You are on page 1of 36

I.

WALENTINOW

Das Kesseltreiben
Zwei Erzählungen aus Afrika

VERLAG NEUES Ü B E ! ) BERLIN


»

Alle Rechte vorbehalten


Copyright 1953 by Verlag Neues Leben, Berlin W 8
Lizenz Nr 303 • Gen.-Nr 305/101/53
Umschlagzeichnung: Eberhard Binder, Staßfurt
Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben
Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15'30
Das Kesseltreiben

„In dieses Dorf dort müssen wir gehen." Nenow drehte sich zu mir
um und zeigte mit der Hand auf einige Dutzend kleiner, kegelför-
miger Hütten, die man unten im Tal liegen sah. „Da finden wir gute
Führer."
Unser kleiner Trupp zog einen steilen, grünen Abhang hinab. Die
Maultiere glitten in dem nassen Gras aus und gingen immer wieder
auf die Hinterbeine nieder. Um nicht zu stürzen, waren wir aus dem
Sattel gestiegen und führten die Tiere am Zügel. Alles ringsumher
atmete die Frische des Morgens. In der Luft ertönten muntere Vogel-
stimmen. Eintönig zirpten die rastlosen Grillen. Der Abhang schim-
merte fröhlich bunt von gelben, blauen und roten Blumen. In dem
dichten, üppigen Gras glänzten große Tautropfen, die in den Strah-
len der Morgensonne funkelten und wie bunte Lichter aufflammten.
Vor uns zu unseren Füßen lag ein endloses, grünendes Tal, und es
schien, als sei es ganz und gar mit feinem goldenem Staub über-
schüttet. Im Osten dehnte sich die ruhige, blaue Oberfläche eines
Bergsees, die wie ein riesiger polierter Schild blitzte. Weiter links
am Horizont schlängelte sich das schmale, helle Band des Awaseh-
Flusses. Im Westen schimmerte dunkel ein dichtes Waldmassiv.
Und über allem dehnte sich der blaue, wolkenlose Himmel.
Voran ging Nenow, der Führer unserer kleinen Jagdexpedition,
um den Weg zu erkunden. Er führte ein kräftiges Maultier mit lan-
gen Ohren am Zaum.
Der leichte Morgenwind wehte durch seinen langen, grauen Bart.
Nenow hatte einen festen, sicheren Gang, und seine untersetzte,
leicht gebeugte Gestalt strahlte Kraft und Gewandtheit aus. Er
kannte diese Gegend gut, und er war ein ausgezeichneter Schütze
und Pfadfinder. Ich ging gern mit ihm auf die Jagd und vertraute
seinen Kenntnissen und seiner Erfahrung, die er sich in den langen
Jahren seines Lebens in diesem Lande erworben hatte.
Von Geburt Bulgare, hatte Nenow vor etwa vierzig Jahren, nach
einem blutigen Zusammenstoß mit Steuereinnehmern, seine Heimat
verlassen. Das Schicksal verschlug ihn nach Abessinien. Hier hatte

3
er als Zimmermann gearbeitet, war Aufseher beim Straßenbau ge-
wesen und hatte Land bestellt, das er gegen Ablieferung der Hälfte
seiner Ernte von Großgrundbesitzern gepachtet hatte. Dann war er
als Beamter in den Dienst der abessinischen Regierung getreten und
nahm schließlich erneut den primitiven Hakenpflug in die Hand.
Er hatte auch versucht, Handel zu treiben, jedoch verlor er alles,
was er sich in mehreren Jahren sparsamen Lebens mühsam erwor-
ben hatte. Sein Kompagnon, dem er restlos vertraute, hatte ihn mit
einem Posten verdorbener Ware betrogen. Das war Nenows Ruin. Er
war sehr redselig. Am liebsten sprach er von Krieg und Politik,
wobei er manchmal höchst unwahrscheinliche Ansichten äußerte.
Und wehe den Zuhörern, die im Augenblick der Begeisterung an
ihn gerieten. Nenow konnte über sein Lieblingsthema sprechen, ohne
ein Ende zu finden und ohne seine Gesprächspartner auch nur ein
einziges Mal zu Worte kommen zu lassen. Diese Ausbrüche von Be-
redsamkeit waren auf sein einsames Leben zurückzuführen. Seine
Hütte war etwa fünfzehn Kilometer vom nächsten Dorf entfernt,
und Nenow sah wochenlang keinen Menschen, dem er seine Pläne
und Theorien hätte mitteilen können.
Er war mit einer Abessinierin verheiratet, und seine Kinder
unterschieden sich äußerlich nicht von den Eingeborenen. Sie waren
schwarz und kraushaarig und konnten kein Wort Bulgarisch
sprechen, was den Vater sehr schmerzte.
Mein anderer Begleiter war ein Abessinier mit Namen Nulsaget,
ein großer, dürrer Alter mit brauner Haut, dichten, schwarzen,
krausen Haaren, kurzen Armen, kurzem Rumpf und langen Beinen
- den Kennzeichen, die für die Abessinier so charakteristisch sind.
Diese beiden Männer kannten sich schon seit langem. Vor etwa
fünfzehn Jahren hatte Nenow Nulsaget vor einer Strafe bewahrt,
die ihm von seinem Herrn, einem Sklavenhalter*, gedroht hatte.
Dieser, ein reicher alter Herr, hatte angeordnet, Nulsaget wegen
„ungehörigen Tones" mit Stöcken zu verprügeln, und Nenow, der
zufällig im Dorf gewesen war, hatte ihn den Händen der Unmen-
schen entrissen und diesen mit dem Gewehr gedroht. Doch das Ge-
setz war auf der Seite des Sklavenhalters, und Nenow hatte dem
Herrn Nulsagets den Wert des Sklaven ersetzen müssen. Seit dieser
Zeit folgte Nulsaget seinem Retter überallhin, um nicht erneut in
die Sklaverei zu kommen.
Nulsaget trug die abessinische Nationaltracht: Weiße Hosen, die
wie Reithosen aussahen und die Waden bis an die Knöchel hinab
verhüllten, und ein weißes Hemd mit breiten Vorstößen und langen
Schlitzen an den Seiten. Um die Schultern hatte er einen Umhang
• Offiziell wurde die Sklaverei in Abessinien erst im Jahre 1942 abgeschafft.

4
aus leichtem, weißem Stoff. Sein dichtes Haar ersetzte ihm jeder-
zeit den Hut. Obwohl Nulsaget barfuß war, achtete er beim Laufen
nicht auf den Weg. Die Haut seiner Füße war in den langen Jahren
hart geworden.
Nach zwei Stunden kamen wir hinab zu einem Negerdorf, das
dicht am Walde lag. Eine Gruppe nackter, schwarzer Kinder emp-
fing uns, pfeifend und johlend, mit den Rufen: „Inglis, Inglis!"*
Sie streckten uns die Zungen heraus und schnitten Fratzen. Wüten-
de, dürre Hunde stürzten mit wildem Gebell auf uns los. Männer
und Frauen blickten neugierig aus ihren kleinen Hütten.
Am anderen Ende des Dorfes trafen wir zwei Reiter. Es stellte
sich heraus, daß der eine von ihnen ein Vertreter der „Eastern-
African-Trade-Company", einer amerikanischen Handelsfirma, war.
Bill Taylor, so hieß der Amerikaner, erzählte uns, er sei mit seinem
Diener zum Ankauf von Kaffee zu einer unweit dieses Dorfes gelege-
nen Plantage gekommen. Als er hörte, daß wir auf die Jagd gehen
wollten, äußerte er sogleich den Wunsch, sich uns anschließen zu
dürfen.
Er war ein großer, dicker Mensch von etwa fünfundvierzig
Jahren.
Der Amerikaner scherzte und lachte in einem fort. Energie schlug
aus ihm hervor wie Dampf aus einem kochenden Teekessel.
Nach zwei Minuten sah er uns bereits als alte Bekannte an und
benahm sich reichlich ungezwungen.
„Haben Sie schon einmal ein Kesseltreiben angesehen?" fragte
er und versetzte mir einen schmerzhaften Schlag auf den Rücken,
wodurch er offensichtlich seinem besonderen Wohlwollen mir gegen-
über Ausdruck verleihen wollte.
„Nein, noch nicht", antwortete ich.
„Nun, dann müssen wir jetzt sofort eine solche Jagd veranstalten.
Das kostet uns pro Mann etwa dreißig Schilling."
Als wir zustimmten, geriet er in Begeisterung und schickte so-
fort seinen Diener Somani, einen scheuen Neger von etwa fünfund-
zwanzig Jahren, fort, damit er einen Stammeshäuptling ausfindig
mache. Nach etwa zehn Minuten kam Somani in Begleitung eines
großen, muskulösen Negers mit alten, kurzen englischen Militär-
hosen zurück. Diesem folgten in respektvollem Abstand vier seiner
Diener, die durch ihre Anwesenheit die Bedeutung der Person des
Häuptlings unterstreichen sollten. Sie waren in Lumpen gekleidet,
die ihnen offensichtlich ihre Vorfahren hinterlassen hatten, so
schmutzig und zerrissen waren sie.
„Danastallin!" begrüßte ihn Nenow auf Amharisch.
* Inglis = Engländer.

5
„Danastallin!" antwortete der Häuptling, der Takli hieß, und da-
mit brach das Gespräch ab, denn die Kenntnisse des Häuptlings
in der offiziellen Landessprache waren mit diesem Wort, das „Guten
Tag" bedeutet, erschöpft.
„Sprichst du Englisch?" fragte ihn Taylor, ohne die Pfeife aus
dem Mund zu nehmen.
Der Neger schüttelte verneinend den Kopf. Das Gesicht des
Amerikaners verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. Er hob die
dichten, von der glühenden Sonne weiß gewordenen Augenbrauen
und trat beiseite.
„So ein Holzkopf!" brummte er vor sich hin..
Nenow redete den Häuptling erst in der Sprache des Stammes der
Galla und dann auf Arabisch und Französisch an, doch jedesmal
schüttelte Takli nur verneinend den Kopf. Schließlich fragte der
Häuptling lächelnd, ob nicht einer von uns Italienisch könne.
„Ein bißchen", antwortete Nenow, obwohl er es ausgezeichnet
sprach.
So war eine gemeinsame Sprache gefunden, und die Verhand-
lungen begannen.
„Takli kann hundert Treiber stellen", sagte Nenow. „Jedem von
ihnen müssen wir ein Amole* bezahlen. Oder auch einen Schilling,
aber es muß unbedingt in Talern** sein. Ostafrikanische Schillinge
und Papiergeld nehmen sie nicht. Sie fürchten, daß man sie betrügt.
Außerdem fordert der Häuptling zehn Taler für sich persönlich."
„Bieten Sie die Hälfte des geforderten Preises für die Treiber wie
auch für diesen Häuptling", sagte Taylor.
„Ich weiß, daß sie tatsächlich nichts anderes als Taler annehmen",
entgegnete Nenow.
„Hol sie der Teufel!" rief der Amerikaner wütend. „Wegen dieser
schwarzen Halunken soll ich wohl einen ganzen Geldsack, fünfzehn
Kilogramm, mit mir umherschleppen."
„Es ist mir wirklich peinlich, ihnen weniger als einen Schilling
anzubieten." Nenow sah den Amerikaner verlegen an. „Sie müssen
doch fast dreißig Kilometer laufen."
Ich stimmte Nenow bei. Taylor war ärgerlich über uns.
„Schön, einverstanden", brummte er vor sich hin, „obwohl ich
eigentlich nicht gewöhnt bin, mein Geld zum Fenster hinauszuwerfen.
Die Schwarzen kaufen sich dafür sowieso bloß irgendeinen unnützen
Dreck."
* Amole (Amuleh) = eine Salzstange von etwa fünfundzwanzig Zentimeter Länge,
die in einigen Teilen Abessiniens als Geld dient.
** Maria-Theresia-Taler = alte österreichische Silbermünze, die einem Wert von
drei Schilling entspricht; sie ist in den vom Zentrum abgelegeneren Teilen
Abessiniens im Umlauf,

6
Während die Vorbereitungen getroffen würden, schlenderte ich
durchs Dorf. Die niedrigen Hütten waren mit Schilf gedeckt, das
fast bis zur Erde herabreichte, und ähnelten Schobern mit vorjäh-
rigem Heu. Auf der zertrampelten, unbewachsenen Straße kämpften
in einem Kreise munterer Bengel verzweifelt zwei kleine, weiße
Hähne. Sie rissen einander,mit außergewöhnlicher Wut die Federn
aus und schlugen lärmend mit den Flügeln. Dem einen von.ihnen
floß Blut vom Halse herab über die weißen Federn. Eine Staubwolke
lag über den gefiederten Streitern. Plötzlich brachen die Hähne den
Kampf ab, und mit zur Erde gebeugtem Kopf richteten sie den Blick
auf einen dicht an sie herangetretenen nackten Negerjungen. Dann
stürzten sie, wie auf Kommando, zur großen Freude der übrigen
Bengel, auf den Knaben los. Dieser sauste schreiend davon, um
zwischen den Hütten zu entkommen. Ais er etwa zehn Meter weit
gelaufen war, flog einer der Hähne ihm nach und klammerte sich
an dem kraushaarigen Kopf des kleinen Buben fest. Der Negerjunge
warf ihn unter jämmerlichem Geschrei zu Boden und lief in ein Haus
hinein. Der Hahn stolzierte gewichtig um die Hütte herum, als ob
er seinen davongelaufenen Gegner zum Kampf herausfordern wolle,
schlug leicht mit den Flügeln, krähte laut und lief dann den stau-
bigen Weg entlang dem andern Hahn entgegen.
Ich ging in eine der Hütten hinein. Auf einem großen, flachen
Stein brannte ein Feuer; hier wurde etwas zubereitet. Scharfer
Pfeffergeruch stach mir in die Nase und machte das Atmen schwer.
Qualm erfüllte den ganzen oberen Teil der Behausung und quoll in
einem Strom dunkler, dicker Wolken zur Tür hinaus. Die Hütte hatte
keine Fenster, und nach dem hellen Tageslicht draußen war es hier
fast dunkel. Durch den Dunst und Qualm sah ich undeutlich die
Bewohner der Hütte, die ruhig am Boden saßen. Ich erstickte fast
vor Qualm, bemühte mich jedoch, Anstand zu wahren und nicht zu
eilig zu erscheinen. Langsam tastete ich mich zum Ausgang und war
froh,, als ich wieder an der frischen Luft war.
Freundlich lächelnd trat der Hausherr aus der Hütte heraus.
Hinter ihm her kam ein Wesen herausgekrochen, in dem man nur
mit Mühe einen Menschen erkennen konnte. Dort, wo einst die Nase
gewesen war, gähnte bei ihm ein schwarzes Loch. Wimpern hatte er
keine, und um die Augen herum schimmerte das Fleisch rötlich.
Sein Gesicht hatte Ähnlichkeit mit dem Maul eines Löwen, ein cha-
rakteristisches Kennzeichen der Aussätzigen. Als er mich, den Frem-
den, erblickte, wurde er munter und streckte die Hände nach mir
aus, um ein Almosen zu erbitten. Dieser Mensch war dazu verdammt,
langsam zu verfaulen. Er drohte, alles um sich herum anzustecken,
doch niemand kümmerte sich um ihn. Der nächste Arzt war mehr

7
als zweihundert Kilometer vom Dorf entfernt, und die hiesige Obrig-
keit begnügte sich damit, daß sie den Aussätzigen verbot, sich ihren
Häusern zu nähern.
Als die Sonne noch niedrig stand, machten wir uns hinter den
Treibern her auf den Weg. Takli hatte es übernommen, uns den kür-
zesten Weg zu führen. Unsere Maultiere brachte man auf einem Um-
weg nach, weil der Wald zu dieser Zeit für sie unpassierbar war.
Es war Anfang Oktober, eben erst war die vier Monate währende
Regenzeit zu Ende gegangen, und ein Meer von jungem Grün
wucherte empor und streckte sich der heißen Sonne entgegen.
Dichtes Gestrüpp dünner Lianen, die mit zartem, grünem Laub und
hellen Blüten bedeckt waren, erhob sich bis hinauf zu den höchsten
Gipfeln mächtiger Bäume. Vertrocknete Lianen umrankten wie
schwarze, geteerte Taue gigantische Tamarinden mit weit ausgebrei-
teten Zweigen und dichtem Laub, Feigenbäume, an denen süße,
watteweiche Früchte hingen, und die schlanken Stämme hoher
Eukalypten. In großer Höhe verflocht sich alles ineinander, und das
Auge bemühte sich vergebens, zu erkennen, zu welcher Pflanze
diese Zweige, Blüten und Früchte gehörten. In dem grünlichen
Dunkel des Unterholzes wuchsen dicht gedrängt Baumfarne, riesige
Moose, üppig belaubte Akazien, dornige Heckenrosen und blatt-
lose, kandelaberförmige Wolfsmilch, die den Händen eines riesigen
Ungeheuers mit nach oben gerichteten, grünen, fleischigen, warzigen
Fingern ähnelte. Bunte Schwärme von Vögeln und Schmetterlingen
flatterten in dem heilen, von Sonnenstrahlen durchdrungenen
Grün umher.
Mehrere Stunden lang mußten wir uns durch den Wald hindurch-
arbeiten Dornige Gebüsche griffen wie märchenhafte Wächter nach
unserer Kleidung und zerkratzten uns Arme und Beine. Schling-
pflanzen und die braunen Luftwurzeln der Mangrovebäume, die
aussahen wie das Gerippe eines umgestülpten Korbes, versperrten
den Weg, Rudel langschwänziger Makaken sausten bei unserem Er-
scheinen mit empörtem Geschrei auf die Baumgipfel, schwatzten in
ihrer Affensprache miteinander und betrachteten neugierig die zwei-
beinigen Wesen, die da in ihr Reich eingedrungen waren.
Nach drei Stunden erreichten wir eine Kette niedriger, steiler
Steine, in deren Zentrum sich ein Durchgang von etwa hundert
Meter Breite befand. In diesem von der Natur geschaffenen Tor
wuchsen hohe Eukalypten, Feigenbäume und riesige Affenbrotbäume
mit weitausgebreiteten Ästen. Das dichte Unterholz, das dem Jäger
beim Schießen sonst hinderlich ist, fehlte hier ganz. Wir suchten
uns, um uns nicht womöglich gegenseitig zu treffen, alle auf der
gleichen Seite des Felsentors ein Versteck.

8
Taylor gefiel ein Felsvorsprung direkt am Waldrand, wo die von
den Treibern gejagten Tiere auftauchen mußten. Der Amerikaner
kletterte auf den Felsen hinauf, schob sich den Tropenhelm ins Ge-
nick, steckte die Hände in die Taschen der kurzen Hose, aus der
die roten Knie hervorschauten, und blickte mit zufriedener Miene
um sich.
Ich suchte mir mit Nenow, Nuisaget und Takli einen Felsen, un-
gefähr fünfzig Meter von dem Amerikaner und seinem Diener ent-
fernt. Die Treiber mußten sich fünfzehn bis zwanzig Kilometer durch
das Dickicht hindurcharbeiten; deshalb konnte die Jagd erst am
nächsten Morgen beginnen, und wir mußten die Nacht im Walde
verbringen. Wir machten uns daran, Dornengebüsch abzuhacken
und daraus einen Zaun um unser Lager zu errichten. Kurz vor Ein-
bruch der Dunkelheit kamen zwei Neger mit den Maultieren an.
Unmerklich schlich die Dämmerung heran, und schnell senkte sich
die Nacht über den Wald herab.
Ein Lagerfeuer flammte auf. Lustig begannen, rote Feuerzungen
unter dem kleinen Kessel zu tanzen. Wir setzten uns um die kni-
sternden Flammen, die immer wieder Garben goldener Funken em-
porsprühten.
Riesige Bäume, die tintenschwarze Schatten warfen, umstanden
so eng gedrängt unser Lager, daß das bläuliche Licht des Mondes
kaum durch das dichte Laub hindurchdrang. Die nächtliche Feuch-
tigkeit machte uns frösteln, und wir rückten unwillkürlich näher
an das helle Feuer heran. Es roch nach faulen Blättern, der Wind
wehte würzigen Blütenduft herüber. Die afrikanischen Ziegen-
melker* stimmten ihr nächtliches Lied an und flogen geräuschlos über
uns hinweg. Einige Paviane, die ganz in der Nähe waren, tobten
unruhig umher und beschimpften einander. Die Maultiere kauten
gemächlich ihr Gras.
Ich zog mir die Schuhe aus, weil mir der Fuß fürchterlich juckte.
Am kleinen Zeh entdeckte ich ein schwarzes Pünktchen, eine
Majalis**. Sie dringt in die Haut des Menschen ein und legt dort
in einer besonderen Kapsel ihre Eierchen ab. Die Kapsel wächst
und ruft Schmerz und heftiges Jucken hervor. Mit Hilfe einer Steck-
nadel zog ich ein weißes Kügelchen heraus, warf es ins Feuer und
rieb die kleine Wunde mit Spiritus ab. Wegen der Majalis bleibt in
Abessinien fast kein einziger aus Europa mitgebrachter Hund am
Leben. Die Insekten dringen in Nase und Ohren des Tieres ein, und
gewöhnlich geht es daran zugrunde.
Bald war das Abendessen fertig.
* Ziegenmelker = Nachtschwalbenart.
•* Majalis - afrikanische Zeckenart.

9
Die beiden Neger, die unsere Maultiere gebracht hatten, ließen
sich an der Umzäunung, in einiger Entfernung vom Feuer, nieder
und tranken heißen Kaffee. Nulsaget und Somani saßen nebenein-
ander am Lagerfeuer, zwischen Nenow und Taylor, der sie wütend
ansah. Somani, der sich unter den ungehaltenen Blicken seines
Herrn nicht wohlfühlte, wollte mehrmals aufstehen, doch Nulsaget
hielt ihn zurück, ohne der schlecht verborgenen Entrüstung Taylors
die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Das wütende Gesicht
des Amerikaners mit der schiefen Nase, die ihm einmal jemand ein-
geschlagen haben mußte, sah in dem roten Licht des Feuers unheil-
verkündend aus und schien nichts Gutes zu versprechen. Plötzlich
schob er den Becher heftig beiseite, so daß der Kaffee überschwappte,
sah Nulsaget haßerfüllt an und fauchte wütend: „Wo hast du das
gelernt, bei den Weißen zu sitzen? Setzt, sich einfach hier hin, als ob
das ganz selbstverständlich wäre. Steh auf, du Hund, wenn ein
Weißer mit dir spricht!"
Somani erhob sich eilig und ging hinüber zu den Negern, die am
Zaun saßen. Nulsaget aber schaute finster drein und rührte sich
nicht vom Fleck. Er war offenbar nicht mehr an eine solche Be-
handlung gewöhnt. Der Amerikaner wandte sich Nenow zu, um bei
ihm Unterstützung zu suchen, doch dieser blickte den Amerikaner
wütend an und sagte: „Ich finde Ihr Verhalten nicht richtig."
„Sie vergessen, daß Sie nicht in Amerika sind. Hier sind Sie nicht
Herr, sondern Gast", sagte ich, wobei ich nur mit Mühe meine Erre-
gung zügeln konnte. „Wir haben völlig andere Ansichten in dieser
Beziehung, und Sie müssen auf uns Rücksicht nehmen."
„Nun, in diesem Falle muß ich mich entfernen!" rief der Ameri-
kaner in einem solchen Ton, als müsse auf sein Fortgehen zum
mindesten ein Erdbeben folgen. Er sprang auf und ging zu seiner
Schlafstelle, wobei er wütende Flüche vor sich hinbrummte.
Er gab einem Maultier, das friedlich sein Gras kaute, einen Fuß-
tritt und warf sich auf sein Lager.
Nenow und ich tauschten einen vielsagenden Blick, und jeder
von uns lächelte über seine Gedanken. Doch dieser Zwischenfall
hatte uns die Laune verdorben, die Unterhaltung brach ab, und
wir beschlossen ebenfalls, uns schlafen zu legen.
Da ertönte irgendwo in der Ferne, aus der Richtung, in der die
endlose Savanne begann, das donnerähnliche Brüllen eines Löwen.
Es war, als ob eine Woge des Grauens durch den Wald ging. Die
Maultiere begannen auszuschlagen und zu zittern. Wie toll stießen
sie einander an, atmeten laut und pfeifend und zerrten an den Lei-
nen. Der leichte Zaun krachte unter ihrem Ungestüm. Das abscheu-
liche Gelächter einer Hyäne, das in der Nähe ertönte, riß plötzlich

10
ab. Das Löwengebrüll verstärkte sich allmählich. Von dem Orkan
dieser wütenden Laute, die einander immer schneller folgten und
immer lauter wurden, schienen die Bäume zu erzittern. Dann ließ
das Brüllen allmählich nach und klang bereits nur noch wie ein
leises Brummen.
„Der Löwe ist weit entfernt. Er kommt wohl nicht hierher", meinte
Nenow. „Den dichten Wald liebt er nicht."
Wir warfen Brennholz nach, überprüften unsere Gewehre und
legten' uns schlafen. Ich blickte lange zu dem hohen, schwarzen, mit
Sternen übersäten Himmel hinauf. Der Mond senkte sich unmerklich
immer tiefer herab. Der dunkle Wald schien geheimnisvoll und
drohend. Unwillkürlich ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß
sich vielleicht jetzt irgendwo neben uns in der Dunkelheit ein
schweigendes Raubtier versteckt hielt, und instinktiv rückte ich
näher an das helle Feuer heran, wie es vor Hunderttausenden
von Jahren unsere fernen Vorfahren im Augenblick der Gefahr ge-
macht hatten. Schließlich schlief ich ein.
Nach etwa drei Stunden erwachte ich von einem entsetzlichen
Lärm im Lager. Herzzerreißend brüllten die Maultiere. Laut schrien
die Menschen. Und alles wurde übertönt von ohrenbetäubendem
Löwengebrüll. Das Feuer war erloschen, und das Lager lag in tiefem
Dunkel. Ich sah undeutlich einen Haufen heller und dunkler kämp-
fender Leiber und konnte in diesem wilden Durcheinander nichts
erkennen. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den Zaun und
hielt das Gewehr schußbereit. Nach einigen Sekunden hatte ich
die Lage erkannt und sah, wie über der dunklen Silhouette des
einen Maultiers zwei helle Leiber durch die Luft flogen. Das Maul-
tier bäumte sich auf und stürzte mit den Löwen zusammen fast"
neben mir nieder. Die eine der riesigen Raubkatzen packte das
Tier, das noch Widerstand leistete, und sprang mit ihm über den
Zaun. Doch es war zu schwer für den Löwen, er stürzte mit seiner
Beute auf die dornige Umzäunung und zerbrach sie. Das andere
Raubtier setzte hinter ihm her. Der Größe nach zu urteilen, war es
die Löwin. Nach wenigen Sekunden waren die Räuber mit ihrem
Opfer verschwunden. Wir schickten ihnen einige Kugeln nach,
doch ohne Erfolg.
Bald stellte sich heraus, daß das von den Löwen geraubte Maul-
tier Taylor gehört hatte, und das Gestöhne und Gefluche des Amerika-
ners über den erlittenen Verlust nahm kein Ende. Er fluchte auf die
majestätischen Räuber, schnauzte Somani an, weil er ihn angeblich
gehindert hatte, auf die Löwen zu schießen, und wollte hinter den
Löwen herlaufen, obwohl man im Walde keine drei Schritt weit
sehen konnte.

11
Das die Löwen die Menschen nicht berührten, war kein Zufall.
Sie greifen sie fast niemals zuerst an.
Wir machten Feuer und sahen uns das Lager an. Der Boden war
durch die Hufe des Maultiers aufgerissen und mit seinem Blut be-
fleckt. Die verschont gebliebenen Tiere hatten sich von den Leinen
losgerissen und standen zusammengedrängt am Zaun. Unsere Sachen
waren durcheinandergeworfen und zertrampelt, ein Teil des Zauns
umgefallen.
Grau und trüb dämmerte der Morgen. Müde und nach der
schlaflosen Nacht schlecht gelaunt, fanden wir nicht weitab vom
Lager die Überreste unseres Maultiers, einige abgenagte Knochen.
Die Hyänen und Schakale hatten hier offenbar bereits ihren Besuch
abgestattet.
Bald kam die Sonne hervor, und im Nu erwachte alles ringsumher
und begann zu funkeln. Die nächtliche Unruhe und Angst waren ver-
schwunden, und an ihre Stelle war eine freudige Erregung über die
bevorstehende Jagd getreten.
Als wir gefrühstückt hatten, begaben wir uns zu unseren Ver-
stecken. Die Treiber hatten sich in einem Kreis mit einem Durch-
messer von etwa zwanzig Kilometern aufgestellt. Wir befanden uns
an seiner äußersten Grenze. Der von den Treibern gebildete Ring
zog sich immer mehr zusammen, und alles Lebendige, was sich
darin befand, mußte durch das von der Natur geschaffene steinerne
Tor an uns vorbeilaufen.
Gegen zehn Uhr hörten wir die ersten Schreie der Treiber, das
dumpfe Getöse von Trommeln, und an uns vorbei sauste in pani-
schem Schrecken ein Rudel hundeähnlicher Paviane. Aus dem Walde
kamen, eins nach dem anderen, kleine Raubtiere herausgelaufen
Rötliche Zibetkatzen mit schwarzen Flecken jagten vorüber, die
kleinen, spitzen Mäuler zur Erde geneigt. Diese Tiere, die so groß
wie kleine Hunde sind, hält man hier und da in Gefangenschaft,
weil sie den Zibet liefern, einen Stoff, der in der Parfümerie ver-
wendet wird. Mit hocherhobenem Schwanz huschte auf fhren kurzen
Pfötchen eine graue, quergestreifte Manguste an uns vorbei. Nie-
mand dachte daran, auf diesen mutigen Schlangenvertilger zu
schießen. Ein Rudel ängstlicher Schakale lief vorüber. Wir ließen
sie alle vorbei und warteten das wertvollere Wild ab. Ein riesiges
Nashorn, dessen Herankommen wir an dem Knacken vqn Ästen
bemerkten, die es abbrach, schoß ungestüm aus dem Walde hervor.
Es sauste an uns vorbei, wobei es laut tosend wie eine Lokomotive,
die bergauf fährt, schnaubte. Die Nashörner sind fast ausgestorben,
und die Jagd auf sie ist in ganz Afrika verboten. Nenow schoß
spaßhalber auf das kurze, dicke Hörn des riesigen Tieres. Die Kugel

12
schlug laut gegen das steinharte Hörn und prallte ab. Das Nashorn
schüttelte wütend den kantigen Kopf und rannte ohne anzuhalten
weiter.
Nach einer halben Stunde erschien am Waldrand eine Gruppe
von Kudus*. Sie hatten die mit langem, korkenzieherförmigem Ge-
hörn geschmückten Köpfe zurückgeworfen und stürmten dem retten-
den Ausgang entgegen, wobei sie einander zu überholen suchten.
Fast zu gleicher Zeit krachten drei Schüsse, und drei dieser sanften
Tiere mit dem rötlichbraunen Fell stürzten nieder in das dichte,
grüne Gras. Ein Rudel lärmender grüner Meerkatzen raste vorüber.
Mit ihren komischen weißen Barten und langen Schnauzbärten,
die aussahen, als seien, sie zurückgekämmt, haben sie das würdige
und wohlanständige Aussehen von Bankangestellten.
Für eine Weile wurde alles ruhig. Dann erschien zwischen den
Bäumen vorsichtig der Kopf eines Elefanten, eines alten Einzel-
gängers mit kleinen, klugen, aber böse blickenden Augen und rie-
sigen, langsam hin- und herschaukelnden, hochgestellten Ohren. Er
hatte nur einen Stoßzahn; den anderen hatte er sich offenbar abge-
brochen. Der Elefant stand einige Sekunden unschlüssig da, dann
wandte er sich mit erstaunlicher Schnelligkeit zum Ausgang, wobei
er drohend den Rüssel emporhob, der einem riesigen, gerillten
Schlauch ähnelte. Er lief im scharfen Trab an uns vorüber und ver-
schwand geräuschlos im Dickicht.
Auch die Jagd auf die aussterbenden Elefanten ist, wie die auf
Nashörner, strengstens verboten, und jeder, der einen Elefanten ge-
schossen hat, wird, wenn die Behörden davon Kenntnis erhalten, mit
einer hohen Geldstrafe belegt.
Nun kam winselnd und grunzend eine Wildschweinfamilie aus
dem Gebüsch heraus. Ihre langen Schnauzen waren mit riesigen,
gelb gewordenen, gebogenen Hauern geschmückt. Sie liefen dicht
zusammengedrängt hinter einem alten Keiler her. Neben ihnen
jagte in großen Sprüngen ihr grimmiger Feind, ein Leopard. Die
Wildschweine und das Raubtier hielten sich angesichts des noch be-
drohlicheren Feindes dicht zusammen und beachteten einander über-
haupt nicht. Taylor schoß auf den Leoparden, traf aber nicht.
„Was fummelst du mir wieder dazwischen!" schnauzte er Somani
wütend an. „Wie oft habe ich dir schon gesagt: ,Halt den Mund,
wenn ich schieße!' - Den Leoparden! Den Leoparden!" äffte er dem
Diener nach. „Weiß ich das vielleicht nicht selbst? Du Esel! Das Fell
ist vierzig Dollar wert! Ein Wort noch, und du . . . "
Der Neger schwieg, .da er wußte, daß Entgegnungen nutzlos
waren.
* Kudus = große Antilopenart.

13
Taylors Zorn verstärkte sich noch, als Nenow, fast ohne zu
zielen, das gefleckte Raubtier erlegte. Der Leopard machte einen
verzweifelten Versuch, aufzustehen, streckte sich dann lang auf dem
Boden aus und blieb regungslos liegen.
Die Zeit verging wie im Fluge. Die Sonne neigte sich bereits
zum Westen, doch die Hitze hatte noch nicht nachgelassen. Der
Felsen, auf dem wir lagen, ähnelte einer heißen Bratpfanne, und wir
mußten uns immer wieder von einer Seite auf die andere drehen,
da das glühendheiße Gestein sogar durch die Kleidung hindurch
am Körper brannte. Je mehr die Treiber sich uns näherten, desto
kürzer wurden die Abstände, in denen weitere Tiere aus dem Walde
herauskamen. Einige von ihnen, die vor Angst den Kopf verloren
hatten, rasten wie besessen an der Steinkette entlang und versuchten,
auf sie hinaufzuklettern, doch gelang das nur den klettergewandten
Affen. Da die Tiere keinen Ausgang fanden, stürzten sie an uns vor-
bei, und wir ließen sie gewöhnlich durch. Wir schössen nur auf Tiere,
deren Felle wertvoll waren.
Das Geschrei der Treiber und das Rasseln der Trommeln er-
tönte bereits ganz in der Nähe, als ein prachtvolles Raubtier in
wunderbarem schwarzem Fell mit eleganten, geschmeidigen Bewe-
gungen aus dem Walde hervorgelaufen kam. Es war ein schwarzer
Panther. Das Tier blickte uns mit seinen runden, grünlichen Augen
böse an. Es schmiegte sich beim Laufen so dicht wie möglich an
die Erde und versuchte, sich in dem hohen Gras zu verbergen. Wir
konnten sehen, wie sich seine Schulterblätter unter dem weichen,
samtartigen Fell bewegten. Der Amerikaner schoß. Das Tier machte
noch einen Satz in die Luft und stürzte dann wie vom Blitz ge-
troffen nieder.
Der schwarze Panther ist ein seltenes und gefährliches Tier, und
sein Fell wird unter den Jägern sehr geschätzt. Da Taylor befürch-
tete, daß bei der Verteilung der Beute irgend jemand Anspruch auf
seinen Panther erheben könnte, befahl er Somani, das von ihm er-
legte Tier zu holen. Als Nenow sah, daß der Neger von dem Stein
herabkletterte, rief er warnend: „Somani, zurück! Geh nicht an den
Panther heran!"
Der Diener blieb unschlüssig stehen, doch Taylor sagte wütend
zu ihm: „Geh, geh! Hör, was ich dir sage!"
Als der Negei den Panther erreicht hatte, bückte er sich, um ihn
hochzuheben. In diesem Augenblick schoß der geschmeidige,
schwarze Körper des Tieres mit weitgeöffnetem Rachen durch die
Luft, und Mensch und Raubkatze wälzten sich auf dem Boden.
Einige Sekunden lang kämpften sie, Hann erhob sich der Kopf des
Tieres aus dem Gras, und ein Siegesgebrüll erfüllte die Luft.

14
Taylor, der durch diese Szene erschüttert und entsetzt war, ver-
gaß in der Eile seine Flinte, rutschte Hals über Kopf von dem
Stein herab und kam durch das hohe Gras auf uns zugestürzt,
sprang in hohen Sätzen über die Steine hinweg und schrie ver-
zweifelt.
Als das wütende Tier den laufenden Menschen bemerkte, jagte
es brüllend hinter ihm her und hatte ihn mit wenigen Sprüngen
eingeholt. Im selben Augenblick riß Nenow die Flinte hoch und
schoß. Das Raubtier zuckte im Sprung zusammen, stürzte nieder und
riß den Amerikaner mit zu Boden. Weder Mensch noch Tier zeigten
irgendwelche Lebenszeichen. Wir warteten einige Sekunden, stiegen
dann zur Erde hinab und näherten uns, die Flinten schußbereit, vor-
sichtig dem Panther. Das Tier war tot. Als Taylor Stimmen neben
sich hörte, öffnete er vorsichtig das eine Auge ein wenig, setzte
sich dann auf und rieb sich seinen verletzten Oberschenkel.
Der Amerikaner schaute verdutzt und schuldbewußt drein. Er
versuchte zu lächeln, doch das Lächeln fiel kläglich und unnatür-
lich aus.
Wir ließen ihn sitzen und liefen zu Somani. Der Neger lag re-
gungslos auf dem Rücken. Auf seiner Brust klafften blutige Wunden,
die Wange war zerkratzt, die Schulter trug Spuren der mächtigen
Raubtierzähne. Nenow untersuchte ihn kurz und sagte erleichtert:
„Er l e b t . . .'*
Takli verschwand im Gebüsch und kehrte nach wenigen Minu-
ten mit einem Bündel Heilkräuter zurück. Wir verbanden das
schwerverletzte Opfer, und bald atmete Somani schwer auf und
öffnete die Augen.
„Na, du, konntest du mit dem Panther nicht fertig werden?" ver-
suchte Nenow zu scherzen.
Doch der Neger blickte ihn traurig an und wandte sich ab, ohne
etwas zu sagen. Wir trugen ihn vorsichtig zum Felsen hinüber.
„Sehen Sie bloß mal diesen Burschen da." Nenow stieß mich mit
dem Ellbogen an und deutete mit dem Kopf zu Taylor hinüber.
Ich warf einen Blick auf den Amerikaner. Er hatte die Ängste,
die er ausgestanden hatte, vergessen. Rot vor Anstrengung, schleppte
er den schweren Panther zu seinem Stein. Nenow schüttelte den Kopf
und brummte wütend etwas vor sich hin.
Die Jagd war zu Ende. Nach einer Stunde, als wir die Treiber
entlohnt hatten, trennten wir uns von dem Amerikaner und seinem
Diener, den die Neger mit einer Trage ins Dorf brachten.
Unsere kleine Gruppe schlug die entgegengesetzte Richtung ein.
Wir beeilten uns, um bis zur Dunkelheit aus dem Walde herauszu-
kommen.

15
Zweihundert Dollar

Gegen Mittag holen wir ihn ein. Zu Fuß kann er nicht weit
gekommen sein", sagte mein Gefährte Bijou und gab seinem Pferd
einen leichten Klaps.
Daran, wie Bijou von Zeit zu Zeit an den Zügeln zerrte, merkte
ich, daß er stark erregt war.
Der Morgen graute. Es war kalt und feucht, und unwillkürlich
hüllten wir uns fester in unsere Mäntel. Die Pferde liefen in schar-
fem Trab, und das helle Klappern ihrer Hufeisen auf dem Straßen-
asphalt tönte laut durch die öden Gassen von Addis Abeba, das
noch in tiefem Schlaf lag.
Ein- und zweistöckige Häuser aus weißem Stein standen gedrängt
zu beiden Seiten der Straße und sahen im Vergleich zu den daneben-
stehenden Gebäuden, die aus verrosteten Eisenblechen bestanden,
wie Paläste aus. Die Dächer dieser kümmerlichen Behausungen waren
ebenfalls mit verrosteten Blechen bedeckt. Vor den viereckigen
Ausschnitten der Türen hingen hier und da nur Bastmatten.
Hohe Eukalypten, deren hellgraue Stämme keine Rinde zu haben
schienen, wuchsen zwischen den Gebäuden. An einem schmutzig-
grauen fensterlosen Lehmhaus, das da, wo die Farbe nicht abge-
bröckelt war, noch einige weiße Flecke hatte, stand eine große
junge Frau. Sie trug ein langes Kleid von unbestimmbarer Farbe.
Der riesige Kopfputz ihrer dichten, krauslockigen Haare erinnerte
an eine große Papacha*. Ihr Gesicht war dunkelbraun. Sie winkte
Bijou fröhlich zu. Offenbar waren sie alte Bekannte.
„Wohin reitet ihr?" rief sie.
„Nach Hause", antwortete Bijou, und um ein langes Gespräch zu
vermeiden, legte er die Hand aufs Herz, neigte den Kopf und
sagte: „Wir haben es eilig."
Die schmale Straße schlängelte sich in eigentümlichen Windun-
gen dahin. Auf dem schadhaften Asphalt des Bürgersteigs kam uns
eine kleine Gruppe Menschen entgegen. Voran ritt auf einem großen,
kräftigen Maultier, über dessen Rücken eine rote Decke hing, ein
* Papacha = kaukasische Pelzmütze.

16
alter Abessinier in einem schwarzen Umhang, offensichtlich ein
kleinerer Grundbesitzer. Er stützte sich mit den nackten Füßen in
breite Steigbügel. Hinter ihm her liefen sechs Diener in schmutziger
weißer Kleidung, die sich von beiden Seiten am Geschirr des Maul-
tiers und aneinander festhielten. Die Anzahl der Diener zeugte von
der Bedeutung des Herrn. Auch das Gefolge war barfuß*.
Der alte Abessinier wollte nicht auf dem Fahrdamm reiten. Das
wäre unter seiner Würde gewesen. Mühsam liefen deshalb die
Leute den unbequemen, holprigen, nicht instand gehaltenen Bürger-
steig entlang. Als Abessinien in den Jahren 1936 bis 1941 von den
italienischen Faschisten beherrscht wurde, hatten diese schöne
Straßen für ihre Autos gebaut, aber nicht daran gedacht, die Bürger-
steige für die Abessinier in Ordnung zu bringen.
An einer kleinen Brücke, die über einen Graben führte, be-
gannen unsere Pferde plötzlich zu schnauben und sich aufzubäumen.
Ich sah Bijou verwundert an. Er zeigte schweigend nach dem Gra-
ben. Dort machten sich vier Hyänen, die großen Hunden ähnelten,
an einem toten Pferd zu schaffen.
Als sie uns erblickten, wandten uns die Tiere ihre stumpfen,
schmutziggrauen Schnauzen zu, sahen uns einige Sekunden abwar-
tend an und liefen dann mißmutig den Graben entlang. Die Hin-
terbeine dieser feigen Raubtiere waren nur halb so lang wie die
Vorderbeine. Hyänen greifen nie Menschen an und werden deshalb
von den Abessiniern für nützliche Tiere gehalten. Sie fressen die
toten Tiere auf, die von ihren Besitzern oft einfach da liegenge-
lassen werden, wo sie umgefallen sind.
Ein Fuhrmann, ein Gari, überholte uns. Der zweirädrige Wagen
hatte Gummireifen und war himmelblau gestrichen. Die schmutzige,
ganz durchlöcherte und zerlumpte Kleidung des Kutschers erschien
gegen den hellen Hintergrund des Wagens noch armseliger.
Neben dem Gari saß ein älterer Ausländer, der recht weit von
dem zerlumpten Kutscher abzurücken versuchte. Doch das
gelang ihm nicht, denn in dem Wagen hatten nur zwei Personen
Platz.
An einem kleinen Kino marschierte eine Abteilung Soldaten mit
Gewehren auf den Schultern. Sie fröstelten ein wenig in der Mor-
genkälte, trugen kurze Hosen und liefen barfuß. Nur wenige Glück-
liche hatten Sandalen mit dicken, schweren Sohlen an.
Bald lag Addis Abeba hinter uns. Die Pferde verließen die Chaus-
see und trabten einen weichen, staubigen Pfad entlang.
* Der größte Teil der Bevölkerung von Abessinien läuft ohne Schuhwerk herum.
Der Preis für ein Paar Schuhe beträgt das Drei- bis Vierfache des Monatseinkom-
mens eines Abessiniers Zum Glück für die Abessinier gibt es dort keinen Winter;
das ganze Jahr hindurch ist es heiß.

17
In einer Stunde mußte die Sonne hochkommen. Hier, unter dem
Äquator, geht die Sonne das ganze Jahr etwa um sieben Uhr mor-
gens auf und etwa um sieben Uhr abends unter.
Unsere Pferde liefen in scharfem Trab und gingen immer wieder
in Galopp über. Mein Gefährte Robert Bijou, ein Halbabessinier und
Halbfranzose, von dem ich zur Jagd an den See eingeladen worden
war, hatte Grund zur Eile. Etwa hundert Kilometer von Addis Abeba
entfernt besaß er an einem See ein kleines Haus und ein Stück
Land, das er selbst bebaute. Vor zwei Jahren hatte Bijou beides an
seinen Nachbar, einen Großgrundbesitzer, verpfändet. Heute endeten
alle Zahlungstermine, und der Gläubiger wollte die Angelegenheit
dem Gericht übergeben. Bijou wußte, daß er dieses Land an den
Amerikaner Multon verkaufen wollte, der sich am See niederge-
lassen hatte. Gestern morgen hatte Bijou seinen Freund, den Abessi-
nier Tassama, mit einem kurzen Schreiben zu dem Großgrund-
besitzer geschickt, worin er ihn bat, sich mit der Begleichung der
Schuld noch ein wenig zu gedulden. Noch an demselben Tage war
ihm das Glück günstig gewesen. Er hatte sechs Felle selbstgeschos-
sener Leoparden verkauft. Nun konnte er die Schuld bezahlen.
Am Abend hatte er Multon getroffen, der mit dem Auto zu dem See
unterwegs war. Der Amerikaner, der Bijous schlechte wirtschaftliche
Lage kannte, hatte ihm erneut den Vorschlag gemacht, ihm sein
Stück Land zu verkaufen, und Bijou war darüber sehr beunruhigt.
Er fürchtete, daß Multon und der Großgrundbesitzer sieh einig
wurden und daß sein Gläubiger die Sache sofort dem Gericht über-
geben würde, wenn er das Schreiben von Tassama bekam,
Bijou drängte zur Eile. Er wollte Tassama um jeden Preis über-
holen und früher als er bei dem Gläubiger ankommen.
Er bemühte sich, mich seine Aufregung nicht merken zu lassen.
Den ganzen Weg scherzte Bijou und erzählte von der Jagd. Er war ein
rüstiger und fideler Alter, der in Afrika ein abenteuerreiches Leben
verbracht hatte, und es war immer interessant, ihm zuzuhören.
Die Sonne stieg hoch, riesig groß und rot. In dem hohen, dichten
Gras der Savanne begannen große, klare Tautropfen zu funkeln. Es
war Ende September. Gerade war die vier Monate währende Regen-
zeit zu Ende gegangen. Stellenweise blieben die Pferde bis über
die Köpfe im Gras verborgen. Unsichtbare Vögel erfüllten die Luft
mit fröhlichem Gezwitscher. Einzelnstehende, über die Steppe ver-
streute Schirmbäume schimmerten grün in ihrem frischen Laub.
Auf der Chaussee tauchte eine Gruppe von Abessiniern auf. Sie
rannten und trieben ihre Pferde und Esel an. die Ledersäcke mit
Getreide trugen. Ohne zu verweilen, liefen die Eingeborenen an uns
vorüber. Sie eilten zum Markt.

18
Die Abessinier sind vorzügliche Läufer. Um Zeit zu sparen, legen
sie manchmal den ganzen Weg im Laufschritt zurück. Bijou zog sich
den Mantel aus und befestigte ihn hinter sich am Sattel.
„Ein schöner Morgen", sagte er und fuhr sich mit der Hand über
den dichten, krauslockigen Haarschopf, der stellenweise schon leicht
ergraut war.
Er sah in die Runde und lächelte.
Die Pferde gingen wieder in Galopp über.
Vor uns auf dem Wege führten zwei Abessinier einen Bullen,
der sich wütend loszureißen versuchte. An den Hörnern und an
einem der Hinterbeine des widerspenstigen Tieres waren Stricke
befestigt. Einer der Männer zog den Bullen vorwärts. Der andere,
der hinter ihm lief, hielt das Tier zurück, wenn es wieder versuchen
wollte, sich loszureißen. Zu diesem Zweck zog er den Strick an und
riß den Hinterfuß des Tieres ein wenig vom Boden in die Höhe, und
der Bulle konnte sich trotz wütender Anstrengungen auf drei Beinen
nicht von der Stelle bewegen. Die Abessinier trugen baumwollene
Hosen, die von den Knien bis zu den Knöcheln eng anlagen, und
darüber hatten sie lange, gesäumte Hemden mit Schlitzen an den
Seiten. Jeder hatte ein Stück leichten Stoff geschickt um Hals und
Oberkörper gewickelt. Diese Kleidung war einst weiß gewesen, was
jetzt jedoch nicht mehr zu erkennen war. Beide Männer waren barfuß.

Gegen Mittag kamen wir an ein kleines Dorf, das nur aus ein
paar Häusern bestand. Dort schnitten Bauern mit krummen Messern
- sogenannten Menschadi - das hohe Gras ab. Die Abessinier kennen
keine Sicheln. Unweit davon hütete ein etwa fünfzehn Jahre alter
Bursche eine nicht sehr zahlreiche Herde kleiner Buckelochsen vom
Schlage der Zubus. Der Hirt war, abgesehen von dem über die
Schulter geworfenen Schaffell, völlig nackt. Ein schwarzer, zottiger
Hund von wildem Aussehen umsprang ihn.
„Hallo, du! Hast du heute einen großen Mann mit einem Ring im
Ohr vorbeikommen sehen?" rief Bijou dem Hirten zu
Der Bursche lachte und antwortete: „Ja, ich habe ihn gesehen!
Hundert Männer habe ich gesehen!"
Bijou schüttelte ärgerlich den Kopf.
Wir ritten an dem Dorf vorbei, das auf der einen Seite der Straße
lag. Die runden Hütten - die Tukuls - blickten uns mit ihren
schwarzen Türöffnungen an. Sie hatten keine Fenster und waren mit
steilen Dächern bedeckt, die aus Lehmplatten bestanden und das
Eindringen des Regens verhüteten.
„Bring uns Wasser", wandte sich Bijou an eine alte Frau, die
mich feindselig ansah. Sie hielt mich sicher für einen der verhaßten

19
„Inglis", die während des Krieges nach Abessinien gekommen waren
und denen es dann mit List gelungen war, im Lande zu bleiben.
Die Alte reichte uns ein Tongefäß - eine Comba - mit einem
engen Hals. Das Wasser darin war kalt und angenehm erfrischend,
und mit Wohlbehagen löschten wir unseren Durst. Die Alte lud uns
mit einer Handbewegung ein, ins Haus zu kommen, wobei sie mich
noch immer mißtrauisch ansah.
Die Wände des Tukuls waren aus Lehm. Man hatte ihn mit Gras
vermischt und das dünne, gitterförmige Holzgerippe des Hauses da-
mit überzogen. Die Hütte war voller Rauch, denn links vom Ein-
gang brannte auf flachen Steinen ein kleines Feuer. Es ließ sich hier
nur schwer atmen.
„Bücken Sie sich", riet mir Bijou, „weiter unten ist kein Rauch"
Als ich seinem Rat nachkam, merkte ich, daß mir das Atmen
bedeutend leichter wurde.
In der Mitte des Hauses war ein Pfahl in den Erdboden einge-
graben, der das Dach stützte. Als ich mich an das Halbdunkel
gewöhnt hatte, erblickte ich mehrere kleine Kinder, die im Kreis auf
dem Boden saßen und aßen, ohne sich an der stickigen Luft zu
stören. An der Wand, außerhalb des Feuerscheins, lag ein Kranker
auf einem Haufen Lumpen und stöhnte. Das nächste Krankenhaus,
in dem man auch nur gegen Barzahlung behandelt wurde, war
mehrere Dutzend Kilometer entfernt, und so war der Kranke sich
selbst überlassen.
Ich machte in der Dunkelheit einen Schritt zur Seite, um die
Hausfrau vorbeizulassen, und trat dabei auf etwas Weiches, so daß
ich entsetzt zurückfuhr. Unter meinen Füßen ertönte ein heftige«
Gewinsel, und ein schwarzes Knäuel fegte zum Ausgang, das sich
überraschenderweise als Hund erwies, der auf die Straße hinaus-
sprang und laut bellte.
„Nun, Mütterchen, wir haben es eilig", sagte Bijou und wandte
sich zum Ausgang.
Die Alte kam hinter uns her. Ich gab ihr ein paar Geldstücke.
Die Armut hatte sich hier fest eingenistet. Alles ringsumher war
kärglich. Und diese Menschen mußten trotzdem die Hälfte ihrer
Ernte an den Grundeigentümer abgeben. Neben der Hütte mahlte
eine junge Frau Tef*; sie trug ebenfalls zerrissene Kleidung, genau
wie die Alte! Sie schüttete die Körner auf einen flachen, schräg-
gestellten Stein und zerrieb sie mit einem anderen, kleineren.
Wir hatten schon unsere Pferde bestiegen, als sich uns ein selt-
sames Paar näherte; zwei alte Männer, deren Arme mit einer langen
Kette aneinandergeschmiedet waren. Sie starrten uns neugierig an.
* Tef = eine kleinkörnige Hirseart, die In Abessinien angebaut wird.

20
„Was bedeutet denn das?" fragte ich Bijou auf Englisch, damit die
Herankommenden uns nicht verstehen sollten.
„Ein Schuldner und ein Gläubiger", antwortete Bijou. „Damit der
Schuldner nicht entfliehen kann, hat ihn der Gläubiger an sich fest-
gekettet. So muß er ihn überallhin begleiten, bis einer seiner Ver-
wandten die Schuld bezahlt. Dieser Brauch ist schon fast aus-
gestorben. Heute setzt man die Schuldner einfach ins Gefängnis."
- Die beiden Alten lebten offenbar ziemlich friedlich miteinander.
Sie flüsterten, lächelten und warfen uns neugierige Blicke zu.
„Nun, weiter!" sagte Bijou, und wir galoppierten den staubigen,
weichen Weg entlang.
Am Ende des Dorfes kamen wir an Abessiniern vorbei, die Wei-
zen mahlten. Auf einem großen, runden Platz lagen Garben mit den
Ähren nach innen, und zwei Knaben führten Ochsen darüber hin.
Die Tiere droschen den Weizen mit ihren Hufen. Nicht weit von dem
Platz entfernt bemerkte ich einen alten Abessinier, offenbar den
Besitzer der Ochsen. Wichtigtuerisch überwachte er die Arbeit. Um
die Fliegen zu verjagen, wedelte er ununterbrochen mit einem an
einem kurzen Stock befestigten Büschel Pferdehaar in der Luft
herum.
Außerhalb des Dorfes, in einem kleinen Sumpf, wuschen zwei
Abessinierinnen ihre Wäsche. Sie überschütteten sie mit einem
Pulver aus den getrockneten Früchten des Endot-Seifenbaumes.
Seife war für die Dorfbewohner zu teuer. Auf einem nahen Affen-
brotbaum hängten sie ihre Lumpen zum Trocknen auf.
Die Frauen schrien uns wütend an. Der Staub, den unsere
Pferde aufwirbelten, legte sich auf die an den Zweigen aufgehängte
Wäsche.
Auf der anderen Seite des Weges machten fünf Abessinier Neu-
land urbar. Sie hatten die Hosen bis an die Knie hochgekrempelt und
trugen kein Hemd. Mit aller Kraft stießen sie fünf spitze, schwere
Pfähle, die man angekohlt hatte, um sie härter zu machen, in die
Erde hinein. Alle drückten zu gleicher Zeit die aus dem Boden
herausragenden Enden nach unten und wendeten so eine Schicht
Erde um.
Unweit des Dorfes pflügte ein Abessinier sein Feld. Seine beiden
kleinen Buckelochsen zogen eine lange Stange, an der ein spitzer
Holzpfahl befestigt war. Mit diesem Pfahl pflügte er.
Der Ackerbau befindet sich hier in demselben Zustand, in dem
er vor mehreren tausend Jahren war. Fast nichts hat sich seitdem
in der Technik der Landwirtschaft Abessmiens geändert.
Bald entschwand das Dorf unseren Blicken, Wieder jagten wir
über die mit hohem Gras bedeckte Savanna.

21
Vor uns lag die weite afrikanische Steppe. Nur hin und wieder
ragten einzelne weit auseinanderstehende Bäume - Mimosen und
Akazien - in den Himmel. Manchmal standen die Bäume in kleinen
Gruppen. Sie waren niedrig von Wuchs, knorrig, und hatten krumme
und schiefe Stämme. Ihre platten Kronen, die auf ihrer Oberseite
wie Schirme aussahen, schützten die Wurzeln durch ihre Schatten
vor der glühenden Tropensonne. Die Zeit der Dürre dauert hier etwa
acht Monate im Jahr. Ab und zu tauchten riesige einzelnstehende
Affenbrotbäume mit mächtigen, sich weit ausbreitenden Ästen in der
Ferne auf.

Es war Zeit, Mittag zu essen, und Bijou bog zu einer kleinen


Baumgruppe ab, durch die ein Bächlein mit klarem, kaltem Wasser
hindurchfloß. Ich stieg vom Pferd. Nachdem man so lange im Sattel
gesessen hatte, war es eine Erholung, sich die Beine zu vertreten.
Wir befanden uns fast unter dem Äquator, und obwohl die Sonne
gerade kulminiert hatte, war es nicht heiß. Ein kühles Lüftchen
wehte uns angenehm ins Gesicht, und wir atmeten leicht und frei.
Diese Kühle unter den sengenden Strahlen der Tropensonne stimmt
nicht mit unseren üblichen Vorstellungen von Afrika überein. Das
Hochland von Abessinien liegt etwa zweitausendfünfhundert Meter
über dem Meeresspiegel. In dieser Höhe erscheint die Luft sogar
unter dem Äquator kühl, obwohl ein Thermometer, das jnan auf die
Erde legt, fünfzig Grad Celsius anzeigt. Dem Menschen ist nicht
heiß, doch die Sonnenstrahlen üben ungehindert ihre Wirkung aus.
Europäer, die mit dieser Erscheinung nicht vertraut sind, bekommen
deshalb hier leicht einen Sonnenstich. An heißen Tagen beträgt die
Temperatur im Schatten eines Baumes fünfzehn bis zwanzig Grad.
Die Sonnenstrahlen gehen durch die Luft hindurch, ohne sie zu er-
hitzen, und geben ihre Wärme an die Erde ab. Die Luft aber wird
nur von unten her erwärmt. Deshalb sind die oberer«. Schichten der
Atmosphäre immer kälter als die unteren.
Bijou band, nach abessinischer Sitte, den Kopf seines Pferdes
am Vorderbein fest, so daß das Tier nicht fortlaufen konnte, und
ließ es im dichten Gras weiden. Ich folgte dem Beispiel Bijous.
Noch waren wir nicht zum Essen gekommen, da hörten wir ein
lautes Geräusch, das an einen herannahenden Eisenbahnzug erinnerte.
Ich war erstaunt. Ein Zug konnte es nicht sein, v/eil es in Abessinien
nur eine einzige Linie gibt, die mehrere Dutzend Kilometer von
dieser Stelle entfernt vorbeiführte. Das seltsame Sausen dauerte
an. Ich konnte jedoch nichts entdecken, obwohl ich die Savanne
sehr aufmerksam mit den Augen absuchte. Als Bijou meine Unruhe
bemerkte, begann er zu lachen und sagte, indem er zu den Bäumen

22
hinaufzeigte: „Gleich werden Sie ihn sehen. Er setzt sich hierher.
Nichts Schreckliches."
„Wer setzt sich hierher?"
„Ein Nashorn, ein Nashornvogel."
Das Geräusch wurde stärker, doch gleich darauf hörte es auf.
Auf einem der Bäume erblickte ich einen Vogel mit einem langen,
dicken, leicht gekrümmten Schnabel. Oben, am Ansatz des Schnabels,
war ein großer, grauer Auswuchs. Dem Aussehen nach erinnerte der
Vogel an einen riesigen Raben, Als er uns bemerkte, erhob er sich
wieder in die Luft und verursachte mit den Flügeln erneut jenes
Sausen. Das Geräusch, das der Nashornvogel erzeugt, erklärt sich
dadurch, daß sein Gefieder beim Fluge wie eine angespannte Saite
vibriert.
Bijou begann von neuem, zur Eile zu drängen. Bald saßen wir
wieder im Sattel.
Vor uns auf der Chaussee fuhr ein offenes Auto. In dem Wagen
saßen englische Offiziere. Als sie an uns vorübersausten, lächelte
einer der Militärs fröhlich und winkte zu Bijou herüber.
„Wer ist das?" fragte ich meinen Gefährten.
„Ein englischer Offizier. Er ist öfter zu Uns an den See baden
gekommen." Bijou sah dem Auto, das sich schnell entfernte, nach
und sagte gereizt: „Wann werden bloß diese Engländer aus Abes-
sinien verschwinden? Die Italiener sind verjagt, der Krieg ist längst
vorbei, alle Termine sind abgelaufen; sie aber denken anscheinend
nicht im geringsten daran, zu verschwinden."

Es ging bergab. Je tiefer wir hinabkamen, desto heißer wurde es.


Glühende Luft wehte uns ins Gesicht. Die Vegetation veränderte
sich allmählich.
In der langweiligen, eintönigen Savanne, die mit Gras und ein-
zelnen weit auseinanderstehenden Bäumen bedeckt war, tauchten
kleine Waldstücke auf. Am Ufer eines ausgetrockneten Baches, der
entweder seinen Lauf geändert hatte oder aus irgendeinem Grunde
versiegt war, stand eine lange Reihe hoher, schwarz schimmernder
Pfähle. Von weitem schien es, als ob sie von der Hand eines Men-
schen, der plötzlich den phantastischen Einfall gehabt hatte, sie hier,
in der menschenleeren Gegend einzugraben, hingesetzt worden seien.
Als wir näher kamen, begriffen wir, um was es sich wirklich han-
delte. Was von weitem Pfählen glich, war ein eigenartiger Palmen-
friedhof. Als der Bach versiegte, gingen die Bäume zugrunde, ihre
schönen Kronen vertrockneten, und die Blätter fielen ab. Die
Stämme verwandelten sich in tote Pfähle, denen es bestimmt war,
noch viele Jahre in der endlosen Savanne zu stehen.

23
An Wasserstellen stieß man auf undurchdringliches Bambus-
dickicht, in das nur die kleinen grauen Mausvögel eindringen konn-
ten, die dort umherflogen und in ihren Gewohnheiten tatsächlich
an Mäuse erinnerten. Ihre Gefieder sind so fein wie Haare.
An den Ufern der Bäche standen Dattelpalmen mit langen,
schmalen, schwertförmigen Blättern, die fächerförmig am Stamm-
ende angeordnet sind. Die schmalen Blätter, die aus langen Stielen
einzeln herauswachsen, erinnern an die Federn gigantischer Vögel.
Die Sonne neigte sich im Westen. Wir waren stark ermüdet. Die
Pferde trabten dahin, kamen aber immer häufiger ins Straucheln.
Bijou spähte vergebens den Weg entlang. Niemand war zu sehen.
Plötzlich berührte er meine Hand und stieß aufgeregt hervor: „Sehen
Sie einmal dort, der Gepard geht auf die Jagd!"
Über die Savanne sausten zwei kleine, braune Antilopen dahin.
Ihre Leiber schwebten langausgestreckt über dem dichten Gras. Ihre
Vorderbeine drückten sich beim Sprung fest an den Körper. Die
spitzen Ohren standen senkrecht in die Höhe. Die Tiere hatten die
Köpfe mit den kleinen, geraden Hörnern leicht zurückgeworfen und
schienen über den Boden dahinzufliegen. Dicht hinter ihnen jagte
in riesigen Sprüngen ein Gepard - eine große, orangegelbe, gefleckte
Katze mit langen Beinen. Im Laufen ähnelte das Raubtier erstaun-
lich einem Hunde. Die Antilopen hatten den Weg schon fast erreicht,
als der Gepard einen großen Sprung machte und eine von ihnen
zur Strecke brachte. Sie schrie laut und kläglich. Die andere Anti-
lope schlug entsetzt einen Haken und war bald in der Ferne ver-
schwunden.
Unsere Pferde witterten das Raubtier, zerrten an den Zügeln und
bäumten sich auf. Als der Gepard uns bemerkte, packte er seine
Beute und jagte mit großen Sprüngen davon in die Savanne. Die
Pferde schielten lange ängstlich in die Richtung, in der das Raubtier
verschwunden war.
Vor uns auf dem Wege tauchte die Gestalt eines rennenden
Mannes auf.
„Tassama!" brüllte Bijou. „Sehen Sie nur, das ist Tassama!"
Wir setzten unsere ermüdeten Pferde in Galopp und hatten Tas-
sama bald eingeholt. Er lief mit gesenktem Kopf und angewinkelten
Armen, ohne sich umzusehen. Als er uns bemerkte, blieb er stehen
und holte mühsam Atem. Der Schweiß floß in Strömen über sein
dunkles, erschöpftes Gesicht. Eine Strähne struppiger, schwarzer
Haare klebte an der nassen Stirn.
„Na, du bist ja schön gerannt!" rief Bijou fröhlich seinem Freund
zu. „Ich dachte schon, wir würden dich nicht mehr einholen. Steig
aufs Pferd, setz dich hinter mich."

24
Es war schon fast dunkel, als wir das Haus Bijous erreichten. Es
lag an einem See, der tief unten, in einem riesigen Kessel, undeut-
lich schimmerte. Bijous Frau, eine alte Abessinierin, wollte schon
aufstehen, um uns das Abendessen zuzubereiten, doch er mochte
nicht länger warten und eilte zu dem Großgrundbesitzer. Nach einer
halben Stunde kam er munter und froh zurück.
„Mein Gläubiger war sichtlich unzufrieden, daß ich ihm das Geld
gebracht habe." Bijou brach in lautes Gelächter aus. „Er war offen-
bar schon fest entschlossen, mein Land an den Amerikaner zu ver-
kaufen. Doch der Zahltag war noch nicht vorüber, und der Ärmste
mußte wohl oder übel das Geld noch nehmen.

Die Jagd am nächsten Morgen war erfolglos. Ohne Wild ange-


troffen zu haben, kehrten wir nach Hause zurück. Plötzlich erblickten
wir neben uns, hinter einer Agavenstaude, einen seltsamen Vogel.
Er ähnelte einem Adler, doch hatte er die langen Beine eines
Reihers. Der Blick seiner runden, braunen Augen war scharf und
durchdringend. Erregt lief der Vogel mit Riesenschritten über den
Erdboden, ohne uns zu bemerken.
„Leise!" flüsterte mir Bijou zu. „Der Sekretär kämpft mit einer
Schlange."
Wir versteckten uns hinter den langen fleischigen, merkwürdig
geschwungenen Blättern einer riesigen Agave und beobachteten vor-
sichtig den Kampf. Der Sekretär lief um die schwarze, zwei Meter
lange Schlange herum, die ihren Kopf hoch über den Boden erhob,
und stürzte sich plötzlich mit einem heiseren, kriegerischen Schrei
auf sie, wobei er den kurzen, krummen Schnabel weit öffnete und
die Flügel spreizte. Wütend warf sich die Schlange dem Feind ent-
gegen.
Der Sekretär streckte, um sich zu schützen, den Flügel vor, und
der Biß der Schlange ging in die langen Konturfedern, ohne dem
Vogel Schaden zuzufügen. In demselben Augenblick versetzte der
Sekretär ihr einen Schlag, packte sie mit den Krallen direkt im Ge-
nick, drückte sie gegen den Erdboden und gab ihr mit seinem schar-
fen Schnabel mehrere Hiebe auf den Kopf. Die Schlange wand sich
wie toll und suchte sich aus den eisernen Krallen zu befreien. Noch
einige Hiebe, dann bewegte sie sich nicht mehr. Der Sekretär hob
den Kopf, blickte um sich, schwang sich dann kreischend in die Luft
empor und trug seine Beute davon.

Nach dem Mittagessen machten wir uns zusammen mit Tassama


auf zum See. Er wohnte im Nachbardorf und war hier ein gern ge-
sehener Gast. Bijou und der Freund gingen oft gemeinsam auf die

25
Jagd und blieben manchmal wochenlang im Wald. Eine gute Kame-
radschaft verband sie seit jenem Tage, als Bijou Tassama auf der
Jagd aus den Klauen eines Leoparden gerettet hatte. Bis zum näch-
sten Dorf waren es mehrere Kilometer, und Bijou und seine Frau
waren fast immer allein. Das einzige Haus, das sonst noch in ihrer
Nähe am See lag, war das, das sich der Amerikaner Multon hier
kürzlich gebaut hatte, aber es wurde selten von seinem Besitzer
aufgesucht.
Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig. Das grelle
Licht stach in die. Augen. Am Wasser, neben einem Boot, stand Mul-
ton. Wir begrüßten ihn, setzten uns am Ufer nieder und fingen mit
Hilfe kleiner Kügelchen Fische. Der Köder war aus einem Gemisch
der giftigen Bohnen der Berber-Akazie und Mehl hergestellt. Trotz
der Mittagsstunde machten wir einen guten Fang. Die Fische nasch-
ten von unserem Köder, kamen betäubt, bäuchlings an die Ober-
fläche, und wir fischten sie schnell mit Handnetzen heraus.
Der See füllte den Krater eines erloschenen Vulkans. Sein Wasser,
das tief aus der Erde hervorkam, war kalt und klar. Steile Ufer um-
gaben ihn von allen Seiten und trennten ihn von der übrigen Welt.
Nur an einer Stelle war ein kleiner Durchgang inmitten der Felsen.
Es war, als ob ein gigantisches Schwert auf den Rand der riesigen
Steinschale niedergesaust sei und sie bis hinunter zum Wasser ge-
spalten hätte. Dieser Durchgang wurde häufig von Tieren benutzt,
die zur Tränke kamen, und die Jäger pflegten sich hier auf die
Lauer zu legen.
Üppiges grünes Dickicht reichte bis an das Wasser hin. Riesige
Feigenbäume mit breiten, fünfzackigen Blättern und watteweichen,
süßen, birnenförmigen Feigen wuchsen neben Carica Papaya* mit
großen, hellgelben Früchten. Chamaerops humilis**, mit nach oben
sich verdickenden Stämmen, standen, als ob sie in schwarzen, zotti-
gen Filz eingehüllt seien, inmitten hellgrüner Sträucher. Zitronen
und Apfelsinen wuchsen hier wild. Es war eine kleine Welt für sich
mit eigenen klimatischen Gesetzen. Hier herrschte ewiger Lenz. Der
Wald, der die Ufer des Sees bedeckte, war stets grün wie im Früh-
ling. Besonders machte sich die Abgeschiedenheit dieser kleinen,
grünen Insel in der Trockenzeit bemerkbar, die hier länger als ein
halbes Jahr andauerte. In dieser Zeit war die Savanne, die um den
Krater herumliegt, fast tot. Das von der glühenden Tropensonne
versengte Gras hatte sich niedergelegt und war vertrocknet. Der
Wind wehte Staubwolken über die Ebene. Die wenigen, einzeln-
stehenden Bäume ließen traurig ihre gelb gewordenen Blätter hängen.
• Carica Papsfya m Melonenbaum
•• chamaerops humilis = Zwergpalme.

26
Doch um den See herum, an den Abhängen des Kraters, war der
Wald grün wie immer. Die klimatischen Gesetze der Savanne griffen
nicht auf ihn über. Die Dürre berührte ihn nicht.

Wir saßen im Schatten riesiger Bananenstauden. Rechts von uns


rauschte hohes Schilf, das einem Bambusdickicht ähnelte. Links war
ein mit dichtem, niedrigem Gras überwachsener kleiner Absatz, der
sich an den mit Gebüsch bedeckten Abhang anschloß. Darauf lag,
auf dicken Holzstützen, mit dem Kiel nach oben, ein schönes Boot.
Vor einer Stunde war es weiß gestrichen worden, und jetzt lief
Multon um das Boot herum, betrachtete die Arbeit kritisch und
schimpfte auf die soeben fortgefahrenen italienischen Maler.
„Banditen", sagte er wütend. „Regelrechte Banditen! Für lumpige
drei Stunden Arbeit haben sie mir zweihundert abessinische Dollar
abgeknöpft."
„Was regen sie sich denn auf?" lachte Bijou. „Sie nehmen doch für
ihre Stoffe den fünffachen Preis und nützen den Umstand, daß es im
Augenblick in Addis Abeba wrenig davon gibt. Und die Maler sind
doch aus fast hundert Kilometer Entfernung hierhergekommen!"
Multon sah ihn von der Seite an und antwortete nichts. Er war
ein hagerer, galliger Mensch von etwa vierzig Jahren, mit einem
kleinen, rötlichen Schnurrbärtchen und weißen Wimpern, flink und
außerordentlich lebhaft.
Multon war geldgierig. Er litt darunter, daß jeder neue Tag neue
Ausgaben brachte, denn er wollte, nach seinen eigenen Worten, um
jeden Preis eine „Million machen". Er hatte beschlossen, nicht ohne
sie nach Amerika zurückzukehren. Diese Ausgabe von zweihundert
Dollar brachte ihn außer sich. Doch er hatte seinen reichen Be-
kannten, Mister Shoffield, zum Bootfahren eingeladen. Er mußte das
Schiff unbedingt in Ordnung bringen, denn Mister Shoffield war ein
wichtiger Mann.
Der leichte Wind hatte sich ganz gelegt, und es wurde un-
erträglich heiß. Irgendwo in der Nähe summte leise eine einsame
Biene. Zwei Abessinier aus dem Nachbardorf Mesnu, die den Italie-
nern beim Streichen des Bootes geholfen hatten, badeten weit
draußen in der Mitte des Sees. Unter fröhlichen gegenseitigen Zu-
rufen jagten sie einander nach. Ich kannte sie gut. Es waren Vater
und Sohn.
Plötzlich zeigte Tassama, der außerordentlich gute Augen hatte,
mit seiner braunen Hand nach dem felsigen Taleingang und stieß
einen Schreckensschrei aus: „Ein Sandöo*!"
* Sandöo (amharisch)=Krokodil. Das Amharische ist die Sprache des herrschenden
Stammes von Abessinien. (In Abessinien gibt es etwa hundertdreißig Stämme.)

27
Bijou warf einen kurzen Blick auf das gegenüberliegende Ufer
und sprang auf.
„Was ist los?" fragte ich bestürzt. Ich konnte nichts sehen. Das
helle Sonnenlicht, das von der Wasseroberfläche zurückgestrahlt
wurde, blendete mich.
„Aus dem Spalt da drüben ist ein Krokodil ins Wasser gekom-
men", sagte Bijou und zeigte nach dem gegenüberliegenden Ufer.
„Hallo, schnell zurück!" rief Tassama den Schwimmern zu. „Ein
Sandöo!"
Bijou nahm das Gewehr, das er immer bei sich trug, und feuerte
einen Schuß ab, um die Aufmerksamkeit der Abessinier auf sich zu
lenken. Die Schwimmer bemerkten das Alarmsignal, das ihnen vom
Ufer aus gegeben wurde, und kamen auf uns zugeschwommen.
„Das Boot ins Wasser!" stieß Bijou erregt hervor. „Dreht es um!
Faßt alle an einer Seite an!"
„Es ist noch feucht!" rief Multon wütend und kam zum Boot ge-
laufen. „Ihr kratzt mir die ganze Farbe ab. Ich habe zweihundert
Dollar dafür bezahlt!"
„Da ist ein Krokodil!" sagte Bijou erregt und versuchte, das Boot
umzudrehen.
„Was machen Sie!" fauchte Multon wütend. Er klammerte sich an
den Kahn und wollte nicht zulassen, daß wir ihn wendeten. „Und
wer ersetzt mir meinen Schaden? Wenn Sie so freigebig sind, be-
zahlen Sie mir die zweihundert Dollar."
„Ich habe jetzt kein Geld", entgegnete Bijou scharf. „Die Men-
schen müssen gerettet werden. Schieb!" rief er Tassama zu. „Was
stehst du da 'rum? Schneller!"
Doch Multon hielt das Boot immer noch fest. Plötzlich ließ Bijou
es los und stieß den Amerikaner gewaltsam zurück. Multon stürzte
zu Boden, und bleich vor Zorn brüllte er: „Warte, du schwarzes
Schwein! Ich schlage dir den Schädel ein, wenn du mein Boot an-
faßt!" Er zog einen Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf
Bijou. Der stürzte zu seinem Gewehr und knackte mit dem Ver-
schluß. In seinen Augen glomm ein böses Feuer. Ich hielt das Ge-
wehr fest und ließ nicht zu, daß Bijou es auf den Amerikaner richtete.
„Lassen Sie mich!" schrie Bijou. „Ich werde ihm schon zeigen,
was...!"
„Und Sie stecken Ihren Revolver weg!" rief ich Multon zu. „Die
Menschen kommen doch um! Ich zahle ihnen das Geld."
„Das ist etwas anderes", brummte der Amerikaner und steckte
den Revolver ein. „Aber über mein Eigentum lasse ich niemand an-
ders verfügen. Bei uns würde diese schwarze Fratze für seine Frech-
heit schon an einem Ast baumeln."

28
Mit vereinten Kräften stießen wir das Boot schnell ins Wasser.
Tassama und ich besetzten die Riemen, Bijou ging mit seinem Ge-
wehr an den Bug. Multon, der immer noch brummte und auf die
Abessinier schimpfte, setzte sich ans Steuer. Und das Boot sauste
über den blauen Spiegel des Sees dahin. Der erregte Bijou hielt die
zu einem Sprachrohr zusammengelegten Hände an den Mund und
brüllte den Abessiniern zu: „Mataferi, Gauri! Schneller, schneller!
Warum schwimmt ihr so langsam!"
Doch die beiden waren schon stark ermüdet und konnten kaum
noch die Arme bewegen. Vornweg schwamm der vierzehn Jahre
alte Gauri. Der Vater sah sich oft nach dem schnell näher kom-
menden Raubtier um und stieß Gauri vorwärts. Beide waren völlig
ermattet. Schon sah man den dunklen, glitzernden Rücken des Kro-
kodils, der leicht gekrümmt und mit knöchernen Auswüchsen be-
deckt war. Vor seinem schmalen, platten Kopf mit den unbeweg-
lichen Glotzaugen gingen kleine Wellen auseinander. Der lange, mit
Hornzacken bedeckte Schwanz wand sich unaufhörlich durchs
Wasser.
„Wir werden es wohl nicht schaffen!" stieß Bijou erregt hervor.
Er hob das Gewehr, zielte sorgfältig und schoß. Neben dem Kopf
des Reptils spritzte durch den Aufschlag der Kugel eine kleine
Wasserfontäne empor.
„Teufel noch einmal, nicht getroffen!" rief Bijou und spie vor Wut
aus. „Eine Patrone ist nur noch drin."
Der Knabe hatte uns schon fast erreicht. Dadurch, daß Mataferi
auch noch seinen Sohn vorwärts gestoßen hatte, waren seine Kräfte
erschöpft, und er blieb zurück. Das Krokodil tauchte. Eine Garbe
von Spritzern flog in die Luft empor.
„Schneller!" brüllte Bijou, richtete sich auf und starrte ange-
spannt ins Wasser.
Wir begannen mit letzter Kraft zu rudern. Das Boot erreichte den
Knaben, und dieser klammerte sich daran fest. Wir ließen die Ruder
fahren und packten ihn bei den Armen.
„Was macht ihr!" fuhr uns Bijou an. „Rudert, er kann auch allein
ins Boot kettern. Mataferi müssen wir retten."
Kaum hatten wir einige Schläge gemacht, da tauchte in dem kri-
stallklaren Wasser ganz nahe bei dem Schwimmer die lange, dunkle
Gestalt des Reptils auf. Das Raubtier hatte den Rachen mit den
scharfen, weißen Zähnen geöffnet und schwamm so auf den Men-
schen zu. Mataferi schlug dem Krokodil heftig mit dem Fuß gegen
die Schnauzenspitze, stieß sich von ihm ab und klammerte sich mit
den Händen kramofhaft an das Boot. Aus seinen Augen sprach wil-
des Entsetzen, und er brüllte laut. Im nächsten Augenblick packte

"9
das Tier den Abessinier am Bein und riß mit solcher Gewalt daran,
daß es fast das Boot umgekippt hätte.
„Haltet ihn fest!" rief ich und ergriff den Schwimmer an dem
einen Arm.
Tassama packte ihn an dem anderen, und mit Anspannung aller
Kräfte versuchten wir, Mataferi ins Boot zu ziehen. Einige Sekunden
lang kämpften wir mit dem Raubtier und ließen nicht zu, daß es
sein Opfer auf den Grund hinabzog. Der Kopf des Reptils mit den
unbeweglichen Glotzaugen tauchte plötzlich wieder aus dem Wasser
auf, und im gleichen Augenblick krachte ein Schuß. Das Krokodil
ließ den Menschen los, spritzte eine hohe Wassersäule empor, sank
unter und tauchte nicht wieder auf. Offenbar hatte die Kugel es
tödlich getroffen. Wir zogen Mataferi ins Boot herein. Er stöhnte vor
Schmerz und zitterte noch am ganzen Körper von der Aufregung
und Angst, die er ausgestanden hatte. Sein Bauch und seine Hände
waren mit weißer Farbe beschmiert.
Bijou sah sich Mataferis blutiges Bein genau an und sagte: „Die
Knochen sind heil geblieben. Dein Glück, daß das Krokodil nicht
sehr groß war, sonst lägst du jetzt auf dem Grunde des Sees."
Er schnaufte und sah Multon wütend von der Seite an.
Wir fuhren ans Ufer und trugen Mataferi an Land. Bijou lief
sofort nach Hause. Als er zurückkam, brachte er einen großen,
weißen Lappen mit, riß ihn in Stücke und verband Mataferis
Wunden.
Multon, der sich das Boot genau angesehen hatte, drehte sich
plötzlich zu mir um und sagte in gereiztem Ton: „Ich hoffe, daß Sie
nun auch Ihr Versprechen einhalten. Die ganze Farbe am Boot ist
wegen dieser Taugenichtse zerkratzt worden."
Ich holte die Brieftasche heraus und zählte mein Geld: „Fünfzig
Dollar fehlen", sagte ich und reichte ihm das Geld. „Ich gebe Sie
Ihnen in Addis Abeba."
Multon nahm das Geld und begann es genau nachzuzählen.
Tassama und Bijou trugen Mataferi ins Haus, und bald darauf
brachten wir ihn mit Multons Auto nach Addis Abeba ins Kranken-
haus, Bijou gab Mataferi seine letzten zwanzig Dollar, damit er dem
Arzt das Geld für das Verbinden bezahlen konnte.
Nach dem Abendbrot, als wir über den Vorfall des Tages sprachen,
fragte ich Bijou, woher denn das Krokodil gekommen sei. Es waren
doch hier früher keine gewesen.
„Es ist durch Zufall hierhergeraten", antwortete Bijou nach kurzem
Überlegen. „Zur Dürrezeit kriechen die Krokodile häufig von einem
See, der nahe am Austrocknen ist, zu einem anderen hinüber. Manch-
mal legen sie auf diese Weise riesige Entfernungen zurück. Einmal

30
bin ich sogar auf ein Krokodil getreten, das sich, offenbar weil es
kein Wasser fand, in einem kleinen Sumpf In den Schlamm hineinge-
wühlt hatte und dort in Erwartung der Krempt* eingeschlafen. war.
Wahrscheinlich ist dieses Krokodil auch auf einer solchen Wanderung
gewesen."
Bijou stand vom Tisch auf. „Ich denke, es ist jetzt Zeit, schlafen
zu gehen", sagte er und reckte sich. „Wir müssen morgen.früh auf-
stehen."
Ich stimmte ihm bei. Bijou löschte die Petroleumlampe, und wir
legten uns nieder. Durch das kleine Fenster fiel das Mondlicht her-
ein. Irgendwo in der Nähe heulte eine Hyäne.
Kaum waren einige Minuten vergangen, lagen wir bereits in
tiefem Schlaf.
* Krempt = Regenzeit. . . .
MHSW Itf&ihH&ektspreisaussokraibaM,!

„Mistes* F o u n d a l "
h a t sich geirrt!

Uschi drängte sich durch die Menschenmenge zum Ausgang. Ob er gewartet


hatte? Ein Blick zur Bahnhofsuhr, 5 Minuten vor acht. 25 Minuten Verspätung!
Die Ecke am Postkasten war leer. Zu dumm, daß Werner nicht mehr da war.
Nun hatten sie sich schon zum zweiten Mal verpaßt und alles wegen dieser
Besprechungen. Warum hatte Waltraud sie nicht gehen lassen? „Wachsamkeit
muß jeden interessieren", hatte sie gesagt. „Es kann Dir doch nicht gleichgültig
sein, daß täglich Strümpfe aus unserem Betrieb verschwinden!" Jetzt würde sie
Werner erst wieder am Sonntag treffen. Mißmutig ging sie in den Wartesaal
und bestellte sich einen Apfelsaft.
Wieder strömte ein Schub Menschen in den Wartesaal. Da, das war doch
Westermeier! Sie winkte, doch er tat so, als ob er sie gar nicht gesehen hätte
und setzte sich an einen Nebentisch.
In diesem Augenblick trat ein Gast an Westermeiers Tisch, ein Ku-Damm-
Jüngling, wie er im Buche steht. Dicke Kreppsohlen, Ringelsocken, halblange
Hosen, Floridahemd: „Guten Abend, Mister Foundal!" begrüßte er Wester-
meier, steckte ihm einen Zettel zu und verschwand sofort wieder. Komisch,
dachte Uschi, warum der Jüngling den Westermeier mit Mister Foundal ange-
sprochen hat? Zu komisch. . .
Am nächsten Morgen mußte Uschi immer noch an diesen seltsamen Vorfall denken.
Als sie den Betrieb betrat, erzählte sie Pförtner Hentschel von ihrem Erlebnis.
In der Mittagspause gab es große Aufregung. Westermeier war verhaftet wor-
den. Er wollte mit einer dicken Aktentasche, in der man 30 Paar Perlon-
strümpfe entdeckte, den Betrieb verlassen. Weitere 10 Paar hatte er in seiner
Kleidung versteckt.
Als Uschi davon hörte, rannte sie gleich zum Betriebsschutz. In dem kleinen
Zimmer beugten sich der Kollege Hinrichs und ein Kommissar der Volkspoli-
zei über den Schreibtisch und betrachteten einen kleinen Zettel, den man bei
Westermeier gefunden hatte. Uschi schilderte noch einmal ihr Erlebnis mit
jenem „Mister Foundal" am vergangenen Abend. Der VP-Kommissar dankte
ihr für ihre Aufmerksamkeit.
Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, vertieften sich die beiden wieder in den
Zettel mit der Geheimschrift. Was bedeuteten nur diese Zeichen?

HUENU18EHOIBNOITDPRONNO
UFFPETKNDAUGUONDNOIDDU3.
Kommissar Praß stöhnte: „Wenn wir nur einen Anhaltspunkt hätten, wie der
Schlüssel zu dieser Geheimschrift heißt. Wer weiß, welch kostbaren Fund wir
in der Hand haben, und wir wissen nichts damit anzufangen! Westermeier leugnet
natürlich, etwas zu wissen, obwohl wir den Zettel in seiner Tasche gefunden
haben."
Mit einem Mal stutzte Kommissar Praß, dann schrieb er einige Buchstaben
auf, probierte, setzte ein.
„Hurra! Hinrichs, ich hab's! Sehen Sie h e r ' Dies ist der Schlüssel zur Geheim-
schrift! Wenn man die Buchstaben des Schlüssels aufschreibt und sie dann
nochmals von hinten gelesen unter den Schlüssel sehreibt, so daß der letzte
Buchstabe unter dem ersten steht, der vorletzte unter dem zweiten und
so fort, so müssen wir nur die Buchstaben der Geheimschrift in der unteren
Reihe des Schlüssels suchen und sie durch den darüberstehenden Buchstaben
in der oberen Reihe des Schlüssels ersetzen, und die Schrift ist entziffert. Die Buch-
staben, die nicht im Schlüssel enthalten sind, bleiben unverändert."
Kaum hatten die beiden die Geheimschrift gelöst, da griff Kommissar Praß
zum Telephon und benachrichtigte das Überfallkommando.
Dann kamen fünfzig Minuten der Spannung und des Wartens. Endlich schrillte
das Telephon, und als Praß den Hörer abgenommen und gelauscht hatte, ging
ein breites Lächeln über sein Gesicht.
„Ja, in Ordnung!"
Dann legte er den Hörer wieder auf. Freudig streckte er Uschi seine Hand ent-
gegen.
„Mädel, ich gratuliere Dir von ganzem Herzen. Die ganze Bande ist dingfest
gemacht, und der Bubi vom Wartesaal ist auch dabei."

Und nun, liebe Leser, liegt es an Euch zu zeigen, ob


Ihr so scharfsinnig seid wie Kommissar Praß. Unsere
Frage lautet: Wie ist der Text der Geheimschrift?
Wir wünschen Euch viel Erfolg und recht viel Spaß
beim Knobeln. Schickt uns Eure Lösung mit dem Ab-
schnitt IVr. 29 (letzte Seite unten rechts) bis zum
15. Januar 1954 (Poststempel) ein.

Euer

V E B L A G N E U E S L E B E * • B E R L I N W 8
Warum denn so traurig? Weil diese interessanten und span-
nenden Erzählungen schon zu Ende sind?

£s Cfaht ja waltafit

Wir haben aufgepaßt und all' die packenden,


fesselnden Erlebnisse, die I. Walentinow wäh-
rend seiner großen Reise in Afrika hatte, in
einem schönen, reich illustrierten Buch zu-
sammengefaßt, das unter dem Titel:

Erzählungen
über
Afrika
in unserem Verlag erschienen ist.
In jeder Buchhandlung kann man dieses 196 Seiten um-
fassende Buch zu einem Preis von 4,- DM erhalten.

Leider können wir Euch aus Platzmangel heute nur


zwei der 50 Preise verraten:

1 Ski-Ausrüstung
1 Photoapparat
In Nr. 30 findet Ihr die vollständige Aufstellung der
Preise, die auf den Gewinner warten.

You might also like