel apparens ad rationes quae pro
ipsa adducuntur» [8]. Die letzte Zuspitzung erreichte
die Erörterung dieser Fragen, als sie in der Auseinan-
dersetzung um Olivi Gegenstand der Verhandlungen
des Konzils von Vienne wurde. OLIVI sagt deutlich:
«Simpliciter teneo in corpore humano praeter animam
esse alias formas realiter differentes ab ipsa et etiam
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credo omnes gradus formales qui in eo sunt concurre-


re ad unam perfectam formam constituendam, quarum
principalior et omnium quodam modo forma et radix
est illa quae ultimo advenit» [9]. Danach wird also
eine forma completa konstituiert aus allen ihren for-
mellen Teilen, zu denen die verschiedenen Formen
eines ganzen Seins sich zusammenfügen [10]. Zaval-
loni stellt fest, daß man OLIVI weniger als manchem
anderen den Vorwurf machen kann, die Einheit der
Seele nicht zu wahren. Die einzelnen Teile sind nicht
mehr selbständig, sondern bilden nur eine vollkom-
mene Form mit der anima rationalis [11]. Ob aber
OLIVI mit Recht von der Verurteilung des Konzils
von Vienne getroffen ist, weil er gelehrt habe, die ver-
nünftige Seele sei nicht per se et immediate Körper-
form, wird sich schwerlich entscheiden lassen, wenn-
gleich die Mehrzahl der Forscher die Frage heute ne-
gativ zu beantworten scheint [12].
Als Zusammenfassung der Stellung der Olivi-Schu-
le zum Problem der Seele als Körperform darf die
Aussage von PETRUS de TRABIBUS stehen:
«Anima enim humana est quoddam suppositum in ge-
nere spiritualis substantiae constans ex spirituali ma-
teria et ex spirituali forma, ad cuius suppositi consti-
tutionem plures formae conveniunt in una materia ra-
dicatae, ex quibus quaedam collocant et ordinant ad
constituendum compositum ex ipsa et corpore, ut ho-
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minem, in esse generis, ut vegetativa et sensitiva,


quaedam vero in esse suo specifico et completo, ut in-
telligentia et voluntas; esse enim specificum hominis
non est unum unitate simplicitatis et indistinctionis,
sed unitate compositionis et integritatis, quia cum sit
perfectissimum et multiplicis actionis, necesse est
quod anima ipsum constituens secundum quod ipsum
constituit habeat plures formas in sua spirituali mate-
ria radicatas ...» [13].
Wenn die Olivi-Schule in den vegetativen, sensiti-
ven und intellektuellen Prinzipien drei formelle Teile
sieht, die zusammen die einzige Seele bilden, indem
sie ein und dieselbe geistige Materie informieren,
dann liegt darin sicher eine Wurzel der skotistischen
Lehre vom Formalunterschied. Zavalloni beschreibt
die Entwicklung als den «Übergang von der Pluralität
der Formen oder besser von der Pluralität der Grade
einer Form zur Pluralität der Formalitäten, und dann
zum Formalunterschied» des JOHANNES DUNS
SCOTUS [14]; aber nicht alle Formen sind bei Scotus
als Formalitäten in einer Einheit aufzufassen: man
muß die vernünftige Seele und die Körperform (forma
corporeitatis) ausnehmen, die selbständig sind als
Formen [15].
Nach SCOTUS kommt in die Diskussion kein
neues Element mehr hinein – auch OCKHAM und
SUÁREZ bringen für keine Seite etwas Neues bei –,
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und spätere Scholastiker, auch der Gegenwart, wie-


derholen nur die bis um die Wende zum 14. Jh. vor-
liegenden Argumente, wobei mit größerem Interesse
für die Naturwissenschaften die Theorien der Pluralis-
ten mehr Anklang zu gewinnen scheinen, während die
Theorie von der Einzigkeit der Wesensform von aus-
schließlich metaphysisch interessierten Denkern tho-
mistischer Ausrichtung vertreten wird.
Anmerkungen.
[1] PLATON, Resp. 436 a–b; Übersetzung von FR. SCHLEI-
ERMACHER.
[2] H. GAUSS: Handkomm. zu den Dialogen Platons. 2/2
(1958) 44.
[3] Vgl. R. ZAVALLONI, a.a.O. (Anm. [2] zu 1a) 470.
[4] a.a.O. 428.
[5] a.a.O. 436.
[6] a.a.O. 447f.
[7] R. HOCEDEZ: Richard de Middleton. Sa vie, ses œuvres,
sa doctrine (Louvain/Paris 1925) 477.
[8] PETRUS de TRABIBUS, I Sent. dist. 3, a. 3, q. 3 (Assisi,
Bibl. comunale, Ms. 154, f. 28 ra).
[9] PETRUS JOHANNIS OLIVI, Quaest. in II lib. Sent., hg.
B. JANSEN, 2 (Quaracchi 1924) 35.

HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie


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[10] Vgl. R. ZAVALLONI, a.a.O. 335.


[11] a.a.O. 340.
[12] Vgl. B. ECHEVERRIA: El problema del alma humana en
la edad media (Buenos Aires/ Mexico 1941) bes. 29–42.
[13] PETRUS de TRABIBUS, I Sent. dist. 3, q. 3. a. 4. (a.a.O.
[8] f. 28 vb).
[14] Vgl. R. ZAVALLONI, a.a.O. 379.
[15] a.a.O. 379.
Literaturhinweise. R. ZAVALLONI: Richard de Media-
villa et la controverse sur la pluralité des formes. Texte inédit et
étude critique (Louvain 1951). Das grundlegende, umfassende
Werk, das Ausgangspunkt aller weiteren Forschung zum
Thema sein muß; es enthält S. 509–538 eine bis 1950 vollstän-
dige Bibliographie; es fehlt nur der unten angeführte Aufsatz
von E. MÜLLER. – F. J. ROENSCH: Early Thomistic school
(Dubuque, Ia. 1964) Neuere Lit. als Ergänzung zu ZAVAL-
LONI S. 318–337. – E. MÜLLER: Olivi und seine Lehre von
der Seelenform auf dem Konzil von Vienne 1311/12, in: Kir-
chengesch. Stud. P. Michael Bihl OFM als Ehrengabe darge-
boten, hg. P. I.-M. FREUDENREICH OFM (Kolmar 1941)
96–113. – P. BISSELS: Die sachliche Begründung und phi-
los.-gesch. Stellung der Lehre von der materia spiritualis in der
Scholastik. Franziskan. Stud. 38 (1956) 241–295. – E. GIL-
SON: Jean Duns Scot. Introduction à ses positions fundamen-
tales (Paris 1952), dtsch. W. DETTLOFF (1959). – E. BET-
TONI: Le dottrine filos. di Pier di Giovanni Olivi (Mailand
1959). – W. HOERES: Der Wille als reine Vollkommenheit
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
4.826 Einheit und Vielheit der Wesensform HWPh Bd. 2, 405

nach Duns Scotus (1962). – F. BRUNNER: Platonisme et ari-


stotélisme. La critique d'Ibn Gabirol par Saint Thomas d'Aquin
(Louvain/Paris 1965). – L. HÖDL: Anima forma corporis. Phi-
los.-theol. Erhebungen zur Grundformel der scholastischen
Anthropol. im Korrektorienstreit (1277–1287). Theol. und Phi-
los. 41 (1966) 536–556.
A. HUNING

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