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Aus W. Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Bd. 1: 1839–1912.

München 1980

ROBERT DE LA SIZERANNE

D e r fo lg e n d e T e x t b e d a r f d e r ein le ite n d e n K o m m e n tie ru n g k a u m , da er selbst eine


A r t E in le itu n g ist, eine H in fü h r u n g z u den P ra k tik e n u n d kü n stlerisch en Z ielen der
K u n stfo to g ra fie, v e r fa ß t f ü r ein L a ie n p u b lik u m , f ü r die L eser d e r fra n zö sisc h e n K u T
tu rze itsc h rift » R e v u e des d e u x M ondes«. M an h a t h ier die g a n ze S tra teg ie d e r p ik to -
riahstischen Ä s th e tik zu s a m m e n : den R e fo rm g e d a n k e n , die B e to n u n g d e r K ü n stle r­
rolle einerseits u n d d er M a te ria lie n andererseits, das g leich zeitig e S treb en nach
K u n st- u n d N a tu r n ä h e u n d die vorsichtige B efassung m it P rägen d er M ed ie n g e re ch ­
tig keit. D e r T e x t ist so anschaulich, sa ch ku n d ig u n d w e rb e w irk sa m , d a ß er große
V erb reitu n g f a n d u n d sein em V erfasser den R a n g eines » C h efid eo lo g en « , z u m in d e s t
d er fra n zö sisch en K u n stfo to g ra fie einbrachte. R o b e rt de la S ize ra n n e (D a ten u n b e ­
k a n n t) w a r ein fra n zö sisc h e r K unstschriftsteller, dessen spezielles In teresse d er V er­
m ittlu n g englischer K u n s t u n d K u n stth e o rie gehörte.

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34. ROBERT DE LA SIZERANNE, IST DIE FOTOGRAFIE EINE KUNST?

In der Kunst des Schwarz-Weiß beginnt sich einiges zu verändern. Eine neue Bewe­
gung hat die Fotografie erfaßt und läßt sie die gewohnten Wege verlassen. Diese
Bewegung ist international. Ob in Wien oder in Brüssel, ob in London oder in Paris,
ob auf den Terrassen Taorminas oder an der Koromandel-Küste, überall, wo es
Fotografen gibt, da scheinen sie von Experimenten gefesselt, die den Chemikern
unbekannt sind, und von Sorgen gepackt, die ihre Vorgänger nicht kannten. Sie
wandern lieber im Freien, im Wald, auf dem Feld oder an den Ufern, sogar in
Gegenden, die nicht für ihre Sehenswürdigkeiten bekannt sind, und zu Stunden, da
die Sonne nicht scheint. Was suchen sie? Wenn ein Fotograf der alten Schule ihnen
folgt und sie beobachtet, wird er sich entsetzen. Er sieht, wie sie vor einer ganz
unbedeutenden Örtlichkeit haltmachen, vor einem Stück Heide mit blühendem Gin­
ster, am Rande eines Weihers, »wo die Binsen ewig rauschen«. Dort sieht er mit
Schrecken, wie die jungen Kollegen gegen alle Regeln der Kunst verstoßen. Sie
stellen sich gegen das Licht, gegen die Sonne. Sie beziehen nicht einen sorgfältig
gewählten Standort. Kaum zu glauben, aber er entdeckt, daß sie sich nicht immer des
Linsensystems bedienen, das man O b jektiv nennt.
Wenn er ihr Atelier betritt, dann ist sein Erstaunen nicht geringer. Wo ist das
Glashaus, wo die Vorhangsysteme, wo die Lichtführung, die man für ein gutes Bild
für unentbehrlich hält? Wo ist das Kopfeisen, das den Patienten ruhig hält, wo die
rustikale Bank, die torsierte Säule und der Baluster? Wo sind die Felsen aus Karton
und der mit einem Wasserfall bemalte Hintergrund, wo sind all diese Gegenstände,
die in unseren alten Foto-Alben die Umgebung der geliebten Personen entstellen?
Nichts mehr von alledem ist da, sondern ein einfaches Zimmer, nach jeder beliebigen
Himmelsrichtung gelegen, manchmal sogar nach Süden, mit verblaßten Tapeten und
angefüllt, in lockerer Ordnung, mit fröhlichen, schönen, altmodischen Gegenstän­
den, mit Peplen, Tuniken, Hüftpaniers, Pierrot-Halskrausen, Hüten im Stil unserer
Großmütter, Ridikuls, die die Schönen des Directoire entzückten, Taschentüchern,
die die Sieger von Austerlitz begrüßten, oder aber mit einfachen Bändern von Mus­
selin, Gaze, Satin und Samt, mit amorphen und wechselhaften Gebilden wie dem
»Cabriolet« der Miß Helyett und dem Filzhut des Tabarin, mit bändergeschmückten
Bäumchen, mit Körben voll Blumen und das alles in einer Unordnung verteilt, wie
sie beim Antiquar oder beim Schneider herrscht.
Ist der Mensch, der über diese Gegenstände regiert, ein Fotograf? Hier herrscht
nicht der ernste und gebieterische Ton des alten Fotografen, der mit dem Gorgonen-
Wort so viele Generationen von Kindern über befransten Armlehnen und von Jung­
verheirateten mit sehr engen Handschuhen erstarren ließ: »Bitte nicht bewegen!«
Nein, diese Fotografen hier lieben all das, was sich bewegt: die Wolke und das Blatt,
das Wasser, den Blick und das Lächeln. Das schwarze Tuch, das einst ihre Schultern
umhüllte, ist gefallen, und sie mischen sich unter die Menge, weniger Magier als
Menschen. Sie sprechen nicht von C12H60 4, sondern von Versen der Dichter oder

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Ästheten. Sie zitieren häufiger Stendhal als Herschel, Fromentin häufiger als Jans­
sen. Sie fliehen nicht vor den Künstlern. Sie reden mit ihnen aus freien Stücken, aber
nicht in der Lehrerrolle, um ihnen die wahren Bewegungen des gehenden Menschen
oder des trabenden Pferdes beizubringen, sondern als Schüler, die begierig sind, von
der Erfahrung der Meister zu lernen und aus der Realität all das zu entfernen, was
dem Ideal nicht zuträglich ist. Schließlich arbeiten sie unendlich lange an einem
einzigen Abzug. In diesem Punkt kennt die Entrüstung des alten Profis keine Gren­
zen mehr. Denn er sieht sie wie Graveure über eine Platte gebeugt, mehr als eine
Stunde für jeden Abzug aufwendend, sich Mühen machend, die einem Aquarellisten
wohl anstünden. Sind das nicht Retuschen? Noch einmal: Was suchen sie? [ . . . ]
Fragen wir uns weiter, warum die Fotografie, die einst so einmütig von den
Künstlern verachtet wurde, sich heute schon in den Randbezirken der Kunst
bewegt. Untersuchen wir, ob der Fotograf eine neue Rolle im Ablauf der chemi­
schen und mechanischen Prozesse spielt. Prüfen wir, ob diese Rolle ausreicht, um
den Stempel seiner Individualität dem Verfahren aufzuprägen. [ . . . ] Heute ist die
Lust am Inventarisieren und Registrieren geschwunden. Die Künstler suchen nicht
mehr das Detail, sondern das Ganze, nicht mehr die Anhäufung von Fakten, son­
dern die Vereinfachung der Idee. Sie suchen nicht mehr die Stunden des hellen
Sonnenlichtes, wo man alles deutlich erkennt, sondern die Stunden der Dämmerung,
wo man manches erahnen muß. Sie haben sich daran erinnert, daß es ein künstleri­
scher Irrtum ist, wenn man alles definieren will, denn angesichts einer vollkommen
definierten Sache bleibt für die Phantasie nichts zu tun. Das Unbestimmte ist dage­
gen der Weg zum Unendlichen. Dieses Tal, dieser Hügel, diese Mole, banale Gegen­
stände, wenn man sie in allen Konturen erfaßt und in ihrer Zweckmäßigkeit beur­
teilt, werden, halb vom Nebel verschleiert, auf einmal interessant, weil man sich
ihrer weniger sicher ist, und merkwürdig, weil sie einem weniger geläufig sind. Das
Verschwommene verhält sich zum Deutlichen wie die Hoffnung zur Übersättigung.
Es entspricht einem Gefühl, das wir im Leben so sehr lieben, jener süßen Unsicher­
heit des Seelenzustandes, wo schon die Hoffnung durchdringt, aber die Gewißheit
sich noch nicht einstellt, wo alles versprochen, aber noch nichts gegeben, alles
Ahnung, nichts Sicherheit ist, wo die Figuren, die Landschaften, der Himmel und
die Erde, ja selbst die Liebe undeutlich den Morgennebeln entsteigen - niemals der
trockenen Atmosphäre des Mittags.
Reicht das, um eine Kunst zu begründen? Gewisse Details des fotografischen
Bildes zu unterdrücken ist gut, aber damit dieses Bild ein Kunstwerk wird, reicht es
nicht, daß bestimmte Fehler unterdrückt werden, sondern es bedarf auch der Exi­
stenz einiger Qualitäten. In erster Linie bedarf es der erkennbaren oder ahnbaren
Existenz einer menschlichen Hand, nicht einer Maschine. Die Kunst muß hier »der
Mensch, der Maschine beigegeben« sein, um Bacon zu parodieren. [ . . . ]
Wenn wir den Vorgang des Fotografierens beobachten, dann finden wir, daß der
Fotograf zu drei verschiedenen Zeitpunkten in entscheidender Weise eingreift.
Zuerst einmal wählt er in der Natur das Objekt aus, das er darstellen will. Das klingt

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sehr einfach, ist es aber ganz und gar nicht. »In der Natur«, sagt Corot, »gibt es
keine zwei gleichen Dinge«, und seine Kollegen, die mit ihm vor der Natur malten,
Bertin und Aligny, schrieben ihm das große Verdienst zu, daß er am besten »sich
hinzusetzen wußte«. Es ist in der Tat eine Wissenschaft für sich, den richtigen Punkt
zu finden, von dem aus ein Gegenstand betrachtet werden will, und nicht nur den
Standpunkt, sondern auch die Jahreszeit, Stunde, Witterung, den Seinsgrund des
Motivs: Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? Denn auf der
einen Seite kann der schönste Gegenstand der Welt ein mittelmäßiges Sujet für ein
Bild abgeben, wenn es nicht unter dem wünschenswerten Blickwinkel, im ä s th e ti­
schen Mo me n t gesehen wird, und auf der anderen Seite - wieviele wunderbare
Sujets stecken in den einfachsten Dingen, die uns umgeben, wenn das Herz und die
Augen sie zu entdecken wissen? Ein gewundener Weg, ein gerades Gatter, ein
rauchender Kamin, ein gekrümmter Baumstamm, ein gebogener Ast, eine Pfütze, in
der der Himmel sich spiegelt und mit all seinem Wolkenschmuck erzittert - das ist
genug. Um uns herum malt die Natur ständig flüchtige, aber liebliche Bilder. Man
muß sie nicht erst erschaffen, sie sind ja da, aber man muß sie sehen. »Es ist ein
glücklicher Zufall«, sagt Jules Breton, »wenn einem die Natur als fertiges Gemälde
erscheint!« Und Frederick Walker, der bewunderungswürdige Maler des Bildes
»Hafen der Zuflucht«, sagt: »Die Komposition ist nichts anderes als die Kunst, einen
glücklichen Effekt festzuhalten, den man zufällig wahrgenommen hat.« Es ist weder
ausreichend, noch notwendig, sich vor den Felsen von Etretat oder vor das Schloß
von Chillon oder vor den Turm von Saint-Honorat oder auf die Iles de Lérins zu
stellen, um ein Meisterwerk hervorzubringen. Die »malerischste« Landschaft gibt
kein Sujet für den her, der aus der ständigen Verwandlung der Natur nur einen
Aspekt voller Monotonie auszuwählen weiß. Sehen-Können, das ist eine große
Sache, vielleicht die entscheidende. [ . . . ]
Aber der Fotograf interveniert noch ein zweites Mal und diesmal im Entstehungs­
prozeß des Bildes: bei der Entwicklung des Negativs. So wie er in der Natur Stunde
und Wirkung ausgewählt hat, so wählt er für das Negativ die Skala oder den Nenner
der Tonwerte. Jedermann weiß, was das heißt, ein Negativ entwickeln. Man legt es
in eine Flüssigkeit, die allmählich das Bild sichtbar werden läßt, welches die sensibi­
lisierte Platte latent enthält. Je nach Zusammensetzung dieser Flüssigkeit und ihrer
Veränderung während des Entwickelns bekommt man ein mehr oder weniger hart
entwickeltes Bild, in dem die Schatten und die Lichter mehr oder weniger kontrast­
reich ausfallen. Der Fotograf kann diesen Kontrast abstufen und kann so in gewis­
sem Sinne den Natureindruck modifizieren. Mehr noch, er kann, wenn das auch
schwieriger ist, Teile des Bildes deutlicher herausholen als andere, den Himmel z. B.
im Gegensatz zur Erde, und er kann ihnen so mehr Kraft und Solidität verleihen.
Hier allerdings endet das Vermögen des Künstlers über das Negativ. Er wird keine
Retuschen anbringen. Aber seine Arbeit ist noch nicht ganz getan, wenn das Negativ
entwickelt ist. Der professionelle Fotograf hört hier auf: er wäscht seine Hände und
überläßt es seinen Angestellten, die Abzüge nach Bedarf herzustellen. Der Künstler

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dagegen nimmt sein Negativ und betrachtet es mit Aufmerksamkeit wie eine einfache
Skizze, die unter seiner Anleitung das Instrument gezeichnet hat. An ihm ist es nun,
aus dieser Studie ein Bild zu machen. Der Profi glaubt, daß seine Aufgabe beendet
ist, der Künstler, daß seine erst anfängt. Denn eigentlich erst beim Abzug intervenie­
ren das Gefühl und das Können des Menschen, und jetzt erhält seine Entscheidungs­
gewalt ihre Revanche gegen die automatische Gewalt des Verfahrens. Das Negativ ist
Sache der Maschine, aber der Abzug ist Sache des Menschen, so wie der Stil der
Mensch ist. Deswegen erkennt man manchmal das harte und flache Negativ in dem
schimmernden und fein modellierten Bild nicht wieder, das der Künstler davon
gemacht hat. [ . . . ]
Der einzige materielle und technische Fortschritt, der hier stattgefunden hat, ist
die Einführung der Pigmentpapiere. Man weiß, daß es drei Sorten Foto-Papiere gibt:
die weißen Papiere wie das Albumin-Papier, die sofort unter der Wirkung des Lichts
schwarz werden, ohne daß man in diesen Vorgang anders eingreifen kann als ihn zu
stoppen; dann die Brom-Papiere, die man anfangs in einem schwachen Bad entwik-
kelt, um dann das Erscheinen des Bildes durch mit dem Pinsel aufgetragene Ent­
wicklerlösung zu beschleunigen; schließlich das Karbon- oder Gummi-Bichromat-
Papier, das eingefärbt ist, in Van Dyck-Braun oder im Ton von Gebr. Siena, und
von dem man behutsam mit Pinsel und Wasser all die Stellen entfernt, die das Licht
nicht sehr stark fixiert hat, all die Partien bewahrend, die als Bild erscheinen sollen.
Das Bild entsteht so nach und nach durch Abt r agen. Diese Papiere erlauben ein
sehr langsames Arbeiten. Die Entstehung des Bildes ist von dem direkten Eingriff
der Hand abhängig und gehorcht so einem veränderlichen Willen und nicht einem
ehernen Naturgesetz.
Man sieht sogleich, wie die Rolle des Menschen bedeutsamer geworden ist. Zu
welch schwächlichem Wesen und zu welch erniedrigenden Funktionen war einst der
Fotograf reduziert. Von dem Moment an, da das Negativ ins Entwicklerbad tauchte,
ging alles ohne sein Zutun vor sich. Über seine Becken voll giftiger Flüssigkeiten
gebeugt, wartete er bewegungslos, ohnmächtig und passiv, bis die tödlichen Säuren
ihre Arbeit getan hatten. Das war ein zugleich komischer und feierlicher Vorgang.
All das geschah in der Einsamkeit wie das Verbrechen, in der Dunkelheit wie der
Verrat. [ . . . ] Heutzutage sind die Fenster des Ateliers halbverdunkelt. Der Abzug
liegt nicht mehr lang in einem Silber- oder Gold-Bad. Er liegt auf einer Zeichenplatte
wie ein Aquarell. Ein Schwamm wird ausgepreßt und glänzende Tropfen reinen
Wassers laufen über das Papier: durch diesen intelligenten und lichtbringenden
Regen entsteht ein Gesicht, wird größer und klar. Da entstehen die nackte Schulter,
der geschwungene Hals, die geordneten Haare, die gekrümmte Linie der Stirn und
die Rundungen der Backen, die im Hell-Dunkel verschwimmen. Langsam, träge wie
ein kleines Kind, das wach wird, öffnet das Bild den Mund, dann die Augen. Der
Schatten wird konkreter und spricht mit; er lächelt, er wird alles sagen, wenn der
Künstler einhält. Man erinnert sich an den wahren Satz Bretons, daß man in der
Kunst »nicht alles sagen darf«. Die Poesie entsteht aus dem Unbekannten. Und was

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die Bilder so reizvoll macht, das ist der Umstand, daß sie nicht wie viele reale
Personen die Illusion ihrer Schönheit durch zu viele Worte zerstören und daß ihr
unablässiges Schweigen uns glauben macht, daß ihr inneres Leuchten ihrer Ausstrah­
lung gilt.
Der Künstler verläßt sein Atelier; das volle Tageslicht fällt auf den Abzug, und
sogleich erkennt man all das, was der Mensch in ihn investiert hat. Er ist nicht die
Ausgeburt des Zufalls und der Materie. Der Geist hat mehr als die Materie ver­
mocht, der Wille mehr als der Zufall. Verstand und Herz haben zusammengearbei­
tet, und wo Irrtum und Unsinn möglich sind, da können auch Liebe und Wahrheit
sein. Und wenn man zu dem Ergebnis gekommen ist, daß das Bild schön sei:
welchen Namen gibt man ihm dann? Werden wir ihm den Titel Kunstwerk verwei­
gern, weil das Wörterbuch es Fotografie und nicht Kohle-, Rötelzeichnung oder
Lithographie nennt und weil der Künstler nicht mit einem Stückchen versteinertem
Holz, sondern mit dem Sonnenstrahl gearbeitet hat? Man wird sagen: Ein Kunst­
werk ist der einzigartige Beleg künstlerischen Denkens und Fühlens. Von dem
Moment an, da man unendlich viele Reproduktionen davon haben kann, wie man
Abzüge von einem Negativ machen kann, da verliert es seine besondere Qualität und
wird zu einem Gegenstand der Massenfabrikation. Man befindet sich jedoch in
einem Irrtum, wenn man glaubt, man könne eine unendlich hohe Zahl künstlerischer
Abzüge von einem Negativ hersteilen. In Wirklichkeit ist jeder Abzug, der im
Gummi-Bichromat-Verfahren auf getöntem Papier durch Abtragen entsteht, ein
Unikat. Er kann mehrere Male scheitern. Und wenn man einen guten Abzug erhal­
ten hat, dann ist es selten, daß es noch einmal gelingt. Und wenn es noch einmal
gelingt, dann ist es ein anderer Abzug geworden als der erste. Wenn man will, ist es
eine Replik, aber kein Duplikat. Mehr noch als eine Radierung ist eine Fotografie
von Demachy ein Original.
Schließlich ist es ebenso ein Irrtum zu glauben, daß die hier interessierenden
Künstler von dem gleichen Gegenstand das gleiche Bild hervorbringen - durch ihre
Maschinen gezwungen. Der Abdruck, den ihre Persönlichkeit in ihren Werken hin­
terläßt, ist so unverkennbar, daß man oft nicht nach der Signatur schauen muß, und
nach mehreren Ausstellungsbesuchen verwechselt man ebensowenig Fotografien
von Demachy mit denen von Puyo oder Arbeiten von Craig-Annan mit denen von
Le Bègue, wie man versucht wäre, eine Landschaft von Montenard Harpignies oder
eine Nymphe von Bouguereau Burne-Jones zuzuschreiben. Dieser Abdruck der
Persönlichkeit ist der Hauptbeschwerdegrund, den die professionellen Fotografen
gegen die Amateure Vorbringen. Das ist nicht mehr, sagen sie mit Verachtung, reine
Fotografie; das sind Retuschen. Aber selbst wenn dieser Vorwurf zu Recht
bestünde, könnte er die Beurteilung des künstlerischen Wertes nicht beeinflussen. Ist
der Eindruck ästhetisch, gleich welche Mittel angewandt wurden? Auch wir lieben
nicht das Arbeiten mit Gouache in einem Aquarell. Aber der Grund ist der, daß die
Gouache das, was sie berührt, schwerfällig macht - am Ende ist sie weniger künstle­
risch als das »freie« Aquarell. Wenn uns zufällig eine Gouache vorgelegt würde, die

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leichter ist als ein Aquarell, dann würden wir ihr sofort unsere Bewunderung zollen,
ohne den Künstler wegen des Deckweißes zu schelten, das er gebraucht hat. Woher
kommt dann der sehr berechtigte Abscheu gewisser Amateure vor der Retusche? Er
kommt aus der richtigen Beobachtung, daß die Retuschen den Abzug schwerfällig
machen, die Konturen verdicken, über den Rest der unmanipulierten Töne mitent­
scheiden und so die Homogenität der fot ogr af i schen Fa k t u r zerstören. Aber
wenn es gelingt, daß die Retuschen nicht verdicken und überformen, sondern sich so
harmonisch mit dem Rest verbinden, daß man nicht sagen kann, wie weit sie gehen,
dann würde der Abscheu verschwinden, und die Retusche wäre legitim. In Wirklich­
keit gibt es in den neuen Arbeiten keine Retuschen, wenn man darunter das Malen
auf der Glasplatte oder das Zeichnen auf der Gelatineschicht versteht - Praktiken,
die bei den professionellen Fotografen weit verbreitet sind und denen wir diese
matten und schweren Hintergründe und die Pergamenthaut verdanken, welche die
Menge in so vielen Schaukästen bewundert. Was dagegen an den neuen Werken zu
beobachten ist, das ist die Bearbeitung des Abzugs. Und diese Arbeit hat nicht das
Abstoßende der Retusche, sie erfolgt so harmonisch und homogen in ihrer Faktur
wie die Arbeit mit Tusche oder Sepia, und da man diesen Techniken nicht vorwerfen
kann, sie retuschierten, da alles an ihnen Retusche ist, kann man den Vorwurf auch
nicht länger gegenüber den neuen Versuchen der Fotografie aufrecht erhalten.
Man wird nun sagen, wenn es so sehr anderen Verfahren der Kunst ähnelt, warum
dann dieses neue Verfahren? Und man hätte Recht, so zu fragen, wenn die Fotogra­
fie nicht einige Qualitäten besäße, die nur ihr eigen sind. Zuerst einmal, wenn sie ein
kluger Geschmack und ein feiner Sinn für Stellungen leitet, dann zeichnet sie ganz
wunderbar. Die Genauigkeit des Objektivs, die so störend wirkt, wenn die Modelle
ganz aus der Nähe gesehen werden oder zu gleichmäßig ausgeleuchtet sind oder in
den Accessoires untergehen, wird zu einer Qualität, wenn das Gesichtsfeld hinrei­
chend begrenzt ist, die Gesamtwirkung großzügig, wenn die Finien lang, geschmei­
dig, einfach geführt werden, so daß sie gerade sich vor dem Grund abheben, aber
kontinuierlich verlaufen. Es gibt eine Fotografie von Puyo, die eine Penelope an
ihrem Webstuhl zeigt, wo die Kurven der Haare, des Nackens, der Schulter und des
Rückens von Ingres nicht besser hätten getroffen werden können. [ . . . ]
Weiterhin ist die Fotografie fähig, unendlich nuanciert, geschmeidig und sanft zu
modellieren. Nur der Wischer vermag in den graphischen Techniken annähernde
Ergebnisse zu erzielen. Es geht hier nicht darum, die Überlegenheit einer nervösen
Radierung oder eines feinen Stiches zu verneinen: aber gibt es nicht gewisse kaum
wahrnehmbare Übergänge vom Ficht zum Schatten, die das Relief der Körper und
des Inkarnats angeben, gewisse Schatten, die Feonardo »dolce e sfumose« nennt,
»auf das Papier gehaucht«, wie Ruskin sagen würde, bei deren Wiedergabe die
Fotografie unbestrittener Meister ist? Um das in Schwarz-Weiß wiederzugeben, was
in der Natur der Modellierung Feonardos gleichkommt, wie schwer hat es da jedes
andere Verfahren, mit der Natur gleichzuziehen! Wo der Griffel oder der Stift mit
kleinen unterschiedlichen und folglich unregelmäßigen Strichen arbeiten, da wirkt

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die Fotografie durch Tonwerte, die ineinander übergehen, die von einheitlicher
Textur und unendlich fein abgestuft sind. Sie bindet das Relief der organischen
Körper durch ihre Faktur zusammen und unterscheidet es durch ihre Tonwerte -
genauso wie es die Natur selbst macht. Aus dem Grunde, daß sie keine Akzente
setzen kann, d. h. keiner abrupten Unterbrechung fähig ist, ist sie dem Stift überle­
gen, wenn man gleichmäßige Übergänge vom Schweren zum Leichten, von der
Nacht zum Tag erreichen will. Der Stift hat hohe ideographische Qualitäten. Er gibt
die Idee eines Gegenstandes durch die Silhouette und durch seine Begrenzung im
Raum, er gibt nicht seine Essenz. Wenn der Zeichner die ausgegrenzte Fläche ausfül­
len will, dann spürt er die Unvollkommenheit seines Instruments. Es ist eine Grille
von Ingres, wenn er sagt, »daß auch der Rauch durch den Strich dargestellt werden
müsse«. In Wirklichkeit kann man den Rauch nur durch den Ton ausdrücken. Und
jeder Schatten ähnelt mehr oder weniger dem Rauch. Wenn man nicht mit Strichen
allein eine Figur schattieren kann, dann muß man, was die delikate Tonabstufung
und die Unfehlbarkeit des Konturs anbelangt, die Überlegenheit der Fotografie
anerkennen.
Schließlich ergreift die Fotografie besser als der schnellste Stift der Welt gewisse
wertvolle Effekte, die auf Grund ihrer Vielfalt oder auf Grund ihrer Kürze kaum
faßbar sind: eine Wolke, die am Flimmel zieht, eine wandernde Herde, eine Armee,
die über Hügel und Täler ausschwärmt, eine Meute, die wütend dem Wildschwein
hinterherjagt, die Brandung der Wogen, die gegen ein Riff oder gegen den Strand
laufen, die Strömungen, die sich im Meer bilden, und die feinen Spuren, die jede
Welle, dieser geschickte und geduldige Bildhauer, im Sand zurückläßt, und der
mehrmalige Flügelschlag der Tauben, die sich nach einer eleganten Drehung nieder­
lassen, wie jene Seelen, die Dante durch seinen barmherzigen Schrei anlockte, das
Spiel der Grübchen im Gesicht einer lachenden Frau, die schnelle Muskelreaktion
eines überraschten Mannes und die Strudel einer Menschenmenge - all das, was der
Wind, der Sturm, die Gravitation, das Feuer, die Hoffnung, der Zorn, die Freude
biegt, bewegt, fallen läßt, in Brand steckt, packt, zusammenzieht oder erheitert! Wie
oft bedauert der Zeichner, daß er nicht den subtilen Verlauf einer Geste oder den
Vorgang einer Gruppierung oder einen flüchtigen Lichteffekt festhalten kann. Es
gibt also Gründe für einen Künstler, bei bestimmten Gegenständen manchmal zum
Objektiv und nicht zum Stift oder zum Tuschepinsel zu greifen. Wenn es auch in
mancher Hinsicht weniger elastisch ist, so ist es doch ein subtileres und schnelleres
Instrument. Man kann es weder als unnütz noch als unangemessen für die Wieder­
gabe einer Idee bezeichnen. Es kann weder die anderen Verfahren ersetzen, noch
können diese die Fotografie ersetzen.

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