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Jörg Dünne
4.0 Einleitung
Geographische Linien werden oft als kulturelle Einschreibungen in einen selbst
nicht ‚linienförmig‘ strukturierten Raum konzipiert; die Linie erscheint dabei
als etwas, was nicht dem Territorium selbst, sondern seiner kulturellen Vermes-
sung, Einteilung und Veränderung zugewiesen wird. Diese Einschreibung in den
geographischen Raum bedient sich bestimmter Medien und Instrumente, allen
voran der Kartographie. Ein Gegenentwurf zu einem Liniendenken, das sich
ausschließlich als kulturelle Einschreibung in einen geographischen Naturraum
versteht, stammt von Kenneth White, der der von ihm entwickelten „Geopoetik“
die Aufgabe zuweist, bereits bestehende und vor allem als natürlich gegeben
gedachte „lines of the world“ zu entziffern und zu verstehen (White 1989). Die
folgende Einleitung hier und die Textauswahl zu Linien in der Geographie und
Kartographie vermeiden es, Linien als kulturelle Operationen streng von einer
nicht linienhaften ‚Natur‘ zu trennen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass seit
den antiken Ursprüngen der Geographie auch ‚natürliche‘ Medien der geogra-
phischen Einschreibung angenommen werden, wenn etwa der griechische Geo-
graph Strabo das Meer als – modern gesprochen – einen geographischen Aktan-
ten darstellt, der aktiv die Umrisse der Erde umschreibe (geographei) (s. Jacob*,
DOI 10.1515/9783110467949-005
S. 253). In ganz ähnlicher Weise lassen sich Höhen- und Schichtungslinien als die
Inskription natürlicher Medien verstehen.
Es ist aber natürlich nicht zu leugnen, dass die durch menschliche Operati-
onen und Medien erfolgende kulturtechnische Einschreibung von Linien in die
Oberfläche der Erde bzw. in die auf sie verweisenden Geomedien nachhaltige kul-
turpragmatische Auswirkungen hat (auf diese werden sich die folgenden Überle-
gungen konzentrieren). Geographische Linienpraktiken, die mit geometrischen
Mitteln die Adressierbarkeit und Verfügbarkeit geographischer Räume herstellen,
dienen dabei als privilegiertes Instrument der Etablierung dessen, was der Anth-
ropologe Philippe Descola eine „naturalistische“ Ordnung (vgl. Descola 2011, v. a.
S. 259–300) nennt, in der klar zwischen Natur und menschlicher Kultur geschie-
den wird; in diesem Zusammenhang kommt es zu der kulturhistorisch folgenrei-
chen Annahme, dass geometrisch konstruierte Linien (vor allem gerade Linien;
vgl. dazu Ingold 2007, S. 152–170) als ordnende, organisierende und Macht aus-
übende menschliche Einschreibungen in ein natürliches und an sich ‚linienfreies‘
Territorium zu verstehen seien. Allerdings wird sich zeigen, dass geographische
Linienpraktiken letztlich dazu führen können, diese strenge Unterscheidung zwi-
schen kultureller Einschreibung von Linien und unstrukturiertem natürlichem
Substrat selbst wieder in Frage zu stellen.
Ausgangspunkt des folgenden Überblicks zu einer Kulturgeschichte geo- bzw.
kartographischer Linien, mit deren Hilfe die in diesem Teil ausgewählten histo-
rischen Texte in zwei verschiedene thematische Felder gegliedert werden sollen,
ist eine paradigmatische frühneuzeitliche ‚Linien-Szene‘1 (4.1), die die politische
Bedeutung von geographischen Linien aus europäischer Perspektive sowie die
damit verbundene Bedeutung des Mediums Kartographie mit einer nicht-euro-
päischen Linienpraxis konfrontiert. Daran anschließend sollen, nunmehr wie-
derum mit Konzentration auf eine ‚westliche‘ Geschichte geographischer sowie
geopolitischer Linienpraktiken, zunächst kartographische Linien als Medium
der spezifischen Operationalität dieser Linienpraktiken untersucht werden (4.2);
abschließend werde ich als zweites Untersuchungsfeld auf die wissenschaftliche
Diskussion um Grenzlinien als einer speziellen Form von geopolitischer Linien-
ziehung eingehen (4.3).
1 In Anlehnung an das von Rüdiger Campe (1991) entwickelte Konzept der ‚Schreibszene‘.
stoßen sie auf eine Kultur, die Linien als gelebte Spuren einer ebenso religiösen
wie politischen Praxis in ihren Alltag integriert.
Immerhin konnten auch die europäischen Missionare nicht umhin, in ihrer
Auseinandersetzung mit ceque-Linien das anzuerkennen, was eine eurozentri-
sche Sicht auf die frühneuzeitliche Form der Globalisierung negiert, wenn sie
die europäische Expansion als Einschreibung in einen „freie[n] Raum“ verste-
hen will – diese Formulierung stammt von Carl Schmitt, wenn er das sogenannte
„globale[ ] Liniendenken“ beschreibt (Schmitt*, S. 228). Bezeichnenderweise
geht er in seiner Vorstellung, die ‚Neue Welt‘ stünde der europäischen Eroberung
zur ungehinderten Einschreibung zur Verfügung, von einer „Gleichsetzung von
Land- und Meeresfläche“ (S. 227) aus, die die ganze ‚Neue Welt‘ im Sinn von Gilles
Deleuze* und Félix Guattari* als einen „glatten“, durch die Einschreibung einer
von Linien geprägten geopolitischen Ordnung zu „kerbenden“ Raum betrachtet,
den die europäischen Mächte untereinander aufteilen könnten. Aufschlussreich
an Schmitts Beschreibung ist dabei die Tatsache, dass er Globen und Karten als
die hauptsächlichen Medien dieses ‚Liniendenkens‘ betrachtet und die in der
Frühen Neuzeit derart verzeichneten geometrischen Linien mit der politischen
Aufteilung der gesamten Erdoberfläche identifiziert.
Die tatsächliche Geschichte der Kartenlinien, mit denen sich ein ‚Linienden-
ken‘ oder zumindest eine spezifische kulturtechnische Operationalität von Karten
begründen lässt, ist weitaus komplexer. Dies liegt einerseits sicherlich daran, dass
Karten, wie an dieser ‚Linien-Szene‘ gezeigt, auch ein anderes Erscheinungsbild
haben können als das, was man seit der Frühen Neuzeit aus europäischer Sicht
darunter versteht, d. h. als Karten, die auf Gradnetz- oder anderen Konstruktions-
linien beruhen;2 so können etwa inkaische ceques als nicht-europäische karto-
graphische Praxis verstanden werden (vgl. Gartner 1998). Aber auch ohne eine so
weit gefasste, die neuzeitliche Kartographie der westlichen Welt überschreitende
Kartendefinition zu bemühen, haben die vielfältigen Formen des Linienwissens
in europäischen Karten seit der Frühen Neuzeit selbst bereits eine große Band-
breite spezifischer Bedeutungen und kultureller Konsequenzen hervorgebracht.
Karten-Linien (4.2)
Linien in der Kartographie werden hier im Anschluss an Bruno Latour als eine
besonders folgenreiche Kulturtechnik verstanden, die in einem spezifischen Sinn
2 Vgl. zu dem Versuch einer umfassenden, nicht eurozentrischen Definition von Kartographie
Harley 1987, S. xvi.
die Erde „flach“ macht (vgl. Latour 1986, S. 21), indem sie einen „Kurzschluss zwi-
schen Papieroberfläche und Erdoberfläche“ (Siegert 2009, S. 46) herstellt – ein
Kurzschluss, der im Folgenden vor allem auf seine geographischen Konsequen-
zen hin untersucht werden soll. Die ausgewählten Texte widmen sich exemplari-
schen Kartenlinien und ihren historischen Wandlungen von der Frühen Neuzeit
bis in die Moderne, wobei von Karten ausgegangen wird, die auf Papier oder, wie
im 16. Jahrhundert noch für bestimmte Zwecke üblich, auf Pergament erstellt
wurden.3
Linien zählen neben Punkten und Flächen zu den semiotischen Grundbe-
standteilen einer Karte, sofern man ihre visuelle, nicht auf Schrift basierende
Gestalt untersucht. Was die Beschreibung von Kartenlinien betrifft, kann ein kul-
turpragmatischer Ansatz das weite Feld der „graphischen Semiologie“ (vgl. Bertin
1967; Atelier de cartographie de Sciences Po 2010) mit ihren höchst unterschiedli-
chen Parametern zur Beschreibung von Kartenlinien (vgl. grundlegend Dainville
1964, v. a. S. 17–18) von vornherein auf die dynamischen Linien im engeren Sinn
eingrenzen, die Christian Jacob in seinen Überlegungen zu Kartenlinien von den
statischen ‚Formen‘ unterscheidet: Während Linien das Auge des Kartenbetrach-
ters „zu einer Reise, einer linearen und orientierten Bewegung“ einladen, appel-
lieren die Formen an „einen festen Blick, der den Zusammenhang erfasst sowie,
mit ein wenig Abstand, die Verschränkung mit benachbarten Formen“ (Jacob*,
S. 253). Es geht jedoch nicht nur um die hier in Anlehnung an Michel de Cer-
teaus (vgl. 1990, S. 172–175) Unterscheidung von dynamischen Räumen und stati-
schen Orten behauptete Dynamisierung des Blicks beim Betrachten von Karten,
sondern grundlegender um deren Funktionalität doppelter Art, die von Ingold
(2007, S. 155–160) als Kombination von „guidelines“ und „plotlines“ beschrieben
wird: „Guidelines“ helfen durch die geometrische Strukturierung von Flächen
dabei, die Karte als „Grund“ herzustellen, auf dem eine in dem Raum, auf den die
Karte verweist, mehr oder weniger genau festlegbare Bewegung sichtbar werden
kann; die Spur dieser Bewegung, die im Medium der Karte ebenfalls als Linie
verzeichnet wird, nennt Ingold „plotline“.
Die Engführung von Papieroberfläche und Erdoberfläche, die die Kartogra-
phie bewirkt, wird oft als ein überzeitliches Definiens von Karten dargestellt,
das in der Relation von map und territory bestehe (vgl. zur Kritik an dieser Sicht
November/Camacho-Hübner/Latour 2010). Aus kartographiegeschichtlicher
3 Die antike Geo- bzw. Kartographie findet in der vorliegenden Auswahl von Quellentexten in-
sofern keine sowie in dieser Einleitung nur ansatzweise Berücksichtigung, als dort die charakte-
ristische Verknüpfung von Papier- und Erdoberfläche, die neuzeitliche kartographische Linien-
praktiken prägt, so noch nicht gegeben ist.
Sicht übergeht diese Definition aber gerade das Entscheidende, nämlich, dass
diese Relation als solche im ausgehenden Mittelalter erst allmählich hergestellt
wird, d. h., dass mit ihr und mit den entsprechenden Linientypen ein medialer
Raum produziert wird, der vorher so nicht gegeben war (vgl. Boelhower 1988).
Das geographische Wissen der Frühen Neuzeit zeichnet sich nun dadurch aus,
dass es die Relation von Karte und geographischem Territorium institutionali-
siert: Es entfaltet sich in einem Feld, das durch eine doppelte Unterscheidung
bestimmt ist, nämlich einerseits durch die Unterscheidung von Kosmographie
und Geographie und andererseits durch diejenige von Geographie und Choro-
graphie (vgl. Lestringant 1991 und Besse 2003, S. 172–190). Die Operationalität
der Kartenlinie entfaltet sich dabei vor allem im mittleren dieser Felder: Während
die Kosmographie nach dem Modell der Sphäre und somit im dreidimensiona-
len Raum operiert und während die Chorographie einzelne Landstriche oder Orte
qualitativ, d. h. in Bild- oder Textform, beschreibt, lässt die Karte als privilegier-
tes Medium der Geographie Orte als adressierbare Punkte erscheinen und trägt
auch kosmographisches Wissen, sofern für ihre Zwecke relevant, als Linien auf
die Oberfläche der Karte ein, die zugleich die Erdoberfläche darstellt. Die Karte
wird somit zum Ort, an dem lokales und globales (bzw. planetarisches) Wissen in
einem Medienverbundsystem zusammengeführt werden.
Ein besonderer Motor der frühneuzeitlichen Operationalisierung von Raum
durch Kartenlinien ist die Navigation im offenen Meer: Navigatoren im 16. Jahr-
hundert mussten sich sowohl mit den Grundlagen der Astronomie als auch mit
der Tradition der auf der Kompassnavigation basierenden Portolankartographie
vertraut machen (vgl. Campbell 1987). In Portolankarten wird der projektierte
Kurs des Schiffes von einem Ort zu einem anderen als gerade Linie dargestellt,
die einer „Rumbenlinie“, d. h. einer per Kompassweisung anpeilbaren Himmels-
richtung, entspricht (vgl. S. 208, Abb. 1).
Der praktische Nutzen solcher Karten hängt aber auch vom Erfahrungswis-
sen der Piloten ab, die bereits überlieferte Informationen aus sog. Routenbüchern
(pt. roteiros, sp. derroteros, frz. routiers, engl. rutters) verwenden, d. h., es muss
sichergestellt sein, dass Kompasskurs und Entfernung von einem Navigations-
punkt zum nächsten bekannt sind. Ein Auszug aus einem frühneuzeitlichen
Navigationstraktat von Martín Cortés de Albacar* stellt dar, wie Navigatoren eine
solche Karte selbst erstellen und für sie zur Navigation relevante Informationen
von einem existierenden Kartenmodell in diese Karte kopieren konnten.
Abb. 1: Pedro Reinel (ca. 1502): „Mappa Europae cum partibus Africae, Asiae nec non Americae
Septentr.“ [Ms., Ausschnitt]. In: America. Das Frühe Bild der Neuen Welt (1992) (Ausst.kat.).
München: Prestel, S. 131.
Es wäre jedoch eine zu große Vereinfachung anzunehmen, allein mit den Rum-
benlinien könne man auf dem offenen Meer navigieren. Mit der Öffnung auf den
Atlantik im 15. Jahrhundert gerät die zuvor dominant mittelmeerische Technik der
Navigation im 16. Jahrhundert in eine Krise (vgl. Randles 1989): Die bei der Kon
struktion von Portolankarten nicht berücksichtigte Erdkrümmung macht sich auf
langen Distanzen dergestalt bemerkbar, dass die scheinbar gerade Linie, die ein
Schiff auf einem einheitlichen Kurs einschlägt, tatsächlich eine loxodrome Krüm-
mung beinhaltet (vgl. Hollander 1989). Die zuverlässige Positionsbestimmung
auf dem offenen Meer kann nicht auf astronomische Hilfsmittel verzichten, mit
denen sich das System der Positionsbestimmung fundamental wandelt: An die
Stelle der ‚relationalen‘ Bestimmung eines Ortes im Verhältnis zu einem anderen,
wie sie in Routenbüchern praktiziert wird, die wiederum die Grundlage für Por-
tolankarten bilden, tritt nun in Wiederaufnahme der ptolemäischen Tradition
zunehmend die ‚absolute‘ Positionsbestimmung eines Ortes nach Längen- und
Breitengraden; unter den verschiedenen Kartenprojektionen, die mit Berücksich-
tigung der Erdkrümmung Längen- und Breitengrade auf die zweidimensionale
Operationsfläche des Papiers bringen, wird für die Navigation die sog. Mercator-
Abb.2: Willem Janszoon Blaeu (1635): Nova Totius Terrarum Orbis Geographica Ac Hydrographica
Tabula. Amsterdam: Hondius [nur Zentralkarte]. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Blaeu_Nova_Totius_Terrarum_orbis_Geographica_ac_Hydrographica_Tabula_1635.jpg.
In der Praxis der Navigation selbst funktioniert jedoch auch diese Form der Posi-
tionsbestimmung nicht ohne Probleme, denn während es zuverlässige Wege
gibt, die Breitengrade hinlänglich genau zu bestimmen, ist die Bestimmung der
Längengrade zur See bis zum 18. Jahrhundert nicht ohne weiteres möglich (vgl.
exemplarisch zu diesem Problem im 16. Jahrhundert Alonso de Santa Cruz 1921,
zu seiner Lösung im 18. Jahrhundert Sobel 1995). Es entwickeln sich so diverse
Mischformen zwischen Portolan- und Gradnetzkarten, die auf eine hybride Praxis
der Navigation verweisen: einerseits eine Kompassnavigation per ‚Koppelkurs‘
entlang von Rumbenlinien, die vor allem das Erfahrungswissen der Navigatoren
Abb 3: „Plano fundacional“ von San Juan de la Frontera (1562) [Ausschnitt]. In: Dym, Jordana/
Offen, Karl (Hrsg.) (2011): Mapping Latin America. A Cartographic Reader. Chicago, London:
University of Chicago Press, S. 46.
Eine neue Etappe in der Geschichte der möglichst präzisen Anheftung kartier-
barer Linien an ein kartiertes Territorium, die sich als „Punktfixierung“ (Stock-
hammer 2007, S. 18) bezeichnen lässt, entwickelt sich allmählich durch den
Einsatz trigonometrischer Verfahren der Landvermessung in Verbindung mit
dem Problem der genauen Bestimmung von Längengraden (vgl. zum Folgenden
im Überblick Stockhammer 2007, S. 29–39, sowie Schlögel 2003, S. 167–176): Ziel
der geodätischen Operationen, mit denen Meridiane vermessen werden, ist im
18. Jahrhundert zum einen die Lösung des umstrittenen Problems der genauen
Gestalt der Erde. Diesbezüglich führen die beiden Expeditionen zur Triangulation
von Meridianbögen nach Lappland unter der Leitung von Pierre-Louis Moreau
de Maupertuis (vgl. Maupertuis 2014) und ins heutige Ecuador unter Leitung von
Louis Godin zur Bestätigung einer an den Polen abgeflachten Gestalt der Erde,
wie sie Newton angenommen hatte (vgl. La Condamine 1745; allg. zur „Weltver-
messung“ im 18. Jahrhundert vgl. Despoix 2005).
Darüber hinaus ermöglicht die Triangulation, politisch noch folgenreicher,
die genaue Vermessung des nationalen Territoriums, wie sie erstmals in Frank-
reich durch die verschiedenen Generationen der Cassini-Familie durchgeführt
wurde (vgl. dazu den Überblick bei Pelletier 2002). Die erste Etappe reichte
bis 1716 (zum Ergebnis vgl. Cassini* sowie die Karte mit den Dreiecken, die zur
Bestimmung des Meridians quer durch Frankreich vermessen wurden), ein
zweiter und genauerer Durchgang bis 1744 erbrachte die zwischen 1756 und 1815
publizierte „Carte générale et particulière de la France“. Grundlage der Triangu-
lation ist dabei eine Basislinie, die einem bestimmten Bruchteil eines Erdmeri-
dians entspricht. Für die Vermessung Frankreichs ist dies der 1667 festgelegte
„Méridien de Paris“, der durch das dort neu erbaute Observatorium verläuft. Man
kann die Frankreich durchquerenden Triangulationslinien, die die Grundlage der
Cassini-Karte bilden, in Anlehnung an Louis Marin (1980) noch als eine Ausprä-
gung der Episteme der Repräsentation ansehen, die für die implizite Subjektpo-
sition des Monarchen gemacht scheint, welcher sein Territorium in Gestalt eines
komplett homogenen Raums kontrolliert. De facto wird die Landvermessung auf
der Grundlage eines Meridians aber zu einer Technik, die sowohl geopolitisch
als auch wissenschaftlich ihre größten Wirkungen erst später und z. T. nach
der Französischen Revolution entfaltet: So wird die Triangulation zum einen,
wie exemplarisch an der Nachgeschichte der 1763 bis 1767 vermessenen Mason-
Dixon-Linie deutlich wird, im 19. Jahrhundert die politische Landkarte verschie-
denster Länder und Kontinente prägen (vgl. Mason/Dixon 1768 sowie zu dem
darauf aufbauenden Roman von Thomas Pynchon Stockhammer 2005, zu den
geopolitischen Folgen der Triangulation für staatliche Grenzziehungen Schlögel
2003, S. 177–198). Zum anderen geht ein Ergebnis der Triangulation in die Heraus-
bildung der (wenn auch fehlerhaft berechneten) Maßeinheit „Meter“ ein, die ihre
zumindest für weite Teile der westlichen Welt normierende Funktion bei der Län-
genmessung erhalten wird (vgl. Alder 2003, zu Normierung als bestimmendem
Moment der Globalisierung um 1900 vgl. allgemein Krajewski 2006).
Im 19. Jahrhundert tritt schließlich ein neuer kartographischer Linientyp auf
den Plan, der mit der kartographischen Fixierung auf den Operationalitätstyp
der geraden Linie, wie er idealtypisch im „Méridien de Paris“ auftritt, bricht: Es
handelt sich um die so genannten „Isolinien“ oder „Isarithmen“. Im Unterschied
zu den geometrisch konstruierten „guidelines“ und den Spuren einzelner Par-
cours aufzeichnenden „plotlines“ sind sie als Linien definiert, „die in der quan-
titativen kartographischen Darstellung von Erscheinungen mit fließenden Über-
gängen der Intensitätsgrade Punkte gleicher Intensität verbinden“ (Horn 1959,
S. 225). Isolinien wie etwa Isohypsen (Höhenlinien) werden oft dazu benutzt, das
zu kartierende Gelände näher zu bestimmen, sie stellen aber dennoch nicht nur
das dar, was Jacob (1992, S. 174–188) „Formen“ oder „Konturen“ nennt, auch wenn
z. B. die Küstenlinie einer Insel als Spezialfall einer Isolinie verstanden werden
kann (genauer: als Isohypse, die die Höhe von +/- 0 im Verhältnis zum Mee-
resspiegel bezeichnet): Mit Isolinien wie Isobaren (Linien gleichen Luftdrucks)
oder den erstmals 1817 in paradigmatischer Form von Alexander von Humboldt
5 In abstrakter Form wurden Isothermen von Humboldt erstmals in der „Carte des lignes iso
thermes“ (Humboldt 1817) dargestellt. Diese Karte ist online verfügbar, URL: http://libweb5.
princeton.edu/visual_materials/maps/websites/thematic-maps/quantitative/meteorology/
humboldt-map-1817.jpg, besucht am 6.9.2016. Zur Darstellung von Isothermen auf einer Weltkarte
in Heinrich Berghaus’ Physikalischem Atlas s. u., Abb. 6.
6 Sogar auf einen noch früheren Zeitpunkt, nämlich auf die Jungsteinzeit, wird der Beginn der
Geschichte der Rektifizierung der Linie von M. Sommer (2016) datiert.
Ein weiterer Typ von geographischen Linien mit besonderer Bedeutung in geopo-
litischer Hinsicht ist derjenige der Grenzlinie. Auch für deren Festlegung und Dar-
stellung spielen, wie bereits angedeutet, kartographische Praktiken eine nicht zu
unterschätzende Rolle, die Diskussion über Grenzlinien lässt sich allerdings nicht
komplett unter Kartographie subsumieren. Generell soll hier, d. h. im Rahmen
einer Einführung zu historischen Texten über Grenzen in Zusammenhang mit
geographischen Fragestellungen, ebenfalls an einer kulturpragmatischen Per-
spektive, die sich durch die Verkoppelung von medialer Grenzziehungsopera-
tion und Einschreibung in ein Territorium konstituiert, festgehalten werden. Die
reichhaltige, stärker an topologischen Fragen orientierte kulturwissenschaftliche
Forschung zu Grenzen (vgl. exemplarisch Parr 2008) bleibt im Folgenden somit
der geographischen sowie geopolitischen Pragmatik von Grenzziehungsoperati-
onen untergeordnet, obwohl auch in diesen Pragmatiken wichtige topologische
Fragen, etwa zum Verhältnis von Grenzlinie und Grenzzonen, berührt werden.
Zunächst gilt es, die Frage aufzuwerfen, in welchen Fällen Grenzen über-
haupt als linear zu verstehen sind bzw. was ein ‚liniengebundenes‘ Grenzdenken
in politischer bzw. kulturgeschichtlicher Hinsicht impliziert. Der Philosoph und
Soziologe Georg Simmel geht Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner „Soziologie
des Raums“ (Simmel 1903) davon aus, Grenzen seien der Rahmen für jede soziale
Gruppenbildung. Selbst wenn Simmel annimmt, dass Grenzen eigentlich nur als
Projektionen sozialer Praktiken aufzufassen seien, leugnet doch auch er nicht
den operationalen Wert der ‚sinnlichen‘ Wahrnehmbarkeit von exteriorisierten
Grenzen, vor allem in Linienform:
Jede Grenze ist ein seelisches, näher: ein soziologisches Geschehen; aber durch dessen
Investierung in einer Linie im Raum gewinnt das Gegenseitigkeitsverhältnis nach seinen
positiven und negativen Seiten eine Klarheit und Sicherheit – freilich oft auch eine Erstar-
rung –, die ihm versagt zu bleiben pflegt, solange das Sich-treffen und Sich-scheiden der
Kräfte und Rechte noch nicht in eine sinnliche Gestaltung projiziert ist und deshalb immer
sozusagen im status nascens verharrt. (Simmel 1903, o.S.)
7 Zur französischen Begriffsgeschichte von „frontière“ vgl. Febvre*, der aufzeigt, dass die heute
gängige Identifikation von „frontière“ mit der linear gedachten „limite“ erst seit der Zeit der
Französischen Revolution üblich ist.
8 Diese Annahme geht auf den französischen Geographen Philippe Buache und seinen 1752 ver-
öffentlichten Essai de géographie physique zurück (vgl. dazu Gallois 1901, S. 236).
9 Vgl. dazu Gallois (1901) sowie Materialien des deutschen Geographen Hans Steffen, der an der
Grenzvermessungsaktion beteiligt war, in Gerdes/Schmidt (2016).
10 Interessanterweise rekurriert Ancel, um diesen arbiträren, auf politischen Kraftfeldern be-
ruhenden Charakter aufzuzeigen, metaphorisch auf die Kartographie der Isolinien, wenn er die
Grenzlinie als „politische Isobare“ bezeichnet, um damit ihren wandelbaren Charakter hervor-
zuheben (Ancel 1938, S. 195).
auf einer geopolitischen Ebene, sondern betrachten Grenzen als Orte, an denen
unterschiedliche kulturelle Praktiken miteinander interagieren. So stellt etwa
Chiara Brambilla als Vertreterin der in den Cultural Studies inzwischen etablier-
ten Forschungsrichtung der border studies das Konzept der sog. „borderscapes“
folgendermaßen vor:
Differently from boundaries of nation-states that are invented as lines on the flat and bi-
dimensional surface of the map according to the modern territorialist geopolitical imagi-
nary, borderscapes are multidimensional and mobile constructions which tell us about geo-
graphies of actions and stories of border place as well as the itineraries of mobile subjects
that cross the border, at the intersection of experience and representation. (Brambilla u. a.
2015, 3)
Die Konzentration auf borderscapes setzt sich also vom geopolitischen Denken
ab, das Grenzen zu abstrakten Linien macht, und konzentriert sich stattdessen
auf Praktiken, mit denen Grenzen performativ markiert, aber auch transformiert
werden. Im Zuge eines derartigen Verständnisses hat sich die wissenschaftliche
Diskussion um Grenzen nicht nur von dem alleinigen Fokus auf geopolitische
Grenzen verabschiedet, sondern löst den Grenzbegriff von konkreten Topogra-
phien ab und propagiert seine starke Ausweitung (vgl. z. B. Pratt 1991, Benthien/
Krüger-Fürhoff 1999).11 Im Hinblick auf die US-amerikanisch-mexikanische
Grenze, dieses Paradigma der border studies (vgl. z. B. Lorey 1999, Crosthwaite
2003, Andreas 2009), stellt sich aber die Frage, ob nicht letztlich doch die Geopo-
litik der Grenze, die eine strikte, potenziell linienförmige Trennung zweier nati-
onalstaatlicher Territorien durchzusetzen bestrebt ist, und die von den border
studies untersuchten, größtenteils transgressiven border performances (vgl. etwa
in Mexiko die Praxis des ‚coyotaje‘, des Hinüberschleusens von einer Seite der
Grenze zur anderen – vgl. dazu Spener 2009) in einem unauflösbaren Wechsel-
verhältnis zueinander stehen. Auch literarische und filmische Grenz-Erzählun-
gen, die sich mit der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze beschäftigen (vgl.
Graziadei 2010), situieren sich zumeist in diesem Spannungsfeld.
Im Zuge der Ablösung der kulturtheoretischen Diskussion zu Grenzen vom
Muster einer ‚linearen‘ Grenze zwischen zwei souveränen Staaten hat seit dem
19. Jahrhundert die Frage zunächst unsichtbarer Grenzen im sozialen Raum
zunehmend größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen; ein paradigmatischer Fall
11 Für eine aktive und schillernde Metaphorisierung des Grenzbegriffs sowie die Konzeptua-
lisierung des zwischen den beiden Seiten einer binären Opposition stehenden Zwischenraums
wegweisend ist in der nordamerikanischen Debatte vor allem Gloria Anzaldúas Borderlands/La
Frontera (Anzaldúa 2007) geworden.
der Sichtbarmachung sozialer Grenzen sind etwa „disease maps“ (vgl. Koch 2011)
oder „crime maps“ (vgl. dazu exemplarisch die Kartierung des urbanen Raums
durch die „Chicago school“ sowie dazu Turnbull/Dent/Hendrix 2000), die den
sozialen Raum in Zonen zu- bzw. abnehmender Gefahr aufteilen (vgl. Abb. 4).
Abb 4: Frederic M. Thrasher, Chicago’s Gangland (1927, Detail). Cornell University – PJ Mode
Collection of Persuasive Cartography. URL: https://digital.library.cornell.edu/catalog/
ss:3293910.
12 Genau genommen handelt es sich bei Kartierungen, die aus statistischen Werten gewonnen
werden, um sog. ‚Pseudoisolinien‘, mit denen der Eindruck einer kontinuierlichen Verteilung
erzeugt wird, auch wenn nur einzelne statistische Werte vorliegen.
wenn bestimmte Viertel einer Stadt jenseits einer bestimmten Straße als „no-go-
areas“ wahrgenommen werden. Auch hier lässt sich also eine Spannung erken-
nen zwischen topologisch beschreibbaren dynamischen Relationen von einzel-
nen Körpern in Kraftfeldern und dem Bedürfnis, eine mehr oder weniger klare
Grenzziehung an bestimmte topographische Markierungen im begehbaren Raum
anzuheften. Die Tatsache, dass Grenzen immer wieder in Linienform dargestellt
werden, hängt somit auch damit zusammen, dass sie durch ihre operationale
Verknüpfung mit einer bestimmten Topographie teilweise erst wahrnehmbar und
pragmatisch folgenreich werden.
Paradoxerweise scheint also die geopolitische Abstraktion der ‚Grenzlinie‘
dort besonders folgenreich zu sein, wo sie sich per definitionem nicht als abstrakte
Linie ohne Breite, sondern als selbst Raum beanspruchende ‚Grenzarchitektur‘ in
eine gegebene Topographie einschreibt. Diesen konstitutiven Widerspruch hat
beispielsweise ein 2009 begonnenes israelisches Kunstprojekt mit dem Titel „The
Lawless Line“ herausgearbeitet, wenn es in Karten festgelegte Grenzlinien zwi-
schen Israel und dem Westjordanland auf das Territorium überträgt und dabei
z. T. mehrere Meter breite Zonen „extraterritorialen Raums“ markiert (vgl. Hilal
u. a. 2013). Eines der Mitglieder dieses Projekts ist der Architekt Eyal Weizman,
der sich am Beispiel der israelischen Grenzpolitik mit Architekturen der Grenze
und den gegenwärtigen Veränderungen des Modells ‚linearer‘ Grenzen beschäf-
tigt hat. Über die direkte Polemik gegen die israelische Siedlungspolitik hinaus,
die aus Weizmans Schriften spricht, sind seine Studien daher für ein Verständ-
nis von Grenzen höchst aktuell, wenn Weizman* eine „Elastizität“ von Grenzzie-
hungen beschreibt. Seine Infragestellung der streng festgelegten Linearität der
Grenze geht aber nicht von den subversiven und taktisch gegen eine geopolitische
Festlegung operierenden „border performances“ aus, die in den Cultural Studies
häufig im Vordergrund stehen. Sie betreffen vielmehr die staatlichen Machttech-
niken selbst, die Grenzen verschieben, anpassen und damit das, was Febvre den
souveränen und unerschütterlichen „Außenumriss“ einer Nation genannt hat,
durch eine Politik temporärer Linien ersetzen. Ein derartiges Szenario der Grenz-
ziehung hat nicht nur in Israel, sondern etwa auch an den Außen- und Innen-
grenzen der Europäischen Union zunehmend an politischer Brisanz gewonnen.
4.1 Eine ‚Linien-Szene‘
Kapitel XII: Von den Tempeln und Kultstätten in Cuzco, unter besonderer Berücksichtigung des
Haupttempels der Stadt Cuzco
Wir haben bereits dargestellt, dass die Indios in Peru alle heiligen Orte, die zum Gebet und Opfer-
dienst bestimmt waren, guacas13 nannten, wie auch die Götter und Götzen, die sie dort anbete-
ten. Davon gab es eine derart große Zahl und Vielfalt, dass sie nicht alle schriftlich festgehalten
werden können, da es außer den gemeinsamen und allgemeinen Kultstätten jedes Stamms und
jeder Region in jedem Ort noch andere derartige, weniger wichtige Stätten gab; und abgesehen
davon hatte auch jede Abteilung und Familie ihre eigenen Heiligtümer. Aber da die allgemeinen
Kultstätten der wichtigsten Orte und der Provinzhauptstädte, auch wenn sie nicht so zahlreich
waren wie in Cuzco, dennoch die gleiche Ordnung und die gleiche Bestimmung aufwiesen (was
später durch die Spanier an mehr als hundert Orten, darunter einigen sehr weit entfernt gelege-
nen, überprüft wurde), werde ich hier alle Heiligtümer der Stadt Cuzco aufführen, die Bestim-
mung jedes einzelnen davon, die Gaben, die dort dargebracht wurden, und den Zweck, zu dem
dort Opfer gebracht wurden; und dabei handelt es sich nur um die allgemeinen Kultstätten, denn
die Menge der besonderen Götzenbilder und Kultstätten an jedem Ort war unzählbar groß. […]14
13 JD: Meist huaca geschrieben, steht dieser Quechua-Ausdruck sowohl für einen heiligen Ort
als auch für einen heiligen Gegenstand. In der deutschen Übersetzung wird der weibliche Artikel
des spanischen Textes (die guaca) beibehalten.
14 JD: Es folgt die Auskunft, dass es sowohl Kultstätten im Stadtgebiet als auch in der unbe-
bauten Landschaft gab, sowie insbesondere die Beschreibung des Sonnentempels (Coricancha),
[S. 169] Kapitel XIII: Von den Kultstätten und guacas auf dem Weg nach Chinchaysuyu15
Vom Sonnentempel als ihrem Mittelpunkt gingen Linien aus, die die Indios ceques16 nannten;
und sie waren in vier Teile aufgeteilt, wie auch die vier Hauptwege17, die von Cuzco ausgingen;
und auf jedem dieser ceques lagen der Reihenfolge nach die guacas und Kultstätten, die es in
Cuzco und der zugehörigen Provinz gab, wie Stationen bei Wallfahrtsorten,18 die von allen Men-
schen verehrt wurden; und jeder ceque stand unter der Aufsicht der Gemeinden und Familien
der Stadt Cuzco, aus der die Priester und Diener stammten, die sich um die guacas ihres ceque
kümmerten und dafür sorgten, dass die vorgesehenen Opfer zum jeweils dafür vorgesehenen
Zeitpunkt gebracht wurden. Geht man nunmehr vom Weg nach Chinchaysuyu aus, der durch das
Viertel Carmenga aus der Stadt hinausführte, gab es dort neun ceques, auf denen sich in der im
Folgenden dargestellten Reihenfolge fünfundachtzig guacas befanden:
Der erste ceque hieß Cayao, für den die Gemeinde bzw. der ayllu19 von Goacaytaqui zuständig
war, und er verfügte über die folgenden fünf guacas:
Die erste guaca, am Abhang des Totocache-Berges gelegen, hieß Michosamara, und es hieß,
es handele sich dabei um einen derjenigen Männer, die angeblich20 zusammen mit dem ersten
Inka-Herrscher Manco Cápac aus der Pacaritampu-Höhle gekommen seien: Von ihm heißt es,
dass eine Frau, die gemeinsam mit ihnen aus der genannten Höhle kam, ihn getötet habe, weil
sie sich von ihm nicht beachtet fühlte, und daraufhin verwandelte er sich in Stein; und seine
Seele soll genau an dieser Stelle erschienen sein und befohlen haben, ihm dort Opfer darzubrin-
gen; bei diesem Heiligtum handelte es sich also um eine sehr alte Opferstätte, und es wurden
Gold, Kleidung, Muscheln aus dem Meer und noch andere Gegenstände geopfert, um ausgiebige
Regenfälle zu erbitten.
Die zweite guaca an diesem ceque hieß Patallacta: Es handelte sich dabei um ein Haus, das der
Inca Yupanqui zu seiner Opferstätte bestimmte und in dem er auch starb; und die Incas, die ihm
dem Zentrum aller Kultstätten in Cuzco, an der tiefsten Stelle der Stadt, auf die die im folgenden
Kapitel beschriebenen Linien zuliefen.
15 JD: Das Inkareich (Tahunatinsuyu) war in vier Provinzen aufgeteilt (suyus; Tahunatinsuyu be-
deute übers. etwa ‚Das Reich mit den vier Provinzen‘), die in etwa den vier Himmelsrichtungen
entsprachen und eine räumliche Ordnung des Reichs sowohl in geopolitischer als auch in reli-
giöser Hinsicht markierten.
16 JD: ceque: Quechua-Ausdruck für stern- oder strahlenförmige Linien, die allerdings auf dem
Territorium nicht direkt sichtbar sein mussten; in der Übersetzung wird der männliche Artikel
des spanischen Textes (der ceque) beibehalten.
17 JD: Wörtl.: Königliche Wege (caminos reales).
18 JD: Der Vergleich mit Wallfahrts- und Pilgerstätten dient zur Veranschaulichung der für Cobo
ansonsten unerklärlichen Proliferation des religiösen Eifers der Inka in Form von Kultstätten.
19 JD: Unter einem ayllu verstand man eine durch Verwandtschaft (kinship) gebildete Großfa-
milie, die ein gemeinsames Territorium bewirtschaftete und die darüber hinaus im Inkareich
der politischen Herrschaft tributpflichtig war. Die guacas eines ayllu bezogen sich u. a. auf die
Annahme der Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren.
20 JD: Häufig findet sich bei Cobo ein Vokabular der Fiktion oder der Einbildung; seiner Ansicht
nach handelt es sich bei der Erfindung der Heiligtümer sogar um eine bewusste Täuschung des
einfachen Volkes durch eine skrupellose Priesterkaste.
nachfolgten, brachten dort gewöhnliche Opfer dar. Im Allgemeinen wurden dort all die Gegen-
stände geopfert, die man für die Gesundheit und das Wohlergehen des Inca darbrachte.
Die vierte guaca hieß Pilcopuquio: Es handelt sich dabei um eine Quelle bei dem gerade genann-
ten Haus, aus der sich ein Bewässerungsgraben speist; und die Indios berichten, dass der Inca
Yupanqui, nach dem Bau jenes als Opferstätte, verfügt habe, das Wasser solle dort entspringen,
und daraufhin wurde festgelegt, es sollten dort gewöhnliche Opfer dargebracht werden.
Die vierte guaca hieß Cirocaya [S. 170]: Es handelt sich dabei um eine Höhle aus Stein, von der
man annahm, aus ihr stamme der Hagel. Daher brachten dort in der Jahreszeit, als sie sich davor
fürchteten, alle Opfer dar, damit der Hagel nicht austrete und ihre Aussaat zerstöre.
Die fünfte und letzte guaca auf diesem ceque trug schließlich den Namen Sonconancay: Es
handelt sich um einen Berg, auf dem man von alters her Opfer für die Gesundheit des Inca dar-
brachte.
Der zweite ceque auf dem Weg nach Chinchaysuyu hieß Payan; auf ihr lagen acht guacas aus dem
ayllu bzw. der Familie Vicaquirao. […]21
21 JD: Es wiederholt sich hier, wie auch für die weiteren acht ceque-Linien dieses Bereichs der
Stadt, die Beschreibung jedes einzelnen Heiligtums entlang der genannten Linien; dieses Pro-
cedere wird sodann in Kap. XIV-XVI für die anderen drei Teile der Stadt bzw. des ehemaligen
Inka-Reichs, d. h. Antisuyu (9 ceques und 78 guacas), Collasuyu (9 ceques und 85 guacas) sowie
Cuntisuyu (14 ceques und 80 guacas) fortgeführt.
Auer 2013, S. 85–136; Köster 2002, S. 209–232; Schmitt 1995; Sprengel 1996, v. a.
S. 51–69; Voigt 2008, v. a. S. 11–27
Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum [1950]
© Berlin: Duncker & Humblot, 2012 (5. Auflage), S. 54–63, 68–69 (wiederabgedruckt mit freund-
licher Genehmigung des Verlags Duncker & Humblot).
1. Die ersten globalen Linien: Von der Raya über die Amity Line zur Linie der Westlichen Hemi-
sphäre
Kaum war die Gestalt der Erde als eines wirklichen Globus aufgetaucht, nicht nur mythisch
geahnt, sondern als wissenschaftliche Tatsache erfahrbar und als Raum praktisch meßbar, so
erhob sich auch sofort ein völlig neues, bis dahin unvorstellbares Problem: das einer völker-
rechtlichen Raumordnung des gesamten Erdenballes.22 Das neue globale Raumbild erforderte
eine neue globale Raumordnung. Das ist die Lage, die mit der Umseglung der Erde und den
großen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts beginnt. Damit beginnt zugleich die Epoche
des neuzeitlichen europäischen Völkerrechts, die erst im 20. Jahrhundert enden sollte.
Sofort nach der Entdeckung der Neuen Welt setzt auch der Kampf um die Land- und die See-
nahme dieser neuen Welt ein. Jetzt wird die Teilung und Einteilung der Erde in steigendem Maße
eine gemeinsame Angelegenheit der auf derselben Erde nebeneinander existierenden Menschen
und Mächte. Jetzt werden Linien gezogen, um die ganze Erde zu teilen und einzuteilen. Solche
Linien, von denen im folgenden gesprochen wird, sind die ersten Versuche und Bemühungen,
für die Erde im Ganzen die Maße und Abgrenzungen einer globalen Raumordnung aufzustellen.
Sie fallen in das erste Stadium des neuen, planetarischen Raum-Bewußtseins und sind begreif-
licherweise ganz flächenhaft gedacht, im Sinne eines Oberflächenraumes, den sie mehr oder
weniger rein geometrisch, more geometrico, einteilen. Später, als das geschichtliche und wis-
senschaftliche Bewußtsein der Menschen die ganze Erde, bis in die kartographischen und sta-
tistischen Einzelheiten hinein, in jedem Sinne des Wortes aufgenommen hatte, steigerte sich die
praktisch-politische Notwendigkeit einer nicht nur geometrisch flächenhaften Teilung, sondern
inhalt-erfüllten Raumordnung dieser Erde.
Das europäische Völkerrecht der Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert betrachtete die christli-
chen Nationen Europas als die Schöpfer und Träger einer Ordnung, die für die ganze Erde galt.
„Europäisch“ bezeichnete damals den Normal-Status, der auch für den nicht-europäischen
Teil der Erde maßgeblich zu sein beanspruchte. Zivilisation war gleichbedeutend mit europä-
ischer Zivilisation. In diesem Sinne war Europa immer noch die Mitte der Erde. [S. 55] Freilich
war dieses Europa dadurch, daß eine „neue Welt“ erschien, in die Rolle der alten Welt versetzt
worden. Der amerikanische Kontinent war nämlich wirklich eine völlig neue Welt, denn selbst
diejenigen Gelehrten und Kosmographen des Altertums und des Mittelalters, die wußten, daß
die Erde eine Kugel ist und Indien auf dem Wege nach Westen erreicht werden kann, hatten doch
nichts von dem großen Kontinent zwischen Europa und Ostasien geahnt.
Im Mittelalter hielten die christlichen Fürsten und Völker Europas Rom oder Jerusalem für die
Mitte der Erde und sich selbst für einen Teil der alten Welt. Die Stimmung, daß die Welt alt und
dem Untergang nahe ist, tritt öfters auf; sie beherrscht z. B. einen Teil des Geschichtswerkes von
Otto von Freising. Auch das gehört zu dem bereits erwähnten christlichen Geschichtsbild, das im
Reich nur den Aufhalter des Anti-Christen, einen Kat-echon, sieht. Der gefährlichste Feind, der
Islam, war damals nicht mehr neu. Im 15. Jahrhundert war er längst zu einem alten Feind gewor-
22 JD: Die Auseinandersetzung mit der völkerrechtlichen Tradition wird bei Schmitt vor allem in
den Fußnoten geführt, die in der vorliegenden Auswahl unberücksichtigt bleiben.
den. Als nun im Jahre 1492 wirklich eine „Neue Welt“ auftauchte, mußten alle traditionellen
Begriffe sowohl von einer Mitte wie auch vom Alter der Erde ihre Struktur verändern. Die europä-
ischen Fürsten und Nationen sahen jetzt einen riesigen, bisher unbekannten, nichteuropäischen
Raum neben sich auftauchen.
Aber das Wesentliche und für die folgenden Jahrhunderte Ausschlaggebende war, daß die auf-
tauchende neue Welt nicht als ein neuer Feind erschien, sondern als ein freier Raum, als ein
freies Feld europäischer Okkupation und Expansion. Das war zunächst für dreihundert Jahre
lang eine ungeheuerliche Bestätigung Europas in seiner Position, sowohl als der Mitte der Erde,
wie auch als eines alten Kontinents. Es war aber trotzdem von Anfang an zugleich eine Zerstö-
rung der bisherigen konkreten Begriffe von Mitte und Alter. Denn jetzt entstand der innereuropä-
ische Kampf um diese neue Welt, aus dem eine neue Raumordnung mit neuen Einteilungen der
Erde hervorging. Wenn eine alte Welt eine neue Welt neben sich auftauchen sieht, so ist sie offen-
sichtlich schon eben dadurch dialektisch in Frage gestellt und nicht mehr im alten Sinne alt.
Die ersten Versuche, auf Grund der neuen umfassenden geographischen Vorstellung die Erde
völkerrechtlich zu teilen, beginnen sofort nach 1492. Sie waren zugleich die ersten Anpassun-
gen an das neue, planetarische Weltbild. Scheinbar waren sie allerdings zunächst nichts als ein
derbes Zugreifen bei der riesigen Landnahme. Aber selbst dieses erste Zugreifen machte in dem
Kampf, den die europäischen Landnehmer unter sich führten, gewisse Teilungen und Eintei-
lungen notwendig. Diese entsprangen einer bestimmten Denkweise, die ich als globales Linien-
denken kennzeichnen möchte. Es ist das eine Denkweise, die einen bestimmten Abschnitt in der
geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Raumbewußtseins darstellt und sofort mit der
Entdeckung einer [S. 56] „Neuen Welt“ und mit dem Beginn der „Neuzeit“ einsetzt. Sie hielt mit
der Entwicklung der geographischen Karten und des Globus fortwährend Schritt. Mit dem Wort
global ist sowohl der erdumfassend-planetarische, wie auch der flächen- und oberflächenhafte
Charakter dieser Denkweise bezeichnet, die auf der Gleichsetzung von Land- und Meeresfläche
beruht. Hierfür scheint mir die Wortzusammensetzung „globales Liniendenken“ passend und
treffend. Sie ist jedenfalls anschaulicher und geschichtlich besser als andere Bezeichnungen,
z. B. das von Friedrich Ratzel vorgeschlagene Wort „hologäisch“, auch besser als „planetarisch“
oder ähnliche Benennungen, die nur das Ganze der Erde, nicht aber ihre eigentümliche Eintei-
lungsweise treffen.
Die Frage ist von Anfang an politisch und läßt sich nicht als eine „rein geographische“ Angele-
genheit abtun. Die reine Geographie und die bloße Kartographie sind zwar, in ihrer Eigenschaft
als naturwissenschaftliche, mathematische oder technische Wissenschaften und Methoden,
etwas Neutrales. Aber sie liefern doch, wie jeder Geograph weiß, unmittelbar aktuelle und hoch-
politische Anwendungs- und Verwertungsmöglichkeiten. Das wird im Folgenden besonders an
dem Beispiel des Begriffs der „westlichen Hemisphäre“ deutlich werden. Trotz jener Neutrali-
tät der geographischen Wissenschaft setzt daher sofort ein politischer Kampf um rein geogra-
phische Begriffe ein, ein Streit, der manchmal den pessimistischen Satz des Thomas Hobbes
rechtfertigt, daß sogar arithmetische und geometrische Selbstverständlichkeiten problematisch
werden, wenn sie in den Bereich des Politischen, d. h. der akuten Freund-Feind-Unterscheidung
geraten. Die Tatsache z. B., daß der Anfangsmeridian des heute meist noch üblichen kartogra-
phischen Gradnetzes der Erdkugel über Greenwich geht, ist weder etwas rein Objektiv-Neutrales
noch etwas rein Zufälliges, sondern das Ergebnis einer Konkurrenz verschiedener Anfangsme-
ridiane. Die Franzosen, die zweihundert Jahre lang mit den Engländern einen Kampf um die
See- und Weltherrschaft geführt haben, betrachteten seit dem 18. Jahrhundert den Meridian der
Sternwarte von Paris als Anfangsmeridian. Sie haben ihren Widerstand gegen den Meridian von
Greenwich erst im 20. Jahrhundert aufgegeben. Das Berliner astronomische Jahrbuch ist erst
1916 zum Greenwicher Meridian übergegangen. Es bedeutet also keine übertriebene Politisie-
rung dieses scheinbar rein mathematisch-geographischen Problems, wenn wir auch in der Welt-
geltung des Anfangsmeridians von Greenwich ein Symptom der damaligen englischen See- und
Weltgeltung erblicken.
Kaum waren die ersten Karten und Globen hergestellt und dämmerten die ersten wissenschaft-
lichen Vorstellungen von der wirklichen Gestalt unseres Planeten und von einer neuen Welt
im Westen, so wurden auch schon die [S. 57] ersten globalen Teilungs- und Verteilungslinien
gezogen. Am Anfang steht die berühmte, in dem Edikt des Papstes Alexander VI. Inter caetera
divinae vom 4. Mai 1494, also nur einige Monate nach der Entdeckung Amerikas gezogene Linie.
Sie verläuft vom Nordpol zum Südpol, 100 Meilen westlich des Meridians der Azoren und des
Cap Verde. Die Ziffer von 100 Meilen erklärt sich juristisch daraus, daß Bartolus, Baldur und
andere Rechtslehrer die Zone der Territorialgewässer mit zwei Tagereisen annahmen. Auch hier
zeigt sich, daß der spätere, für die völkerrechtliche Raumordnung von 1713 bis 1939 entschei-
dende Gegensatz von festem Land und freiem Meer diesen Teilungslinien noch ganz fremd war.
Der vom Papst gezogenen globalen Linie folgt unmittelbar die etwas nach Westen verlagerte,
ungefähr durch die Mitte des Atlantischen Ozeans (370 Meilen westlich vom Cap Verde) gezo-
gene Linie des spanisch-portugiesischen Teilungsvertrages von Tordesillas vom 7. Juni 1494. Hier
einigen sich die beiden katholischen Mächte darüber, daß alle neuentdeckten Gebiete westlich
der Linie den Spaniern, östlich der Linie den Portugiesen zufallen. Man nannte das eine „parti-
cion del mar océano“ und ließ es durch den Papst Julius II. bestätigen. Auf der anderen Hälfte
des Globus bildete sich die Molukken-Linie als Grenze heraus. Im Vertrag von Saragossa (1526)
wird eine Raya durch den pazifischen Ozean gezogen und verläuft dort zunächst auf dem jetzi-
gen 135. Meridian, geht also durch Ostsibirien, Japan und mitten durch Australien. Diese ersten
globalen Teilungslinien sind allen Historikern, besonders natürlich der spanischen und portu-
giesischen Geschichtsschreibung, wohlbekannt; sie sind aber auch in der Völkerrechtslehre der
letzten Jahre mit wachsendem Interesse erörtert worden. Ebenso sind die mit dem spanisch-fran-
zösischen Vertrag von [S. 58] Cateau Cambrésis 1559 einsetzenden, unten näher zu erörternden
sogenannten Freundschaftslinien seit einiger Zeit wieder Gegenstand besonderer völkerrechts-
wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, nachdem ihre kolonialgeschichtliche Bedeutung durch die
Arbeiten von F. G. Davenport (1917 bis 1934) und von Adolf Rein (seit 1925) klargestellt worden ist.
Das globale Liniendenken hat seine eigene Entwicklung und Geschichte. Die wichtigsten Bei-
spiele seiner zahlreichen Erscheinungsformen sind nunmehr unter den Gesichtspunkten der
völkerrechtlichen Raumordnung näher zu erörtern. Sie bilden eine zusammenhängende, ein-
heitliche Reihe, die von der Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 bis zu den amerikanischen
Erklärungen des zweiten Weltkrieges geht. Es wäre jedoch irreführend, über dem offensichtli-
chen Zusammenhang dieser Reihe die Tatsache außer Acht zu lassen, daß sich die Linien und
die verschiedenen Stadien des globalen Liniendenkens untereinander wiederum in verschiede-
nen Raumordnungen bewegen und deshalb auch einen ganz verschiedenen völkerrechtlichen
Sinn haben. Weder wissenschaftlich-theoretisch, noch praktisch-politisch beruht der Begriff der
globalen Linie unterschiedslos auf den gleichen völkerrechtlichen Voraussetzungen und Vor-
stellungen. Die Verschiedenheit betrifft nicht etwa nur die geographischen Abgrenzungen und
Linienziehungen der Meridiane, sondern auch den Inhalt der vorausgesetzten politischen Raum-
vorstellungen und [S. 59] damit die gedankliche Struktur der Linienvorstellung und der in ihr
enthaltenen Raumordnung selbst. Unsere Aufgabe besteht also zunächst darin, die verschiede-
nen Arten richtig zu unterscheiden und mit ihrer geschichtlichen Eigenart die einzelnen Typen
globaler Linien herauszuarbeiten.
1. Die erste Unterscheidung wird durch den großen geschichtlichen Wandel sichtbar, der von
den spanisch-portugiesischen Verteilungslinien, den Rayas, zu französisch-englischen Freund-
schaftslinien, den amity lines, geführt hat. Der geschichtliche Typus der Raya ist von der eng-
lischen amity line, man darf wohl sagen, durch eine Welt getrennt. Zur Raya gehört, daß sich
zwei Fürsten, die beide die gleiche geistige Autorität auch völkerrechtlich anerkennen, über den
Erwerb des Landes andersgläubiger Fürsten und Völker einigen. Selbst wenn es eine vertrag-
liche Abmachung ist, die zur Festsetzung der Linie führt, so steht hier doch im Hintergrunde
immer noch die Autorität eines gemeinsamen ordo und einer gemeinsamen schiedsrichterlichen
Autorität, die als völkerrechtliche Instanz den Boden nicht-christlicher Fürsten und Völker von
dem der Christen unterscheidet. Auch wenn der Papst damals nicht den Besitz von Ländern,
sondern nur Missionsgebiete verteilte, so war das eben auch der Ausdruck einer Raumordnung,
die den Machtbereich christlicher Fürsten und Völker von dem Gebiet nicht-christlicher Fürsten
unterschied. In der Praxis können die Zonen der Mission nicht von denen der Schiffahrt und
des Handels getrennt werden. Die Raya setzt also voraus, daß christliche Fürsten und Völker
das Recht haben, sich vom Papst einen Missionsauftrag geben zu lassen, auf Grund dessen sie
nicht-christliche Gebiete missionieren und im weiteren Verlauf der Mission okkupieren. Auch die
(im folgenden Kapitel über Vitoria) [S. 60] noch zu behandelnde, erstaunlich objektiv ansetzende
Erörterung Vitorias in seinen Relecciones de Indis Insulanis (1538) mündet schließlich darin,
daß die Spanier einen gerechten Krieg führen und daher das Land der Indianer annektieren
dürfen, wenn die Indianer sich dem freien Commercium (das nicht nur „Handel“ ist) und der
freien Mission des Christentums widersetzen.
Die globale Linie der Raya selbst aber betrifft nicht allgemein eine Abgrenzung christlichen und
nicht-christlichen Gebietes; sie ist nur eine im Rahmen jener Raumordnung verbleibende interne
Abgrenzung zwischen zwei landnehmenden christlichen Fürsten. Die Raya beruht demnach auf
einer völkerrechtlichen Einigung über die Landnahme, wobei See- und Landnahme noch nicht
unterschieden werden. Die land- und seenehmenden christlichen Fürsten und Völker, die noch
in der Raumordnung der mittelalterlichen Respublica Christiana blieben, hatten in ihrem christ-
lichen Glauben eine gemeinsame Grundlage und in dem gemeinsamen Oberhaupt der Kirche,
im römischen Papst, eine gemeinsame Autorität. Sie erkannten sich daher auch gegenseitig als
gleichwertige Partner eines Teilungs- und Verteilungsvertrages an, der sich an eine Landnahme
anschloß.
2. Der geschichtliche Typus der sogenannten Freundschaftslinien betrifft ebenfalls die europäi-
sche Land- und Seenahme der Neuen Welt. Aber er beruht auf ganz anderen Voraussetzungen.
Die hier in Betracht kommenden Freundschaftslinien erscheinen zum ersten Mal mit einer –
zunächst nur mündlich vereinbarten – Geheimklausel zum spanisch-französischen Vertrag von
Cateau Cambrésis (1559). Sie gehören wesentlich in das Zeitalter der Religionskriege zwischen
den landnehmenden katholischen und protestantischen Seemächten. Während des 17. Jahrhun-
derts sind sie ein wichtiger Bestandteil des damaligen europäischen Völkerrechts. Die völker-
rechtlichen Theoretiker der Zeit wissen wenig mit ihnen anzufangen und behandeln sie beiläufig
beim „Waffenstillstand“. Aber in vielen wichtigen Verträgen der europäischen landnehmenden
Mächte werden sie ausdrücklich anerkannt. Auch wenn man auf sie verzichtet und (wie z. B. in
dem englisch-spanischen Vertrag vom 15. November 1630) vereinbart, daß auch die jenseits des
Äquators gemachten Prisen zurückgegeben [S. 61] werden sollen, bleibt doch für diese Epoche
der Grundsatz durchaus in Kraft, daß Verträge, Frieden und Freundschaft sich grundsätzlich nur
auf Europa, d. h. auf die alte Welt, auf den Bereich diesseits der Linie beziehen. Selbst Spanier
haben gelegentlich geltend gemacht, daß die sonst gültigen Verträge in „Indien“ nicht gelten,
weil dieses eine „Neue Welt“ sei. Daß die Linie im übrigen besonders den englischen „privateers“
ein freies Feld für ihre Beutezüge eröffnete, ist begreiflich und allgemein bekannt. In spezifischer
Weise hatte die französische Regierung bei ihrer rein politischen Haltung in den Religionskrie-
gen des 17. Jahrhunderts allen Grund, sich auf die „Linie“ zu berufen. Denn daß der allerchrist-
lichste katholische König von Frankreich sich mit gefährlichen Ketzern und wilden Piraten,
mit Flibustiers und Buccaniers gegen den katholischen König von Spanien verbündete und mit
solchen Alliierten spanische Städte in Amerika brandschatzte, ließ sich wirklich nur dadurch
erklären, daß es sich bei den Zügen dieser Piraten um Vorgänge „jenseits der Linie“ handelte.
Geographisch verliefen diese Freundschaftslinien im Süden über den Äquator oder über den
Wendekreis des Krebses, im Westen über einen im Atlantischen Ozean durch die Kanarischen
Inseln oder die Azoren gezogenen Längengrad, oder auch eine Verbindung der beiden Süd- und
Westlinien. Das kartographische Problem der genauen Bestimmung der Linie war besonders
im Westen sehr wichtig und führte zu ausdrücklichen amtlichen Regelungen. So hat der Kardi-
nal Richelieu eine Erklärung des französischen Königs vom 1. Juli 1634 bekanntgegeben, durch
welche den französischen Seefahrern der Angriff auf spanische und portugiesische Schiffe dies-
seits des Wendekreises des Krebses verboten, jenseits dieser Linien aber ausdrücklich freige-
geben wird, solange die Spanier und Portugiesen nicht den freien Zugang zu ihren indischen
und amerikanischen Ländern und Meeren gestatten. Allen Piloten, Hydrographen, Karten- und
Globus-Verfertigern und -Gravierern wird verboten, etwas an den alten Meridianen zu ändern
oder einen anderen westlichen Meridian zu ziehen, als den alten ptolemäischen Null-Meridian,
der über die Insel Ferro der Kana-[S. 62]rischen Inseln geht. Ausdrücklich wird verboten, unter
irgendeinem Vorwand den West-Meridian über die Azoren zu verlegen.
An dieser „Linie“ endete Europa und begann die „Neue Welt“. Hier hörte das europäische Recht,
jedenfalls das „europäische öffentliche Recht“ auf. Hier endete infolgedessen auch die durch das
bisherige europäische Völkerrecht bewirkte Hegung des Krieges und wurde der Kampf um die
Landnahme hemmungslos. Jenseits der Linie beginnt eine „überseeische“ Zone, in der, mangels
jeder rechtlichen Schranke des Krieges, nur das Recht des Stärkeren galt. Die typische Besonder-
heit dieser Freundschaftslinien besteht darin, daß sie, ganz anders als die Raya, einen Kampf-
raum zwischen den landnehmenden Vertragspartnern ausgrenzen, eben weil diesen jede andere
gemeinsame Voraussetzung und jede gemeinsame Autorität fehlt. Zum Teil leben sie zwar noch
von der Erinnerung an die gemeinsame christliche Einheit Europas. Das einzige, worüber die
Partner solcher Beziehungen praktisch einig sind, ist die Freiheit der neuen Räume, die jenseits
der Linie beginnen. Die Freiheit besteht darin, daß die Linie einen Bereich freier und rücksichts-
loser Gewaltanwendung ausgrenzt. Sie unterstellt zwar als selbstverständlich, daß nur christ-
lich-europäische Fürsten und Völker sich an der Landnahme der Neuen Welt beteiligen und
Partner solcher Verträge sein können; aber die darin liegende Gemeinsamkeit der christlichen
Fürsten und Nationen enthält weder eine gemeinsame, konkret-legitimierende, schiedsrichterli-
che Instanz, noch ein anderes Verteilungsprinzip als das Recht des Stärkeren und der schließlich
nur noch effektiven Okkupation. Daraus mußte die allgemeine Vorstellung entstehen, daß alles,
was „jenseits der Linie“ geschieht, überhaupt außerhalb der rechtlichen, moralischen und poli-
tischen Bewertungen bleibt, die diesseits der Linie anerkannt sind. Das bedeutet eine ungeheure
Entlastung der innereuropäischen Problematik, und in dieser Entlastung liegt der völkerrechtli-
che Sinn des berühmten und berüchtigten beyond the line.
Bei näherer rechtswissenschaftlicher Betrachtung lassen die Freundschaftslinien des 16. und
17. Jahrhunderts zwei Arten von „freien“ Räumen erkennen, in die sich die Aktivität der euro-
päischen Völker hemmungslos ergießt: erstens einen unabsehbaren Raum freien Landes, die
neue Welt, Amerika, das Land der Freiheit, d. h. der freien Landnahme durch Europäer, in dem
das „alte“ [S. 63] Recht nicht gilt; und zweitens das freie Meer, die neu entdeckten Ozeane, die
von den Franzosen, Holländern und Engländern als ein Bereich der Freiheit aufgefaßt werden.
Die Freiheit der Meere ist ein völkerrechtliches Raumordnungsproblem ersten Ranges. Sie wurde
aber von Juristen des römischen Rechts, die ganz in terraner Denkweise verhaftet waren, sofort
durch zivilistische Begriffe wie „res communis omnium“ und „Sachen des Gemeingebrauchs“
verwirrt. Auch englische Juristen dieser Zeit, wie Zouch und Selden, denken hier noch terran. In
Wirklichkeit bricht mit Bezug auf die Freiheit der Meere im 16. Jahrhundert nicht das römische
Recht, sondern etwas ganz anderes durch, nämlich die alte, elementare Tatsache, daß Recht und
Frieden ursprünglich nur auf dem Lande gelten. Auf diese neue Freiheit der Meere werden wir
unten zurückkommen. Aber auch auf dem festen Land der „neuen Erde“, auf amerikanischem
Boden, gab es für die christlichen Europäer noch kein geortetes Recht. Für sie war dort nur so viel
Recht, wie die europäischen Eroberer – sei es durch ihre christliche Mission, sei es durch Ein-
richtung einer im europäischen Sinn geordneten Rechtsprechung und Verwaltung – mitbrach-
ten und dorthin übertrugen. Auf dieser Verbindung von zwei „neuen“, d. h. von der bisherigen
Ordnung des europäischen festen Landes nicht erfaßten und in diesem Sinne „freien“ Räumen
beruhte die Struktur des damals entstehenden europäischen Völkerrechts.
Eine allgemeine, furchtbare Erschütterung aller überkommenen, geistigen und moralischen
Prinzipien war die Folge einer solchen von christlichen Regierungen anerkannten Ausgrenzung
freier Räume. Die Katastrophe bekundet sich in allen neuen Theorien und Formulierungen des
17. Jahrhunderts, soweit sie modern sind, d. h. den Vordergrund der alten, aus der Antike oder
dem christlichen Mittelalter überkommenen Formeln durchbrechen. Viele dieser neuen Ideen
des 17. Jahrhunderts werden heute abstrakt genommen und als solche viel zitiert. Ihr geschicht-
licher Zusammenhang mit den „freien“ Räumen des gleichen Jahrhunderts und mit den Aus-
grenzungen einer Kampfzone bleibt dabei meistens unbeachtet und ist ganz in Vergessenheit
geraten. […]23
[S. 68] 3. Die dritte und letzte globale Linie ist die der westlichen Hemisphäre. Diese Linie ist
der erste völkerrechtliche Gegenstoß der neuen Welt gegen die alte. Aber in ihren Ursprüngen
steht sie noch in einem geschichtlichen und dialektischen Zusammenhang mit den vorange-
henden Linien. Die portugiesisch-spanischen Verteilungslinien wie die englischen Freund-
schaftslinien gehörten, wie gesagt, zu der europäischen Land- und Seenahme der Neuen Welt.
Sie sind Raum-Einteilungen, die wesentlich die Beziehungen zwischen den landnehmenden
europäischen Mächten ordnen. Die romanische Raya hatte einen distributiven Sinn; sie nennt
sich ja selbst in dem Vertrag von Tordesillas (1494) „linea de la particion del mar“. Die engli-
sche amity line dagegen hat agonalen Charakter. Die Ausgrenzung eines Bereiches rücksichts-
losen Kampfes war, wie gesagt, die logische Folge davon, daß es zwischen den landnehmenden
Mächten sowohl an einem anerkannten Verteilungsprinzip, wie erst recht an einer gemeinsamen
schiedsrichterlichen Teilungs- oder Zuweisungs-Instanz fehlte. Solange noch ein Rest geistiger
Gemeinsamkeit zwischen den europäischen [S. 69] Landnehmern besteht, kann der Begriff der
„Entdeckung“ realisiert werden. Die effektive Okkupation, d. h. der staatlich konsolidierte status
quo des Besitzes, wird schließlich im 19. Jahrhundert zum einzigen Erwerbstitel. Bis dahin sind
Entdeckung und der römisch-zivilrechtlich zerredete Begriff der „Okkupation“ die einzigen
Rechtstitel der Landnahme freien Bodens. Das bringt zweierlei mit sich: erstens muß nötigen-
23 JD: Schmitts nähere, spekulative Erörterung der „Erschütterung“, die diese Form des Linien-
denkens verursacht und die er u. a. anhand von Pascal, Hobbes und Locke erläutert, wird hier
nicht im Einzelnen wiedergegeben.
falls lange gekämpft werden, ehe die Landnahme vom Konkurrenten als wirklich und dauernd
hingenommen oder gar in aller Form anerkannt wird, und zweitens wird der Krieg rechtlich von
seinem Ergebnis her beurteilt, d. h. er wird das anerkannte Mittel einer Änderung des status
quo des jeweiligen Besitzstandes. Auf dem Hintergrunde der globalen Linien wurde eine Rati-
onalisierung, Humanisierung und Verrechtlichung, mit einem Wort: eine Hegung des Krieges,
erreicht. Das geschah, wie wir noch sehen werden, wenigstens für den kontinentalen Landkrieg
des innereuropäischen Völkerrechts durch die Beschränkung des Krieges auf eine militärische
Beziehung von Staat zu Staat.
Erst nachdem die neue, staatsbezogene Raumordnung auf europäischem Boden vollendet war,
trat die dritte und letzte globale Linie auf, die der westlichen Hemisphäre. Mit ihr stellt sich die
Neue Welt der überlieferten Raumordnung des europäischen und europa-zentrischen Völker-
rechts selbständig entgegen. Sie stellt dadurch diese alte Raumordnung als solche von Grund auf
in Frage. Das beginnt geistesgeschichtlich schon im 18. Jahrhundert mit dem Unabhängigkeits-
krieg und der Übertragung von Rousseau’s Naturzustand auf die von England und Europa sich
freimachenden Staaten. Doch setzten die praktischen Wirkungen dieser globalen Linie der west-
lichen Hemisphäre erst im 19. Jahrhundert ein, um sich dann im 20. Jahrhundert offen und unwi-
derstehlich zu entfalten. Deshalb ist es notwendig, zuvor die Ausbildung der Raumordnung des
zwischenstaatlichen europäischen Völkerrechts und der von ihm bewirkten Hegung des Krieges
zu erörtern. Erst dann, vor allem erst im Gegensatz der verschiedenen Kriegsbegriffe, wird uns
die völkerrechtliche Tragweite dieser Linie einer westlichen Hemisphäre erkennbar. Es ist die
Linie, von der aus es gelungen ist, die Raumordnung der europäischen Welt aus den Angeln zu
heben und einen neuen Kriegsbegriff in die Weltgeschichte einzuführen.
4.2 Karten-Linien
Die Cosmographia von Peter Apian (eigentl.: Peter Bienewitz), die 1524 erstmals
erschien und ab den 1540er Jahren von Gemma Frisius überarbeitet und erweitert
wurde, gilt als Standardwerk der Geographie der Renaissance. Sie erreichte zahl-
reiche Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt. In ihrer Rezeption der
ptolemäischen Geographia trägt sie entscheidend zur Herausbildung des heute
noch gültigen Verständnisses von ‚Erde‘ als kartographisch erfassbare Erdober-
fläche bei: Im Gegensatz zur detaillierten qualitativen Beschreibung einzelner
Orte in der so genannten Chorographie setzt die in ptolemäischer Tradition ste-
hende Geographie dabei auf eine quantitative, d. h. mathematische Bestimmung
von Orten (vgl. dazu grundlegend Kap. 1. der Cosmographia). Apian legt bereits
zu Anfang seiner Abhandlung dar, inwiefern die Geographie im Hinblick auf die
Bestimmung von Längen- und Breitengraden der Astronomie verpflichtet ist und
somit Bezüge zu dem Teilbereich der Geographie der Renaissance unterhält, der
als Kosmographie, d. h. als Betrachtung der Erde im Verhältnis zu den Sphären
Besse 2003, S. 111–148; Damisch 1980; Ptolemäus 2006, v. a. I/19; Röttel 1997
Vom Gebrauch der Positionslisten des Ptolemäus, und wie man ihnen den Ort einer Provinz oder
einer Stadt entnehmen kann. Kapitel XVIII
Um den Ort einer Stadt zu finden, muss man zuerst die Längen- und Breitengrade aus den Listen
der Provinzen und Städte heraussuchen, welche häufig so angeordnet sind, dass an erster Stelle
ihre Namen stehen, daraufhin ist zunächst die Länge des Orts in Graden und Minuten aufge-
führt, danach in gleicher Weise seine Breite. Nachdem dies getan ist, muss auf der dafür geeig-
neten Karte der entsprechende Längengrad oben auf der Karte, d. h. in ihrer Nordhälfte, und
ebenso unten, d. h. in ihrer Südhälfte, gesucht werden. Auf den beiden verbleibenden Seiten der
Karte, d. h. auf der Ost- und der Westseite, muss nun der Breitengrad gesucht werden; zur Erin-
nerung werden an den Rändern Merkzeichen angebracht, die wieder entfernt werden können.24
Anschließend wird ein Faden zwischen dem oberen und dem unteren Längenpunkt gespannt
und festgehalten, woraufhin jemand anders einen weiteren Faden durch die Breitenpunkte
spannt: Der Ort, an dem sich die beiden Fäden schneiden, ist der Ort der gesuchten Stadt oder
des gesuchten Wohnortes.
[f. xxvii vo] Hier sieht man die Regel, den Gebrauch und die Beschaffenheit der Listen des Pto-
lemäus mitsamt einigen Orten, an denen sich diejenigen, die sich mit Geographie beschäftigen,
üben können.
24 J.D.: Die spanische Übersetzung der Cosmographia von 1548 nennt als Beispiel kleine Wachs-
stückchen, die an den betreffenden Stellen auf der Karte befestigt werden können.
Der gewählte Textauszug stammt vom Beginn des dritten Teils des Trak-
tats und beschäftigt sich mit der Kartenherstellung, deren Beschreibung Cortés
de Albacar zu Beginn des Kapitels als die eigentliche Motivation für sein Buch
bezeichnet. Das hier fast vollständig übersetzte zweite Kapitel ist insofern für
Linienpraktiken besonders interessant, als in ihm die Herstellung von Navigati-
onskarten in allen Arbeitsschritten beschrieben wird, u. a. in Bezug auf das Kopie-
ren (transflorar) der Karteninhalte von einer Musterkarte (padrón) auf die neu zu
erstellende Karte. In dem Kapitel zeigt sich, dass die Konstruktion einer solchen
Karte zwar auf dem Typ der Portolankarte mit ihrem von Cortés de Albacar detail-
liert erläuterten System von Rumbenlinien beruht, dass dieses seit dem Mittelal-
ter für Portolankarten und Routenbücher im Mittelmeer verwendete Prinzip aber
im Zuge der hier im Zentrum stehenden transatlantischen Seefahrt zunehmend
von Gradnetzkarten überlagert wird: Zumindest die Breitengradbestimmung, auf
die Cortés de Albacars Traktat ebenfalls Bezug nimmt, gehört in der spanischen
bzw. portugiesischen Seefahrt im 16. Jahrhundert zu den Kenntnissen, über die
Piloten verfügen sollten bzw. die im padrón real, der zentralen Musterkarte in der
Casa de la Contratación in Sevilla, zunehmend genau erfasst wurden.
Hinsichtlich der Verwendung des Ausdrucks ‚Linien‘ fällt auf, dass dieser
nur für die Konstruktionslinien von Karten verwendet wird, während bspw. die
Konturlinien von Küsten o. ä. nicht explizit mit diesem Ausdruck belegt werden.
Ash 2007; Campbell 1987; Cerezo Martínez 1994; Lamb 1995; Sandman 2004
zu Wasser flüssig; zu Land ist er beständig, zu Wasser veränderlich; zu Land ist er ausgewiesen,
zu Wasser unbekannt. Und selbst wenn es bei der Fortbewegung zu Land Steigungen und raue
Gegenden gibt, so wiegt dies das Meer um ein Vielfaches durch seine Stürme auf.
Da diese Art der Fortbewegung so mühsam ist, wäre es auch schwer, sie mit Worten verständlich
zu machen oder mit der Feder darüber zu schreiben. [fol. LXIIr.] Die beste Erklärung, die der
menschliche Erfindergeist dafür gefunden hat, besteht darin, sie in einer Karte darzustellen,29
zu deren Verfertigung man zwei Dinge wissen muss: erstens die Position der Orte und zweitens
die Entfernung zwischen zwei Orten. Und so lassen sich mit der Karte zweierlei Sachverhalte
beschreiben: zum einen die Position in Bezug auf die Winde, die die Seeleute Rumben nennen;
und zum anderen die Entfernungen in Bezug auf die Darstellung der Küsten des Festlands und
der von Meer umgebenen Inseln.
Um die Winde oder Rumben einzuzeichnen, muss man ein Stück Pergament oder Papier von
der gewünschten Größe der Karte nehmen und dort mit schwarzer Tinte zwei gerade Linien
einzeichnen, die sich in der Mitte des Blatts im rechten Winkel schneiden – eine Linie längs
der Karte in Ost-West-Richtung und eine andere in Nord-Süd-Richtung. Der Schnittpunkt der
Linien soll den Mittelpunkt für einen verborgenen Kreis bilden, der fast die ganze Karte ein-
nimmt und der bisweilen mit Bleistift eingezeichnet wird, um ihn leicht wieder ausradieren zu
können. Die beiden genannten Linien teilen den Kreis in vier gleiche Teile. Jeder dieser Teile
wird in der Mitte mit einem Punkt geteilt und daraufhin eine gerade Linie mit schwarzer Tinte
zwischen zwei gegenüberliegenden Punkten gezogen – damit ist der Kreis in vier Linien und
acht gleiche Teile aufgeteilt, die den acht Winden entsprechen. Gleichermaßen wird jedes Achtel
noch einmal in zwei gleiche Teile aufgeteilt, die jeweils einem halben Wind entsprechen. Darauf
wird von jedem Punkt zu dem ihm diametral entgegengesetzten eine gerade grüne [fol. LXIIv]
oder blaue Linie gezogen. Solcherart muss jeder Halbwind im Kreis in zwei gleiche Teile geteilt
werden. Und durch diese Punkte, die die Kreisviertel aufteilen, werden gerade Linien mit roter
Tinte eingezeichnet, die ebenfalls durch das Zentrum gehen, das man den Ursprungspunkt der
Kompassnadel [madre aguja] nennt. Und so gehen von dem Zentrum des Kreises 32 Linien aus,
die den 32 Winden entsprechen.
Über die genannten Linien hinaus werden in folgender Weise weitere Linien in den gleichen
Farben und mit gleichem Abstand eingezeichnet: Von den Punkten der Winde und Halbwinde
aus, die durch das Zentrum laufen, werden gerade Linien gezogen, die nicht durch das Zentrum
gehen, sondern in gleichem Abstand zu den Linien verlaufen und die gleichen Farben haben
wie ihre Parallele durch das Zentrum. Und indem diese Linien im Zentrum sowie in den Punkten
der Winde und Halbwinde, die sich auf dem Kreisumfang befinden, zusammentreffen, bilden
sich dort weitere sechzehn Ursprungspunkte [agujas] mit ihren 32 Winden.30 Und sofern es sich
um eine sehr große Karte handelt, auf der man weitere 16 Ursprungspunkte einzeichnen will,
damit die Rumbenlinien nicht so weit voneinander entfernt liegen, muss man diese jeweils zwi-
schen den ersten 16 Ursprungspunkten an den Stellen einfügen, wo sich, wie bereits dargestellt,
die Viertel mit ihren Winden befinden. Für gewöhnlich zeichnet man im Zentrum eines dieser
Ursprungspunkte oder auch der anderen mit verschiedenen Farben und mit Gold eine Blume
oder Rosette ein und unterscheidet die Linien voneinander, indem man sie mit Buchstaben
oder einem anderen Zeichen näher bestimmt, insbesondere den Norden mit einer Lilie und den
Osten mit einem Kreuz. Über die Unterscheidung der Winde hinaus [fol. LXIIIr] dient dies zum
Ausschmücken der Karte, was jedoch so gut wie immer erst nach dem Einzeichnen der Küste
geschieht. Dies soll zur Anlage der Winde genügen.
Die Eintragung der Orte, Häfen und Inseln in die Karte in ihren jeweiligen Entfernungen beruht
auf dem genauen und wahrheitsgemäßen Bericht derer, die dorthin gereist sind,31 und somit
werden Musterkarten [padrones] der Küsten, Häfen und Inseln benötigt, die in der Karte ver-
zeichnet werden sollen. Von diesen Musterkarten soll man die anerkanntesten und wahrhaftigs-
ten verwenden, die man finden kann, und nicht einfach nur abgemalte, sondern man muss auch
die Breitengrade einiger wichtiger Landspitzen, Häfen und berühmter Städte kennen. Sobald
man darüber verfügt, kopiert man dies auf dünne und durchsichtige Papierblätter, die für diesen
Zweck hergestellt werden, indem man sie mit Leinöl einlässt und danach in der Sonne trock-
nen lässt. Daraufhin nimmt man die Musterkarte bzw. die Karte, die man übertragen will, und
breitet sie flach auf einem Tisch aus, woraufhin dann das durchsichtige Papier über den Teil der
Musterkarte gelegt wird, mit dem man beginnen will. Und wenn man dieses Papier sorgfältig
auf der Musterkarte mit Hilfe von Bleigewichten mit ein wenig Wachs befestigt hat, das man
leicht wieder lösen kann, werden auf dem durchsichtigen Papier mit einer dünnen Feder eine
oder zwei Ost-West- sowie Nord-Süd-Linien über denen, die in der Musterkarte zu sehen sind,
eingezogen; dies nennt man eine Pause [trasflor] oder abpausen [trasflorar]. In gleicher Weise
werden die ganze Küste, Häfen, Inseln, Städte, Landspitzen und Flüsse, so wie sie auf der Karte
erscheinen, abgepaust, einschließlich der Felsen, die aus dem Wasser ragen und der bekannten
Untiefen. Und wenn ein Papier nicht ausreicht, nimmt man ein weiteres und beginnt die Über-
tragung [fol. LXIIIv.] dort, wo das andere Papier aufhört, bis man all das Gewünschte abgepaust
hat. Dabei darf man32 die Nord-Süd- und Ost-West-Linien in jedem Papier nicht vergessen, denn
diese braucht man später insofern, als die Nord-Süd-Linie des einen Papiers mit derjenigen des
Papiers nebenan übereinstimmen muss; und Gleiches gilt für die Ost-West-Linie.
Und wenn man nun die Musterkarte auf diese Papiere übertragen hat, muss man die Karte mit
den Rumbenlinien flach und vorsichtig ausgebreitet sowie an ihren Enden sorgsam beschwert
oder festgesteckt auf den Tisch legen. Daraufhin legt man auf diese Karte mit den Rumbenli-
nien das Papier oder die Papiere, auf denen sich die Kopie der Musterkarte befindet, und zwar
auf den Teil der Rumbenkarte, die der Musterkarte entspricht, so dass die Ost-West- und Nord-
Süd-Linien auf den entsprechenden Linien in der Rumbenkarte zu liegen kommen. Und sobald
man dieses Papier an einer Stelle sorgsam befestigt hat, muss man darunter von der anderen
Seite her ein weiteres schmales Papier legen, das auf der Unterseite, die auf der Rumbenkarte
liegt, geschwärzt ist, d. h., das man mit Kienspan oder Fischtran geschwärzt hat. Sobald dieses
geschehen ist und ein Papier sorgfältig auf dem anderen befestigt ist, nimmt man einen Stift oder
Griffel mit einer glatten Spitze, damit das Papier nicht zerkratzt oder durchlöchert wird, und
damit drückt man alles, was man abgepaust hat, durch und trägt all das ein, was man von der
Musterkarte aus übertragen hat, bis auf die Winde oder Rumben, wie die Seeleute sie nennen.
Und so erscheint dies alles in der Rumbenkarte geschwärzt, was man dann wiederum mit einer
dünnen Feder mit Tinte nachfahren kann. Sobald die Tinte [fol. LXIVr.] getrocknet ist, werden
mit Brotkrumen alle Schwärzungen gelöscht, und zurück bleibt die mit Tinte in die Karte einge-
zeichnete Küste.
Daraufhin müssen mit einer schmalen Schreibfeder in die Karte alle Orte und Namen der Küste
dort eingetragen werden, wo sie hingehören und wie sie in der Musterkarte erscheinen; dabei
werden zunächst in roter Farbe die Häfen, die wichtigsten Landspitzen, die bekanntesten Städte
und andere bemerkenswerte Dinge eingetragen, daraufhin alles Weitere in schwarzer Farbe.
Dann werden Städte, Schiffe, Fahnen und Tiere eingezeichnet, und es wird auf Gegenden und
andere erwähnenswerte Dinge verwiesen. Und schließlich werden in Farbe und mit Gold die
Städte, Knotenpunkte, Schiffe und anderen Teile der Karte ausgeschmückt, und die Küste wird
auf der Landseite grün dargestellt und mit etwas Safranfarbe nach Belieben verschönert. Es
werden außerdem Buchstaben nach folgendem Muster verteilt: B für Bucht [baýa], C für Land-
spitze [cabo], G [sic] für kleine Bucht [angla], I für Insel [isla], M für Berg [monte], P für Hafen
[puerto] und R für Fluss [río].
Sodann sollen dort, wo sie am wenigsten stören, zwei gerade parallele Linien eingezeichnet
werden,33 die voneinander nicht mehr als eine halbe Fingerbreite entfernt sind und so lang sein
sollen, dass zwischen ihnen mindestens dreihundert Seemeilen eingetragen werden können. Die
Seeleute nennen dies die Meilenskala [tronco de leguas], die folgendermaßen erstellt wird: Man
greift mit dem Zirkel 100 Seemeilen von der Skala der Musterkarte ab, die übertragen werden
soll, und zeichnet dies zwischen den beiden Linien ein; wenn diese Strecke halbiert wird, erhält
man 50 Meilen, durch nochmaliges Halbieren 25 bzw. 12,5, und die Abschnitte werden so mar-
kiert wie in der folgenden Abbildung. [fol. LXIVv.]
Nachdem die Karte so erstellt wurde, werden die Gradnetzlinien eingezeichnet,34 indem man
drei Linien im rechten Winkel zur Ost-West-Linie sowie parallel zur Nord-Süd-Linie einzeichnet,
d. h., auch diese drei Linien sind so ausgerichtet. Diese Linien werden bei den Azoren oder näher
an Spanien eingezeichnet bzw. dort, wo auf der Karte am meisten Platz dafür ist, wobei eine
Linie von der anderen so weit entfernt ist, dass in den beiden Zwischenräumen genau wie in der
Musterkarte zum einen die Gradmarkierungen und zum anderen die Gradzahlen eingetragen
werden können, wobei die Gradzahlen auf einer ostwestlich verlaufenden Linie die Häfen und
Landspitzen und die Küste in ihrer jeweiligen Breite bestimmen.
Wenn die Karte keine Gradangaben hat,35 soll man mit dem Zirkel von der Meilenskala sieben
Abschnitte von je 12,5 Seemeilen abgreifen, die nunmehr in fünf Teile mit je 17,5 Seemeilen Länge
unterteilt werden sollen. Und wenn man diese Teile mit dem Kompass abgreift, so bilden die
vier36 Teile vier Grade, und durch vier geteilt erhält man ein Grad pro Abschnitt, was folgen-
dermaßen dargestellt wird: ʘ Und wenn man Gradgrößen von 16 2/3 Meilen oder noch andere
Meilenarten eintragen will, so muss jeder Grad so groß dargestellt werden wie die Meilen, die er
enthält. Die Gradlinien sollen von einer Landspitze ausgehen, deren Breitengrad bekannt ist.
Und wenn die ganze Karte mit Gradlinien versehen ist, soll die Nummerierung der Gradlinien
vom Äquator aus mit den Zahlen 1, 2, 3 usw. beginnen, bis man den einen Pol erreicht, und [fol.
LXVr.] ebenso bis zum anderen Pol, und wenn die bekannte Landspitze die Gradzahl hat, die
ihrer Breite entspricht, so ist dies auch für die gesamte Karte der Fall; auch der Äquator befindet
sich an seinem Ort, und ebenso werden auch die Wendekreise entsprechend ihrer Position auf
der Erdkugel eingezeichnet.
Bei uns in Spanien, wo das Kap San Vicente37 von besonderer Bedeutung ist, beginnt die Ein-
zeichnung der Grade mit ihm, und es wird auf dem 37. Grad eingezeichnet, so dass von dort
aus je nach dem Inhalt der Karte, wie dargestellt, die Gradzahlen in Richtung auf den Nordpol
zunehmen und in Richtung auf den Äquator abnehmen – wie man in der folgenden Abbildung
sehen kann.
Wenn die Musterkarte weder über Seemeilen noch Gradangaben verfügt,38 so muss man die
Breitengrade zweier Landspitzen, die sich auf einer Nord-Süd-Linie befinden, aufnehmen oder
sie kennen, dann die Differenz zwischen den beiden Breitengraden von einer Landspitze [fol.
LXVv.] zur anderen ermitteln und in sie die 17,5 Seemeilen pro Breitengrad einfügen (bzw. je nach
Ansicht über den Erdumfang in Meilen, wie wir das im 18. Kapitel des ersten Teils besprochen
haben). Bei uns in Spanien greift man gewöhnlich mit dem Zirkel die Entfernung vom Kap San
Vicente bis zur größten der Berlengas-Inseln39 ab, die drei Grad beträgt, was bei einer Gradlänge
von 17,5 Seemeilen 52,5 Seemeilen als Abstand ausmacht. Andere setzen 50 Seemeilen auf der
Grundlage von 16 2/3 Meilen pro Grad an und rechnen Seemeilen in Grad und umgekehrt auf
diese Weise um.
Seekarten haben keine feste Ausdehnung, da sie nur die Beschreibung von Wasser und Land
enthalten und nicht eine bestimmte Menge davon festlegen. Daher nehmen manche viel Raum
ein und andere wenig. Diejenigen, die viel Raum einnehmen, sind deutlicher und genauer, sie
werden von den Seeleuten Karten mit großem Maßstab [de punto grande o mayor] genannt. Die-
jenigen, die wenig Raum einnehmen, werden bisweilen gern benutzt, da sie kompakter sind und
auf kleinem Raum viel enthalten; man nennt sie Karten mit kleinem Maßstab [de punto menor o
de punto pequeño]. […]40
[fol. LXVIv.] [...] Es folgt die Abbildung der Navigationskarte.
[fol. LXVIIr.]
[fol. LXVIIv.]
Piloten und Seeleute benutzen keine anderen Karten als solche Planisphärenkarten,41 und sie
verstehen es nicht anders. Diese Karten sind ungenau, da sie keine Projektion enthalten – so
erfassen sie bspw. nicht, dass mit zunehmender Entfernung vom Äquator die Meridian-Linien
immer kürzer werden, so dass zwei Städte oder Punkte, die auf dem Äquator sechzig Seemeilen
voneinander entfernt sind, nur noch dreißig Seemeilen voneinander entfernt sind, wenn sie,
obwohl sich auf denselben Meridianen befindend, in sechzig Grad Entfernung vom Äquator in
Richtung auf einen der beiden Pole liegen. Zum besseren Verständnis kann man auch sagen:42
Wenn zwei Schiffe vom Äquator aus in einer Ost-West-Entfernung von 60 Seemeilen voneinander
losführen und einen Kurs genau auf ihrem Meridian nach Norden nähmen, dann wären sie zu
dem Zeitpunkt, wenn sie auf sechzig Grad nördlicher Breite angekommen wären, nur noch 50
Seemeilen in ostwestlicher Richtung voneinander entfernt.
40 JD: Es folgt eine Anleitung, um Karten mit verschiedenem Maßstab ineinander zu übertra-
gen, einschließlich einer erläuternden Abbildung – diese Passage wird hier ausgelassen.
41 [Am linken Rand: Nachteile der Planisphärenkarte]. JD: In Portolankarten wird in der Tat
die Erdkrümmung nicht explizit berücksichtigt, anders als in Gradnetzkarten, bei denen stets
eine bestimmte Projektion die Grundlage bildet, mittels derer die Rundung der Erdoberfläche
auf einer Fläche abgebildet wird.
42 [Am linken Rand: Beispiel].
Und ganz abgesehen von diesen und anderen Erwägungen führt ein Irrtum zum nächsten; das
hier genauer auszuführen, wäre nicht nur für manche Piloten, wie man sagt, Musik für Taube
oder Malerei für Blinde,43 sondern es würde sie obendrein noch verwirren. Man muss aber hinzu-
fügen, dass gute Karten die Küsten, Häfen, Städte und andere Orte nach Winden oder Rumben so
verzeichnen sollen, wie sie tatsächlich liegen, und nicht so, wie sie die Kompassnadel anzeigt;
ich erwähne das wegen der nordöstlichen oder [fol. LXVIIIr.] nordwestlichen Abweichungen
der Kompassnadel44, wie wir weiter unten im fünften Kapitel sehen werden; ebenso sollen die
Gradangaben der Karte die richtigen Breitengrade enthalten. Die Karten, in denen dies fehlt,
müssen von weisen und kenntnisreichen Leuten korrigiert und emendiert werden. Nur im Mittel-
meer und im Kanal von Flandern stellt es keinen Nachteil für die Seefahrt dar, dass die Häfen auf
den Karten nach den Winden verzeichnet sind, die die Kompassnadel anzeigt, denn dort wird
nicht mit Hilfe von Breitengraden navigiert. Und es wäre kein Schaden, sondern gerechtfertigt
und sehr sinnvoll, um zahlreiche Irrtümer zu beseitigen, aus denen so viel Verwirrung und so
große Gefahren hervorgehen, wenn Eure Majestät gelehrte und erfahrene Kosmographen, die
die Kunst der Navigation bestens beherrschen, damit beauftragen würde, die Breitengrade der
Häfen, Landspitzen, Inseln und die Ansiedlungen zu überprüfen und gleichermaßen die Küs-
tenlinien wahrhaftig zu beschreiben, vor allem was die Seefahrt nach Westindien bzw. die Neue
Welt betrifft, wo Gott zu Diensten so viele Menschen die Heilige Taufe erhalten haben und den
wahrhaftigen Gott kennengelernt haben. Der christlichen Welt hat Gott mit dem Schatz Westin-
diens eine so große Gunst erwiesen, als Eure Majestät sie erobert und sich gegen den Unglauben
zur Wehr gesetzt hat sowie den Hochmut und die Frechheit der lutherischen Ketzer45, Lampadis-
ten46, Melanchthonianer, Wiedergetauften usw. gezügelt hat, um sie zum Gehorsam gegenüber
der katholischen Kirche zu zwingen: Dies geschah zum Dienst an unserem unermesslichen Gott
und zum ewigen Gedenken an Eure Majestät und zum Ruhm für Eure Nachfolger in den kom-
menden Jahrhunderten.
Die Triangulierung Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert ist das Resultat eines
Langzeitunternehmens, dessen Erfolg nicht zuletzt dadurch gesichert wurde,
dass es über vier Generationen in der Verantwortung einer Familiendynastie
stand. Außerdem ist diese Geschichte mit einem konkreten Ort verknüpft: dem
Observatorium von Paris, durch das hindurch der sog. „Meridian von Paris“ ver-
läuft. Er spielt für die Vermessung Frankreichs eine entscheidende Rolle.
Ihren Ausgang nimmt die Vermessung Frankreichs im Jahr 1669, als Colbert,
der Finanzminister Ludwigs XIV., den ligurischen Astronomen Giovanni Dome-
nico Cassini (frz.: Jean-Dominique, genannt „Cassini I“) an die neu gegründete
Académie des Sciences beruft und ab 1671 zum Leiter des gerade erbauten Pariser
Observatoriums bestellt. Die erste Vermessung eines Meridianbogens zum Zweck
der Verfertigung einer genauen Karte Frankreichs wird im Auftrag Colberts 1669
durch den Abbé Picard durchgeführt und ab 1683 auf dem Paris-Meridian quer
durch Frankreich von Cassini fortgesetzt. Nach zahleichen Unterbrechungen
wird die Triangulation erst im Jahr 1718 durch Cassinis Sohn Jacques („Cassini
II“) abgeschlossen. Im Anschluss daran erscheint 1720 erstmals die Abhandlung
De la grandeur et de la figure de la terre von Cassini II. Der Text fasst zusammen,
wozu die genaue Vermessung der „Mittags-Linie“ dient und beschreibt die Aus-
einandersetzung mit früheren Versuchen von Geographen, deren Verlauf zu
bestimmen. Die hier abgedruckte deutsche Übersetzung des gewählten Kapitels
stammt von dem Thüringer Astronomen Johann Albrecht Klein: Sie erschien 1741
und zeugt von dem großen Interesse, das die Vermessung Frankreichs einschließ-
lich der sich daran anschließenden Kontroversen in ganz Europa hervorrief.
Mit der Vermessung des Pariser Meridians sind die Vorarbeiten für das Ziel
der Kartierung Frankreichs jedoch nicht abgeschlossen: In den Dreißigerjahren
wird von Cassini II eine weitere Linie quer durch Frankreich vermessen, diesmal
allerdings in Ost-West-Richtung, d. h. im rechten Winkel zum Pariser Meridian.
Außerdem beginnt zu dieser Zeit eine Auseinandersetzung darüber, welche Kon-
sequenzen die Vermessung des Pariser Meridians für die Gestalt der Erde hat:
Während Cassini II als überzeugter Cartesianer der Meinung ist, die Erde sei am
Äquator abgeflacht, und glaubt, diese These durch seine Messergebnisse bewei-
sen zu können, setzt sich als Ergebnis zweier Expeditionen ins heutige Ecuador
(1735–1744 unter der Leitung von Godin und unter Beteiligung von La Condamine)
und nach Lappland (1736–1737 unter der Leitung von Maupertuis) allmählich die
von Newton vertretene gegenläufige These einer Abflachung an den Polen durch.
Dieses Ergebnis wird schließlich auch durch eine Neuvermessung des Pariser
Meridians durch César François Cassini de Thury („Cassini III“) in den Jahren
1740–1744 bestätigt.
1744 zeichnet Cassini III mit seiner „Nouvelle carte qui comprend les prin-
cipaux triangles qui servent de fondement à la Description géométrique de la
France“ für eine wichtige Etappe in der Kartierung Frankreichs verantwortlich:
Seine Karte enthält das dem weiteren Verlauf der Geländeaufnahme zu Grunde
liegende geodätische Netzwerk; es dient von den Vierziger- bis zu den Achtziger-
jahren des 18. Jahrhunderts als Grundlage für ergänzende regionale Triangulati-
onen und darauf aufbauende Teilkarten. Die Ergebnisse des gesamten Prozesses
werden von Cassini III 1783 in seiner Abhandlung mit dem Titel Description géome-
trique de la France zusammengefasst. Erst unter Jean-Dominique Cassini („Cassini
IV“) wird jedoch das komplette Projekt der Kartierung Frankreichs bis zur Fran-
zösischen Revolution weitgehend zum Abschluss kommen (die auch dann noch
verbleibenden Lücken werden Anfang des 19. Jahrhunderts geschlossen).
Mathematische und genaue Abhandlung von der Figur und Grösse der Erden:
wobey die bewundernswürdige Verlängerung der Mittags-Linie des Königlichen
Observatorium zu Paris durch gantz Franckreich … vorgestellet wird
Arnstadt/Leipzig: Johann Jacob Beumelburg, 1741, übers. u. mit einer Vorrede versehen v. J. A.
Klimm [eigentl.: Klein], S. 48–53. [Abbildung aus: De la grandeur et de la figure de la terre. Paris:
Imprimerie Royale, 1720, S. 33–36, o.S.]
Das IV. Kapitel. Nutzbarkeit der Beschreibung der Mittags-Linie des Observatorium in Verbesse-
rung der Charte von Franckreich.
Die Verlängerung der Mittags-Linie des königlichen Observatorium zu Paris, bis an die mittägi-
gen Gränzen des Königreiches, welche die königliche Akademie auf des Königes Befehl unter-
nommen hat, war nöthig, um die Geographie aus der Ungewißheit zu bringen, in welche sie die
zwischen denen Geographen obschwebende verschiedene Meynungen von der Lage der Mittags-
Linie von Paris gegen das mittägige Theil Franckreichs setzen.
Ptolomäus, welcher die Breite von Paris also annimmt, daß sie der von uns gegenwärtig-
obser[vier]ten bis auf 20. Minuten beykömmet, lässet den Mittags-Circkel von Paris durch solche
Oerter von Franckreich gehen, die viele Grade weit von denen sind, durch die ihn die heuti-
gen Geographen jetzo [S. 49] ziehen. Die Länge von Paris bestimmt er auf 23 ½. Grad, die von
Lyon auf 23. Grad 15. Minuten, und die von Vienne im Delphinat, von Valence, von Avignon, und
von dem östlichsten Ausrisse der Rhone in die See auf 23. Grad, dergestalt, daß nach seinem
Angeben der Mittags-Circkel von Paris bey diesen Oertern auf der Morgen-Seite vorbey gehen,
und sich am Meere nahe bey einer Stadt, die damahls Maritima hiesse, endigen würde. Diese
Stadt ist allem Ansehen nach Martigues oder Marignane, welche nahe beysammen liegen, und
deren Nahmen von Maritima können hergeleitet seyn; welche Ptolomäus einen halben Grad
weiter gegen Morgen setzet, als den östlichsten Ausfluß der Rhone, welches der Länge dieser
zwei Städte in den genauesten Charten bis auf einige Minuten beykömmt.
Alle neue Geographen ziehen den Pariser Mittags-Circkel durch solche Oerter, die von diesem
Puncte gegen Abend zu, einige mehr, andere weniger entfernet sind.
Ortelius, einer der berühmtesten Verbesserer der Geographie, ziehet ihn in seinem Schau-Platz
der Welt mit Plancius47 durch Lavaur, Mirepoix und das Land Foix, nahe bey denen westlichen
Gränzen von Languedoc, daß also bey nahe die Länge dieser ganzen Provinz, zwischen dem
Orte, wo sich nach Ptolomäus Meynung der Pariser Mittags-Circkel endiget, und dem in des Orte-
lius und Plancius Charten bemerckten inne lieget.
Die Lage der Pariser Mittags-Linie war ehemals so gar ungewiß, daß sie in unterschiedlichen
[S. 50] von einem Autor heraus gegebenen Charten, durch ganz verschiedene Orte gehet, wie in
47 JD: Gemeint sind Abraham Ortelius’ Theatrum orbis terrarum (zuerst 1570) sowie Petrus Plan-
cius, der in den Neunzigerjahren des 16. Jahrhunderts verschiedene Weltkarten veröffentlicht.
Mercators Atlas zu sehen, darinnen unter anderem zwei Charten von Hondius48 befindlich sind,
nemlich eine von Europa, wo die Pariser Mittags-Linie durch Mirepoix streichet, und sich bey
der Stadt Valentia in Spanien endiget, die andere von Franckreich, wo er diese Mittags-Linie viel
weiter nach Norden, gegen den westlichen Theil von Roußillon zu gehen lässet.
Die noch neuern Geographen setzen den Mittags-Circkel von Paris mehr gegen Morgen. In der
von Taßin49 Anno 1660 heraus gegebenen grossen Charte von Franckreich, gehet er durch Mont-
pellier und die zwischen Sete und Aiguemortes liegende Küste. Viele andere lassen ihn, einige
näher bey Narbonne, einige näher bey Carcassone, vorbey gehen. Selber etliche von denen,
die die Unterschiede derer Längen zwischen Paris und Sete von einer, und Bayonne von der
anderen Seite, denen Memoiren der Academie gemäß bestimmen, sind noch um die ganze Weite
zwischen Narbonne und Carcassone von einander, ohngeachtet Sete und Narbonne sehr nahe
beysammen liegen.
Dergleichen Verschiedenheit wird ausser dem Pariser Mittags-Circkel noch bey viel andern ange-
troffen, die jezo durch weit andere Oerter, als vor Alters gezogen werden.
Also fand Poßidonius50, ein Astronomus und Geographus, bey Untersuchung der Grösse der
Erde, die Städte Rhodus und Alexandrien unter einerley Mittags-Circkel, dahingegen [S. 51] zwey-
hundert Jahre darnach Ptolomäus Alexandrien um 2 ½ Grad weitere Morgen als Rhodus setzet.
Gleichergestalt setzte Eratosthenes in einer gleichen Untersuchung Alexandrien und Siene unter
einerlei Mittags-Circkel. Ptolomäus hingegen fand hernach Siene um 1 ½ Grad weiter gegen
Morgen als Alexandrien.
Und dergleichen Unterschiede findet man bey Gegeneinanderhaltung der alten Land-Charten mit
denen heutigen, fast an allen Orten der Erden, welches lediglich von denen unzulänglichen Arten,
deren man sich zu Bestimmung der Lage ihrer Mittags-Circkel bedienet hat, herrühren muß.
Die neuen Charten der Königreiche sind insgemein aus denen Special-Charten der Provintzen,
und diese durch unterschiedliche Autores, zu verschiedener Zeit, und nach unterschiedenen
Maaß-Stäben, die in der Haupt-Karte auf einen reduciret werden, verfertiget.
In diesen Special-Charten wird die Mittags-Linie meistentheils durch Hülffe der Magnet Nadel
gezogen, deren man sich, sie aufzunehmen, und nach denen Welt-Gegenden zu richten, bedie-
net, aber dabey ihre Abweichung von der Mittags-Linie, wie sie zu der Zeit gewesen ist, nicht
allezeit so genau beobachtet; Daher man sich nicht wundern darff, wann die in der Richtung der
Special-Charten nach denen Welt-Gegenden vielleicht begangene Fehler, sich bey Zusammense-
zung einer General-Charte aus denenselben vermehren, und dadurch die Lage der Mittags-Linie
in dieser Haupt-Charte so ungewiß machen.
[S. 52] Es giebet Special-Charten von einigen Provintzien Franckreichs, da der in ihnen gezogene
Mittags-Circkel mehr als 30. Grad von dem wahren abweichet. So liegen auch in diesen Pro
vintzien Oerter, wo die Abweichung der Magnet-Nadel, wegen der daselbst in Menge befindli-
chen und die Magnet-Nadel von ihrer gehörigen Richtung abziehenden Eisen-Adern, gantz unor-
dentlich ist; Daher man ohne vorher die Abweichung des Magnets, von der durch Observation
der Sonne und anderer Sterne gezogenen Mittags-Linie, an unterschiedenen Oertern öffters sorg-
48 JD: Gerhard Mercator, Atlas sive Cosmographicae Meditationes de Fabrica Mundi et fabricati
figura (1595), spätere Ausgaben erweitert von Jodocus Hondius.
49 JD: Christophe Tassin, Carte générale de France (zuerst 1634).
50 JD: Gemeint ist der hellenistische Philosoph und Geograph Poseidonios (2./1. Jh. v. Chr.).
fältig gesuchet zu haben, die Charte durch Hülffe der Magnet-Nadel keinesweges nach denen
Welt-Gegenden recht wird einrichten können.
Dieser Ursachen halber war daher zu Verbesserung der Charte von Franckreich unumgänglich
nöthig, die Pariser Mittags-Linie auf eine ganz genaue und vorhergedachten Fehlern nicht unter-
worffene Methode zu beschreiben, dergleichen vor uns geschehen ist; Zu welchem Ende wir auch
gleich Anfangs ihre Richtung durch Observationen der Sonne und Sterne bestimmet, und ihre
Lage gegen die um sie herum liegende Städte und andere erkäntliche Oerter mit Hülffe der Geo-
metrie in richtigen Stand gesetzet haben, welches der Astronomie und Geographie mercklichen
Nutzen bringen kan: Denn die Observationen, welche man in folgenden Zeiten in vielen Städten
machen wird, können leichtlich auf den Pariser Mittags-Circkel gebracht werden. Wenn man
zum Exempel einige Finsternissen des Monds oder derer Jupiters Trabanten, [S. 53] an einem ent-
legenen Orte der Erde observiret hat, welche man zu Paris nicht wahrnehmen können, die aber
noch in einigen von diesen Städten observiret worden, so wird man diese Observationen leicht
auf den Pariser Mittags-Circkel reduciren, und mithin den Unterschied zwischen dem Mittags-
Circkel dieser entlegenen Oerter und dem Mittags-Circkel des königlichen Observatorium erken-
nen können: Wir selbst haben uns dieses Vortheils mit denen Observationen, schon bedienet, so
wir von Montpellier erhalten, welches Ortes Lage durch die Triangel der Mittags-Linie bestimmet
war, und wo der König seit einigen Jahren eine königliche Gesellschafft aufgerichtet, worinnen
sich geschickte Astronomen befinden, die sich der Schönheit ihres Clima zu Anstellung solcher
Observationen, dergleichen die Beschaffenheit der Lufft auf dem königlichen Observatorium zu
Paris uns zuweilen nicht gestattet, wohl zu bedienen wissen.
Abb. 5: „Carte de France où sont marquez les triangles qui ont servi à déterminer la Meridiene
de Paris“. In: Jacques Cassini: De la grandeur et de la figure de la terre. Paris: Imprimerie
Royale [Karte o.S.]. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AM%C3%A9ridienne_
de_Paris.jpg.
(Schäffner 2000, S. 359), das mit seiner Visualisierung durch Tabellen, Karten
und Diagramme einen umfassenden Datenraum erzeugt (zu Humboldts Entwurf
einer geognostischen „Pasigraphie“ vgl. Schäffner 2000, S. 379–381). Insofern
sind Humboldts Ausführungen im Kosmos ohne seine Isolinienkarte von 1817
bzw. ohne die im Physikalischen Atlas von Heinrich Berghaus (1845) abgebildete,
sehr viel anschaulichere, da auf eine Weltkarte in Mercator-Projektion übertra-
gene Karte mit dem „System der Isotherm-Kurven“ (vgl. Abb. 6) kaum verständ-
lich. Linien, insbesondere Isolinien, werden dabei zu Operatoren, die zu einer
globalen Verknüpfung von Daten und Messwerten führen und in den so gebil-
deten Mustern allgemeine Gesetzmäßigkeiten dessen offenbaren, was Humboldt
den „Kosmos“ nennt.
Humboldt 1817; Humboldt 1830; Humboldt 1853; Humboldt 2004; Kraft 2014;
Schäffner 2000; Schneider 2012; Schneider 2013
Ist demnach die Natur (Inbegriff der Naturdinge und Naturerscheinungen), ihrem Umfang und
Inhalte nach, ein Unendliches, so ist sie auch für die intellectuellen Anlagen der Menschheit ein
nicht zu fassendes, und in allgemeiner ursachlicher Erkenntniß von dem Zusammenwirken aller
Kräfte ein unauflösbares Problem. Ein solches Bekenntniß geziemt da, wo das Sein und Werden
nur der unmittelbaren Forschung unterworfen bleibt, wo man den empirischen Weg und eine
strenge inductorische Methode nicht zu verlassen wagt. Wenn aber auch das ewige Streben, die
Totalität zu umfassen, unbefriedigt bleibt, so lehrt uns [S. 82] dagegen die Geschichte der Welt-
anschauung, welche einem anderen Theile dieser Prolegomenen vorbehalten bleibt, wie in dem
Lauf der Jahrhunderte die Menschheit zu einer partiellen Einsicht in die relative Abhängigkeit
der Erscheinungen allmälig gelangt ist. Meine Pflicht ist es, das gleichzeitig Erkannte nach dem
Maaß und in den Schranken der Gegenwart übersichtlich zu schildern. Bei allem Beweglichen
und Veränderlichen im Raume sind mittlere Zahlenwerthe der letzte Zweck, ja der Ausdruck phy-
sischer Gesetze; sie zeigen uns das Stetige in dem Wechsel und in der Flucht der Erscheinungen;
so ist z. B. der Fortschritt der neueren messenden und wägenden Physik vorzugsweise durch
Erlangung und Berichtigung der mittleren Werthe gewisser Größen bezeichnet: so treten wiede-
rum, wie einst in der italischen Schule, doch in erweitertem Sinne, die einzigen in unsrer Schrift
übrig gebliebenen und weit verbreiteten hieroglyphischen Zeichen, die Zahlen, als Mächte des
Kosmos auf. […]
[S. 335] Als Hauptzüge eines allgemeinen Naturgemäldes der Atmosphäre erkennen wir: 1) in den
Veränderungen des Luftdruckes, die regelmäßigen, zwischen den Tropen so leicht bemerkbaren
stündlichen Schwankungen, eine Art Ebbe und Fluth der Atmosphäre, welche nicht der Mas-
senanziehung51 des Mondes zugeschrieben werden darf und nach der geographischen Breite,
den Jahreszeiten und der Höhe des Beobachtungsortes über dem Meeresspiegel sehr verschie-
den ist; 2) in der klimatischen Wärmevertheilung, die Wirkung der relativen Stellung der durch-
sichtigen und undurchsichtigen Massen (der flüssigen und festen Oberflächenräume), wie der
hypsometrischen Configuration der Continente, Verhältnisse, welche die geographische Lage
und Krümmung der Isothermenlinien (Curven gleicher mittlerer jährlicher Temperatur) in hori-
zontaler oder verticaler Richtung, in der Ebene oder in den über einander gelagerten Luftschich-
ten bestimmen; 3) in der Vertheilung der Luftfeuchtigkeit, die Betrachtung der quantitativen Ver-
hältnisse nach Verschiedenheit der festen und der oceanischen Oberfläche, der Entfernung vom
Aequator und von dem Niveau des Meeres, die Formen des niedergeschlagenen Wasserdamp-
fes und den Zusammenhang dieser Niederschläge mit den Veränderungen der Temperatur und
der Richtung wie der Folge der Winde; 4) in den Verhältnissen der Luftelectricität, deren erste
Quelle bei heiterem Himmel [S. 336] noch sehr bestritten wird, das Verhältniß der aufsteigenden
Dämpfe zur electrischen Ladung und Gestalt der Wolken nach Maaßgabe der Tages- und Jahres-
zeit, der kalten und warmen Erdzonen, der Tief- und Hochebenen; die Frequenz und Seltenheit
der Gewitter; ihre Periodicität und Ausbildung im Sommer und Winter; den Causalzusammen-
hang der Electricität mit dem so überaus seltenen nächtlichen Hagel, wie mit den von Peltier so
scharfsinnig untersuchten Wettersäulen (Wasser- und Sandhosen). […]
[S. 340] Die Einsicht in die Wärmevertheilung im Luftkreise hat einigermaßen an Klarheit gewon-
nen, seitdem man versucht hat die Punkte, in welchen die mittleren Temperaturen des Jahres,
des Sommers und des Winters genau ergründet worden sind, durch Linien mit einander zu ver-
binden. Das System der Isothermen, Isotheren und Isochimenen, welches ich zuerst im Jahr 1817
aufgestellt,52 kann vielleicht, wenn es durch vereinte Bemühungen der Physiker allmälig ver-
vollkommnet wird, eine der Hauptgrundlagen der vergleichenden Klimatologie abgeben. Auch
die Ergründung des Erdmagnetismus hat eine wissenschaftliche Form erst dadurch erlangt, daß
man die zerstreuten partiellen Resultate in Linien gleicher Abweichung, gleicher Neigung und
gleicher Kraftintensität mit einander graphisch verband.
Der Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeinsten Sinne alle Veränderungen in der Atmo-
sphäre, die unsre Organe merklich afficiren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Verändrungen
des barometrischen Druckes, den ruhigen Luftzustand oder die Wirkungen ungleichnamiger
Winde, die Größe der electrischen Spannung, die Reinheit der Atmosphäre oder ihre Vermen-
gung mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen, endlich den Grad habituel-
ler Durchsichtigkeit und Heiterkeit des Himmels; welcher nicht bloß wichtig ist für die vermehrte
51 Bouvard hat im Jahr 1827 durch Anwendung der Formeln, die Laplace kurz vor seinem Tode
dem Längen-Bureau übergeben hatte, gefunden, daß der Theil der stündlichen Oscillationen
des Luftdruckes, welcher von der Anziehung des Mondes herrührt, das Quecksilber im Baro-
meter zu Paris nicht über 18/1000 eines Millimeters erheben könne: während nach 11jährigen
Beobachtungen eben daselbst die mittlere Barometer-Oscillation von 9 Uhr Morgens bis 3 Uhr
Nachmittags 0,756 Millimeter, von 3 Uhr Nachmittags bis 9 Uhr Abends 0,373 Millimeter war.
Vgl. Alexis Bouvard: „Mémoire sur les observations météorologiques, faites à l’Observatoire de
Paris“. Mémoires de l’Académie Royale des Sciences de l’Institut de France, Bd. 7. Paris: Firmin
Didot, 1827, S. 267–344 [JD: Bibl. Angaben vervollständigt].
52 JD: Humboldt bezieht sich hier auf seine Forschungen zu Isothermen in Humboldt (1817) und
(1853).
Wärmestrahlung des Bodens, die organische Entwicklung der Gewächse und die Reifung der
Früchte, sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung des Menschen.
Wenn die Oberfläche der Erde aus einer und derselben homogenen flüssigen Masse oder aus
Gesteinschichten zusam-[S. 341]mengesetzt wäre, welche gleiche Farbe, gleiche Dichtigkeit,
gleiche Glätte, gleiches Absorptionsvermögen für die Sonnenstrahlen besäßen und auf gleiche
Weise durch die Atmosphäre gegen den Weltraum ausstrahlten, so würden die Isothermen, Iso-
theren und Isochimenen sämmtlich dem Aequator parallel laufen. In diesem hypothetischen
Zustande der Erdoberfläche wären dann, in gleichen Breiten, Absorptions- und Emissionsver-
mögen für Licht und Wärme überall dieselben. Von diesem mittleren, gleichsam primitiven
Zustande, welcher weder Strömungen der Wärme im Inneren und in der Hülle des Erdsphäroids,
noch die Fortpflanzung der Wärme durch Luftströmungen ausschließt, geht die mathematische
Betrachtung der Klimate aus. Alles, was das Absorptions- und Ausstrahlungsvermögen an ein-
zelnen Theilen der Oberfläche, die auf gleichen Parallelkreisen liegen, verändert, bringt Infle-
xionen in den Isothermen hervor. Die Natur dieser Inflexionen, der Winkel, unter welchem die
Isothermen, Isotheren oder Isochimenen die Parallelkreise schneiden, die Lage der convexen
oder concaven Scheitel in Bezug auf den Pol der gleichnamigen Hemisphäre sind die Wirkung
von wärme- oder kälteerregenden Ursachen, die unter verschiedenen geographischen Längen
mehr oder minder mächtig auftreten.53
Die Fortschritte der Klimatologie sind auf eine merkwürdige Weise dadurch begünstigt worden,
daß die europäische Civilisation sich an zwei einander gegenüberstehenden Küsten verbreitet
hat, daß sie von unserer westlichen Küste zu einer östlichen jenseits des atlantischen Thales
übergegangen ist. Als die Britten, nach den von Island und Grönland ausgegangenen ephemeren
Niederlassungen, [S. 342] die ersten bleibenden Ansiedlungen in dem Littoral der Vereinigten
Staaten von Nordamerika gründeten, als religiöse Verfolgungen, Fanatismus und Freiheitsliebe
die Colonialbevölkerung vergrößerten; mußten die Ansiedler (von Nord-Carolina und Virginien
an bis zum St. Lorenz-Strome) über die Winterkälte erstaunen, die sie erlitten, wenn sie dieselbe
mit der von Italien, Frankreich und Schottland unter denselben Breitengraden verglichen. Eine
solche klimatische Betrachtung, so anregend sie auch hätte sein sollen, trug aber nur dann erst
Früchte, als man sie auf numerische Resultate mittlerer Jahreswärme gründen konnte. Vergleicht
man zwischen 58° und 30° nördlicher Breite Nain an der Küste von Labrador mit Gothenburg,
Halifax mit Bordeaux, Neu-York mit Neapel, San Augustin in Florida mit Cairo; so findet man
unter gleichen Breitengraden die Unterschiede der mittleren Jahrestemperatur zwischen Ost-
Amerika und West-Europa, von Norden gegen Süden fortschreitend: 11°,5; 7°,7; 3°,8 und fast 0°.
Die allmälige Abnahme der Unterschiede in der gegebenen Reihe von 28 Breitengraden ist auf-
fallend. Noch südlicher, unter den Wendekreisen selbst, sind die Isothermen überall in beiden
Welttheilen dem Aequator parallel. Man sieht aus den hier gegebenen Beispielen, daß die in
gesellschaftlichen Kreisen so oft wiederholten Fragen: um wie viel Grad Amerika (ohne Ost- und
Westküsten zu unterscheiden) kälter als Europa sei, um wie viel die mittleren Jahreswärmen in
Canada und den Vereinigten nordamerikanischen Staaten niedriger als unter gleicher Breite in
Europa seien, allgemein ausgedrückt, keinen Sinn haben. Der Unterschied ist unter jedem Par-
allel ein anderer; und ohne specielle [S. 343] Vergleichung der Winter- und Sommertemperatur
an den gegenüberstehenden Küsten kann man sich von den eigentlichen klimatischen Verhält-
53 JD: Humboldt bezieht sich, ohne dies explizit zu machen, hier auf seine erstmals 1817 er-
schienene „Carte des lignes isothermes“.
nissen, in so fern sie auf den Ackerbau, auf die Gewerbe und das Gefühl der Behaglichkeit oder
Unbehaglichkeit Einfluß haben, keinen deutlichen Begriff machen. […]54
Abb. 6: Heinrich Berghaus (1849): „Alexander von Humboldts System der Isotherm-Kurven“. In:
Ders.: Physikalischer Atlas. Gotha: Perthes URL: http://www.davidrumsey.com/maps5455.html.
Bei der im Jahr 1992 erschienenen Studie L’Empire des cartes handelt es sich um
den Versuch einer nicht historischen, sondern semiologischen sowie phänome-
nologischen Beschreibung der pragmatischen Bedeutung von Karten. Der titel-
54 JD: Es folgen Humboldts – hier nicht wiedergegebene – Mutmaßungen über mögliche Tempe-
ratur-erhöhende und Temperatur-vermindernde Ursachen (wie West- oder Ostlage sowie Wind-
und Meeresströmungen; auch hier stützt er sich auf eigene Forschungen in Humboldt 1830).
gebende Ausdruck ‚Empire‘ verweist dabei nicht nur auf die Macht von Karten
im politischen Sinn (wie dies die 2006 erschienene englische Übersetzung von
Tom Conley mit dem Titel The Sovereign Map nahelegt), sondern auch auf das
mit Karten verbundene Regime sinnlicher Wahrnehmung (der Titel ist u. a. wohl
auch als Anspielung auf den erotischen Film L’Empire des sens – dt.: Im Reich der
Sinne – von Nagisa Oshima zu verstehen).
Zur Kartographie und ihrer Geschichte gelangt Christian Jacob zunächst
über die hellenistische Kultur; aufbauend auf eigenen historischen Vorarbeiten
zur antiken Geographie entsteht seine Studie jedoch zu einer Zeit, in der neben
der französischen „Sémiologie graphique“ Jacques Bertins vor allem die „Critical
Cartography“ um den Mitherausgeber der seit 1987 erscheinenden History of Car-
tography John Brian Harley international zunehmend bedeutsamer wird. Auch
die Diskursanalyse Michel Foucaults und die Semiotik Louis Marins beeinflus-
sen das französische kartenhistorische Interesse. Dieses schlägt sich z. B. in der
viel beachteten Ausstellung Cartes et figures de la terre im Jahr 1980 im Centre
Georges Pompidou nieder, auf deren Impulse sich auch Jacob wiederholt beruft.
Vor allem aber ist es die Praxeologie der raumtheoretischen Schriften von Michel
de Certeau, die Jacobs Herangehensweise an die Kartographie nachhaltig prägt –
Certeau ist auch L’Empire des cartes gewidmet.
Jacob präsentiert in der Gliederung seiner Studie Karten als semiotische Dis-
positive, die sich im Hinblick auf ihre geometrische Konstruktion (Kap. 2), die
Verwendung von Schrift (Kap. 3) sowie ihren Bildcharakter (Kap. 4) untersuchen
lassen. Die Überlegungen zu Kartenlinien stammen aus dem Kapitel zu Karten-
bildern, unterhalten aber vielfältige Verknüpfungen zur geometrischen Kon
struktion von Linien (auf die bereits das zweite Kapitel ausführlich in historischer
Hinsicht eingeht). Ein besonderer Akzent der vorliegenden Textauswahl, in der
sich die Nähe zu Certeaus „Raumpraktiken“ deutlich bekundet, liegt im Gedan-
ken der Dynamisierung von Karten aus der Sicht des Kartenbetrachters. Für diese
Dynamisierung sind nach Jacob die Kartenlinien entscheidend.
Seine Analysen sind mit ihren ausführlichen Beispielreihen geleitet von einer
implizit stets durchscheinenden, an manchen Stellen aber auch explizit gemach-
ten Berufung auf literarische Imaginationspraktiken: Von Jules Verne bis Georges
Perec aktualisieren sich im Verfolgen von Kartenlinien virtuelle, in Karten ange-
legte Reisebewegungen. Kartenlinien sind jedoch nicht nur ein ästhetisch-narra-
tives, sondern auch ein epistemologisches Paradigma für einen ‚Erkenntnisweg‘,
der sich auf eine kartographisch geprägte Vernunft berufen kann, wie dies etwa
Marin für das absolutistische Frankreich des 17. Jahrhunderts postuliert hat. Im
Unterschied zu Certeaus Analysen erscheint die Karte bei Jacob dabei nicht als
Gegenmodell zur Praxis des Reisens auf einem spezifischen Parcours, sondern
als dessen höchst variable Voraussetzung: Die Dynamisierung von Karten durch
Cartes et figures de la terre 1980; Certeau 1990; Harley 2001; Jacob 1991; Jacob
2006; Marin 1980
55 Pierre Gréco, zit. nach Fernandez-Zoïla, Adolfo (1987): Espace et psychopathologie. Paris:
PUF, S. 31 f.
56 Michel de Certeau (1980): L’Invention du quotidien 1. Arts de faire. Paris: 10/18, S. 210–212.
Vgl. eine ähnliche Analyse bei Mondada, Lorenza (1989): „L’Espace pris au piège“. In: L’Espace
(=Publications de l’Université de Lausanne, fasc. 74). Lausanne: Payot, S. 143–157, hier S. 154f,
die zwischen „kontextuellen“ und „inhärenten“ Strategien der Raumorganisation unterscheidet.
57 Diese Studie wurde durchgeführt und veröffentlicht von Charlotte Linde und William Labov
(1975): „Spatial Networks as a Site for the Study of Language and Thought“. In: Languages 51,
S. 924–939.
diesem Reden über den Alltag im Wesentlichen zwei Muster herauskristallisierten: das Modell
der Karte und das Modell der Wegstrecke. Im ersten Modell wird die Raumanordnung auf eine
neutrale und unpersönliche Weise beschrieben, mit einer Tendenz zur Abstraktion, welche darin
besteht, einen Grundriss oder eine topologische Anordnung hervortreten zu lassen, die aus
durch festgelegte Nachbarschaftsbeziehungen vereinten Orten hervorgeht, wie etwa: „Das Mäd-
chenzimmer ist neben der Küche.“ Das Modell der Wegstrecke hingegen dynamisiert den Grund-
riss, indem es ihn aus der Perspektive eines Subjekts beschreibt, welches ihn praktiziert und
sich in ihm fortbewegt, also etwa: „Du gehst nach rechts und gelangst ins Wohnzimmer.“ Dieses
Beschreibungsmodell wird im untersuchten Korpus mit großer Mehrheit verwendet (97%).
Während die Beschreibung des Typs „Karte“ ein statisches, geometrisch verbundenes Nebenein-
ander von Orten hervortreten lässt, legt das Beschreibungsmodell „Wegstrecke“ am meisten Wert
auf die Zu- und Durchgänge von einer topologischen Einheit zur nächsten. Auf der einen Seite
eine Zustandsbeschreibung („es gibt“), durch die der Überblick über eine Ordnung der Orte in
den Vordergrund tritt, die als Tableaus präsentiert werden; auf der anderen Seite die Erzählung
einer Bewegung, eines Voranschreitens, das umrundet, eintritt, herausgeht, nach rechts und
links abbiegt, hinauf- oder hinabgeht. In Verallgemeinerung dieser Beobachtungen kam Michel
de Certeau darauf, zwei Modelle der Darstellung von Raum einander gegenüberzustellen: das
Itinerar (eine diskursive Serie [S. 392] von Operationen) und die Karte (eine totalisierende Nivel-
lierung von Beobachtungen), jedoch unter gleichzeitigem Hinweis auf die möglichen Übergänge
zwischen diesen beiden Formen, wenn entweder immer neu hinzugefügte Streckenwindungen
schließlich zu einer topologischen Konfiguration führen oder wenn ein kartenförmiges Dispo-
sitiv den impliziten und ursprünglichen Bezugshorizont einer Wegstrecke bildet („Hier gibt es
eine Tür, nimm die nächste“). Eine solche Dialektik findet sich in Alltagssituationen wieder, in
denen ein verirrter Passant den richtigen Weg erklärt bekommt; sie steht auch am Ursprung der
Gattung der Reiseberichte, wo „die Geschichten von individuellen Marschrouten und Gesten
durch ‚Zitate‘ der Orte markiert sind, die aus ihnen hervorgehen oder die sie autorisieren.“58 Die
Wegstrecke erscheint dann als der Operator, der ein Nebeneinander von Orten (im Sinn einer
„unmittelbaren Beschaffenheit von Positionen“ nach Certeau59) in einen Raum transformiert,
der durch die Variablen Richtung, Geschwindigkeit und Zeit organisiert ist („der Raum ist eine
Überschneidung von beweglichen Elementen“).
Zwar stützt sich Certeaus Modell auf sprachliche Beschreibungen des praktizierten und gelebten
Raums par excellence, d. h. des Wohnraums, von dem man sich gut vorstellen kann, dass er
in einer Gesamtheit von Ortswechseln und Bewegungen aufgeht; der Raum entsteht dabei aus
der Funktionalität der Orte, die durch schematische Alltagserzählungen miteinander verknüpft
werden. Aber kann man dies nicht auch auf den Blick auf Landkarten beziehen? Ausgehend
von einer stabilen geographischen Konfiguration hängt es von der gewählten visuellen Strategie
ab, ob die Karte zu einem Verbund aus nebeneinanderliegenden Orten oder zu einer Art von
Wegstrecke wird. Während die Ordnung der Orte sich nach Certeau einem theoretischen Blick
zu erkennen gibt, der darauf abzielt, die Ordnung des Gleichzeitigen und der Nachbarschaftsbe-
ziehungen in ihrer Grundstruktur bzw. in ihrer dispositivförmigen Abstraktheit unabhängig von
jedem menschlichen Blick zu erfassen, wird der Raum als praktizierter Ort im Zuge einer meta-
phorischen Reise vom Blick durchquert. Man könnte im Übrigen einen Bezug zwischen dem rein
diskursiven Weg herstellen, auf den wir uns machen, wenn wir unseren Weg durch die Reihe der
Zimmer unserer Wohnung aus der Erinnerung rekonstruieren, und dem visuellen Weg auf der
Karte, der die Metapher einer Wegstrecke im wirklichen Raum darstellt.
Den Blick auf die Linien oder die Formen der Karte zu richten würde somit darauf hinauslau-
fen, die eine oder die andere der beiden von Michel de Certeau eingenommenen Positionen zu
wählen: die Unterscheidung zwischen dem Ort und dem praktizierten Raum leitet sich nicht
von einer intrinsischen Qualität des tatsächlichen architektonischen Dispositivs, sondern von
unterschiedlichen Hinsichten, von zwei Beobachtungs- und Darstellungsweisen, her. Daraus
folgt, dass ein und dieselbe Karte für beide Wahrnehmungsformen herangezogen werden kann
und [S. 393] je nach Hinsicht als ein Nebeneinander einer Ordnung von Orten oder als durch-
laufener, von visuellen Wegen durchquerter Raum erscheinen kann, welche wirkliche Reisen
auf dem Gelände vorwegnehmen können. Im einen Fall handelt es sich um einen theoretischen
und synoptischen Blick, der sich auf die Struktur der Karte konzentriert, im anderen Fall um
einen bewegten und diskursiven Blick, der den Raum konstituiert, indem er ihn durchläuft,
ihn markiert und eine Reihe relativer Wegmarken sowie die Zeitlichkeit seiner eigenen Fortbe-
wegung, die sich zwischen einem Ausgangs- und einem Zielpunkt entfaltet, darauf projiziert.
Allerdings sind in der Geschichte der Kartographie durchaus Entwürfe belegt, die eher für die
eine oder die andere Art des Blicks gedacht waren. Die beiden Extrembeispiele hierfür wären
einerseits der Pariser oder Londoner U-Bahn-Plan als Paradigma einer Karte, die durchlaufen
werden will, und andererseits die schematischste Form der mittelalterlichen Weltkarte, die sich
ganz auf den Aufriss der T/O-Form beschränkt und sich für einen kontemplativen Blick eignet.
Doch in den meisten Fällen sind beide Hinsichten möglich und können sich im Übrigen sogar
beim Blick auf dieselbe Karte abwechseln, ebenso wie die beiden Arten, New Yorker Wohnun-
gen zu beschreiben, die sich auf komplexe Art gegenseitig voraussetzen und implizieren. Man
kann sich zum Beispiel sehr gut vorstellen, dass die Markierung eines kartographischen Raums
durch eine bestimmte Blickfolge dazu geeignet sein kann, die wichtigsten Linien hervortreten zu
lassen, die eine Region strukturieren (wie zum Beispiel das Netz der Wasserwege oder die Form
eines Territoriums, dessen Küstenlinie man verfolgt), wie auch umgekehrt die ursprüngliche
Bestandsaufnahme der Formen und der Ordnung der Orte in der Folge verschiedenste Wegstre-
cken hervorbringen kann.
Zu dieser ersten Dichotomie, die die kartographische Wahrnehmung steuert, kommt noch eine
zweite hinzu, die sich auf die Bildtheorie berufen kann.60 Dort unterscheidet man eine „opti-
sche“ und eine „haptische“ Lesbarkeit des Bildes: Während erstere den Konturen sowie den
Linien folgt und das Bild semantisch liest, widmet sich letztere eher den Oberflächen, den
Farben und den Texturen, liest den Bildgrund also asemantisch. Dies entspricht nicht genau der
Opposition zwischen der Wahrnehmung von Linien und Formen, da beide im Sinn Alois Riegls
zur „optischen“ Lektüre gehören. Allerdings ermöglicht die „haptische“ Lektüre die Berücksich-
tigung eines wesentlichen Aspekts zeitgenössischer Karten, die den Regeln der „graphischen
Semiologie“ nach Jacques Bertin gehorchen.61 Schraffierte Oberflächen, abgestufte Hinter-
grundfarben, Farbnuancen, die auf einer Werteskala angeordnet sind, Piktogramme oder sym-
60 Alois Riegl, zit. nach Gandelmann, Claude (1986): Le Regard dans le texte. Image et écriture
du Quattrocento au XXe siècle. Paris: Klincksieck, S. 16 f.
61 JD: Die „Sémiologie graphique“ wird von dem französischen Kartographen Jacques Bertin
mit seinem gleichnamigen Standardwerk (1967) begründet.
bolische Zeichen, die die Ausdehnung des Geländes unterbrechen, sind solche Elemente, die
zur Wahrnehmung von Oberflächen und Zonen, [S. 394] zur Vermessung ihrer Ausdehnung und
ihrer Grenzen sowie zur Interpretation ihres Nebeneinanders auffordern. Auf einer Karte, die
diese Form der Semiologie einsetzt, existiert eine Wahrnehmungsebene, die sich in elementaren
visuellen Wahrnehmungen, wie Dichte/Zerstreuung, hoher/niedriger Wert, Zusammenziehen/
Ausdehnung, ausdrückt. Man könnte sogar noch weiter gehen und dem Einsatz von Zeichen
auf der Karte taktile Qualitäten zuweisen, also glatte oder raue, gekerbte, körnige Oberflächen.
Aber im Unterschied zur haptischen Lektüre eines Bildes ist es hier unmöglich, die Semantik
auszuschließen, da die verschiedenen Aspekte der Hintergrundgestaltung einer Karte ihre Ent-
sprechungen und ihre Übersetzung in der Kartenlegende finden – wobei allerdings in bestimm-
ten Fällen die eigentlichen visuellen Bedeutungen denjenigen ihrer sprachlichen Übersetzungen
diametral entgegengesetzt sind; diese Beobachtung ist im Übrigen der Ausgangspunkt des For-
malisierungsversuchs von Jacques Bertin.
Es scheint also zwei übergeordnete Figuren des Blicks auf die Karte zu geben: einen festen, syn-
optischen Blick, der sich an den Formen und an ihrer Topologie festmacht, und einen bewegten
Blick, der auf der Karte umherreist, indem er ihren Linien, d. h. den Ufern und Flüssen, den
Grenzen und den Verkehrswegen folgt. Das Auge folgt dem Umriss einer Insel oder eines Kon-
tinents mit gekrümmtem Blick und mit Unterbrechungen in seinem Bemühen, so genau wie
möglich allen Windungen und Einbuchtungen steiler Küsten zu folgen, oder träge mit den Mäan-
dern der Flüsse mitschwingend. Der Blick wird zur Zeichnung, er ahmt die Feder des Kartogra-
phen nach, dessen gesamte Linien er mit seiner immateriellen Spur langsam, genau und voll-
ständig nachfährt. So kommt man schließlich auch zu einer kontinuierlichen Reise entlang einer
Linie, die sich zu einem Kreis schließen kann, einer Insel- oder einer Weltumrundung, die nur
vom Rahmen der Karte unterbrochen wird (dabei tritt ein geradliniger Abschnitt an die Stelle des
geographischen Verlaufs, der jenseits des Rahmens verschwunden ist). Es handelt sich hierbei
um eine Herangehensweise, die die Welt einkreist, begrenzt, umschreibt, sie streichelt, um eine
erotische Annäherung an die Gesamtheit des Erdkörpers, die von einem sinnlichen Blick ange-
leitet wird, welcher all seinen Krümmungen folgt, jedoch ohne in ihn einzudringen.
Jede Kartierung leistet dem Phantasma einer inselförmigen Welt, die sich dem synoptischen
Blick von oben mit seiner Kontrolle über die Form und mit der Ordnung seiner Orte darbietet,
ebenso Vorschub wie dem bewegten Blick, der ihren Umrissen folgt und ihre Geschlossenheit
erneut bestätigt, zur Bestätigung seines Wissens und als symbolisches Bild der Macht der Ver-
nunft. Der Sprachgebrauch der griechischen Geographie ist in dieser Hinsicht aufschlussreich:
Die ersten Weltkarten werden als periodoi ges bezeichnet, als Wege rund um die Erde: Der Aus-
druck verweist auf eine Umrundung, eine Bewegung, die sich kreisförmig schließt und somit
eine umfassende Gesamtheit verspricht. Ebenso nennt man eine geographische Beschreibung
[S. 395] üblicherweise periegesis und findet auch hier den Gedanken einer Reise und einer kreis-
förmigen Bewegung wieder: Der Geograph führt den Leser durch die Welt und begleitet ihn dabei
wie ein Kind.62
Sobald man jedoch in den Körper der Erde eindringt, bekommt die Kontinuität Brüche. Folgt
man dem Verlauf eines Flusses oder eines Berges, folgt der Blick Liniensegmenten, die auf
beiden Seiten begrenzt sind. Der Blick schneidet sich dabei in die Oberfläche der Karte ein, er
62 Vgl. Jacob, Christian (1990): Denys d’Alexandrie. La description de la Terre habitée ou la leçon
de géographie. Paris: Albin Michel.
hebt ihr Relief hervor, macht sie porös und akzentuiert ihre Bruch- und Flusslinien. Er folgt dem
Lauf der Flüsse, in umgekehrter Richtung von der Mündung bis zur Quelle. Die Reise ist diskonti-
nuierlich, das Auge muss zwischen einzelnen Linien hin- und herspringen und dabei eine Reihe
von Leerstellen überbrücken. Sobald sich das Auge dagegen in das Netzwerk der Straßen und
Wege hineinversetzt, kann es in seiner Imagination eine Reise mit denselben Einschränkungen
wie bei einer wirklichen Reise unternehmen, mit Straßen, deren Windungen man genau folgen
muss, Kreuzungen, Knotenpunkten des Netzes und Verschränkungen mit dem Territorium, mit
den Hierarchien der Verkehrswege, unvermeidbaren Umleitungen und Umfahrungen, mehr oder
weniger direkten Verbindungen usw. Man könnte sich eine Form des Reisens vorstellen, bei der
man bestimmte Straßen- oder topographische Karten nie verlässt, weil die Vielfalt der Kreu-
zungspunkte dazu einlädt, die linearen Bewegungen des Auges der Mathematik der Labyrin-
the unterzuordnen, ganz einem Graphen zu folgen, ohne denselben Weg zweimal zu benutzen
und dafür mindestens einmal jeden möglichen Verbindungsweg zu nutzen.63 Die prähistorische
mexikanische Kartographie lenkt den Blick bisweilen auf besonders hervorgehobene Pfade: Die
Wege werden in Form einer Linie angezeigt, die durch Fußabdrücke markiert ist, welche das
Manuskript von einem Ende zum anderen durchqueren.64
Die Karten, die solche visuellen Wegverläufe nahelegen, sind syntaktische Dispositive im eigent-
lichen Sinn: Sie verbinden, korrelieren und multiplizieren die Beziehungen zwischen den Orten,
die als Punkt eines Graphen, d. h. als Ausgangspunkt, Zwischenstation oder Zielpunkt einer
unendlich großen Zahl möglicher Wege, gedacht sind und sich doch den Verkehrsregeln in
einem Netzwerk fügen müssen. Man hat versucht, diese Art von Karten mit dem Beginn des Zeit-
alters der Klassik und dem Primat der Methode, d. h. dem Weg zur Wahrheit (Descartes, Male-
branche) oder der spirituellen Reise (eine Art von „Kreuzwegen“) in Verbindung zu bringen.65
Die Karte würde somit zu einem der Paradigmen der klassischen episteme werden, bei der die
Bewegungen des Blicks den Wegen der Vernunft entsprächen.
Die Steuerung von visuellen Bewegungen auf der Karte ist dabei jedoch gar nicht unbedingt
auf materiell existierende Linien angewiesen. Solche Bewegungen können umgekehrt auch
ihre eigenen Achsen und ihre eigene Geometrie auf Karten projizieren. Einerseits wären hier die
Bewegungen zu nennen, die sich am Modell der Reise orientieren und auf den großen mythi-
schen Modellen der Bewegung flussaufwärts [S. 396] oder der Fahrt entlang der Küste beruhen.
Ihnen stehen andererseits die Bewegungen gegenüber, die vom Modell der Methode angeleitet
werden und abstrakte Linien auf den Raum projizieren, Kartennetze und Raster, die zu einer
Geometrie der Vernunft gehören, systematische Strategien der Raumbesetzung und, damit
63 Rosenstiehl, Pierre (1980): „Les mots du labyrinthe“. In: Ausst.kat. Cartes et figures de la
terre. Paris: Centre Georges Pompidou, S. 94–103. Vgl. auch Rivière, Jean-Loup (1980): „D’un
point à l’autre“. In: Ebd., S. 93, der sehr treffend die drei Arten visueller Bewegung zusammen-
fasst, um die es hier geht: Der Verlauf kann linear sein, d. h. von einem Punkt zu einem anderen,
kreisförmig, d. h. ausgehend von einem Punkt zu ihm zurückführend, oder netzförmig, d. h. mit
sich schneidenden Linien, bei denen man einen Kreuzungspunkt wählen muss.
64 Musset, Alain (1988): „La Cartographie préhispanique au Mexique“. In: Mappemonde 4,
S. 23–27, hier S. 26.
65 Doiron, Normand (1985): „La Réplique du monde“. In: Études françaises 21/2, S. 61–89, hier
S. 76, der in dieser syntaktischen Organisation des Raums eine religiöse Dimension der Karte
sieht.
einhergehend, der Suche nach Informationen. Aus dieser Kategorie umherschweifender oder
methodischer Blicke könnte man bestimmte Muster gewinnen, die unterschiedliche mögliche
Strategien zur „Linearisierung eines mehrdimensionalen Raums“66 darstellen: Man kann bei-
spielsweise bei der Bewegung über die Erde nacheinander allen Längen- und allen Breitengra-
den folgen (ohne sich damit zufriedenzugeben, dies nur mit einem Breitengrad zu tun, wie Die
Kinder des Kapitän Grant von Jules Verne67), „eine Reise planen, bei der man alle Orte erreicht,
die sich in einer Entfernung von 314,60 km vom eigenen Zuhause befinden, und auf Plänen
sowie Generalstabskarten den dabei zurückgelegten Weg betrachten“,68 sich in einer Zickzack-
bewegung über die Karte bewegen – eine Methode, die an schnelles Lesen erinnert, aber auch
dazu beiträgt, den Raum in verschiedene, parallel zueinander aufgebaute Zonen zu zerschnei-
den. Das visuelle Abtasten kann in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgen und unter-
schiedlich ausgedehnt sein – in seinen feinsten Ausprägungen ermöglicht es, denselben Bereich
doppelt zu erfassen, einmal in jede Richtung. Es erinnert so an die im antiken Griechenland
gebräuchliche Lesetechnik des boustrophedon, die mit der Bewegung der Ochsen auf dem zu
beackernden Feld verglichen wurde. Das Auge kann sich dabei auf das Netz der Meridiane und
Breitengrade stützen, die die Achsen und Zonen für das Abtasten bereitstellen. Die bisweilen von
einer systematischen Nummerierung begleitete Rasterung lädt zu methodischen Bewegungen
von Feld zu Feld auf einer Karte ein, die sich in ein Spielbrett verwandelt hat: Solche Wege sind
streng parallel oder spielerisch, indem sie sich z. B. an die Bewegung der Figuren beim Dame-
oder Schachspiel annähern. Der Blick kann auch eine spiralförmige Bewegung annehmen, von
einem Mittelpunkt ausgehen und sich in konzentrischen Kreisen erweitern.69 Das geometrische
Zentrum, das Herz dieses visuellen Malstroms, saugt den Blick an. Man kann hier ein Dispositiv
erkennen, das den Rumbenlinien verwandt ist, welche als Strahlen von einer Windrose ausge-
hen, den Raum in Sektoren aufteilen und Linienreisen vorstellbar machen (d. h. die Verbindung
eines Ausgangspunktes mit einem Zielpunkt), aber auch ein systematisches Abtasten des karto-
graphischen Horizonts. Eine andere Form der Bewegung besteht darin, die Ortsveränderungen
selbst unsichtbar zu machen und nur die Punkte hervorzuheben, an denen der Blick zur Ruhe
kommt: Die Wahrnehmung der Karte erfolgt dann als Abfolge verschiedener momenthafter und
diskontinuierlicher Anblicke, die jeweils immer nur ein Detail ohne eine verbindende Logik der
Navigation isolieren. Man könnte somit, wie dies Louis Marin vorschlägt, „eine Topik von einer
Dynamik des Blicks unterscheiden bzw. die Richtungen oder Orientierungen von den Messzei-
chen, den strategischen Punkten, den Kreuzungspunkten verschiedener Richtungen“.70
[S. 397] Das Problem der visuellen Bewegung lässt einen grundlegenden Aspekt im Umgang mit
geographischen Karten hervortreten: den Zeitfaktor. Pierre Jourde schreibt treffend: „Bei einer
Karte gibt es keine Lektürezeit, diese ist momenthaft oder unendlich.“71 Nehmen wir zum Bei-
spiel eine große klassische Karte, die Planisphärenkarte von Pierre Desceliers (1550) auf vier
Velin-Blättern, die zusammengesetzt ein 1350 x 1250 mm großes Bild ergeben.72 Diese Karte kann
ihren ganzen Informationsgehalt nur durch regelmäßiges und wiederholtes Studium preisgeben.
Wollte man all das, was sie mitteilt, auf einen Blick oder mit einem einzigen Lektüredurchgang
erfassen, wäre das so, als wollte man sich ein enzyklopädisches Wissen in wenigen Sekunden
aneignen. Die Zeit, die Wiederholung, der kumulative und progressive Wissenserwerb sind in
dieses Dispositiv zentral eingeschrieben. Eine solche Karte eignet sich aufgrund ihrer Ausmaße
und ihrer Universalität nicht für tatsächliche Reisen oder zumindest ist sie, selbst wenn sie
solche Reisen vielleicht zu träumen und vorzubereiten erlaubt, von keinerlei Nutzen, um sich
im Gelände selbst zurechtzufinden und zu orientieren. Dafür liegt ihr eigentlicher Zweck darin,
ihren Raum den Reisen des Blicks und der Imagination zur Verfügung zu stellen. Möglicher-
weise an einer Wand aufgehängt, wie die Karten in den holländischen Interieurs, die Vermeer
gemalt hat, macht sie die Entdeckung der Welt aus dem Alltag heraus möglich, lässt sie ihren
Betrachter mit jedem neuen Blick zum Erfinder einer Insel oder eines Volkes werden, die aus
dem Nichts auftauchen und sich in einem Raum einrichten, der durch den Blick, das Wissen
und die Erinnerung an Struktur gewinnt. Es handelt sich um eine Lese-Karte im Wortsinn mit
ihren 25 in die Karte eingefügten Kartuschen von unterschiedlichen Ausmaßen, die aber alle-
samt mit einer Schrift gefüllt sind, die beschreibt, was man nicht zeigen kann, bzw. die dabei
hilft, das Gesehene besser zu verstehen. Die Fülle an Orten und Ortsnamen bewahrt die Unruhe,
die jedem labyrinthischen Dispositiv innewohnt: Wie kann man sicher sein, nicht schon zum
zweiten Mal dasselbe zu lesen und dafür alles mindestens einmal gelesen zu haben? Eine solche
Karte bedarf einer manischen Genauigkeit, einer Methode, die so zuverlässig ist wie das Uhrwerk
einer Schweizer Armbanduhr, wie sie den großen Romanciers und ihren besonderen Helden
eignet, etwa Phileas Fogg und Bartlebooth73, zwei großen Reisenden, die die Welt unter Berück-
sichtigung eines komplexen Regelsystems umrundet haben (eine Aufgabe, die wohl ebenso
schwer ist wie die Umrundung der Planisphärenkarte von Desceliers): Soll man sich entlang
einer Nord-Süd-Achse bewegen? Oder lieber die große Atlantik-Traverse in Ost-West-Richtung
wählen? Konzentrische Kreise auswählen, die versuchen, jedes Detail zu berücksichtigen, sogar
die Ecken dieses großen viereckigen Raumes? Sich lieber in einer ungeordneten Zickzacklinie
bewegen? Oder aber ganz methodisch und unter Berufung auf die Vorzüge der Metonymie Land
für Land und Kontinent für Kontinent vorgehen? Oder soll man sich [S. 398] einfach den Zufällen
der eigenen Neugier und den Umständen überlassen, die eines Tages dazu führen können, nach
einer bestimmten Information oder einem genauen Ort zu suchen? Eine solche Karte ist eine
Maschine zur Erzeugung imaginärer Reisen. Sie bringt ein immer neues Erstaunen hervor. Sie
ist auch eine Vorrichtung, die den Blick gefangen nimmt, ein visuelles Spinnennetz, das unwi-
derstehlich dazu einlädt, mit dem Wechsel von Nähe und Distanz sowie der Fähigkeit des Auges
zur Verarbeitung und Fokussierung zu spielen: Sie lädt dazu ein, sich zu nähern und sich zu
verirren, von der Unlesbarkeit des synoptischen Überblicks zum kurzsichtigen Blick des Lesers
überzugehen. […]74
74 JD: Das Teilkapitel endet mit spekulativen Mutmaßungen, inwiefern es sich bei der sichtba-
ren Kartographie um Projektionen einer unbewussten Tiefenpsychologie handelt. Da sich diese
Überlegungen nicht mehr direkt auf Linien beziehen und bereits als Überleitung zum nächsten
Teilkapitel fungieren, das sich mit wahrnehmungs- und gestaltpsychologischen Fragen der Kar-
tenlektüre beschäftigt, werden sie hier nicht berücksichtigt.
Es ist also kein Wunder, dass Turner in seinem Rückblick auf die Ursprünge
der US-amerikanischen Geschichte die frontier zunächst explizit als Linie
bezeichnet, selbst wenn er sie eigentlich als dynamische Grenzzone versteht. Die
dynamische frontier leistet für Turner zweierlei: An ihr verwandelt sich unbe-
siedelte Wildnis in Zivilisation, und es wird an ihr in autochthoner, von Europa
unabhängiger Weise immer wieder aufs Neue die amerikanische Demokratie
hervorgebracht und erhalten. Turner sieht damit die immer weiter nach Westen
rückende Besiedelung der frontier evolutionistisch als Teil einer „gesellschaftli-
chen Aufwärtsentwicklung“ (Turner 1947, S. 18) – eine Sichtweise, die sowohl mit
dem organischen Grenzbegriff Ratzels* als auch mit dem ordnungsstabilisieren-
den Verständnis von Landnahme in einem „freien Raum“ bei Schmitt* vermittel-
bar ist (beide kannten Turners These).
So bemerkenswert auch aus kulturtheoretischer Sicht der Gedanke ist, die
„Peripherie“ einer kulturellen Ordnung als Zone der Erneuerung zu verstehen, so
wird doch in der neueren Diskussion um Turner kritisch herausgestellt, wie pro-
blematisch zum einen seine Annahme eines ‚leeren‘, frei besiedelbaren Raumes
ist, und wie wenig Turner zum anderen auf die Geschichte der Sklaverei und der
afroamerikanischen Bevölkerung eingeht. Vor diesem Hintergrund wird die fron-
tier-These zunehmend als moderner Mythos des nation building aus der Perspek-
tive weißer Siedler verstanden; nichtsdestoweniger hat das Konzept der frontier
auch Eingang in die postkoloniale Theoriebildung gefunden (vgl. Ashcroft/Grif-
fiths/Tiffin 2000).
75 JD: Die zahlreichen Fußnoten zu Turners Text werden hier nicht wiedergegeben, da es sich
im Wesentlichen um Literaturverweise handelt, die von primär historischem Interesse sind. Die
Fußnoten sind in der Originalfassung leicht online zugänglich, z. B. unter http://xroads.virginia.
edu/~HYPER/TURNER/, besucht am 5.9.2016.
dehnung, ihre Bewegung nach Westen usw. in den Volkszählungsberichten nicht länger mehr
von ihr die Rede sein.“ Diese kurze amtliche Feststellung bezeichnet den Abschluß einer großen
historischen Bewegung. Bis zum heutigen Tage ist die amerikanische Geschichte in hohem Grade
die Geschichte der Kolonisierung des Großen Westens. Die Existenz eines Freihandelsgebietes,
dessen fortlaufender Rückgang und das Vordrängen amerikanischer Besiedlung nach Westen
erklären die amerikanische Entwicklung.
Hinter den Einrichtungen, hinter den konstitutionellen Formen und Veränderungen liegen die
vitalen Kräfte, welche diese Organe ins Leben rufen und so formen, daß sie den wechselnden
Bedingungen gewachsen sind. Die Eigentümlichkeit amerikanischer Einrichtungen besteht
darin, daß sie gezwungen waren, sich den Veränderungen anzupassen, die eine Durchquerung
des Kontinents durch eine sich ausbreitende Bevölkerung auf jeder Stufe des Fortschritts aus
den [S. 12] primitiven wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der Grenze zur Kompliziert-
heit städtischen Lebens bewirkten. Sagte doch Calhoun im Jahre 1817: „Wir sind ein großes Volk
und wachsen schnell – ich möchte fast sagen – besorgniserregend schnell!“ In diesen Worten
berührte er den Kernpunkt amerikanischen Lebens. Alle Völker entwickeln sich; die Keimthe-
orie im politischen Werden ist genügend betont worden. Im Falle der meisten Nationen aber
hat sich die Entwicklung in einem begrenzten Raum vollzogen; und wenn die Nation sich aus-
breitete, begegnete sie anderen wachsenden Völkern, die sie sich unterwarf. Aber im Falle der
Vereinigten Staaten haben wir ein anders geartetes Phänomen vor uns. Beschränken wir unsere
Aufmerksamkeit auf die Atlantikküste, so begegnen wir dem bekannten Phänomen einer Ent-
wicklung von Einrichtungen in einer begrenzten Zone, so z. B. der Entstehung einer beauftragten
Regierung, der Entwicklung festgefügter Verwaltungsorgane aus einfachen Kolonialregierun-
gen, dem Herauswachsen einer Fabrikzivilisation aus einem primitiven Zustand gewerblicher
Gesellschaft, die den Begriff der Arbeitsteilung noch nicht kennt. Dazu kommt nun noch die
stete Wiederholung des Entwicklungsprozesses in jeder wesentlichen Zone, die ihren Ausdeh-
nungsprozeß bereits abgeschlossen hat. So zeigt die amerikanische Entwicklung nicht nur den
Fortschritt längs einer einzelnen Grenze, sondern eine Rückkehr zu primitiven Bedingungen an
einer sich laufend verschiebenden Grenzlinie, worauf eine neue Entwicklung in dieser Zone ein-
setzt. Die amerikanische soziale Entwicklung hat an der Grenze fortlaufend neu begonnen. Diese
dauernde Wiedergeburt, dieser fließende Zustand amerikanischen Lebens, diese Ausbreitung
westwärts mit ihren neuen Gelegenheiten, ihre fortwährende Berührung mit der Einfachheit
primitiver Gesellschaft liefern die den amerikanischen Charakter beherrschenden Kräfte. Den
wahren Angelpunkt in der Geschichte dieser Nation bildet nicht die Atlantikküste, sondern der
Große Westen. Sogar die Sklavenkämpfe, die so ausschließlich zum Gegenstand der Aufmerk-
samkeit durch Schriftsteller wie Professor von Holst gemacht wurden, erhalten ihre besondere
Bedeutung in der amerikanischen Geschichte durch ihre Beziehung zur westlichen Ausdehnung.
[S. 13] Bei diesem Vordringen bildet die Grenze den äußeren Rand der Ausdehnungswelle, den
Punkt, wo Wildnis und Zivilisation aufeinanderstoßen. Es ist viel über die Grenze geschrieben
worden vom Gesichtspunkt der Grenzkriege und Jagden, wobei man aber die ernste Betrachtung
des wirtschaftlichen und geschichtlichen Werdens außer acht gelassen hat.
Die amerikanische Grenze unterscheidet sich klar von der europäischen Grenze – einer befestig-
ten Grenzlinie, die durch dichte Bevölkerungen läuft. Das Bedeutsame an der amerikanischen
Grenze ist, daß sie am diesseitigen Rande des freien Landes liegt. In den Volkszählungsbe-
richten wird sie als der Rand derjenigen Besiedlungszone behandelt, die eine Dichte von zwei
oder mehr Einwohnern auf die Quadratmeile aufweist. Der Begriff ist dehnbar, und für unsere
Zwecke braucht er keine scharfe Auslegung. Wir wollen den ganzen Grenzgürtel betrachten, ein-
schließlich des indianischen Landes und des äußeren Randes der in den Volkszählungsberich-
ten sogenannten „besiedelten Zone“. In diesem Aufsatz wird nicht der Versuch gemacht, den
Gegenstand erschöpfend zu behandeln; sein Ziel ist nur, die Aufmerksamkeit auf die Grenze
als ein fruchtbares Feld der wissenschaftlichen Untersuchung zu lenken und einige Probleme
anzuschneiden, die in Verbindung hiermit auftauchen.
Bei der Besiedlung Amerikas können wir beobachten, wie europäisches Leben in den Kontinent
eindrang, wie Amerika diese Leben veränderte und entwickelte und wie es auf Europa rück-
wirkte. Unsere früheste Geschichte spiegelt das Wachstum europäischer Keime in einer ame-
rikanischen Umgebung wieder. Dem germanischen Ursprung ist von Kulturforschern eine zu
ausschließliche Aufmerksamkeit zugewendet worden, dagegen viel zu wenig den amerikani-
schen Einflüssen. Die Grenze war die Linie, auf der sich die Amerikanisierung am schnellsten
und wirksamsten vollzog. Die Wildnis meistert den Kolonisten. Sie empfängt ihn als Europäer
in Kleidung, Gewerbe, Handwerkzeug, Reisegewohnheiten und Denkweise. Sie holt ihn vom
Eisenbahnwagen weg und setzt ihn in ein Birkenkanu. Sie streift ihm die zivilisierte Kleidung
ab, um ihn mit Jagdhemd und Indianerschuh auszurüsten. Sie versetzt ihn in das Blockhaus
des Cherokesen und Irokesen und umgibt [S. 14] ihn mit der indianischen Palisade. Schon bald
hat er angefangen, indianisches Getreide anzubauen und mit einem scharfen Stock zu pflügen.
Er stößt den Kriegsschrei aus und skalpiert wie ein Indianer. Kurz, an der Grenze ist der Einfluß
der Umgebung zunächst überstark für den Menschen. Er muß die Bedingungen, die sie stellt,
annehmen oder umkommen. Und so fügt er sich in die indianischen Rodungen ein und folgt
den indianischen Pfaden. Nach und nach wandelt er die Wildnis um, aber das Ergebnis ist nicht
das alte Europa, nicht einfach die Entwicklung germanischer Keime, ebensowenig wie das erste
Phänomen als Rückkehr zum germanischen Wesen gelten kann. Tatsache ist, daß etwas Neues
entsteht, was wir amerikanisch nennen müssen. Zuerst war die Grenze die Atlantikküste. Es war
Europas Grenze und in einem sehr realen Sinne. Indem sie sich westwärts bewegte, wurde die
Grenze mehr und mehr amerikanisch. Ebenso wie aufeinanderfolgende Endmoränen von aufei-
nanderfolgenden Vergletscherungen herrühren, so läßt jede Grenze ihre Spuren hinter sich, und
wenn aus ihr ein besiedelter Raum wird, so behält die ganze Zone die Grenzmerkmale. So bedeu-
tet das Vordringen der Grenze ein stetiges Entfernen vom europäischen Einfluß, ein ständiges
Wachsen der Unabhängigkeit im amerikanischen Sinne. Dieses Fortschreiten zu erforschen, die
Menschen zu studieren, die unter diesen Bedingungen aufwuchsen, und die politischen, wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Ergebnisse dieser Entwicklung zu untersuchen, heißt: den
wirklich amerikanischen Teil unserer Geschichte erforschen. […]76
[S. 17] An der Atlantikgrenze kann man die Keime des Prozesses studieren, der sich an jeder
darauf folgenden Grenze wiederholt hat. Wir sehen hier, wie das vielfältige europäische Leben
von der Wildnis jäh hineingeworfen wird in die Einfachheit primitiver Bedingungen. Die erste
Grenze hatte sich mit ihrer indianischen Frage auseinanderzusetzen, ihrer Frage der Verfügung
über den staatlichen Landbesitz, der Verkehrsmittel, der Ausdehnung des politischen Aufbaus
und der Entfaltung religiösen und erzieherischen Lebens. Und die Lösung dieser und ähnlicher
Fragen für die eine Grenze diente als Vorbild für die [S. 18] nächste. Der amerikanische Forscher
braucht nicht nach jenen „frühesten kleinen Gemeinwesen von Schleswig“ zu gehen, um das
Gesetz der Kontinuität und der Entwicklung zu beleuchten. Er kann z. B. den Ursprung unserer
Landpolitik an der kolonialen Landpolitik studieren; er kann sehen, wie das System dadurch
76 JD: Es folgt in dieser hier übersprungenen Passage eine Übersicht über die Etappen der Be-
siedlung des Westens vom 17. Jahrhundert bis in die Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts.
entstand, daß die Gesetze sich den Gewohnheiten der aufeinander folgenden Grenzen anpaß-
ten. Er kann erkennen, wie die Bergwerkserfahrung in der Bleiregion von Wisconsin, Illinois
und Iowa für die Bergwerksgesetzgebung der Sierras angewendet wurde und wie unsere India-
nerpolitik aus einer Reihe von Versuchen entstand, die an den aufeinanderfolgenden Grenzen
gemacht wurden. Jeder Schöpfer neuer Staaten hat in den älteren das Material für ihre Verfas-
sung vorgefunden. Und jede Grenze hat die gleichen Beiträge zum amerikanischen Charakter
geliefert, wie noch weiterhin ausgeführt werden wird.
Loria, der italienische Nationalökonom, hat dringend zum Studium des Koloniallebens aufgefor-
dert, mit dessen Hilfe man die Stufen der europäischen Entwicklung verstehen könne; er versi-
chert, daß die koloniale Besiedlung [S. 19] für die Nationalökonomie dasselbe bedeutet, was die
Gebirge für die Geologie sind, nämlich die Aufklärung über die Schichten der Urzeit. „Amerika“,
sagt er, „besitzt den Schlüssel für das geschichtliche Rätsel, das Europa jahrhundertelang ver-
geblich zu lösen versuchte, und das Land, das keine Geschichte hat, enthüllt leuchtend klar den
Verlauf der Universalgeschichte.“ In diesen Worten liegt viel Wahres. Die Vereinigten Staaten
verkörpern eine riesengroße Seite im Geschichtsbuch der menschlichen Gesellschaft. Wenn wir
diese Seite eines Erdteils von Ost nach West Zeile für Zeile durchlesen, so finden wir ein getreues
Bild gesellschaftlicher Aufwärtsentwicklung. Den Beginn macht der Indianer und Jäger; dann
folgt die Zerstörung der Barbarei durch das Auftreten des Händlers, dieses Pfadfinders der Zivi-
lisation; aus dem Leben des Viehhalters lesen wir die Geschichte der Weidewirtschaftsstufe;
darauf die Ausnutzung des Bodens durch Einfelderwirtschaft zum Anbau von Mais und Weizen
in dünn besiedelten landwirtschaftlichen Gemeinwesen; der intensiven Bebauung der Felder bei
dichter Besiedlung; und schließlich lesen wir vom industriellen Aufbau im städtischen Fabrik-
system. Diese Seite ist dem Kenner der Volkszählungsstatistik vertraut, aber wie wenig davon
wurde von unseren Historikern benutzt! Besonders in den östlichen Staaten ist diese Seite ein
Palimpsest. Was jetzt ein gewerbetreibender Staat ist, war in einem frühen Jahrzehnt ein Gebiet
intensiver Landwirtschaft. Noch früher war es ein Weizengebiet gewesen, und vorher hatte die
„weite Fläche“ den Viehzüchter angezogen. So ist Wisconsin, das sich jetzt industriell entwi-
ckelt, ein Staat mit mannigfaltigen landwirtschaftlichen Interessen. Aber früher widmete er sich
fast ausschließlich dem Getreideanbau, wie Norddakota zur jetzigen Zeit.
Jedes dieser Gebiete hat einen Einfluß auf unsere wirtschaftliche und politische Geschichte
gehabt; die Entwicklung zu einer höheren Stufe hat sich jedesmal in politischen Umbildungen
ausgewirkt. Aber welcher Verfassungshistoriker hat je einen ernsthaften Versuch gemacht, poli-
tische Erkenntnisse im Lichte dieser gesellschaftlichen Phasen und Veränderungen zu ziehen?
[…]77
[S. 36] Aber die wichtigste Wirkung der Grenze bestand in der Förderung der Demokratie, hier
und in Europa. Wie ich schon andeutete, begünstigt die Grenze die Entstehung des Individu-
alismus. Eine verwickelte Gesellschaftsordnung wird durch die Wildnis in eine Art primitiven
Zusammenlebens, das sich auf die Familie gründet, umgewandelt. Die Richtung ist antisozial.
Sie bringt Abneigung gegen Zwang mit sich, und besonders gegen jeden direkten Zwang. Der
Steuereinnehmer wird als Vertreter der Unterdrückung betrachtet. Prof. Osgood hat in einem
klugen Artikel nachgewiesen, daß die Grenzbedingungen in den Kolonien ein wichtiger Umstand
für die Klärung der Gründe der amerikanischen Revolution sind, wo individuelle Freiheit manch-
77 JD: Es folgt auf den nächsten Seiten ein ausführlicher historischer Überblick über die Phasen
der Besiedlung des amerikanischen Westens.
mal mit dem Fehlen einer Regierungsgewalt verwechselt wurde. Dieselben Bedingungen helfen
uns, die Schwierigkeiten zu erklären, die sich der Errichtung einer starken Regierung zur Zeit
der Konföderation entgegensetzte. Der Grenzindividualismus hat von Anfang an die Demokratie
begünstigt. […]78
[S. 42] Aus den Bedingungen des Grenzlebens formten sich geistige Charakterzüge von größter
Wichtigkeit. Die Reisebeschreibungen über jede Grenze erwähnen von den Kolonisationstagen
an gewisse allgemeine Charakterzüge, und diese, obwohl gemildert, haben sich am Ursprungs-
ort als Überbleibsel erhalten, selbst wenn eine höhere gesellschaftliche Ordnung darauf folgte.
Es ist Tatsache, daß der amerikanische Geist seine auffallenden Eigenschaften der Grenze ver-
dankt. Jene Derbheit und Kraft, verbunden mit Scharfsinn und Wißbegier, jene praktische, erfin-
derische Geistesrichtung, die sich schnell mit Notbehelfen abfindet, jenes meisterhafte Erfassen
materieller Dinge, dem zwar das Künstlerische fehlt, das aber zu großen Endzielen führt, jene
ruhelose, nervöse Tatkraft, jener ausgesprochene Individualismus, der das Gute und das Böse
schafft, und vor allem jene Spannkraft und Lebensfülle, die aus der Freiheit strömt – dies sind
die Charakterzüge der Grenze oder Züge, die anderswo abgelöst werden, weil die Grenze vor-
handen ist. Seit den Tagen, als die Flotte des Columbus in die Gewässer der Neuen Welt segelte,
ist Amerika ein anderer Name für günstige Möglichkeiten geworden, und die Bevölkerung der
Vereinigten Staaten hat ihre Prägung von der unaufhörlichen Ausweitung bekommen, die ihr
nicht nur geboten, sondern sogar aufgezwungen wurde. Derjenige würde ein voreiliger Prophet
sein, der behaupten wollte, daß das Ausdehnungsvermögen des amerikanischen Lebens jetzt
ganz aufgehört hätte. Bewegung ist sein beherrschendes Element geworden, und wenn diese
Wesensbildung ihre Wirkung nicht mehr auf ein Volk ausübt, so wird die amerikanische Tat-
kraft ein größeres Betätigungsfeld suchen. Aber nie wieder werden sich solche Geschenke von
Freiland bieten. Augenblicklich sind an der Grenze die Bande der [S. 43] Gewohnheit zerrissen,
und Zwanglosigkeit triumphiert. Es ist zwar keine völlige Leere. Die eigensinnige amerikani-
sche Umgebung ist da mit ihrer gebieterischen Forderung, ihre Bedingungen anzunehmen; die
ererbte Art zu handeln ist auch vorhanden. Und doch, trotz Umgebung und trotz Gewohnheit
bot jede Grenze ein neues Feld der Möglichkeiten, ein Tor für die Flucht aus der Knechtschaft,
der Vergangenheit. Frische, Vertrauen, Geringschätzung für ältere Gesellschaftsordnungen,
Ungeduld gegen ihren Zwang und ihre Ideen und Gleichgültigkeit gegen ihre Lehren haben
die Grenze begleitet. Was das Mittelmeer für die Griechen bedeutete, indem es die Fessel der
Gewohnheit durchbrach und neue Einrichtungen und Betätigungen erheischte, das und noch
viel mehr ist die immer zurückweichende Grenze für die Vereinigten Staaten unmittelbar und für
die europäischen Nationen in schwächerem Grade gewesen. Und jetzt, vier Jahrhunderte nach
der Entdeckung Amerikas, am Ende von hundert Jahren eines Lebens unter der Verfassung, ist
die Grenze verschwunden, und mit ihrem Verschwinden ist der erste Abschnitt der amerikani-
schen Geschichte beendet.
78 JD: Die folgenden Seiten analysieren die Versuche des Ostens der Vereinigten Staaten, den
Individualismus der Grenzzone politisch wie religiös zu bändigen.
Die Politische Geographie Friedrich Ratzels – so der Titel seines 1897 erstmals
erschienenen Hauptwerks – beruht auf einem Verständnis des Staats als Orga-
nismus, der auch das Verständnis des Autors von Grenzen nachhaltig prägt. Das
Wachstum eines Staats beschreibt Ratzel als ‚normale‘ Entwicklung eines ‚gesun-
den‘ Staats-Organismus, insbesondere in seinen Überlegungen zu den „Gesetzen
des räumlichen Wachstums der Staaten“ (Ratzel 1896). Daraus entsteht seiner
Ansicht nach eine Spannung zwischen einer statischen politischen Grenzziehung
und dem potenziell größeren Lebensraum eines seiner organischen Logik nach
wachsenden Staates: In dieser Logik wird die Grenze in Analogie zur menschli-
chen Haut zu einem „peripherischen Organ“ des Staats (Ratzel 1897, S. 501–517).
Der vorliegende Textauszug ist Ratzels Anthropogeographie entnommen (erst-
mals in zwei Bänden 1882 und 1891 erschienen), wo er für die zweite Auflage von
1899 seine Überlegungen zur Grenze in überarbeiteter und konzentrierter Form
präsentiert.
Selbst wenn Ratzels Rolle als Wegbereiter der deutschen Geopolitik der Drei-
ßigerjahre des 20. Jahrhunderts umstritten ist, wird doch die Anschließbarkeit
eines solchen Denkens, das dem ‚gesunden‘ Staatsgebilde einen natürlichen
Anspruch auf Ausdehnung zugesteht, an die Expansionsphantasien der späteren
deutschen Geopolitik deutlich: In der Anthropogeographie weist er etwa darauf
hin, dass er hinsichtlich des „Werts“ unterschiedlicher Grenztypen „Rassengren-
zen über Kulturgrenzen, Kulturgrenzen über Sprachgrenzen, Sprachgrenzen
über Staatsgrenzen“ (Ratzel 1909, Bd. 1, S. 177) stelle. Allerdings ist die Dynamik
der Grenzverschiebung nach Ratzel immer eine, die sich aus dem Lebensraum
heraus begründet und nicht etwa aus der Überlegenheit einer bestimmten Rasse
über andere.
Hinsichtlich der räumlichen Struktur einer Grenze ist für ihn, wie er in dem
vorliegenden Textausschnitt darstellt, die Linie nur eine „bequemere Vorstel-
lung“, die von der Komplexität der „wirklichen Verhältnisse“ ablenke: Jeder line-
aren Abgrenzung staatlicher Gebilde liege ihrer historischen Entwicklung nach
ein ursprünglicherer, in Bewegung befindlicher „Grenzraum“ bzw. „Grenzsaum“
zu Grunde. Dies bedeutet umgekehrt auch für lineare Grenzen, dass sie nie als
dauerhaft gelten können, sondern jenseits ihrer abstrakten Linienform die natur-
hafte Dynamik ihrer Veränderbarkeit mitgedacht werden muss.
Was die historische These der Vorgängigkeit von Grenzsäumen vor Grenz-
linien betrifft, stützt sich Ratzel im Wesentlichen auf Berichte von zeitgenössi-
schen Afrika-Reisen. In diesem Bezug auf den Grenzsaum als eine bestimmte
Entwicklungsstufe der Geschichte unterscheidet sich sein Denken von dynami-
schen Grenzzonen trotz aller vermeintlichen Nähe auch von aktuellen kulturwis-
senschaftlichen Theorien von borderlands oder border zones.
Inwiefern Grenzdynamiken bei Ratzel naturalisiert werden, zeigt sich ins-
besondere in der Anthropogeographie sehr deutlich daran, dass diese insgesamt
„als Zweig der Biogeographie“ (Ratzel 1909, Bd. 1, S. 1) verstanden wird, mit dem
‚Boden‘ als verbindendem Element aller Lebensformen; die Ausführungen zu
„Grenzen und Küsten“ werden durch allgemeine Überlegungen zu „Lage und
Raum“ vorbereitet: Dort wird bereits die natürliche Tendenz zur räumlichen
Ausbreitung von Lebensformen postuliert, die nach Ratzel an der Grenze „Halt
macht“.
Dünne 2006; Farinelli 2000; Müller 2009, S. 107–125; Ratzel 1892; Ratzel 1896;
Ratzel 1897, S. 447–528
Anthropogeographie. Erster Teil: Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die
Geschichte
Stuttgart: Engelhorn, 1909, S. 169–173.
nur für kurze Reihen von Jahren an derselben Stelle. Das Meer, das scheinbar die sicherste
Grenze bildet, drängt als ein mächtig Bewegtes das Land zurück und erzeugt Veränderungen
der Küsten, an denen die Grenzen gezogen werden, und im Lande selbst gehen Veränderungen
vor, die im Wachstum oder Rückgang der Küstenlinie sich ausprägen. Mit der Veränderlichkeit
aller tellurischen Erscheinungen ist auch die Veränderlichkeit aller an sie sich lehnen-[S. 170]
den Grenzen der Völker und Staaten gegeben, und wir haben auf absolute Grenzen zu verzichten.
Die Natur verschlingt Land und schafft auch neues Land. Keine politische Macht vermochte von
Großbritanniens Gebiet etwas abzubröckeln, aber das Meer hat an einigen Stellen der Südküste
die Grenze in geschichtlicher Zeit landeinwärts geschoben. Den Niederlanden ist jede politische
Eroberung in Europa seit Jahrhunderten versagt, sie haben vielmehr Verkleinerungen sich gefal-
len lassen müssen, aber sie haben Tausende von Quadratkilometern vom Meere gewonnen, das
ihnen alljährlich mit den Schwemmstoffen des Rheines und der Maas neue Landstücke ange-
gliedert. So protestiert der natürliche Wechsel der Dinge an unserer Erde gegen alle dauernde
Begrenzung.
Die Grenzziehung hat in der Natur wie im Völkerleben eine Berechtigung nur in zeitweiligen
Stillständen und in der Kürze der Perspektive, welche uns eine Horizontale, den Ausdruck des
Gleichgewichtes, der Ruhe, dort erblicken läßt, wo bereits die leichte Neigung oder Erhebung,
Ausdruck der Abwärts- oder Aufwärtsbewegung eingetreten ist. Wenn auch die Tatsachen der
Natur, an die die Menschen sich klammern – wie stets das Beweglichere am weniger Bewegli-
chen Halt sucht –, stetiger sind als die der Geschichte, so trennt doch nur ein Unterschied des
Grades die beiden. Grenzverschiebung ist von Bewegung nicht zu trennen, und darin gleichen
sich die Erscheinungen der organischen und unorganischen Natur vollkommen, daß Stillstand
der Grenze nur beim Aufhören der Bewegung eintritt und die Erstarrung des Todes bedeutet.79
117. Die Grenze als Ausdruck einer Bewegung. Wo die Masse in Bewegung zusammenhängend und
gleichförmig ist, da äußert sich die Abschwächung der Bewegung in der Abnahme der Mäch-
tigkeit, wie bei der Welle, die den flachen Strand hinaufstrebt. Wo aber die Bewegung getragen
wird von selbständigen Körpern, wie im Wald oder im Volk, da äußert sich die Abschwächung
darin, daß diese Körper sich voneinander entfernen. Wo endlich eine Abstufung in der Zusam-
mensetzung stattfindet, da gehen die kleineren Gruppen weiter hinaus als die größeren, und
die Einzelnen weiter als die kleineren Gruppen. Jenseits des geschlossenen großen Sprachge-
biets der Deutschen liegen die größeren Sprachinseln, darüber hinaus ziehen einzelne deutsche
Gemeinden, und weiterhin findet man nur noch Einzelne, Zerstreute. Die daraus sich ergebende
Wiederholung der Begrenzung einer und derselben in wechselndem Maße auftretenden Erschei-
nung führt zu den im Wesen konzentrischen Grenzgruppen, wie Festland und Inselsaum, Firn-
fleck- und Firnfeldgrenze, Baum- und Waldgrenze, Grenze des zusammenhängenden und des in
Vorposten aufgelösten oder von einem Kontakthof gemischter Verbreitung umgebenen Volkes.
Ja, jeder Nomadeneinfall hat seine Grenzzone, die innen durch die Linie der Massenbegrenzung,
außen durch die Grenze der Ausläufer gebildet wird. Derartige Grenzen können also nie durch
eine einzige Linie, sondern müssen mindestens durch ein paar Linien, die einen Grenzsaum ein-
79 „Da die Natur überall das Prinzip der Ausgleichung und Nivellierung bekundet und die
scharf aneinander stoßenden Grenzen zu meiden sucht, in denen der Mensch sich so wohl ge-
fällt, bietet sie auch hier den Augen des Forschers einen stets graduellen Übergang dar; an ihren
Grenzen greifen die Gebiete ineinander wie die Finger gefalteter Hände.“ Georg Schweinfurth
(1874): Im Herzen von Afrika. Leipzig: Brockhaus, Teil 1, S. 498.
schließen, dargestellt werden. Bei einer zerstreuten Verbreitung wird aber die Zeichnung der
äußeren Grenze nicht als Linie durchzuführen sein, die den Schein der Gleichwertigkeit mit der
inneren Grenze erweckt, sondern es muß die Andeutung des Saumes genügen.
[S. 171] Wenn die Grenze doppelt zu zeichnen ist, als ein zwischen zwei Linien eingeschlosse-
ner Streifen, so lange sie als Umfassung eines einzigen Gebietes gedacht wird, so wird aus dem
Zusammentreffen zweier Grenzen, welche einander entgegenwachsende Gebiete umfassen, ein
vier- oder dreifaches Gebilde entstehen, in welchem die Elemente von zwei Grenzen vereinigt
sind. Ein solches Grenzgebiet setzt sich in der Regel aus drei Streifen zusammen: eine Welle
hüben, eine Welle drüben, Zusammentreffen, Ineinanderschieben, Vermischung oder auch der
leerbleibende Raum eines neutralen Gebietes dazwischen. So finden wir es in der toten Natur,
wo zwischen Land und Meer die Küste, und zwischen Land und Fluß das Überschwemmungs-
gebiet des Uferstreifens liegt, und so in der Welt der Menschen, wo zwischen den kompakten
Völkergebieten sich die oft breiten Streifen des Überganges entwickeln und wo in alter Zeit zwi-
schen zwei politischen Gebieten, den Vorfahren unserer Staaten, der neutrale Boden der Mark,
der Vorfahr unserer Grenzen, lag. Und wie die Küste und das Ufer selbständigen Entwicklungen
amphibischer Art Ursprung geben, so liegen zwischen den Grenzen großer Völkergruppen die
zersplitterten und von beiden Seiten her zersetzten Zwischenvölker, wie die Romanen der Alpen
zwischen Deutschen und Italienern, die Polen zwischen Deutschen und Russen, die Indianer
der Südwestgebiete der Vereinigten Staaten zwischen germanischen und romanischen Amerika-
nern, zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Einer Grenze, die sich vorschiebt, wächst in
entgegengesetzter Richtung eine andere entgegen: Indien und Rußland in Zentralasien. Wachs-
tum, Zusammenstoß, Rückgang und neues Wachstum folgen einander in diesem Saume, und so
entsteht ein Zwischengebiet, das erfüllt ist von geschichtlichen Resten und in dem die Trümmer
geschichtlicher Zusammenstöße sich anhäufen, wie der Felsschutt zwischen Steilküste und
Brandung. Zum geschichtlichen Bilde eines alten Landes gehört immer dieser Saum.
118. Die natürlichen Grenzen. Dabei treten die vielberufenen natürlichen Grenzen hervor, deren
Bedeutung für die sich entwickelnden Völker wir höher anschlagen möchten als ihre Stellung zu
den fertigen. Die Grenze ist nur Ausdruck der äußeren Bewegung oder des Wachstums der Völker,
die mit dem inneren Wachstum aus demselben Vorrat an Volkskräften schöpft. Je mehr für jene
aufgewendet werden muß, um so weniger bleibt für dieses übrig, je später jene einen Abschluß
erreicht, desto länger zögert sich dieses hinaus. Diese Gunst der Grenzen ist nicht unentbehrlich
zur Reife eines Volkes, aber sie beschleunigt ihren Eintritt und macht das Volk früher „fertig“,
dessen Entwicklung sie im wahren Wortsinn „Grenzen zieht“. Die Bildung Frankreichs in dem
Bestande vor der Revolution erscheint als ein wahres Hin- und Herwogen, besonders zwischen
Westen und Osten, bis die sogenannten natürlichen Grenzen gewonnen waren, in denen sich
nun das neue, von Nordfrankreich ausgegangene keltisch-romanisch-germanische Volk der
Franzosen unter Aufsaugung der fremden Völker ausbreitete. Begünstigt in seinen Grenzen
Ozean und Mittelmeer, Ärmelkanal und Vogesen, ist dieses Volk mit am frühesten unter allen
europäischen fertig geworden. Die Natur selbst machte das Ziel leichter kenntlich, das die räum-
liche Entwicklung des [S. 172] Staates sich setzen mußte, und darin liegt ein Vorzug der franzö-
sischen vor der deutschen Geschichte, der nicht hoch genug zu schätzen ist. Je mehr die Natur
der grenzziehenden Tätigkeit entgegenkommt, um so früher erreicht diese ihr Ziel. Die Klarheit
und Bestimmtheit eines politischen Ideals, in dessen Umrissen nichts Verschwommenes ist, teilt
sich der ganzen räumlichen Entwicklung mit, in der ein so großer Teil der Kräfte eines Volkes
aufgeht, so lange es noch nicht fertig zu sein glaubt. Es liegt in diesem Vorzug sicherlich mehr
als in dem vielüberschätzten Schutze der natürlichen Grenzen.
Die frühe Entwicklung der Insel- und Halbinselvölker zu einem geschlossenen ethnischen und
politischen Charakter ist eine der Grundtatsachen der alten und neuen Geschichte. In der Ent-
wicklung ähnlich gearteter Länder, vor allem Griechenlands, dann auch Großbritanniens, über-
sieht man dieses Motiv, das als „Ersparung äußerer Arbeit zugunsten innerer Arbeit“ bezeichnet
werden könnte, zu leicht über den Schutz- und Verkehrsvorteilen ihrer Lage und Grenzen. […]
120. Linie und Saum. Die Neigung zur Vereinfachung der Vorstellung von den Grenzen führt in den
allerverschiedensten Fällen auf die gleiche, weil nächstliegende Auskunft: die Linie, mit welcher
als Küstenlinie, Linie gleicher Wärme, Firn- oder Schneelinie, Höhenlinie der Vegetation, politi-
sche Grenzlinie die Geographie in ihrer ganzen Ausdehnung zu tun hat. Ob der Gelehrte sie durch
Messung oder die Diplomatie durch einen Vertrag festsetzt, diese Linien sind stets unwirkliche
Dinge. Als Abstraktionen bieten sie den kürzesten und für praktische politische Zwecke an seiner
Stelle zweifellos zu bestimmenden und dadurch wiederzufindenden Ausdruck für das Wesen
einer natürlichen Grenze, das seinem Wesen nach durchaus nicht scharf, vielmehr vermittelt,
verwischt und dadurch ungreifbar ist. Da nun die Wirklichkeit, aus der diese Abstraktionen her-
vorsprossen, immer dieselbe ist, bleibt auch der Weg, der sie auf ihren Boden zurückführt, in
allen Fällen der gleiche: die abstrakte Linie vervielfältigt sich, sobald wir auf ihren Ursprung
zurückgehen, und wir sehen einen Raum entstehen, der zwischen den zwei Gebieten, die wir
vorher durch [S. 173] eine Linie trennten, einen Saum bildet. Die geschichtliche Entwicklung der
Grenzen zeigt auf tieferen Stufen überall mehr oder weniger breite Länder oder Gürtel, durch
die sich die Völker und Staaten auseinanderhalten. Aber auch heutigen Tages vollzieht sich das
Aneinandergrenzen der Länder tatsächlich keineswegs in der Linie, sondern breitere Räume
werden zu Grenzgebieten gestaltet oder Grenzen verschiedener Bedeutung in einem Gebiete ver-
einigt, das dadurch Grenzgebiet wird. Außerdem aber gibt es Beziehungen zwischen den scharf
gezogenen Grenzlinien politischer Bäume und den nie scharf vorzustellenden Grenzen der Spra-
chen-, Rassen-, Kultur-, Religionsgebiete, welche auch die Auffassung jener nicht zur vollen
Schärfe der Abstraktion gedeihen lassen. Und endlich entsteht durch die Beziehungen zwischen
der Grenzlinie und gewissen natürlichen Momenten, an welche sie sich anlehnt, nicht selten ein
Spielraum zwischen diesen und jener, welcher die scharfe Linie zu verbreitern strebt. Es ist von
der größten Bedeutung, die abstrakte Grenzlinie und diese Grenzräume, welche in den meisten
Fällen band- oder gürtelförmige Striche bilden werden, auseinanderzuhalten.
Die Linie vernichtet die der Wahrheit allein gemäße Vorstellung von der Bewegung, dem Wachs-
tum der Verbreitungsgebiete, und tut dies am entschiedensten gerade, wo sie am künstlichs-
ten ist. Mit der politischen Grenze finden wir uns ab als mit einer Tatsache der Übereinkünfte,
daß aber die Völkergrenze, wie sie sich in der Sprachgrenze ausspricht, als Linie zu zeichnen
sein sollte, ist nur im Sinne der Abkürzung oder der groben Verdeutlichung zu verstehen. Nicht
nur, wo es sich um wissenschaftliche Darstellung handelt, ist die Linie zu ersetzen durch die
Bezeichnung der Zugehörigkeit der einzelnen Siedlungen zu einer und der anderen Seite bis zu
der Stelle, wo auf beiden die zusammenhängende Verbreitung beginnt, sondern es ist auch aus
praktischen Gründen sehr wesentlich, die wirklichen Verhältnisse der Verbreitung nicht über
der bequemeren Vorstellung von der trennenden Linie zu übersehen. […]80
Als einer der beiden Gründer der so genannten Annales-Schule (neben Marc Bloch)
rund um die gleichnamige, 1929 erstmals erschienene Zeitschrift interessiert sich
der Historiker Lucien Febvre nicht nur für Fragen der Sozial- und Wirtschaftsgeo-
graphie, sondern in besonderem Maße auch für das Verhältnis von Geographie
und Geschichte. Dies wird vor allem in seiner 1922 erschienenen Monographie La
terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire deutlich: Dort
erhebt er unter anderem Einspruch gegen den ‚Geo-Determinismus‘ der Anthro-
pogeographie bzw. der Politischen Geographie Friedrich Ratzels* zugunsten eines
Possibilismus, den Febvre vom Gründervater der modernen französischen Geo-
graphie, Paul Vidal de la Blache, herleitet. Febvre ist zu dieser Zeit Leiter des
Institut d’histoire moderne in Straßburg – er lebt und lehrt also nach dem gerade
zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg selbst in einer ‚Grenzsituation‘.
Der hier präsentierte Artikel Febvres zur Grenze wird erstmals 1928 veröffent-
licht. Kurz darauf nehmen die Überlegungen zur Grenze im Kontext der Arbeit an
seiner Monographie zum Rhein konkretere Gestalt an (Le Rhin, 1931, in Zusam-
menarbeit mit dem Geographen Albert Demangeon, wird von Febvre für eine
Neuauflage von 1935 überarbeitet; die französische Neuausgabe des lange Zeit
weitgehend vergessenen Buches von 1997 umfasst nur noch den von Febvre ver-
antworteten ersten Teil). Dort beschreibt Febvre die Rheingegend ausgehend von
den städtischen Kulturen, die sich am Rhein angesiedelt haben und den nationa-
len Grenzziehungen seit der Frühen Neuzeit vorausgehen bzw. sie überschreiten:
Auch hier ist Febvres kritische Auseinandersetzung mit einer nationalistischen
Geographie bzw. Geschichtsschreibung zu erkennen, die den Rhein entweder als
‚natürliche Grenze‘ ansieht oder gar als ‚deutschen Strom‘ für sich reklamiert.
Febvre stellt den Rhein dagegen als verbindendes Element zwischen unterschied-
lichen Kulturen dar.
In direkter Auseinandersetzung mit Ratzel*, der, so Febvre, die Geschichte
der Grenzen „von der Grenze selbst“ aus erzählt (er bezieht sich dabei auf Ratzels
Verständnis von einer sich organisch auf einem bestimmten ‚Boden‘ entfalten-
den Lebensform), profiliert Febvre seine dezidiert souveränitätsgeschichtliche
Lektüre der Bedeutung von Grenzen, deren Geschichte nicht ohne die Geschichte
von Staatsformen und der Ausübung staatlicher Gewalt verstanden werden
könne; in diesem Zusammenhang stellt er auch die Annahme natürlicher Grenzen
zwischen den Staaten als „Mythos“ dar.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Febvre auch der Geschichte der Wörter,
mit denen Grenzphänomene bezeichnet werden, vor allem der Unterscheidung
von limite als dominant juristischem und frontière als vorwiegend militärischem
Begriff in der Frühen Neuzeit – eine Unterscheidung, die nach Febvre seit der
[…]81 Es gab […] Grenzen – frontières – lange bevor man sie mit diesem Namen belegte. Kann man
ihre Entwicklung von den ältesten Zeiten bis zu uns nachzeichnen? Man hat es oft versucht und
hat sich dabei im großen und ganzen an folgendes Schema gehalten.
In der antiken Welt, aber auch späterhin, jedesmal wenn die ‚antiken‘ Bedingungen eintreten,
d. h. wenn die menschliche Bevölkerung dünn genug gesät ist, damit die Menschengruppen,
die sich auf geeigneten Territorien niedergelassen haben, nicht zu dicht an ihre Nachbargrup-
pen reichen, zeigt sich, daß um jene Lichtungen von Menschen herum, die untereinander in
engen Beziehungen stehen, isolierende Zonen, Trennmarken existieren, die bald natürlichen
Ursprungs (Sümpfe, Dickichte, Steppen und Weideland), bald mit Hilfe von Axt und Feuer ange-
legt sein können, Werke des Menschen also, der sich vor seinesgleichen schützen will. Caesar
schildert uns die Städte Germaniens, die breite Streifen des unmittelbar an ihr Territorium gren-
zenden Landes verwüsten: civitatibus maxima laus est quam latissime circum se vastatis finibus
solitudinem habere.82 Die Historiker unserer Tage bestätigen Caesars Behauptung und verallge-
meinern sie. Sie zeigen uns beispielsweise, wie die gallischen Stämme ihren Bereich von dem der
Nachbarn entweder durch Sümpfe, ödes Heideland oder – meistens – durch Waldstreifen schie-
den, die Sperriegel zwischen Völker legten. Die Geographen suchen gern am Boden die Spuren
dieser alten Isolierzonen auf, sowohl dort, wo sie, wie in Frankreich, bloß noch eine Erinnerung
sind, als auch dort, wo sie lebendige Wirklichkeit bleiben: etwa in Zentralafrika, wo der Mensch
inmitten des endlosen Urwalddickichts gern „in der Lichtung“ siedelt.
Als Staaten spielen sie noch kaum eine Rolle. Grenzen anderer Art treten auf, als sich die größe-
ren und komplizierteren Staaten gebildet haben und mit Bevölkerungen in Berührung kommen,
welche die Ordnung, den Frieden, die materielle oder moralische Zivilisation, die sie verkörpern,
brechen. Alsdann umgibt sich sehr häufig der große Staat mit einer Verteidigungslinie: sei es
eine Mauer, ein Graben vor einem [S. 31] Palisadenwall, eine Linie vereinzelter, aber durch eine
Straße verbundener Festungswerke, sei es die Mauer des Fürsten, von der ein Bericht aus der Zeit
der zwölften ägyptischen Dynastie handelt, der römische limes oder die Große Mauer, die China
vor den Nomadenvölkern schützt.
81 JD: Der wortgeschichtliche Teil, mit dem Febvres Text beginnt, ist hier ausgelassen.
82 Caesar: De Bello Gallico, VI, 23 [Übers. JD: Den Stämmen der Germanen gereicht es zu höchs-
tem Ruhm, nach Verwüstung eines Gebietes möglichst weit um sich herum Einöden zu haben.]
Als sich aber die allgemeinen Existenzbedingungen der Staaten ändern, als anstelle der großen
Herrschaftsbereiche die kleinen, aus ihnen hervorgegangenen Staaten treten und außerdem die
Fortschritte der Besiedlung und Bewirtschaftung den Wert des Bodens steigern, da verschwin-
den die trennenden Marken, die Schutzwälle, die Gräben und die befestigten Linien. Nicht mehr
an den Rändern seiner Herrschaft richtet der Souverän, ob Individuum oder Kollektiv, seine Ver-
teidigung ein, sondern oft genug geschieht es im Mittelpunkt, in seiner Hauptstadt bzw. – ohne
Rücksicht auf Zentrum und Außenrand – an dafür besonders günstigen Stellen. Die Enden (fins)
der Territorien werden, wenn überhaupt, wie Privatgelände durch Steine oder Pfähle markiert;
aber sie stehen weit offen für feindliche Einfälle. Nach und nach kompliziert und vervollkomm-
net sich dieses System. Während die limite, die Demarkationslinie zwischen in verschiedener
Hand befindlichen Ländereien, dazu tendiert, sowohl präziser als auch einfacher zu werden,
indem sie die Vielfalt der „Enklaven“ und „Exklaven“, die ihrer Regelmäßigkeit abträglich sind,
beseitigt, nimmt die frontière ihren eigenen Verlauf, der sich meist nur grob mit demjenigen der
territorialen Demarkationslinie deckt. Als im modernen Europa am Vorabend der großen Krise,
welche die Französische Revolution hervorruft, die verschiedenen Länder danach streben, sich
innerhalb von immer strenger definierten Grenzen wirklich und nachhaltig zusammenzuschlie-
ßen, verschwindet das alte System der „Enklaven“ und „Exklaven“, und an seine Stelle tritt die
durchgezogene Demarkationslinie, die präzis festgelegte lineare frontière: sie ist nichts anderes
als der auf die Erde projizierte Außenumriß einer ihrer selbst völlig bewußten Nation, die ihre
Ehre, ihre Würde, all ihre Kraft und Macht darein setzt, den Schutz eines homogenen natürlichen
Territoriums zu gewährleisten, also praktisch jeder äußeren Macht zu verwehren, „ihre Grenze
zu verletzen“.
So sieht das Bild aus, das man üblicherweise von der Entwicklung der Grenzen gibt:83 vom
breiten, wüsten und leeren Trennstreifen zur einfachen Demarkationslinie ohne räumliche Aus-
dehnung, von der Unbestimmtheit eines häufig abweichenden Verlaufs zur strengen Bestim-
mung eines mathematisch definierten Umrisses. Gewiß ist diese Darstellung weder uninteres-
sant noch wertlos. Doch sie birgt einige Gefahren, vor denen man sich in acht nehmen muß.
Sollte man nicht vor allem viel gründlicher als bisher sowohl den Begriff als auch die reale
Ausbildung der Staatsgrenzen in den verschiedenen Zivilisationen der antiken Welt erforschen?
Stimmt es, daß auch die für uns mit dem Begriff der Grenze [S. 32] (frontière) verbundene Vor-
stellung von einer Trennlinie relativ jungen Datums ist? Läßt nicht das ganze schöne Bild den
Geist ein wenig träge werden? Treibt es einen nicht dazu, den Tatsachen nur eine einzige, der
Ausgangshypothese entsprechende Erklärung zu unterlegen? In seiner Politischen Geographie
erklärt Ratzel die Entwicklung der Grenze vom weiten wüsten Raum zur raumlosen Linie mit
dem Wunsch nach möglichst umfassender Nutzung eines Bodens, dessen man zunehmend mehr
bedurfte. Eine gut auf die Tatsachen, so wie Ratzel sie hier selbst ausbreitet, abgestimmte Erklä-
rung. Doch widerlegt sie nicht der Eifer, mit dem sich die modernen Nationen ebenso streng in
83 Zur allgemeinen Klassifizierung und zur schematischen Entwicklung der Grenzen vgl. Fried-
rich Ratzel (21903): Politische Geographie, München u. a.: Oldenbourg; Camille Vallaux (1910):
Le Sol et l’État. Paris: Doin, 10. Kap.; Jean Brunhes/Camille Vallaux (1921): La Géographie de
l’Histoire, Paris: Alcan, 8. Kap; Lord Curzon of Kedleston (1907): Frontiers. Oxford: Clarendon
Press. [JD: Febvre nennt hier wohl irrtümlich die bibliographischen Angaben eines Buchs von
C. B. Fawcett (Frontiers. A Study in Political Geography), das 1918 bei Clarendon Press erschien.]
Wüstenstrichen, Morästen oder steinigen Öden voneinander abzugrenzen suchen wie auf den
reichsten und begehrtesten Ackerböden?
Nicht von der Grenze, der frontière selbst also muß man ausgehen, um sie zu erforschen, sondern
vom Staat. Ein bestimmter Staat hat eine bestimmte Grenze (limite) – und gegebenenfalls eine
bestimmte Grenze (frontière) im militärischen und politischen Sinn des Wortes.
Die soeben skizzierte Geschichte der verschiedenen Begriffe, die im Französischen darum
streiten, die jeweiligen Vorstellungen von Territorien am Außenrand eines Landes wiederzuge-
ben – Demarkationslinie, die ein Land von den angrenzenden Ländern trennt, bzw. Schranke
wider mögliche Einfälle und Angriffe der Anrainer –, diese Geschichte geht nicht in dem bloßen
Wunsch, „Boden zu sparen“, auf. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß seit dem 15. Jahr-
hundert die Schreiber und Rechtskundigen Westeuropas eine schärfere Auffassung von der Sou-
veränität des Staats entwickeln.
Das Mittelalter unterschied den Staat kaum oder gar nicht von den anderen Formen menschli-
cher Gesellschaft. Er fand seinen gehörigen Platz in der Reihe der universitates, von denen die
einen largae, die anderen minus largae, die letzten minimae waren, und die ebenso ein mächti-
ges Königreich wie eine schlichte Grundherrschaft, eine Stadtgemeinde wie eine studentische
„Nation“ umfaßten. Zwischen diesen verschiedenen Gruppierungen bestand kein spezifischer
Unterschied; staatliche Angelegenheiten unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen der
Privatleute, und das Territorium des Staates erheischte – etwa um Grenzen zu bezeichnen, die
Privatgrenzen gleichkamen – keinerlei eigene, von der der Abteien oder der Städte unterschie-
dene Terminologie. Resultierte doch dieser Staat aus der Addition, aus der Agglomeration von
mehr oder weniger zahlreichen Grundherrschaften. Diese Grundherrschaften aber waren nicht
in erster Linie Territorien, sondern Rechtsgebilde. Zudem war der Begriff von territorialer Souve-
ränität noch kaum entwickelt. Häufig besaß ein und dasselbe Territorium mehrere Souveräne.
Die Ausbildung des Begriffs der Souveränität im 15. und 16. Jahrhundert, die zunehmende Aus-
breitung eines Gefühls nationaler Zugehö-[S. 33]rigkeit bei den Untertanen der sich stärker orga-
nisierenden Staaten, der wachsende Machtanspruch der Fürsten, die sich immer mehr Armeen,
Artillerien und Kriegsgerät zulegen; darin gründen letzten Endes sowohl der Bedeutungswech-
sel des Wortes frontières als auch seine parallel zu der des Wortes limites verlaufende Entwick-
lung in der Sprache des 16. und 17. Jahrhunderts. All das dauert bis zur Revolution an. Dann tritt
eine neue Krise ein, eine schöpferische Zeit. Aus einer Ansammlung von Untertanen, Vasallen,
Mitgliedern eingeschränkter Gemeinschaften macht die Revolution die Körperschaft der Bürger
eines Staates. Sie schafft die internen Schranken zwischen ihnen ab, um sie machtvoll zusam-
menzuschließen und zu einer kohärenten Masse mit klar umrissenen Kanten zu formen. Zuvor
setzte man seinen Fuß über die limite; Aristokraten, Gebildete, Händler übertreten sie ohne Auf-
hebens. Die frontière existierte nur für die Militärs und die Fürsten, und auch das nur in Kriegs-
zeiten. Nach der Revolution ging man nicht nur daran, die Demarkationslinie, die zwischen
Frankreich und den Nachbarländern verlief, so gut es ging zu regulieren, sondern verzichtete
auch bei der militärischen Grenze (frontière), der Entwicklung folgend, auf die Festungen auf
fremdem Boden, die man über die Ränder des zu verteidigenden, wenn nicht zu vergrößernden
Landes hinausgeschoben hatte. Die Linie der Grenzen (limites) wird zu einer Art Graben zwi-
schen deutlich geschiedenen Nationalitäten. Obendrein wird sie zu einer moralischen Grenze
(frontière), die sich rasch mit allem Haß, aller Rachsucht und allen Schrecken belud, die in
Frankreich und im Ausland von der Französischen Revolution hervorgerufen wurden. Daß aber
endlich frontière unter Beibehaltung seiner alten militärischen Bedeutung synonym mit limite
geworden ist, daß wir dies heute bevorzugen, um die mit Grenzsteinen und -pfählen abgesteckte
Außenkante des Landes zu bezeichnen – beruhen nicht diese neuesten Veränderungen darauf,
daß man eine ständige, allgemeine Wehrpflicht eingerichtet und die Nation völlig militarisiert
hat? Man kann die großen Verträge, die Ludwig XIV. geschlossen hat, von vorne bis hinten lesen,
man wird nie das Wort frontières noch das Wort limites finden. Es sind keine Territorien, die da
annektiert werden. Es sind Lehen, die man von der einen Krone löst, um sie einer anderen anzu-
heften, sie, ihre zugehörigen Gebiete und abhängigen Herrschaften, die sich nicht unbedingt in
einer Hand befinden. Heute? Zwanzig Mann in Waffen überschreiten eine Grenze (frontière). Die
Diplomaten geraten in Aufruhr. Unter Umständen kann dies der casus belli sein.
Einen Begriff haben wir bisher unerwähnt gelassen, der, nachdem er eine große Rolle in den
alten Geographieabhandlungen gespielt hatte, bei den Diplomaten und Juristen84 Zuflucht fand:
den alten, traditionellen Begriff der natürlichen Grenzen.
[S. 34] Allerdings hat er im Gebrauch der heutigen Juristen viel von seinem früheren Glanz ein-
gebüßt. Wenn sie sagen (und das tun sie alle), daß der Staat von Grenzen (frontières) umgeben
ist, die entweder natürlich oder künstlich sind, so beschränken sie sich darauf, eine Tatsache zu
konstatieren. Bisweilen verlaufen die Demarkationslinien über plattem Land von einem Pfahl
zum nächsten. Bisweilen auch folgen sie einem Bach, einem Fluß, einer Meeresküste. Einer
natürlichen Grenze mithin – im Gegensatz zu künstlichen Grenzen. Bloß fügen diejenigen, die
sie so bezeichnen, sogleich hinzu, daß weder Flüsse noch Küsten oder Gebirge von sich aus eine
Staatentrennung bewirken. Dazu bedarf es einer oder mehrerer Konventionen. Nehmen wir
einen ganz einfachen Fall: wo verläuft die Grenze entlang einer Meeresküste? Die einen sagen:
in Kanonenschußweite. Die anderen: drei, vier oder sechs Seemeilen zu 1852 m vor dieser Küste.
Die Küstengrenze hat offenkundig weder mit Geographie noch mit Natur zu tun. Sie ist kon-
ventioneller Art, ebenso wie etwa die Flußgrenze, die weder dem Ufer folgt noch der Mitte des
Bettes, sondern der Achse des Talwegs, d. h. der Fahrrinne, die die Schiffer auf der Talfahrt bei
Niedrigwasser nehmen…
Verläßt man nun das heikle Gelände des Völkerrechts, um sich in die alten Gefilde der Geschichte
zu flüchten, so bemerkt man bald, daß es dort ehedem mit den frontières naturelles eine noch
viel schlimmere Bewandtnis gehabt hat:85 Wenn im Frankreich des Ancien Régime Publizisten
oder Staatsmänner unter Berufung auf Caesar und den berühmten Text der Commentarii erklär-
ten, der Ozean, die Pyrenäen, die Alpen und der Rhein bildeten die natürlichen Grenzen Frank-
reichs; wenn die Männer der Revolution, so Danton in seiner berühmten Rede vom 31. Januar
1793, im Namen der jungen Republik die jahrhundertealte Doktrin formulierten: „Ihre Grenzen
hat die Natur gesteckt; wir brauchen nur den vier Seiten des Horizonts zu folgen, vom Rhein her,
vom Ozean her, von den Alpen her“ – so war das keine Tatsache, die diese Männer anführten,
sondern ein Naturrecht, das sie beanspruchten. Oder wenn man will: einer schmucklosen Rea-
lität setzten sie einen verführerischen Mythos entgegen, der zwar mehrfach seine Bestandteile
gewechselt hatte, aber nach wie vor als schöne Vision am Horizont der Franzosen stand…
Muß man noch länger darauf herumreiten, daß diese Fluß- oder Küstengrenzen nichts „Natürli-
ches“ haben, oder allgemeiner, daß der Geograph mit der Vorstellung von natürlichen Grenzen
84 In juristischer Sicht behandeln alle Schriften zum Völkerrecht den Begriff. Vgl. die breite,
allerdings etwas konfuse Darstellung bei Ernest Nys (1904): Le Droit International, Bd. 1. Brüssel/
Paris: Castaigne, S. 412 u. 532.
85 Zur Kritik des Begriffs der natürlichen Grenze aus geographischer Sicht vgl. Lucien Febvre
(1922): La Terre et l’évolution humaine, Paris: La Renaissance du Livre, Teil IV, Kap. 1; vgl. auch die
bereits zitierten Werke von Vallaux (1910) sowie Brunhes/Vallaux (1921).
nichts anfangen kann, daß es nichts von der Natur für den Menschen „fertig Gegebenes“ gibt,
nichts was die Geographie der Politik aufgezwungen hätte? Diesen schon oft erfolgreich geführ-
ten Beweis noch einmal zu führen, erübrigt sich um so mehr, als in der Formel „Ihre Grenzen hat
die Natur gesteckt“ die Natur nur eine Maske ist: die Maske einer alten historischen und [S. 35]
politischen Realität, deren sich die Menschen nach Jahrhunderten noch erinnerten. Denn was
sind der Rhein, die Alpen, die Pyrenäen anderes als die Grenzen Galliens? Natürliche Grenzen?
Nein. Historische Grenzen, fast möchte man sagen römische Grenzen, denn sind nicht alle
Länder Europas, die mit einem ähnlichen Mythos zu tun haben, allesamt „römische“ Länder:
Italien, Spanien, Griechenland? Übertreiben wir nur nicht; erwecken wir nicht den Eindruck, in
Frankreich sei der Mythos der natürlichen Grenzen stets derselbe geblieben. So war es nämlich
nicht. […]86
Der israelische Architekt Eyal Weizman, der am Goldsmiths College der Univer-
sity of London als „Professor of Spatial and Visual Cultures“ tätig ist, beschäf-
tigt sich mit Grenzen an der Schnittstelle von Architektur, Politik und Recht. Er
bekennt sich dabei offen zum ‚interventionistischen‘ Vorgehen seiner eigenen
wissenschaftlichen Tätigkeit. Seine aktuellen Forschungen kreisen vor allem um
Anwendung von Gewalt im „humanitarian government“: So wird in dem von ihm
ins Leben gerufenen Projekt „Forensic Architecture“ Architektur- und Medien-
forschung dazu verwendet, urbane Schauplätze von Gewalt als „dense data and
media environments“ (Weizman u. a. 2011, o.S.) zu analysieren, um diese Daten
bspw. für Menschenrechtsorganisationen, die den Einsatz von staatlicher oder
institutioneller Gewalt dokumentieren wollen, juristisch verwertbar zu machen.
In seinen wissenschaftlichen Publikationen der Nullerjahre beschäftigt sich
Weizman vor allem mit der eigentümlichen Territorialität der israelisch-paläs-
tinensischen Grenzgebiete. Dabei profiliert er ein Verständnis des architektoni-
schen Raums als „politische Plastik“ und geht dabei von einer nicht nur kulturell
geformten, sondern einer aktiv formenden Kraft der Territorialität aus: Diese wird
in einer geopolitischen Lektüre der Machttheorie Nietzsches als Feld möglicher
Machtentfaltung gefasst, um, so Weizman in einem Interview, „zu verstehen,
[…] auf welche Weise Materialität und Territorialität dazu beitragen, Konflikten
Gestalt zu verleihen, anstatt nur durch sie in eine bestimmte Gestalt gebracht zu
werden“ (Weizman/Davis/Turpin 2013, S. 65).
86 JD: In der Folge beschäftigt sich Febvre ausführlicher mit dem Mythos der natürlichen Gren-
zen Frankreichs als Reduktion der Komplexität tatsächlicher territorialer Verhältnisse in der
Frühen Neuzeit.
Ein Grenzszenario
[…]87 Im Gegensatz zur Geografie stabiler, statischer Orte und der Balance, die durch lineare
und feststehende Grenzen der Souveränität zwischen den Gebieten auf ihren beiden Seiten
87 JD: Das einleitende Beispiel der Auseinandersetzung um die Anhöhe Migron im Westjor
danland, das Weizman exemplarisch als „Brennpunkt der territorialen Auseinandersetzung“
herrscht, zeichnen sich Grenzregionen durch räumliche Tiefe aus. Sie sind fragmentierte und
elastische Gebiete, die sich verschieben können. Zeitweise geltende Grenzziehungen, die durch
provisorische Markierungen sichtbar gemacht werden, sind nicht auf die Umrisse politischer
Räume begrenzt, sondern existieren in deren gesamter Tiefe. Unterscheidungen zwischen dem
Innen und dem Außen können nicht eindeutig markiert werden. Je gerader, geometrischer und
abstrakter die offiziellen kolonialen Grenzziehungen in den „Neuen Welten“ ausfielen, umso
mehr zeugen sie davon, wie stark die de facto beherrschten Gebiete tatsächlich zerstückelt, in
ihren Konturen verschwimmend und daher durch keine konventionelle kartografische Technik
erfassbar waren.88 Man kann die Besetzten Palästinensischen Gebiete als eine solche komplexe
Grenzregion verstehen. Verglichen allerdings mit früheren Imperien – die laut verschiedenen
Überlieferungen bestenfalls in 40 Tagen zu Pferde zu durchmessen waren – leben die 2,5 Mil-
lionen Palästinenser und 500.000 jüdischen Siedler innerhalb der 5.655 Quadratkilometer des
Westjordanlandes wie auf einem Stecknadelkopf. Auf diesem sind, wie Sharon Rotbard einmal
erwähnte, „die explosivsten Ingredienzien unserer Zeit, alle modernen Utopien und alle alther-
gebrachten Glaubensüberzeugungen (versammelt) und brodeln dicht beieinander, gleichzeitig
und ohne Sicherheitsvorkehrungen“.89 Diese Gebiete sind zum Schlachtfeld geworden, auf dem
verschiedene Vertreter staatlicher Macht und unabhängige Akteure aufeinander treffen und
ihrerseits mit örtlichem und internationalem Widerstand konfrontiert sind. Innerhalb dieses
Konfliktfelds sind wiederum triviale Elemente der Städteplanung und Architektur zu taktischen
Instrumenten und zu Mitteln der Enteignung geworden. Unter dem israelischen [S. 11] Regime
einer „unberechenbaren Besatzung“ werden das Leben der Palästinenser, ihr Besitz und ihre
politischen Rechte regelmäßig verletzt, und das nicht nur durch die häufigen Übergriffe der isra-
elischen Armee, sondern auch durch einen Prozess, der ihre Umgebung in unvorhersehbarer
Weise laufend umgestaltet und sie dabei immer enger einschnürt.
Gewöhnlich betonen Darstellungen des Kolonialismus die Rolle der Neuordnung des Raums
entlang gewissen rationalen Organisationsprinzipien, Klassifizierungen, Prozeduren und einer
geordneten Administration als wesentliches Moment eines Systems von Governance und Kon-
trolle. Das oben skizzierte Szenario jedoch verdeutlicht, dass in den Besetzten Palästinensi-
schen Gebieten die Neuordnung des geografischen Raums nicht allein Sache der israelischen
(Weizman 2009, S. 8) zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern vorstellt, wird hier
nicht wiedergegeben. Auch im Folgenden werden Passagen mit überwiegend lokalem Bezug
oder Vorverweise auf die Einzelanalysen der Studie für den Zweck dieser Zusammenstellung
nicht vollständig wiedergegeben.
88 Entgegen gängiger Strategien entstanden Grenzen nicht durch die Ausdehnung Europas
nach Amerika, Australien oder Afrika. Sie waren Teil der Territorialität vormoderner Imperien.
Die Randgebiete der antiken römischen und chinesischen Imperien, wie auch die der Azteken
und Inkas, bestanden in tiefen, sich verschiebenden und unscharf definierten Bereichen des
kulturellen Austauschs und der Kriegsführung, in denen Schlachten mit Völkern ausgetragen
wurden, die man seit dem antiken Griechenland als „Barbaren“ bezeichnete. Diese Imperien
beruhten eher auf einem flexiblen Verhältnis von Macht, Handel und Zugehörigkeit zwischen
Zentrum und Peripherie als auf territorialer Nähe. Vgl. Paul Hirst (2005): Space and Power: Poli-
tics, War and Architecture. Cambridge: Polity Press, S. 63–64.
89 Sharon Rotbard (2002): „Preface“, In: Rafi Segal/Eyal Weizman/David Tartakover (Hg.): A
Civilian Occupation. The Politics of Israeli Architecture. London/Tel Aviv: Verso, S. 15–16.
Regierung ist, sondern vielmehr in den Händen verschiedener, oft auch nichtstaatlicher Akteure
liegt. Die Art, wie die Besetzten Gebiete räumlich organisiert werden, spiegelt nicht nur einen
geordneten Planungs- und Umsetzungsprozess wider, sondern – und das in zunehmendem
Maße – den eines „strukturierten Chaos“, wobei das – häufig beabsichtigte – selektive Ausblei-
ben von Regierungshandeln einen wildwüchsigen Prozess der gewaltsamen Enteignung fördert.
Die Akteure in diesem Grenzgebiet – junge Siedler, das israelische Militär, der Mobilfunkanbie-
ter und andere kapitalistische Firmen, Menschenrechts- und politische Aktivisten, bewaffnete
Widerstandskämpfer, Fachleute im humanitären und juristischen Bereich, einzelne Ministe-
rien, ausländische Regierungen, „Unterstützergemeinden“ im Ausland, staatliche Planungsin-
stanzen, die Medien, der israelische Oberste Gerichtshof – spielen bei allen Unterschieden und
Widersprüchlichkeiten ihrer Zielsetzungen doch alle ihre Rolle im Rahmen des diffusen und
anarchischen und dennoch kollektiven Gestaltungsprozesses dieser Räume. Weil elastische Geo-
grafien auf vielfältige und multiple Quellen der Macht reagieren und weniger auf eine einzige,
ist die Architektur dieser Räume nicht als materielle Verkörperung eines einzigen politischen
Willens oder als Produkt einer einzigen Ideologie zu verstehen. Die Gestalt der Besetzten Gebiete
kann man sich eher als eine Art „politischer Plastik“ vorstellen oder als Karte der Beziehungen
zwischen allen Kräften, die auf sie eingewirkt haben.90
Die Architektur der Grenzregion kann nicht einfach als eine „politische“ bezeichnet werden;
man sollte sie eher eine „in Material gegossene Politik“ nennen. […]
90 Der Konflikt kann als Kraftfeld verstanden werden. Für Nietzsche ist Territorium, ähnlich
einer aus Feldern unsichtbarer Energie bestehenden kosmischen Sphäre, ein „Substrat der Kraft“.
Vgl. Friedrich Nietzsche (1988): Nachgelassene Fragmente 1884–1885. In. F.N.: Kritische Studien-
ausgabe. Hg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari. München/Berlin: dtv/de Gruyter, Bd. 11, S. 561
[36/25]. Gemäß Gilles Deleuzes und seiner Lektüre von Michel Foucault: „[Macht] ist kein Attribut,
sondern ein Verhältnis: das Machtverhältnis ist die Gesamtheit der Kräfteverhältnisse, die ebenso
durch die beherrschten wie durch die herrschenden Kräfte hindurchgeht […].“ Gilles Deleuze
(1992): Foucault. Übers. v. Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 43. Vgl. auch S. 55, wo
Deleuze den Begriff „Karte der Kräftebeziehungen“ benutzt. In Anlehnung an Deleuze beschreibt
der Architekt und Theoretiker Greg Lynn Flexibilität als die stetige Entwicklung und Veränderung
von Form: „Pliancy allows architecture to become involved in complexity through flexibility…“
Und an anderer Stelle: „curvilinear sensibilities are capable of complex deformation in response
to programmatic, structural, economic, aesthetic, political and contextual influences.“ Vgl. Greg
Lynn (1998): Folds, Bodies & Blobs: Collected Essays. Brüssel: La Lettre volée, S. 110, 115. […].
Sie können sich sogar durch Wände fressen und in palästinensische Wohnzimmer einbrechen.
Die anarchische Geografie der Grenzen ist ein sich nach und nach herausschälendes Bild der
Verwandlungen, das sich mit jeder politischen Entwicklung oder Entscheidung verändert und
neue Formen annimmt. Vorposten und Siedlungen mögen geräumt und entfernt werden, doch
neue werden gegründet und wachsen. Die Standorte von Kontrollpunkten der Armee ändern
sich ständig und blockieren oder kanalisieren den Verkehr der Palästinenser unablässig und auf
immer neue Weise. Mobile Militärstützpunkte stellen die Brückenköpfe dar, die die Logistik sich
ständig ändernder Einsätze aufrechterhalten. Die israelische Armee dringt in palästinensische
Städte und Flüchtlingslager ein, besetzt sie und zieht sich dann wieder zurück. Die Trennungs-
mauer, lediglich eine von einer Vielzahl von Barrieren, wird laufend umgeleitet, und ihr Verlauf
reagiert seismografisch auf politische und juristische Auseinandersetzungen, die sich an ihr
festmachen. Wo Gebiete durch israelische Mauern und Zäune hermetisch abgesperrt erscheinen,
werden palästinensische Tunnel unter ihnen hindurchgegraben. Die elastischen Territorien sind
also keine freundliche Umgebung: hochgradig dehnbarer politischer Raum birgt häufig mehr
und sogar tödlichere Gefahren als ein statischer und starrer.
Die dynamische Morphologie der Grenzregion ähnelt einem unendlichen Meer, durchsetzt von
Archipelen, die sich vermehren und aus ethno-nationalen Enklaven bestehen. Diese sind nach
außen hin abgeschottet, nach innen homogen – das Ganze unter dem Schild der israelischen
Luftüberwachung. Innerhalb dieses einmaligen territorialen Ökosystems existieren aneinander
angrenzend, in- oder übereinander verschiedene andere Zonen: solche politischer Piraterie,
„humanitärer“ Krise, barbarischer Gewalt, voll gültiger, „schwacher“ oder vollkommen fehlen-
der Staatsbürgerschaft.
[S. 14] Die Elastizität des Grenzbereichs bedeutet nicht, dass israelische Wohncontainer, Häuser,
Straßen oder gar die Betonmauer selber weich oder nachgiebig wären, sondern dass die unauf-
hörliche räumliche Reorganisation der politischen Grenzen, die sie markieren, in Reaktion auf
politische und militärische Konflikte geschieht. Die unterschiedlichen Bewohner dieser Grenz-
region verhalten sich nicht unbedingt innerhalb der festgelegten räumlichen Enklaven – Räum-
lichkeit als abstraktes Koordinatensystem, innerhalb dessen sich etwas abspielt, ist nicht der
Hintergrund, auf dem sie agieren, vielmehr ist sie das Medium, das jede ihrer Handlungen aus-
zureizen, zu verändern oder sich anzuverwandeln trachtet. Mehr noch, in diesem Kontext ist die
Beziehung zwischen Raum und Handlung nicht als die einer starren Hülle um einen weichen
Inhalt zu verstehen. Die politische Aktion geht vollständig auf in der Durchdringung, Umwand-
lung, Ausmerzung und Untergrabung des Räumlichen. Die Vorstöße Einzelner können, wenn
sie durch Medienwirkung entsprechend verstärkt werden, gelegentlich durchschlagender sein
als das Handeln der israelischen Regierung. […] Obwohl es oft so aussieht, als würde die elasti-
sche Grenze nur dem Druck der einen Seite nachgeben – dem der kolonialistischen Expansion –,
manifestiert sich doch auch die Kraft der Kolonialisierten: wenn sie mit Erfolg standhaft behar-
ren, auch beträchtlichen Widrigkeiten zum Trotz nicht zurückweichen und das nicht nur durch
den Einsatz politisch motivierter Gewalt, sondern auch durch gelegentliche kluge diplomatische
Schachzüge und die Mobilisierung der internationalen öffentlichen Meinung. […]
nensischer Kontrolle bestanden lediglich aus 200 Fragmenten Erdoberfläche, während Israel
das gesamte Land um sie herum, die riesigen Grundwasservorkommen unter ihnen sowie den
militärisch beherrschten Luftraum über ihnen kontrollierte. Der Horizont scheint dazu bestimmt
worden zu sein, als eine der zahlreichen Begrenzungen zu dienen, die der Konflikt geschaffen
hat. So fand eine Revision traditioneller geopolitischer Vorstellungen statt, die den Boden unter
den Füßen und die Luft über den Köpfen zu etwas von der Oberfläche der Erde Unterschiedenem
und Getrenntem macht, statt zu etwas organisch im Kontinuum mit ihr Verbundenem.
Dementsprechend manifestieren sich die verschiedenen Grenzen, die den Konflikt kennzeich-
nen, als topografische Höhenlinien. Die Siedlungsplaner waren bestrebt, in der Westbank
dadurch territoriale Kontrolle zu erlangen, dass sie die Siedlungen auf den obersten Partien des
hügeligen Terrains errichteten. Über diese zersplitterte Geografie hinweg wurden die verschiede-
nen israelischen Sied-[S. 20]lungen durch Infrastrukturen miteinander verwoben, die sich durch
den dreidimensionalen Raum ziehen: Straßen, die israelische Siedlungen verbinden, werden
auf weit ausgreifenden Brückenkonstruktionen verlegt, die über palästinensischen Straßen und
Ländereien schweben, oder aber in Tunnels unter ihnen wegtauchen, während enge palästinen-
sische Unterführungen unter mehrspurigen israelischen Autobahnen liegen.
Palästinensischen Kämpfern ist bald aufgegangen, dass israelische Mauern und Barrieren in drei
Dimensionen leicht umgangen werden können. Menschen und Sprengstoff werden regelmäßig
durch Tunnel unter den Mauern, die Gaza umgeben, geschmuggelt, und hausgemachte Raketen
werden durch den Luftraum über ihnen abgefeuert. Wenn die Mauer im Westjordanland erst
vollendet ist, werden sicher Tunnel durch den felsigen Untergrund der dortigen Hügel getrieben
werden. […]
[S. 22] Diese massiven Infrastruktursysteme, die provisorische Grenzlinien durch souveräne
dreidimensionale Räume ziehen, stellen die physische Grundlage einer einmaligen Form des
politischen Raums dar: eines Raums, in dem man verzweifelt das Untrennbare durch die Ver-
vielfachung einer einzigen territorialen Realität und die Schaffung zweier insularer nationaler
Geografien zu trennen versucht. Die beiden nationalen Geografien, die auf demselben Gebiet
Platz haben sollen, „sprengen“ jedoch, wie es der israelische Historiker Meron Benvenisti so
überzeugend formuliert, „drei Dimensionen in sechs auseinander: in drei israelische und drei
palästinensische“.91 Im Verlauf des gesamten Prozesses zeichnete sich immer deutlicher Paläs-
tina als ausgehöhltes Land ab, das als Hologramm erscheint. Es könnte der Fantasie des bri-
tischen Astronomen Edmond Halley aus dem 17. Jahrhundert oder den Romanen eines Edgar
Allan Poe oder eines Jules Verne aus dem 19. Jahrhundert entsprungen sein, die eine hohle, in
Schichten bewohnte Erde vorhergesehen hatten.92 Damit ging die Herausbildung imaginärer
Konflikträume einher, die scheinbar die Form eines Gebäudes, einer komplexen Architektur,
etwa der eines Flughafens, angenommen haben, mit seinen separaten Ebenen für ankommende
und abreisende Passagiere, Sicherheitsschleusen und einer Vielzahl von Kontrollpunkten. Das
hohle Land entsteht als physische Vergegenständlichung der vielfältigen und zahlreichen Versu-
che, es zu teilen: zerschnitten und umschlossen durch seine zahlreichen Absperrungen, ausge-
weidet durch unterirdische Tunnels, überspannt und zusammengefügt durch Hochstraßen und
bombardiert aus einem militärisch verfinsterten Himmel.
91 Meron Benvenisti (2001): „An Engineering Wonder“. In: Ha’aretz (5. Juni 1996) […].
92 Jules Verne (2010): Reise zum Mittelpunkt der Erde [1864]. München: dtv. Edgar Allan Poe
(2000): The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket [1850]. London: Penguin Classics.