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Abstract: Chapter 5, The Theory and History of Art, deals with the thinking about
lines in Western histories and theories of art from antiquity to the 1960s. Although
this thinking is wide-ranging and irreducibly heterogeneous, it can nevertheless
be related to specific practices and paradigms. As long as the graphic or drawn line
is prevalent, for instance, the line is regularly thought of as a contour circumscri-
bing forms and producing figures or images. Since the 18th century, however, it
is more often closely associated with movement than with the definition of form.
It may now even be detached from any surface, becoming a ‘line in space’ (think
of struts or threads). Yet this is in no way a ‘linear’ history. The chapter refers to
lines in ancient anecdotes and philosophy (Aristotle, Pliny the Elder), to lines
in medieval image theology and drawing (Theodor Studites, Villard de Honne-
court), to perspective and grid in the Renaissance (Alberti, Dürer), to lineamenta,
disegno, trait (Alberti, Leonardo da Vinci, Vasari, Testelin), to moving lines in
the 16th and 17th centuries (Leonardo da Vinci, Dürer, Vasari, Lomazzo, Bosse),
to the emphasis on the line in the 18th and early 19th centuries (Hogarth, Win-
ckelmann, Lavater, Blake), to the devaluation of contour and the rise of forces
(Delacroix, Ruskin), to physiologies and psychologies of the line around 1900
(Wölfflin, Endell, Lipps, van de Velde, Worringer), and to new concepts of the
line since ca. 1920 (Mondrian, Kandinsky, Gabo/Pevsner, Rodchenko, Klee, Lygia
Clark, Michael Fried, Gertrud Goldschmidt).
5.0 Einleitung
In der europäischen Kunstliteratur1 ist die Linie fast immer ein Gegenstand von
großer, ja größter Bedeutung. Wird sie schon in der Antike als Anfang und Prinzip
der bildenden Kunst angenommen, so steht sie seit der Renaissance nicht selten
1 Mit diesem Ausdruck (den wir hier nicht exakt im Sinne Julius von Schlossers gebrauchen)
seien vorab zwei Einschränkungen genannt: 1) In den Darlegungen geht es ‒ dem Thema des
ganzen Buches gemäß ‒ nicht um Linien in den Werken der Kunst, sondern in verbalen Äuße-
rungen dazu; Literatur im engeren Sinn der poetischen und fiktionalen Texte ist dabei ausge-
schlossen. 2) Es geht hauptsächlich um Überlegungen, die in – zum Teil sehr verschiedenarti-
gen – europäischen Kulturen angestellt wurden. Mehr ist im Rahmen dieses Buches nicht zu
leisten.
DOI 10.1515/9783110467949-006
eben das Ziehen von Linien (im Unterschied zum Schneiden, zum Brechen einer
Kante, zum Spinnen oder Spannen eines Fadens, zum Dehnen einer zähflüssigen
Substanz etc.). Die Bedeutsamkeit dieser Praxis erschließt sich erst, sobald man
berücksichtigt, welche anderen an sie anknüpfen. Sofern die graphische Linie
eine gezogene Linie ist, kann sie auch als Spur eines bewegten Körpers betrach-
tet werden und Aufschluss über den Körper selber geben, vor allem aber über
die Richtung und Dynamik der von oder mit ihm vollzogenen Bewegung. Außer-
dem können gezogene (und auch auf andere Weise entstandene) Linien – mit
dem Auge, der Hand oder mit dem ganzen Körper – verfolgt oder nachgezogen
werden. Die Linie kann, kurz gesagt, als Aufzeichnung einer bereits vollzogenen
wie auch als Anweisung auf eine erst noch zu vollziehende Bewegung aufgefasst
und in Anspruch genommen werden, und es sind genau diese Zusammenhänge
von Linie und Bewegung, die in unterschiedlichen historischen Konstellationen
auf je spezifische Weise theoretisch reflektiert wurden. Die historische Semantik
des ‚Ziehens‘ wiederum führt zu komplexen Fragen: Handelt es sich um ein ‚Her-
ausziehen‘ der Linie aus dem Punkt, um dasjenige einer Figur ‚aus der Natur‘, wie
es die etymologische Beziehung von Porträt und protrahere nahelegt (vgl. Boehm
1985, S. 45–50; Wirth 2015, S. 53–56), um ein Ziehen zwischen zwei Punkten im
Sinne von Euklid, um ein Nachziehen oder Entwerfen, sind die Referenzen hand-
werkliche oder geometrische? Etc.
Linien können aber auch einen Umriss bilden. Als Bezugsgröße linientheo-
retischer Bemühungen ist diese spezifische Praxis mindestens ebenso relevant
wie der erwähnte Nexus von Linie und Bewegung, und dies nicht nur in affirma-
tiver, sondern auch in negativer, kritischer Beziehung. Zu Wörtern wie ‚Umriss‘
oder ‚Kontur‘ gehören Verfahren der Bildgebung, die zum Teil hochkomplex
und schwer zu analysieren sind. Zunächst sei daher nur festgehalten, dass die
Umrissbildung eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, um eine plane Inskrip-
tionsfläche in ein Bildvehikel zu verwandeln, das einen bestimmten Bildinhalt –
zum Beispiel menschliche Körper oder andere Bildobjekte in einem so und so
bestimmten Bildraum – zu erkennen gibt. Die Umrissbildung kann also der Her-
vorbringung von Bildinhalten und somit auch von Bildern dienen. Der Terminus
‚Bild‘ meint hier wie im Folgenden die zwiespältige Einheit von Bildvehikel, zum
Beispiel einer planen Inskriptionsfläche, und Bildinhalt, zum Beispiel auf dieser
Fläche erkennbare menschliche Körper (vgl. Pichler/Ubl 20145). Bildobjekte sind
5 Der in diesem Buch entwickelte Bildbegriff umfasst auch die Skulptur, insofern das Bild
vehikel nicht unbedingt zweidimensional sein muss, und er umfasst etwas wie das Ornament,
insofern dieses als Bildobjekt vom -vehikel zu unterscheiden ist. Architektonische Sachverhalte
sind dagegen (abgesehen vom Bauschmuck) ausgeschlossen.
fiktive Entitäten und als solche von den Referenten, die von Bildern im Rahmen
je spezifischer Praktiken vertreten werden und die durchaus real sein können,
prinzipiell zu unterscheiden. Diese etwas umständlich anmutende bildtheoreti-
sche Terminologie erlaubt es, eine Mehrdeutigkeit zu markieren, die sonst leicht
für Verwirrung sorgt. Mit dem Wort ‚Umriss‘ kann nämlich zweierlei gemeint sein:
zum einen die auf einem planen Bildvehikel, zum Beispiel einem Blatt Papier,
gezogene Linie, zum anderen der Umriss eines Körpers. Die beiden Bedeutun-
gen stehen nicht nebeneinander, sondern sind miteinander verschränkt: Man
bezeichnet die Linie auf dem Papier (oder einem anderen planen Bildvehikel) als
Umriss, sofern im Bildvehikel ein Bildobjekt, etwa in Form eines menschlichen
Körpers, zu erkennen gegeben ist; und man betrachtet umgekehrt den Umriss
eines Körpers, egal, ob es sich dabei um ein Bildobjekt oder um einen realen
Körper handelt, wohl auch deshalb als Linie, weil er sich mit Hilfe von – auf
einem Bildvehikel gezogenen – Linien bildlich darstellen lässt. Aber natürlich
ist ein Körperumriss keine auf dem betreffenden Körper gezogene Linie. Denn
dem Körper – man denke speziell an einen menschlichen – kann man sich nicht
nähern, um genauer in Augenschein zu nehmen, wie sein Umriss verläuft. Der
Umriss runder oder rundlicher Körper hat vielmehr die Eigenschaft, dass er sich
im Verhältnis zur jeweiligen Körperoberfläche verschiebt, sobald der oder die
Betrachtende näher tritt oder den Blickwinkel ändert. Genau aus diesem Grund
sind derartige Körperumrisse auch als kleine Horizontlinien beschreibbar (vgl.
Steinberg 1972, S. 255). Nur in Bezug auf kantige Objekte kann man sagen, dass
dem gesehenen Umriss am Objekt selber so etwas wie eine Linie entspricht, die
sich näher in Augenschein nehmen, ja sogar betasten lässt. Derartige Differenzen
sind wichtig, weil sie zuweilen für Unruhe sorgen und die Theoriebildung antrei-
ben (vgl. z. B. Leonardo da Vinci*, S. 339).
Graphische Linien können auch auf andere Weise zur Hervorbringung und
Ausgestaltung von Bildobjekten und Bildräumen beitragen, etwa indem sie zur
Darstellung von Ritzen, Rillen oder Falten gebraucht werden, der Modellierung
dienen (Schraffurtechnik), linienähnliche Bildobjekte wie zum Beispiel Haare,
Fäden oder Drähte darstellen usw.6 Doch trotz dieser wichtigen und vielfälti-
gen Verwendungsmöglichkeiten ist die Linie beim Bildermachen keineswegs
unentbehrlich und alternativlos. Körperhafte Bildobjekte lassen sich auf planen
Inskriptionsflächen ebenso gut durch mehr oder weniger kompakte Farbflecken
hervorbringen; zur Darstellung eines Kopfes genügt unter Umständen ein rundli-
cher Farbbatzen (vgl. Willats 1997, S. 76–89, 323–328).7 In Europa indes wurde die
6 Zu möglichen objektiven Korrelaten von Linien auf Bildvehikeln vgl. Willats 1997, S. 125.
7 Vgl. auch unten, S. 368–369.
Linie, und zwar speziell die Umrisslinie, seit der Antike immer wieder als Aus-
gangspunkt und Prinzip jeder Art von Bildgebung betrachtet (auch der dreidi-
mensionalen), und zwar in der Theorie wohl noch mehr als in der Praxis. Ob diese
prinzipielle Geltung des Umrisses das Ergebnis einer besonderen Wertschätzung
von Linien ist oder ob umgekehrt diese Wertschätzung zum Teil erst aus jener
Geltung resultiert, mag dahingestellt bleiben. In jedem Fall erweisen sich die
Anfangsbedingungen der Theoretisierung der Linie als historisch kontingent.
Die Reflexion auf die genannten Paradigmen und Praktiken ist aber nicht nur
deshalb notwendig (und ergiebig), weil sie verdeckte historische Bedingungen
der Theoriebildung ans Licht zu bringen vermag. Sie ermöglicht es überhaupt
erst, den Gegenstandsbereich der einschlägigen Texte mit hinreichender Genau-
igkeit anzugeben: Die darin enthaltenen Betrachtungen betreffen Praktiken des
Hervorbringens, Nachziehens, ‚Lesens‘ (d. h. Sehens als etwas) oder Verfolgens
von Linien, und zwar in ihrem Verhältnis zum Bildermachen. Historisch lassen
sich anhand der Texte ganz grob zwei – einander überlappende – Perioden unter-
scheiden: Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert scheint sich das Nachdenken
vor allem an der Praxis der Umrissbildung zu orientieren, während in der zweiten
Periode – ansatzweise bereits in der Renaissance, mit Nachdruck und auf breiter
Front aber erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – die Linie vielfach von der
Bewegung her gedacht und dann auf theoretischer Ebene mit einem neuen Begriff
von Kraft oder Energie gekoppelt wird. Ein wichtiges Ereignis der ersten Periode
ist die Einführung von Verfahren und Theorien perspektivischer Bildgebung, die
zu einer Neubewertung auch der Umrisslinie führt. Die zweite Periode lässt sich
schematisch weiter untergliedern, wenn man auf das sich wandelnde Verhält-
nis von Umriss und Bewegung (oder Kraft) achtet. Zunächst eröffnet im 18. Jahr-
hundert das Interesse für die Bewegung eine Möglichkeit, das Bildermachen auf
einer theoretischen Ebene zu diskutieren, auf der es sich von Tanz, Ornament
oder (nicht verbaler, diagrammatischer) Schrift nicht wesentlich unterscheidet.
In dieser ersten Phase sieht man auch die Umrisslinie als Spur oder Anlass von
Bewegung. Im 19. Jahrhundert – in einer hier angenommenen zweiten Phase –
geht die Aufwertung bewegter Linien hingegen mit einer Abwertung von Umriss-
linien einher: Jetzt interessiert man sich primär für Bewegung und/oder Kraft und
erst sekundär für den davon abhängig gedachten Umriss. Schließlich hält man in
einer dritten Phase (ab ca. 1900) auch nach linearen Phänomenen Ausschau, die
der Hervorbringung von Bildobjekten entgegen stehen: Die Linie, die einst – als
Umrisslinie – das oberste Prinzip der Hervorbringung von Bildobjekten gewesen
war, soll jetzt – u. a. als Bewegungs- oder Kraftlinie – über die alte Bildkultur hin-
ausführen. Die Veränderungen dieser ganzen zweiten Periode des Liniendenkens
machen sich auch auf der Ebene der Paradigmen bemerkbar: Der Begriff der gra-
phischen Spur wird zum Teil extrem erweitert (z. B. umfasst er auch die auf dem
Erdboden sichtbare Spur des Gehens oder Fahrens), zum Teil wird die Referenz
darauf abgelöst oder bekommt Konkurrenz durch diejenige auf Kanten, Rippen,
Streben, Rinnspuren, Schnüre und andere linienförmige Dinge und Effekte.
Diese versuchsweise Schematisierung hochkomplexer Vorgänge muss
sogleich mit einem caveat verbunden werden: Jene historischen Momente, an
denen sich die Linienreflexion verdichtet und neu artikuliert, sind – natürlich –
nicht als Stationen auf einem einzigen Weg zu denken. Der Zusammenhang des
‚europäische Kunstliteratur‘ Genannten ist schon deshalb brüchig, weil weder
der Begriff der Kunst noch der institutionelle und diskursive Rahmen der Dis-
kussion konstant bleibt. Praktiken des Hervorbringens, Nachziehens, ‚Lesens‘
oder Verfolgens von Linien und ihr Verhältnis zum Bildermachen werden nicht
nur aus kunsthistorischem oder -theoretischem Blickwinkel beleuchtet und
betrieben, sondern auch von philosophischer, theologischer, physiognomischer,
physiologischer und psychologischer Seite, und da diese Diskurse zum Teil
miteinander kommunizieren, wäre es ebenso falsch, sie strikt zu trennen, wie
es verfehlt wäre, die Unterschiede und Kontaktschranken auszublenden. Wenn
also hier im weiten Feld des Nachdenkens über Linie und Bild einige wichtige
historische Zonen oder ‚Nachbarschaften‘ markiert und in chronologischer Rei-
henfolge präsentiert werden, ist stets darauf zu achten, dass es sich um ein Feld
von sehr unterschiedlicher Dichte und Konsistenz handelt. Die Zusammenschau
der Theoriebildungszonen ergibt folglich keine Geschichte – jedenfalls nicht eine
Geschichte: Sie folgt nicht – Linienmetaphern sind hier fast unvermeidlich –
einer einzigen ‚Linie‘ oder einem einzigen ‚Erzählfaden‘, sie hat allemal keinen
teleologischen Vektor und bewegt sich nicht auf einer Bahn, die sich ihrerseits
wieder als Linienfigur aufzeichnen ließe. Andererseits verkümmert sie aber auch
nicht zur bloßen Chronik. Manche Affinitäten werden sich bei näherem Hinsehen
als historische Passagen, andere als Verdichtungen oder Knotenpunkte, wieder
andere als eher offene Gruppierungen darstellen, die dennoch eine gemeinsame
Tendenz aufweisen. Die hier – im Vergleich zu den ausgewählten Quellentexten
und den ihnen jeweils vorangestellten Einführungen – aufgespannte höhere Abs-
traktionsebene soll erlauben, in den ausgewählten Referenzen ein zwar zerklüf-
tetes, aber keineswegs zusammenhangloses Feld zu erkennen.
Die fragmentarisch erhaltene Kunstliteratur der Antike hat auf das Nachdenken
über Linien durch drei bei Plinius* überlieferte Erzählungen gewirkt. Die berühm-
teste dieser Erzählungen, die Anekdote von der Tochter des Töpfers Butades,
beschreibt die Rolle der Linie bei der Erfindung der Plastik. Am Anfang der bil-
denden Kunst steht demnach der Umriss. Da sich der Umriss eines menschlichen
Körpers, mit Ausnahme vielleicht der Hand oder des Fußes, auf einem flachen
Bildvehikel nicht ohne weiteres nachziehen lässt, tritt hier in Form eines auf die
Wand geworfenen Schlagschattens eine Vermittlungsinstanz auf den Plan. Der
Umriss wird durch Nachziehen des Schattenrandes gewonnen. Beim Abschluss
des Prozesses umgibt die Linie auf der Wand den Schatten. Sichtbar wird sie aber
erst, wenn der Schatten verschwindet. Sie bleibt als eine Art leere Hülle zurück,
die dann einen plastischen Ersatzkörper aufnehmen kann.
Die Linie steht hier am Anfang der Plastik, man kann bei Plinius aber auch
lesen, dass sie gleichermaßen den Anfang der Malerei bilde. Es ist denkbar, dass
diese – natürlich fragwürdige – geschichtliche These von einer zur Zeit ihrer
Formulierung gängigen malerischen Praxis angeregt ist: Aristoteles* nimmt in
einer seiner biologischen Schriften auf diese Praxis Bezug, wenn er schreibt, dass
die Maler ihre Bildobjekte zunächst nur im Umriss anlegen, um diesen Umriss
dann weiter auszufüllen – ähnlich wie Butades den von seiner Tochter gezoge-
nen Umriss später mit Ton ausfüllt. Die Umrissbildung wird in diesem Zusam-
menhang wohl nicht nur als Anfang, sondern als Grundlage des Bildermachens
angenommen, auf der weitere Schritte aufbauen. Wenn das zutrifft, heißt das:
Die Linie gilt nicht nur als initium, sondern zugleich auch als principium der Bild-
künste.8
In mindestens einer Hinsicht jedoch weicht der Umriss in der Butades-Anek-
dote von der entwickelten Praxis der Umrissbildung in der Malerei der Antike
ab. Alle Erzählungen, welche die Geschichte der Malerei nach dem Schema von
Umriss und Ausfüllung erzählen, lassen eine wichtige künstlerische Erfindung
unberücksichtigt: die Erfindung der gegliederten Kontur. In der entwickelten
künstlerischen Praxis der griechischen Antike besteht der Umriss – man denke
etwa an die Geschichte der Vasenmalerei und an das für diese ganze Tradition
exemplarische Bildobjekt, den menschlichen Körper – niemals nur aus einer,
sondern aus mehreren Linien. Zwischen den verschiedenen Teilen oder Glie-
dern der Kontur gibt es Lücken, und es deuten sich Beziehungen des Über- und
Unterschneidens an: Ein Teilstück verschwindet dann hinter einem anderen,
wie der Umriss eines Hügels hinter demjenigen eines benachbarten Hügels ver-
schwinden kann. Von entscheidender Bedeutung sind gerade die Anfänge oder
Enden der Linien. Bei der gegliederten Kontur (vgl. Rawson 1987, S. 95; Willats
1997, S. 119–123 und 323–337) kann man nicht etwa (wie es in der Kunstliteratur
seit langem üblich ist) strikt zwischen Außen- und Binnenkonturen unterschei-
den. Denn zum einen gibt es in diesem Fall gar keine geschlossen durchlaufende
Umrisslinie, zum anderen kommt es gerade darauf an, wie bestimmte Linienglie-
der nach innen abbiegen oder aus dem Inneren der Figur hervorgehen. Dies hat
natürlich mit der rundlichen und dabei hoch differenzierten Form menschlicher
Körper zu tun. Zur Darstellung von Polyedern bedürfte es keiner gegliederten
Kontur.
Etwas von dieser Problematik scheint in der Erzählung über den Maler
Parrhasios auf, der Linien erfunden haben soll, die um den Körper herumlaufen.
Möglicherweise ist hier nichts anderes gemeint als eine bestimmte Art des Einsat-
zes gegliederter Konturen.
An einer dritten wichtigen Stelle erzählt Plinius die Anekdote vom Wettstreit
zwischen Apelles und Protogenes. Darin bezieht sich eine Konkurrenz zwischen
zwei Malern ausschließlich auf Linien. Erstaunlicher Weise ist dabei nicht vom
Umriss, sondern allein vom Ziehen und Nachziehen einer Linie die Rede (was
spätere Kommentatoren regelmäßig verwundert und zu phantasievollen, dem
alleinigen Ziehen und Nachziehen auch direkt widersprechenden Deutungen
anregt). Offenbar soll in dieser Anekdote die Praxis, die einer Linie zugrunde
liegt, sei sie Umriss, Schrift oder was auch immer, als solche rein herausgestellt
werden. Dem Wortlaut des Textes gemäß handelt es sich allerdings um eine sehr
spezielle Praxis: Die nachziehende Linie verläuft innerhalb der gezogenen und
spaltet sie auf diese Weise. Wird die zuerst gezogene Linie auf diese Weise nicht
zur Fläche? Und heißt das nicht, dass sich jede in einem solchen Szenario denk-
bare Linie in dem Sinne immer schon auf dem Rückzug befindet, als sie sich,
einmal nachgezogen, in eine Fläche verwandelt (vgl. Elkins 1998, bes. S. 18–22)?
Das Verhältnis zwischen gezogener und nachziehender Linie unterscheidet sich
jedoch in einer wichtigen Hinsicht von demjenigen zwischen Fläche und Linie:
Die leere Inskriptionsfläche enthält keinen Hinweis darauf, wie die Linie zu ziehen
ist. Hingegen stellt eine Linie, die nachgezogen werden soll, eine vergleichsweise
klare Vorgabe dar, die es ermöglicht, eine Bewegung zu wiederholen. Wie bereits
erwähnt: Eine Linie lässt sich zugleich als Aufzeichnung einer vollzogenen und
als – unter Umständen sehr präzise – Anweisung auf eine zu vollziehende Bewe-
gung verstehen.
Auch in der Butades-Anekdote gibt es ein Nachziehen im Sinn der Erzählung
von Apelles und Protogenes: Der Rand des Schattens ist eine Linie nur im Hin-
blick darauf, dass er nachgezogen werden kann. Dasselbe gilt dann auch für den
Umriss des Körpers, der den Schatten wirft. Hier liegt eindeutig eine Struktur der
Nachträglichkeit vor, die es schwer macht zu entscheiden, ob die Linie der Töp-
fertochter die erste oder die dritte Linie ist: In Hinsicht auf die Linie als mensch-
liches Artefakt kommt sie an erster Stelle, in Hinsicht auf das Kontinuum, das die
Anekdote zwischen Natur und Kunst suggeriert, kommt ihre Linie nach der des
menschlichen Körpers und der des Schattens an dritter Stelle. Aber dass drei-
Seitenflächen einer Pyramide, deren Basis durch die auf der Objektseite gesehene
(Ober-)Fläche gebildet wird, während ihre Spitze im Auge liegt. An dieser Spitze,
also einem Punkt, residiert der Sehsinn. Ihm wird jene Menge von Linien – der
Mantel der „Sehpyramide“ – als dichte Perlschnur erscheinen, welche die gese-
hene Fläche eingrenzt. Daher stammt wohl Albertis – Euklid zuwiderlaufende –
Auffassung, die Linie sei die Verschmelzung von Punkten einer Kette. Möglicher-
weise ist dieser ‚Pointillismus‘ ein Erbstück arabischer Wissenschaft, speziell der
Optik Alhazens (ca. 965-ca. 1040), in der sich die sichtbare Welt in ein Mosaik
aus farbigen Punkten verwandelt hatte. Während Alhazen freilich so weit gegan-
gen war, die Sehstrahlen zu verabschieden, um lediglich von der Voraussetzung
eines sich geradlinig ausbreitenden Lichtes auszugehen, vermochten sich nach-
folgende europäische Theoretiker, Alberti mit eingeschlossen, nicht von der
Vorstellung zu lösen, das Auge müsse mit den gesehenen Oberflächen trotz des
Abstandes doch irgendwie in Kontakt stehen.9
Für die Wahrnehmung der farbigen Umrissfüllung sind bei Alberti dichte
Bündel von Sehstrahlen zuständig, die man sich cum grano salis als Bündel
geradliniger Lichtleiter vorstellen darf, von denen jeder einzelne lediglich einen
farbigen Punkt der gesehenen Oberfläche aufzunehmen vermag. Diese Sehstrah-
lenbündel füllen sozusagen die Volumina einzelner Sehpyramiden aus, die sich
wiederum zu einer umfassenden Sehpyramide fügen, welche es ermöglicht, ein
Ensemble lichtreflektierender Oberflächen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen.
Durch eine solche integrale Sehpyramide lassen sich nun aber beliebig viele
Querschnitte legen, deren farbige Muster einander geometrisch ähnlich sind und
die, wenn man sie dingfest machen könnte, geeignet wären, an die Stelle des
primären Wahrnehmungsobjekts zu treten, ohne dass man es merkte. Und genau
das besagt Albertis Definition des Gemäldes: dass es sozusagen einen Schnitt
quer durch eine (denkbare) Sehpyramide legt; dieser Querschnitt nimmt als mit
Farben bedeckte Tafel zwar greifbare Form an, wird deshalb aber nicht selber
zum Wahrnehmungsobjekt, sondern, modern ausgedrückt, zu einem Bildvehi-
kel, das den Blick auf eine räumlich dahinter liegende imaginäre Szene (einen
Bildinhalt mit Bildobjekten) freigibt. Die betreffende Bilderfahrung hat Alberti
bekanntermaßen mit dem Blick durch ein geöffnetes Fenster oder in die imagi-
näre Tiefe hinter einer reflektierenden Oberfläche verglichen.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, die Bedeutung dessen, was bei Alberti
circumscriptio bzw. circonscrizione heißt, genauer anzugeben und zu älteren Kon-
zepten in Beziehung zu setzen. Umrisse können Alberti zufolge unter anderem
9 Zur Theorie Alhazens und ihrer bildgeschichtlichen Bedeutung vgl. z. B. Summers 2003,
S. 508–511; Belting 2008.
dadurch gewonnen werden, dass der Maler die Ränder von Objektoberflächen
so nachzieht, wie sie ihm auf einem planen und gerasterten, dabei aber durch-
sichtigen Stoffstück erscheinen, das er zwischen sich und der Szene aufgespannt
hat und von einem bestimmten Punkt aus in den Blick nimmt. Dieses technische
Hilfsmittel – Albertis velum, dessen Funktionsweise später auch von Albrecht
Dürer* erläutert werden sollte – tritt dann die Nachfolge jener Mauer an, auf der
die Butades-Tochter den Schlagschatten ihres Geliebten umrandet hatte. Um
eine ganze Szene darstellen zu können, müssen viele Umrisse gezeichnet und
zusammengesetzt („komponiert“) werden. So gesehen, steht die Umschreibung
bei Alberti am Anfang der Bildkomposition, und da sie auch der Farbgebung vor-
ausgeht, ist sie weiterhin der primäre Akt der Malerei. Doch hängt der Verlauf des
Umrisses jetzt nicht etwa (wie beim Schattenriss) von der Lichtquelle ab, sondern
von der Spitze der Sehpyramide, dem Sitz des Sehsinns. In der von Alberti erläu-
terten Perspektivkonstruktion entspricht diesem Punkt der Augpunkt; ihm kor-
reliert im perspektivischen Gemälde wiederum jener Fluchtpunkt, auf den die in
die Tiefe fliehenden Linien zielen (diese bilden zur Schnittebene des Gemäldes
einen rechten Winkel). Gilles Deleuze und Félix Guattari haben deshalb davon
gesprochen, dass die Linie im perspektivischen Bild von einem Punkt eingefan-
gen werde (wie von einem schwarzen Loch) (vgl. Deleuze/Guattari 1992, S. 407).
Auch der Zusammenhang zwischen Umrissbildung und Ortsbestimmung,
der schon bei Aristoteles angeklungen und dann im Mittelalter so wichtig gewor-
den war, bleibt in De pictura zwar erhalten, gewinnt aber insofern einen neuen
Sinn, als der Ort des Objekts (einer gesehenen Oberfläche) jetzt vom Blickpunkt
eines Betrachterauges abhängt und auf eine durch die Sehpyramide gelegte
Schnittebene bezogen wird. Darüber hinaus nimmt in Albertis Traktat eine ganz
andere Methode der Ortsbestimmung Gestalt an. Diese Methode beruht auf dem
Prinzip einer Rasterung von Flächen: Sie ermöglicht es, sowohl den Umfang ein-
zelner zu malender Flächenstücke als auch ihre jeweilige Lage anzugeben. Mit
der Rasterung – einer letztlich auf dem Ziehen von Linien oder Spannen von
Fäden beruhenden Praxis – ist der Ort nicht mehr die Hülle eines Dings, sondern
eine Stelle in einem geordneten System von Stellen. Die Bestimmung eines Ortes
erfolgt dementsprechend nicht durch Einkreisen, sondern mittels der Angabe
von Koordinaten.
Das Raster diente allerdings nicht nur der Aufzeichnung von Figuren und ihrer
Übertragung von einem Bildträger auf einen anderen, es konnte darüber hinaus
auch als Instrument zur Vergrößerung, Verkleinerung und anamorphotischen
10 Vgl. z. B. Bach 2009; Bambach 1999; Latour 1990, S. 19–86; Schäffner 2003; Siegert 2015.
Gestalt eines Gebäudes festlegt, und diese Gestalt definiert der Kunsttheoretiker
als ein – allerdings nicht-diskursives – Allgemeines: Eine bestimmte Anordnung
von Strecken und Winkeln determiniert eine Form, die in mehreren, ja beliebig
vielen Gebäuden realisiert werden kann. Und wenn Alberti an der betreffenden
Stelle auch nicht hervorhebt, dass solche Formen nur mit Hilfe von Rissen, also
konkreten Linienpraktiken, festgelegt und vorgeschrieben werden können, so
lässt der von ihm zur Bezeichnung der Gestalten gewählte Terminus – linea-
menta – dennoch einen Zusammenhang mit dem Ziehen von Linien erkennen
oder wenigstens erahnen.
Dieser am theoretischen Vorrang des Allgemeinen vor dem Partikularen ori-
entierte Ansatz sollte im 16. Jahrhundert im Rahmen der sogenannten Disegno-
Theorie weiter verfolgt werden. 1568, wenige Jahre nach der Gründung der Flo-
rentiner Kunstakademie, wird Giorgio Vasari* (S. 333–334) in einer zentralen
theoretischen Passage seiner berühmten Künstlerviten nachdrücklich darauf
hinweisen, dass sich Maler, Bildhauer und Architekten alle der Zeichnung bedie-
nen und sich ihre Tätigkeit insofern von handwerklichen unterscheidet. Auch
er spricht in diesem Zusammenhang von ‚Lineamenten‘, meint damit aber wohl
nicht mehr geometrisch definierbare Gestalten, sondern Linienzeichnungen. Zur
Benennung der wesentlichen Tätigkeit von Malern, Bildhauern und Architekten
verwendet er das Wort disegno, das ähnlich wie der von Villard de Honnecourt*
gut dreihundert Jahre zuvor gebrauchte Ausdruck portraiture nicht nur ‚Zeich-
nung‘, sondern auch ‚Plan‘ oder ‚Absicht‘ bedeuten kann. Auf etwas Allgemeines
ist diese Tätigkeit insofern bezogen, als der Künstler, bevor er eine gute Zeich-
nung anfertigen kann, laut Vasari dahin gelangt sein muss, im Geist jene Pro-
portionen zu erfassen, die den Wesen einer bestimmten Art gemeinsam sind. Wie
schon bei Albertis lineamenta handelt es sich um ein nicht-diskursives Allgemei-
nes, das zwar mit dem aristotelischen Formbegriff vergleichbar, aber nicht mit
ihm gleichzusetzen ist.
Was man sich unter einem im Geist des Künstlers existierenden disegno vor-
stellen soll und ob es in diesem Geist vielleicht auch so etwas wie Linien geben
könnte, bleibt indessen völlig ungeklärt. Federico Zuccari und zuvor schon Ben-
venuto Cellini unterscheiden zwischen einem ersten bzw. inneren und einem
zweiten bzw. äußeren disegno; die Linie wird unter letzteren subsumiert, d. h.
in der entscheidenden Doppelnatur der Zeichnung, ihrer schwer zu fassenden
Verbindung von intellektueller oder konzeptueller und sinnlicher, material-
handwerklicher Dimension, ist die Linie, wenn sie denn überhaupt bedacht wird,
der Idee oder dem concetto nachgeordnet. Den gehobenen, bis zur Divinisierung
reichenden Status, den man in der Renaissance dem disegno zuschreibt, hat sie
in diesem Diskurs nie, obwohl die Entwurfsverfahren der Renaissance ihre Effek-
beruht Testelin zufolge darauf, dass sich mit seiner Hilfe (und nur mit ihr) alle
sichtbaren oder vorstellbaren, ja überhaupt alle figurierbaren Dinge darstellen
lassen. Der kunsttheoretische Vorrang der Zeichnung basiert in dieser von Vasari
und Zuccari radikal abweichenden, unorthodox anmutenden Theorie also nicht
etwa auf einem geistigen Prinzip; vielmehr wird er auf die universale Darstel-
lungsmacht von Linienzügen zurückgeführt.
Die bei Testelin vorausgesetzte Ontologie – die sichtbare Welt scheint für ihn
ausschließlich aus geometrisch definierbaren und daher mit Hilfe von Linien dar-
stellbaren Festkörpern zu bestehen – ist deutlich von der Praxis des Steinschnitts
geprägt. Doch gebrauchte er das Wort trait auch im Hinblick auf die an der Kunst-
akademie hoch geschätzte Darstellung von Gemütsbewegungen. Le Brun hatte
diese mit Hilfe einfacher Linienzeichnungen erläutert, die, bewegte Gesichts-
züge (traits) darstellend, selber als traits bezeichnet wurden (vgl. dazu auch Leo-
nardo da Vinci*, S. 331). Den im Wort trait steckenden Bewegungszug hat Testelin
allerdings nicht theoretisiert. Überhaupt dürfte gelten: Erst das 18. Jahrhundert
begreift die Linie vor allem als – reale oder virtuelle – Bewegungsspur (selbst
Leonardo hatte diese eigentlich nicht theoretisiert) und reflektiert die Ausdrucks-
qualität von durch Linien indizierten Richtungen. Das führt dazu, dass auch
Bewegungen, die zu keinen dauerhaften Einschreibungen führen, unter dem
Gesichtspunkt der Linie betrachtet werden, und Aspekte zur Sprache kommen,
die von der Art, wie Linien Bildobjekte hervorbringen oder Referenzobjekte geo-
metrisch definieren, prinzipiell unabhängig sind.
13 „Circonscrivere significa propriamente nella nostra lingua, quello, che egli significa nella
latina, dalla quale è tratto, ciò è circondare, serrare e chiudere.“ Varchi [1547] 1979, S. 1331 (deut-
sche Übersetzung von WP). – Zum historisch viel weiter zurückreichenden Zusammenhang von
Kontur und Einfassung vgl. Summers 2003, S. 260–263.
14 Zu seiner Introduction à la méthode de Léonard de Vinci von 1895 vgl. z. B. Mainberger 2017b.
Wie kein anderer Theoretiker von Kunst oder Schönheit hat sich William Hogarth*
um die Linie bemüht und möglichen Zusammenhängen von Linie und Bewegung
nachgespürt. Seine Überlegungen stehen im Kontext zeittypischer wahrneh-
mungstheoretischer Interessen und erzieherischer Ansprüche. Sie gelten nicht
allein der bildenden Kunst, sondern einem in Künsten wie Natur auszumachen-
den Prinzip von Schönheit, das er in der wellen- und schlangenförmigen Linie
auf eine visuelle Formel zu bringen sucht. Der Tanz fungiert als Vorbild und
liefert eine Ursprungslegende, für den Kupferstecher aber bleibt das wichtigste
Paradigma die graphische Linie. Hogarth ist vermutlich der erste Theoretiker, der
ihre Relevanz auch für das Nachdenken über die Konturen von realen Körpern im
Raum erkannt und artikuliert hat. Der dauernde Gebrauch von Linien bei Mathe-
matikern und Malern habe dazu geführt, dass jene für etwas Reales gehalten
würden. Den Eindruck bewegter Körper denkt er in Analogie zur Hervorbringung
16 Winckelmann hat das Wort einem von Cicero überlieferten theologischen Satz Epikurs ent-
nommen und auf den Ursprung der Malerei bezogen, wovon in jenem Satz gar nicht die Rede
gewesen war; im Anschluss an Winckelmann wird es wenig später auch Herder gebrauchen und
mit ‚Einstrich‘ übersetzen. Vgl. Kurbjuhn 2014, S. 359.
hältnis des 18. Jahrhunderts zur Antike. Der Begriff des Monogramms spielt (mit
Rekurs auf Winckelmann?) noch an anderer Stelle eine herausragende Rolle, und
dieser Sachverhalt zeigt, dass und inwiefern Zeichnung nun als Linie verstan-
den wird: Kant zieht den Begriff im berühmten Schematismuskapitel der Kritik
der reinen Vernunft heran, um zu erläutern, wie empirische Begriffe auf Gegen-
stände der Wahrnehmung bezogen werden. Als Monogramm deutet er darüber
hinaus den kunsttheoretischen Begriff des Ideals im Unterschied zum Ideal der
Vernunft; es scheint, als suche er die Disegno-Theorie bzw. die aus ihr hervorge-
gangene akademische Konzeption der Zeichnung und des Ideals nun konsequent
auf linientheoretischer Basis auszulegen. Die Idealvorstellungen von Malern und
Physiognomen seien (gemäß dem Wortsinn von ‚mono-gramm‘) „einzelne […]
Züge“, die allerdings nur durch die Einbildungskraft gezeichnet werden. Diese
Züge machten „mehr eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwe-
bende Zeichnung, als ein bestimmtes Bild aus […]“ (KrV B 598, A 570);17 das heißt,
Kant stellt sich darunter offenbar etwas wie einen Mittelwert verschiedener visu-
eller Erfahrungen vor. Diese inneren Zeichnungen kommen freilich, da sie weder
nach einer angebbaren Regel ermittelt noch für mitteilbar gehalten werden, in
Differenz zum Ideal der Vernunft nicht als eine erklär- und belastbare Regel
in Frage, weshalb sie auch nur im uneigentlichen Sinn als ‚Ideale‘ bezeichnet
werden könnten.
Für Winckelmann* ist die Linie nicht nur am Anfang der Kunst, sondern auch
in deren Vollendung im alten Griechenland zu finden. Aus dem Umstand, dass
er diese Vollendung an Skulpturen und nicht etwa an Vasenmalerei oder Archi-
tektur beobachtet, ergibt sich hier eine Verschiebung linientheoretischer Bezugs-
größen: Linien sind nicht ausschließlich, ja nicht einmal primär graphische,
sondern Konturen von Skulpturen (und von lebendigen Körpern). Vor allem zwei
Funktionen von Linien, die tendenziell auch miteinander konkurrieren, nimmt
Winckelmann in den Blick: die des Umrisses und die der Binnenartikulation.
Der Umriss garantiert die Einheit und auf einer vermittelten Ebene die Idealität
der Schönheit, die Binnenartikulation die Mannigfaltigkeit, d. h. die lebendige
Beweglichkeit und sinnliche Detaillierung. Konkret ist an eine Figur als ganze
(und insbesondere an die isolierte Einzelfigur) und an Details wie Muskel-, Haut-,
Draperiedarstellung zu denken. Den Umriss im Sinn der Einfassung versteht Win-
ckelmann auch als eine begriffsanaloge Struktur: Sie synthetisiert verschiedene
Aspekte von Schönheit. Seine kunstvollen Beschreibungen von Skulpturen, d. h.
vor allem von nackten menschlichen Körpern, bemühen immer wieder Verglei-
17 Vgl. Kaulbach 1968, S. 296. Da Kaulbach allein an den üblichen Sinn von ‚Monogramm‘ dach-
te, musste er sich an Kants Sprachgebrauch stoßen.
che mit Wellen und gelegentlich mit Hügeln. Diese Vergleiche sind auch diesseits
der ethisch-ästhetischen Bedeutungen, die sie in seiner Kunstauffassung haben,
plausibel, denn sie verbalisieren, was der Betrachter an einem reich geglieder-
ten menschlichen Körper tatsächlich sieht: Wenn der Blick den einzelnen und
oft einander überschneidenden Formen folgt, gehen Binnenumrisse in Flächen
über, und Flächen verkürzen sich zu Binnenumrissen oder Linien. Das promi-
nenteste der von Winckelmann benützten Similes – eine bewegte Wasserober-
fläche – akzentuiert das Bewegungspotential dieser Formverläufe, zugleich aber
auch dessen Limitierung. Bei allen offenkundigen Differenzen zu Hogarth erhebt
er wie dieser die moderat geschwungene Linie zur ästhetischen Norm.
Auf beider Grundsätzen beruhen Johann Caspar Lavaters* physiognomisches
Sehen und Interpretieren von Linien des Gesichts und der Handschrift. Sein Para-
digma sind v. a. Profile und, auch medienhistorisch bedingt, der Schattenriss. In
seinen spekulativen Deutungen haben klassizistische Ideale ebenso unumstöß-
lich Geltung, wie die graphische Linie unbefragt als universelles Medium der
Erkenntnisgewinnung fungiert. Bildende Kunst ist hier nur Mittel zum Zweck, die
theologisch überhöhte Linienästhetik wirkt aber gleichwohl als Schule des Auges
und als solche auch wieder auf bildende Kunst zurück.
Für William Blake* steht die Linie dagegen nicht nur am Ursprung der bil-
denden Kunst, sondern auch an dem der Dinge: In der Wirklichkeit wie in der
Kunst erlaubt die bounding line Dinge überhaupt voneinander zu unterscheiden.
Darin liegt die Originalität von Blakes Umriss-Emphase: Er markiert nicht das
Moment des Umschreibens oder Einfassens, sondern dasjenige des Unterschei-
dens und Abgrenzens. Dabei ist ihm auch die Assoziation mit der primordialen
Geste des Schöpfergottes willkommen: Die Welt wird aus dem Chaos mit Hilfe von
Unterscheidungen vornehmenden Linien geboren. Da Linien im Hinblick auf ihre
Krümmungen unendlich variabel sind, erlauben sie die Unterscheidung auch
von Individuen, gleichgültig, ob sie als Gesichtszüge oder, wie bei Apelles und
Protogenes, als gemalte Linien angetroffen werden.
Die Zeit um 1800 kultiviert die Linie auf vielerlei Art: als Silhouette, die
körperlos und reduziert, aber qua Indexikalität eine vera ikon ist, als ideale
Umgrenzung, als abstrakte und damit der Imagination Spielraum gewährende
Andeutung, als Umriss, der distinkte Erscheinungen und derart Welt allererst
hervorbringt, als schriftnahen, bildende und verbale Künste verbindenden
Graphismus, als von mimetischen Anforderungen entlastete und zur Phantasie
legitimierte Arabesken u. a.m. Letztere stammen von einem islamischen Orna-
menttyp ab, genauer: von der Pflanzenranke in der Tradition des assyrischen
Rankenornaments, und verbinden sich in Europa mit arabischen Schriftzeichen.
Eine weitere Quelle, aus der sie sich speisen, ist die Tradition der Schreibmeis-
terschnörkel; diese sind ursprünglich der kalligraphische Unterschwung eines
18 Vgl. W. Busch 2013, S. 13–15; Oesterle 2013, S. 29–36; zu Dürer vgl. Bach 1996, bes. S. 165–184,
und Bach 2001. Zur Arabeske vgl. auch Oesterle 1999 und Oesterle 2000.
19 Daher, aber auch wegen der großen Bekanntheit des Themas in der deutschsprachigen Kunst-
und Literaturwissenschaft sind deutsche Texte in der Quellenauswahl hier nicht vertreten.
nicht als eine Form unter anderen, sondern als die Formen generierende Kraft
schlechthin gelten.
Auf die Umrissemphase der Zeit um 1800 folgt im 19. Jahrhundert vielfach eine
Relativierung der Bedeutung des Umrisses, die jedoch nicht unbedingt mit einer
Abwertung der Linie tout court einhergeht. Eugène Delacroix’* Überlegungen
(S. 369 und 371) sind in diesem Kontext schon deshalb relevant, weil er den
üblicherweise angenommenen Vorrang von Linien bei der Hervorbringung von
Bildobjekten explizit in Frage stellt. Er behauptet einen grundlegenden Unter-
schied zwischen der Plastik der Antike und der Skulptur der Renaissance. Von
den Bildhauern der griechischen Klassik nimmt er an, sie seien gerade nicht
von Konturen ausgegangen, sondern hätten die Körper zunächst aus eiförmigen
Massen aufgebaut. Die Kontur fungiert damit – im Gegensatz zur Erzählung von
der Butades-Tochter – nicht als Anfang eines Bildes, sondern steht am Ende eines
Formungsprozesses; die Figur geht gleichsam in einem Wachstumsvorgang aus
ovalen Formembryonen hervor. Delacroix bestreitet also die traditionelle Geltung
der Umrisslinie als primordialer bildnerischer Artikulation, gleichwohl gilt sie,
umgewertet zur Resultante, als wichtiges, ja unentbehrliches Element; sie ist für
ihn auch in der Malerei, und zumal seiner eigenen, nicht der erste, sondern der
letzte Teil der Kunst. Die von der Darstellung entlastete Linie wiederum lässt sich
als Arabeske betrachten und genießen. Mit diesem Ansatz bleibt er nicht allein:
Baudelaire, Signac, Denis, Matisse werden sich – ob immer im Sinne Delacroix’
sei hier nicht diskutiert – auf die arabeske Linie berufen. Während diese in der
deutschen Kunst vornehmlich in der Graphik zu Hause ist und dementsprechend
v. a. die traditionelle Relation von Rand und Mitte, Werk und Beiwerk verändert,
fungiert sie bei Delacroix und den französischen Künstlern in seinem Gefolge
als intrinsisches Moment der Malerei (vgl. Dittmann 1984). Dabei kann es zu
merkwürdigen Inversionen kommen, etwa wenn Baudelaire an einer berühmten
Stelle, auf die Praxis des Scherenschnitts anspielend, schreibt, eine „gut gezeich-
nete Gestalt“ verdanke „ihren Zauber nur der Arabeske, die sie aus dem Raum
herausschneidet“ (Baudelaire 1992a, S. 255–256)20: Statt dass die Linie eine Figur
20 Die hier zitierte Passage aus Baudelaires „Eugène Delacroix’ Fresken in Saint-Sulpice“ von
1861 wird wieder aufgenommen im Essay „Eugène Delacroix. Werk und Leben“ (Baudelaire
1992b, S. 280–281).
produzierte, ist es hier umgekehrt so, dass die Figur eine Linie hervorbringt, in
der sie sich künstlerisch allererst realisiert.
Die Abwertung des Umrisses bei gleichzeitiger Aufwertung anderer Arten
von Linien findet sich am deutlichsten bei John Ruskin.* Die Abwertung hat hier
zunächst wahrnehmungstheoretische Gründe: Das primär Gesehene sind Farb-
flächen, keine Linien. Daraus zieht Ruskin Konsequenzen auch für den Zeichen-
unterricht. Gleichzeitig hält er auf ganz neuartige Weise Ausschau nach Linien
in Natur, Kunst und Architektur: An Linien lasse sich Geschichte ablesen, und
alles – ob Artefakt oder Naturding – versteht der Viktorianer geschichtlich. Seine
Paradigmen sind Profile im Bauschmuck, aber auch Kerben, Rillen oder Rinnen,
also Phänomene, die mit der graphischen Linie durchaus verwandt sind. Er stu-
diert Stämme, Äste, Zweige, Blattrippen, Steine und nicht zuletzt Gebirgszüge.
Die hier zu sehenden Linien sind jeweils Resultate, die aus Bewegungen hervor-
gegangen sind: aus Prozessen des Wachstums, des Zerfalls, der Erosion, in jedem
Fall der Wirkung von Kräften, die sich in Bahnen vollzieht, solchen folgend oder
solche hervorbringend. Umrisse sind derart Epiphänomene von Kraftereignissen,
bei einem Baum z. B. von radial verlaufenden Kräften. Im Fokus stehen oft nicht
die Konturen, sondern die für den jeweiligen Gegenstand entscheidenden, seine
Vergangenheit und seine Zukunft bestimmenden Linien. Ruskin hat dafür Voka-
beln wie guiding, leading, governing, awful oder gar fateful lines. Paradigmatische
Bildobjekte sind bei ihm nicht mehr der Mensch, sein Körper, sein Gesicht, seine
Posen, sondern Baum und Berg. Deren Formen gehen aus im Inneren wirkenden
und von außen gegenwirkenden Kräften hervor, aus Konflikten enormer Mächtig-
keit. Jeder Gegenstand, nicht nur der von Menschen gemachte, wird konsequent
temporalisiert und energetisch gedacht. Man steht damit gewissermaßen am
Gegenpol zur Kunstliteratur der Antike und zu Aristoteles*, der die Formen der
Lebewesen vom Umriss her denkt und dabei auf die Praxis der Maler verweist: Bei
Ruskin sind die Linien nicht mehr außen, sondern innen. Und sie geben nicht die
Form vor, sondern sind die Manifestationen von ungeheuren Kräften, Zeit und
Geschichte.
An der Wende zum 20. Jahrhundert hat die Linie erneut Hochkonjunktur, und
dies nicht nur in der Zeichenlehre des wirkungsmächtigen an Ruskin anschlie-
ßenden Walter Crane (vgl. Crane 1900). Die als Referenzen der Theoretisierung
dienenden Paradigmen und die Praktiken sind indes andere als die von Neo-
klassizismus und Romantik, aber auch als die in früheren Arten von Linienden-
ken: Denn, pointiert gesagt, stehen im Mittelpunkt des neuen Interesses an der
Linie nun nicht länger Bild erzeugende und rezipierende Verfahren. Um 1900
geht es vielmehr um Gestaltung oder Design aller möglichen Gegenstände, sei
es Treppengeländer, Schreibtisch, Kleid, Schiffsrumpf, Fassade, Typographie
oder anderes. Ornamentale Gestalten auf der Fläche – man denke nicht nur an
Papier, sondern auch an steinerne und textile Bildvehikel – sind dabei nur einer
der hier relevanten Bereiche, und freilich kein unwichtiger, insofern sich eine von
Künstlern propagierte ‚neue‘ Linie ihre Modelle leichter auf diesem Sektor schafft
als etwa in der Architektur. Gleichwohl gilt: Die theoretischen Überlegungen zu
Linien beziehen sich weniger auf Bilder im Sinn der (autonomen) Flächenkünste
als auf Erscheinung und Formung von Artefakten aller Art und von Architektur;
mit letzterer sind in diesem Zusammenhang v. a. Innen- und Ingenieursarchitek-
tur gemeint. Die Linie als visuelle und zugleich emblematische Konzentration
von Gestalt, Form, Stil wird transmaterial und transdisziplinär verstanden. Daher
geht es beim Nachdenken über sie in dieser Zeit eigentlich nie um Eigenschaften
wie die Strichqualität einer gezogenen Linie, um die Faktur, sondern immer nur
um den Verlauf oder die Führung einer Linie; das heißt, fokussiert werden die-
jenigen Aspekte an ihr, die (auch) in der allographen Ausführung, z. B. in der
Druckgraphik oder im Teppich, erhalten bleiben oder die in der Dreidimensio-
nalität relevant sind, sei es als Biegung eines Stuhlbeins oder hydrodynamische
Form eines Unterseeboots. Entscheidend für die Theoretisierung ist der Konnex
von Linie und Kraft bzw. Energie. Damit sind jetzt indes nicht (interne) Kräfte
des Wachstums gemeint, sondern physikalische. Als Linienparadigmen wirken
weder die menschliche Gestalt (schon gar nicht das Gesicht) noch der Baum
als Erzeugnis organischen Wachsens noch der Gebirgszug. Vielmehr geben nun
die Eisenkonstruktionen mit ihren Verstrebungen und Bögen die Orientierung:
Sie machen das Aufeinanderwirken von vektoriellen Kräften sichtbar. Und das
Subjekt der zeitgenössischen Einfühlungsästhetik fühlt sich gerade nicht in
Lebendiges ein, sondern projiziert seine Erfahrungen mit Spannung, Dehnung,
Schwere etc. auf abstrakte geometrische Formen.
Die vielfältigen Überlegungen zu Linien um 1900 partizipieren am Diskurs
der neuen Wissenschaft Psychologie und an der zeitgenössischen Kulturkritik.
Linien sind die elementaren visuellen Erscheinungen, die sich Physiologie und
Psychologie zu Studien des Sehens und der ästhetischen Empfindung vorneh-
men; systematisch tut dies Theodor Lipps*: Sie sind das elementare Untersu-
chungs- und Demonstrationsobjekt der Wahrnehmungsvorgänge. Als Ansätze,
die auf nuancierte Weise der sinnlich-affektiven Erfahrung Rechnung zu tragen
suchen, verbinden sich einfühlungsästhetische Überlegungen in dieser Zeit mit
Studien zur Architektur: Der junge Heinrich Wölfflin* befasst sich auf dieser
Grundlage mit den Stimmungswerten in der Baukunst, und der Lipps-Schüler
August Endell* versucht die rezeptionsorientierte Einfühlungstheorie für die Pro-
21 Dazu sowie zur Ausdrucksqualität der Richtung einer Linie vgl. Rosenberg 2007, S. 19–32.
Letztere bedenken neben William Robson v. a. (der hier nicht mit Quellentexten vertretene) Hum-
eine Radikalisierung, als nun in Theorie und künstlerischer Praxis nach Linien
gesucht wird, die geeignet sind, die Entstehung von Bildinhalten (Bildobjekten
und Bildräumen) systematisch zu unterbinden. Bei Piet Mondrian* geschieht
dies unter anderem dadurch, dass sämtliche Linien zu Geraden gespannt und auf
den Gegensatz von Horizontaler und Vertikaler getrimmt werden. Das Ergebnis
mag an die Rasterungen der Renaissance erinnern, ist aber schon deshalb etwas
Anderes, weil die Einbindung in Prozesse der Reproduktion und Skalierung
fehlt.22 Mondrians Bildform gehört in den Zusammenhang eines vom Neoimpres-
sionismus begründeten Programms der Entmischung von Bildelementen: Linien
wie Farben werden getrennt, um als untereinander und in sich selber gegensätz-
liche Elemente klar herausgestellt und ins Gleichgewicht gebracht zu werden.
Der Maler selbst hat diese Entgegensetzungen als radikale Alternative zum Para-
digma des Umrisses verstanden. Er wollte ganz explizit mit Linien arbeiten, die
nichts abgrenzen oder einschließen, auch keine geometrischen Figuren. Folgt
man Michael Frieds* formalistischer Deutung, dann hat das später – freilich auf
ganz anderem Wege – auch Jackson Pollock getan. Statt die Linien zu spannen,
erzeugte er eine Art Geflecht oder Gewebe, in dem zahllose Differenzen von Figur
und Grund einander wechselseitig auslöschen. Weder sollte die Linie etwas figu-
rieren noch auch selber als isolierbare Figur in Erscheinung treten. Zu Bestrebun-
gen dieser Art kann auch das Werk Gertrud Goldschmidts* in Beziehung gesetzt
werden, wenn sie in den 1960er Jahren Liniengefüge realisiert, deren Elemente
nichts mehr begrenzen, es sei denn ein Nichts, das sich nun in Form eines akti-
vierten Zwischenraums oder Weißgrundes meldet.
Doch wäre es falsch, die Geschichte der Linie in der modernen Kunst aus-
schließlich als Autonomisierungsvorgang zu beschreiben, bei dem es einzig und
allein darum gegangen wäre, die Linie konsequent von der Aufgabe der Hervor-
bringung von Bildobjekten, ja von Figuren überhaupt, zu entbinden. Wenn Fried
von Pollocks Linie sagt, sie sei auf einen von Energie durchzogenen Raum hin
transparent, spricht er ein anderes Moment an, das zuvor schon von Leo Steinberg
beschrieben worden war. Nicht selten wurde der Umriss aufgegeben, um Kräfte
bert de Superville und im Anschluss daran Charles Blanc, Charles Henry, Seurat und mit Bezug
auf diesen van de Velde. Vgl. Stafford 1979; M. Zimmermann 1991; Mainberger 2010, S. 91–96. Zu
Blanc vgl. z. B. auch M. Wagner 2002, S. 195–200.
22 Rosalind Krauss hat die nicht nur bei Mondrian, sondern überhaupt in der ästhetischen
Moderne mehrfach wiederkehrende rasterförmige Bildstruktur in Anlehnung an Claude Lévi-
Straussʼ strukturalistische Mythenanalysen als eine Art Symptom gedeutet, das aufgrund der
ihm innewohnenden Ambivalenzen (der Raster als offene oder geschlossene, zentrifugale oder
zentripetale Bildform …) einen im 20. Jahrhundert ungelösten Widerspruch von Materialismus
und Spiritualismus zugleich verschleiert und ausplaudert. Vgl. Krauss 1996a.
zeichnen oder malen zu können: statt solider Substanzen und Körper Materie-
wellen, statt tast- und sichtbarer Dinge eine Welt aus Trajekten und Vektoren (vgl.
Steinberg 1972, S. 256–257, S. 305). Diese Beobachtungen betreffen einen längeren
Prozess und betonen eine allgemeine Tendenz, die sich an verschiedenen Schau-
plätzen beobachten lässt. David Summers spricht davon, dass das Universum der
Formen zu einem der Kräfte geworden sei (vgl. Summers 2003, S. 551). Mit Blick
auf die Geschichte der Linientheorie im Bereich der Kunstliteratur lassen sich in
diesem Prozess jedoch Diskontinuitäten ausmachen. Formen, allem voran die
von Umrisslinien gebildeten, verlieren mitnichten ihre Funktion, sie werden aber
anders aufgefasst und in der Praxis anders hervorgebracht: Sie emergieren aus
Farbflächen oder hellen und dunklen Massen, aus Übereinanderschichtungen
von dynamischen Elementen wie Delacroixʼ Ovalen, aus Kräftekonflikten und
langsamen, trassierenden Vorgängen, in die sich bei Ruskin der Zeichner ver-
senkt. Die als ‚neu‘ gefeierten Linien um die Jahrhundertwende sind meist keine
umziehenden, sondern energiegeladene Bahnen, Kurven und Biegungen wie
aus straffem, aber elastischem Material, weit gespannte Bogen, in deren Krüm-
mung sich Kräfte austarieren, u. ä. Die Bedeutung von Kräften intensiviert sich
seit der Romantik und ihren Wachstumsparadigmen, sie verändert sich in der
nachromantischen Zeit zu dramatischeren, weit über das Organische hinausge-
henden Auffassungen physikalischer Kräftebeziehungen und zur Idee von einer
alles dynamisierenden Energie. Diese Vorstellungen regieren als Metaphern so
ziemlich alle Diskurse des langen 19. Jahrhunderts, die Literatur, Gesellschafts-
analyse, Psychologie, Kulturgeschichte, Kunst- und eben auch die Linientheorie,
und sie dominieren auch dann noch, wenn der Kraftbegriff als wissenschaftlich
obsolet gilt und Gegenstand philosophischen Spotts ist.
Die Linienkonzepte um 1920, am Bauhaus und bei den russischen Avant-
gardisten, beerben dieses Denken – z. B. die Vorstellung, dass der Umriss nur
ein Epiphänomen von Bewegungen, Kräften oder Rhythmen sei –, aber zugleich
modifizieren sie es auf kreative Weise und nehmen Weichenstellungen vor, die
noch in der Gegenwartskunst relevant sind.
Eine der entscheidenden Positionen in dieser Zeit, aber nicht nur für sie, ist
die von Paul Klee*. Er hat die Linie wieder zu dem Prinzip der bildenden Kunst
erhoben und so facettenreich darüber nachgedacht wie kaum ein anderer. Die in
seinen Darlegungen entscheidende Linie ist aber eben nicht der Umriss, sondern
die Bewegungspur oder der Vektor. Der Punkt ist bestenfalls ein initium; er muss
sich in Bewegung setzen, d. h. zur Linie werden, damit die Kunst auf den Weg
kommen kann; erst der sich bewegende Punkt oder die Linie ist ein principium.
Die Kunst selbst aber bleibt eine werdende, für die gilt: Der Weg ist das Ziel.
Den Umriss deutet Klee als eine Art schwach gewordenen Vektor, eine erkaltete,
passiv gewordene Energie. Hinter dieses im Resultat Erstarrte, diese Art Form-
Ende, gilt es zurückzugehen zu den die Form erzeugenden, sich in ihr aber nicht
erschöpfenden Kräften. Er sucht die Linie diesseits der Umschreibung. Sein bis
heute immer wieder, auch außerhalb der Kunsttheorie, zitiertes Paradigma ist der
als Linie visualisierte Spaziergang.
Im revolutionären Russland treten bei den gleichen kraft- und energietheo-
retischen Voraussetzungen unterschiedliche Positionen einander gegenüber: So
denkt Wassily Kandinsky* darüber nach, wie Punkt und Linie von Elementen der
Geometrie zu solchen der graphischen Kunst werden. Der Weg dorthin ist für ihn
einer der Entbindung von äußeren Zwecken; bei der Linie bedeutet das auch und
insbesondere die Emanzipation von der Aufgabe, Bildobjekte hervorzubringen,
wie auch von der Herrschaft des Lineals, des Zirkels und des Kurvenlineals. Eine
derart befreite Linie kann alles Mögliche werden und sein, allem voran ist sie
keine geometrische Linie mehr. Der in jeder Hinsicht variablen und ausdrucksfä-
higen werden – man fühlt sich an die Divinisierung des disegno erinnert – Leis-
tungen zugetraut, die sich nur noch in Paradoxien formulieren lassen. Diese
befreite und freihändig gezogene Linie gilt ihrem Urheber als Überbietung des
zeitgleichen Konstruktivismus, namentlich des von Alexander M. Rodtschenko*
vertretenen. Dieser Antipode Kandinskys sucht die Kunst auf der Fläche in eine
des Raumes zu transformieren (und diese wiederum in eine der Gesellschaft und
des Lebens). Graphische Linien will er einem einzigen Zweck unterstellen: der
projektiven Darstellung von Körpern und Räumen mit Zirkel und Lineal. Die Linie
verschwindet bei Rodtschenko aus der Malerei und lässt diese hinter sich – einer-
seits, um in funktionale Planrisse einzugehen, andererseits und vor allem auch,
um sich als Linie im realen Raum zu verwirklichen, d. h. zur Kante oder Strebe in
einer dreidimensionalen Konstruktion zu werden. In dieser Funktion gilt sie ihm
zudem als kinetische. Auf ganz andere Weise hat zur selben Zeit Naum Gabo die
Linie in den Raum versetzt und kinetisch interpretiert: Mit Rekurs auf physikali-
sche Theorien und ingenieurstechnisches Wissen stellen Linien bei ihm die Rich-
tungen von Kräften dar und indizieren Rhythmen. Letztere werden z. B. in einem
von einem rotierenden Stab erzeugten virtuellen Volumen veranschaulicht: Diese
‚Skulptur‘ verdankt sich ganz und gar einer (quer zu ihrem Verlauf) in Bewegung
versetzten (materiellen) Linie, und sie hat weder geschlossene Außenflächen
noch Masse.
Die jahrhundertelang v. a. als graphische Spur aufgefasste Linie wird damit
entweder zu einem räumlichen Ding oder, qua spurloser Kinesis, zu einem Gene-
rator virtueller Raumgebilde. Gleichwohl aber verschwindet die im weitesten Sinn
graphische Linie nicht, sondern findet bis heute immer wieder neue Betätigungs-
felder und Manifestationsformen. Diese werden genau wie die in räumlich-mate-
rielle Gegenstände (Fäden, Schnüre, Kante, Schnitt… bis hin zum gigantischen
Erdaushub) oder in Bewegungen des Gehens, Fahrens, Tanzens übersetzten Linien
von Äußerungen der Künstlerinnen und Künstler begleitet.23 Nicht immer führen
die in hohem Maß personen-, werk- und situationsspezifischen Äußerungen aber
auch zu neuen Aspekten von Linientheorie. In den Überlegungen der Brasiliane-
rin Lygia Clark* ist dies allerdings der Fall: Das Grundmotiv ihrer zum Teil schwer
verständlichen Kunsttheorie ist eine Selbstkritik und Selbstüberschreitung der
Malerei, die sie allgemeiner als Kritik und Überschreitung der Fläche versteht;
diese gilt ihr als Ort einer schlechten Rationalität, d. h. mechanischer Raum- und
Zeitbegriffe. Sie begibt sich auf die Suche nach einer inkommensurablen ‚Dicke‘,
die sowohl dem messbaren Raum wie auch der messbaren Zeit entgeht. In Bezug
auf den Raum beschreibt sie diese ‚Dicke‘ auch als einen Übergang oder eine Ver-
bindung zwischen zwei bis dahin getrennten Seiten, insbesondere von Innen und
Außen. Ein von ihr in diesem Zusammenhang erwähnter ‚Raumfaden‘ wird sich
in ihrer künstlerischen Praxis erst später konkretisieren, etwa in Form von Spei-
chelfäden oder einer nabelschnurartigen Verbindung zweier umhüllter Körper.
Clarks Linientheorie liegt eine Praxis zu Grunde, die in den Theorien von Malerei
und Skulptur (im Unterschied zu denen der Architektur, man denke an Gottfried
Semper) sonst keine Rolle spielt, nämlich die der Naht. Die Linie, um die es Clark
geht, soll nicht einschränken oder abtrennen, sondern über jede Form von einsei-
tiger Flächigkeit hinausführen.
Schon die Linien, von denen Theoretiker wie Alberti, Leonardo, Hogarth oder
Ruskin sprechen, sind nicht ausschließlich im Bereich der bildenden Kunst zu
Hause. Manche Linientheorien des 20. Jahrhunderts gehen indes darauf aus, die
Malerei zu zerstören und/oder ihre Grenzen, ja die Grenzen der (bildenden) Kunst
überhaupt zu überschreiten. Doch beziehen viele Überlegungen zur Linie zumin-
dest Facetten ihrer Bedeutung daher, dass sie sich als Alternativen zur Tradition
der Umschreibung oder Umrissbildung anbieten.
In diesem Sinn wird man jüngere und jüngste Programme und Statements
nicht nachvollziehen können, wenn man sie nicht auch als Auseinandersetzun-
gen mit dem alten Paradigma der graphischen Spur begreift, das europäisches
Liniendenken und -wissen in der Kunst so lange Zeit bestimmt hat.24
Die hier ausgewählte Passage zu Linie und Farbe, in der Aristoteles Bezug auf die
Malpraxis seiner Zeit nimmt, stammt aus der naturphilosophischen Schrift Über
die Entstehung der Lebewesen, und damit aus einem biogenetischen Kontext.
Einzelne Schritte der Formwerdung der Säugetiere werden zur Formgenese in
der bildenden Kunst analog gesetzt: Beide folgen einem inneren immateriellen
Prinzip, wobei Aristoteles dieses in seinen biologischen Schriften im männli-
chen Samen verortet und in seinen praxeologischen Texten im Intellekt des Bild-
ners. So arbeitet nicht nur der Künstler, sondern jeder Handwerker nach einem
‚Zweck‘ oder ‚Plan‘, demzufolge die Materie geformt wird, während bei der bio-
logischen Zeugung das männliche Prinzip den Plan der Entwicklung, das Weibli-
che dagegen das stoffliche Substrat beisteuert. Beide Prozesse sind dem Ziel der
Selbstrealisierung der Formen im Stoff (‚Entelechie‘) unterstellt: Innerhalb der
Biogenese lässt sich so auch über Generationen hinweg die Konstanz der Arten
sichern, innerhalb des bildnerischen Schaffens wird mimetische Repräsentation
eines Vorbildes oder Urbildes ermöglicht. Entsprechend versteht er die Anglei-
chung an eine vorgegebene Form zunächst als Umrissbildung und erst in einem
zweiten Schritt als Beschreibung oder Füllung via Farbe, sich verdickende Materie
etc. Außerdem gibt es einen Zusammenhang zur aristotelischen Topologie, in der
die Gestalt eines Körpers vor allem in Abgrenzung zu den umliegenden Körpern
erkannt wird: Die Umrisslinie erteilt Auskunft über die physische Ausdehnung
des Körpers, gleichzeitig weist sie ihm einen spezifischen Ort im Raumsystem zu.
Auf diese Weise zeichnet sich die Kontur eines Körpers, im Vergleich zu dessen
Farbigkeit oder Materialität, durch einen höheren erkenntnistheoretischen Stel-
lenwert aus, auch wenn die Komponenten ständig zusammenwirken. Tatsächlich
muss die Form Aristoteles zufolge ohne Bezug auf die Materie definiert werden
(Metaphysik, Z 10–11). Nur so nämlich kann sie persistieren, ohne dass irgendein
spezifisches Konkretum existiert. Die Erkenntnis einer Trennung zwischen der
intelligiblen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt wird vor allem hinsichtlich
der Reproduktion einer biologischen Art wichtig werden. Aber auch für die nach-
folgenden kunsttheoretischen Debatten um die Vorrangstellung von Linie (Zeich-
nung) und Farbe wird sie von großer Tragweite sein.
Aristotle 1979, S. 261; Chen 1940, S. 53–57; Hübner 2000, S. 79; Leonhard 2013,
S. 110–115; Polansky 1983, S. 63
Im 35. Buch von Plinius’ Naturalis historia werden mehrere für die Liniendis-
kussion relevante Legenden eingeführt: So wird zunächst der Schattenriss zum
Ursprungsmodell der Malerei erhoben – ein Mythos, der von Plinius an anderer
Stelle noch einmal ausführlicher beschrieben, dann aber in den Kontext der
Plastik gestellt wird: Ihm zufolge formte der Töpfer Butades (auch Dibutades, KL)
als erster Porträtköpfe in Ton, nachdem seine Tochter den Schatten des Gesichtes
ihres Geliebten an der Wand nachgezeichnet hatte. Zweierlei ist damit gesagt:
Erstens, dass die Umrisslinie dort ihren Ort hat, wo Licht und Schatten unver-
mittelt aufeinandertreffen, und zweitens, dass der Grund für diese Erfindung
eine drohende Lücke oder Abwesenheit ist, denn der Geliebte muss, wie Plinius
schreibt, in die Fremde ziehen. Und so wird ein Repräsentant gesucht, der inde-
xikalisch, d. h. durch die Projektion des (noch) anwesenden Körpers, hergestellt
wird. Der Geschichte ist eine lange Karriere beschieden, deren Höhepunkt sich
in den vielen Schattenrissen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und den
physiognomischen Studien zum Beispiel Lavaters* findet.
Eine weitere Legende gilt Parrhasios, der für seine subtil modellierte Umriss-
zeichnung bekannt gewesen sein soll. In dieser Geschichte wird das Ideal einer
Konturlinie entwickelt, die mehr kann als die Ausdehnung eines Körpers anzuge-
ben bzw. visuell zu begrenzen. Vielmehr muss sie „sich selbst […] herumziehen
und so aufhören, dass sie noch etwas anderes hinter sich andeutet und sogar
zeigt, was sich verbirgt“, also den Körper in seiner ganzen Dimensionalität ein-
fangen. Eine solche Linie lässt den weiteren Verlauf der Oberfläche, vielleicht
noch den der Rückseite, erahnen – auf diese Weise werden Möglichkeiten der
Linienzeichnung entwickelt, die im späteren paragone zwischen Malern und
Brusatin 2003; Derrida 1997, S. 53–54; Elkins 1998, S. 3–46; Gombrich 1976, S. 3–18;
Gombrich 1996, S. 36–40; Kurbjuhn 2014, S. 55–64; Lavin 2006; Mainberger 2007a;
Mainberger 2010, S. 13, 34, 61, 133–134; Nikitinski 1999; Pigeaud 1990; Preimesber-
ger 1999; Schmidt-Linsenhoff 1996; Stoichita 1999, S. 13–20; van de Waal 1967
Die Naturgeschichte
Bd. 6: Von den Metallen, Steinen und den bildenden Künsten in Verbindung mit der Geschichte der
vorzüglichsten Künstler und Kunstwerke. Übers. v. Georg Christian Wittstein. Leipzig: Gressner &
Schramm, 1882, S. 116, 158, 133, 137–138.
[S. 133] Parrhasius, zu Ephesus geboren, vervollkommnete selbst die Kunst sehr. Er war der Erste,
welcher Symmetrie in die Gemälde brachte, dem Gesicht Ausdruck verlieh, die Haare schön dar-
stellte, dem Munde Anmuth gab, und nach dem übereinstimmenden Urtheile der Künstler in
den [S. 134] äussersten Conturen die grösste Vollkommenheit erreichte. Letzteres ist das höchste
Ziel in der Malerei; Körper und das Mittlere der Gegenstände zu malen, ist zwar schon schwie-
rig, doch haben viele Künstler sich darin hervorgethan, dagegen gehört es zu den Seltenhei-
ten, dass die äussersten Grenzen des Gegenstandes glücklich getroffen und da, wo das Gemälde
selbst aufhört, richtig abgesetzt sei. Die äusserste Grenze muss sich nämlich selbst herumziehen
und so aufhören, dass sie noch etwas anderes hinter sich andeutet und sogar zeigt was sich
verbirgt. Diesen Ruhm haben ihm Antigonus und Xenocrates […], zwei Schriftsteller über die
Malerei, nicht bloss zuerkannt, sondern ihn auch desshalb höchlich gepriesen. Man hat noch
viele Spuren seiner Zeichnungen auf Tafeln und Pergament, die, wie man angiebt, von Künstlern
benutzt werden. Wie es scheint, war jedoch Zeuxis, wenn man ihn mit sich selbst vergleicht,
weniger vollkommen in Darstellung des mittleren Theils der Körper. […]
[S. 137] Alle seine Vorgänger und Nachfolger überstrahlte aber Apelles von Cos in der 112. Olym-
piade. Er allein förderte die Malerei mehr als alle übrigen zusammen genommen, verfasste auch
Schriften, welche die Lehre dieser Kunst enthalten. Er verstand es besonders, seinen Werken
den Stempel der Anmuth aufzudrücken; wenn er die Werke der grössten Maler, wie sie zu seiner
Zeit lebten, betrachtete, sagte er, sie verdienten sämmtlich Lob und alles sei daran geglückt, nur
fehle ihnen allen jene Schönheit, welche die Griechen Grazie nennen, und in diesem einzigen
Punkte komme ihm Niemand gleich. Noch einen andern Ruhm nahm er für sich in Anspruch, als
er ein Werk des Protogenes von unendlichem Fleiss und übermässig ängstlicher Sorgfalt bewun-
derte: er sagte nämlich, er stehe mit jenem in jeder Hinsicht auf gleicher Stufe, oder derselbe
habe noch Vorzüge vor ihm, allein darin übertreffe er ihn, dass er verstände, die Hand (zu rechter
Zeit) von dem Gemälde zu entfernen. Hierin liegt die wohl zu beachtende Lehre: zu viel Fleiss
schadet oft. Apelles war aber nicht weniger billig und aufrichtig als kunstgebildet. Er räumte
nämlich dem Melanthius den Vorzug ein in der Anordnung (im Entwurfe), dem Asclepiodorus
in dem Maasse, d. h. wie weit eins von dem andern entfernt sein muss. Interessant ist, was sich
zwischen ihm und Protogenes ereignete. Letzterer lebte zu Rhodus; Apelles reiste zu Schiffe
dahin, um die Arbeiten eines Mannes zu sehen, welchen er nur dem Rufe nach kannte, und eilte
in dessen Werkstätte. Er fand ihn nicht zu Hause, bemerkte aber eine auf einem Gerüste zum
Bemalen hergerichtete grosse Tafel, die ein altes Weib bewachte. Die Alte sagte, Protogenes sei
ausgegangen, und fragte, was sie sagen sollte, wer nach ihm gefragt habe. Apelles antwortete:
„dieser hier“, ergriff in demselben Momente einen Pinsel und zog mit der darin [S. 138] enthal-
tenen Farbe eine äusserst feine Linie über die Tafel. Als Protogenes zurückkehrte, erzählte ihm
die Alte den Vorfall; er soll nach Betrachtung des feinen Strichs sogleich gesagt haben, Apelles
sei angekommen, denn einem Andern traue er ein solches Meisterstück nicht zu. Hierauf habe
er mit einer andern Farbe eine noch feinere Linie in jene gezogen und beim Weggehen befohlen,
man solle dieselbe dem Fremden, wenn er wieder käme, zeigen und hinzufügen, der sei es den
er suche. So geschah es auch; denn Apelles kam wieder, und durchzog, aus Schaam übertrof-
fen zu werden, jene Linien noch mit einer dritten Farbe, dergestalt, dass nun kein Raum mehr
auf dieser dritten Linie für eine noch feinere übrig blieb. Als Protogenes diese sah, bekannte er
sich für besiegt, und eilte nach dem Hafen, um seinen Gast aufzusuchen. Man beschloss, diese
Tafel zur Bewunderung Aller, namentlich aber der Künstler, der Nachwelt zu überliefern. Diese
vormals so bewunderte Tafel, welche auf einer grossen Fläche nichts weiter als 3 dem Auge fast
sich entziehende Linien enthielt, unter den herrlichen Werken vieler Künstler gleichsam leer
aussah, aber eben darum anlockte und merkwürdiger als jedes andere Kunstwerk war, ist, wie
ich vernehme, bei dem ersten Brande des cäsarianischen Hauses auf dem palatinischen Hügel
zu Grunde gegangen.
Apelles hatte es sich übrigens zu Aufgabe gemacht, jeden Tag, er mochte noch so sehr beschäf-
tigt sein, seine Kunst durch Ziehen einer Linie zu üben, und diess hat zu einem Sprichworte
Veranlassung gegeben.
Theodor Studites’ wohl zwischen 815 und 826 geschriebene Drei Widerreden
gegen die Bilderzerstörer gehören in den Zusammenhang jenes Bilderstreits, der
die byzantinische Gesellschaft für mehr als hundert Jahre, vom ersten Drittel
des 8. bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts, spaltete. Da dieser Konflikt letztlich
zugunsten der bilderfreundlichen Partei entschieden wurde, sind die bilderfeind-
lichen Positionen, wenn überhaupt, nur in den Schriften ihrer Gegner überliefert.
Traut man dieser einseitigen Überlieferung, so wurde ein besonders einflussrei-
ches ikonoklastisches Argument unter Kaiser Konstantin V. auf der Synode von
Heireia (754) vorgetragen. Eine zentrale Rolle in diesem Argument spielt der
Begriff der Umschreibung – ein, wie sich herausstellt, zweideutiger Begriff.
Wegen des Zusammenhangs mit der Praxis des Konturierens von Figuren konnte
‚Umschreibung‘ als ‚bildliche Darstellung‘ verstanden werden. Andererseits
wurde ‚Umschreibung‘ in einem philosophischen Sinn verwendet und hieß dann
soviel wie ‚kategoriale Bestimmung‘, insbesondere Orts- und Zeitbestimmung.
Nun war man sich einig, dass Gottvater unumschrieben und unumschreibbar
war, dass er sich also einer kategorialen Bestimmung nach Ort und Zeit entzog
und auch nicht in Bildern dargestellt werden konnte. Strittig hingegen war die
Frage, ob Christus, der inkarnierte Gottessohn, umschreibbar (darstellbar) sei.
Das in Heireia vorgetragene Argument verneinte dies und konfrontierte die Bil-
derfreunde mit einem geschickt konstruierten Dilemma. Man setzte voraus, dass
die Christusikone entweder nur die menschliche oder zusammen mit ihr auch
die göttliche Natur Christi umschreibe und dass eine dritte Möglichkeit auszu-
schließen sei. Im ersten Fall werde, so hieß es, die menschliche Natur von der
göttlichen abgetrennt, und der Ikonenmaler mache sich einer Häresie schuldig
(Nestorianismus). Im anderen Fall müsse angenommen werden, dass durch die
Umschreibung der menschlichen Natur die göttliche ‚mitumschrieben‘ werde.
Das bedeute aber, dass die beiden Naturen Christi miteinander vermengt würden,
und erneut könne der Ikonenmaler einer Häresie überführt werden (Monophysi-
tismus).
Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund wird verständlich, weshalb
der Begriff der Umschreibung in Theodors Widerlegungsversuchen eine so große
Rolle spielt. In der vorliegenden Passage versucht er die Umschreibbarkeit Christi
zu beweisen, indem er zeigt, dass die gegenteilige Annahme in einen Wider-
spruch führt. Die Tragfähigkeit dieses Beweises ist vergleichsweise gering; die
ikonoklastische Seite könnte zum Beispiel einwenden, dass er höchstens im Hin-
blick auf die menschliche Natur Christi gültig sei, während der eigentlich strit-
tige Punkt – die Darstellbarkeit des Gottmenschen – unberührt bleibe. Was im
gegebenen Zusammenhang jedoch vor allem interessiert, sind die linientheoreti-
schen Implikationen von Theodors Argument. Denn bei seinem Versuch, rigoros
zu demonstrieren, dass aus der Menschwerdung Christi seine Umschreibbarkeit
(und also Darstellbarkeit) folgt, nimmt er eine aufschlussreiche Engführung
von geometrischen, philosophischen und theologischen Begriffen vor. Zuerst
weist er darauf hin, dass der (geometrische) Begriff des Körpers (bei Euklid wäre
das stereon, Theodor schreibt aber soma) aus der rekursiven Anwendung einer
Begrenzungsoperation hervorgeht: So wie eine Linie (wir würden hier von einer
‚Strecke‘ sprechen) dadurch entsteht, dass eine breitenlose Länge durch zwei
Punkte begrenzt wird, so geht eine Figur aus der Begrenzung einer Fläche durch
mindestens drei Linien hervor (Theodor bezieht sich auf geradlinig begrenzte
geometrische Figuren in der Fläche), während ein Körper durch mehrere Flä-
chenfiguren geformt wird (man denke etwa an die Art, wie ein Quadrat und vier
Dreiecke eine Pyramide bilden können). Indem er unter der Hand die theoreti-
sche Basis wechselt und von der Geometrie zur Physik übergeht, sagt Theodor
von diesem Körper, er werde von einem Ort umgrenzt. Im Hintergrund steht hier
die aristotelische Auffassung, wonach ein Ort die nächstliegende konkave Hülle
einer Sache ist. Diese Beziehung zwischen dem Ort und der Sache, die sich an
oder eigentlich in ihm befindet, kennzeichnet Theodor charakteristischer Weise
wieder als Umschreibung: Ein Mensch, der in einer bestimmten Stadt wohnt,
wird von ihr umschrieben. Auf dieser theoretischen Grundlage interpretiert er
dann das biblische Zeugnis, dass Christus von menschlicher Gestalt war, einen
Körper hatte und an einem bestimmten Ort wohnte (nämlich in Nazareth) so,
dass daraus auf die Umschriebenheit Christi geschlossen werden kann; daraus
folgt dann weiterhin seine Umschreibbarkeit, also Darstellbarkeit.
Da Theodor Studites den Unterschied zwischen einer geometrischen Flä-
chenfigur und der menschlichen Gestalt ebenso übergeht wie denjenigen zwi-
schen einem geometrischen Körper und dem Leib Christi bleibt sein Argument
zwar brüchig. Man wird es jedoch ungeachtet seines relativ geringen theoreti-
schen Werts als wichtigen Beleg dafür betrachten dürfen, dass der Begriff der
Eine Linie (grammé) ist eine durch zwei Punkte begrenzte breitenlose Länge, woraus eine
Zeichnung (epigraphé) hervorgeht. Eine Figur (schema) ist das, was aus mindestens drei Linien
besteht. Aus ihr geht ein Körper (soma) hervor, der durch verschiedene Figuren geformt und
von einem Ort umgrenzt (periorizomenon) wird. Das Unumschriebene (aperigrapton) jedoch ist
von diesen verschieden und wird nicht von einer Linie, schon gar nicht von einer Figur, einem
Ort oder einem Körper umfaßt. Wenn also Christus unumschreibbar (aperigraptos) ist, so folgt
daraus, dass Er weder in einer Figur noch an einem Ort geschweige denn in einem Körper zu
finden sein wird. Nun wurde er aber in einer Figur gefunden, nämlich als Mensch, der Schrift
gemäß; und er wurde, in Nazareth lebend, von einem Ort umschrieben (periegraphe); und Er
wurde Fleisch (sarx), wie der Evangelist sagt. Folglich ist Er umschreibbar (perigraptos).
„Hier beginnt die Kunst der (Grund)züge des Zeichnens, so wie die Disziplin der
Geometrie sie lehrt, um leicht zu arbeiten. / Und auf dem andern Blatte sind jene
der Maurerei.“ (Hahnloser 1935, S. 91) Einer der Schreiber des ins 13. Jahrhundert
datierbaren Pergamentalbums, das mit dem Namen des Architekten (?) Villard
de Honnecourt verbunden ist, hat diese Sätze an den unteren Rand eines Blattes
geschrieben, auf dem in einer Art Streumuster zwölf isolierte Bildobjekte zu erken-
nen sind: ein architektonisches Gebilde, fünf menschliche Köpfe, ein Pferdekopf,
ein springender Hund, eine Hand, ein Schaf, ein Adler und ein Straußenpaar.
Ähnliche Zusammenstellungen finden sich auch auf anderen Seiten des Albums.
Die Bildobjekte sind eng mit geometrischen Figuren – vor allem Dreiecken und
Pentagrammen, aber auch Rechtecken, Kreisen und Kreissegmenten – verbun-
den, allerdings auf verschiedenartige Weise: Manchmal sind die geometrischen
Außer vom Zeichnen spricht die Aufschrift auch von der Maurerei, so dass
sich eine Konstellation ergibt, die auf spätere Entwicklungen vorauszudeuten
scheint, insbesondere auf die Unterscheidung zeichnender Künstler-Architekten
von „Steinmetzen und Maurern“, wie sie sich in der italienischen Renaissance
etwa bei Giorgio Vasari* (S. 334) findet. Doch gibt es in dem Album des 13. Jahr-
hunderts keinen Hinweis darauf, dass portraiture einen anderen Status hätte als
maconerie: Beide werden mit einem Wort, dessen Sinn sich im englischen craft
erhalten hat, als force bezeichnet. Allenfalls könnte das zwischen Zeichnung und
Geometrie hergestellte Naheverhältnis auf einen Versuch hindeuten, die erstere
zu nobilitieren.
Bach 1996, S. 274–279; Barnes 2009; Blechmann 1991; Boehm 1985, S. 46–47;
Damisch 1995, S. 19–20, 143–144; Gombrich 1978, S. 177–179; Hahnloser 1935;
Panofsky 1998; Wirth 2015
Der italienische Humanist und Gelehrte Leon Battista Alberti gehört zu den füh-
renden kunsttheoretischen Stimmen der Renaissance und seine Diskussion der
Linie in seinem Traktat De pictura/Della pittura (1435/36) zu den fundamentalen
Besprechungen visueller Wahrnehmungsformen in der frühneuzeitlichen Kunst-
theorie. Von Euklid* abweichend erklärt er, dass eine Linie als eine ununterbro-
chene Aneinanderreihung einzelner Punkte zu verstehen sei. Der Punkt wird von
ihm als ein unteilbares Zeichen begriffen, während sich die Linie zwar der Länge
nach teilen, aber nicht in ihrer Breite spalten lässt. Ein Nebeneinander von Linien
führt zur Wahrnehmung einer Fläche, vergleichbar einzelner Fäden, die im Ver-
weben ein Stück Stoff ergeben.
Das Besondere an Albertis Definition ist, dass eine solche Fläche durch einen
äußeren Saum (orlo) von benachbarten Flächen abgegrenzt wird und dieser Saum
erneut aus einer Linie besteht. Dabei fungiert sie aber nicht nur als Kontur oder
Umschreibung (circonscrizione) einer Fläche. Vielmehr bezeichnet sie den Ort
eines Körpers, den dieser im Raum einnimmt. Derart hat Alberti die Linie inner-
halb der Kunsttheorie zum Teil eines geometrischen Systems erklärt, zu dem
auch Punkte, Flächen und Volumina gehören.
Damit wird eine weitere wichtige Funktion der Linie angesprochen: die ihrer
Rolle in der perspektivischen Wahrnehmung. Nur mit Hilfe von Konturen lässt
sich ein räumliches Gefüge von Körpern in eine Flächen- und damit auch in
eine Bildlogik überführen. Die Besonderheit der Kontur, wie Alberti sie versteht,
besteht nämlich bereits darin, dass der Konturverlauf sowohl vom Standort des
Gegenstandes als auch des Betrachters abhängig ist, d. h., seine Form wird zwi-
schen beiden verhandelt, und dies ermöglicht in der flächigen Umsetzung des
Bildes eine perspektivische Ansichtigkeit des Körpers. Um den Zusammenhang
verständlich zu machen, verwendet Alberti das optische Modell einer Sehpyra-
mide. Diese besteht aus Sehstrahlen, die vom Saum des Gegenstandes ausgehen
und sich mit der Veränderung von dessen Lage ebenfalls verändern. Die Seh-
strahlen bündeln sich im Auge; jede Änderung wird dem Auge umgehend mit-
geteilt. Von diesem Gedanken aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Defini-
tion des gesamten Bildfeldes als ‚Schnitt durch die Sehypyramide‘, da der Raum
aus der Zusammenfügung von Körpern besteht, die sich durch ihre Konturen der
Wahrnehmung eines Betrachters mitteilen.
Bätschmann 2002a; Büttner 2013, S. 38–50; Edgerton 2002, S. 75–84; Kanz 2010;
W. Kemp 1974; Kurbjuhn 2014, S. 83–85; Pedretti 2003; Samsa 2012
2. Als erstes müssen wir wissen, wie ich betone, dass ein Punkt ein Zeichen ist, das sich nicht
in Teile zerlegen lässt. Unter Zeichen verstehe ich hier insgesamt das, was sich auf einer Fläche
in der Weise zeigt, dass es vom Auge wahrgenommen werden kann. Von den Dingen, die wir
nicht sehen können, wird niemand bestreiten, dass sie den Maler nichts angehen. Der Maler soll
sich nur um die Nachbildung dessen bemühen, was man sieht. Wenn die Punkte sich in einer
Reihe ununterbrochen aneinanderfügen, bringen sie eine Linie (linea) hervor. Für uns ist eine
Linie ein Zeichen, dessen Länge sich teilen lässt, dessen Breite jedoch so gering ist, dass man
sie nicht aufspalten kann. Von den Linien nennt man die einen ‚gerade‘, die anderen ‚gebogen‘.
Die gerade Linie sei ein von einem Punkt zum anderen auf geradem Weg in die Länge gezoge-
nes Zeichen. Eine gebogene Linie sei ein von einem Punkt zum anderen nicht gerade, sondern
bogenförmig ausgeführtes Zeichen.
Mehrere nebeneinander liegende Linien bilden eine Fläche (superficie), ähnlich wie mehrere
Fäden ein Gewebe. Eine Fläche ist also ein bestimmter äußerster Teil des Körpers, die man nicht
an so etwas wie Tiefe erkennt, sondern nur [S. 69] an ihrer Länge und ihrer Breite und zudem an
ihren Eigenschaften. Von diesen Eigenschaften gehören einige so beständig der Fläche an, dass
sie sich nicht von ihr wegnehmen lassen, es sei denn du veränderst die Fläche. Andere Eigen-
schaften sind von der Art, dass sie trotz gleich bleibender Form der Fläche einen Anblick bieten,
der dem Betrachter verändert erscheint.
Von den beständigen Eigenschaften gibt es zwei Arten. Die eine erkennt man in jenem äußersten
Saum (orlo), der eine Fläche abschließt; dieser Saum kann durch eine oder mehrere Linien abge-
grenzt werden. Eine davon ist die kreisförmige, mehrere bestehen aus einer gebogenen und einer
geraden oder aus mehreren geraden Linien. Als kreisförmig gilt jene [Linie], die einen [Teil eines]
Kreis[es] in sich schließt. Als Kreis gilt die Gestalt einer Fläche, die von einer ununterbrochenen
Linie rings umgeben wird, fast wie von einem Kranz; befindet sich ferner hier in der Mitte ein
Punkt, so wird jede beliebige Linie von diesem Punkt bis zum Kranz die gleiche Länge wie die
anderen aufweisen, und der Punkt in der Mitte heißt Mittelpunkt. Jene gerade Linie, die durch
diesen Punkt verläuft und den Kreis an zwei Stellen schneidet, wird von den Mathematikern
Durchmesser genannt. Uns wird es dienen, sie ‚Zentrallinie‘ zu nennen. […]
4. [S. 71] Kehren wir erneut zur Fläche zurück. Sei davon überzeugt, dass eine Fläche dieselbe
bleibt, solange die Linien und Winkel des Saumes sich nicht ändern. Wir haben also eine Eigen-
schaft aufgezeigt, die der Fläche immer zugehört. Nun haben wir über die zweite Eigenschaft zu
sprechen, die sozusagen wie eine Haut den ganzen Rücken der Fläche bedeckt. Diese [zweite
Eigenschaft] teilt man in drei Arten. Einige Flächen sind eben, andere sind nach innen gehöhlt,
wieder andere nach außen gebläht und kugelförmig […].
5. Demnach geben der Saum und der Rücken den Flächen ihre Namen. Doch unter den Eigen-
schaften die zu einer veränderten Erscheinung [der Flächen] führen können, ohne dass die
Fläche sich ändert oder den Namen wechselt, gibt es zwei Arten, die eine Veränderung herbei-
führen, nämlich den Wechsel des Standortes und des Lichtes. Sprechen wir zuerst über den Ort,
danach über das Licht und untersuchen wir, auf welche Weise die Eigenschaften der Fläche
dadurch verändert erscheinen. Das gehört in das Gebiet des Sehvermögens, denn durch die Ver-
änderung der Lage werden die Gegenstände entweder größer oder von anderem Saum oder in
anderer Farbe erscheinen; dies alles messen wir mit dem Blick. Suchen wir dafür nach Gründen
und beginnen mit der Lehre der Philosophen. Diese behaupten, die Flächen würden mit einer
Anzahl von Strahlen gemessen, die dem Sehen wie Hilfskräfte dienen, um die Gestalt der Dinge
dem Sinn aufzuprägen, und deshalb ‚Sehstrahlen‘ genannt werden. Wir stellen uns [S. 73] hier
die Strahlen wie ganz feine Fäden vor, die am einen Ende im Innern des Auges, wo der Sehsinn
seinen Ort hat, gleich einem Knoten aufs Engste verknüpft sind. Und von hier aus streckt dieser
Knoten gleichsam wie der Stamm aller Strahlen seine äußerst geraden und sehr dünnen Zweige
bis zur gegenüberliegenden Fläche aus. Aber zwischen diesen Strahlen gibt es Unterschiede,
die unbedingt zu beachten sind. Sie sind unterschiedlich sowohl in Bezug auf die Kraft wie auf
die Aufgabe. Einige dieser Strahlen messen beim Auftreffen auf den Saum der Flächen alle ihre
Größen. Weil sie auf diese Weise gegen die letzten und äußersten Teile der Fläche stoßen, werden
sie ‚äußerste‘ oder, wenn du willst, äußerliche Strahlen genannt. Andere Strahlen führen aus
dem gesamten Rücken der Fläche heraus bis ins Auge, und weil sie in den gleichen Farben und
im gleichen Licht erstrahlen wie die leuchtende Fläche, besteht deren Aufgabe darin, die Seh-
pyramide auszufüllen, von der wir unten in passendem Zusammenhang sprechen; und deshalb
sollen diese Strahlen ‚mittlere‘ heißen. Unter den Sehstrahlen gibt es einen, der ‚Zentralstrahl‘
genannt wird. Wenn dieser auf die Fläche trifft, bildet er um sich herum nach allen Seiten rechte
und gleiche Winkel. Man nennt ihn ‚Zentralstrahl‘ auf Grund der Ähnlichkeit mit der oben
erwähnten Zentrallinie. Demnach haben wir drei unterschiedliche Arten von Strahlen gefunden:
‚äußerste‘, ‚mittlere‘ und ‚zentrale‘.
6. Nun untersuchen wir, was jede einzelne Art von Strahlen (razzo) zum Sehen beiträgt. Zuerst
werden wir von den äußersten sprechen, dann von den mittleren und schließlich vom zentralen.
Mit den äußersten Strahlen werden die Längen gemessen. ‚Länge‘ nennt man jede Distanz auf
der Fläche, die von einem Punkt des Saumes zum anderen reicht. Das Auge misst diese Länge
mit den Sehstrahlen fast wie ein Zirkel. Und auf jeder Fläche finden sich so viele Längen wie es
Abstände zwischen den Punkten [des Saumes] gibt, denn für die Höhe von unten nach oben,
die Breite von rechts nach links, die Tiefe zwischen nah und fern und für jede andere Länge
oder jede Messung, die man beim Sehen macht, für all dies bedient man sich dieser äußersten
Strahlen. Daher pflegt man zu sagen, dass man beim Sehen ein Dreieck bildet, dessen Basis die
gesehene Länge darstellt und dessen Schenkel jene Strahlen sind, welche sich von den End-
punkten der Länge bis zum Auge erstrecken. Und es ist völlig sicher, dass keine Länge ohne
[S. 75] Dreieck gesehen werden kann. Von den Winkeln dieses Sehdreiecks liegen die ersten zwei
auf den Endpunkten der Länge; der dritte liegt der Basis gegenüber und befindet sich im Innern
des Auges. […]
7. Hierzu pflege ich im Kreis meiner Freunde die folgende Regel mitzuteilen: Je mehr Strahlen du
beim Sehen benötigst, desto größer wird dir das Gesehene vorkommen, und je weniger Strahlen
du brauchst, desto kleiner wird es dir erscheinen. Indem diese äußersten Strahlen die Fläche so
umgeben, dass einer den anderen berührt, umschließen sie die ganze Fläche fast wie ein Käfig
aus Weidengeflecht und bilden das, was man Sehpyramide nennt. […]
[S. 77] Bis hierhin haben wir über die äußersten Strahlen gesprochen, mit welchen die Pyramide
gebildet wird, und es erscheint mir erwiesen, wie sehr sich ein kleinerer oder größerer Abstand
zwischen dem Auge und dem Gesehenen [auf dessen Größe] auswirkt. Es folgt die Besprechung
der mittleren Strahlen, welche jene große Menge in der Pyramide ausmachen, die von den
äußersten Strahlen umgeben sind. Und diese verhalten sich so, wie man es dem Chamäleon
nachsagt, einem Tier, das jeweils von der ihm nächsten Umgebung die Farbe annimmt. Denn
von der Stelle, an der die Strahlen die Fläche berühren, bis hin zum Auge nehmen sie Farben und
Licht der Fläche so an, dass du sie an jeder Bruchstelle stets auf die gleiche Art beleuchtet und
gefärbt vorfinden würdest. Und [dennoch] lässt sich nachweisen, dass sie mit zunehmendem
Abstand schwächer werden. Ich glaube, der Grund dafür liegt darin, dass sie, beladen mit Licht
und Farben, die Luft durchqueren, die durch ihre Belastung mit Feuchtigkeit die beschwerten
Strahlen ermüdet. Hieraus entnehmen wir die Regel: je größer die Entfernung ist, desto trüber
wird die gesehene Fläche erscheinen.
8. Es bleibt uns noch, über den Zentralstrahl zu sprechen. Es gibt nur einen einzigen Zentral-
strahl, nämlich den, der so auf eine Länge auftrifft, dass allseitig jeder Winkel dem anderen
gleich ist. Dieser eine Strahl, der kräftigste und lebhafteste von allen, bewirkt, dass keine Länge
je grösser erscheint als wenn sie von ihm getroffen wird. Über diesen Strahl könnte man noch
mehr sagen, aber es genügt, dass dieser eine, umdrängt von den anderen Strahlen, als letzter
den gesehenen Gegenstand verlässt; weshalb man ihn zu Recht ‚Fürst‘ (prencipe) der Strahlen
nennen kann. Nach meiner Ansicht habe ich hinlänglich bewiesen, dass mit veränderter Distanz
und veränderter Stellung des Zentralstrahls die Fläche sofort anders erscheinen wird. Die Erstre-
ckung und Stellung des Zentralstrahls tragen demnach viel zur Bestimmung des Sehens bei. […]
12. […] [S. 85] Wenn sich dies irgend so verhält, wie ich gesagt habe, sieht jeder, der ein Gemälde
betrachtet, eine bestimmte Schnittfläche einer Pyramide. Daher wird ein Gemälde nichts anderes
sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide, die gemäß einem vorgegebenen Abstand,
einem festgelegten Zentralstrahl und mit bestimmter Beleuchtung auf einer gegebenen Fläche
mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist. […]
30. [S. 113] Man unterteilt die Malkunst in drei Teile nach der Einteilung, die wir der Natur entlie-
hen haben. Und da die Malerei bestrebt ist, gesehene Dinge darzustellen, wollen wir ausführen,
wie wir die Gegenstände wahrnehmen. Erstens, wenn wir etwas erblicken, sagen wir, dass dieser
Gegenstand einen Ort beansprucht. Hier wird der Maler, indem er diesen Raum umschreibt, sein
Verfahren, mit einer Linie dem Saum nachzufahren, Umschreibung (circonscrizione) nennen.
Bei erneuter Betrachtung erkennen wir dann, dass mehrere Oberflächen des gesehenen Körpers
zusammentreffen; und hier wird der Maler, indem er ihre Orte bezeichnet, sagen, er mache eine
Komposition. Zuletzt unterscheiden wir noch genauer die Farben und die Eigenschaften der
Oberflächen, deren Verschiedenheit durch die Lichtverhältnisse entsteht, und deshalb können
wir diesen Teil der Abbildung passend Lichteinfall nennen.
31. Also gliedert sich die Malkunst in Umschreibung, Komposition und Lichteinfall. Darüber soll
nun in aller Kürze gesprochen werden. Zuerst werden wir die Umschreibung besprechen.
Die Umschreibung wird jenes sein, was das Abgrenzen des Saumes in einem Gemälde bezeich-
net. Darauf soll sich, wie es heißt, Parrhasius, jener Maler, der sich bei Xenophon mit Sokrates
unterhält, besonders gut verstanden und sich häufig im Zeichnen solcher Linien geübt haben.
Für eine solche Umschreibung ist, denke ich, besonders darauf zu achten, dass sie mit ganz
feinen, fast unsichtbaren Linien gemacht wird. Darin pflegte sich der Maler Apelles zu üben und
mit Protogenes zu wetteifern. Aber die Umschreibung soll nicht mehr sein als ein Nachzeichnen
des Saums (disegnamento dell’orlo). Denn wenn der Saum mit einer zu deutlichen Linie gezeich-
net wird, wird [S. 115] an jener Stelle nicht der Rand einer Oberfläche angegeben, sondern ein
Riss (fessura). Und ich möchte, dass nichts anderes umschrieben wird als der Verlauf des Saums.
Darin muss man sich, versichere ich, sehr viel üben. Keine Komposition und kein Lichteinfall
kann gelobt werden, wenn nicht auch eine gute Umschreibung vorhanden ist; und dennoch
sieht man nicht selten eine gute Umschreibung für sich allein, was heißt, dass eine gute Zeich-
nung (disegno) schon höchst anmutig sein kann.
Damit also soll man sich hauptsächlich beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass zum guten Gelin-
gen der Umschreibung sich nichts Geeigneteres finden lässt als jenes Velum, das ich in meinem
Freundeskreis Schnittfläche (intersegazione) zu nennen pflege. Dabei handelt es sich um Fol-
gendes: Es ist ein hauchdünnes Tuch aus losem Gewebe, nach Belieben gefärbt, und mit etwas
dickeren Fäden in eine beliebige Anzahl von Parallelen unterteilt. Dieses Velum stelle ich zwi-
schen das Auge und den gesehenen Gegenstand, und zwar so, dass die Sehpyramide das lose
Gewebe des Tuches durchdringt. […]
32. [S. 117] Ich will nicht auf diejenigen hören, die da vorbringen, es gezieme dem Maler wenig,
sich an solche Dinge zu gewöhnen, die ihm beim Malen zwar große Hilfe leisten, aber so unent-
behrlich werden, dass du ohne sie nichts mehr zustande bringst. Ich glaube nicht, dass man von
einem Maler unendlich große Mühe fordert, vielmehr erwartet man ein Gemälde, das ein ausge-
prägtes Relief und Ähnlichkeit mit dem Vorbild aufweist; das ist meiner Meinung nach ohne die
Hilfe des Velums unmöglich zu vollbringen. Deshalb gebrauche man diese Schnittfläche, das
Velum, wie ich es sagte.
Und wenn es einen reizt, sein Talent ohne Velum zu beweisen, so soll man sich trotzdem die
Markierungen der Gegenstände innerhalb der Quadrate des Velums merken, oder anders gesagt,
man soll sich während des Betrachtens immer eine Linie, die von einer anderen Linie, die senk-
recht zu ihr steht, geschnitten wird, dort vorstellen, wo eine Markierung festgelegt wird.
Aber da den unerfahrenen Malern die Säume der Flächen sehr oft nicht bekannt, zweifelhaft
und ungewiss sind, wie in den menschlichen Gesichtern, wo sie die Grenze zwischen der Stirn
und den Schläfen nicht auszumachen vermögen, ist es ratsam, sie zu unterrichten, wie sie diese
Säume erkennen können. Die Natur zeigt uns dies klar und deutlich. Bei ebenen Flächen können
wir beobachten, wie sich uns jede durch ihre Linien, durch Licht und Schatten bestimmt; ebenso
sehen wir die kugelförmigen und gehöhlten Oberflächen sozusagen geteilt in viele, beinahe
quadratische Flächen mit unterschiedlichen Flecken von Licht und Schatten. Folglich soll man
jeden Teil einer Fläche, der durch die Helligkeit vom Dunklen geschieden ist, für eine andere
Fläche halten. Aber wenn dieselbe Fläche allmählich vom Schatten ins Licht übergeht, dann
bezeichne man die Grenze zwischen den beiden Bereichen mit einer ganz feinen Linie, damit
hier die Farbgebung weniger Unsicherheit erleide. […]
33. […] Weil nun die Umschreibung nichts anderes ist als eine bestimmte Methode für das Zeich-
nen des Flächensaums, weil [S. 119] aber unter den Flächen die einen klein sind wie bei den
Lebewesen, die anderen groß wie bei den Gebäuden oder den Kolossalstatuen, können die
bisher dargelegten Regeln [nur] für kleine Flächen ausreichen; die wie gezeigt mit Hilfe des
Velums zu erlernen sind.
Für größere Flächen müssen wir neue Verfahren herausfinden. Zu diesem Zweck müssen wir uns
vergegenwärtigen, was in den Lehrstücken über die Flächen, die Sehstrahlen, die Pyramide und
die Schnittfläche, weiter über den quadrierten Fußboden wie über den Zentralpunkt und die
Zentrallinie dargelegt wurde. […]
52. [S. 149] Ich behaupte, die Aufgabe des Malers bestehe darin, auf irgendeiner ihm gegebe-
nen Tafel oder entsprechenden Wand die sichtbaren Flächen jedes beliebigen Körpers in der
Weise mit Linien zu umreißen und mit Farben zu versehen, dass sie [d. h. die Flächen] aus einem
bestimmten Abstand und mit einer bestimmten Stellung des Zentralstrahls als plastische Formen
erscheinen und die Körper große Ähnlichkeit [mit der Wirklichkeit] haben; das Ziel der Malkunst
[besteht darin], dem Künstler Erfolg, Wohlwollen und Ruhm in größerem Maß als Reichtümer
einzubringen.
Schon Leon Battista Alberti*, und vor ihm Filippo Brunelleschi und Lorenzo
Ghiberti, war der künstlerischen Gebrauch des velum bekannt, durch den sich
ein Raum-Körper-Gefüge systematisch in Linien übersetzen lässt. Dafür wird ein
Fadengitter, d. h. ein durchsichtiges Tuch mit eingelegter Quadrierung verwen-
det, durch das ein Gegenstand perspektivisch wahrgenommen und gleichzeitig
in eine zweidimensionale Darstellung überführt werden kann. Im Grunde sig-
nalisierte das velum jenen Schnitt durch die Sehpyramide, den Alberti als Defi-
nition des Bildes festlegte. Räumliche Wahrnehmung wird in flächiges Sehen
übersetzt, und zwar alleine aufgrund der Linie, die sich wiederum in eine Reihe
von Punkten auflösen lässt. Dürer hat dazu bekannte Illustrationen verfasst, von
denen eine dazu hier abgebildet ist.
Büttner 2007; Büttner 2011; Edgerton 2002, S. 75–84; Hauschke 2009; Moffitt
2002; Peiffer 2005; Ring 2009; Verga 1979
Bauwerke als Gestalten interpretieren und diese Gestalten mit Hilfe von Linien
darstellen lassen.
Di Stefano 2000; Hubert 2008; Krautheimer 1956, S. 230–231; Lang 1965; Mitrović
2005
Das gesamte Bauwesen (res aedificatoria) besteht aus den Lineamenten und der materiellen
Struktur (structura). Der Sinn und Zweck der Lineamente liegt darin, dass man über eine rich-
tige und vollständige Methode verfügt, die Linien und Winkel anzupassen und zu verbinden,
in denen die Oberfläche des Gebäudes inbegriffen und beschlossen sein soll. Zur Leistung
und Aufgabe der Lineamente gehört freilich auch, dass sie den Gebäuden und Gebäudeteilen
einen passenden Ort, eine bestimmte Zahl, ein würdiges Maß und eine gefällige Anordnung
vorschreiben (praescribere), so dass die ganze Form und Gestalt (forma et figura) des Gebäudes
bereits in den Lineamenten selbst angelegt ist. Und nicht etwa, als ob das Lineament von der
Materie abhinge, sondern es verhält sich vielmehr so, dass wir dieselben Lineamente in meh-
reren Gebäuden wahrnehmen, nämlich wo in den Gebäuden ein- und dieselbe Form zu sehen
ist, d. h., wo ihre Teile und deren Lage und Anordnung in allen Winkeln und Strecken (lineas)
übereinstimmen. Daher steht es dem Geist frei, die Formen nach Belieben vorzuschreiben – rein
gedanklich und unter Ausschluss aller Materie; dies erreichen wir, indem wir Winkel und Stre-
cken in einer bestimmten Richtung und Verbindung notieren und festlegen. Wenn es sich aber
so verhält, dann wird das Lineament eine bestimmte und feststehende Vorschrift (praescriptio,
andere Lesarten: perscriptio, proscriptio) sein, die im Geist konzipiert, mit Hilfe von Linien und
Winkeln gemacht und von einem in Geist und ingenium gebildeten Menschen (animo et ingenio
erudito) durchgeführt wird.
im Sinne des Wettstreits der Künste (paragone) anderen Künsten wie zum Beispiel
der Bildhauerei vorzuziehen.
Lineamenti ist ein – zuvor schon von Lorenzo Ghiberti gebrauchtes – volks-
sprachliches Äquivalent des lateinischen (von Alberti* gebrauchten) Ausdrucks
lineamenta. Wie schon dieser Sprachgebrauch erkennen lässt, denkt Leonardo
die Zeichnung (disegno) von Linien her, insbesondere von solchen, die in der Lage
sind, „die fingierten Körper ein[zu]fassen“. Andererseits betrachtet er diese Line-
amente im Licht des Wortes disegno, das im Italienischen so viel wie ‚Absicht‘,
‚Plan‘ oder ‚Entwurf‘ bedeuten kann. Das Konturieren versteht er dementspre-
chend auch als Vorgabe eines Zieles und zielführende Regel. Die konturierende
Zeichnung ermögliche es den Bildhauern, „ihre Scheinbilder […] abzugrenzen
und zu vollenden (terminare)“ und lehre „alle handwerklichen Künste […] die
Erfüllung ihres Zwecks (il loro perfetto fine)“. Dinge werden vollendet, indem sie
bis an ihre jeweilige Grenze geführt werden, und es ist die Zeichnung, die diese
Grenze der Vollendung darstellt und anzeigt, wann sie erreicht ist.
Die Frage, inwiefern und auf welche Weise sich die Oberflächen von Körpern
mit Hilfe von Linien oder Lineamenten einfassen lassen, wird im vorliegenden
Text nicht gestellt. Das Wort terminare ist aber zweifellos im Doppelsinn von
‚vollenden‘ und ‚begrenzen‘ zu verstehen. Der erste Wortsinn wird durch die
Parallelisierung mit fine unterstrichen. Was den zweiten Sinn betrifft, so ist durch
andere Textstellen belegt, dass sich Leonardo die Oberflächen von Körpern gut
euklidisch als Grenzen (termini) gedacht und in dieser Hinsicht mit Linien und
Punkten verglichen hat. Fasziniert war er vor allem von dem Gedanken, dass
solche Grenzen einerseits keinen Ort oder Platz einnehmen und folglich unsicht-
bar, ja überhaupt nichts sind, während es andererseits ohne sie keine Figuren
geben könnte. Es scheint, als verdankten alle Figuren ihr Sein einem Nichts.
Die schöpferische Kraft der Linie (und somit der Zeichnung als Teil der
Malerei) wird auch in einem vermutlich zeitnah entstandenen Blatt des Codex
Atlanticus (CA 520r; Mailand, Bibliotheca Ambrosiana) beschworen, in dem Leo-
nardo unter anderem zu demonstrieren versucht, dass sich mit Hilfe „einfacher
Linien (semplici linie)“ hochkomplexe geometrische Körper konstruieren lassen,
und zwar ohne dass der Zeichner sich an einem Vorbild (esemplo) orientieren
müsste. Der Künstler stellt dort einen Zusammenhang mit geometrischen, spe-
ziell perspektivischen Konstruktionsverfahren her und beschreibt das von ihm
gezeichnete Ding – es handelt sich um einen komplex gekrümmten Doppelto-
rus – als einen „Körper, der aus der Perspektive des Leonardo Vinci geboren
wurde (corpo nato della prospettiva di Leonardo Vinci)“. Ein Vorbild ist hier wohl
deshalb nicht nötig, weil dessen teleologische Funktion, nämlich dass es anzeigt,
wann das Werk vollendet ist, von einem den Linien selber innewohnenden Poten-
tial zur vollendenden Abgrenzung übernommen wird.
Die Malerei gliedert sich in zwei Hauptteile, nämlich Lineamente (lineamenti), die die fingierten
Körper einfassen (circondano), welche Lineamente Zeichnung (disegno) genannt werden. Der
zweite heißt Schatten. Aber diese Zeichnung ist von solcher Exzellenz, dass sie nicht nur die
Werke der Natur erforscht, sondern unendlich mehr als jene, welche die Natur macht. Sie weist
den Bildhauer an, seine Scheinbilder auf wissenschaftlicher Grundlage (con scienza) abzugren-
zen und zu vollenden (terminare), und alle handwerklichen Künste, selbst wenn sie unzählbar
wären, lehrt sie die Erfüllung ihres Zwecks (insegna il loro perfetto fine). Und deshalb werden
wir zum Schluss kommen, dass sie nicht nur eine Wissenschaft sei, sondern, mit gebührendem
Namen, als Göttin im Gedächtnis zu behalten ist, welche Göttin alle vor Augen stehenden Werke
des höchsten Gottes wiederholt.
Zittern der Muskeln machte. Weiterhin, das zeigen seine Blätter ohnehin, habe
er menschliche Deformationen und Tiertypen in Analogie gesetzt und hier die
Kunst der Linienlektüre in Zeichnung überführt. Linien, so wird gefolgert, sind
Zeichen psychischer Dispositionen und fundieren eine Semiotik des Körpers,
dessen Entschlüsselung sich unter anderem Giambattista della Porta, Charles le
Brun, Johann Caspar Lavater* und Georg Christoph Lichtenberg widmeten. Auf
diese Weise ergibt sich eine seit der pseudoaristotelischen Schrift Physiognomika
aus dem 3. Jh. v. Chr. sowie den Äußerungen von Cicero, Quintilian, Plinius,
Seneca und Galen immer wieder aufgenommene Tradition frühneuzeitlicher phy-
siognomischer Schriften, die sich methodisch der körperlichen Erscheinung des
Menschen widmeten und dabei dem Linienverlauf des Gesichts einen herausra-
genden Stellenwert zuschrieben.
Es ist wohl wahr, die Züge (segni) des Gesichtes zeigen uns zum Theil die Natur der Menschen,
ihre Laster und ihre Geistes- und Gemüthsanlage. Aber […] die Linien (segni), die zwischen
Wangen und Lippen und den Nasenflügeln und der Nase eingefurcht oder um die Augenhöhlen
her gezeichnet sind, sind sehr deutlich bei lustigen Leuten, die oft lachen. Und diejenigen, bei
denen diese Linien nicht stark gezeichnet sind, sind Leute, die das Nachdenken betreiben. So
sind die, deren [S. 315] Gesichtstheile stark ausladen und tief markirt sind, viehische und zum
Zorn geneigte Menschen, von wenig Vernunft; und die, welche zwischen den Augenbraunen
tiefe Falten haben, sind zornig, so wie die, deren Stirn in die Quere tiefliniirte Furchen zeigt, an
geheimem oder offenbarem Jammer reiche Leute sein werden. Und so kann man Aehnliches aus
noch vielen Theilen schliessen.
Aber aus der Hand? – Da wirst du finden, es seien grosse Heerschaaren von Männern zur sel-
bigen Stunde unter dem Messer umgekommen, bei deren keinem die Zeichen in der Hand mit
denen der anderen die entfernteste Aehnlichkeit hatten, und so auch beim Schiffbruch.
Giorgio Vasari hat seinen berühmten Künstlerviten ein Proömium mit Einfüh-
rungen in die drei von ihm behandelten Künste der Architektur, Skulptur und
Malerei vorangestellt. Im hier zitierten Passus – sieht man von der Definition der
Malerei ab, wurde er dem Werk erst in der zweiten Auflage (1568) hinzugefügt –
ging es nicht nur darum zu beweisen, dass diese drei Künste auf einer gemeinsa-
men Grundlage, nämlich dem disegno, beruhen (und folglich an ein- und dersel-
ben neugegründeten Akademie in Florenz gelehrt werden konnten); das Prinzip
Barzman 2000; Burioni 2004; Ciaravino 2004; Frangenberg 2002; Härb 2015; W.
Kemp 1974; Kliemann 1991; Panofsky 1985; Roggenkamp 1996
Die Zeichnung (disegno), der Vater unserer drei Künste, Architektur, Bildhauerei und Malerei,
geht aus dem Intellekt hervor [S. 63] und schöpft aus vielen Dingen ein allgemeines Urteil, gleich
einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen (misure) überaus regelmäßig
(singolarissima, von E. Panofsky emendiert zu regolarissima) ist. So kommt es, daß die Zeich-
nung nicht nur in den menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in den Pflanzen,
Gebäuden, Skulpturen und Gemälden das Maßverhältnis (proporzione) des Ganzen in bezug auf
die Teile sowie das Maßverhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen erkennt. Und da
aus dieser Erkenntnis eine bestimmte Vorstellung (concetto) entspringt, und ein Urteil, das im
Geiste die später mit der Hand gestaltete und dann Zeichnung genannte Sache formt, so darf
man schließen, daß diese Zeichnung nichts anderes sei als eine anschauliche Gestaltung und
Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat (“una apparente espressione e dichiarazione
del concetto che si ha nell’animo”), und von dem, was ein anderer sich im Geiste vorgestellt und
in der Idee hervorgebracht hat. […] wenn dieser Disegno die Erfindung irgendeiner Sache aus
dem Urteilsvermögen gewinnt, dann ist es erforderlich, daß die Hand durch das Studium und
die Übung vieler Jahre geschickt und fähig sei, jegliche Sache, die die Natur geschaffen hat, mit
Feder, Griffel, Kohle, Stift oder anderem Werkzeug zu zeichnen und gut auszudrücken. Denn
wenn der Verstand gereinigte Entwürfe mit Urteil [S. 64] hervorbringt, lassen jene Hände, die
sich viele Jahre im Zeichnen geübt haben, die Vollendung und Vortrefflichkeit der Kunst und
zugleich das Wissen des Künstlers erkennen. […]
Die Künstler unterscheiden in ihren Benennungen verschiedene Arten von Zeichnung, je nach
den Eigenschaften. Diejenigen, die nur mit leichten Strichen der Feder oder eines anderen Zei-
chenwerkzeugs kaum angedeutet sind, heißen Skizzen (schizzi), wie an anderer Stelle erklärt
werden wird. Die, welche die äußeren Umrisse (le prime linee intorno intorno) zeigen, werden
Profile, Umrisse oder Linienzeichnungen (profili, dintorni e lineamenti) genannt. Und alle diese,
mögen wir sie nun Profile oder anders nennen, dienen sowohl der Architektur und der Skulptur
wie der Malerei; der Architektur aber am meisten, denn die Architekturzeichnungen bestehen
nur aus Linien, denn das ist, soweit es den Architekten betrifft, Anfang und Ende dieser Kunst,
weil der Rest, der mittels Holzmodellen, die nach diesen Linienzeichnungen gemacht sind, aus-
geführt wird, nichts weiter als Werk von Steinmetzen und Maurern ist. Doch in der Skulptur ist
die Zeichnung aller Umrisse notwendig, denn der Bildhauer bedient sich ihrer von Ansicht zu
Ansicht, wenn er jenen Teil entwerfen will, […] den er für jede Seite entweder in Wachs oder in
Ton oder in Marmor oder in Holz oder anderem Material machen will. In der Malerei dienen die
Linienzeichnungen (lineamenti) auf verschiedene Weise, aber vor allem, um jede Figur zu kontu-
rieren, denn wenn die Figuren gut gezeichnet sind und richtig und proportionsgemäß gemacht
sind, dann sind die Schatten und die Lichter, die man danach hinzufügt, die Ursache, daß die
Figur, die man gezeichnet hat, große Pla-[S. 65]stizität erreicht und sehr gut und vollendet wird.
Und daher kommt es, daß jeder, der diese Linien gut versteht und gut zu handhaben weiß, in
jeder dieser Künste durch Praxis und Urteil ausgezeichnet sein wird. […]
Da wir nun genügend darüber gesprochen haben, wollen wir im folgenden sehen, was die
Malerei ist. Sie ist also die Oberfläche einer Holztafel oder einer Mauer oder einer Leinwand,
die rings um die oben genannten Begrenzungslinien (intorno a lineamenti detti di sopra), die
mittels ei-[S. 66]ner guten Umrißzeichnung (un buon disegno di linee girate) die Figur umgeben,
mit Farbfeldern (campi di colori) bedeckt ist.
Der Maler Henri Testelin hatte bereits jahrzehntelang als Sekretär der Académie
royale de peinture et de sculpture in Paris gewirkt, als er zwischen 1675 und 1678
Tafeln zu den kunsttheoretischen Begriffen Riss (trait), Proportion, Ausdruck,
Helldunkel, Bildordnung (ordonnance) und Farbe zusammenstellte. Diese in
Form hierarchischer Begriffszergliederungen angelegten, 1680 publizierten
Tafeln können als Konkurrenzunternehmen zu den 1668 ohne akademische
Einwilligung von André Félibien, dem Günstling des Ministers Colbert, her-
ausgegebenen Conférences de l’Académie de peinture et de sculpture betrachtet
werden. Die Tafeln zielten auf eine übersichtliche und terminologisch verbind-
liche Darstellung des für die theoretische Erörterung (raisonnement) der Malerei
relevanten Stoffes, der in Vorträgen und Diskussionen der Akademiker behandelt
worden oder in Büchern wie Leonardo da Vincis Malereitraktat (Erstpublikation
Paris 1651) oder Abraham Bosses* Perspektivtraktaten zugänglich war. Zu einem
unbekannten Zeitpunkt stellte Testelin den sechs Tabellen stärker ausformu-
lierte und dabei inhaltlich angereicherte Zusammenstellungen von Definitionen,
Erläuterungen und Regeln voran, um das Ganze viele Jahre nach seiner aus kon-
fessionellen Gründen erfolgten Entlassung (1681) im holländischen Exil als Buch
herauszubringen (Den Haag: Matthieu Rogguet, 1693/94, Paris 21696).
Die hier präsentierten Passagen sind dem ersten der sechs Zusammenstel-
lungen entnommen. Testelin folgt der an der Akademie lange Zeit maßgeblichen
Lehre seines Freundes Charles Le Brun, insofern er die beherrschende kunstthe-
oretische Stellung der Zeichnung und ihren Vorrang gegenüber der Farbe deut-
lich markiert: Im Riss sind auch schon Ausdruck, Proportion und Bildordnung
angelegt, und wenn sich der Riss am Ende, sozusagen nach vollbrachtem Werk,
hinter Helldunkel und Farbgebung zurückzieht, so bedeutet dies zugleich, dass
letztere der bildlichen Darstellung nichts Wesentliches hinzuzufügen vermögen.
In der Terminologie und in den (hier nicht zitierten) perspektivtheoretischen
Passagen zeigt sich jedoch der Einfluss von Bosse, obwohl dieser schon 1661
aus der Akademie ausgeschlossen worden war. Testelin nennt die Zeichnung
zwar – in offenkundiger Anlehnung an Vasari* – den „Vater“ der Künste, benützt
aber kaum die französische Übersetzung des italienischen Wortes disegno (sie
lautete dessin oder dessein), sondern hält sich wie Bosse an den alten, schon
bei Villard de Honnecourt* nachweisbaren Ausdruck trait, den man mit ‚Strich‘,
‚Linienzeichnung‘ oder eben ‚Riss‘ übersetzen kann. Ähnlich wie Bosse betont
er auch, dass es sich dabei um eine physische Markierung handelt. Den beson-
deren kunsttheoretischen Rang der so verstandenen Zeichnung leitet der Theo-
retiker nicht etwa, wie es Vasari und an ihn anschließend André Félibien (Des
principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture, et des autres arts qui en
dependent. Avec un dictionnaire des Termes propres à chacun des Arts, Paris 1676)
getan hatten, aus ihrer geistigen Herkunft ab; vielmehr versucht er ihren Primat
durch eine dem Riss innewohnende universale Darstellungsmacht zu begründen.
Diese erstrecke sich auf alle Figuren, die das Auge wahrzunehmen und die Einbil-
dungskraft vorzustellen vermag, nämlich auf alle sichtbaren oder in der Phanta-
sie vorstellbaren Körper(oberflächen), deren Sein Testelin als ein Begrenzt- oder
Umrissen-Sein bestimmt. Man darf folgern, dass Farben, rein für sich genommen,
gar nichts sind.
Sofern als Grundbegriff der Zeichnung der trait und somit die gezogene
Linie angesetzt wird, ist von Anfang an ein Bewegungsmoment mit im Spiel.
Testelin kann damit eine sprachliche Brücke nutzen, die vom Riss als Eingren-
zung und somit „Vater“ der Form zu dem für die akademische Doktrin wesentli-
chen Anspruch führt, nicht nur körperliche Figuren, sondern mittels dieser auch
Gemütsbewegungen bildlich darstellen zu können, etwa in Gestalt unterschied-
lich bewegter Gesichtszüge.
Sentimens des plus habiles peintres sur la pratique de la peinture et sculpture, mis
en table de préceptes, avec plusieurs discours académiques, ou Conferences tenuës
en l’Académie royale desdits arts
Paris: La veuve Mabre-Cramoisy, 1696, S. 9–10.
Übers. v. Wolfram Pichler.
Zunächst ähnelt Leonardos Definition der Linie noch sehr der Albertis* (S. 322):
Die Linie ist Abschluss einer Fläche und resultiert selbst wiederum aus dem
Punkt – dem kleinsten geometrischen Element, das zwischen Sichtbarkeit und
Unsichtbarkeit einen ontologisch prekären Platz einnimmt. Anders als bei Alberti
versteht Leonardo jedoch die Linie nicht als Perlenkette aus Punkten, sondern als
sichtbare Konsequenz eines dynamischen, in Bewegung gesetzten Punktes (unter
anderen Voraussetzungen wird Paul Klee* Ähnliches formulieren). Diese Überle-
gung verändert das gesamte System der Malerei, das nun in der Zeit stattfindet
und auch noch die Eigenbewegung des wahrnehmenden Betrachters bedenkt.
Leonardo zielt auf eine Malereiwissenschaft und in diesem Sinne auch auf
eine durchdachte Darstellung perspektivischen Sehens. Hier unterscheidet er
drei Teile: Der erste basiert ganz auf der Linie, die er als Umrisszeichnung von
Körpern (lineamenti de’ corpi) versteht. Diese wird von ihm an manchen Stellen
auch als disegno bezeichnet und dient der perspektivischen Figurierung. Als
zweiter Teil folgt die Zu- bzw. Abnahme der Farbintensität und als dritter etwas,
das Leonardo als ein Verschwimmen der Konturen beschreibt und das mit der
Schattenbildung und plastischen Modellierung der Körper zu tun hat. Aus opti-
schen Gründen erscheinen die vorderen Umrisse eines Gegenstandes dem Auge
klarer und deutlicher als die hinteren, argumentiert Leonardo, so dass die Ent-
fernung des Gegenstandes zum Auge des Betrachters entscheidend ist für jede
perspektivische Wiedergabe. Damit wird das wahrnehmende Subjekt in den Mit-
telpunkt der Überlegungen gestellt, denn es geht nicht allein um die graduelle
Zu- oder Abnahme der Größe des Objekts, sondern auch und vor allem um die
Unmöglichkeit, dessen Umrisse klar und deutlich zu erkennen. Aufgrund des
trennenden Zwischenraums zwischen Körper und Betrachter, der überbrückt
werden muss und zeitliche Verzögerungen im Wahrnehmungsvorgang verur-
sacht, entzieht sich der Gegenstand immer wieder einer optischen Scharfstellung;
unser Sehen ‚hinkt‘ quasi dem Gesehenen hinterher. Um eine wahre Wiedergabe
der Natur zu erreichen, muss deshalb jeder Linienzug im Bild dynamisiert und
d. h. temporalisiert erscheinen.
Eine vergleichbare Beobachtung dynamischer Linienzüge hatte Leonardo in
seinen Studien von fließendem Wasser, Wasserwirbeln, Strömungen und Winden
gemacht. Zugrunde liegt ihnen ein Verständnis der Natur als lebendiger, pulsie-
render, in der sich physikalische Kräfte sowohl aufbauen als auch erschöpfen
können. Einer solchen Anschauung zufolge fungiert die Linie weniger als Grenze
denn als Schwelle oder Übergang zwischen den einzelnen Körpern oder Substan-
zen, als Teil eines Transformationsprozesses, der Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit
umschlagen und Natur in Kunst übergehen lassen kann.
Bd. I [S. 3] Wissenschaft nennt man dasjenige verstandesmässige Abhandeln, das bei seinen
(oder seines Gegenstandes) allerersten Anfängen anhebt, über welche hinaus in der Natur nichts
Anderes mehr ausfindig zu machen ist, das wieder noch einen Theil an selbigem Wissen aus-
machte. So ist es z. B. in (der Lehre von) den stetigen Grössen, in der Wissenschaft der Geometrie
nämlich. Beginnt man hier mit der Fläche der Körper, so findet sich, dass diese ihren Ursprung
in der Linie, dem Abschluss selbiger Fläche habe; und hieran lassen wir uns noch nicht genügen,
denn wir erkennen, es habe die Linie ihren Abschluss im Punkt, und der Punkt sei dasjenige,
über das hinaus es nichts Kleineres mehr gebe. So ist also der Punkt der erste Anfang der Geo-
metrie, und weder in der Natur, noch im menschlichen Geiste kann sonst irgend etwas Anderes
existieren, das für den Punkt den Anfang abgäbe.
Wirst du nämlich sagen, die mit der äussersten, schärfsten Spitze eines Zeichenstiftes ausge-
führte Berührung einer Fläche, das sei die Herstellung und Entstehungsursache des Punktes, so
ist das nicht wahr, und wir werden vielmehr sagen: diese derartige Berührungsstelle sei eine, sich
um ihr eigenes Centrum [S. 5] herlegende Fläche, und hier in der Mitte sei der Sitz des Punktes.
Dieser Punkt ist nicht vom Stoff selbiger Fläche, und weder er, noch alle Punkte der Welt sind
im Stande, auch wenn sie vereinigt wären, gesetzt nämlich, man könnte sie vereinigen, dass sie
zusammen irgend welches Stück einer Fläche ausmachen würden. Und angenommen, du stell-
test dir vor, ein Ganzes sei aus tausend Punkten zusammengefügt (composto da mille punti), so
könnte man, indem man von der Grössenerstreckung dieser Tausend ein Stück abtrennte, sehr
wohl sagen, selbiger Theil sei ebenso gross, wie das Ganze, dem er angehörte. Es wird das mit
dem Beispiel der Null oder dem Nichts dargethan, dem zehnten Zeichen der Arithmetik, welches
dies Nichts mittelst einer 0 darstellt und, hinter eine Einheit gesetzt, bewirkt, dass diese „Zehn“
ausgesprochen wird, und dass sie „Hundert“ heisst, wenn du es doppelt hinter sie setzest, und
welches so weiter, bis in’s Unendliche die Zahl, der man es anhängt, jedesmal verzehnfacht; es
selbst an und für sich aber gilt nicht mehr, als Nichts, und alle Nullen der Welt sind, was ihren
Gehalt und Werth anlangt, gleich einer einzigen Null.
Keine menschliche Forschung kann man wahre Wissenschaft heissen, wenn sie ihren Weg nicht
durch die mathematische Darlegung und Beweisführung hin nimmt. Sagst du, die Wissenschaf-
ten, die von Anfang bis zum Ende im Geist bleiben, hätten Wahrheit, so wird dies nicht zugestan-
den, sondern verneint aus vielen Gründen, und vornehmlich deshalb, weil bei solchem reingeis-
tigen Abhandeln die Erfahrung (esperientia) […] nicht vorkommt; ohne dies aber gibt sich kein
Ding mit Sicherheit zu erkennen. […]
[S. 9] Die Wissenschaft der Malerei erstreckt sich auf alle Farben der Flächen und auf die Figuren
der von diesen eingekleideten Körper, sowie auf deren Nähe und Entfernung mit den gebühren-
den Abstufungen der Abnahme, je nach den Graden der Abstände. Und es ist diese Wissenschaft
die Mutter der Perspective, d. h. der Lehre von den Sehlinien.
Selbige Perspective wird in drei Theile getheilt. Der erste von diesen enthält nur die Linienzeich-
nung der Körper (lineamenti de’ corpi); der zweite handelt von der Abnahme der Farben in den
verschiedenen Abständen; der dritte vom Verlorengehen der Fügung (congiontione; vermutlich
cognitione: Deutlichkeit) der Körper in verschiedenerlei Entfernungen.
Der erste aber, der sich auf die Linien (lineamenti) und Umrisse (termini) der Körper erstreckt,
wird Zeichnung (dissegno) genannt, d. h. Figurirung (figuratione) jeglichen Körpers. Von ihr geht
eine andere Wissenschaft aus, die sich auf Schatten und Licht erstreckt, oder, wie wir sagen
wollen, auf das Hell und Dunkel (chiaro e scuro). Diese Wissenschaft ist von grosser Erörterung
und Wichtigkeit; jene von den Sehlinien aber hat die Wissenschaft der Astronomie geboren,
welche einfache Perspective ist, denn es sind lauter Sehlinien (linee uisuali) und Pyramiden-
schnitte. […]
[S. 177] Der Gegenstand, oder vielmehr die Figur des Gegenstandes, der dem Auge am nächsten
ist, wird sich am bestimmtesten und schärfsten von Umrissen zeigen. […] Daher ist zu schlies-
sen, dass in einem Werk, dem das Auge des Beschauers aus der Nähe beikommen kann, alle
Theile, ihrer Abstufung gemäss, mit grösstem Fleisse ausgeführt sein sollen. Und überdem seien
die vordersten Partien mit deutlichen und bestimmten Umrissen von ihrem Hintergrund abge-
grenzt, die entfernteren aber seien wohl gut ausgeführt, jedoch mit verblasenen Umrissen, d. h.
mit unbestimmteren oder weniger kenntlichen; und bei den noch weiter entfernten beobachtest
du auch fernerhin ganz das eben Gesagte, d. h. du machst die Umrisse noch undeutlicher, darauf
auch die Gliedmaassen und endlich das Ganze, an Figur sowohl, als in der Farbe.
[S. 463] Machst du Dinge, die sich in weiten Abständen befinden, deutlich und scharf, so werden
sie nicht entfernt, sondern nahe aussehen. So mache also, dass sie in deiner Nachahmung so
viel Deutlichkeit haben, als ihnen nach ihrem Abstand zukommt, und ist der Gegenstand, der
dir zum Object dient, von verschwommenen und zweifelhaften Umrissen, so mache du es in
deinem Abbild ebenso.
Entfernte Dinge zeigen sich aus zwei verschiedenen Ursachen mit verschwommenen und zwei-
felhaften Umrissen. Die eine von diesen ist, dass das Bild des entfernten Gegenstandes unter so
kleinem Winkel zum Auge gelangt und sich so verjüngt, dass es wie ganz winzige Dinge thut, bei
denen das Auge, auch wenn sie ihm noch so nahe sind, nicht [S. 465] zu erkennen vermag, von
welcher Figur ihr Körper sei, wie z. B. die Krallen an den Zehen der Ameisen und Aehnliches. –
Die zweite Ursache ist, dass sich zwischen das Auge und die entfernten Dinge so viel Luft legt,
dass sie dicht und körperhaft wird […].
Bd. II [S. 103] Durch die Entfernung werden die Dinge zweideutig (ambigue) und zweifelhaft
(dubbiose) von Aussehen, so mache sie also auch mit solcher Verschwommenheit (confussione),
sonst werden sie in deiner Malerei nicht ebenso entfernt aussehen. Und umschreibe (terminare)
ihre Grenzen (confini) nicht mit bestimmter Umränderung (terminazione), denn die Grenzen sind
Linien (linee), oder Winkel (angoli), und da sie also von den kleinen Dingen die letzten an Klein-
heit sind, so sind sie nicht etwa nur in der Ferne, sondern auch in der Nähe unsichtbar.
Sind die mathematische Linie (linea) und ebenso der Punkt (ponto matematico) unsichtbare
Dinge, so ist der Umriss der Gegenstände, auch in der Nähe, gleichfalls unsichtbar, denn auch
er besteht nur aus Linie […]. So wirst du Maler demnach am wenigsten die vom Auge entfernten
Dinge genau umrändern. Denn in der Entfernung werden nicht nur die Umgrenzungen, sondern
ganze Körperpartien unbemerklich.
drei räumlichen Vektorialen jedoch ist der dimensionslose Punkt. Dürer erklärt
ihn gleichermaßen zum geometrisch-präzisen wie phantastischen Instrument
des Künstlers, denn man muss ihn sich vorstellen wie einen Ball, den man hoch
in die Luft oder in die Tiefe fallen lassen kann – so hoch oder tief, „da hyn jch
doch mit dem leib nit reichen kann“ –, alleine mithilfe der Imaginationskraft.
Alle Figuren lassen sich aus ihm bilden, und so ist auch der Künstler „inwen-
dig voller Figur“ (Hammerschmied 1997, S. 170). Deshalb sind Dürers Propor
tionslehre und Underweysung der Messung und seine scheinbar jenseits der
Geometrie frei flottierenden, mäandrierenden Linienzüge in seinem graphischen
Werk eng aufeinander bezogen: In den Randzeichnungen des Gebetbuchs von
Maximilian I. beispielsweise wird das figurierende Spiel der Phantasie in Linien-
zügen gebannt, die „flatternde Haare, Bänder, Fahnen, Gewänder und Wolken,
de[n] Schmuck der Panzer und Schabracken, […] alle menschliche und dingli-
che Gestalt überhaupt“ darstellen, aber sich auch in „allerlei Getier, natürliche[s]
und fabelhafte[s], dessen Formen mit den Ranken übereinstimmen“, verwandeln
können (Hetzer 1982, S. 275). Nicht umsonst hatte Heinrich Wölfflin seinen kunst-
historischen Grundbegriff des Linearen an Dürers „Produkten der reinen Linien-
kunst“ (Wölfflin 1921, S. 38) festgemacht.
Bach 1996; Crous 1933; Edgerton 2002, S. 75–84; Felfe 2015; Hetzer 1982; Hofmann
1971; Holländer 1988; Justi 1902; Parshall 2013; Peiffer 1997; Wölfflin 1921
Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen
unnd gantzen corporen
Nürnberg: Andreae, 1525, S. 7–11, 28–29.
Im anfang thut not / so man die iungen / messen will leren das sie wissen/ was der grund sey
darauß man myst / vnd wie da gemessen wirdet / Es sey eyn newerdachtz / oder forgemachts
ding / Dreyerley ding sind zuͤ messen / Erstlich ein leng / die weder breyt noch dick ist / Darnach
eyn lenge die ein breyten hat / Zum driten ein lenge / die ein breyten vnd dicken hat / Diser
aller ding anfang vnd end sind punckten / Aber eyn punckt ist ein solch ding / das weder Groͤ ß
Leng Breyt oder Dicken hat / Vnd ist doch ein anfang vnd ende / aller leiblichen ding / die man
machen mag / oder die wir in vnsern synnen erdencken můgen / Wie dann das die hochuer
stendigen / diser kunst woll wyssen / vnd darumb erfuͤ llt keyn punckt keyn stat / dann er ist
vnzerteylich / vnnd er mag doch auß vnnsern synnen oder gedancken / an alle end oder ort
gesetzt werden / Dann ich mag mit dem synn ein punckten hoch in lufft werffen / oder in die
tyffen fellen / da hyn jch doch mit dem leib nit reichen kan / Aber damit die iungen verstendig in
gebreuchlicher arbeyt werden / So will ich inen den punckten als ein gemel mit eym tupff / einer
federn fuͤ rsetzen / Vnd das wort punckt darbey schreiben / damit der punckt bedewt wirdet /
punckt / . Wenn nun diser punckt / von seynem ersten anfang / an eyn ander ende getzogen
wirdet / so heyst es eyn Lini / vnnd dise Lini ist eyn lenge / an alle dicke vnd breyten / vnd mag
getzogen werden so lang man will. Dise Lini will jch mit einem geradenstrich hie entgegen mit
der federn auffreyssen / vnnd den namen Lini darauff schreiben/ Lini Auff das die vnsich-
tig Lini / durch den gerade ryß im gemuͤ t verstanden werd / Dann durch solche weyß muß der
innerlich verstand im eussern werck angetzeigt werden / Darumb will ich alle ding / die ich in
diesem buͤ chlin beschreib / auch darneben auffreissen / auff das meyn darthon /die iungen zů
einer einbildung vor augen sehen / Vnnd dest baß begreiffen. Nun ist zuͤ mercken / das die Lini
mancherley weyß getzogen muͤ gen werden / vnnd sonderlich sind dreyerley Linien / darauß vill
zuͤ machen ist / Zum Ersten ist eyn gerade Lini / Zum Andern die Cirkellini / darnach ist noch eyn
krume Lini/ die angeferdt mit der hand / oder von punckt zuͤ punckt getzogen mag werden / wie
dann das etlich kunst antzeygen / dardurch mancherley verendrung komen / Aber diese krume
Lini / weyß jch nit baß zů nennen / dann eyn Schlangen Lini/ darumb das sie hyn vnd her getzo-
gen mag werden / wie man will / Des zů klarem verstand /hab jch sie hie vnden auffgeryssen vnd
jre namen auff ygliche geschrieben.
[S. 8] Es ist zuͤ merckenn / das dise obgedacht drey Linien muͤ gen kurtz oder lang getzogen
werden / Vnd so mans erreychen moͤ cht / vnd die zeyt nit hyndert / moͤ cht die gerad Lini ewiglich
hynauß getzogen / oder auffs wenigst gesunnen werden / Sy ist auch dreyerley weyß zuͤ brau-
chen / alß auffrecht / vber zwerch / vnd vber ort / Aber die zirkellini / mag gantz oder zum teil
gebraucht werden / vnd kannit lenger getzogen werden / den von anfang wider dahyn / da sie
angefangen hat / soll sie aber fort gen / so kombt sie wider in den vorigen vmlauff / Diese zirkel-
lini mag groß oder kleyn fuͤ r genůmen werden / So man sie aber steygen macht / oder vndersich
fellt / so wirt eyn Schlangen lini darauß. Aber die Schlangen Lini ist vnentlich zuͤ uerendern/
darauß man wunderbarlich ding mag machen / Es sey in die Leng / Weyt / Hoͤ ch /oder Tyff /
vnd wie es wißlich ist / das man allein vil seltzams dings / mit eyner Lini machen kan / da von
die nichts wyssen / die jm nit nach dencken / vnd auch hie wenig da von gemeldet wirdet / ist
woll zuͤ dencken / was mit zweyen dreyen oder vill Linien auß zuͤ richten sey / Vnnd sonderlich
so die Dreyerley vnderschyd der Linien / mit allen zuͤ fellen zůsamen gebraucht werden / Dann
es sind vil Linien zůmachen / die an hilff andrer Linien nit kuͤ nnen getzogen werden / Auch
ist not zů wyssen / was Paralell lini sind / im Latein also genant / die jch in vnserm deutzsch
parr Lini will heissen / Diß sind soͤ lch Lini / das sie allweg gleych weyt von eynanderlauffen /
man zych sie schlecht / oder Schlangenkrum / oder in zirkels weiß / Man soll auch wyssen / wo
zwů Lini nicht gleych miteynander lauffen / das sie im end zuͤ samen komen / vnd eyn spitzen
winckel machen / Darumb zwey Perpendicular neben eynander / Das sind zwů bleyschnuͤ r /
die da neben eynander hangen / geben nit gentzlich zwů auffrecht Barlini / Dann sie lauffen
im mittel punckten des erdrichs zuͤ samen / vnd machen eyn spitzigen winckel / Also thůnt all
Linien / die nit gleich miteynander lauffen / Eintweder sie komen im endt zuͤ samen / oder aber
sie lauffen stettig weytter von eynander / wie vorgemelt / Das aber die auffrechten wag Linien fuͤ r
barlinien gebraucht werden / ist auß der vrsach / das sie so weyt als nemlich biß ins mittel des
erdrichs zuͤ lauffen haben / der halb das vnserm synn im gesicht vnmerckenlich wirdet vnd ist /
Aber diese sort der bar vnd wag linien / hab ich hie vnden auff gerissen / gerad schlangenkrum /
zirckelkrum / vnd wagrecht.
Wo man nun eyn wenig verstanden hat / was die Lini seyn / vnd jr vnderschyd / Sowill jch fuͤ rbaß
reden von der selben leng die auch eyn breytten hat / die allweg mit gee / sie werd schlecht
oder krum getzogen / Die nent man Planum im latein / aber in deutzsch weyß jchs nit anders zuͤ
nennen / Dann ein ebne / wie woll mancherley vnderschyd darinn ist / wie hernach folgt / Eyn
ebne moͤ cht erdacht werden die auff allseyten keyn end het / Aber von der selben woͤ ll wir hie nit
handlen / Alleyn von denen die da anfang vnd endt haben / vnd die mit linien vmbtzogen muͤ gen
werden / auff das sie eyn gestalt gewynnen / Der selben sind mancherley / der jch eynteyls hie
will anzeygen / Die erst ebne ist gantz gleich / also das sie weder hoch noch nyder oder krum ist/
Zum andern ist [S. 9] eyn ruͤ nde ebne / wie eyn halbe kugel / Zum drytten / ist eyn hole ebne /
wie eyn ruͤ nder kessel / Zum vierden / ist eyn beůlette ebnen / an etlichen enden hoch an den
andern nyder / Es sind auch ebenen wie eyn breytter reiff / eyn vnd außbogen / mancherley weyß
verkert / dann alle dise ding soͤ llen vnnd moͤ gen zů der nutzbarkeyt gebraucht werden in den
wercken / wo das nit geschicht / brichtman das haubt vergeblich mit / Erstlich will jch die erst
recht ebne mit einer rechten firung vmbtzyhen / dem thů jch also / jch reyß eyn zwerch lini .a.b.
damit far ich eben vndersich / als ferr so lang sie ist / so wirdet darauß eeyn gefirte ebne / Aber
eyn ruͤ nde blatte ebne mach ich also / Ich reyß eyn gerade lini .a.b. vnd halt die bey dem endt a.
still an eyner stat. Aber mit dem end .b. far ich herumb / von dem anfang biß jch herwider vmb
kome / So macht das end .b. eyn růnden abschnyt / vnd bleybt der ort .a. eyn mittel punckt / vnd
von disem punckten .a. ist vberall gleich weyt / an alle end der růnden ebnen / Solchs hab ich
hie vnden als auff geryssen.
So nun von der leng vnd breyte / das ist die ebne ein wenig geredt ist / was sie sey / So will jch
nun sagen was die leng vnd breytte mit sambt der dicke sey / das sind die Corpora / auß den
selben will jch etliche antzeygen vnnd leren / wie sie gemacht muͤ gen werden / Erstlich nym die
vorgemacht gefirt ebne .a.b.b.a. vnd far gerad mit vbersich / als hoch als breyt sie ist / so wirdt
ein recht gefirter wuͤ rffel darauß / von gleichen seyten / von gleichen ebnen / vnd von gleichen
wincklen / Darnach nyn die vorgemacht rund ebne / vnd reis aus dem mittel punckten .a. gerad
hynauß byß ans endt der runden / da setz ein .c. also das .c.a.b. ein gerade lini sey / vnnd setz
auff die ein seiten auserhalb der runden ebne ein .d. auff die ander seyten .e. Aber .c.a.b. sey die
art / daran mus dise ebne umgewent werden vom .d. biß zum .e. so reist diser runder ryß / ein
gantz runde kugel / die von aussen allenthalben gleich weyt zů jrem mittel punckten .a. hat /
Doch mus im vmb wenden die art in den punkten .c.b. stett bleiben / also hastu zwey volkome
Corpora / Aber kein volkumener Corpus ist / das allenthalben gleicher ist dann ein kůgel / Dise
zwey Corpora hab ich auff geryssen.
[S. 10] Wo nun angetzeygt ist / was ein lini / eyn breyte oder ebne / vnd eyn Corpus / das ist eyn
leib sey so muß man auch wyssen / das soͤ lche ding / sie seyen groß oder kleyn / durch kunst
gemessen muͤ gen werden / dann das maß ereicht das fern vnd nahent / Nun will jch erstlich
wider vornen anheben / vnnd will etlich gemessen linien zyhen / die dann in etlichen wercken
dinstlich zů brauchen sind / Es ist wyßlich / das auß einer lini allein villerley gestalt getzogen /
vnnd im auffreissen / angetzeigt muͤ gen werden / Aber erstlich will jch ein schnecken lini / mit
dem zirckel zyhen / auff einer ebne / dann es wirdet sich der planus oder ebne / stettigs muͤ ssen
brauchen lassen / es sey vmb der lini oder Corpus willen / Dise schneckenlini reiß jch also / jch
mach ein auffrechte lini die sey oben .a. vnden .b. die theyl jch mit dreyen punckten .c.d.e / in
vier gleiche felt / Darnach teyl jch .d.e. mit einem punckten .f. in zwey gleiche felt / darnach setz
jch auff die recht seytten der lini ein .g. auff die linck ein .h. darnach nym jch ein zirckel / vnd setz
jn mit dem einen fuß in den punckten .d. vnnd mit dem andern in den punckten .a. vnd reiß auff
die seyten .h. byß vnden in den punckten .b. Darnach nym jch den zirckel vnd setz jn mit dem ein
fuß in den punckten .f. vnd mit dem andern in den punckten .c. vnnd reyß gegen der seyten .g.
byß vnden in den punckten .b. Aber nym jch den zirckel / setz jn mit dem ein fuß in den punckten
.d. vnd reiß gegen der seyten .h. mit dem andern fuß auß dem punckten .c. byß in den punckten
.e. Darnach setz jch den zirckel mit dem einen fuß in den punckten .f. vnd den andern in den
punckten .d. vnnd reiß von dann auff die seyten .g. byß in den punckten .e. Darnach setz jch den
zirckel auff die lini .a.b. mit dem einen fuß / mitten zwischen .d.f. vnd den andern fuß setz jch
in den punckten .d. vnd reiß von dann auff die seytten .h. byß in den punckten .f. Also ist dise
lini vertig / vnd ist zuͤ uil dingen gebreuchlich vnd vnder andern / ist sie zů einem horneiffen /
an ein capitel nuͤ tzlich / Vnd das destbaß zůuersteen/ hab jch zwůe gerad zwerchlini hie vnden
auffgeryssen / auß den zweyen punckten .a.c. vnd von der schnecken lini hyndersich getzogen.
Nun will jch ein andre schnecken lini / vnd einer andern weiß zihen / die in vil dingen zů brau-
chen vnd fast nuͤ tzlich ist / wirdet auch vil darauß erlernt / sie ist auch an der vorigen lini stat zů
brauchen / jren anfang nym jch auß dem mittel punckten / von dann geet jr leng in die weyten /
so fern man will / doch bleybt jr felt / zwischen der vberlegung der linien alweg gleich weit
darzwischen / allein im ersten vmlauff nit / aber dise schneckenlini / mach jch also jch setz ein
punckten .a. vnd reiß ein zirckelris darum so weit jch die schnecken lini will lauffen lassen /
Vnd teyl dise runde lini mit 12. punckten in .12. gleiche felt / darnach reiß jch auß dem Centro
.a. ein gerade lini vbersich byß an den runden ryß der ende sey .b. in den selben punckten setz
jch .12. vnnd heb die teylung der punckten des runden ryß an zuͤ zelen gegen der lincken hand
/1/2/3/etc. byß herum auff die 12. Aber die gerad lini .a.b. teyl jch mit .23. punckten in .24. gleiche
felt vnd heb am .a. an zu zellen /1/2/3/etc. Darnach nym jch ein gerad richtscheyt vnd stich die
punckten der itzt gemelten lini .a.b. darauff vnd betzeychens mit jren zyffern / vnd leg das bey
der myndern zal mit dem ein ort .a. auff den Centrum .a. vnd / mit dem ort .b. auff den zirckelryß
auff den punckten .i. vnnd wo dann das richtscheyt mit seim punckten .i. hyn zeygt [S. 11] da setz
jch auch ein punckten .i. Also far jch zuͤ ring herumb zů allen zalen im zirckelryß vnd laß allweg
das richtscheyt im Centro .a. stet bleiben / so werden die punckten des richtscheyt alle punckten
der schneckenlini antzeygen durch die zal wo man sie hyn setzen soll / Darumb merck eben auff
die zal so kanst du nit jrre werden / Aber so die lini zwyfach vber einander laufft / vnd im zirckel-
riß nun /12/ stett / aber im vmlauffeten richtscheyt .23. so hab acht das die zal des richtscheytz
ordenlich fuͤ rge / dann zu der zal .1. kumbt .13. auff /2 /14 /3 /15 /4 /16 /5 /17 /6 /18 /7 /19 /8 /20 /9 /21
/10 /22 /11 /23/ man mag auch dise lini vilfeltig vbereinander zihen / wer seyn bedarff / der mehr
die zal im richtscheyt mit den punckten / vnd laß die punckten im zirckelryß vngeendert / dise
schnecken lini ist hiebey also auff geryssen mit allen zyffern / So man aber dise schnecken lini
recht sehen vnd brauchen will / muß man die zirckellini vnd das puncktirt richtscheyt mit allen
jren ziffern dannen thuͤ n / dardurch dann die schneckenlini gemacht ist worden / vnd allein die
schnecken lini mit jren punckten bleiben vnd ledig steen lassen / vnd wie sie getzogen sollen
werden / also hab jch sie zweymal wie obgemelt hie nach auffgeryssen / Vnnd sonderlich hab
jch zů der ledigen schneckenlini zwů gestrackt linien gethan vnnd vberzwerch getzogen gegen
der lincken hand / zuͤ gleichenn wincklen / die ober auß dem punckten .12. da das .b. stett / aber
die vnnder von dem punckten .12. der schnecken lini /auff das man sehe was vnderschydt sie
gegen der ersten hab.
[…] [S. 28] Waer ist es / das zwů linien / die da in einem punckten eyn spitzigen winckel machen /
allweg enger zůsamen getzogen muͤ gen werden / vnd doch ewiglich nymer mehr zuͤ samen komen
des zuͤ einer antzeigung vernym es also / Es seyen zwů barlinien / die oͤ ber .a.b. die vnder .c.d.
aber die zwů linien soͤ llen bey jren enden .b.d. an end hynauß getzogen werden / oder im synn
gedacht / So du dann die oͤ ber barlini .a.b. gradirst / mit punckten vnd zallen an entlich / vnnd
zeuͤ chst dann eyn lini / von der vndern lini / auß dem punckten .c. an die oͤ ber lini .a.b. in den
punckten .1. so macht dise ortlini .c.1. ein spitzwinckel .c. Darnach zeuͤ ch fuͤ r vnd fuͤ r / von dem
punckten .c. gerad linien / an die [S. 29] oͤ ber lini .a.b. in all punckten .2/3/4/etc. also in eyn
vnentliche zal / so neygt sich dise ortlini stettiglich / neher zu der barlini /c/d/ vnd macht fuͤ r
vnd fuͤ r eyn engern winckel / darumb das sie stetz neher zu der andern laufft / vnd komen doch
ewiglich nymer meer zůsamen / wie jch das hie vnden hab auffgeryssen.
Es mag ein ewige lini erdacht werden / die da stettiglich zů eim Centrum eynwartz / auch an dem
andern teyl in die weyten vber einander laufft / vnd nymer mehr zů keym end kombt / Dise lini
kan man mit der hand der vnentlichen groͤ sse vnd kleine halben nit machen / Dann jr anfang
vnd end so sie nit sind / ist es nit zů finden / das fast allein der verstand / Aber jch will sie vnden
mit eim anfang vnd end / so vil dann muͤ glich ist antzeigen / Ich heb an bey eim punckten .a.
vnd zeuch dise lini zirckelsweis hynein / als solt sie zuͤ eim Centrum lauffen / vnd so offt sie in
eynander laufft / brich jch der weiten zwischen der lini ein halbteil ab / des gleichen thů jch / so
jch mit der lini vom .a. herauß lauff / so offt jch mit jr vber eynander lauff / so offt gib jch der lini
eyn halbteyl zů / von der weyten / Also laufft dise lini ye lenger ye enger hynein / vnnd lenger ye
weyter herauß / vnnd kumbt doch nymer meer zů keim ende / weder hynein noch herauß wie jch
das zůuerstehen hie vnden hab auffgeriessen.
Giorgio Vasari ist innerhalb der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts vor allem als
Vertreter des Primats von disegno bekannt geworden, neben Federico Zuccari
, der zwischen einem disegno interno, der Idee eines Kunstwerks, und dem
disegno externo, der Realisierung dieser Idee durch den Künstler, unterschied.
Aber es gibt auch eine Anekdote in Vasaris Viten, die sich ganz auf die handwerk-
liche Ausführung der Linie gründet. Sie handelt von Giottos Geschicklichkeit,
mit dem „Arm fest in d[er] Seite, damit er ihm als Zirkel diene“, und quasi ohne
ihn zu bewegen, ein ‚O‘ in roter Farbe zu zeichnen. Hier wird das Körperwissen
des Künstlers thematisiert, durch das perfekte Formen in einem Atemzug entste-
hen – eines der wenigen Dokumente der frühen Neuzeit, die zur Aufwertung der
künstlerischen Skizze führen werden. In solchen Fällen ist die meisterhafte Linie
stets auch eine gezeitigte: Sie schlägt sich flüchtig, wenngleich treffsicher auf
dem Bildträger nieder.
Barolsky 1996, S. 21; Büttner 2013; W. Kemp 1974; Kris/Kurz 2003; Kurbjuhn 2014,
S. 65–66; Ladis 2008; Land 2005; Löhr 2013; Suthor 2015
Giotto
In: Ders.: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister [1568]. Deutsche Ausgabe
v. Ludwig Schorn u. Ernst Förster, neu hrsg. u. eingeleitet v. Julian Kliemann. Worms: Wernersche
Verlagsgesellschaft, Bd. I, 1988b, S. 132–173, hier S. 143–144.
[…]. Deßhalb darf es nicht in Verwunderung setzen, daß dieß Werk ihm in jener Stadt und an
anderen Orten einen sehr großen Namen machte, wodurch Papst Benedictus IX. von Treviso, der
einiges in St. Peter wollte malen lassen, veranlaßt ward einen seiner Hofleute nach Toscana zu
schicken, der sehen sollte, was für ein Mann Giotto sey und wie seine Arbeiten wären. Als dieser
Hofmann Giotto kennen lernen und hören wollte, welch andere Meister noch zu Florenz in der
Malerei und im Musaik vorzüglich wären, sprach er zu Siena mit vielen Künstlern, und ging,
nachdem er Zeichnungen von ihnen erhalten hatte, nach Florenz. Dort trat er eines Morgens in
die Werkstatt Giotto’s, welcher eben an der Arbeit saß, und eröffnete ihm den Willen des Papstes,
sagte, in welcher Weise derselbe sich seiner Kunst bedienen wolle, und bat endlich, ihm etwas
zu zeichnen, was er Seiner Heiligkeit schicken könne. Giotto, der sehr höflich war, nahm ein
Blatt und einen Pinsel mit rother Farbe, legte den Arm fest in die Seite, damit er ihm als Zirkel
diene, und zog, indem er nur die Hand bewegte, einen Kreis so scharf und genau, daß es in
Erstaunen setzen [S. 144] mußte; verbeugte sich gegen den Hofmann und sagte: „Da habt Ihr
die Zeichnung.“ – Sehr erschreckt fragte dieser: „Soll ich keine andere als diese bekommen?“ –
„Es ist genug und nur zuviel“, antwortete Giotto, „schickt sie mit den übrigen hin, und Ihr sollt
sehen, ob sie erkannt wird.“ – Der Abgesandte, welcher wohl sah, daß er sonst nichts erhal-
ten könne, ging sehr mißvergnügt fort und zweifelte nicht, daß er gefoppt sey, dennoch aber,
als er dem Papste die Zeichnungen und die Namen derer sandte, welche sie verfertigt hatten,
schickte er auch die von Giotto, und erzählte, in welcher Weise er den Kreis gezogen habe, ohne
den Arm zu bewegen, und ohne Zirkel; hieran erkannten der Papst und viele sachkundige Hof-
leute, wie weit Giotto die Maler seiner Zeit übertraf. Als diese Sache bekannt wurde, entstand
das Spruchwort: „Du bist runder, als das O des Giotto“, welches noch heute auf Menschen von
grobem Schrote angewandt wird, und nicht nur der Begebenheit wegen schön ist, der es seine
Entstehung verdankt, sondern noch mehr um seiner Bedeutung willen, die im Doppelsinne des
Wortes tondo liegt, welches im Toscanischen einen genauen Kreis bezeichnet, und zugleich für
Langsamkeit und Plumpheit des Geistes gebraucht wird.
Lomazzos Behandlung der Linie in seinem Trattato dell’arte de la pittura ist bemer-
kenswert, weil er darin ein ästhetisches Kriterium vorstellte, das in der Skulptur
seiner Zeit stilbildend war: Die figura serpentinata sollte die in der Renaissance-
kunst etablierte Pyramidenform der Komposition in Bewegung (moto) versetzen,
indem sie sich ähnlich einer Spirale oder züngelnden Flamme nach oben schlän-
gelte und derart eine Mehransichtigkeit und ständige Verschiebung der Kontur
hervorbrachte. Gleichzeitig sollte in der Gestaltung eine bestimmte numerische
Proportion eingehalten werden, so dass sich Spiralbewegung und stereometri-
sche Form zu einer visuellen Einheit verbanden.
Bora 1980; Bredekamp 2001; Gerlach 1989, S. 243–254; Hagedorn 1762; Kurbjuhn
2014, S. 286–290; Mainberger 2005b; Maurer 2001; Ragazzi 2013; Shearman 1967,
S. 81; Summers 1972; Weststeijn 2010; Winner 1993
Und da an dieser Stelle eine Lehranweisung (precetto) Michelangelos sehr passend ist, unterlasse
ich es nicht, sie mitzuteilen, wobei ich ihre Deutung der Intelligenz des klugen Lesers anheim-
stelle. Es heißt also, Michelangelo habe einmal seinem Schüler, dem Maler Marco da Siena, den
Hinweis gegeben, dass er eine Figur immer so machen solle, dass sie pyramidal, schlangenför-
mig gewunden (serpentinata) und mit eins, zwei und drei multipliziert sei. Und in dieser Anwei-
sung, scheint mir, liegt das ganze Geheimnis der Malerei, zumal die größte Grazie und Leichtig-
keit (leggiadria), die eine Figur haben kann, darin besteht, dass sie sich als bewegt erweist, was
die Maler den Furor (la furia) der Figur nennen. Und um diese Bewegung darzustellen, ist keine
Form besser geeignet als diejenige der Flamme des Feuers, welches, wie Aristoteles und alle Phi-
losophen sagen, das aktivste Element von allen ist und dessen Flamme sich zur Bewegung am
besten von allen eignet, denn sie hat die Form eines Kegels und eine scharfe Spitze, mit der sie
die Luft zu spalten (rompere) und zu ihrer Sphäre aufzusteigen scheint, so dass die Figur, wenn
sie diese Form hat, sehr schön sein wird. Und diese kann nun auf zwei Arten dienen, erstens so,
dass der Kegel der Pyramide, der ihr spitzester Teil ist, sich oben befindet, während die Basis, die
der breiteste Teil der Pyramide ist, sich unten befindet, wie bei der Flamme; und dann wird man
bei der Figur im unteren Bereich, etwa bei Beinen und Gewandstücken, Weite und Breite zeigen
müssen, und nach oben hin muss man die Figur in der Art einer Pyramide zuspitzen, indem man
die eine Schulter zeigt, während die andere zurückweicht und sich verkürzt, so dass der Körper
sich windet und die eine Schulter verdeckt, die andere aber hervortreten lässt und enthüllt […]
Brusatin 2003, S. 19–37; Felfe 2006; Leonhard/Felfe 2006; S. 83–86; Wolf 1997
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entsteht in Ästhetik und Kunsttheorie eine
Theorie der Linie – im Unterschied zu einer der Zeichnung. Einen entscheiden-
den Ursprungsort hat sie in der Programmschrift des englischen Malers und Kup-
ferstechers William Hogarth The Analysis of Beauty (1753). Vorausgegangen war
ihr 1745 ein Selbstporträt, das die sogenannte line of beauty als mysteriöses Kult-
objekt präsentiert hatte. Der Text erklärt die zweidimensionale Wellen- und die
dreidimensionale Schlangenlinie zu den aller Schönheit und Grazie zugrunde-
liegenden Schemata und beansprucht, damit dem schwankenden Geschmacks-
urteil endlich eine feste Basis zu geben. Hogarth greift u. a. Giovanni Lomazzos*
Theorem der figura serpentinata auf und passt es den epistemologischen und
soziologischen Ansprüchen seiner Epoche an.
Die proklamierte Schlangenlinie vereinigt Widerstrebendes: Erotik, Verfüh-
rung, Sündenfall – mit diesen Motiven spielt die Analysis of Beauty im Gebrauch
von Bild- und Textzitaten – und eine geometrische Abstraktion. Die Schlangenli-
nie gilt seit der Kunsttheorie der Renaissance u. a. als die Art schlechthin, Bewe-
gung und Lebendigkeit darzustellen. Das 18. Jahrhundert findet in ihr das Ideal
der Natürlichkeit und Ungezwungenheit und koppelt in der sozialen Ästhetik
beides an die nun nicht mehr höfische, sondern bürgerliche Variante der Grazie.
Die hier zur Schönheitsnorm erklärte Linie ist ebenso formalistisch und rationa-
listisch wie andererseits erotisch verspielt, und diese Doppelpoligkeit dürfte ein
Grund dafür sein, dass sie außerordentlich populär wurde. Kaum ein Vertreter
des damaligen Kunst- und Ästhetikdiskurses bezieht sich nicht auf sie; Sterne,
Diderot, Lessing, Herder, Lavater, Moritz, Schiller, Goethe sind nur wenige hier
zu nennende Namen.
Die Analysis of Beauty mit ihren zentralen Begriffen variety (‚Mannigfal-
tigkeit‘) und intricacy, (‚Verwicklung‘, ‚Kniffligkeit‘) ist Wirkungs- und Objekt
ästhetik zugleich. Die Frage nach der Rezeption und die nach der Qualität des
schönen Gegenstandes treffen sich in der nach der (geschwungenen) Linie. Diese
macht hier die Blickbahn eines Sehens sichtbar, das nicht ohne weiteres zum
Ziel kommt, sondern sich auf eine spielerische Jagd begibt. Die Möglichkeit zur
lustvollen Verfolgung geben Petersilienblatt und Stuhlbein, Tanzbewegung und
Apoll vom Belvedere ebenso wie das Schraubengewinde des Bratenwenders;
Gegenstände, Künste und Medien werden dabei gleichwertig. Denn im Mittel-
punkt steht der aktive Betrachter, die Bewegung seines Auges und imaginieren-
den Geistes (mind). Die empirische Ästhetik des 19. Jahrhunderts findet bei ihrem
Fragen nach der Physiologie des Sehens hier Anknüpfungspunkte.
Bedenk 2004; Bredekamp 2001; W. Busch 1977, S. 46–49, 194–198; W. Busch 1984,
S. 187–188; W. Busch 1993, S. 320–322; Gerlach 1989; Hofmann 2014; Hogarth 1997;
Kirves 2012, S. 376–406; Jehle 2007; Mainberger 2005b; Mainberger 2007b; Main-
berger 2010, S. 11–12, 27–42; Paulson 1993, S. 56–151; Podro 1998; Rosenberg 2007,
S. 19–32
Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack fest-
zusetzen
Übers. v. Christlob Mylius. Berlin, Potsdam: Voß, 1754, S. 8–10, 16–18.
die Theile jeder Form ausmerket, das ist, auf die vollkommenste Art untersucht; und wenn wir
genau dem Laufe eines Körpers, welcher in Bewegung ist, folgen wollen, so wird allemal voraus-
gesetzt, daß sich dieser Stral mit dem Körper bewegt.
Wenn man auf diese Art Formen ansieht, so wird man finden, daß sie, sie mögen in Ruhe, oder
in Bewegung, seyn, diesem eingebildeten Strale Bewegung [S. 10] geben; oder, eigentlicher zu
reden, daß sie dem Auge selbst Bewegung geben, indem sie es dadurch mehr oder weniger
ergetzen, nach Beschaffenheit ihrer verschiedenen Gestalten und Bewegungen. Also wird zum
Exempel bey dem Bratenwender, das Auge mag sich nun (mit diesem eingebildeten Strahle)
langsam an dem Teile, woran das Gewicht hängt, herunterwärts bewegen, oder auf die lang-
same Bewegung des Gewichts selbst Achtung geben, das Gemüth gleichviel ermüdet; und es
mag entweder den zirkelförmigen Rand des Schwungrades, wenn der Bratenwender still steht,
geschwind rund umlaufen, oder einen Punct in dessen Zirkelform, indem er sich herumdreht,
hurtig verfolgen, so werden wir fast gleich stark wirblicht davon. Aber unsere Empfindung ist
sehr von allen diesen beyden Empfindungen unterschieden, wenn wir die Schraube ohne Ende
betrachten, in welche das Zahnrad eingreift (15. Figur, 1. Tafel). Denn diese ist allezeit angenehm,
sie sey in Ruhe, oder in Bewegung, und die Bewegung mag langsam oder geschwind seyn. […]
Aber das Vergnügen, welches sie giebt, ist noch lebhafter, wenn sie in Bewegung ist. Ich kan
niemals vergessen, wie überaus aufmerksam ich oft darauf war, als ich noch klein war, und
wie ihre angenehm betrügende Bewegung in mir damals eben diejenige Art der Empfindung
erweckte, welche ich nach der Zeit gefühlet habe, wenn ich einen Contertanz gesehen, obschon
vielleicht der letztere etwas mehr einnehmendes haben mag; besonders wenn mein Auge eifrig
einer beliebten Tänzerin und allen den geschlungenen Figuren, welche sie machte, zusah,
welche denn das Gesicht bezauberten, indem der eingebildete Strahl, von welchem wir geredet
haben, die ganze Zeit mit ihr tanzte.
Dieses einzige Exempel kann genug seyn, zu erklären, was ich unter der Schönheit einer zusam-
mengesetzten Verwickelung der Form („the beauty of a composed intricacy of form“, Hogarth 1997,
S. 34) verstehe, und wie man eigentlich sagen kan, daß dem Auge eine Art der Nachforschung
(chace) zugeführet wird.
gerade Linie und die Zirkellinie, mit ihren verschiedenen Verbindungen und Veränderungen,
alle und jede sichtbare Gegenstände einschliessen und umschreiben, wodurch sie eine solche
unendliche Mannichfaltigkeit von Formen hervor bringen, daß wir genöthiget sind, sie einzu
theilen, und sie in Hauptclassen zu unterscheiden, indem wir die dazwischen befindlichen ver-
mischten Erscheinungen, des Lesers eigener fernerer Wahrnehmung überlassen.
Erstlich (23. Figur, 1. Tafel) giebt es Gegenstände, welche bloß aus geraden Linien, als der Würfel,
oder aus zirkelförmigen Linien, als die Kugel, oder aus beyden zusammen, als Walzen und Kegel,
zusammengesetzt sind.
Zweytens (24. Figur, 1. Tafel) solche, welche aus geraden Linien, krummen Linien, theils geraden,
theils krummen Linien, als die Capitäle der Säulen und Gefässe, zusammengesetzt sind.
Drittens (25. Figur, 1. Tafel) solche welche aus allen den vorhergehenden zusammengesetzt sind,
mit einem Zusatze der wellenförmigen Linie (waving line), welche Linie mehr Schönheit her-
vorbringt, als irgend eine von den vorhergehenden, wie in den Blumen und andern zierlichen
Formen; aus welcher Ursache wir sie die Linie der Schönheit (line of beauty) nennen wollen.
Viertens (26. Figur, 1. Tafel) solche, welche aus allen den hervorgehenden, noch zugleich mit
der Schlangenlinie, als welche Linie die Kraft hat, Reiz (grace) zur Schönheit hinzu zu thun,
zusammengesetzt sind; dergleichen die menschliche Form ist. Man merke, daß die reizendesten
Figuren die wenigsten geraden Linien in sich haben.
Es ist zu bemerken, daß gerade Linien nur in der Länge von einander unterschieden sind, und
daß sie also am wenigsten Zierde geben.
Daß krumme Linien, weil sie in ihren Graden der Krümmung sowohl, als in ihren Längen können
verändert werden, deswegen anfangen, zierlich zu werden.
Daß gerade und krumme Linien miteinander vereiniget, weil sie eine zusammengesetzte Linie
sind, mannichfaltiger sind, als krumme allein, und daß sie also noch etwas zierlicher werden.
Daß die wellenförmige Linie, oder die Linie der Schönheit, da sie noch mannichfaltiger ist, weil
sie aus zwei krummen entgegengesetzten Linien besteht, noch zierlicher wird und noch mehr
gefällt, sogar, daß die Hand eine angenehme Bewegung macht, wenn sie dieselbe mit der Feder
oder mit dem Pensel zeichnet.
Und daß die Schlangenlinie, wegen ihrer zugleich auf verschiedene Seiten gerichteten wellenför-
migen und gewundenen Figur, das Auge auf eine angenehme Art durch [S. 18] den beständigen
Zusammenhang ihrer Mannichfaltigkeit durchführet, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen
darf; und daß man sagen kan, daß sie, durch ihre so sehr verschiedentlichen Windungen (ob sie
gleich nur eine einzelne Linie ist) mannichfaltige in sich haltende Dinge einschliesset. Daher
kan all ihre Mannichfaltigkeit auf dem Pappiere nicht durch eine einzige fortgesetzte Linie aus-
gedrückt werden, wenn man nicht die Einbildungskraft, oder eine Figur zur Hülfe nimmt. Man
sehe (26. Figur, 1. Tafel), wie diese Art einer proportionirten, gewundenen Linie, welche hernach
die rechte Schlangenlinie, oder die Linie des Reizes (line of grace), soll genennet werden, durch
einen zarten Drat vorgestellet worden, welcher um die schöne und mannichfaltige Figur eines
Kegels gewunden ist.
schen Bilder von Meeresbewegung und -stille, Wellen, Fließen, Strom u. ä.: Die
konstitutiven Linien sind nicht fixierbar.
Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und
Bildhauer-Kunst [1755]
In: Ders.: Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe. Hrsg. v. Walter Rehm. Berlin: Walter de Gruyter &
Co., 1968a, S. 27–59, hier S. 30–40.
Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels würckte bey der ersten [S. 31] Bildung der Grie-
chen, die frühzeitigen Leibes-Uebungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. […]25 Zu den
Leibes-Uebungen waren die grossen Spiele allen jungen Griechen ein kräftiger Sporn, und die
Gesetze verlangeten eine zehen monathliche Vorbereitung zu den Olympischen Spielen, und
dieses in Elis, an dem Ort selbst, wo sie gehalten wurden. Die größten Preise erhielten nicht
allezeit Männer, sondern mehrentheils junge Leute, wie Pindars Oden zeigen. Dem göttlichen
Diagoras26 gleich zu werden, war der höchste Wunsch der Jugend.
Sehet den schnellen Indianer an, der einem Hirsch zu Fusse nachsetzet: wie flüchtig werden
seine Säfte, wie biegsam und schnell werden seine Nerven und Muskeln, und wie leicht wird
der gantze Bau des Cörpers gemacht. So bildet uns Homer seine Helden, und seinen Achilles
bezeichnet er vorzüglich durch die Geschwindigkeit seiner Füsse.
Die Cörper erhielten durch diese Uebungen den grossen und männlichen Contour, welchen
die Griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüßigen Ansatz. Die
jungen Spartaner musten sich alle zehen Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denenje-
nigen, welche anfiengen fett zu werden, eine strengere Diät auflegten. Ja es war eins unter den
Gesetzen des Pythagoras, sich vor allen überflüßigen Ansatz des Cörpers zu hüten. Es geschahe
vielleicht aus eben dem Grunde, daß jungen Leuten unter den Griechen der ältesten Zeiten, die
sich zu einem Wett-Kampf im Ringen angaben, während der Zeit der Vorübungen nur Milch
Speise zugelassen war. […] [S. 33] In Griechenland […], wo man sich der Lust und Freude von
Jugend auf weihete, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freyheit der Sitten
niemahls Eintrag gethan, da zeigte sich die schöne Natur unverhüllet zum grossen Unterricht
der Künstler.
Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentli-
che Schamhaftigkeit bedeckte, gantz nackend ihre Leibes-Uebungen trieben. Der Weise und
der Künstler giengen dahin: Socrates den Charmides, den Avtolycus, den Lysis zu lehren; ein
Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernete daselbst Bewe-
25 SM: Aus der zitierten Ausgabe sind folgende Korrekturzeichen übernommen: (–) Parenthe-
sen Winckelmanns; [–] Verbesserungen und Zusätze Rehms innerhalb des Textes; [–] Tilgungen
von Rehm; <–> Streichungen. Die Zeichen […] und [S. xx] stammen von SM.
26 v. Pindar. Olymp. Od. VII. Arg. & Schol.
gungen der Muskeln, Wendungen des Cörpers: man studirte die Umrisse der Cörper, oder den
Contour an den Abdruck, den die jungen Ringer im Sande gemacht hatten.
[…] [S. 37] Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf
gerichtet, oder sie sammlet die Bemerckungen aus verschiedenen einzelnen, und bringet sie
in eins. Jenes heißt eine ähnliche Copie, ein Portrait machen; es ist der Weg zu Holländischen
Formen und Figuren. Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu Idealischen
Bildern desselben; und derselbe ist es, den die Griechen genommen haben. Der Unterschied aber
zwischen ihnen und uns ist dieser: Die Griechen erlangeten diese Bilder, wären auch dieselben
nicht von schönern Cörpern genommen gewesen, durch eine tägliche Gelegenheit zur Beobach-
tung des Schönen der Natur, die sich uns hingegen nicht alle Tage zeiget, und selten so, wie sie
der Künstler wünschet. […]
[S. 38] Wenn der Künstler auf diesen Grund bauet, und sich die Griechische Regel der Schönheit
Hand und Sinne führen lässet, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur
führen wird. Die Begriffe des Gantzen, des Vollkommenen in der Natur des Alterthums werden
die Begriffe des Getheilten in unserer Natur bey ihm läutern und sinnlicher machen: er wird
bey Entdeckung der Schönheiten derselben diese mit dem vollkommenen Schönen zu verbinden
wissen, und durch Hülfe der ihm beständig gegenwärtigen erhabenen Formen wird er sich selbst
eine Regel werden.
[…] [S. 39] Könte auch die Nachahmung der Natur dem Künstler alles geben, so würde gewiß
die Richtigkeit im Contour durch sie nicht zu erhalten seyn: diese muß von den Griechen allein
erlernet werden.
Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der schönsten Natur und der Ide-
alischen Schönheiten in den Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begriff in
beyden. Euphranor, der nach des Zeuxis Zeiten sich hervor that, wird vor den ersten gehalten,
der demselben die erhabenere Manier gegeben.
Viele unter den neueren Künstlern haben den Griechischen Contour nachzuahmen gesuchet,
und fast niemanden ist es gelungen. Der grosse Rubens ist weit entfernt von dem Griechischen
Umriß der Cörper, und in denenjenigen unter seinen Wercken, die er vor seiner Reise nach
Italien, und vor dem Studio der Antiquen gemachet hat, am weitesten.
Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Ueberflüßigen derselben scheidet, ist sehr klein,
und die grösten neueren Meister sind über diese nicht allezeit greifliche Grentze auf beyden
Seiten zu sehr abgewichen. Derjenige, welcher einen ausgehungerten Contour vermeiden
wollen, ist in die Schwulst verfallen; der diese vermeiden wollen, in das Magere.
Michel Angelo ist vielleicht der einzige, von dem man sagen könnte, daß er das Alterthum errei-
chet; aber nur in starcken musculösen Figuren, in Cörpern aus der Helden-Zeit; nicht in zärtlich
jugendlichen, nicht in weiblichen Figuren, welche unter seiner Hand zu Amazonen geworden
sind. Der Griechische Künstler hingegen hat seinen Contour in allen Figuren auf die Spitze eines
Haars gesetzt, auch in den feinsten und mühsamsten Arbeiten, dergleichen auf geschnittenen
Steinen ist. […]
[S. 40] Parrhasius wird insgemein vor den stärcksten im Contour gehalten.
Auch unter den Gewändern der Griechischen Figuren herrschet der meisterhafte Contour, als
die Haupt-Absicht des Künstlers, der auch durch den Marmor hindurch den schönen Bau seines
Cörpers wie durch ein Coisches Kleid zeiget.
ungerührt von Leidenschaften [S. 275] erhebt sich seine Stirn mit einer sanft schwellenden Fülle
der Majestät und mit der Großheit des Vaters der Götter.
Seine Haare scheinen gesalbet mit dem Oel der Götter und von den Gratien auf seinem Scheitel
gebunden: ungeschmückt in ihrer Zierde u. lieblich in <Ein> natürl. Einfalt laufen sie in sich
zurück wie die zarten [Rancken] Schlingen des Weinstocks u. fließen in wellenförmigen Locken
auf seine Schultern herab.
<Alle Welt> Gefiele es der Gottheit sich in dieser Gestalt <zu> den Sterblichen zu offenbaren, alle
Welt würde zu deßen Füßen anbeten: die unerleuchteten Indianer und die finsteren Geschöpfe
die ein ewiger Winter bedecket würden eine höhere Natur in ihr erkennen, und wünschen ein
ähnliches Bild zu verehren: die Weisen der ältesten Zeiten würden hier die Gottheit der Sonne in
Menschlicher Gestalt finden.
So verklärt und rein ist deßen Körper und aus seiner Brust gehet gleichsam ein Ausfluß eines
himmli[s]chen Lichts, welchen denselben umfloßen.
(Zweiter Entwurf)
I. Beschreibung des Apollo in Belvedere.
[…] [S. 277] In dem Haupte ist deßen [des ‚Strohms‘, SM] Quelle u. dahin fließet er mit einem
reichen Übermaaß <zurück> u. mit einem Auszug bildender Schönheiten zurück <gegen welche
alles was in der Natur reizend u. schön ist sinket u. verschwindet.> welche sich hier wie die Voll-
kommenheiten der Götter bey der Pandora, vereinigen.
<Der schmachtende Reitz der Nymphen> Die Zärtlichkeiten der schönsten Jahre die das
rege<nde> Gefühl sanfter Wollüste
[S. 278] Hier sind die Zärtlichkeiten <die> eines Jünglings der das erste Gefühl offenbaret aber mit
ungleichen Blicken der sich selbst gelaßenen Natur.
Br. il Torso
Wenn ich den Torso von Belvedere besehe, so weiß ich nicht, ob ich mehr traurig über den
Verlust der schönen Glieder oder frölich über den wunderschönen Körper, so uns übrig bleibt,
seyn soll. Dieses Stück, so ohne Kopf Arme und Beine ohne Brust und Achseln[,] an welchen also
nur der Bloße Rücken seiten und Bauch mit ziemlich verdorbenen Schenkeln zu sehen, verdienet
dennoch den Rang mit den allerschönsten Werken des Alterthums, so uns übrig geblieben. […]
Die flüßigen Conturen eines Apollos sind in dem Systema der Kunst auch in diesem Stück zu
finden. Ja ich kan sagen, daß er einer höheren Zeit der [S. 282] Kunst näher kommt als wie der
Apollo selbst. Es findet sich die Weißheit des Künstlers des Laocons und die Fleischigkeit findet
sich in keinem anderen Bilde wie in diesem.
In der Form ist er mächtig und in der Arbeit zärtlich. Die Anatomie ist in ihrem höchsten Grad
verstanden und mit solcher Sparsamkeit gewiesen, daß der weise Künstler sie siehet, und der
einfältige sie nicht darinn finden kan, noch es glauben kan.
Die Gebeine <sind> scheinen mit einer fettlichen Haut überzogen: die Muskeln sind feist ohne
den geringsten Überfluß. Die Sehnen sind sparsam gezeiget, die Adern siehet man gar nicht.
<Weil dieses ohne Zweifel> Daraus siehet man daß dieses Stück ohne Zweifel einen schon
vergötterten Hercules hat vorstellen sollen. Darnach sind alle Theile eingerichtet. Denn es ist
keine Härtigkeit <ohne?> oder sehr starke Action der Muskeln zu sehen, wie es in Menschlichen
Körpern seyn könnte. Um ein so schönes Stück in Malerey vorzustellen, so müste Raphael den
ersten Riß davon geben, Michel Angelo ihn mit seinen mächtigen Umschweifen vergrößern, und
nur allein Correggio könte ihn mahlen. Denn wer könte sonsten die immerwährend veränderten
Formen so in diesem Körper erscheinen, mahlen und mit Licht und Schatten ausdrücken.
Die Umkreise dieses g[an]tzen Körpers sind so wunderbarlich, daß <ihm> im nachzeichnen
niemand sich der Richtigkeit versehen kan, indem eine immerwährende Ausfließung einer Form
in die andere alle Striche regieren muß [.] Wie der Fluß Achelous. Es würde dem Zeichner gehen,
wie dem Herkules, da er Achelous überwinden wolte. Meereswellen.
[…] Wenn es erlaubt ist alles zu sagen was ich dencke, so dürfte ich wagen nach dem Sprichwort
des Löwens in meinen Gedancken die verlohrnen Glieder <aus dies> nach diesem herrlichen
Körper erdacht, dazu zu setzen.
Wer die Kunst verstehet wird sehen, daß ich Recht gedacht, obschon der thörige darüber lachen
wird.
Die gröste Regel der Kunst, so die Alten Griechen zum Vorzug gehabt ist die Vollkommenheit
in der Gleichförmigkeit aller ihrer Umriße, nach diesem Körper also müste nothwendiger Weise
ein leichter Kopf, [S. 283] <so wie> weil der Leib schlanck ist; die Stirn müste feist seyn, weil
alle Muskeln des Körpers sich so verhalten. Die Knochen aber klein, weil an dem Körper sie
eben so sind. Also der Hirnschädel nicht groß, die Jochbeine auch nicht gar weit, die Backen
ohne hohle Gruben. Die Nase dicklicht auf dieselbe Art wie der Farnesische Hercules. Nur würde
er in diesem unterschieden seyn, daß jener schwerer und menschlicher gegen diesen scheinen
würde. In der Arbeit müsten alle Dellen weiter und mehr wellichte Umriße haben, so in allen
eine leichtere Form geben. Die Augen würden ohnezweifel größer und runder seyn nach dem
höheren Griechi[s]chen Stil auch von jüngerem Alter in allem vorgestellet als jener, weil man
auch in dem Körper nicht die Schwere des dicken Fleisches siehet wie in jenem. […]
[…] Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers
der gewaltigen Riesen, die sich wider die Götter empöreten, und in den phlegräischen Feldern
von ihm erleget wurden: und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das
Gebäude des Leibes leicht und gelenksam machen, die geschwinden Wendungen desselben in
dem Kampfe mit dem Achelous vor, der mit allen vielförmigen Verwandlungen seinen Händen
nicht entgehen konnte.
In jedem Theile dieses Körpers offenbaret sich, wie in einem Gemählde, der ganze Held in einer
besondern That, und man siehet, so wie die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines
Pallastes, hier den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedient hat. […]
[S. 171] Fraget diejenigen, die das Schönste in der Natur der Sterblichen kennen, ob sie eine Seite
gesehen haben, die mit der linken Seite zu vergleichen ist. Die Wirkung und Gegenwirkung ihrer
Muskeln ist mit einem weislichen Maaße von abwechselnder Regung und schneller Kraft wun-
derwürdig abgewogen, und der Leib mußte durch dieselbe zu allem, was er vollbringen wollen,
tüchtig gemacht werden. So wie in einer anhebenden Bewegung des Meers die zuvor stille Fläche
in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, wo eine von der andern verschlun-
gen, und aus derselben wiederum hervorgewälzet wird: eben so sanft aufgeschwellet und schwe-
bend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andre, und eine dritte, die sich zwischen ihnen
erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheinet, verlieret sich in jene, und unser Blick wird
gleichsam mit verschlungen.
Hier möchte ich stille stehen, um unsern Betrachtungen Raum zu geben, der Vorstellung ein
immerwährendes Bild von dieser Seite einzudrücken: allein die hohen Schönheiten sind hier
ohne Grenzen, und in einer unzertrennlichen Mittheilung. Was für ein Begriff erwächset zugleich
hieher aus den Hüften, deren Feistigkeit andeuten kann, daß der Held niemals gewanket, und
nie sich beugen müssen. […]
Ich sehe hier den vornehmsten Bau der Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln und
den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeiget sich wie eine von der Höhe der
Berge entdeckete Landschaft, über welche die Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer
Schönheiten ausgegossen. So wie dessen lustige Höhen sich mit einem [S. 172] sanften Abhang in
gesenkte Thäler verlieren, dahier sich schmälern und dort erweitern: So mannichfaltig, prächtig
und schön erheben sich hier schwellende Hügel von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche
Tiefen, gleich dem Strome des Mäanders, krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem Gefühle,
offenbar werden. […]
Johann Caspar Lavaters Physiognomik ist eine Deutungskunst, die auf Erkennt-
nis des Menschen zielt. Die Verfahren dazu sind Beobachtung von Linien, Inter-
pretation ihres (supponierten) Ausdruckswerts und Analogieschluss auf die
Seele, den Charakter, den moralischen Wert eines Menschen. Die Voraussetzun-
gen dieses Ansatzes sind ebenso problematisch wie seine Methodik und seine
Ergebnisse. Intern kennzeichnet ihn eine unauflösbare Spannung zwischen rati-
onalistischen und empiristischen Anteilen; einem Determinismus, der die Indi-
vidualität als präformiert ansieht, widerstreitet der Moralismus, der doch eine
Wahlmöglichkeit annehmen müsste; detailliertes Beobachten komplementie-
ren phantastische Spekulation und emphatische Rhetorik. Lavater huldigt dem
Prinzip der Kalokagathie: der Harmonie von äußerer und innerer (moralischer)
Schönheit. An kunsthistorischem Bildmaterial kann er sich auf entsprechende
Darstellungen berufen: auf Winckelmanns* Apoll oder auf Bilder von Christus
und im Gegenzug von Judas, von Schächern und Folterern, auf Darstellungen,
die physiognomisierend das Göttliche vom Menschlichen und Tierischen und das
Gute vom Bösen und Diabolischen abzuheben suchen. Der offenkundigen Diskre-
panz zwischen jenem Grundsatz und der Erfahrung kommt indes nur eine Diffe-
renzierung bei zwischen dem äußerlichen, sterblichen Leib, der nicht der Körper
der Seele sein kann, und einem zweiten, in jenem eingeschlossenen und präfor-
mierten Körper, der ewig ist und aufersteht. Mit Rekurs auf den von Christian
Wolff und dem Leibnizianer Georg Friedrich Meier gebrauchten Begriff der ‚Line-
amente‘ erfährt derart die zeitgenössische Linienästhetik eine heilsgeschichtli-
che Wendung (vgl. Pabst 2007, S. 29). Letzten Endes betreffen alle Aussagen über
ein Profil nur die unveränderliche und prospektiv erlöste, nicht die geschichtlich
gewordene Individualität; die Silhouette drücke mehr die Anlage als die Wirk-
lichkeit des Charakters aus. Aber wie auch immer Natur- und Heilsgeschichte hier
zusammen gehen: Material und Medium der Physiognomik sind jeweils Linien:
Lavater sammelt mit diesem gemeinsamen Nenner neben Porträts auch Tierphy-
siognomien, Zeichnungen von Haaren, Falten, Federn, Körperhaltungen, abs-
trakte Formhieroglyphen, Schriftproben. Wissenschaft braucht ihm zufolge, um
eine solche zu sein, Zeichen; die der Physiognomik sind Linien. Die unterschied-
lichen Bilder werden daher durch graphische Bearbeitung, d. h. durch Reduktion
auf Linien, erst vergleichbar und klassifizierbar gemacht. Und mit Hilfe der Klas-
sifikation von Linien geht Lavater über die Deskription der faktischen Formen
hinaus zu einer Aufstellung der überhaupt möglichen, z. B. zu einer Tabelle aller
möglichen und wirklichen Stirnen. Die empirische Linienwissenschaft wird so zu
einer apriorisch konstruierenden und ästhetisch normativen: Das zu erfüllende
Maß bildet die Mitte in einem trichotomischen Schema, das die verschiedenen
Zustände einer Schnur veranschaulichen (s. unten). Mit Hilfe elementarer Grund-
formen und Chiffren, einer Art Alphabet, soll sich die Sprache des Leibes in ihren
vielen Formen entziffern lassen. Als besonders signifikanter Ausdruck gilt die
Handschrift. Das physiognomische Unternehmen mündet daher einerseits in die
Graphologie, andererseits, mit der Suche nach dem idealen Christusbild, in eine
„Theologie des Schattens“ (Wolf 1996, S. 66).
Band II, 8. Frgm. Sokrates nach einem alten Marmor von Rubens. Zugabe. Ueber zwey Mundstü-
cke, S. 72–73
[…] Es giebt drei Hauptklassen von Menschen […] –
Die erste Classe – Lockerheit, Lässigkeit, absichtsloses Hin- und Herwanken!
Die zweyte – Steifheit, Gespanntheit, Anstrengung, Kunstkraft.
Die dritte, oder wie ich lieber sagen wollte, die mittelste, vortrefflichste, einzig achtungs- und
liebenswürdige – Freyheit und Richtigkeit. […]
[S. 73] […] Ich kann die Verschiedenheit dieser drey Hauptklassen menschlicher Charakter fürs
erste durch kein einfältigeres Symbol ausdrücken, als durch drey Fäden, einen lockern, einen
gespannten, und einen durch ein Bleygewicht geraden, aber freyen und ungezwungnen.
Band II. 12. Frgm. Wie viel man aus den Schattenrissen sehen kann? S. 94–97:
Nicht alles – oft sehr viel, oft aber auch sehr wenig, kann aus einem genauen Schattenrisse von
dem Charakter eines Menschen gesehen werden. […]
Weder alles, noch nichts – läßt sich aus einer bloßen Silhouette sehen – nämlich von uns –
nämlich in unserer Beschränktheit. Was ein höheres Wesen hiezu denken könnte? Ob’s nicht
vom Umriß auf den Innhalt, die Figur, Elastizität, Feuer, Kraft, Beweglichkeit, Leben der Nase,
des Mundes, der Augen – von diesen auf den ganzen Charakter, die würklichen, die möglichen
Leidenschaften schließen, sicher schließen, im Schattenbild den ganzen Menschen sehen
könne? das will ich nicht entscheiden. Aber unmöglich scheint es mir gar nicht. Nicht nur nicht
unmöglich! höchst wahrscheinlich! etwas davon ist – so gar den gemeinsten Menschen möglich.
[…]
[S. 96] Zuerst eine kleine Classifikation von Linien, welche die menschlichen Gesichter zu
bestimmen und zu begränzen pflegen.
Perpendikulare – lockere perpendikulare, hart gespannte! So vorwärts sinkende; so zurückstre-
bende! gerade – weiche Linien – gebogne, gespannte, wellenförmige Sektionen von Zirkeln – von
Parabolen, Hyerbolen; konkave, konvexe, gebrochne, eckigte – gepreßte, gedehnte, zusammenge-
setzte, homogene, heterogene – kontrastirende! – Diese alle, wie rein können diese durch den
Schatten ausgedrückt werden, und wie mannichfaltig, bestimmt und sicher ist ihre Bedeutung!
Man kann an jeder Silhouette 9. horizontale Hauptabschnitte bemerken.
[S. 97] 1.) Den Bogen des Scheitels bis zum Ansatz des Haars. 2.) Den Umriß der Stirne bis zur
Augenbraune. 3.) Den Raum von der Augenbraune bis zur Nasenwurzel, dem Ansatz der Nase. 4.)
Die Nase bis zur Oberlippe. 5.) Die Oberlippe. 6.) Die eigentlichen Lippen. 7.) Das Oberkinn. 8.) Das
Unterkinn. 9.) Den Hals. Sodann noch das Hinterhaupt, und den Nacken.
Jeder einzelne Theil dieser Abschnitte ist an sich ein Buchstabe, oft eine Sylbe, oft ein Wort, oft
eine ganze Rede – der Wahrheit redenden Natur.
Wenn alle diese Abschnitte harmoniren, so ist der Charakter so offenbar, daß Bauer und Kind
ihn aus der bloßen Silhouette kennen kann. Je mehr sie kontrastiren, desto schwerer die Entzie-
ferung des Charakters.
Jedes Profil, das nur aus einer Art von Linien besteht, z.E. nur aus konkaven, oder konvexen, nur
aus geraden oder gespannten, ist Karrikatur oder Mißgeburt.
Proportionirte Mischung und sanfte Ineinanderfließung – verschiedener Linien bildet die feins-
ten und besten Gesichter.
Band III. 4. Abschn., 4. Frgm. Von dem Charakter der Handschriften, S. 110–112:
[…] Siegel der großen, nicht erkannten, erst einem folgenden Jahrhundert aufbehaltnen Wahr-
heit – „daß aus Einem gesunden Gliede, einem richtigen Stück Umriß auf den ganzen Körper, mithin
auf den ganzen Charakter geschlossen werden kann.“ – Das ist mir Wahrheit, wie meine Existenz.
Es wird Wahrheit bleiben, so lang die Natur Natur bleibt… Innere Ganzheit ist das Gepräge der
ganzen Natur. Wie die ganze Natur Silhouette des unendlichen ewigen Urgeistes ist – so alle Pro-
dukte der Natur – dieselbe Silhouette auf unendlich mannichfaltige Weise verkleinert, gefärbt,
und geschattet. Und wie’s nur Eine Sektion, nicht mehrere Sektionen, giebt – von einem Zirkel,
und aus jeder Sektion der ganze Zirkel gefunden werden kann; so kann in jedem Geschöpfe der
Schöpfer – aus jedem Produkte der Natur die Natur – aus jedem Theile, jeder Sektion des Produk-
tes das ganze Produkt gefunden werden.
[S. 111] Wie mit dem menschlichen Körper; so mit den Leidenschaften, und dem Charakter der
Menschen. […] Die Aeußerungen und Effekte davon können kontrastiren; können vielleicht
neben einander zugleich nicht bestehen; aber die Quelle dieser Aeußerungen im Grunde nur
Eine und ebendieselbe. […]
[…] [S. 112] Setzt man es nicht als die höchste Wahrscheinlichkeit voraus, daß (seltene Menschen
ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, individuelle, und unnachahmbare, wenigstens
selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe?
Und diese unläugbare Verschiedenheit sollte keinen Grund in der wirklichen Verschiedenheit
der menschlichen Charakter haben?
In einem Katalog, den William Blake für eine 1809 in London präsentierte Aus-
stellung eigener Werke geschrieben hat, findet sich seine vielleicht wichtigste
kunsttheoretische Schrift, der der hier zitierte Passus entnommen ist. Blake
bringt darin den Umriss – die von ihm so genannte „bounding line“ – zunächst
als epistemologisches Prinzip zur Geltung. Die Umrisslinie erst ermögliche es,
verschiedene Dinge zu unterscheiden – natürliche Arten (Eiche/Birke oder Pferd/
Ochse) ebenso wie Individuen, insbesondere individuelle Gesichter. Letztere
werden, wie Blake – ein Leser Lavaters – meint, anhand der „unendlichen Flexi-
onen und Bewegungen“ ihrer Umrisslinien erkannt.
Anhand der Umrisslinie könne man aber auch den wahren Künstler vom Pla-
giator unterscheiden. Im Hintergrund der diesbezüglichen Behauptungen Blakes
steht der seit der Renaissance geläufige malereitheoretische Gegensatz von Zeich-
nung (disegno) und Farbe (colore). Blake interpretiert ihn im Sinne einer Priva-
tion: Der Zeichnung (drawing) steht in seiner Darstellung kein anderer, positiver
Term gegenüber, sondern eine schwache, verschwommene Kopie: das von Plagi-
atoren hervorgebrachte Geschmier (dawbing). Als wahrhafte, originelle Künstler
kommen für ihn nur die großen Zeichner in Frage; er nennt Michelangelo, Raffael,
Dürer und – in Anspielung auf Plinius’* Anekdote von der „äußerst feinen Linie“
(linea summae tenuitatis) (S. 315) – auch Apelles und Protogenes. Berühmte Kolo-
risten wie Correggio und Rembrandt hingegen, die auch vom Gründungsdirek-
tor der Royal Academy of Art, Joshua Reynolds, hoch geschätzt worden waren,
stempelt Blake als Plagiatoren ab. Indem ihre Machwerke die Deutlichkeit der
unterscheidenden Linie vermissen lassen, führen sie letztlich ins formlose Chaos
zurück.
Blake weist in diesem polemischen Zusammenhang auf die primordiale Geste
des „Allmächtigen“ hin, der auf dem Chaos seine Linie zieht, so dass „Mensch
und Tier existieren können“. Die epistemologische Geltung der Linie beruht für
ihn offenbar darauf, dass sie zunächst als schöpferisches Prinzip wirksam ist. Der
Nexus zwischen Schöpfung und Erkenntnis ist dabei durch den Begriff des Unter-
schieds gegeben. Durch den schöpferischen Linienzug erst kommen jene Unter-
schiede in die Welt, die es erlauben, die Dinge auseinander zu halten, somit als
das, was sie jeweils sind, zu erkennen. Die Dinge werden erschaffen, indem sie –
mittels der Linie – unterschieden werden, und nur als Wohlunterschiedene sind
sie erkennbar. Die wahren Künstler haben an dieser schöpferischen Linie teil,
und auch sie geben mittels ihrer etwas zu erkennen, nämlich nicht zuletzt sich
selber. Sie erkennen einander nicht (jedenfalls nicht allein) an den Flexionen
ihrer Gesichtszüge, sondern (auch) am Charakter jener Umrisse, die sie jeweils
selber zeichnerisch hervorgebracht haben. In diesem Sinn ist die Umrisslinie ihre
Signatur und der Ausdruck ihres authentischen Künstlertums.
Eaves 1982; Frye 1949, S. 96–97; Green 2004; Mellor 1974, S. 239–241; Mitchell
1978, S. 47–63; Pevsner 1956, S. 128–156
Die große und goldene Regel der Kunst wie auch des Lebens lautet: Je deutlicher, schärfer und
drahtiger die begrenzende Linie, desto perfekter das Kunstwerk; und je weniger hart und scharf
sie ist, desto deutlicher die Anzeichen von schwacher Nachahmung, Plagiarismus und Pfusche-
rei. Große Erfinder wussten dies zu allen Zeiten: Protogenes und Apelles erkannten einander an
dieser Linie. Raffael und Michelangelo und Albrecht Dürer werden daran und nur daran erkannt.
Der Mangel an dieser bestimmten und begrenzenden Form lässt den Vorstellungsmangel im
Geist des Künstlers erkennen und die Vorspiegelungen des Plagiarismus in all seinen Spielarten.
Wie unterscheiden wir die Eiche von der Birke, das Pferd vom Ochsen, wenn nicht durch den
abgrenzenden Umriss? Wie unterscheiden wir ein Gesicht oder Antlitz von einem anderen, wenn
nicht durch die abgrenzende Linie und ihre unendlichen Inflexionen und Bewegungen? Was ist
es, das ein Haus baut und einen Garten bepflanzt, wenn nicht das Definite und Bestimmte? Was
ist es, das Ehrlichkeit von Gaunerei unterscheidet, wenn nicht die harte und drahtige Linie der
Rechtschaffenheit in den Handlungen und Absichten? Lass diese Linie weg und Du wirst das
Leben selber weglassen; alles ist wieder Chaos, und die Linie des Allmächtigen muss darauf
erneut gezogen werden, ehe Mensch und Tier existieren können. Darum sprich nicht mehr von
Correggio oder Rembrandt oder irgendeinem anderen dieser Plagiatoren aus Venedig oder Flan-
dern. Sie waren nur die lahmen Nachahmer von Linien, die ihre Vorgänger gezogen hatten, und
ihre Werke erweisen sich als verachtenswert wirre Imitationen und tölpelhaft verfehlte Kopien.
Eugène Delacroix dürfte nach Alexander Cozens einer der ersten europäischen
Künstler gewesen sein, die der Vorstellung, dass die Konturlinie das Prinzip
oder wenigstens der Anfang aller Figurenbildung sei, explizit widersprochen
haben. Überraschend ist, dass er sich dabei auf die Antike berufen und, die von
Plinius* überlieferte und seither vielfach ausgelegte und variierte Erzählung vom
Ursprung der Plastik (Butades-Anekdote) ignorierend, behauptet hat, die Bild-
hauer des Altertums hätten ihre Figuren „von den Mitten her“ aufgebaut. Sein
Gedanke lässt sich dahingehend interpretieren, dass die Alten ihre Figuren aus
rundlichen Massen aufgebaut haben – statt allererst einen Umriss festzulegen
und ihm erst in weiterer Folge eine plastische Füllung zu geben.
In der hier wiedergegebenen Anekdote illustriert Delacroix das Verfahren mit
zeichnerischen Mitteln und deutet einen Formprozess an, dessen Anfang eiför-
mige Zellen machen. So gibt er auch zu verstehen, dass das von ihm den antiken
Bildhauern zugeschriebene Verfahren zeichnerisch nachgeahmt werden kann:
Statt dass die Plastik einem bestimmten Modell von Zeichnung unterworfen wird,
das die Umrisslinie als Prinzip und Anfang der bildlichen Darstellung ansetzt,
nimmt sich der Zeichner umgekehrt jenes plastische Verfahren zum Vorbild und
denkt bei einer Figur zunächst an eine Konfiguration plastischer Buckel. Zum
Zweck einer möglichst simplen Demonstration ließen sich diese Buckel durch
eine Verkettung ovaler Linienzüge wiedergeben, das Prinzip konnte jedoch auch
auf ganz andere Weise graphisch umgesetzt werden: In einer frühen Serie von
Lithographien (1825), die antike Münzen darstellen und Delacroix’ Interesse an
dem von einer plastisch aktiven Mitte ausgehenden Darstellungsverfahren ein-
prägsam belegen, hatte der Maler die plastischen Formkeime der kleinen Reli-
effiguren allein mit Hilfe einer Schummerung, also unter völligem Verzicht auf
Linien, die man für Umrisse halten könnte, nachgebildet.
Gigoux’ Erzählung, die von Vincent van Gogh mit Interesse zur Kenntnis
genommen werden sollte, stimmt nach ihrem Sachgehalt mit Gedanken überein,
die Delacroix seinem berühmten Tagebuch anvertraut hat. Das Argument ist kei-
neswegs auf Skulptur oder Zeichnung beschränkt, letztlich darf es als Versuch
Delacroix’ betrachtet werden, neoklassizistische Vorstellungen von antiker Form
als moderne Phantasien zu entlarven, um die eigene Malerei als legitime Erbin
der antiken Plastik auszuweisen. Dem „prendre par les milieux“ entspricht in
Delacroix’ malerischer Praxis das Verfahren, Figuren zunächst mit Hilfe von
Badt 1965; G. Busch 1964; Hannoosh 2006; Imdahl 1987, S. 87–98; Körner 1988,
S. 241, 286–288; Lebensztejn 1990; Schawelka 1979, S. 116–121; Steinberg 1972,
S. 251–257
Eines Morgens zeigte ich Dela-[S. 39]croix einen Marmorkopf, den ich wenige Tage zuvor aus
Italien mitgebracht hatte. ‚Ich habe ihn sehr gerne‘, sagte ich, ‚aber ich weiß nicht, ob er antik
ist.‘ Er betrachtete ihn genau und sagte: ‚Nein, lieber Freund, das ist eine Arbeit der Renaissance.
Sehen Sie, die Künstler des Altertums verstanden die Dinge von den Mitten her, die Renaissance
aber faßte sie mittels der Linie. […] Passen Sie einmal auf.‘ Dann nahm er eine Feder, zeich-
nete eine Reihe von großen, mittleren und kleinen Ovalen auf ein Papier und begann, diese
Ovale – oder, wenn Sie wollen, Eier – mit flüchtigen, aber klug gezogenen Strichen zu verbinden.
Endlich, als er das letzte Stück gezogen hatte, zeigte er mir – wie ein Zauberer – ein prachtvolles
Pferd, das sich bäumte und mit seinen Füßen den Boden scharrte, voll von Leben und Bewegung.
Er zeichnete dann noch fünf oder sechs andere in verschiedenen Stellungen und, weil mich das
faszinierte und es ihm selber Vergnügen machte, später noch in derselben Art einen Mann von
vorn und von hinten, sitzend und stehend usw. […] Delacroix fuhr fort, mit großer Begeisterung
über die ‚Eier‘ zu reden. Als ich ihn fragte, ‚Sagen Sie mir, wie haben Sie das herausbekommen?‘,
antwortete er, ‚Mr. Gros [S. 40] hatte es von den Griechen, und Géricault von Mr. Gros; da er aber
damit nicht zufrieden war, fand er es selbst bei den Griechen und Etruskern heraus‘.
ähnliche Regeln zu beachten sind wie etwa im musikalischen Umgang mit Tönen.
Diese Regeln müssen sich unabhängig von der Frage formulieren lassen, was
Linien zur Hervorbringung von Bildobjekten beitragen und ob sie in dieser Hin-
sicht unentbehrlich sind. Französische Kunstschriftsteller der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts (auch etwa Charles Baudelaire) nehmen, nicht zuletzt in Aus-
einandersetzung mit Delacroix’ Werk, zur Benennung dieser ‚autonomen‘ Aus-
drucksdimension der Linie die Bezeichnung ‚Arabeske‘ in Anspruch.
Badt 1965; G. Busch 1964; Delacroix 2009, S. 1600–1601; Schawelka 1979, S. 116–
121; Ubl 2005, S. 191–192; Ubl 2010
Es gibt Linien, die Ungeheuer sind: die Gerade, die regelmäßige Serpentine, vor allem zwei Par-
allelen. Wo immer der Mensch sie ins Werk setzt, werden sie von den Elementen zerfressen. Die
Moose, die zufällig auftretenden Schäden brechen die geraden Linien seiner Monumente. Eine
Linie für sich allein hat keine Aussagekraft; es bedarf einer zweiten, um ihr Ausdruck zu verlei-
hen. Großes Gesetz. Beispiel: In den Akkorden der Musik hat eine Note keinen Ausdruck, zwei
zusammen bilden ein Ganzes, drücken eine Idee aus.
Bei den Alten: die übergenauen Linien durch die Hand des Arbeiters korrigiert. Vergleiche die
antiken Bögen mit denjenigen von Percier und Fontaine… Niemals Parallelen in der Natur, ob
gerade oder gekurvt.
Es wäre interessant zu überprüfen, ob die regelmäßigen Linien nicht nur in Menschenhirnen
existieren. Die Tiere in ihren Bauten – oder vielmehr in den Andeutungen von Regelmäßigkeit,
als welche sich ihre Werke wie der Kokon oder die Wabe darstellen – reproduzieren diese Linien
nicht. Gibt es einen Verbindungsweg von der trägen Materie zur menschlichen Intelligenz, die
vollkommen geometrische Linien konzipiert?
Wie viele Tiere hingegen mit Zähigkeit darauf hinarbeiten, die Regelmäßigkeit zu zerstören! Die
Schwalbe hängt ihr Nest unter die Decken des Palastes, der Wurm spurt seinen unvorhersehba-
ren Weg durch den Balken. Von daher der Zauber alter und verfallener Sachen. Was man den
Firnis der Zeit nennt: Die Ruine nähert sich dem Naturgegenstand an.
John Ruskins vielbändiges Œuvre gilt Ästhetik, Kunstkritik, Ornament- und Stil-
geschichte, Pädagogik, Ökonomie, Ökologie, Kultur- und Kapitalismuskritik,
Mythologie u. a.m., und all diese Diskurse kreuzen sich in den Überlegungen zu
Linien. In der Zeichnungslehre legt er den Akzent – ganz viktorianisch – nicht
auf Formschönheit, sondern auf Genauigkeit und Richtigkeit. Vorbildlich ist die
handwerklich vollkommene Linie. Autonome oder ‚Künstler-Kunst‘ konnotiert
Berents 1997; Bermingham 2000, S. 243–246; von Brevern 2012; von Brevern 2015;
Felfe 2015, S. 41–42; W. Kemp 1983; W. Kemp 2007; Levi/Tucker 1999; Mainberger
2010, S. 58–70
[…] Wir sollen durch Ornamente beglückt werden; daher müssen sie dies alles zum Ausdruck
bringen. Keine Kopien unserer eigenen Kunstwerke; keine Prahlereien mit unserer eigenen
Größe; keine heraldischen Symbole; keine Armaturen eines Königs, oder irgend eines Geschöp-
fes, sondern Gottes Arm, wie er sich in seinem Werke offenbart. Keine Kundgebung unserer
Freude an unsern eigenen [S. 259] Gesetzen, oder unsern eigenen Freiheiten oder unsern eigenen
Erfindungen, sondern an göttlichen Gesetzen, beständigen, täglichen, allgemeinen Gesetzen, –
keinen kompositen Gesetzen, oder dorischen Gesetzen oder Gesetzen der fünf Ordnungen,
sondern an denen der zehn Gebote.
§ 17. Dann wird das rechte Verzierungsmaterial alles sein was Gott geschaffen hat, und seine
rechte Behandlung die, welche mit seinen Gesetzen übereinzustimmen scheint, oder symbolisch
dafür ist.
[…]
[S. 260] Abstrakte Linien.
Abstrakte Linien
[…]
§ 19. Unsere ersten Ornamente werden daher aus abstrakten Linien bestehen, d. h. aus den am
häufigsten vorkommenden Umrissen natürlicher Gegenstände, die man auf architektonische
Formen überträgt, wenn es nicht richtig oder nicht möglich ist, solche Formen ganz genau wie-
derzugeben. So kann z. B. die Linie oder Biegung eines Blattrandes ganz genau einem Steinrande
gegeben werden, ohne [S. 261] dass der Stein im mindesten einem Blatte gleich wird, oder den
Eindruck eines Blattes hervorbringt; und dies um so mehr, weil die Linien der Natur in allen
ihren Werken gleich sind; einfacher oder reicher in der Zusammensetzung, aber von gleichem
Charakter; und wenn sie aus ihren Zusammensetzungen herausgenommen werden, dann ist es
unmöglich zu sagen, aus welchem ihrer Werke sie entlehnt sind; da ihnen allen die ewig wech-
selnde Biegung in den feinsten und gemildertsten Übergängen eigen ist, mit besonderen Aus-
drucksformen von Bewegung, Biegsamkeit oder Abhängigkeit, was ich schon ziemlich ausführ-
lich in den Kapiteln über typische Schönheit in ‚Moderne Maler‘ betont habe. Aber damit der
Leser hier imstande sei, sie selbst in ihrer Abstammung aus verschiedenen Quellen zu verglei-
chen, habe ich, so sorgfältig es mir möglich war, auf Tafel 7 zehn oder elf Linien nach natürlichen
Formen höchst verschiedentlicher Substanzen und Größenverhältnisse gezeichnet; die erste, a
b, ist meiner Meinung nach im Original die schönste einfache Bogenlinie, die ich je im Leben
gesehen habe; es ist eine etwa dreiviertel Meilen lange Kurve, die durch die Oberfläche eines
kleinen Gletschers zweiter Ordnung, auf einem Vorsprung des Aiguille de Blaitière (Chamonix)
gebildet wird. Ich habe die Klippen nur an der rechten Seite skizziert, um ihre Übereinstimmung
und vereinte Wirksamkeit mit der Gletscherbiegung zu zeigen, die natürlich ganz abhängig ist
von ihrem Widerstand gegen ihre Senkung, jedoch gemildert wird durch den alles vereinenden
Schnee, der auf dieser hohen Gletscherfläche selten schmilzt.
Die Linie d c ist anderthalb bis zwei Meilen lang, sie ist ein Teil von der Flanke der Dent d’Oche
Kette über dem Genfer See, und ein paar Linien der höheren und entfernteren Schichten sind in
Verbindung damit wiedergegeben.
h ist eine ungefähr vier Fuß lange Linie, der Zweig einer Fichte. Ich habe diesen Baum gewählt,
weil er gewöhnlich für steif und ungraziös gehalten wird; seine äußeren Zweige sind jedoch in
ihrer Krümmung edler als fast alle anderen, die ich kenne; aber dieses Bruchstück präsentiert
sich sehr [S. 262] unvorteilhaft, weil es mit der verkehrten Seite nach oben gelegt ist, damit der
Leser seine Biegungen mit c d, e g und i k vergleichen kann, lauter Gebirgslinien; e g, etwa fünf-
hundert Fuß über dem südlichen Rande des Matterhorns; i k, die ganze Abdachung des Aiguille
Bouchard, von seinem Gipfel bis in das Thal von Chamonix, eine etwa drei Meilen lange Linie;
l m ist der Umriss der einen Seite eines Weidenblattes, der dem Blatte auf dem Papier nach-
gezeichnet ist; n o, eine der unzähligen Kurvengruppen an der Schale eines Papier Nautilus;
p, eine Spirale, die auf dem Papier um eine Serpula (Röhrenwurm) gezogen ist; q r, das Blatt
der Alisma Plantago (Wasserwegerich) mit seinen inneren Rippen in natürlicher Größe; s t, die
Seite eines Lorbeerblattes; u w, eines Salbeiblattes; und es muss sorgfältig beachtet werden, dass
diese letzten Krümmungen, die von der Natur nie dazu bestimmt waren, einzeln zu sein, schwer-
fälliger und weniger anmutig sind, als irgend eine von den andern, die als selbständige Linien
gesehen werden sollen. Aber alle stimmen in dem Charakter wechselvoller Krümmung überein,
nur dass die Gebirgs- und Gletscherlinien die übrigen an Zartheit und Reichtum der Übergänge
übertreffen.
§ 20. Warum Linien dieser Art schön sind, versuchte ich in ‚Moderne Maler‘ zu zeigen; aber ein
dort ausgelassener Punkt mag hier erwähnt werden, – dass nämlich beinahe alle diese Linien
eine Art von Thätigkeit oder Kraft zum Ausdruck bringen, während der Kreis eine Linie der
Begrenzung oder der Stütze ist. Im Laubwerk bezeichnen sie die Kräfte seines Wachsens und
Entfaltens; aber einige der schönsten unter ihnen sind durch Körper beschrieben worden, die
sich in verschiedenartiger Bewegung befinden, oder einer Gewalt unterworfen sind; wie durch
Geschosse in der Luft, oder durch Wasserteilchen in einer sanften Strömung, durch Planeten, die
ihre Bahn beschreiben, durch ihre Satelliten, wenn deren eigene Bahn im Weltenraum betrach-
tet wird, anstatt ihrer Beziehung zu dem Planeten; durch Boote, oder Vögel, die sich im Wasser
oder in der Luft bewegen, durch Wolken in verschiedener [S. 263] Einwirkung auf den Wind,
durch Segel in den Biegungen, die sie durch seine Gewalt annehmen, und durch tausend andere
Gegenstände, die Kraft ausüben oder erdulden.
Bohde 2012, S. 59–71; Büttner 2003; Cepl 1999; Dittmann 1967, S. 50–83; Eckl 1996;
Locher 2001, S. 380–386; Lurz 1981; Mainberger 2010, S. 127–129; Mallgrave/Iko-
nomou 1994, S. 39–54; Maskarinec 2014; Prange 2004, S. 206–210; Prange 2016;
Summers 2009; Warnke 1989; Wimböck 2007
Den Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen bildet die Frage, die mir immer als eine
überaus merkwürdige erschien: Wie ist es möglich, dass architektonische Formen Ausdruck
eines Seelischen, einer Stimmung sein können?
Ueber die Thatsache darf kein Zweifel sein. Nicht nur bestätigt das Urteil des Laien aufs entschie-
denste, dass jedes Gebäude einen bestimmten Eindruck mache, vom Ernsten, Düstern bis zum
Fröhlich-Freundlichen – eine ganze Skala von Stimmungen, sondern auch der Kunsthistoriker
trägt kein Bedenken aus ihrer Architektur Zeiten und Völker zu charakterisiren. Die Ausdrucksfä-
higkeit wird also zugegeben. Aber wie? Nach welchen Prinzipien urteilt der Historiker?
Ich wunderte mich, dass die wissenschaftliche Litteratur für solche Fragen fast gar keine Antwort
hatte. Soviel Sorgfalt und hingebende Liebe dem analogen Problem in der Musik zugewandt
worden ist, die Architektur hat weder von der Psychologie noch von der Kunsttheorie eine ähnli-
che Pflege je genossen. Ich führe das nicht an, um nun selbst mit dem Anspruch aufzutreten, die
Lücke zu füllen, vielmehr möchte ich daraus eine Entschuldigung für mich ableiten.
Mehr als einen Entwurf darf man nicht erwarten. Was ich hier gebe, sollen lediglich Prolegomena
sein zu einer Psychologie der Architektur, die erst noch geschrieben werden muss. Für die oft
bloss andeutende Behandlung [S. 2] des Themas bin ich also genötigt, die Gunst dieses Titels in
Anspruch zu nehmen.
I. Psychologische Grundlage
Die Psychologie der Architektur hat die Aufgabe, die seelischen Wirkungen, welche die Bau-
kunst mit ihren Mitteln hervorzurufen im Stande ist, zu beschreiben und zu erklären.
Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen. – Warum
wundert sich Niemand, dass der Stein zur Erde fällt, warum scheint uns das so ganz natürlich?
Wir haben nicht die Spur eines Vernunftgrundes für den Vorgang, in unserer Selbsterfahrung
liegt allein die Erklärung. Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck
ist, wir sind am Boden zusammengesunken, wenn wir der niederziehenden Schwere des eigenen
Körpers keine Kraft mehr entgegensetzen konnten, und darum wissen wir das stolze Glück einer
Säule zu schätzen und begreifen den Drang alles Stoffes, am Boden formlos sich auszubreiten.
Man kann sagen, das habe keine Beziehung auf die Auffassung linearer und planimetrischer Ver-
hältnisse. Allein diesem Einwurf liegt nur mangelhafte Beobachtung zu Grunde. Sobald man
Acht hat, wird man finden, dass wir auch solchen Verhältnissen eine mechanische Bedeutung
unterschieben, dass es keine schräge Linie giebt, die wir nicht als ansteigend, kein schiefes
Dreieck, das wir nicht als Verletzung des Gleichgewichts empfänden.
Dass nun [S. 5] aber gar architektonische Gebilde nicht bloss geometrisch, sondern als Massen-
formen wirken, sollte eigentlich kaum gesagt zu werden brauchen. Dennoch macht eine extrem
formalistische Aesthetik immer wieder jene Voraussetzung.
Wir gehen weiter. Die Töne der Musik hätten keinen Sinn, wenn wir sie nicht als Ausdruck irgend
eines fühlenden Wesens betrachteten. Dieses Verhältnis, das bei der ursprünglichen Musik, dem
Gesang, ein natürliches war, ist durch die Instrumentalmusik verdunkelt, aber durchaus nicht
aufgehoben worden. Wir legen den gehörten Tönen immer ein Subjekt unter, dessen Ausdruck
sie sind.
Und so in der Körperwelt. Die Formen werden uns bedeutend dadurch allein, dass wir in ihnen
den Ausdruck einer fühlenden Seele erkennen. Unwillkürlich beseelen wir jedes Ding. Das ist
ein uralter Trieb des Menschen. Er bedingt die mythologische Phantasie und noch heute – gehört
nicht eine lange Erziehung dazu des Eindrucks los zu werden, dass eine Figur, deren Gleichge-
wichtszustand verletzt ist, sich nicht wohl befinden könne? Ja, erstirbt dieser Trieb jemals? Ich
glaube nicht. Es wäre der Tod der Kunst. –
Das Bild unserer selbst schieben wir allen Erscheinungen unter. Was wir als die Bedingungen
unseres Wohlbefindens kennen, soll jedes Ding auch besitzen. Nicht so, dass wir den Schein
eines menschlichen Wesens in den Formen der anorganischen Natur verlangten, aber wir fassen
die Körperwelt mit den Kategorien auf (wenn ich so sagen darf), die wir mit derselben gemein-
sam haben. Und danach bestimmt sich auch die Ausdrucksfähigkeit dieser fremdartigen Gestal-
ten. Sie können uns nur das mitteilen, was wir selbst mit ihren Eigenschaften ausdrücken.
Hier wird mancher bedenklich werden und nicht recht wissen, was wir denn für Aehnlichkeiten
oder gar welche Ausdrucksorgane wir mit dem toten Stein teilen. Ich will es kurz sagen: es sind
die Verhältnisse der Schwere, des Gleichgewichts, der Härte u. s. w., lauter Verhältnisse, [S. 6] die
für uns einen Ausdruckswert besitzen. Der ganze menschliche Gehalt natürlich kann nur durch
die menschliche Gestalt ausgedrückt werden, die Architektur wird nicht einzelne Affekte, die
sich in bestimmten Organen äussern, zum Ausdruck bringen können. Sie soll es auch nicht ver-
suchen. Ihr Gegenstand bleiben die grossen Daseinsgefühle, die Stimmungen, die einen gleich-
mässig andauernden Zustand des Körpers voraussetzen. […]
[S. 13] […] Unsre leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche auffassen. Ich
werde nun zeigen, dass die Grundelemente der Architektur: Stoff und Form, Schwere und Kraft
sich bestimmen nach den Erfahrungen, die wir an uns gemacht haben; dass die Gesetze der for-
malen Aesthetik nichts andres sind als die Bedingungen, unter denen uns allein ein organisches
Wohlbefinden möglich scheint, dass endlich der Ausdruck, der in der horizontalen und vertika-
len Gliederung liegt, nach menschlichen (organischen) Prinzipien gegeben ist.
Dies ist der Inhalt der folgenden Abschnitte. Es liegt mir nun durchaus fern, zu behaupten, der
architektonische Eindruck sei damit vollständig analysiert, gewiss kommen noch sehr viele
andere Faktoren hiezu: Farbe, Assoziationen, die aus der Geschichte und Bestimmung des
Gebäudes erwachsen, Beschaffenheit des Stoffes etc. Immerhin glaube ich nicht zu irren, wenn
ich den Kern des Eindrucks in den hier dargestellten Zügen erblicke.
Es sei gestattet mit Uebergehung der anderen Faktoren hier nur noch andeutend auf das hinzu-
weisen, was man Analogien der Linienempfindung nennen kann.
Unter Analogien der Empfindung versteht nämlich Wundt (phys. Psych. I2, 486 ff.) die Ver-
wandtschaftsverhältnisse, die wir zwischen den Empfindungen disparater Sinne anzunehmen
pflegen, wie z. B. zwischen tiefen Tönen und dunkeln Farben, die als reine Empfindungen
betrachtet kein Gemeinsames haben, vermöge ihres gleichen ernsten Gefühlstons uns aber ver-
wandt erscheinen. Solche Analogien stellen sich auch bei Linien ein. Es wäre erwünscht, über
diesen ganz unbeachteten Gegenstand einmal etwas Zusammenhängendes zu hören.27 Ich gebe
einige Bemerkungen, die durch mannigfache Versuche gewonnen worden sind.
[S. 14] Das hastige Auffahren des Zickzacks führt unmittelbar die Erinnerung an brennendes
Rot mit sich, während das sanfte Blau einer weichen Wellenlinie sich zugesellt und zwar eine
mattere Nüance den langgezogenen Wellen, eine kräftigere den leichter beweglichen. Wie ja
auch die Sprache „matt“ gleichmässig verwendet für Farbentöne, denen die Leuchtkraft fehlt,
und für körperliche Müdigkeit. Ebenso spricht man von warmen und kalten Linien, von den
warmen Linien des Holzschnitts z. B. und den kalten des Stahlstichs, Gegensätze die sich wiede-
rum decken mit den Druckempfindungen: hart und weich.
Am deutlichsten ist die Analogie mit Tönen, wo wahrscheinlich die Erfahrungen an der eigenen
Stimme über Tonbildung mitwirken. So beurteilt jedermann eine Linie mit kurzen kleinen
Wellen als tremulierend in hoher Lage, weite Schwingungen von geringer Höhe als dumpfhohles
Summen. Zickzack „rasselt und klirrt wie Waffenlärm“ (Jak. Burkhardt), sehr spitz wirkt er gleich
schneidenden Pfeifentönen. Die Gerade ist ganz still.
Es hat also einen guten Sinn auch in der Architektur von der stillen Einfalt der Antike und dem
widrigen Lärmen z. B. der englischen Gothik zu sprechen; oder etwa in der sanft herabgleitenden
Linie eines Berges das leise Verklingen eines Tones zu empfinden. […]
Züge. Die Schwingungsweite giebt die Dauer, die Schwingungshöhe die Tiefe des Atemzuges an.
Bei der Bedeutung des Tempos der Respiration für den Ausdruck von Stimmungen ist dieser
Punkt für die historische Charakteristik sehr wichtig. Man kann die Beobachtung machen, dass
Völker, je älter sie werden, desto rascher in ihrer Architektur anfangen zu atmen, sie werden
aufgeregt. Wie still und ruhig laufen die Linien des alten dorischen Tempels: alles noch breit
und langsam gemessen. Dann im Jonischen schon eine raschere Beweglichkeit, man sucht das
Schlanke und Leichte, und je mehr die antike Kultur ihrem Ende nahe kam, desto mehr verlangte
sie eine fieberhafte beschleunigte Bewegung. Völker, die von Hause aus ein rasches Blut haben,
leisten dann das Höchste. Man denke an die erstickende Hast arabischer Dekorationslinien. –
Leider muss ich mich hier mit Andeutungen begnügen, eine historische Psychologie oder viel-
mehr eine psychologische Kunstgeschichte müsste die wachsende Schnelligkeit der Linienbewe-
gung mit aller Exaktität verfolgen können und zwar wird sie finden, dass in der Dekoration der
Fortschritt immer zuerst vor sich geht.
August Endell ist u. a. der Architekt des Fotoateliers Elvira in München, das zum
Schulbeispiel für geschwungene Linien in der Kultur der Jahrhundertwende
geworden ist. Er hat dort, in einem Zentrum des Jugendstils und des Linienkults,
bei Theodor Lipps studiert, und dessen Einfühlungslehre liegt den Überlegun-
gen des Künstlers zugrunde. Abgelöst von der Wissenschaftsgeschichte würden
seine Äußerungen kurios anmuten, im Kontext der damaligen psychologischen
Ästhetik aber sind sie plausibel. Einer von Endells Elementarsätzen lautet, jede
der unendlich vielen Formen, die es gebe, erwecke ein anderes Gefühl. Die Archi-
tektur habe sie so zu gruppieren, dass sie sich in ihrer Gefühlswirkung steigern.
In Hinsicht auf die Anwendung im Bau stellt seine differenzierte Formenlehre die
gerade Linie in den Mittelpunkt. Wie bei Lipps* kommt auch in dieser phantasie-
vollen Psychologie der Geraden, die als tabellarische Synopse von Gefühlswer-
ten und systematische Analyse von Fensterteilungen und Fassaden präsentiert
wird, der verbalen Beschreibung eine wichtige Rolle zu. Endell hat im Hinblick
auf die dekorativen Künste und seine eigenen Formfindungen für ein Gestalten
plädiert, das sich nur um Linien und Flächen und deren psychologische Wirkung
kümmert: für eine amimetische Formenkunst als Parallele zur Musik. Er spricht
in diesem Sinn als Praktiker, aber gerade daran wird deutlich, dass und inwie-
fern einfühlungspsychologische Ästhetik, die doch im Wesentlichen die Rezepti-
onsseite im Blick hat, seinerzeit nicht nur ein innerakademisches und aktueller
Kunstproduktion fremdes Geschäft darstellt. Die historische Einfühlungsästhetik
geht vielmehr mit der Entstehung abstrakter Kunst Hand in Hand; beide treffen
sich in der physiologischen und psychologischen Auffassung der Linie.
Buddensieg 1981; Franz 2007b; Mainberger 2010, v. a. S. 124–127, 129–133; Rehm
2012; Salge 2012, S. 109–110; Schirren 1993
Bd. 1
I. Die Freude an der Form
In das immer ungestümer werdende Verlangen nach einem neuen Stile in Architektur und Kunst-
gewerbe, nach einer neuen eigenartigen und selbständigen Dekorationsweise klingen misstönig
warnende Stimmen bedächtiger Leute, die von der steilen Höhe ihrer gereiften Erfahrung und
ihrer durch umfassende historische Studien geklärten und vertieften Auffassung das thörichte
Tun der Jüngeren mitleidig belächeln und noch immer bereit sind, dem Publikum den einzig
wahren Weg zu zeigen. Sie lehren uns, dass es keine neuen Formen mehr geben könne, alle Mög-
lichkeiten seien in den Stilen der Vergangenheit erschöpft, alle Kunst bestehe in einer individuell
getönten Verwendung alter Formen. Ja man geht so weit, uns den jammervollen Eklekticismus
der letzten Jahrzehnte für den neuen Stil zu verkaufen.
Dem Wissenden kann diese Mutlosigkeit nur lächerlich scheinen. Denn er sieht klar, dass wir
nicht nur im Anfang einer neuen Stilperiode, sondern zugleich im Beginn der Entwicklung einer
ganz neuen Kunst stehen, der Kunst, mit Formen, die nichts bedeuten und nichts darstellen und
an nichts erinnern, unsere Seele so tief, so stark zu erregen, wie es nur immer die Musik mit
Tönen vermag.
Dem Barbaren ist unsere Musik zuwider; es gehört Kultur und Erziehung dazu, sich ihrer zu
freuen. Auch die Freude an der Form will errungen sein: man muss es lernen zu sehen und sich
in die Form zu vertiefen. Wir müssen unsere Augen entdecken. Wohl giebt es schon lange unbe-
wusst in den Menschen das Freuen an der Form, in der Geschichte der bildenden Künste lässt
sich deutlich seine Entwicklung verfolgen, aber noch ist es nicht zu einem festen, unverlierbaren
Besitze geworden. Die Maler haben uns viel gelehrt; aber ihr Ziel war zuerst immer die Farbe,
und wo sie die Form suchten, suchten sie meist das intellektuell-charakteristische durch exakte
Wiedergabe ihres Gegenstandes, nicht das ästhetisch-charakteristische, das die Natur nur selten
und zufällig in solchen Dimensionen bietet, wie sie der Maler braucht.
Wollen wir formale Schönheit verstehen und geniessen, so müssen wir lernen, isoliert zu sehen.
Auf die Einzelnheiten müssen wir unsern Blick lenken, auf die Form einer Baumwurzel, auf
den Ansatz eines Blattes am Stengel, auf die Struktur einer Baumrinde, auf die Linien, die der
trübe Schaum an den Ufern eines Sees bildet. Wir dürfen auch nicht achtlos über die Formen
dahingleiten, sondern müssen sie genau mit den Augen verfolgen, jede Biegung, jede Krüm-
mung, jede Erweiterung, jede Zusammenziehung, kurz jede Änderung der Form miterleben.
Denn genau sehen wir [S. 76] nur einen Punkt in unserm Sehfeld, und wirksam für unser Gefühl
kann nur werden, was wir deutlich gesehen. Sehen wir aber in dieser Weise, so ersteht vor uns
eine neue, nie gekannte Welt von ungeheurem Reichtum. Tausend Stimmungen werden in uns
wach. Immer neue Gefühle mit neuen Nuancen und ungeahnten Übergängen. Die Natur scheint
zu leben, und wir begreifen jetzt, dass es wirklich trauernde Bäume und boshafte heimtücki-
sche Äste, keusche Gräser und furchtbare grausenerregende Blumen gibt. Freilich nicht alles übt
solchen Eindruck aus, es fehlt nicht am Langweiligen, Unbedeutenden und Unwirksamen, aber
das wachsame Auge wird überall, in jeder Gegend, Formen von wunderbarem, die ganze Seele
erschütterndem Reize gewahren.
Das ist die Macht der Form über unser Gemüt, ein direkter unmittelbarer Einfluss ohne alle Zwi-
schenglieder, durchaus nicht etwa die Folge eines Anthropomorphismus, einer Vermenschli-
chung. Wenn wir von einem trauernden Baume sprechen, denken wir den Baum durchaus nicht
als lebendes Wesen, das trauert, sondern meinen nur, dass er in uns das Gefühl des Trauerns
erwecke. Oder wenn wir sagen, die Tanne strebe empor, so beseelen wir die Tanne nicht, der
Ausdruck des Geschehens ‚streben‘ erzeugt nur leichter in der Seele des Zuhörers das successiv
entstehende Bild des Aufrechten. Dergleichen ist nur ein sprachlicher Notbehelf, die mangeln-
den Worte zu ersetzen und rascher lebendige Anschauung zu erzeugen.
Auch ist es nicht Erinnerung, die den Formen ihre Bedeutung für das Gefühl leiht. Ein Kreis mag
an den Ring erinnern und damit an Treue und Ewigkeit, aber ebenso gut auch an Gebunden-
sein, Knechtschaft und Sklaverei, und so würde der Kreis bald dieses bald jenes Gefühl in uns
erwecken. Aber derlei Gefühle kommen bei der Formkunst so wenig in Betracht, wie etwa in der
Musik die Erinnerungen, die sich für den einzelnen an Flötentöne knüpfen.
Auch muss man nicht meinen, dass die unbewusste Vorstellung des Wesens eines Gegenstandes
erst seine Form uns bedeutungsvoll erscheinen lässt. Allerdings besteht ein gewisser Parallelis-
mus zwischen Wesen und Schein. Ein dicker Baum erscheint uns stark und ist es auch. Aber er
erscheint uns lange so, ehe wir um seine wirkliche Stärke wissen. Auch deckt sich nicht immer
Form und inneres Sein. Ein Zorniger sieht oft komisch genug aus und ein hohler Baum genau so
stark wie ein gesunder, ja vielleicht gerade um seiner zerrissenen Rinde willen stärker und kolos-
saler. Nicht vom Wesen zum Schein geht der Weg, nein umgekehrt, das Aussehn giebt uns den
ersten Aufschluss über das Wesen. Wir übertragen den durch die Form erregten Eindruck auf das
innere Sein des Gegenstandes und treffen eben durch den genannten Parallelismus meist das
richtige. Man denke z. B. an die instinktive Angst der Tiere und Kinder. Die Form weckt unmittel-
bar das Gefühl, wir wissen von keinem dazwischenliegendem, psychischen Ereignis. Und unbe-
wusste Ereignisse erklären alles und eben darum nichts.
„Worin aber liegt dann die Erklärung des Formgefühls?“ fragen die am lautesten, die es nie gekos-
tet. Ich könnte antworten, das gehört nicht hierher, man geniesst Musik auch ohne zu wissen,
warum Accorde und Accordfolgen im stande sind, uns so gewaltig zu erregen. Ich will aber doch,
um die Zweifler zu beruhigen und ihnen den Zugang zu der Welt der Formen zu erleichtern, den
Versuch machen, die Gefühlswirkung der Formelemente [S. 77] und ihrer Zusammensetzungen
zu beschreiben und auch die psychologische Erklärung wenigstens andeuten, soweit es sich
ohne langwierigere Erörterungen ermöglichen lässt.
Bd. 2
[S. 119] II. Die gerade Linie
Die gerade Linie ist nicht nur mathematisch, sondern auch ästhetisch vor allen anderen Linien
ausgezeichnet. Denn verfolgen wir eine Gerade, etwa eine Senkrechte, mit dem Auge, so behält
diese immer dieselbe Richtung in unserem Gesichtsfeld. Eine krumme Linie dagegen, etwa die
eines kreisförmigen Thorbogens, ändert ihre Richtung fortwährend: erst senkrecht, dann schräg
ansteigend, dann horizontal, dann schräg und schliesslich senkrecht abfallend. Während wir
also beim Durchlaufen von krummen Linien immer ein Neues aufzufassen haben, bietet die
Gerade fortwährend dasselbe Bild. Es wird somit die Wahrnehmung der Geraden sich rascher
vollziehen, und zwar um so rascher, je länger die Gerade sich dehnt. Denn jeder neue Moment
giebt ja nur der Art nach schon Bekanntes. Es wird aber ganz allgemein das Bekanntere auch
rascher aufgefasst und macht auch rascher anderem Platz; somit wird sich die Schnelligkeit im
Auffassen der Geraden fortwährend steigern.
Jede rasche Thätigkeit erfüllt uns mit einem bestimmten Gefühl, das wir einstweilen das Gefühl
des Raschen nennen wollen. Die Gerade erweckt dieses Gefühl in uns: sie erscheint uns rasch
und zwar um so mehr, je länger sie ist. Die Breite der geraden Linie hingegen – es ist hier von
realen, nicht von mathematischen Linien die Rede – übt eine verlangsamende Wirkung aus.
Denn eine breite Gerade erfordert mehr Auffassungszeit als eine schmale, weil sie mehr Empfin-
dungselemente enthält. Die Gerade erscheint also um so rascher, je schmäler – um so langsamer,
je breiter sie ist.
Ganz anderer Natur ist die Wirkung der Richtung. Die senkrecht fallende Gerade, d. h. die Gerade,
die wir von oben nach unten durchlaufen, hat den Charakter des Leichten und Mühelosen, die
horizontale etwas ruhig Kräftiges, die senkrecht ansteigende giebt das Gefühl starker Anspan-
nung. Die schrägen Lagen, schräg abwärts und schräg aufwärts, bieten die dazwischen liegen-
den Nuancen, so dass wir eine stetige Reihe von Charakteren haben, vom Gefühl der gerings-
ten Anstrengung bis zu dem der stärksten. Diese Gefühlswirkung hat ihren Grund wohl darin,
dass die Aufwärtsrichtung des Auges mehr Anstrengung erfordert, als die Abwärtsbewegung.
Der Grund dafür ist nicht ganz aufgeklärt. Der Mittelpunkt des Auges liegt vor dem Drehpunkt,
wahrscheinlich also auch der Schwerpunkt. Dann würde in der That das Heben des Augapfels
Kraft erfordern, das Senken aber nicht. Übrigens ermöglichen gewisse Annahmen über die Vor-
gänge in der Netzhaut noch eine zweite Begründung der besprochenen Gefühlswirkung. Doch
lässt sich diese nur in einem umfassenderen Zusammenhang entwickeln.
Wie dem auch sei: die Gerade giebt das Gefühl der Schnelligkeit: am geringsten, je breiter und
kürzer, am stärksten, je schmäler [S. 120] und länger sie ist; und zugleich das Gefühl der Anstren-
gung: am geringsten, wenn sie senkrecht fällt, am stärksten, wenn sie senkrecht steigt. Nun
bilden aber Anstrengung und Schnelligkeit (Tempo) die beiden konstituierenden Bestandteile
aller Gefühle.
Dem Einfachen, dem Innigen, Warmen, Ernsten, Tiefen, Erhabenen ist ein langsames Tempo
gemeinsam, während dem Übermütigen, dem Herausfordernden, dem Stolzen, Strengen.
Gewaltsamen und Wilden durchweg Raschheit und Heftigkeit zukommt; aber in beiden Reihen
gleichmässig steigert sich von Glied zu Glied der Grad der Anspannung, Anstrengung, Kraft,
Intensität oder wie man es sonst heissen mag. Der Einfachheit wie dem Übermut wohnt der
Charakter des Leichten, Anstrengungslosen inne, während das Wilde wie das Erhabene höchste
Anspannung in uns hervorrufen. Und wie diesen Extremen kommt jedem Gefühl ein bestimmtes
Tempo und ein Grad der Anspannung zu. Auf der beifolgenden Tabelle ist versucht, die haupt-
sächlichsten Gefühlsnuancen dementsprechend zu ordnen: in den Horizontalreihen von links
nach rechts steigt die Spannung, in den Vertikalreihen von unten nach oben das Tempo. Das
Rechteck umschliesst die Lustgefühle, die aussenstehenden sind Gefühle der Unlust. Denn
Unlust wird geweckt durch alles, das für die Kraft unserer Seele zu schwach oder zu stark, zu
langsam oder zu rasch ist.
Natürlich sind hier nur die wesentlichsten Nuancen gegeben, es ist leicht, den fehlenden
ihre Stelle anzuweisen, so steht pikant zwischen chic und frivol, würdig zwischen ernst und
vornehm. Übrigens ist zu bedenken, dass die Bedeutung der Worte oft beträchtlich schwankt,
und somit die Tafel nur approximative Geltung haben kann. Aber mag sie, je nach individuellem
Sprachgebrauch, sich noch so sehr verändern, immer wird sich zeigen, dass die Gefühlsnuancen
sich nach Tempo und Spannung abstufen.
Man wird meinen, dass mit Anspannung und Tempo der Gehalt der Gefühle nicht erschöpft sei:
Milde sei mehr, als ein Gefühl der Langsamkeit und leichter Spannung. Sicher, die milde Tat
enthält mehr: menschliche und sachliche Beziehungen aller Art; aber das Gefühl, das milde That
begleitet, ist damit völlig beschrieben.
Und weil alle Gefühle nur Tempo und Spannung sind, eben darum vermögen die Formen alle
Gefühlsnuancen in uns zu erwecken. Denn wir sahen, dass die Gerade jene beiden Gefühlsele-
mente immer in uns erweckt, und zwar in allen möglichen Abstufungen. Und es wird sich später
zeigen, dass alle Formen im Grunde nur Modifikationen und Kombinationen der geraden Linie
sind.
Nun ist aber der Eindruck einer einzelnen Linie von zu kurzer Dauer, um uns intensiv zu beschäf-
tigen. Erst reichere Gebilde vermögen unsere Aufmerksamkeit länger zu fesseln und erst in ihnen
kommen die einzelnen Elemente durch den Kontrast mit den übrigen zu vollerer und intensiverer
Wirkung. Ich verzichte daher darauf, eine Tafel der verschiedenen Geraden zu geben und gehe
gleich [S. 121] dazu über, an komplizierteren gradlinigen Gebilden die besprochene Gefühlswir-
kung zu demonstrieren.
Beginnen wir mit einer Reihe Fensterteilungen. Fig. 1. Fenster liegen zumeist über unserer
Augenhöhe und werden daher zunächst von unten nach oben betrachtet. Thun wir das auch
hier: a ein einfaches Rechteck, d. h. eine breite Gerade, die aufsteigende Richtung betont, aber
gehemmt durch die Breitenentwicklung: also mittleres Tempo mit Anstrengung verknüpft, Ein-
druck des Energischen. Diese Grundform ist nun überall festgehalten; b horizontal geteilt, die
Aufwärtsrichtung zerlegt, die Spannung gemindert, aber auch die Raschheit, ruhiger als a; c
senkrecht geteilt, rascher, weil die Teile weniger breit: energischer und heftiger als a. Die Kreuz-
teilung d ist ruhiger als die Form c, nähert sich a, ist aber zierlicher als dieses, weil Spannung
und Tempo der Teile gleichmässig vermindert sind, feinere Energie als a. Bei e kommen wir von
dem ruhigeren Charakter des untern Teils zu dem heftigen des oberen, das erste Beispiel einer
Steigerung. Noch stärker, ja zu stark, ist dieser Übergang bei f. Dagegen ist bei g der obere Teil
zwar noch energischer, weil höher, gestaltet und doch wirkt hier der Kontrast nicht so stark, weil
das untere Stück durch Vertikalteilung mehr Tempo bekommt. Die übrigen Fenster zeigen den
umgekehrten Kontrast. Energie und Ruhe verklingend; h eine schlechte Lösung, der obere Teil
zu schwächlich; besser i, noch [S. 123] besser k; dagegen l wieder schlechter, weil die Dreiteilung
unten zu heftig ist, weshalb sich die Niedrigerlegung des Querbalkens empfiehlt, wie bei m.
Betrachten wir nun dieselben Gebilde von oben nach unten, so ändert sich der Eindruck wesent-
lich; zwar das Tempo bleibt, aber die Spannung sinkt durchweg, auch kehrt sich die Reihen-
folge der Teile um. Dadurch entstehen natürlich hier und da sinnlose Kontraste, so bei g, wo das
Tempo des oberen Teiles zu heftig ist, um sich harmonisch in den ruhigeren unteren Teil fortset-
zen zu können. Man muss nicht denken, dass darum jenes Fenster verwerflich ist. Im Gegenteil.
Je charakteristischer ein Gebilde ist, um so eher verlangt es die Betrachtung in einer bestimmten
Richtung. Der Geübte betrachtet ganz unwillkürlich in der Richtung der grössten Wirkung und
wenn er genötigt ist, dieser Richtung entgegen zu gehen, um irgend ein Detail genauer kennen
zu lernen, so sistiert er für einen Moment die Betrachtung. Wir sehen überhaupt sprungweise,
müssen es schon darum, weil sich alle Augenblick die Lider schliessen. Sache der ästhetischen
Schulung ist es, sofort und immer in der wirksamsten Richtung zu sehen. Wir lernen das um
so leichter, als wir eben dort den grössten Genuss gewinnen. Von hier aus begreift sich, warum
man so oft von Bewegung einer Linie spricht. Indem ich eine Linie successiv aufnehme, thue
ich zwar nicht dasselbe, aber etwas Ähnliches, als wenn ich einen bewegten Körper mit dem
Auge verfolge. Das objektive Nebeneinander der Form wird in der That für den Betrachter ein
Nacheinander, das durch das Bild „Bewegung“ sehr gut charakterisiert wird. Das ist ein unge-
mein bequemer, aber doch eben nur ein bildlicher Ausdruck, der niemals das Fundament einer
Formästhetik abgeben kann.
Diskutieren wir nun die beigefügten Fassaden. Sie sind in erster Linie auf charakteristische
Wirkung hin gezeichnet, doch sind überall wirkliche Verhältnisse zu Grunde gelegt, wie man an
der Hand der Masstäbe ersehen kann. Fig. 2 mit starker Höhenentwicklung, also Anspannung
und rasches Tempo: ein wenig gehemmt durch die Breite, zumal durch die Horizontallinie des
Gesimses und die oberste Fensterreihe, die ein breites Ganze bildet; aber unterstützt durch die
schmalen hohen Fenster und Fensterteilungen das vertikale Gebälk unter dem Gesims und die
Bedachung der Bodenlucken; überall starke Höhenentwickelung bei geringer Breite. Und zwar
entfaltet sich der Eindruck in bestimmter Weise von unten nach oben. Unten noch eine gewisse
Ruhe in den breiten Schaufenstern und dem Oberlicht über der Thür. Viel heftiger die schma-
len Teilungen des ersten Stockes, das Mittelfenster ruhiger als die seitlichen; noch heftiger die
oberste Fensterreihe, doch liegen hier die wagerechten Linien überall in [S. 124] gleicher Höhe:
sie dämpfen das Tempo und leiten so zu der Horizontalen des Simses über. Noch einmal nehmen
die Lucken und ihre Bedachungen die heftige vertikale Bewegung auf, die oben in der Breite des
Daches verklingt. Also ein Crescendo, dem ein doppeltes Decrescendo folgt. Sympathisch ist
diese Fassade nicht, dazu ist sie zu hart und heftig, aber Charakter wird man ihr nicht abspre-
chen können.
Ihr gerades Gegenteil ist Fig. 3: geringe Anspannung und langsames Tempo, eine behagliche
Breite im Umriss des Ganzen, wie in den Teilen. Alle Fenster sind in horizontal sich dehnende
Flächen zerlegt, nur das untere Mittelfenster ein wenig kräftiger, weil die Höhenrichtung mehr
betont ist, aber sie ist auch hier durch die strahlenförmige Teilung des oberen Stückes gedämpft,
die schrägen Stäbe leiten in die allgemeine Horizontalbewegung über. Und so erscheint das
Ganze etwas gar zu behaglich.
Fassade Fig. 4 ist kräftiger, ohne in die aufgeregte Heftigkeit von Fig. 2 zu verfallen: überall die
Aufwärtsrichtung betont, doch immer das Tempo durch Breitenentwickelung gemindert. Die
scharfe Energie der schmalen Fensterteilungen durch die Zerlegung der oberen Hälften in kleine
Quadrate gedämpft. Doch ist, damit diese Dämpfung nicht zu stumpf wirke, der Horizontalbal-
ken nicht in gerader Linie geführt. Der mittlere Abschnitt liegt stets tiefer, dadurch wird die Ruhe
der unteren Öffnung erhöht und zugleich die Wirkung reicher. Bei den Seitenfenstern des ersten
Stockes ist mit Absicht die obere Dreiteilung unten in eine Zweiteilung übergeführt. Eine durch-
gehende Dreiteilung hätte ein zu starkes Tempo im Gefolge gehabt. Die Thüre ist ein wenig zu
lebhaft geraten, auch das breite Oberlicht vermag ihr Tempo nicht genügend zu verlangsamen.
Immerhin wirkt auch so das Untergeschoss durch die grossen Fenster stark und ruhig. In dem
grossen Mittelfenster des ersten Stockes setzt sich dieser Charakter verstärkt fort, während die
schmalen Fenster rechts und links ein wenig lebhafter sind. Das Gesims ist zu einfach und zu
schwächlich, ein lebhafter Fries, oder eine [S. 125] reichere Dachlinie wäre am Platz gewesen,
doch es galt, bei der geraden Linie zu bleiben. Gedämpfte Energie, ruhige Sicherheit, nicht ohne
Lebendigkeit, dürfte der Charakter dieser Fassade sein.
Auch die letzte Fassade, Fig. 5, zeigt eine Betonung der Höhenrichtung, aber die Überkragung
des ersten Stockes und das vorspringende Dach lassen keine Heftigkeit aufkommen. Die beiden
Stockwerke wirken durch ihre beiden aufstrebenden Flächen ruhig und kräftig, ohne ganz des
Tempos zu entbehren, das zumal durch die Fensterbalken verstärkt wird. Auch das Dach fügt
sich diesem Charakter ruhiger Kraft, einfacher Solidität ein. Wir haben an ihm das erste Beispiel
einer sich verengenden Fläche, das Tempo steigert sich also in ihrem Verlauf, zugleich mindert
die schräge Linie etwas die Spannung, so dass die Fläche leichter und freier wird. Gegen sie wirkt
die niedrige Dachlucke, wie die kleinen quadratischen Balkenköpfe gegen die Stockwerksflä-
chen, als humoristischer Kontrast.
Natürlich sind mit diesen Bemerkungen zunächst nur die gezeichneten Fassaden auf ihre
Wirkung untersucht. Bei der ausgeführten Fassade verschiebt sich manches im Eindruck, auch
kommen ganz neue Momente hinein, die wir erst bei den Raumformen kennen lernen werden.
(Die obigen Ausführungen bewegen sich auf einem so neuen und abstrakten Gebiete, daß wir sie
zwar gern aufnehmen, uns aber nicht ohne weiteres mit ihnen identifizieren können.) D. Red.
Im Zentrum der von Friedrich Theodor Vischer und seinem Sohn Robert in den
1870er Jahren ausgehenden Einfühlungsästhetik steht ein leibliches, fühlendes,
physio-psychologisches Subjekt. Im Unterschied zu experimentellen Ansätzen
tritt dieses nicht nur mittels einzelner isolierbarer (und entsprechend erforschba-
rer) Sinnesfunktionen, sondern als Ganzes in ein Verhältnis zur Welt; es nimmt
mit seinem gesamten Körper wahr, und zwar Formen. In Fortsetzung von F. Th.
und R. Vischer hat das Wort ‚Einfühlen‘ um 1900 auch und gerade eine aktive
Bedeutung: Anders als im heutigen Sprachgebrauch meint es v. a. das Hervor-
bringen von Formen. Wir ‚leihen‘ – so F. Th. Vischers Metapher – dem Gegenüber,
und zwar gerade dem unbelebten, unser Körper- und Lebensgefühl, und diese
kommen uns umgekehrt aus jenem entgegen. Theodor Lipps, der entscheidend
zur institutionellen Etablierung der psychologischen Ästhetik als wissenschaft-
licher Disziplin beigetragen hat, baut um die Jahrhundertwende diesen Gedan-
ken zu einer umfassenden systematischen Ästhetik aus. Wenn die physiopsychi-
schen Vollzüge der Wahrnehmung unbehindert vonstattengehen, wenn sie von
den wahrgenommenen Formen gleichsam befördert und unterstützt werden,
dann empfindet das Ich dies als Freiheit und genießt es. Die Empfindung von
ästhetischer Lust bzw. Schönheit gilt Lipps derart als objektivierter Selbstgenuss.
Seine Ästhetik führt jenes Erzeugen von Formen, angefangen von elementaren
geometrischen Figuren und allen voran der Linie, mit großem verbalen Aufwand
vor. Dabei mag das konservative Ziel der Nachweis eines Ichs gewesen sein, das
sich – allen gegenteiligen zeitgenössischen Tendenzen, z. B. bei Ernst Mach oder
Sigmund Freud, zum Trotz – in seinen Hervorbringungen als stolzes und freies
behauptet. Ihre Wirkung aber zeitigt diese psychologische Ästhetik auf anderem
Gebiet: Indem sie nachdrücklich zeigt, inwiefern abstrakte Formen durch und für
uns lebendig sind, arbeitet sie der damaligen Entstehung der abstrakten Kunst
zu und verschafft ihr theoretische Legitimation. Nicht von ungefähr beziehen
sich Künstler wie August Endell* und Henry van de Velde darauf, und bei Paul
Klee, Wassily Kandinsky und anderen bestehen zumindest Affinitäten dazu.
Auch in der Kunstwissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind
einfühlungsästhetische Gedanken sehr verbreitet. Sie sind attraktiv für Überle-
gungen zu Architektur, die wie diejenigen des frühen Heinrich Wölfflin* oder
August Schmarsows dem Körpergefühl einen wichtigen Platz einräumen, oder
für anthropologische Befragungen des Ornaments wie diejenigen Aby Warburgs.
Denn jene bieten eine Alternative zur ‚materialistischen‘, d. h. technikgeschicht-
lich argumentierenden Theorie der Semperianer und zur formalistischen Position
Alois Riegls. Die prominenteste Rolle aber spielt Lipps’ Ästhetik bei demjenigen,
der als ihr größter Kritiker auftritt: bei Wilhelm Worringer. Dessen Gegenbegriff
zur Einfühlung, ‚Abstraktion‘, ist in vielen Hinsichten ein direktes Erbe der atta-
ckierten Position.
Bonnefoit 2009, S. 29–30; Curtis/Koch 2009; Franke 2007, S. 264–271; Franz 2007a;
Mainberger 2010; Mainberger 2014b; Maskarinec 2014; Müller-Tamm 2005, S. 219–
248; Pierre 2007; Rehm 2012; K. Wagner 2009; Weiss 1979; Wilke 2014
1. Allgemeines.
Alle räumlichen Formen, seien sie nun lineare oder Flächenformen, oder Formen des nach drei
Dimensionen ausgebreiteten Raumes, oder kurz „körperliche“ Formen, verdanken ihre ästheti-
sche Eindrucksfähigkeit oder ihren ästhetischen Wert dem in ihnen – nicht an sich, aber für die
ästhetische Betrachtung – liegenden Leben. Leben aber ist Tätigkeit. Und Möglichkeit der Tätig-
keit oder Größe der Anspannung derselben ist Kraft. Eine räumliche Form ist schön, wenn in
ihr Kräfte frei, d. h. ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend, sich auszuwirken, wenn die Formen
vermöge solcher Kräfte sich ins Dasein zu rufen und im Dasein sich zu erhalten scheinen. Die
schöne Linie ist eine sich selbst oder ihre Form durch in ihr wirkende Kräfte in jedem Moment
von neuem frei schaffende und erhaltende; sie ist damit jederzeit ein Analogon der wollenden
und handelnden und in ihrem Wollen und Handeln ihr inneres Wesen frei auswirkenden Persön-
lichkeit. Die schöne Linie ist schön, weil sie dies ist. Und was hier von der Linie gesagt ist, gilt
von jeder räumlichen Form überhaupt.
[…] [S. 4] Was wir in der unbeseelten Welt wahrnehmen, ist nichts als einfaches Dasein und
Geschehen. Aber dies nehmen wir eben wahr und fassen es auf, machen es uns geistig zu eigen.
Und indem wir dies tun, durchdringen wir das Wahrgenommene mit unserer Tätigkeit, unserem
Leben, unserer Kraft, kurz mit uns selbst.
Schon die einfache, gerade Linie ist mir nicht fertig gegeben, sondern gegeben sind mir etwa,
wenn die Linie schwarz auf weißem Hintergrunde mir entgegentritt, eine Menge schwarzer und
weißer Punkte oder Flecken. Die schwarzen Punkte gehen in andere schwarze Punkte [S. 5] der
Linie, sie gehen aber ebensowohl in die weißen Punkte der Umgebung ohne Unterbrechung über.
In dem Ganzen, was meiner Gesichtsempfindung sich darbietet, ist die schwarze Linie mit vieler-
lei anderem zusammen implizite vorhanden. Sie wird in dem Ganzen meines Sehfeldes mitgese-
hen. Soll sie nicht implizite, sondern explizite für mich da sein, nicht mitgesehen, sondern für
sich gesehen werden, soll also das abgeschlossene Ding, das ich „diese Linie“ nenne, für mich
existieren, so muß ich es aus dem Ganzen, das ich wahrnehme, herauslesen oder herauslösen,
d. h. ich muß Teil um Teil aus der Umgebung herausheben, Teil zu Teil hinzufügen und sukzes-
sive die Teile miteinander verbinden, und so schließlich das Ganze schaffen. Ich muß dabei an
einem Punkte einsetzen, weiter und weiter gehen, und schließlich absetzen. Jenes sukzessive
Hinzunehmen und Vereinheitlichen ist ein Aufnehmen der Elemente der Linie in einen einzi-
gen Akt der Auffassung, der das Ganze umspannen soll. Es ist ein sukzessives Sichausweiten
dieses Aktes, ein Gewinnen einer größeren und größeren Spannweite desselben, bis er alle diese
Elemente in sich aufgenommen hat. Und das Absetzen ist im Vergleich damit eine in entgegen-
gesetzter Richtung gehende Leistung. Es ist das Abschließen dieser Ausweitungsbewegungen,
der Zusammenschluß des in den Akten der Auffassung Aufgenommenen, die Begrenzung der
Auffassungstätigkeit, die Weiteres und immer Weiteres in den einen Akt aufzunehmen bereit ist.
Diese ganze innere Tätigkeit vollziehe ich aber auf das Geheiß der Linie. Die Linie gibt mir den
Anstoß zu jenem Ansatze. Sie gebietet mir den sukzessive sich weitenden Akt. Und sie schreibt
mir die Begrenzung dieser Ausweitungsbewegung vor. Die ganze Tätigkeit ist also meine, und
doch wiederum nicht meine Sache, sondern Sache der Linie. Die Linie, dieses Ding, oder dieser
von seinem Hintergrund geschiedene, abgeschlossene Gegenstand existiert für mich gar nicht
ohne diese Tätigkeit. Dieselbe liegt somit in der Linie als konstituierender Faktor desselben. Die
Linie wird durch sie – nicht an sich, aber für mich. Habe ich die Linie in meinem geistigen Besitz,
so habe ich sie als etwas, das diese Tätigkeit in sich schließt, so gut wie es die einzelnen Ele-
mente, die durch die optischen Reize gegeben sind, in sich schließt. Es ist unmöglich, daß irgend
eine Linie der Welt für mich existiert oder für mich ein abgeschlossener und für sich bestehen-
der Gegenstand sei, ohne daß in solcher Weise ich mit meiner Tätigkeit unmittelbar darin liege.
Sofern aber diese meine Tätigkeit in der Linie liegt, ist sie die Tätigkeit dieser Linie. Sie ist die
ausweitende Tätigkeit der Linie, die an einem Punkte einsetzt, weitergeht und sich begrenzt. Sie
ist Impuls zur Tätigkeit, fortgehende Tätigkeit, begrenzende [S. 6] Tätigkeit. Die Linie tritt durch
solche Tätigkeit für mich ins Dasein und wird zu dieser Linie. Sie gewinnt durch die ausweitende
Tätigkeit für mich ihre Weite und durch die begrenzende Tätigkeit ihr abgeschlossenes Dasein,
kurz ihre Begrenztheit.
Reden wir aber allgemeiner. Jedes räumliche Gebilde hat eine Form. Diese Form ist zunächst
Größe der Ausweitung in dieser oder jener Richtung. Sie ist weiter so oder so geartete Begren-
zung. Diese Form nun hat das räumliche Gebilde jedesmal für mich, weil ich ihm dieselbe durch
meine Tätigkeit gebe. Ich gebe sie ihm, so gewiß ich das abgeschlossene Ganze des räumlichen
Gebildes durch meine zusammenfassende Tätigkeit und meine Begrenzung dieser Tätigkeit
schaffe. Die „Form“ ist eben die Daseinsweise des Ganzen als solchen. Es ist die Gesamtqualität
oder Gestaltqualität. Jede Form eines räumlichen Gebildes schließt also meine formschaffende
oder formgebende Tätigkeit in sich. Diese ist meine und zugleich seine, d. h. des räumlichen
Gebildes Tätigkeit. Das geformte Gebilde existiert für mich gar nicht ohne diese formschaffende
Tätigkeit. Dieselbe ist notwendig in ihm, sofern das Gebilde für mich existiert; dasselbe ist ein
Produkt aus den beiden Faktoren, dem sinnlich Gegebenen und dieser formschaffenden Tätig-
keit. Damit haben wir dasjenige genauer bezeichnet, was ich oben so ausdrückte: Indem ich ein
räumliches Gebilde wahrnehme, durchdringe ich es mit meiner Tätigkeit oder meinem Leben.
Leben und Tätigkeit sind ja gleichbedeutende Begriffe. Zugleich habe ich damit noch einmal
dasjenige bezeichnet, was ich im ersten Bande meiner „Ästhetik“ allgemeine apperzeptive Ein-
fühlung nannte. […]
[S. 9] […] Jede räumliche Form, sagte ich, entsteht für mich durch eine Tätigkeit. Dies Entstehen
nun ist ein räumliches; es ist also Bewegung. Und diese Bewegung nun unterliegt naturgemäß
den Gesetzen der Bewegung, die mir erfahrungsgemäß vertraut sind. Dies heißt zunächst, daß
ich sie naturgemäß an diesen Gesetzen messe.
Und dabei bestehen nun die beiden Möglichkeiten: Die Bewegungen sind aus den uns vertrau-
ten Gesetzen der Bewegung verständlich, d. h. die Formen scheinen den sich selbst und ihrer
Gesetzmäßigkeit frei überlassenen Bewegungen ihr Dasein zu verdanken. Oder aber es findet
das Gegenteil statt: Die Bewegungen erscheinen als erzwungen, unfrei, in ihrem freien Ablaufe
gehemmt oder gestört.
Diese Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit den uns vertrauten Bewegungsgeset-
zen haben nun nicht an sich ästhetische Bedeutung. Aber die Bewegungen, um die es hier sich
handelt, sind ja zugleich Tätigkeiten oder Verwirklichungen von Tendenzen. Und diese Ten-
denzen sind, obzwar für uns an den Formen haftend, ihrem Ursprung und letzten Wesen nach
unsere eigenen, in der Betrachtung der Formen entstehenden Tendenzen.
Und demgemäß ist die Freiheit und die Unfreiheit derselben zugleich Freiheit und Unfreiheit der
Verwirklichung unserer eigenen Tendenzen oder der Tendenzen der Betätigung unserer selbst.
Freiheit der Betätigung meiner selbst, frei sich auswirkende Tendenz der Selbstbetätigung aber
ist Grund der Lust. Zwang und Unfreiheit in der Betätigung meiner selbst, Zwang, im Wider-
spruch mit den in mir vorhandenen Tendenzen der Selbstbetätigung mich zu betätigen, ist Grund
der Unlust. Und die Lust aus der Freiheit der eigenen Betätigung ist Selbstgenuß, beglückende
Selbstbejahung. Die Unlust aus der Unfreiheit der eigenen Selbstbetätigung, der Hemmung, dem
Zwange, dem diese unterliegt, ist Störung und Zerstörung des Selbstgenusses, ist unmittelbar
gefühlte Lebensverneinung.
Und damit nun ist der ästhetische Wert und Unwert der räumlichen Formen ohne weiteres
gegeben. Ästhetisch wertvoll müssen uns Formen sein, in welchen wir uns frei tätig fühlen,
ästhetisch un-[S. 10]wert solche, in welchen wir uns als in der Freiheit unserer Betätigung
gehemmt und gestört fühlen. Ästhetisch wertvoll also sind solche Formen, in welchen für uns
Bewegungen liegen oder bewegende Kräfte sich verwirklichen, derart, daß diese Bewegungen
den uns vertrauten Gesetzen der Bewegung entsprechen; ästhetisch unwert solche, bei denen
das Gegenteil der Fall ist.
Bewegende Kräfte nun nennen wir auch mechanische Kräfte, Gesetze der Bewegung mechani-
sche Gesetze. Wir dürfen demnach auch sagen: ästhetisch wertvoll sind solche Formen, die für
unsere ästhetische Betrachtung – die das Dasein in ein Werden, also in Bewegungen auflöst –
nach mechanischer Gesetzmäßigkeit ihr Dasein gewinnen und haben. Oder kurz, ästhetisch
wertvoll sind die aus sich selbst mechanisch verständlichen Formen; ästhetisch unwert sind die
aus sich mechanisch unverständlichen, in diesem Sinne innerlich unmöglichen. […]
Indem […] die Ästhetik diese Gesetzmäßigkeit bewegender Kräfte und Tätigkeiten zeigt, ist sie
ästhetische Mechanik. Mit diesem Namen habe ich denn auch seit langem die Aufgabe der
Ästhetik der künstlichen oder geometrischen Form belegt.
Diese ästhetische Mechanik ist nun wohl zu unterscheiden von der [S. 11] physikalischen
Mechanik. Die letztere zeigt, wie Formen unter Voraussetzung bestimmter bewegender Kräfte
tatsächlich entstehen. Die ästhetische Mechanik dagegen hat nichts zu tun mit dem tatsächli-
chen Entstehen der Formen, sondern einzig mit dem Entstehen derselben für unsere ästhetische
Betrachtung und unseren ästhetischen Eindruck. […]
[S. 13] […] Den vorstehenden allgemeinen Bemerkungen über ästhetische Mechanik füge ich jetzt
noch eine Erinnerung an die bereits in meiner »Grundlegung der Ästhetik« getroffene Unter-
scheidung zweier Arten von geometrischen oder künstlichen Formen hinzu. Die eine Art bilden
diejenigen Formen, die in der Geschichte vergangener Zeiten überall uns begegnen. Wir wollen
sie, weil sie zunächst, obgleich nicht alle, in der antiken Kunst uns entgegentreten, die antiken
Formen nennen. Die andere Gattung ist bezeichnet durch die „moderne Linie“.
Was die beiden unterscheidet und einander gegenüberstellt, ist dies: Die antike Form verdankt
ihr Dasein für unsere belebende ästhetische Betrachtung Kräften, die ein für allemal, also schon
von vorneherein, beim Beginn der Form oder am Ansatzpunkt ihres Entstehens gegeben und
wirksam sind. Und die Form ist zu Ende, wenn die Wirkung dieser Kräfte, also die aus ihnen
entstehende Bewegung, ihr natürliches Ende erreicht hat, beziehungsweise wenn einander ent-
gegenwirkende Kräfte sich ins Gleichgewicht gesetzt haben.
Dagegen entsteht die moderne Linie für eben dieselbe ästhetische Betrachtung durch sukzes-
sives Eingreifen bewegender Kräfte; d. h. während eine Kraft oder ein Zusammen von Kräften
wirkt, also eine Bewegung im Begriffe ist, abzulaufen, tritt eine neue Kraft ein, und die Linie
gerät sozusagen in die Sphäre einer solchen Kraft. Und diese lenkt, indem sie jene Kraft über-
windet, stetig die Linie in ihre Bahn. Da dies Spiel sich endlos wiederholen kann, so könnte diese
moderne Linie ins Endlose fortgehen. In Wahrheit wird sie dies nicht tun, weil doch jene Folge
von ineinander übergehenden Bewegungen wiederum in eine einzige Bewegung eingeordnet
werden, im Rahmen oder auf der Basis einer solchen sich abspielen, von einem einheitlichen
Bewegungsgesetze beherrscht sein muß, wenn die aus jener Folge von Bewegungen oder Bewe-
gungsansätzen resultierende Linie nicht ein gesetzloses Taumeln von einer Bewegungsform in
eine andere, sondern ein einheitliches künstlerisches Gebilde darstellen soll.
Offenbar ist aber die Aufgabe der ästhetischen Mechanik jenen in sich abgeschlossenen Formen
gegenüber, also angesichts jener Formen, in welchen eine ursprüngliche oder von vornherein
gegebene Kraft oder ein ursprünglich oder von vornherein gegebenes Zusammen [S. 14] oder
Gegeneinander von Kräften sich auswirkt, und in welchen die Form zu Ende ist, wenn die daraus
resultierende Bewegung ihr natürliches Ende gefunden hat oder zur Ruhe gekommen ist, – die
einfachere. Diese einfachere Aufgabe ist dann zugleich diejenige, die die Ästhetik zuerst zu lösen
hat.
Die antike Form ist vergleichbar der in sich abgeschlossenen einfachen Melodie. Wie mehrere
solche Melodien zu einer umfassenderen Melodie, so können verschiedene Formen dieser Art
sich zu einem Ganzen zusammenfügen, das wiederum von einer einzigen in sich abgeschlosse-
nen Bewegung beherrscht erscheint. Aber sie fügen sich dann aneinander, wie sich abgeschlos-
sene Melodien oder Teilmelodien aneinander fügen und zu einem melodischen Ganzen zusam-
menschließen.
Die moderne Linie dagegen ist vergleichbar der aus dem Übergehen von Melodie in Melodie, dem
Hinübergleiten einer Melodie in die Region und Herrschaft einer immer neuen und neuen Tonika
oder Tonart entstehenden „unendlichen Melodie“. Hier fügen sich Melodien nicht aneinander,
sondern sie verweben sich ineinander.
Nun, wie die Ästhetik der Musik zunächst sich wird begnügen müssen, die einfache Melodie zu
verstehen, und ihre Aufgabe der unendlichen Melodie gegenüber die sein wird, aus ihr die ein-
fachen Melodien herauszulösen und die Gesetzmäßigkeit des Überganges von einer zur anderen
zu begreifen, und endlich zu zeigen, wie oder inwieweit doch in ihrer Verwebung etwas wie ein
einheitliches melodisches Ganze entsteht, so am Ende wird es sich auch mit der Ästhetik der
Formen verhalten müssen.
Dieser Bemerkung gemäß fasse auch ich die ästhetische Mechanik zunächst als Mechanik jener
einfachen und in sich abgeschlossenen Formen.
Ist der Anfangspunkt der vertikalen Linie ein Punkt einer horizontalen Linie, so erhebt sich
jene von dieser als ihrer Basis. Ist ihr oberer Endpunkt ein solcher, dann senkt sie sich von der
durch die horizontale Linie bezeichneten Höhe herab. Jetzt ist dieser Punkt nicht mehr End-
punkt, sondern Anfangspunkt, aber Anfangspunkt für die Wirkung der Schwere. Diese ist es
jetzt, welche die Ausdehnung der Linien erzeugt, und das am unteren Ende stattfindende Gleich-
gewicht ist das Gleichgewicht zwischen der Schwere und dem inneren Zusammenhalt, oder der
inneren Festigkeit der Linie.
Läuft die vertikale Linie von einer horizontalen zu einer horizontalen, so bestehen die drei
Möglichkeiten. Einmal, sie richtet sich vertikal auf gegen die obere horizontale Linie. Und dies
kann wiederum zweierlei heißen: Einmal, sie trägt die letztere, oder aber sie richtet sich nur
einfach auf, und die horizontale Linie schwebt über ihr. Damit ist zugleich die obere horizontale
Linie verschieden charakterisiert, nämlich einmal als getragen d. h. lagernd oder lastend, zum
anderen als schwebend, d. h. sich frei in ihrer Höhenlage erhaltend und in jedem ihrer Punkte
das Gleichgewicht zwischen Schwere und vertikaler Gegenbewegung repräsentierend.
Die zweite Möglichkeit ist die: Die vertikale Linie streckt sich von oben nach unten und hält die
obere horizontale in bestimmter Entfernung von der unteren.
Dazu tritt endlich die dritte Möglichkeit. Die vertikale Linie streckt sich zwischen der oberen
und der unteren horizontalen oder hält sie beide auseinander. In diesem Falle hat die vertikale
Linie eine Funktion gleichartig derjenigen, welche wir oben die zwischen zwei vertikalen einge-
spannte Horizontale üben sahen.
Alle diese Möglichkeiten nun haben vor allem Bedeutung für die Baukunst. Die Säule etwa stützt
oder trägt. Oder sie richtet sich auf, damit ein horizontales Gebälk sich schwebend darüber
erhalte. Die Beine von Tischen strecken sich gegen den Boden und halten die Tischplatte in einer
bestimmten Entfernung von diesem. Gewisse romanische Säulen endlich sind zwischen oben
und unten eingespannt und halten, was über und unter ihnen ist, auseinander. In den beiden
ersten Fällen ist der Ausgangspunkt der Tätigkeit unten, im zweiten ist er oben, im dritten Falle
in der Mitte.
Die Tätigkeiten in der vertikalen und in der horizontalen Richtung verbinden sich als Kompo-
nenten zu einer einzigen Resultante in der schrägen Linie. Je nach dem Grade der Schrägheit
erscheint die eine [S. 17] oder die andere als die herrschende Tätigkeit. Zugleich erscheint jede
umso intensiver, je mehr sie in Anspruch genommen ist. Dies heißt etwa: Dieselbe schräge Linie
ist ihrem inneren Wesen nach in höherem Grade eine vertikale, wenn sie gegen eine horizontale
angeht oder auf sie zugeht, oder zwischen zwei horizontalen verläuft; sie ist in höherem Grade
Trägerin der horizontalen Tätigkeit, wenn sie zu vertikalen Linien in solcher Weise sich verhält.
Die geraden Linien, von welchen hier die Rede war, wollen jedesmal gedacht sein als hervorge-
hend aus einem einzigen Bewegungsimpuls. Ein solcher wirkt naturgemäß in seiner ursprüngli-
chen Richtung weiter und weiter. In der Linie, die daraus hervorgeht, liegt also die Tendenz des
Fortganges in der ursprünglichen Richtung. […]
[S. 18] […] Daneben steht nun aber die einfachste Möglichkeit, wie eine Krümmung motiviert
sein kann. Diese besteht darin, daß in der Linie selbst eine Krümmungstendenz wirkt. Ich meine
damit die Tendenz einer Linie, in jedem Punkte ihres Verlaufes rechtwinklig zu der Richtung, in
der sie in diesem Punkte fortzuschreiten im Begriffe ist, ab-[S. 19]zubiegen. Eine solche Tendenz
ist uns von uns selbst her eine wohlbekannte Sache, wir finden sie weiterhin zunächst in der
animalischen und endlich auch in der Pflanzenwelt. Kein Wunder, wenn wir sie auch in der Welt
der Linie finden.
Es bedarf aber, damit wir an eine solche Tendenz glauben, lediglich der Wahrnehmung der fortge-
henden Krümmung. Ist einmal der Fortgang einer Linie als Fortgang d. h. als Bewegung gedacht,
dann muß eine solche Krümmung als Ergebnis einer besonderen, die natürliche Tendenz des
geradlinigen Fortganges von Punkt zu Punkt aufhebenden Kraft erscheinen. Und ist die Linie
nicht durch eine auf sie wirkende Kraft, etwa die Schwerkraft gekrümmt, sondern krümmt sie
sich selbst, so ist die krümmende Kraft in der Linie. Zugleich muß diese Kraft in der einheitlichen
und mit sich identischen Linie in jedem Momente des Verlaufes derselben dieselbe sein.
Sei nun zunächst eine irgendwie gerichtete einfache Bewegung da, die, sowie es in der Natur
jeder Bewegung liegt, in der Richtung, die sie gerade hat, und irgendwie gewonnen hat, ins
Endlose weiterstrebt. Damit ist zugleich gesagt, daß wir dieser Bewegung keine begrenzende
Kraft entgegenwirkend denken. Und mit dieser verbinde sich eine Krümmungstendenz. Dann
entsteht zunächst die endlos in sich zurückkehrende Kreislinie. Diese tendiert in jedem Punkte
in der Richtung der Tangente fortzugehen, wird aber in jedem Punkte durch die überall vorhan-
dene, sich selbst gleiche Krümmungstendenz in gleicher Weise im Mittelpunkt festgehalten. Man
beachte wohl, daß hier von der Kreislinie als solcher, nicht von einer kreisförmig begrenzten
Fläche die Rede ist.
Denken wir aber nun weiter die Linie an einem bestimmten Punkt endigend, also eine begren-
zende Tätigkeit ihrer fortschreitenden Bewegung entgegenwirkend und diese sukzessiv aufhe-
bend. Hat hier die fortschreitende Bewegung gegen den Endpunkt zu in irgend einem Punkte
die „lebendige Kraft“ = 1, dann hat sie in dem Punkte, der zwischen diesem Punkte und dem
Endpunkte in der Mitte liegt, die lebendige Kraft = 1/2. Die lebendige Kraft der fortschreitenden
Bewegung steht überhaupt in jedem Punkte der Linie im umgekehrten Verhältnis zur Entfernung
des Punktes vom Endpunkte. Je mehr nun diese Kraft sich mindert, umso größer ist im Vergleich
mit ihr die überall identische Krümmungstendenz. Die Linie, die in solcher Weise sich ergibt,
ist die »regelmäßige« Spirale d. h. die Spirale mit überall gleichem Abstand der Windungen.
Im Endpunkt ist die Wirkung der Krümmungstendenz absolut. Der Endpunkt d. h. das „Auge“
dieser Spirale ist ein in sich selbst sich drehender Punkt; das sprechende Symbol des Zurruhe-
kommens der Bewegung in sich selbst. […]
[S. 29] […] Im vorstehenden habe ich einige einfache Linien in ihren Grundzügen »ästhetisch
beschrieben«, d. h. ich habe die Kräfte, Tendenzen, Tätigkeiten, Wirkungen und Gegenwirkun-
gen angegeben, aus denen sie sich frei oder mit innerer Notwendigkeit ergeben. Oder, was das-
selbe sagt, ich habe ein Stück „ästhetische Mechanik“ getrieben. Aus dieser ergibt sich zwei-
erlei: Einmal das Verständnis des ästhetischen Eindrucks der Linien. Denn dieser Eindruck ist
die Zusammenfassung und Verdichtung des Gefühls dieser Kräfte, Tätigkeiten etc. Und es ergibt
sich daraus zugleich, unter welchen Bedingungen diese oder jene Linie anwendbar ist, nämlich
dann, wenn an der Stelle, wo sie angebracht werden soll, der Gedanke an solche Kräfte, Tätig-
keiten u. s. w. Sinn hat. Formen, bei welchen diese Voraussetzung fehlt, sind leer und damit an
ihrer Stelle häßlich, mögen sie an sich oder an anderer Stelle noch so sinnvoll und schön sein.
Der belgische Architekt und Gestalter Henry van de Velde sieht sich selbst als einen
der großen Wegbereiter des in den 1890er Jahren aufkommenden neuen Stils der
dynamischen Linien. Im Sinn des zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurses
bestimmt er – und zwar mit einigem Rezeptionserfolg – die Linie als eine Kraft.
Obgleich meist ohne Referenzen, sind seine zahlreichen theoretischen Überlegun-
Bonnefoit 2009, S. 18–19; De Muer 2010, S. 74–75; Fischer 2013, S. 305–324; Mainberger 2010;
Mainberger 2012; Pierre 2007; Rességuier 1955; Schmückle von Minckwitz 2007; Schmückle von
Minckwitz 2015, S. 182–185; Weber 1992; Weber 1994; Wolff-Thomsen 2013
Die Linie
In: Die neue Rundschau, 19. Jahrgang der freien Bühne, 3. Bd., 1908, S. 1035–1050, hier: S. 1035–
1039.
Nur wenig Aufklärung besitzen wir über den Ursprung der Linie und noch bis vor kurzem blieb
ihre Natur ungenau definiert. Es wäre ein großes Wagnis, das feststellen zu wollen, worüber
selbst die gelehrtesten Psychologen eine Aufklärung vermieden haben: den genauen Zustand
der Entwicklung des primitiven Menschen, und den Zeitpunkt, der mit der Geburt der ersten
Linien zusammenfiel.
Wir lassen daher jede nur zu gewagte und subtile Hypothese und legen schnell die Unabwend-
barkeit dieses Ereignisses dar! – Wie wir geschaffen sind, Finger an den Händen und Füßen –
Hände die sich am Ende der Arme bewegen – bewegliche Füße an den Beinen; Arme und Beine
die sich spreizen, biegen und lebhaft gestikulieren…
Im primitiven Zustand werden diese Glieder noch viel lebhafter als im zivilisierten Zustand sich
bewegt, gestoßen – in rezeptiven Materialien, in Sand, in Ton, gewühlt haben.
Da, so sagt uns unser gesunder Menschenverstand, mußte das Ding – die Linie – aus dem
Kontakt entstehen!
Fast bis zur Periode des Unbewußtseins müssen wir zurückgreifen, um den Zeitpunkt zu errei-
chen, da der Mensch die erste Linie zog.
Bevor der Mensch zum Bewußtsein kam, gab es für ihn alles das, was wir beim Kinde sich entwi-
ckeln sehn, bevor es zum Bewußtsein gelangt: Bewegung, Gebärde, Schrei und Laut!
Und diese Fähigkeiten entwickeln sowohl der Urmensch als das Kind während der Periode des
Unbewußtseins, bis zu einem relativ vorgeschrittenen Grad. Die Bewegung wiederholt und dehnt
sich, die Gebärde wird geschmeidig und kühn, der Schrei ausdrucksvoll und modulationsfähig
und der Laut versucht sich schnell an verschiedenen Rhythmen.
Sollte die Natur mit berechnender Grausamkeit dem Menschen solche Fähigkeiten verleihen und
ihm gleichzeitig die Möglichkeit versagen, sich an den Gaben zu freuen und sich an die empfun-
dene Freude zu erinnern? Sicher ist, daß der Mensch – sobald er zum Bewußtsein gelangt – mit
Fähigkeiten begabt ist, deren Erkenntnis und bewußter Besitz ihn so entzückt haben würden,
daß er sein ganzes Leben lang den heiligen Wiederschein dieses Entzückens und einer tiefen,
unendlichen Dankbarkeit mit sich getragen hätte.
Der Mensch bewegt sich, gestikuliert, schreit und spricht – ohne diese Gaben mehr genossen
zu haben, als die des Lebens selbst – ohne zu ahnen, daß ihm etwas Unerhörtes, Wunderbares
geboten ward!
Linien – übertragene Gebärden – offenbare psychische Äußerungen, deren Primitivität die
Nuancen beschränkte. So erkennen wir in der ersten Linie ausschließlich [S. 1036] Zustände
äußerster Lebenskraft und Erregung, Zustände kindlicher Freude, rückhaltloser Lust. Sie zeugen
von latenten Kräften, die in uns sind, durch plötzliches Verlangen gereizt und entfesselt, von
Kräften, die ungeduldig sind, sich in Tat umsetzen zu können. Psychische Kräfte haben die Hand
geleitet, die Hand, die mit einem ganz primitiven Werkzeug – Knochen oder Stein – bewaffnet
war, ebenso wie natürliche Kräfte die Spitze des Grashalmes zur Erde gewendet haben, wo sie
kleine Kreise in den Sand malt, – ebenso wie natürliche Kräfte den Fels erschütterten, der bei
seinem Sturz sichtbare Spuren auf den Flächen, die er verwundete, zurückließ, – ebenso wie
natürliche Kräfte jene kapriziösen und vergänglichen Arabesken im Wasser schufen. Die Kraft ist
das Geheimnis des Ursprungs aller Kreaturen und aller Schöpfungen. Aber nur wenig Schöpfun-
gen stehen in so direktem, nahem Zusammenhang mit ihrem Schöpfer, wie die Linie. Die Linie
ist eine Kraft, die ihre Natur nicht verleugnen, ihrem Schicksal nicht entgehen wird. Linien –
übertragene Gebärden – das ist das Wunder! […]
Seit seinem elementarsten Dasein berauschte sich der Mensch unbewußt an der Wollust seiner
Bewegungen, seiner Gebärden und seiner Laute und je weiter er sich kulturell entwickelte,
erlangte er die Wollust des Tanzes, des Gesangs, der Poesie! So sind also die Künste nichts weiter,
als erhöhte Zustände physiologischer Fähigkeiten. Da drängt sich nun die Fähigkeit, Linien zu
ziehen dazwischen und wurzelt sich ein. Zu der Wonnetrunkenheit der Er-[S. 1037]kenntnis
seiner Fähigkeit, Linien zu ziehen, mußte es den Menschen zuerst dazu treiben, von der Linie
eine ähnliche Wollust wie die des Tanzes, des Kampfes, der Liebkosung zu verlangen.
Und was der Mensch so von der Linie verlangte, das gab sie ihm in reichem Maße, setzte daran
den ganzen Eifer ihrer jugendfrischen Kraft.
Die ersten Linien enthüllen uns alles, was wir über die Gebärden und die Tänze der Urvölker
und Menschen wissen wollten: Gebärden, die sich gierig strecken, den Raum zu umschlingen,
ihn an sich zu pressen, um ihn im nächsten Augenblick mit Kraft und Anmut von sich zu stoßen!
Flüchtige Gebärden, schnell wie ein Schlag, wie stürmisches Liebkosen; weniger kadenzierte,
zarte Bewegungen, als leichte Sprünge; rings um den Gegenstand herum ein wilder, ausgelasse-
ner Reigen; ich werde später auf den Anlaß näher eingehen. Wären uns auch gar keine Spuren
aus der primitiven Zeit oder der Vorgeschichte erhalten, so hätten wir die ersten Linien doch
in unserem Innern wiederfinden können, wo sie jetzt noch den Gebärden entsprechen, die am
leichtesten auszuführen sind und welche die geringste Anstrengung von dem sie erzeugenden
Mechanismus verlangen. Dies ist ein Prinzip, das wir mit Recht bei den ersten Linien anwenden
können, weil es auch für die ersten Bewegungen und Gebärden gilt.
Auf Anregung des Gehirns in Bewegung gesetzt, hat die Hand spontan, und beinahe unwider-
stehlich, eine Linienfolge gezeichnet. Es gibt zwei Gründe dafür, daß es so gewesen, daß mehrere
Linien gleichzeitig entstanden sind! Erstens scheint wirklich weniger Anstrengung nötig gewesen
zu sein und ein geringerer Aufwand von Kräften, um eine Linienfolge zu ziehen, als um eine
einzige Linie entstehen zu lassen. Und zweitens entspricht diese Linienfolge dem gebieterischen
Verlangen nach Rhythmus, das wir in diesen Figuren unter der elementarsten Form erkennen.
Der Rhythmus prägte also der Linie die ornamentale Eigenschaft auf! An die Tatsache, daß die
Aufeinanderfolge von Linien ein Ornament bilde, knüpft sich eine Offenbarung, um deren ganze
Tragweite zu erfassen wir die Konzeption der Ornamentik auf das Agens zurückführen müssen,
durch das der primitive Mensch das intensivste Entzücken genoß.
Die geringste Linienandeutung, die elementarste Wiederholung der Linien war für ihn ein Phä-
nomen, dessen Erscheinen auf den Flächen, die er einen Augenblick vorher nackt gesehen, auf
ihn wie ein Wunder wirkte. Wie ein Wunder, das er selbst soeben aus eigener Kraft vollbracht;
durch Zauberkünste, die in ihm wohnen – die nie versagen; immer auf die Erregung, die er in
sich spürt, reagieren werden! Die kindlich naive Sensibilität des primitiven Menschen wurde
von dieser Zauberkraft betroffen und sein Bedürfnis nach Ausschweifung, nach Paroxysmus und
extremen Taten brandschatzte die Macht der Ornamentik und der Linie. In der Primitivität oder
der Vorzeit – (wir sind berechtigt, eine für die andere einzusetzen) gebietet also die Linie über
[S. 1038] magische Kräfte, die sich in der Ornamentik steigerten, ebenso wie die Gebärden ihre
Intensität und Kraft im Tanz steigerten! Durch feierliche Akte und Zeremonien mußten höhere
Mächte zu Hülfe gerufen werden, um einen Gegenstand zum Leben zu erwecken.
Ebenso wie Tanz und Musik konnte die Ornamentik das Wunder vollbringen. Die Linie und das
ursprüngliche lineare Ornament sind die Schrift der beschwörenden, wollüstigen Gebärden und
Tänze. Sie führen uns die Zeremonie vor Augen, welche Gegenstände, die sich in einem inferio-
ren Zustand befanden, emporhoben. Auch die Bedeutung der Tätowierung entstand aus diesem
Gefühl. In diesen Zeiten verfügte somit die Linie und die lineare Ornamentik über Eigenschaf-
ten und Kräfte, welche die weniger ursprüngliche Sensibilität späteren Zeiten auf Darstellungen
übertrug!
Von dem Augenblick dieser Verschiebung an besteht die ganze Geschichte der Ornamentik in
dem Kampf um die Vorherrschaft zwischen den beiden Arten der Linie. Zwischen der Gemüts-
linie und der mitteilenden Linie. Es ist eigentlich mehr der Kampf zweier Neigungen, – der
Neigung zum Taumel, zur Wollust und der Neigung, Dinge und Wesen auszubilden, von denen
sich der Mensch umringt sah. Zwei, beim Menschen so ausgesprochene Neigungen, daß sie auf
dem Gebiet, auf dem sie mit demselben Mittel – der Linie – kämpften, um den ausschließli-
chen Besitz derselben ringen mußten! In den Hang zur Wonnetrunkenheit, dem sich die Linie
anfangs ungestört hingeben konnte, drängte sich nun das Bedürfnis der Darstellung und die
fortwährende Suggestion, nachahmen zu müssen; drängte sich die enge, formelle Disziplin,
der das Auge unterworfen wurde und die es zwang, bestimmte Richtungen einzuschlagen, ihre
Ausdehnungen, Umwege und Unterbrechungen zu verfolgen, um so der Hand das zu übertra-
gen, was das Auge den verschiedenen Vorbildern entnommen hatte; der Hand, die eine Sklavin
geworden, ein Werkzeug, dem jede Freiheit genommen war. Nur innere Aufregungen, Rhythmen
und Kadenzen, die unser innerstes Wesen anfeuerten und erregten, konnten bis dahin die Linie
und ihre Spiele erwecken. Eine diskrete stolze Wollust an dem Werk, das im Mysterium unserer
Psyche gereift war, rief das Auge erst nachträglich herbei, damit es sich an dem Wunderwerk
berauschen konnte. […]
[S. 1039] […] Die Rolle des Auges bei diesen beiden Liniengattungen, die wir nach den Benen-
nungen, welche die Psychologie für die Gebärden angenommen hat, „Gemütslinien“ und „mit-
teilende Linien“ nennen könnten, ist durch die verschiedenartigen Naturen, die den beiden Gat-
tungen eigen sind, genau genug charakterisiert.
Die eine hat ein bestimmtes Endziel, strebt nach einer Vollkommenheit, die im voraus absolut
festgesetzt ist und die ihre Erfüllung in der möglichst realen Darstellung naturalistischer Dinge
sieht.
Die mitteilende Linie ist eine Kraft, die unser Wille beherrscht und lenkt wie der Reiter sein Pferd
lenkt, wohin er will, seinen Schritt regelt und es zügelt in seinem Lauf. Der Wille zur Darstellung,
der Wille zur Zeichnung treibt die Linie dahin wo er will, regelt und zügelt den Rest, den sie sich
von ihrer Natur bewahrt hat.
Die Gemütslinie verfolgt ein unbestimmtes Ziel; verfügt frei über ihre Mittel und wird ihren voll-
kommnen Ausbruch in der Anwendung finden, die ihren Mitteln am genausten entspricht, in der
überzeugendsten Bejahung ihrer Natur.
Sie ist eine Kraft, die spontan aus uns herausstrebt, die sich auffschwingt und zurückkehrt,
fortgleitet und sich windet, die uns hebt und hinüberträgt in einen seelischen Zustand, wie sie
Gesang und Tanz allein in uns erwecken können.
In den frühen Schriften Wilhelm Worringers finden sich Gedanken und Gedan-
kenfiguren seiner Zeit, so von Alois Riegl, Heinrich Wölfflin, Friedrich Nietzsche,
Georg Simmel u. v. a., vor allem aber hat sich der junge Kunsthistoriker als großer
Kritiker von Theodor Lipps profiliert. Seine berühmt gewordene Dissertation
von 1907, Abstraktion und Einfühlung, versucht, die einfühlungspsychologische
Ästhetik durch das Theorem der Abstraktion zu überbieten, und die Habilitations-
schrift Formprobleme der Gotik (1911) baut dies aus: Nicht Schönheit, begrenzte
Form, Sinnlichkeit, Weltvertrauen, sondern Ausdrucksmacht, unendliche azen-
trische Bewegung, Spiritualität, Transzendenzstreben usw. heißen die Begriffe,
die in einer Vielzahl von Dichotomien nun den positiv besetzten Pol bilden. Den
paradigmatischen kunsthistorischen Stil bzw. deren Emblem, die gotische Linie,
kennzeichnen Oxymora aus Termen beider Seiten. Die Gotik wird als Zwitterer-
scheinung konstruiert, in deren übersteigertem Wesen sich der zeitgenössische
Expressionismus wiedererkennt. Als Linie unheimlichen, anorganischen Lebens
ist die nordische bzw. gotische allerdings Sigle einer Stilpsychologie, in der die
Einfühlungsästhetik persistiert. Denn nicht Gefühle aller möglichen Art, wie sie
der Liniensymbolismus der Jahrhundertwende artikulieren will und wie sie in
Lipps’ Ästhetik Sache des aktiven, belebenden Ich sind, sondern allein Extrem-
zustände gelten nun als Ausdruck, und nur organisches Leben bietet überhaupt
einen möglichen Gegenstand von Einfühlung. Diese schrumpft zu Identifikation
und Sich-Wiedererkennen, in der Kunst auf die Repräsentation der eigenen ver-
trauten Welt. Die Pointe des Konzepts, die Beseelung des Toten durch Einfüh-
lung, wird dieser abgesprochen; außerordentliche Dynamik und, auf der Ebene
der Phänomenalität, die ‚dionysischen‘ Qualitäten bestimmter künstlerischer
Artikulationen finden sich dagegen am Abstraktionspol. Einfühlung als Weltver-
hältnis und (mit dem ‚Klassischen‘ konnotierte) Kunstrichtung wird derart von
der Norm zu einem Sonderfall. Methodisch aber verdankt sich die Konstruktion
des Gegenteils, der Abstraktion, gerade der Einfühlungslehre.
Die nicht-synthetische Koppelung der gegensätzlichen Begriffe gilt Worrin-
ger als seine entscheidende Neuerung. Im Grunde aber war schon die ‚neue‘
Linie der Jahrhundertwende eine doppelwertige, abstrakt-expressive. Worrin-
gers Charakterisierung der ‚nordischen‘ und die beschworene Zwitternatur der
‚gotischen‘ Linie schreiben insofern die bereits programmatische Koppelung von
Abstraktion mit Ausdruck, Stimmung, Gefühl etc. fort. Daher gibt es Affinitäten
etwa zu Überlegungen Henry van de Veldes*. Von Lipps* kann Worringer auch
die (Wagnersche) Kennzeichnung der ‚modernen‘ Linie als unendlicher Melodie
übernehmen.
Betrachtung nordischer Ornamentik die Augen schliessen, bleibt nur der nachklingende Ein-
druck einer körperlosen unendlichen Bewegtheit.
Lamprecht spricht von dem Rätselhaften dieser nordischen Bandverschlingungsornamentik,
dem man nachgrübeln möchte. Aber sie ist mehr als rätselhaft; sie ist labyrinthisch. Sie scheint
keinen Anfang und kein Ende zu haben, vor allem auch keinen Mittelpunkt; all diese Orien-
tierungsmöglichkeiten für das organisch eingestellte Gefühl fehlen. Wir finden keinen Punkt,
wo wir einsetzen, keinen Punkt, wo wir haltmachen könnten. Jeder Punkt ist in-[S. 204]nerhalb
dieser unendlichen Bewegtheit gleichwertig, und alle zusammen sind sie gegenüber der durch
sie reproduzierten Bewegtheit wertlos.
Wir sagten schon, dass die unendliche Bewegtheit der nordischen Ornamentik dieselbe ist, die
die gotische Architektur später den toten Steinmassen abgewinnt, und diese Gleichstellung wird
durch die Feststellung eines Unterschiedes nur noch bestätigt, nur noch verdeutlicht. Denn
während der Unendlichkeitseindruck der Linie nur dadurch erreicht werden konnte, dass sie
in Wahrheit kein sichtbares Ende nahm, d. h. dass sie in sich selbst sinnlos verlief, kam in der
Architektur der Unendlichkeitseindruck der Bewegung durch die einseitige Vertikalakzentuie-
rung zustande.
Gegenüber dieser von allen Seiten heranströmenden und sich nach oben hin verflüchtigenden
Bewegung kommt der wirkliche Abschluss dieser Bewegung mit der äussersten Turmspitze gar
nicht in Betracht: die Bewegung klingt im Unendlichen weiter. Die Vertikalakzentuierung pro-
duziert hier mittelbar das Unendlichkeitssymbol, was in der Ornamentik unmittelbar durch das
In-sich-selbst-Verlaufen der Linie gegeben wird.
Wir haben also neben der vorherrschend asymmetrischen Eigenart der nordischen Ornamentik
auch ihre vorherrschend azentrische Art festgestellt. Doch diese Feststellung trifft nur den allge-
meinen Charakter, im einzelnen gibt es Ausnahmen. So gibt es eine Anzahl ornamentaler Motive
im Norden, die zweifellos zentrischen Charakter haben, aber auch hier können wir gegenüber
ähnlichen klassischen Ornamenten einen einschneidenden Unterschied konstatieren. Statt des
gleichmässigen und allseitig geometrischen Sterns z. B. oder der Rosette oder ähnlicher ruhen-
der Gestalten, findet sich im Norden das sich drehende Rad, die Turbine oder das sogenannte
Sonnenrad, alles Muster, die eine heftige Bewegung ausdrücken. Und zwar geht die Bewegung
nicht in radialer, sondern in peripheraler Richtung. Es ist eine Bewegung, die nicht aufgehal-
ten und gehemmt werden kann. „Während das antike Ornament sich in seiner nach der Mitte
zusammen oder von der Mitte nach den Seiten laufenden entgegengesetzten – negativen und
positiven – Bewegung in sich selbst aufhebt und sich so zur absoluten Ruhe bringt, geht das nor-
dische Ornament von einem Punkte anfangend immer weiter, immer in gleichem Sinne vorwärts,
bis sein Lauf die ganze Fläche beschrieben und naturgemäss in sich zurückläuft.“ (Haupt.) Der
Unterschied zwischen der radialen Bewegung des antiken und der peripheralen Bewegung des
nordischen Ornaments ist also ein ganz ähnlicher wie der zwischen der Wiederholung im glei-
chen und der Wiederholung im Gegensinn. Hier die ruhige gemässigte organische Bewegung,
dort die sich ununterbrochen steigernde mechanische Bewegung. Und wir sahen, wie gerade bei
anscheinender Verwandtschaft in den Bildungsgesetzen von klassischer und nordischer Orna-
mentik sich die Unterschiedlichkeit bei näherem Zusehen nur um so sichtbarer herausstellte.
Bois 1981; Champa 1985, S. 40; Egenhofer 2010; Jaffé 1967; James 1993; Janssen
2015; Krauss 1996b, S. 236–240; Lethen/Wagner 2015; Prange 2006
Die Entwicklung hin zur geraden Linie und zur flächigen Grund- oder Primärfarbe können wir in
der ganzen modernen Malerei verfolgen. […] Die kubistische ist keine natürlich-gestaltende Dar-
stellung [beelding] mehr: sie will zwar Gestaltung [plastiek] – und Gestaltung vor allen Dingen –,
aber in einer anderen Weise. Der Kubismus stellt wohl noch das Besondere dar, aber nicht mehr
in der traditionell perspektivischen Erscheinung. Er unterbricht die Form, lässt sie teilweise weg
und fügt andere Formen oder Linien hinzu+): er führt die gerade Linie selbst dort ein, wo sie
im Gesehenen nicht direkt vorhanden ist. Der Kubismus bringt die Form zu bestimmterem, zu
eigenem Ausdruck: er stellt schon viel unmittelbarer als die alte Kunst Komposition dar, schon
viel unmittelbarer Beziehung. So lässt der Kubismus das Kunstwerk tatsächlich zu einer Erschei-
nung werden, die aus dem menschlichen Geist gewachsen und daher eins mit dem Menschen ist.
Der Kubismus zerbrach die geschlossene Linie, die Kontur, die als Begrenzung des Individuellen
auftritt, aber dadurch stellt er auch den Bruch dar, verfehlt die reine Einheit [S. 131]. Gewinnt
er gegenüber der alten Kunst an Einheit, indem die Komposition deutlicher zur Darstellung
gelangt, so verliert er an Einheit durch die zerbrochene Erscheinungsform der Dinge. Die Dinge
bleiben doch als Dinge bestehen, wegen des Bruchs.
Der Formbruch musste ersetzt werden durch die Verinnerlichung der Form zur geraden Linie.
Doch musste die Abstrakt-Reale Malerei hierzu auf jenem Weg gelangen, dem der Kubismus
gefolgt war: durch Abstrahierung von der natürlichen Erscheinungsform.
+
) [S. 133] Auch Kandinsky zerbrach die geschlossene Linie, die große Kontur der Dinge, doch da
er die natürliche Kontur nicht genügend straffte, blieb sein Werk vorwiegend Ausdruck natür-
lichen Gefühls. Von welcher Bedeutung die Spannung der gebogenen Linie und der Gebrauch
der geraden Linie ist, wird für uns deutlich, wenn wir Werke Picassos mit denen Kandinskys
vergleichen […]. Kandinskys verallgemeinernde Darstellung (beelding) ist ebenso wie die Picas-
sos durch Abstrahieren von natürlicher Form und Farbe entstanden: bei Kandinsky jedoch bleibt
die Linie Überbleibsel von der Kontur der Dinge, während Picasso die freie gerade Linie ein-
führt; obschon Picasso ebenfalls noch Teile von der Kontur der Dinge gebraucht, sind sie zur
Bestimmtheit gebracht, während Kandinsky das natürliche Zerfließen von Farbe und Linie noch
einigermaßen intakt lässt.
Wassily Kandinsky hatte die Geschichte der modernen Kunst 1911 in seinem Buch
Über das Geistige in der Kunst als einen Prozess beschrieben, in dem verschie-
dene Künste sich allmählich durch ihre je eigenen Mittel ausdrücken; diejenigen
der Malerei sind Farbe und Form. Zu dem zweiten Ausdrucksmittel äußert er sich
nun, nennt es aber „Graphik“ und meint damit auch das graphische Moment der
Malerei. Dieses soll auch unabhängig von der Farbe bestehen können. Traditi-
onell heißt dergleichen ‚Zeichnung‘ und wird mit Linien assoziiert, wenn nicht
identifiziert. Kandinsky denkt 1919 nicht nur über die Linie, sondern auch über
den Punkt nach und verfasst bald darauf ein Buch mit dem Titel Punkt und Linie
zu Fläche (1926). Das zeigt, dass auch in seiner Theoriebildung – wie in der vieler
anderer – geometrische Konzepte am Werk sind. Denn in der Literatur über
künstlerische Zeichnung und Graphik hatte das Element Punkt bis dahin eine
marginale Rolle gespielt. Kandinsky denkt es ganz anders als Euklid*, nämlich
nicht etwa als Grenze der Linie, sondern als ihren Anfang oder Ursprung. Der
Punkt ist für ihn zunächst der erste Punkt, an dem das graphische Werkzeug die
Inskriptionsfläche berührt. Die Linie resultiert dann aus einer Bewegung dieses
anfänglichen Punktes, das heißt: Kandinsky geht zwar weiterhin von einem gra-
phischen Szenario aus, verschweigt aber die Bewegung des spitzen Instruments
über die Inskriptionsfläche, um stattdessen mit der Idee von einem ‚Stoß‘ auf
seltsame Weise kosmogonische Geheimniskrämerei und Newton’sche Physik
engzuführen. Da sich der Punkt auch durch Verdickung ‚bewegen‘ könnte, ist die
für die Linienentstehung verantwortliche Bewegung offenbar an den Begriff der
Richtung geknüpft (wie Kandinsky es auch später hervorheben wird).
Damit Punkt oder Linie zu Elementen graphischer Kunst werden, müssen sie
jedoch erst noch von äußeren Zwecken entbunden werden. Wie, das erläutert Kan-
dinsky am Beispiel der Interpunktion – und demonstriert es zugleich ad oculos.
Doch auch nach dieser Befreiung von Funktionen für die Schrift habe die Linie
noch eine lange Geschichte vor sich: Sie müsse noch die Herrschaft des Lineals,
dann des Zirkels, schließlich des Kurvenlineals abwerfen. Erst dann werde sie
unendlich bildsam, in ihrer Stärke variabel und – wie sich folgern lässt – über-
haupt keine Linie im geometrischen Sinn mehr sein. Dank dieser Variabilität sei
die graphische Linie geeignet, unterschiedliche Gefühle und Charaktere in aller-
feinster Nuancierung zum Ausdruck zu bringen, und, wie der mystisch gestimmte
Theoretiker meint, sogar Unsagbares.
Franz 2007c; Rosenberg 2007, S. 32, 312–317; Short 2010; R. Zimmermann 2002
Malenkie stateiki o bolschim woprosam, I. O totschke, II. O linii. (Kleine Artikel über
große Fragen, I. Über den Punkt, II. Über die Linie)
In: Iskusstwo: Westnik Otdela ISO NKP 3 (1919), S. 2 und 4 (1919), S. 2.
Übers. v. Wolfram Pichler.
Unterordnung unter das komplexere Instrument birgt. Die mechanische Aktion bleibt auch hier,
wenngleich auf verborgene Weise, das unterscheidende Merkmal dieser Sprache.
Diese Sprache gleicht dem offiziellen Stil staatlicher Dokumente, wo strikte Grenzen der Über-
einkunft die Freiheit des Ausdrucks hindern.
*
Vom Schicksalslauf der Linie ergreift die freie Hand die höchste Errungenschaft der höchsten
Freiheit – die Freiheit des ungehinderten Ausdrucks.
Die Linie biegt sich, prallt zurück, drängt vorwärts, ändert unerwartet die Richtung. Kein Instru
ment kann mit ihr Schritt halten. Jetzt kommt der Augenblick des maximalen Potentials, einer
wahrlich unendlichen Anzahl von Ausdrucksmitteln. Die allergeringste Richtungsänderung der
Empfindung des Künstlers wird sofort durch die allergeringste Richtungsänderung der Linie
reflektiert.
Das Tor öffnet sich: von einer Serie begrenzter Räume zu einem grenzenlosen Raum, zu einer
Welt reiner Graphik oder reiner Kunst.
Der Theoretiker versucht verschiedene Gruppen verwandter Linien (wie gering ihre Ähnlichkeit
auch sein mag) entsprechend verschiedenen Titeln auseinander zu halten, eine Definition zu
finden, die wenigstens einen Hinweis auf ihre Wesensmerkmale enthält. Von daher die Klassi-
fikation von Linien entsprechend der Art ihrer Wirkung auf den Beschauer. Denn der Möglich-
keit nach und auch in Wirklichkeit existieren fröhliche Linien, düstere und ernste Linien, tragi-
sche und verschmitzte, sture Linien, schwache Linien, kraftvolle Linien etc., etc. Auf dieselbe
Weise werden musikalische Linien entsprechend ihrem Charakter bezeichnet als allegro, grave,
serioso, scherzando.
Aber diese Versuche der Theoretiker sind, was die Linie betrifft, nur teilweise gerechtfertigt.
Solche Bezeichnungen sind rudimentär und können die Tiefe, die Feinheit, die gewisse Unge-
wissheit, die luzide Einfachheit und elaborierte Komplexität der unzähligen Formen freier
Linien nicht erfassen. Selbst wenn wir die Klassifikation des Theoretikers akzeptieren und
eine bestimmte Linie als „ernst“ bezeichnen, wird sich die Linie, deren Wesen so charakteri-
siert wurde, durch das verschmitzte Spiel ihrer verschiedenen Teile über diese Definition lustig
machen. Das Tragische wird Elemente von Freude offenbaren; eine schwache Linie wird, an
einer Biegung oder der nächsten, den Nachdruck ihres Strebens manifestieren, eine dünne Linie
wird unerwartet dick werden, nur um sich wieder auf Haaresbreite zusammenzuziehen. Und was
wird der Taxonom sagen, wenn er die leidenschaftslose Linie betrachtet, deren Macht in ihrem
Mangel an Ausdruck liegt? Der sensible Beschauer weiß, dass Ausdruckslosigkeit ausdrucksvol-
ler sein kann als die Expressivität selber.
Die Wörter haben ihre Macht verloren. Nur eine benachbarte Kunstform, nämlich die Musik,
kann mit Hilfe der ihr eigenen Ausdrucksmittel etwas dem Geist der Graphik Vergleichbares
hervorbringen. Doch kann die Sprache der Graphik in all ihrer Komplexität und Feinheit nicht
ersetzt werden, nicht einmal durch eine andere Kunstform.
Das von Naum Gabo und seinem Bruder Nathan Pewsner signierte, aber vermut-
lich von Gabo allein verfasste Realistische Manifest entstand anlässlich einer Mos-
kauer Ausstellung 1920. Der Grundgedanke, letztlich ein Erbstück idealistischer
Kunsttheorie, besagt, dass Kunst nicht die Erscheinung wiedergeben, sondern
zum Wesen der Dinge vordringen soll. Aus diesem Grund soll sie auf Farbe,
Umrisslinien, Volumen und Masse verzichten. Volumen gilt offenbar deshalb
als problematisch, weil es die Vorstellung einer Oberfläche voraussetzt, die den
betreffenden Rauminhalt dadurch definiert, dass sie ihn allseits umschließt. Wer
die umhüllende Oberfläche öffnet, gibt den Blick in die ‚Tiefe‘ frei und lässt –
so Gabos Überzeugung – ein Wesen erkennen. Tatsächlich hatte Gabo seit 1916
ausgehend von kubistischen Vorbildern ein skulpturales Verfahren entwickelt,
das es ihm erlaubte, räumliche Gebilde zu schaffen, die so aussehen, als ob sie
geschält und auf ihren Kern hin durchsichtig gemacht worden wären. Plastische
Figuren baute er aus ineinandergesteckten Kartonflächen auf, deren Außenkan-
ten den Verlauf einer Körperoberfläche andeuteten, die jedoch virtuell bleiben
sollte. Um das Prinzip auf der Moskauer Ausstellung zu veranschaulichen, scheint
Gabo ein würfelartiges Gebilde konstruiert zu haben, bestehend aus einem qua-
dratischen ‚Boden‘, einer quadratischen ‚Decke‘ und dazwischen zwei diagonal
verlaufenden ‚Wänden‘, die einander in der Mitte des Gebildes im rechten Winkel
schnitten. Während der Boden und die Decke zusammen die acht horizontalen
Kanten eines imaginären Würfels in den Raum zeichneten, definierten die zwei
‚Diagonalflächen‘ die noch fehlenden vier vertikalen Kanten, jedoch ohne den
Blick ins Innere des Würfels zu verstellen. Ein räumliches Gebilde musste also
weder eine durchgehende Außenhaut aufweisen noch massiv sein und konnte
dennoch Bestand haben.
Wenn aber die Oberfläche der Dinge geöffnet und die Konturlinie, sofern sie
mit der Vorstellung geschlossener Oberflächen einhergeht, verabschiedet werden
sollte, weshalb hat Gabo dann die Linie nicht überhaupt aufgegeben? Im Realisti-
schen Manifest zeigt er sich von dem Gedanken fasziniert, dass sich mit Hilfe von
Linien Kräfte oder genauer gesagt: die Richtungen von Kräften darstellen lassen.
Mit den ‚statischen Linien‘ sind zweifellos jene Linien gemeint, die in der Mecha-
nik seit dem 19. Jahrhundert dazu dienen, (Zug- und Druck-)Spannungen mit gra-
phischen Mitteln darzustellen. In der Kunstliteratur des 20. Jahrhunderts sind sie
sonst vor allem unter ihrem physikalischen Oberbegriff, ‚Kraftlinien‘, bekannt
geworden – man denke etwa an Schriften des italienischen Futuristen Umberto
Boccioni oder, im Moskauer Umfeld Naum Gabos, an Pawel Florenskij.
Auf die Ablehnung von Farbe, Umriss, Volumen und Masse folgt als fünfter
und letzter Punkt von Gabos Programm die Affirmation des Rhythmus. Möglicher-
weise sollte die räumliche Erscheinung der Dinge letztlich auf eine bestimmte
Form von Zeitlichkeit zurückgeführt und auf diese Weise neu begründet werden.
Mit einem Objekt namens Kinetische Konstruktion hat Gabo zu demonstrieren ver-
sucht, wie sich ein vertikaler Stab mit Hilfe eines Elektromotors in eine stehende
Welle verwandeln lässt. Das vom schwingenden Stab erzeugte virtuelle Volumen
weist keine festen, undurchsichtigen Außengrenzen auf; es ist nichts anderes als
das Epiphänomen einer vibrierenden Achse, die sich zu einer virtuellen räum-
lichen Figur entfaltet. Henri Bergson könnte Gabo dazu angeregt haben. Später
bemühte sich Gabo, die im Realistischen Manifest angesprochenen Rhythmen mit
skulpturalen Mitteln zu realisieren. Zu diesem Zweck gebrauchte er vielfach Lini-
enscharen, die er entweder in transparente Oberflächen einritzte oder in Form
gespannter Fäden in den Raum zeichnete.
[…] Raum und Zeit sind für uns heute geboren. Raum und Zeit sind die einzigen Formen, in denen
sich das Leben aufbaut und in denen sich deshalb die Kunst aufbauen muss. […]
Die Verwirklichung unserer Weltauffassungen in den Formen von Raum und Zeit ist das einzige
Ziel unseres bildnerischen Schaffens. Wir messen unsere Arbeit nicht mit dem Ellenmaß der
Schönheit, wir wägen sie nicht nach Pfunden an Zärtlichkeit und Stimmung ab. Die Lotleine in
der Hand, mit Augen, so genau wie ein Lineal, in einem Geiste, so gespannt wie ein Zirkel… kon-
struieren wir unser Werk wie das Universum das seine, wie der Ingenieur seine [S. 204] Brücken,
wie der Mathematiker seine Formel der Planetenbahnen.
Wir wissen, daß jedes Ding sein eigenes Wesensbild hat; Stuhl, Tisch, Lampe, Telephon, Buch,
Haus, Mensch… das alles sind vollständige Welten für sich mit eigenem Rhythmus und eigenen
Planetenbahnen. Deshalb entfernen wir, wenn wir Dinge schaffen, den Stempel ihrer Besitzer…
alles Zufällige und Begrenzte, und lassen ihnen nur die Realität des gleichbleibenden Rhythmus
der ihnen innewohnenden Kräfte.
1. Daher lehnen wir die Farbe als malerisches Element ab. Die Farbe ist das idealisierte optische
Antlitz der Dinge, ein äußerlicher und oberflächlicher Eindruck. Die Farbe ist zufällig, sie hat
nichts mit dem inneren Wesen der Körper zu tun. Wir behaupten, daß die Tönung einer Sub
stanz, das heißt, ihr lichtabsorbierender stofflicher Körper, ihre einzige malerische Realität ist.
2. Wir verzichten bei einer Linie auf ihr Darstellungsvermögen. Es gibt im wirklichen Leben der
Körper keine beschreibenden Linien. Darstellung ist die zufällige Spur des Menschen auf den
Dingen, sie ist nicht an das wesensmäßige Leben und die gleichbleibende Struktur des Körpers
gebunden. Die Beschreibung ist ein Element der graphischen Darstellung und der Dekoration.
Wir behaupten, dass die Linie nur die Richtung statischer Kräfte und deren Rhythmus in den
Dingen angibt.
3. Wir lehnen das Volumen als malerische und plastische Raumform ab. Man kann einen Raum
ebensowenig nach dem Umfang bestimmen, wie man Flüssigkeit nach Metern messen kann:
seht unseren Raum an… was ist er anderes als eine fortlaufende Tiefenausdehnung? Wir behaup-
ten, dass die Tiefe die einzige malerische und plastische Raumform ist.
4. Wir lehnen in der Skulptur die Masse als plastisches Element ab. Es ist jedem Ingenieur
bekannt, dass die statischen Kräfte eines festen Körpers und seine materielle Stärke nicht von
der Masse abhängig sind… etwa bei einer Schiene, einem T-Träger usw. Doch ihr, Bildhauer aller
Schattierungen und Richtungen, ihr haltet immer noch an dem alten Vorurteil fest, man könne
das Volumen nicht von der Masse befreien. So nehmen wir vier Flächen und bauen aus ihnen das
gleiche Volumen wie aus vier Tonnen Masse. So geben wir der Skulptur die Linie als Richtungs-
weiser zurück und erklären damit die Tiefe zur einzigen Raumform.
5. Wir weisen den tausendjährigen, von der ägyptischen Kunst ererbten Irrtum zurück, daß die
statischen Rhythmen die einzigen Elemente des bildnerischen Schaffens seien. Wir erkennen in
der bildenden Kunst ein neues Element, die kinetischen Rhythmen, als Grundformen unserer
Wahrnehmung der realen Zeit. Das sind die fünf Grundprinzipien unseres Werkes und unserer
konstruktiven Technik. […]
Während der Entstehungszeit des Aufsatzes Die Linie (1921) war Alexander Rod-
tschenko am Moskauer Institut für künstlerische Kultur (INKhUK) tätig – als
Gegenspieler des Gründungsdirektors Kandinsky, der in diesem Jahr zurücktre-
ten sollte. Rodtschenko war dabei, den Begriff der Konstruktion kunsttheoretisch
zu fassen und das Programm einer zukünftigen, „konstruktivistischen“ Kunst
zu formulieren. Im Aufsatz charakterisiert er die „von Hand gezogenen Linien“
als „schwankend“ und „ungenau“ und fordert mehr Präzision. Diese Disziplinie-
rung der graphischen Linie sollte sich mit einer exakt geregelten Bezeichnungs-
funktion verbinden. Graphische Linien sind für Rodtschenko nur noch inso-
fern bedeutsam, als sie der projektiven Darstellung dreidimensionaler Gebilde
dienen. Und die Konstruktion zweidimensionaler Werke sei lediglich die Projek-
tion einer Sache, die in der Wirklichkeit konstruiert werden könne. Gemeint sind
also Darstellungen mit Entwurfscharakter, für die die Risse von Ingenieuren und
Architekten die Musterbeispiele abgeben.
Das Bild im Sinn des Gemäldes, einer auf die Staffelei gestellten Leinwand,
hat damit ausgespielt: Es werde durch die Konstruktion von etwas im Raum
ersetzt. In der künstlerischen Praxis des Jahres 1921 entspricht diesem Gedanken
zum einen ein Triptychon monochromer Gemälde; es zeigt an, dass die Linie von
der Bildfläche verschwunden ist und die Farben der alten Malerei in purifizier-
ter Form hinter sich gelassen hat. Zum anderen lässt Rodtschenko die aus der
Die Linie
[…]
Die gesamte Evolution der Malerei vollzog sich ausschließlich im Bereich der Form, führte immer
vorwärts, fast ohne Rückschritte, derart konsequent und logisch, dass man eine gerade Linie,
die unentwegt nach vorwärts weist, verfolgen kann. Diese Linie verbindet Vorangegangenes mit
Nachfolgen-[S. 134]dem zu einem einheitlichen Organismus. […]
Durch das Verwerfen des Gegenstandes und des Sujets wandte sich die Malerei ausschließlich
ihren spezifischen Aufgaben zu, die, sich ständig erweiternd, den von ihr ausgeschlossenen
Gegenstand und dessen Interpretation mehr als genug ersetzten.
In der Folge trennte sich die ungegenständliche Kunst von alten Ausdrucksformen der Malerei
und führte völlig neue Arten des Malens ein, die sich gezielter auf ihre Form richteten – geo-
metrisch, einfach, klar und genau –, das Malen als Tupfen und Färben mit Presse und Walze.
[…] Der Pinsel, der in der Malerei für die Wiedergabe von Gegenständen und ihre Feinheiten so
notwendig gewesen war, schien der neuen ungegenständlichen Malerei ein unzureichendes und
zu ungenaues Instrument und wurde durch die Presse, die Walze, die Reißfeder, den Zirkel usw.
verdrängt.
Die Farbe hat im Vergleich zur Form in der Malerei fast keine Entwicklung genommen. […] Der
Farbton wurde in der Malerei ausschließlich aus der Gegenständlichkeit heraus entwickelt, aus
der Suche nach der Naturwiedergabe. […]
Die ungegenständliche Malerei kultivierte die Farbe als solche, sie befasste sich mit ihrer voll-
ständigen Freilegung, ihrer Bearbeitung, ihrem Zustand, indem sie ihr Tiefe, Intensität, Dichte,
Masse usw. gab. Die letzte Etappe dieser Arbeit war die Errungenschaft monochromer Intensität
in den Grenzen einer Farbe und ihrer spezifischen Intensität (ohne diese zu erhöhen oder [S. 135]
zu senken). Als Beispiel dafür können die Arbeiten ˒Schwarz auf Schwarz˓ von Rodtschenko und
˒Weiß auf Weiß˓ von Malewitsch gelten, die auf der Ausstellung ˒Gegenstandslose Kunst und
Suprematismus˓ in Moskau 1918 [sic!] gleichzeitig gezeigt wurden.
Indem ich in der letzten Zeit ausschließlich am Aufbau der Form und einem System aus deren
Konstruktionen gearbeitet habe, habe ich die Linie als neues Element des Aufbaus in die Fläche
eingeführt (Arbeiten Rodtschenkos 1917/1918). Letztendlich hat sich die Bedeutung der Linie
geklärt – einerseits ihre Bedeutung als Kante und Randlinie und andererseits ihre Wichtigkeit
als Element des Hauptaufbaus eines jeglichen Organismus im Leben, sozusagen als Skelett (oder
Grundlage, Gerüst, System). Die Linie ist das erste und das letzte, sowohl in der Malerei als auch
generell in jeder Konstruktion. Die Linie ist Durchgangsweg, Bewegung, Aufeinandertreffen,
Kante, Klammer, Verbindung, Ausschnitt.
Auf diese Weise siegte die Linie über alles und vernichtete die letzten Festungen der Malerei –
die Farbe, den Ton, die Faktur und die Fläche. Die Linie hat ein rotes Kreuz über der Malerei
geschlagen.
Indem wir die Linie an die Spitze stellen, als Element, mit dessen alleiniger Hilfe man konstruie-
ren und schaffen kann, lassen wir von jeglicher Farbästhetik, Oberflächenbehandlung und vom
Stil ab, denn alles, was den Weg verstellt, ist Stil (zum Beispiel das ˒Quadrat˓ von Malewitsch).
In den Linien hat sich eine neue Weltsicht aufgetan: dem Wesen nach zu bauen und nicht
abzubilden, sei es gegenständlich oder nichtgegenständlich, sondern die neuen, konstruktiven
Bauten zielgerichtet ins Leben zu errichten und nicht von ihm abgewandt oder außerhalb des
Lebens. […]
[…] – das Leben selbst ist noch nicht begriffen, gewertet, organisiert. Die Menschen langweilen
sich, sie sprechen über die Arbeit wie über irgend etwas Düsteres, Langweiliges, wo die Zeit
sinnlos vergeht. Die Menschen sagen über ihr Leben, dass es eintönig und leer sei – bis auf
wenige Ausnahmen –, weil sie nicht in sich den Menschen erkennen, der selber konstruieren,
bauen und zerstören kann. Sie gehen in den Tempel, das Theater, das Museum, um ˒vom Leben
wegzugehen˓, ˒leben zu lernen˓ … Wie? Eben einfach, indem sie ˒schön˓ leben, das Leben schön
dekorieren, aber nicht bauen, organisieren, konstruieren. Diese Menschen brauchen das Opium
der Kunst oder Religion. […]
Das Leben, diese einfache Sache, hat man bisher nicht gesehen, nicht gewusst, dass es so
einfach und klar ist, dass man es nur noch organisieren und von aller überflüssigen Ausschmü-
ckung befreien muss. […]
Moskau, 23. Mai 1921
Paul Klees bildnerisches Tun ist von seinem verbalisierenden und schreibenden
nicht zu trennen, und das nicht nur in den frühen zwanziger Jahren, in denen
die meisten seiner Texte entstehen. Von den Tagebüchern über die didaktischen
Schriften der Bauhauszeit bis in das Produktionssystem aus Zeichnen, Betiteln
und Register-Führen noch seiner letzten Lebensjahre gehen bei ihm Sprache und
Bild außerordentlich vielfältige und variantenreiche Verbindungen ein. Ihren
gemeinsamen Nenner finden sie in der multipotenten Linie. Klees Überlegungen
zu den Grundlagen visuellen Produzierens sind bemerkenswert systematisch.
Die Linie ist darin das entscheidende generierende Element. Obwohl seine Dar-
legungen zu Punkt, Linie und Fläche an Euklid* gemahnen, fasst er die Linie
gerade nicht als Gegebenes und als Verbindung zwischen Punkten auf, versteht
sie aber auch nicht wie Alberti* als Reihe von Punkten, sondern als Bewegung
des Punktes und deren Spur. Dieser Grundgedanke steht in vielfältigen Bezie-
hungen zu historischen und zeitgenössischen linientheoretischen Positionen –
z. B. zu Leonardo, Hogarth, Ruskin, van de Velde, Worringer, Kandinsky –, zu
romantischer Naturphilosophie, theosophischen, graphologischen, musik- und
tanztheoretischen Diskursen um 1900, Physio- und Psychologie (z. B. Lipps) und
ihren graphischen Aufzeichnungsverfahren u. v. a.m. Klees Überlegungen zur
Linie richten sich jedoch stets auf die künstlerische Praxis.
Die hier zitierten Seiten stammen aus den Vorlesungen am Bauhaus in Weimar
1921/22. In mehreren Hinsichten zeigt sich Klee darin ganz und gar einem Denken
der Genese verpflichtet: Er leitet die drei unterschiedlichen Linientypen ‚aktiv‘,
‚medial‘ und ‚passiv‘ aus dem sich in Bewegung setzenden Punkt als principium
und dem Ansetzen eines spitzen Instruments auf einem Bildträger als initium
ab. Der Hörer bzw. Leser wird dabei Zeuge der Entstehung und Veränderung der
Linie. Im Sinn des Primitivismus verbindet Klee das systematisch Anfängliche
der visuellen Artikulation mit dem phylo- und ontogenetisch Frühen, indem er
auf prähistorische Kultur und das kindliche Tun verweist. Darüber hinaus erhält
der heutige Leser und Betrachter des faksimilierten Manuskripts aber auch einen
gewissen Einblick in die Entstehung der Überlegungen selbst: Der Text der Vor-
lesungen ist noch redundanter als der des aus ihnen hervorgegangenen Päda-
gogischen Skizzenbuchs von 1925, und im Gegensatz zu dessen typographischer
Perfektion weist die Handschrift Korrekturen auf: Das Denken der Linie ist hier
selbst noch unterwegs.
Die für Klees Theorie zentrale, ‚aktive‘ Linie erzeugt keine geometrische Figur
und erscheint nicht als Flächenrand, sondern prozediert, und zwar als ‚freie‘
nach einer unbestimmten Regel. Philosophische Relevanz erlangt sie als Denk-
modell der ‚Falte‘ bei Deleuze.
5 Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen / beginne ich da, wo die bildnerische / Form über-
haupt beginnt, beim Punkt, / der sich in Bewegung setzt. / /
[S. 15]
6
1.
Kurz nach dem Ansetzen des Stiftes oder was es sonst Spitzes ist, entsteht eine Linie/ (Je freier
sie sich / zunächst ergeht, desto klarer ihre bewegliche / Natur.) □
Setze ich aber eine Linie an, ein / kantiges Schwärz- oder Färbmittel, so entsteht / eine Fläche
(zunächst und bei sehr beschränkter / Ungebundenheit des sich Ergehens) / □
Hätten wir eine Materie, um Flächen mit / ähnlicher Wirkung fortzuschieben, so könnten / wir
eine ideelle Plastik in den Raum schreiben / □ / Aber das ist leider schon Utopie.
*
Bleiben wir also vorläufig beim primitivsten Mittel, / bei der Linie. In Vorzeiten der Völker,
wo / schreiben und zeichnen noch zusammenfällt, / ist sie das gegebene Ele- 7ment. Auch
unsere / / Kinder beginnen meist damit, sie entdecken / eines Tages das Phaenomen des beweg-
lichen Punktes, / und man kann sich kaum mehr vorstellen / mit welcher Begeisterung. Mit
grösster Un- / gebundenheit bewegt sich zunächst der Stift / wohin es gefällt. Beim Betrachten
der ersten / Werke wird aber auch zugleich die Entdeckung / gemacht, dass die begangenen
Wege nun / fest geschrieben stehen. Kinder, die nun / Freude am Chaotischen behalten, sind
natürlich / keine Bildner, aber andere Kinder werden bald / zu einer gewissen Ordnung fort-
schreiten. Die Kritik / der beschriebenen Gänge setzt ein. Die Chaotik / des ersten Spiels weicht
einer anfänglichen / Gesetzmässigkeit.
Die Freiheit der Linienführung / unterwirft sich der zu erwartenden Endwirkung. / Vorsichtshal-
ber beginnt nun ein Wirken mit / ganz wenigen Linien. Man bleibt primitiv.
*
8 / / Aber bei der Primitivität kann man doch nicht gut / verharren. Man wird einen Modus ent-
decken müssen, / das armselige Endergebnis zu bereichern, ohne / die übersichtlich einfache
Anlage zu / zerstören, verwischen.
*
[S. 16] Man wird einordnen müssen. / Hauptsachen und Nebensachen.
Linear aktiv
9 fig. 1 □ / fig. 2 □/ fig. 3 □ / fig. 4 □ / / fig. 5 □ / fig. 6 □ / fig. 7 □ / fig. 8 □ / fig. 9 □
Bei allen diesen Beispielen ergeht sich die Haupt- / linie frei und ungebunden. Es ist sozusagen /
ein Spaziergang um seiner selbst willen. Ohne Ziel. / /
10 (linear aktiv) / Diese neue Linie / hingegen fig. 10 □ / ist befristet, will möglichst rasch nach
1 / dann nach 2 nach 3 u.s.w. Man kann eher / von einem Geschäftsgang reden, als von einem /
Spaziergang. Die Geraden bezeugen es. Aber sowohl / die freie als die befristete Linie sind rein
aktiver Typ.
Linear medial
fig. 11|12 □
In diesen neuen Fällen umschreibt die befristete / Linie Figuren der Fläche wie Dreieck und
Viereck / oder hier □ Kreis und □ Ellipse / /
11 Als Linie kennzeichnet sie sich von beruhigendem / Charakter und anfang- oder endlos. Ele-
mentar betrachtet / (als Handlung der Hand) ist sie gewiss noch Linie, aber / zu Ende geformt,
wird die lineare Vorstellung von / der Flächenvorstellung unverzüglich abgelöst. Damit / ver-
schwindet auch der bewegliche Charakter (niemand / wird beim Anblick der Mondscheibe ver-
sucht / sein, auf seiner Peripherie Karussel zu fahren) / abgelöst durch den Begriff vollkommens-
ter Ruhe / (beim Kreis hauptsächlich).
Linear passiv
Ganz passiven Charakter hatten die Linien in diesem / Falle / fig. / 15|16 □
Man sieht wohl auch Linien, aber es handelt sich nicht / um lineare Taten, sondern um lineare
Ergebnisse / aus Flächen-Handlungen. / Die Linie wird nicht getan, sondern erlitten.
Als Lygia Clark 1956 den Begriff „organische Linie“ prägte, dachte sie weder an
graphische Linien noch an die Kanten oder Konturen fester Körper, sondern an
jene Fugen, die etwa zwischen den Elementen eines Parkettbodens oder zwi-
schen einer Tür und ihrem Rahmen zu beobachten sind. ‚Organisch‘ hieß diese
Linie nicht etwa wegen sanfter Schwingungen oder Kurven, sondern weil sie auf
die Gliederung räumlicher Gebilde bezogen war. Clarks Interesse galt zunächst
dem Phänomen, dass eine Linie dieser Art je nach ihrem koloristischen Umfeld
unterschiedlich stark zur Geltung kommt: Während sie sich in einem sonst ein-
heitlichen Farbfeld deutlich abzeichnet, kann sie durch den Kontrast zweier ver-
schiedenfarbiger Flächen, die an der Fuge aufeinandertreffen, sozusagen über-
tönt und auf diese Weise zum Verschwinden gebracht werden. Die „organische
Basbaum 2006; Coëllier 2003, S. 55–56, 64–70; Fer 2014, S. 222–228; Pérez-Oramas
2014
Meine ganze Untersuchung, die ich als anfängliche Formulierung eines Vokabulars zum Aus-
druck eines neuartigen Raums betrachte, begann 1954 mit der Beobachtung einer Linie, die
zwischen einer Collage und dem „Passepartout“ erschien, wenn die Farbe die gleiche war, und
verschwand, wenn es sich um zwei kontrastierende Farben handelte […].
Ich ging daran, diese Linie zu erforschen, indem ich Gemälde schuf (noch Leinwand und Rahmen
benützend), bei denen es mein Anliegen war, den Kern des Gemäldes (Leinwand) dadurch auf-
springen zu lassen, dass ich seine Farbe im Rahmen weiterführte. Die eigene Dicke des Rahmens
fing ebenfalls schon an, als Gestaltungselement aufzutreten (er war an bestimmten Stellen so
bemalt, dass sich ein Zusammenhang mit dem jeweiligen formalen Aufbau des Gemäldes ergab).
Danach ließ ich diese Untersuchung zwei Jahre lang liegen, da ich mit diesem befreiten Raum
nichts anzufangen wusste.
1956 entdeckte ich den Zusammenhang dieser Linie (die keine graphische war) mit den Verbin-
dungslinien (linhas de junção) von Türen und Rahmen, Fenstern und den Materialien, aus denen
ein Paviment zusammengesetzt ist, etc. Ich nannte sie „organische Linie“ („linha orgãnica“),
denn sie war real und existierte an sich selbst, als Raum organisierende. Es handelte sich um
eine Raumlinie (linha espaço) – ein Umstand, den ich erst später bemerken sollte. Ich ging bei
einem Modellbau-Spezialisten in die Lehre und begann Modelle auszuführen, in denen diese
Linie zum graphisch-räumlichen Modul eines ganzen Environments wurde. […]
Die Raumlinie wurde wirklich zu einem Konstruktionsmodul der Flächen und in ihrer Geltung
anerkannt, indem sie sogar als Farbbegrenzung wirkte. Ich hatte Drucke von Josef Albers
gesehen, aber das Raumgefühl war bei mir bereits völlig anders. Albers baute noch auf einen
Grund auf, während es mein größtes Anliegen war, die gesamte Oberfläche zu „rekonstruieren“,
und zwar so, dass der Außenraum sie nicht nur durchdringen, sondern auch unmittelbar auf sie
einwirken sollte.
Der expressiv-organische Charakter behauptete sich wieder, denn ich wollte den Raum selbst
ausdrücken, nicht in ihm komponieren [Hervorhebung WP]. […]
Als ich anfing, den realen Außenraum zu gebrauchen, kam mir der Gedanke, ihn dadurch in
Anspruch zu nehmen, dass ich mit Hilfe der von mir so genannten Außenlinie (linha-externa)
komponierte. Es handelt sich um Oberflächen (superfícies), die komplett schwarz sind, es exis-
tiert nur diese Linie, die sich bei einigen Kanten außerhalb der Oberfläche befindet, um sie
in Form von Vertikalen oder Horizontalen zu durchdringen. In dieser Phase des „modulierten
Raums“ machte ich mit dem von mir so genannten „primären Vokabular“ einen Anfang, es war
der Beginn des Ausdrucks eines Zeit-Raums.
Die Oberfläche hat hier lediglich die Funktion eines abstrakten Trägers (einer idealen abstrakten
Form) und existiert nur in dem Maße, als sie notwendig ist, um diesen Zeit-Raum auszudrücken.
Sie wird zu der Zeit, in welcher dieser Raum ausgedrückt werden muss. Die Linie, welche ständig
wieder anfängt und sich auflöst, ist gleichsam eine Zeitlinie (linha-tempo). […]
An dieser Stelle ist folgende Beobachtung angebracht: absolut gleiche Linien, horizontale und
vertikale, erzeugen zwischen sich eine schräge Spannung, dergestalt, dass sie ein perfektes
Quadrat verzerren: der Raum erweist sich hier folglich als Moment des Umraums.
Die Diagonale, die sonst dazu dient, in einer zweidimensionalen Oberfläche (die ein Raum-
kompartiment innerhalb des Realraums ist) Dynamik zu erzeugen, ist in diesem Fall nicht mehr
nötig, denn es ist der Realraum, der diese Dynamik erzeugt.
In dieser Serie wird die Fläche (plano) folglich zur Dicke (espessura) dieses Raums. Wenn ich
einen halbgeöffneten Kreis innerhalb einer zweidimensionalen Oberfläche ziehe, die die Dicke
des Raums selbst ist, tendiert er dazu, sich zu vervollständigen [Hervorhebung WP]. Wird der
Kreis hingegen mittels der Zeitlinie im Realraum realisiert, verzerren sich seine Enden und er
kann in der Wahrnehmung nicht vervollständigt werden; denn was sich da, während die Fläche
zunichte wird, zeigt, ist der Raumfaden (fio do espaço) oder Schnitt des Realraums. Beim Möbi-
usband ist es die Torsion, welche die Fläche zerstört (man bewegt sich in die Fläche hinein und
aus ihr heraus, als ob sie gar nicht existierte), denn es wurden die beiden entgegengesetzten
Seiten ein- und derselben Dicke in Anspruch genommen. Und wenn man die beiden Seiten in
Anspruch nimmt, findet man automatisch den Raumfaden. Die Erfahrung ist nur mittels einer
Fläche möglich, so dünn sie sein mag.
Gegenwärtig stelle ich Untersuchungen mit folgenden Elementen an: dem „Raumfaden“ und
seiner eigenen „Dicke“. Ebenso wende ich die Raumlinie an, denn die Gesamtoberfläche ist zer-
schnitten und durch Parzellen organisiert.
Die „Zeitlinie“ verwandelt die Oberfläche bereits in einen abstrakten Träger, der nur in dem
Maße existiert, als der Raum dazu tendiert, enthüllt zu werden. Konzeptuell ist das der abstrak-
teste Punkt, den ich erreicht habe.
Jackson Pollock hat in die Malerei des 20. Jahrhunderts eine Linie eingeführt, die
schon im Hinblick auf die Art und Weise ihrer Hervorbringung bemerkenswert ist.
Denn diese Linie kann zwar, wie die graphische, als Spur beschrieben werden,
es handelt sich dabei jedoch weder um eine Ritzung noch um einen mittels einer
schleifenden Bewegung erzeugten Pigmentabrieb, sondern um eine Rinnspur,
die entstanden ist, ohne dass der Maler den Bildträger berührt und seinen Wider-
stand zur Erzeugung der Markierungen benützt hätte. Pollock schüttete die Farbe
auf die am Boden ausgebreitete Leinwand oder nahm sie mit einem Stab auf, um
sie darauf rinnen oder tropfen zu lassen. Durch die Dehnung der zähflüssigen
Farbmasse – eine Dehnung, die teils durch die Schwerkraft, teils auch durch
Bewegungsimpulse des Malers bewirkt wurde – entstand oftmals eine Art Farb-
faden, der auf der Leinwand allerdings wieder zu einer Lache zusammenlaufen
konnte.
Die kunsthistorische Signifikanz von Pollocks Linie lässt sich indes nicht auf
das Herstellungsverfahren reduzieren; sie hängt wesentlich mit der vom Maler
entwickelten Bildstruktur zusammen. Deren bis heute wohl einflussreichste
Analyse hat im Anschluss an Clement Greenberg, der von einem allover gespro-
chen hatte, Michael Fried vorgelegt. Zu den Voraussetzungen seines Arguments
gehörte die in der Kunstliteratur des 20. Jahrhunderts wohletablierte Auffassung,
die für die Malerei spezifischen Mittel seien Farbe und Linie und die Geschichte
moderner Malerei könne als eine der Autonomisierung dieser Mittel erzählt
werden. Pollocks epochale Leistung bestand für Fried u. a. in der konsequen-
ten Entbindung der Linie von der Aufgabe der Figuration. Seiner Analyse nach
waren zu diesem Zweck zwei Bedingungen zu erfüllen. Erstens musste verhindert
werden, dass die Linie zwei Bereiche unterscheidet, von denen sich der eine als
Figur, der andere als Grund bestimmen lässt – ganz egal, ob es sich bei der Figur
Three American Painters: Kenneth Noland, Jules Olitski, Frank Stella [1965]
In: Ders.: Art and Objecthood. Essays and Reviews. Chicago, London: Chicago University Press,
1998, S. 213–265, hier: S. 223–225 (abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von The University
of Chicago Press).
Übers. v. Sabine Mainberger.
Die Farbschlieren erscheinen auf der Leinwand [von Pollocks Gemälde Number 1, 1948] als kon-
tinuierliche allover-Linie, die Schleifen zieht und sich immer wieder um sich selbst wickelt, bis
fast die gesamte Leinwandfläche von ihr bedeckt ist. Es handelt sich um eine Art raumfüllender
Kurve von unermesslicher Komplexität, die auf den leisesten Impuls des Malers reagiert und
auch, so kommt es einem fast vor, auf den eigenen Blick. Neben Pollocks Linie gibt es in dem
Bild noch andere Elemente: z. B. schwebende Flecken von kräftiger Farbe, die vorübergehend
der Aufmerksamkeit Fixpunkte bieten, und in diesem und anderen Gemälden aus diesen Jahren
hat der Maler beim Malen sogar Handabdrücke hinterlassen. Doch sie sind alle – vor allem durch
Pollocks Linie – miteinander verwoben und erzeugen eine üppige, trotz ihrer Unterschiedlich-
keit homogene visuelle Textur, die den Betrachter zum Sehakt einlädt und doch zugleich dem
Auge nirgends einen Punkt zum Ausruhen gönnt. Das heißt, Pollocks allover drip paintings
lassen nicht zu, dass sich die Aufmerksamkeit irgendwo fokussiert. Das ist wichtig. Denn nur im
Zusammenhang eines ganz homogenen allover-Stils, der am Ende keine Fokussierung erlaubt,
konnten die unterschiedlichen Elemente im Gemälde – vor allem Linie und Farbe – zum ersten
Mal in der westlichen Malerei als völlig autonome malerische Elemente auftreten.
Zugleich war ein derartiger Stil nur dann erreichbar, wenn die Linie selbst irgendwie von der
Aufgabe der Figuration entbunden werden konnte. So zeigt eine Untersuchung von Number 1,
1948, oder von irgendeinem der besten Pollock’schen Gemälde aus diesen Jahren, dass seine
allover-Linie keine positiven und negativen Zonen auftauchen lässt: Es entsteht nicht der Ein-
druck, dass ein Teil der Leinwand als Figur, ob abstrakt oder gegenständlich, anzusehen ist und
ein anderer Teil der Leinwand als Grund. Bei Pollocks Linie oder bei dem Raum, durch den sie
sich bewegt, gibt es kein Innen oder Außen. Und das läuft auf die Behauptung hinaus, dass die
Linie in Pollocks allover drip paintings von 1947–50 endlich von der Aufgabe befreit worden ist,
Konturen zu beschreiben und Gestalten abzugrenzen. Sie ist von ihrem figurativen Charakter
gereinigt worden. Die Linie ist in diesen Gemälden vollkommen transparent auf den nichtillu-
sionistischen Raum hin, dem sie innewohnt, ohne ihn zu strukturieren, und für das Pulsieren
einer Art reiner, entkörperlichter Energie, die die Gemälde ohne Widerstand zu durchziehen
scheint. Pollocks Linie fasst nichts ein und begrenzt nichts – außer in gewissem Sinn die Sicht.
Wir neigen dazu, nicht über sie hinauszuschauen, und die unbehandelte Leinwand geht ganz in
ihrem Dienst an der Farbe auf. Wir neigen dazu, die unbehandelte Leinwand zu sehen, als ob sie
nicht da wäre. In diesen Werken ist es Pollock gelungen, die Linie nicht nur von ihrer Funktion
zu befreien, Gegenstände in der Welt darzustellen, sondern auch von der Aufgabe, Gestalten
oder Figuren, ob abstrakt oder gegenständlich, auf der Leinwandfläche zu beschreiben oder ein-
zufassen.[…]
Kurz: In Pollocks Meisterwerken von 1947–50 wird die Linie so eingesetzt, dass sie nicht mehr in
Begriffen der Figuration gelesen werden kann. Ich hoffe, es ist klar, dass der Gegensatz ‚figurativ‘
versus ‚nicht-figurativ‘ in diesem Zusammenhang einen fundamentaleren Sachverhalt bezeich-
net, als ihn der Gegensatz zwischen ‚gegenständlich‘ und ‚ungegenständlich‘ meint. Ein Gemälde
oder eine Zeichnung kann ungegenständlich – was üblicherweise ‚abstrakt‘ heißt – und zugleich
figurativ sein. Tatsächlich war die so genannte abstrakte Malerei vor Pollock niemals über diesen
Punkt hinausgelangt. Zum Beispiel wurde in Kandinskys Bild mit weißer Form (1913) ein heroi-
scher Versuch unternommen, die Linie so frei wie die Farbe agieren zu lassen. Aber man spürt
überall auf der Leinwand, wie die Linie von verschiedenen natürlichen Gegenständen abstra-
hiert wurde, und in dem Maß, wie man das fühlt, besitzt die Linie entweder eine residuale, aber
irreduzible Eigenschaft als Umriss, so dass man sie als etwas mit einer Innen- und einer Außen-
seite liest – als letzte Spur des natürlichen Gegenstands, der von den Kräften im malerischen
Feld aufgelöst worden ist –, oder sie besitzt die Eigenschaft eines Gegenstandes mit eigenem
Recht: nicht nur als Linie, sondern als eine Art Ding, das in einem mehr oder weniger illusionis-
tischen Raum gesehen wird, wie ein Ast oder ein Blitz. In seinem späteren Werk – Komposition 8
(1923) ist einschlägig – versuchte Kandinsky, seine Abhängigkeit von natürlichen Gegenständen
dadurch zu überwinden, dass er sich auf geometrische Formen beschränkte, die mit Zirkel und
Lineal gemacht werden konnten; und er beschloss, die Eigenschaft zu betonen oder zu verstär-
ken, die die Linie von Anfang an hatte: die, eine andere Art Ding in der Welt zu sein. In Bildern
wie diesem erinnert Kandinskys Linie an Drahtstücke, an gebogene oder gerade, die irgendwie
in einen Raum versetzt sind, der nicht weniger illusionistisch ist als in den früheren Bildern.
Beide Gemälde von Kandinsky könnten nicht gegenständlich genannt werden, aber beide sind
eindeutig figurativ, wenn wir sie mit Pollocks allover-Gemälden von 1947–50 vergleichen.
Als Gertrud Goldschmidt (Gego) 1966 vor Teilnehmern und Lehrenden des „Tama-
rind Lithography Workshop“ eine Ansprache hielt, diente ihr die vorliegende
Notiz als Textgrundlage. Gego, die kurz vor ihrer Emigration aus Deutschland
(1938) ein Architekturstudium abgeschlossen und später in Venezuela auch als
Architektin und Möbeldesignerin gearbeitet hatte, vergleicht die eigene Kunst mit
architektonischen Darstellungsverfahren und beschreibt sie als eine grundsätz-
lich andersartige Form von Linienpraxis. Die Rolle der Linie beim Planzeichnen
wird im Text als diejenige eines „Formen“ und „Räume“ definierenden „Grenz-
symbols“ bestimmt. Mit den „Formen“ sind vermutlich Mauern und andere kör-
perliche Elemente eines Bauwerks gemeint. Indem Linien auf dem Bauplan diese
körperlichen Elemente geometrisch definieren, legen sie zugleich die Maße der
Leerräume fest. Die Linien haben also eine Bezeichnungsfunktion, die anders
als in der gegenständlichen Malerei nicht die Hervorbringung imaginärer Bildob-
jekte, sondern die Definition zu realisierender Referenzobjekte betrifft. Solange
die Linien in dieser Funktion aufgehen, haben sie kein „Eigenleben“. Gego cha-
rakterisiert ihre eigene Kunst dann, wenigstens implizit, als einen Versuch, das
Eigenleben der Linie zur Geltung zu bringen. Der Text lässt erahnen, dass sie
dieses Ziel auf mehr als nur einem Weg zu erreichen versuchte. Die Linie hatte bei
Gego aufgehört, ein Grenzsymbol zu sein und wurde als eine von ihrer Bezeich-
nungsfunktion entbundene Linie behandelt – ganz egal, ob sie weiterhin als gra-
phische Linie oder als „Linie im Raum“ (etwa in Form von Drahtstücken) auftrat.
Zugleich hatte sie aber auch aufgehört, ein Grenzsymbol zu sein, denn sie war
nun keine Kante oder Kontur mehr und schloss folglich auch nichts mehr ein oder
aus; stattdessen bewegte sie sich in der Polarität von Vektor und Rasterstruktur.
Wiewohl Gego die Linie nicht mehr mit der graphischen Linie identifiziert,
sondern auch als Linie im Raum behandelt hat, lässt sich bei ihr weder in der
künstlerischen Praxis noch in der Reflexion darauf irgendeine Spur von kons-
truktivistischem Pathos ausmachen. Ihre Linie ist weder die eines planenden
Architekten, noch gibt sie eine verbindliche Richtung vor, sondern lässt ein
Anderes, Ungreifbares zur Geltung kommen, ohne es definitorisch festzulegen.
Abgesehen von ‚Linie‘ lauten die Schlüsselwörter des Textes ‚Nichts‘ (nada)
und ‚zwischen‘ (entre). Es wird zu verstehen gegeben, dass eine Linie, die durch
nichts festgelegt ist und die auch nichts festlegt, gerade darum das Nichts – also
die unmarkierte Fläche oder den leeren Raum – lebendig werden lassen kann.
Wenn Gego dieses ästhetische Aufleben unmarkierter oder leerer Bereiche als ein
Funkeln beschreibt, denkt sie wohl nicht zuletzt an spezifische Weisen der Akti-
vierung des weißen Papiergrundes durch graphische Linien. Der in dem von ihr
gebrauchten Wort estrellar (‚funkeln‘) enthaltene ‚Stern‘ (estrella) erinnert daran,
dass die Künstlerin in einigen ihrer Zeichnungen gerade jene Stellen, an denen
mehrere Linien zusammenlaufen würden, leer gelassen hat. In der Betrachtung
kommt es an den betreffenden Leerstellen zu einem Aufleuchten oder Flimmern
des Weißgrundes. Ob Gego diesen Kunstgriff damals (1966) bereits entdeckt hatte,
muss hier freilich dahingestellt bleiben.
Prophetisch nimmt sich im Nachhinein das Notat aus, es bleibe „weiterhin
viel zu erfahren“. Tatsächlich sollten noch drei Jahre vergehen, ehe Gegos heute
wohl berühmtestes Werk, die Rauminstallation Reticulárea – ein aus Metallstä-
ben und -ringen aufgebautes und doch zuweilen fast wolkig anmutendes unre-
gelmäßiges ‚Netz‘, das als wuchernde Zeichnung im Raum betrachtet werden
kann –, im Museo de Bellas Artes von Caracas erstmals realisiert und präsentiert
wurde (1969).
Brett 2013, S. 78, 80; Crespin 2015; Ramírez 2013; Shiff 2003
Testimony 4 [1966]
In: María Elena Huizi/Josefina Manrique (Hrsg.): Sabiduras and Other Texts by Gego. Internatio-
nal Center for the Arts of the Americas, The Museum of Fine Arts, Houston, und Fundación Gego,
Caracas. New Haven (Conn.), London: Yale Univ. Press 2005, S. 167–169, hier: S. 168.
Übers. v. Wolfram Pichler.
Vor dreißig Jahren wurde ich als Architektin ausgebildet (entrenada) und angestellt, um Linien
mit einer festgelegten Bedeutung zu zeichnen, Linien, die als Grenzsymbol stets Formen und
Räume bestimmen, ohne irgendein Eigenleben.
Viele Jahre später entdeckte ich den Zauber der Linie an sich, die Linie im Raum ebenso wie die
auf eine Oberfläche gezeichnete Linie, und das Nichts zwischen den Linien („la nada entre las
líneas“) und das Funkeln, wenn sie einander kreuzen, wenn sie unterbrochen werden, wenn
sie von verschiedener Farbe sind. Ich entdeckte, dass das Zwischen-den-Linien (el entrelíneas)
manchmal ebenso wichtig ist wie die Linie an sich. Doch bleibt weiterhin viel zu erfahren.