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Dominik Finkeide
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe
und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und
Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie
Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und an-
dere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.
ISBN 3-7705-3932-X
© 2003 Wilhelm Fink Verlag, München
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde 2003 von der Hochschule für Philosophie Mün-
chen, Philosophische Fakultät SJ, als Dissertation angenommen. Mein besonde-
rer Dank gilt Professor Norbert Brieskorn SJ für die engagierte und geduldige
Betreuung. Ferner danke ich den Professoren Inka Mülder-Bach, Winfried Men-
ninghaus und Rainer Warning. Sie haben mir mit Anregungen, Kritik und inspi-
rierenden Gesprächen bei der Erarbeitung dieser Studie sehr geholfen.
I Bayerische |
Staatsbibliothek
München
„Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt
mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegen-
über gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheime-
ren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren."
Goethe
,,[D]as Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert,
weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, - daß
wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten
Wahrheiten ausspricht."
Novalis
„Est-ce que la photographie est ressemblante? Pas plus que la peinture ä l'huile,
ou tout autant."
Flaubert
INHALT
EINLEITUNG
Prousts Stil 111 — Prousts „System von Parenthesen" und Benjamins Rede
über den Traktat 112 — Textur und Arabeske 114 - Impressionismus als
Vorbild 116 - Theorie der Metapher 119 - Ent-Fernung als Überblendung
von nah und fern 122 - Exkurs: Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist
122 — Zwei Weisen des Sehens 123 - Das Bild als Innen- und Außengrenze
124 - Palimpsest bei Proust und Benjamin 126 - Prousts Poetik des Erha-
benen 129 - Dekonstruktion der Erinnerung: „Einmal ist keinmal" 131 -
Baudelaires „passante" 134 - Der unendliche Aufschub der Vergangenheit
139 - Proust als Interpret des Simonides von Keos 145 - Benjamin, Proust
und Kafka 149 - .Ausgraben und Erinnern" 150
SCHLUSSBETRACHTUNG 179
SIGLENVERZEICHNIS 185
LITERATURVERZEICHNIS 187
INDEX 193
EINLEITUNG
Das ursprünglich von Marcel Proust auf zwei Teile konzipierte Werk A la recher-
che du temps perdu .explodierte' bei seiner Entstehung unter der Feder seines Au-
tors und wuchs schließlich auf sieben Teile an, die in den Jahren 1913 - 1927 in
fünfzehn Bänden veröffentlicht worden sind. Darin beschreibt der französische
Romancier den verzweifelten Wettlauf mit der zerrinnenden, kalendarischen Zeit
des eigenen Lebens und den Versuch, die verlorene Vergangenheit kraft der Er-
innerung in der Sprache zu bannen. Dabei wird die Erinnerung in dem Roman
zum Problem, denn die Vergangenheit ist dem Gedächtnis nicht ohnehin prä-
sent, sondern muss rekonstruiert werden.
Im Mittelpunkt des Romans steht der Erzähler Marcel. Ihm gelingt es als Ver-
treter des Großbürgertums, in den geheiligten Zirkel der französischen Adelsge-
sellschaft, dem Faubourg Saint-Germain, einzutreten, wobei aus dem übersen-
siblen und beobachtungsfreudigen Literatur- und Kunstliebhaber im Laufe der
Geschichte der mutmaßliche Autor der Recherche selbst wird. Somit schließt sich
nach über 3000 Seiten der Personenkosmos dieser Berufungsgeschichte zum
Schriftsteller und endet in dem Bild eines Zirkels: Marcel entschließt sich, die Re-
cherche niederzuschreiben, und verweist den Leser zurück auf die erste Seite des
Romans.
Neben Rainer Maria Rilke und Ernst Robert Curtius gehört Walter Benjamin
zu den ersten, die die Recherche in Deutschland rezipierten und ihren literarischen
Wert sowie ihre philosophische Tiefe erkannten. Benjamin verbindet mit Proust
eine enge Beziehung, die sich in seinen eigenen philosophischen und literarischen
Werken niedergeschlagen hat. Er trat ihm als Literaturkritiker und Übersetzer ge-
genüber und ließ sich als Autor autobiographischer Schriften von dem Memoi-
renwerk des Romanciers inspirieren. Dieses Verhältnis zwischen den beiden Au-
toren soll in dieser Arbeit näher untersucht werden. Denn Benjamin erfüllte ein
wesentliches Kriterium, wie es sich Proust selbst von einem Leser der Recherche
gewünscht hat: Nicht nur das Leben, bzw. die gesammelten Erkenntnisse des
Autors zu ergründen, sondern auch die Recherche als Spiegel eigener Erfahrungen
und als Quelle der individuellen Einsicht zu nehmen.' Dass dieses Rezeptions-
verhältnis jedoch auch von Spannungen durchzogen ist, bestätigt Benjamin
selbst. In einem Brief vom 18. September 1926 beschreibt er seinem Freund
Gershom Scholem die ihn auszehrende Mühsal seiner Übersetzungsarbeit der Re-
cherche. „Die unproduktive Beschäftigung mit einem Autor, der Intentionen, die,
ehemaligen zumindest, von mir selbst verwandt sind, so großartig verfolgt, führt
bei mir von Zeit zu Zeit so etwas wie innere Vergiftungserscheinungen herauf."2
Wenn Benjamin sich immer wieder auf Proust bezieht, so darf man daraus
schließen, dass ihm - im Gegensatz zu der Vielzahl anderer Schriftsteller und
Philosophen, mit denen er sich beschäftigt hat - eine besondere Bedeutung zu-
kommt. Dem nachzugehen bedeutet wiederum, Benjamins Werke nicht einfach
zu befragen auf die Präsenz Proustscher Motive und Theoreme. Vielmehr geht es
darum, sich an die Modifikationen heranzutasten, die Benjamins philosophisches
Werk aufgrund seiner Proust-Lektüre im Bereich der Mimesis, Erfahrungs- und
Sprachtheorie erfahren hat. Die vorliegende Arbeit macht es sich daher zum Ziel,
das behauptete Rezeptionsverhältnis zwischen Proust und Benjamin durch den
Nachweis von konkreten Korrespondenzen, Transformationen und Differenzen
systematisch, nicht nur punktuell zu erhellen. Schon zur notwendigen Begren-
zung des Themas schien es angebracht, die Perspektive der Arbeit genau abzu-
stecken, was dadurch erleichtert wurde, dass sich bei der Lektüre der Begriff der
Mimesis als philosophisches Leitthema in dem Verhältnis von Proust und Benja-
min ergab und in den Mittelpunkt der Untersuchung rückte. Denn Proust und
Benjamin legen beide in ihren Werken nahe, dass das Nachgeahmte, in der Dar-
stellung Abgebildete, bestimmt wird von der Medialität des Mediums selbst,
nicht von einer Logik der Repräsentation. Diese im Verlauf der Arbeit noch sehr
viel genauer zu belegende These soll an dieser Stelle einführend erläutert werden.
In diesem Falle aber sind ihre Werke Abbilder von Abbildern, d.h. Trugbilder im
Quadrat.
Wie der Verweis auf Piaton deudich macht, wurde Mimesis in den histori-
schen Anfängen ihres Verständnisses in den Zweck des präsent zu machenden
Gegenstands eingesperrt. Dagegen erweist sie sich in der Moderne als eine per-
formative Aktivität, wie Benjamin und Proust auf unterschiedlichen Feldern (hier
Literatur, dort Philosophie) nahe legen. Es fragt sich, ob es den nachzuahmenden
Gegenstand - das Urbild, mit Piaton gesprochen - überhaupt vor aller nachträg-
lichen Modellierung gibt, denn anscheinend kann der nachzuahmende Gegen-
stand immer nur als modellierter gegenwärtig sein.
Für Benjamin ist die Recherche der große „Einzelfall der Dichtung", weil die
Sprache Prousts mit dem Urbild-Abbild Verhältnis der klassischen Mimesis nicht
mehr vereinbar scheint. In seinem Aufsatz „Zum Bilde Prousts" aus dem Jahre
1929 zeigt Benjamin als einer der ersten Interpreten, dass sich hinter Prousts
Konzept der Wirklichkeitsdarstellung die Einsicht einer Medialität der Sprache
versteckt, in der die Relationen und Verweisungen als unendliche, systematische
Zusammenhänge auftreten. Diese haben Priorität vor der vermeintlichen Dar-
stellungsfunktion der Sprache, womit sich das zentrale Thema der Recherche, die
Suche nach der verlorenen Vergangenheit und ihrer Habhaftwerdung in der Nie-
derschrift, bei Proust als ein uneinholbarer Prozess in der Tiefenstruktur der
Sprache erweist. Die Sprache als Geflecht von Differenzen widersteht der Oppo-
sition zwischen Sensiblem und Intelligiblem, weil - wie Derrida bemerkt - sie sie
trägt.4
Im repräsentationslogisch gedachten Verhältnis von Urbild (Marcels Vergan-
genheit) und Abbild (der von Marcel verfasste Roman: die Recherche) zeigt Proust
eine Neuinterpretation gegenüber der platonischen Zweiteilung zwischen guter
und schlechter Mimesis. Das Ziel der Arbeit besteht somit darin aufzuzeigen, in-
wiefern Prousts Recherche Benjamins Rede vom „mimetischen Vermögen" des
Menschen auf dem Feld der Sprache in Szene setzt. Benjamin schreibt selbst in
seiner Schrift: Lehre vom Ahnlichen: „Dergestalt wäre die Sprache die höchste
Verwendung des mimetischen Vermögens: ein Medium, in das ohne Rest die
früheren Merkfähigkeiten für das Ahnliche [...] eingegangen"5 sind.
Die in den Kapiteln prozesshaft aufgewiesenen Parallelen und Analogien in
den Denkmustern von Proust und Benjamin sollen dabei deutlich machen, in-
wiefern beide Autoren uns nahe legen, darstellungstheoretische Oppositionen von
Einmaligkeit und Beschreibbarkeit, Authentizität und Reproduzierbarkeit, als
Entfaltungen der Ambivalenz des Mimesis-Begriffs zu denken. Die erwähnten
Gegensätze tauchen bei beiden Autoren nicht als starre Alternativen auf, zwischen
denen man wählen kann. Sie müssen vielmehr als Wechselverhältnisse gedacht
4 Jacques Derrida: Die difTerance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29-52, be
sonders S. 38.
5 Benjamin, II, S. 209. (Hervorhebung D.F.)
14 EINLEITUNG
werden, die aus der Spannung zueinander, nicht aus der Reduzierung zugunsten
des einen oder anderen Pols ihre Bedeutung beziehen.
Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob es über die aufgewiesenen systema-
tischen Übereinstimmungen hinaus auch einen kausalen Zusammenhang zwi-
schen Benjamins Proustrezeption und der Fort- und Weiterentwicklung seiner
Mimesis-Theorie gibt. Hier liegen jedoch verschiedene Hürden, die berücksich-
tigt werden müssen. Eine erste Gefahr besteht darin, von einer konsistenten Mi-
mesis-Theorie Walter Benjamins auszugehen, die - zu einem festen Zeitpunkt
entwickelt - ein klar abgrenzbares Segment seines philosophischen Schaffens wä-
re. Leider hat Benjamin seinen Lesern nicht eine Mimesis-Theorie in systemati-
scher Form hinterlassen. Vielmehr erstreckt sich das mimesistheoretische Gedan-
kengut beinahe auf alle Bereiche seines philosophischen Schaffens: angefangen bei
seinen kurzen Traktaten über die Sprache, über seine autobiographischen Schrif-
ten bis hin zu seinem Spätwerk. Trotz dieser Streuung liegt es dennoch nahe an-
zunehmen, dass die Entdeckung der Proustschen Recherche für Benjamins Inter-
pretation der Sprache einen Einschnitt darstellt. Proust scheint sprach- und mi-
mesistheoretische Grundgedanken in literarischer Form vorwegzunehmen, wie sie
Benjamin in den beiden Trakten Die Lehre vom Ahnlichen, Über das mimetische
Vermögen und in seiner Betonung der semiologischen Seite der Sprache zum
Ausdruck bringt. Inwiefern der französische Romancier den Philosophen Benja-
min beeinflusst haben könnte auf dem Weg von der Sprach-,Magie' zur Semiolo-
gie, soll eine genaue Analyse der Proustschen Poetologie zeigen, die sich beson-
ders an Benjamins Interpretation im Proust-Aufsatz ausrichtet. Diese wichtige
Quelle für die Weiterentwicklung von Benjamins Mimesis-Theorie ist von der
Sekundärliteratur bisher kaum beachtet worden.6
Die vorliegende Arbeit versteht sich als vergleichende Studie zu Benjamin und
Proust. Sie diskutiert diese vielversprechende Wahlverwandtschaft unter fünf Per-
spektiven: Das 1. Kapitel unternimmt eine Standortbestimmung der beiden Au-
toren und zeigt, inwiefern ihre Werke, trotz unterschiedlicher zeidicher, gesell-
schaftlicher und nationaler Kontexte, nebeneinander gestellt eine Schnittmenge
in ihrer Kritik an der Moderne bilden. Proust und Benjamin kommen zeitversetzt
zu einer ähnlichen Diagnose der Erfahrungsarmut, die der deutsche Philosoph
kulturhistorisch, der Romancier im Bild des Snobismus in der Zeit des Fin de
maßgeblicher Nährboden der Katastrophen des 20. Jahrhunderts war. Aus der
Erfahrung von Identität im Zeichen der Differenz wird der Verlust metaphysi-
scher Grundbegriffe wie Wahrheit, Ursprung, Substanz für beide Autoren zu ei-
ner neuen Lust in der Zeichenproduktion, die neue Erfahrungen in einer durch
Erfahrungsarmut geprägten Welt angeblich ermöglichen soll.
Das 5. Kapitel behandelt am Beispiel einer von Benjamin analysierten Sprach-
gestalt noch einmal im Detail die vorhergehenden Thesen. Es fokussiert auf Ben-
jamins Theorie der Allegorie in seiner Habilitationsschrift „Ursprung des deut-
schen Trauerspiels" und der herausragenden Stellung, die der Allegorie im Werk
von Proust zukommt. Die Allegorie steht bei beiden Autoren einem ungebroche-
nen Verhältnis von Urbild und Abbild entgegen und gleicht so dem inszenierten
Einbruch eines Repräsentationsverhältnisses, dessen Kollaps sowohl Mimesis-
Theorie als auch Poetologie thematisieren. Neben einer Bündelung der Erkennt-
nisse in der Schlussbetrachtung am Ende der Arbeit wird auch ein kritischer Blick
auf die Positionen der beiden Klassiker geworfen. Dabei steht die Frage im Mit-
telpunkt, ob die analysierten philosophischen Standpunkte nicht Gefahr laufen,
einem Relativismus zu verfallen, der den Wert der Erkenntnisse beider in Frage
stellt.
9 Barbara Kleiner: Sprache und Entfremdung - Die Proust-Übersetzungen Walter Benjamins in-
nerhalb seiner Sprach- und Übersetzungstheorie, Bonn 1980.
10 Ebenda, S. 174.
11 Ebenda, S. 175.
12 Ebenda, S. 175.
EINLEITUNG 17
tischen Ton und den Hang zum Morbiden, Zerfallenden" darzustellen, nicht oh-
ne weiteres nachvollziehbar, zumal das Kriterium des ,Tons' oder .sounds' schwer
zu fassen ist. Darüber hinaus bleibt auch ihre Proust-Lektüre in dem Abschnitt
„Benjamin und Proust" zu abrisshaft, um ein inneres Band zwischen Prousts
Poetik und Benjamins Ubersetzungstheorie zu knüpfen. Da diese Arbeit aber
schon aus dem Jahr 1980 stammt und somit wesentliche Erkenntnisse der neue-
ren Proust-Forschung nicht berücksichtigen konnte, ist ihre Leistung beachtlich.
Auch Robert Kahn widmet sich in seinem Werk „Images, Passages: Marcel
Proust et Walter Benjamin"" zu einem großen Teil der Ubersetzungstheorie,
wobei er sich von Barabara Kleiner absetzt, indem er Prousts Übersetzungen der
Werke John Ruskins „La Bible d'Amiens" und „Sesame et les Lys" in den Ver-
gleich mit einfließen lässt. Ahnlich wie Kleiner geht es ihm um die Rehabilitie-
rung der Übersetzungen, die Benjamin mit Franz Hessel im Jahr 1925 begonnen
hat: „L'etude detaillee de la traduction Benjamin-Hessel [...] a voulu montrer
que [...] l'activation d'un processus de ,commentaire' parallele ä l'acte de traduc-
tion lui [Benjamin] ont permis de transmettre en allemand des significations que
la critique proustienne n'a mises en valeur qu'assez recemment [...]." H Kahn
zeigt in den vier Kapiteln seiner Arbeit eine breite intellektuelle Übereinstim-
mung zwischen den beiden Denkern, wobei er Prousts Einfluss auf Benjamins
Sprachphilosophie in erster Linie auf Marcels kindliche Wortspekulationen redu-
ziert. Wenn Kahn jedoch schreibt, es sei die mystische Kraft der Proustschen
Sprache, „le pouvoir mystique du langage", die Benjamin an Proust fasziniert
hätte, „qui attire irresistiblement Benjamin vers l'oeuvre de Proust"15, dann zeigt
das, inwiefern seine Interpretation Benjamins Entwicklung von der „Magie" zur
„Semiologie" vernachlässigt. Benjamins Mimesis-Theorie, die von der Sprach-
philosophie nicht zu trennen ist, findet daher auch bedauerlicherweise zu wenig
Beachtung in der sonst lehrreichen und anregenden Studie.
Eine neuere Arbeit stammt von Henning Teschke16, die ihren Schwerpunkt
auf die Begriffe „unwillkürliche Erinnerung" und „dialektisches Bild" legt. Einer-
seits sollen die für Proust und Benjamin zentralen Begriffe durch den Gang der
Arbeit selbst erarbeitet werden. Zum anderen geht es um die „Petitio principii
von Explicans und Explicandum, sofern Benjamin auf Proust, in der Folge Proust
auf Benjamin abgebildet wird, wobei das zu verstehende Phänomen und der
Grundriss seiner Erklärung sich reziprok immer schon voraussetzen, die Differenz
von Theorie und Roman, metaästhetischer und ästhetischer Wahrheit unterlau-
fen."17 Dem Autor gelingt eine überzeugende Gegenüberstellung der beiden
Denker. Trotzdem bleibt die Interpretation zu einem großen Teil auf einer her-
meneutischen Ebene mit Kapiteln zu „Madeleine", „Elstir", „Musik", ohne einen
13 Robert Kahn: Images, Passages - Marcel Proust et Walter Benjamin, Paris 1998.
14 Ebenda, S. 218.
15 Ebenda, S. 218.
16 Henning Teschke: Proust und Benjamin - Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild,
Würzburg 2000.
17 Teschke, S. 8.
18 EINLEITUNG
Blick auf die strukturellen Wechselverhältnisse von Proust und Benjamin in ihrer
Reflexion auf die Sprache zu werfen. Es ist nicht erkennbar, wieso die Arbeit
Benjamins Interpretation der Proustschen Poetologie vernachlässigt, die mit dem
Bild von der „Penelopearbeit des Eingedenkens" im Zentrum des Proust-
Aufsatzes steht. Die von Benjamin wiederholt konstatierte „Diskrepanz von Poe-
sie und Leben" zeigt das Ich nur als strukturell gesichertes Imaginäres, als Kon-
strukt des Schreibens. Davon ist bei Teschke aber nicht die Rede, obwohl seine
Ausführungen zu Proust diese Lektüre durchaus nahegelegt hätten.
Was die Größe von Proust und Benjamin ausmacht, ist nicht die Tatsache,
dass sie beide der Moderne angehörten, sondern dass sie es verstanden haben, de-
ren Instabilität aufzudecken, eine Instabilität, die sich als Bruch mit einer abend-
ländischen Denktradition, einer dualistischen Ontologie ausdrücken lässt. Im
Gegensatz zu den oben erwähnten Interpretationen geht es somit der vorliegen-
den Arbeit darum, das Denken beider Autoren dort in ein systematisches Wech-
selverhältnis zu stellen, wo sie ein neues mimesistheoretisches Konzept der Wirk-
lichkeitsdarstellung in ihrer jeweiligen Interpretation der Sprache und der Sprach-
strukturen darlegen.
I. ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN:
EINE DIAGNOSE DER ZEIT
3 Proust: Les Plaisirs et les Jours - preface d'Anatole France, Paris 1924, S. 163.
4 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte - Lebensversuche zwischen den Kriegen,
Frankfurt a.M. 1994.
5 ..Le snobisme dont se moaue Proust est difßrent de la Dreciosite^ dont rit Moliere, de l'envie chez
La Rochefoucauld, de la mode chez La Bruyere et de la vanite^ chez Saint-Simon. Cette impa-
tience de changer de classe sociale par des voies uniquement mondaines n'eüt guere reussi sous
l'Ancien Regime oü chacun savait sa place et Celle des autres, oii une grande Situation ^tait avant
tout une grande charge. On pouvait certes acquerir des titres, faire de beaux mariages et mille bas-
sesses ä la Cour, mais il fallait une faveur officielle pour sanctionner ces progres." (Philippe Jul-
lian: Dictionnaire du snobisme, Plön 1958, S. 10)
6 Vgl. Renate Hörisch-Helligrath: Reflexionssnobismus, Frankfurt a.M. / Bern 1980, S. 25.
ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT 21
lismus angebildet ist [...]."7 Künstlichkeit und ästhetische Verfeinerung legen als
Maxime des eigenen Lebens das Prinzip der Inszenierung als künsderische Praxis
nahe. Julia Bertschik zeigt, wie der Topos des Kleides als Verkleidung, des Ge-
sichts als Maske, der Geste als Theaterpose an zentralen Stellen in der Literatur
der Jahrhundertwende als Aufbruch in die Moderne gelesen werden kann.8 Diese
Beziehungslosigkeit zur eigenen Existenzgrundlage wird zum Grund eines Erfah-
rungsverfalls, der sich im ,,hohle[n] Geschwätz" zeigt, „das uns aus Prousts Ro-
manen entgegenbraust"9. Die Recherche ist für Benjamin eine soziologische Ent-
tarnung des Adels und der Bourgeoisie. Die „Einheit der Familie und der Persön-
lichkeit, der Sexualmoral und der Standesehre"10 gehen in Scherben. „Die Seele
des Snobismus ist [...] der Bluff."11
Für Karl Marx erweist sich die beseelte Eigenschaft der Dinge als ein Resultat ra-
dikaler Entfremdung der Ökonomie von der Person. „Das gesellschaftliche Ver-
hältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit", schreibt er in seinem Hauptwerk
„Das Kapital" (1867), zeigt sich den Menschen „als ein außer ihnen liegendes ge-
sellschaftliches Verhältnis von Gegenständen." Dieser Zustand macht aus der
Ware einen geheimnisvollen, erotischen Gegenstand, „einfach [...weil] sie den
Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständli-
che Charaktere der Arbeitsprodukte selbst als gesellschaftliche Natureigenschaften
dieser Dinge zurückspiegelt."12 Der .gesellschaftliche Charakter' der menschli-
chen Arbeit wird als objektive Eigenschaft der Ware selbst gesehen. In diesem
Prozess erscheint der Snob als ein neuer Menschentypus am Ende einer histori-
schen Entwicklung, die nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 in den füh-
renden Ländern im Zeichen eines entfesselten kapitalistischen Unternehmertums
einsetzt und zu einer Urbanisierung fuhrt, wie sie die Welt noch nicht gesehen
hat. Marx hat gezeigt, dass sich im Fetischcharakter der Ware den Menschen der
gesellschaftliche Charakter der eigenen Arbeit in der „phantasmagorischen Form
eines Verhältnisses von Dingen" widerspiegelt.13 Analog dazu entwickelt Proust
im Medium des Romans die Analyse einer Gesellschaft, wobei auch er auf den
Aufweis phantasmagorischer Formen zielt. Das Leben der französischen Aristo-
kratie erweist sich als Inbegriff der Entfremdung, aber einer Entfremdung, die
selbst zu einer gesteigerten Denkform geworden ist. Ernst Bloch schreibt: „Das
kapitalistische Zur-Ware-Werden aller Menschen und Dinge gibt ihnen nicht
nur Entfremdung, sondern es erhellt: Die Denkform Ware ist selber die gestei-
gerte Denkform Gewordenheit, Faktum."14 Proust beschreibt, wie die Trennung
zwischen Adel und Bürgertum zunehmend zur hohlen Repräsentationsgeste bar
jeder Legitimationsbasis verkommt. Während das Proletariat zur gleichen Zeit
um seinen sozialen Aufstieg von einer in der Wirklichkeit vorhandenen gesell-
schaftlichen Unterdrückung ausgeht, erscheint der Snob losgelöst von einer an
die Wirklichkeit zurückgebundenen Realität. Seine Wünsche sind imaginiert und
fremdbestimmt. Jean d'Ormesson interpretiert den Snobismus als „une agregati-
on de prestige ä des apparences imaginaires oü une distance sociale de type cha-
rismatique est ä la fois maintenue et supprim^e."1'' Dem Adel fällt in Prousts
cherche die Rolle zu, die mythischen, imaginären Vorstellungen des Snob über
den Glanz eines Salons und seiner Einzigartigkeit durch Ausschließungsmecha-
nismen zu verstärken. Nur das durch eine Barriere Verborgene mag den Snob zu
fesseln: „On n'aime que ce en quoi on poursuit quelque chose d'inaccessible"16.
Gleichzeitig braucht die Aristokratie den Snob als Grenzfigur zur Bestätigung ih-
rer eigenen Werte. Erst seine Sehnsucht nach Aufstieg und Zutritt kann der Ari-
stokratie ihre eigene Exklusivität versichern. Und so ist Marcels Aufnahme in den
Salon der Guermantes17 weniger ein erstes Anzeichen einer gesellschaftlichen
Öffnung als vielmehr die inszenierte Grenzziehung zwischen Bürgertum und
Adel. Unter dieser Rücksicht ist der Snobismus also kein klassenspezifisches Phä-
nomen. Er durchzieht alle Schichten der Gesellschaft. Damit entzaubert Proust
einen Mythos als Fiktion: den Glauben an die Autarkie der französischen Aristo-
kratie. Auch ihre Welt ist durch das (fremd-) Begehren Dritter bestimmt.
Der Snob kann sein Selbstwertgefühl nicht über das Produkt eines von ihm
ausgeführten Arbeitsprozesses beziehen. Produktiv dagegen wird ihm der Müßig-
gang und die Pflege seines „desir" nach weiteren Stufen auf der gesellschaftlichen
Leiter. Masochistisch ist diese Haltung, insofern sie keinen Endpunkt kennt. Das
„desir" wird Selbstzweck und nicht mehr ,Mittler' zu einer Sinnfülle, die es nie
geben kann, da immer wieder neue .Dritte' die Wege des Snob kreuzen und sein
Begehren reanimieren. Hat der Snob zu einem erlesenen Zirkel Zugang gefun-
den, so tritt ein System gegenseitiger Ehrerbietung in Kraft. Eine Art gemeinsa-
mer Narzissmus garantiert jedem Einzelnen die Anerkennung der anderen. Di-
chotomisch zum geheiligten Zusammenhalt innerhalb des Zirkels steht die Ab-
grenzung zu anderen. „Le snob tient ä franchir une distance [...] pour rendre en-
14 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1959, S. 329.
15 Vgl. Jean d'Ormesson: Arrivisme, snobisme et dandysme. in: Revue de Meuphysique et de Mo-
ral, Paris 1963, S. 443-459, S. 451.
16 Proust: La Prisonniere, in: Ders.: A la recherche du temps perdu, in 8 Volumen, Paris 1945, Bd.
V, S. 410, zitiert nach Zima, S. 97.
17 Proust II, S. 710ff.
ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT 23
suite plus sensible aux yeux d'autrui l'importance de cette distance."18 Prousts
Roman ist die Enttarnung einer selbstzerstörerisch gewordenen mimetischen
Kultur, die, losgelöst von der Realität, in imaginären Werten schwelgt. Die trian-
guläre Struktur der gesellschaftlichen Werte wird als hohle Konstruktion enttarnt.
Weil sich diese Werte in den Turbulenzen der Moderne als Attrappen erweisen,
halten sie den gesellschaftlichen Veränderungen zur Zeit der Jahrhundertwende
nicht mehr stand.
Rene Girard hat den Begriff des „mimetischen Begehrens" als anthropologische
Grundkonstante in seinem Werk „Mensonge romantique et verite romanesque"
(1961)19, mit Beispielen aus der Literatur aufgewiesen und unterscheidet dabei
zwischen externer und interner Vermittlung. Im Zentrum der externen Vermitt-
lung ist der Mittler keine Figur auf gleicher Realitätsebene mit den Romanfigu-
ren, sondern Gott-gleich über ihnen stehend (Beispiel Don Quijote). Die Distanz
ist so groß, dass das begehrende Subjekt seinem Mittler nie gleich werden kann,
aber dessen Werte für sich geltend macht. Dem gegenüber meint die interne
Vermittlung, dass Subjekt und Mittler auf gleicher Realitätsebene stehen und
schließlich in Rivalität zueinander treten um das gemeinsam Begehrte. Und so
kommt Girard schließlich auch auf Prousts Recherche zu sprechen: „Nie hat der
Ich-Erzähler einfach nur Lust, zu spielen, ein Buch zu lesen, ein Kunstwerk zu
betrachten; auslösendes Moment seiner Einbildungskraft und seines Begehrens ist
jeweils das auf den Gesichtern der Spieler ablesbare Vergnügen oder eine Unter-
haltung oder eine erste Lektüre."20 Gefährlich ist das mimetische Begehren des
Snob dann, wenn Werte entweder durch neurotisch besetzte Abgrenzungsrituale
oder sich in der Vermittlung von Dritten in einen spiralförmigen Prozess fort-
pflanzen und dabei ihre Zweckdienlichkeit für den Einzelnen selbst verlieren und
- unkontrollierbar geworden, verselbständigt, verdinglicht, autonom, - als men-
schenfeindliche in ihr Gegenteil umschlagen. Das Erwecken von Begehren und
die Vermittlung von Werten durch Dritte macht aus den begehrten Dingen ei-
nen geheimnisvollen Gegenstand, einfach weil sie den Menschen die gesellschaft-
lichen Charaktere ihrer eigenen Imaginationen als gesellschaftliche Natureigen-
schaften der Dinge selbst zurückspiegeln. Indem Proust diese angeblichen Natur-
eigenschaften (einer sich im Warenrausch befindenden Hochkultur) als imaginär
entblößt, führt er die kopernikanische Wende fort, die er im Schreibstil Flauberts
diagnostiziert: Was wir als wahre Natureigenschaft den Dingen andichten, ist in
Wahrheit ein durch Dritte vermitteltes Konstrukt.21 Der Snobismus erweist sich
somit nicht als individueller Lebensstil, sondern als eine die führenden Gesell-
schaftsschichten durchziehende Krankheit der Entfremdung. Worauf das
Proustsche „d^sir" sich ausrichtet, ist nicht substanzgesättigt, sondern eine Illusi-
on des Nicht-Haben-Könnens als ewiger, lebensnotwendiger Stimulus der Ima-
gination des Snobs nach mehr gesellschaftlichem Ansehen (und des Autors nach
mehr Text.) Die Position des Dritten als diejenige Größe, die dem Ich seine
Identität zuspricht, hat auch Richard Rorty in der Recherche entdeckt: „Proust
wurde dadurch autonom, dass er sich selbst klarmachte, warum die anderen keine
Autoritäten, sondern nur Mit-Kontigenzen waren. In seiner Beschreibung wurde
deutlich, dass sie ebenso sehr Produkte der Einstellungen waren, die Dritte ihnen
gegenüber hatten, wie Proust ein Produkt ihrer Einstellungen zu ihm."22
Die Werte der Gesellschaft haben ihre Rückkopplung an den Gebrauchswert
verloren, sind sozusagen freischwebende Repräsentationen. Der Snob besteht auf
der Abgrenzung zwischen den Salons, weil nur die Grenze ihm erlaubt, diese
Grenze zu überschreiten. Die trianguläre Struktur der Werte der Gesellschaft ist
die Bedingung seiner Existenz.
Proust weist diese trianguläre Struktur des Begehrens des Snobs als Zentrum
des Fetisch-Charakters der Ware in der kapitalistisch geprägten Gesellschaft auf:
Begehren, was andere begehren, ist ein Zyklus, der in einem unendlichen Prozess
ständig neue Waren produziert, ein Zyklus, der den Gebrauchswert durch den
abstrakten, scheinhaften Tauschwert ersetzt und selbst den Bereich der Liebe
nicht verschont.23 Wo das Tauschverhältnis dominiert, wird auch die Liebe käuf-
lich: Marcel, Saint-Loup und seine Geliebte Rahel treffen in dem Romanteil „Le
Cote de Guermantes" zwei bekannte Freundinnen, die sich mit der Schauspiele-
rin kurz unterhalten. „C'etaient deux pauvres petites poules, avec des collets en
fausse loutre, ayant ä peu pres l'aspect qu'avait Rachel quand Saint-Loup l'avait
rencontree la premiere fois."24 Für einen Moment lang ist Saint-Loup schockiert
über die sich offenbarende Klassenzugehörigkeit seiner Freundin. Dann aber ru-
fen ihm „les perles admirables de Rachel"2S ins Gedächtnis zurück „qu'elle etait
une femme d'un grand prix, il la caressa, la fit renter dans son propre coeur
[...]."26 An anderer Stelle beschreibt der Erzähler das Verhältnis von Odette und
Swann: „Sans doute si on lui fSwann] avait dit au debut: [...] ,c'est pour ta fortu-
ne qu'elle t'aime', il ne l'aurait pas cru, et n'aurait pas ete d'ailleurs tres mecon-
21 Proust: Contre Sainte-Beuve pre^de' de .Pastiches et m^langes' et suivi de .Essais et articles', hrsg.
von Pierre Clarac / Yves Sandre, Paris 1971, Bibl. de la Plelade, S. 590f.
22 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989, S. 173.
23 „Dans les personnes que nous aimons, il y a, immanent ä elles, un certain reve que nous ne sa-
vons pas toujours discerner mais que nous poursuivons. C'&ait ma croyance en Bergotte, en
Swann qui m'avait fait aimer Gilberte, ma croyance en Gilbert le Mauvais qui m'avait fait aimer
Mme de Guermantes." (Proust IV, 418) In diesem Zitat artikuliert der Erzähler Marcel die Er-
kenntnis, dass seine Begehren jeweils durch „Dritte" entfacht worden sind.
24 Proust II, S. 460.
25 Proust II, S. 461f.
26 Proust II, S. 462.
ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT 25
tent qu'on se la figurät tenant ä lui [...] par quelque chose d'aussi fort que le sno-
bisme ou l'argent."27
„II faut souvent descendre jusqu'aux etres entretenus, hommes ou femmes,
pour avoir ä chercher le mobile de l'action ou des paroles en apparence les plus
innocentes, dans l'interet, dans la n^cessite de vivre. Quel komme ne sait que,
quand une femme qu'il va payer lui dit: ,Ne parlons pas d'argent', cette parole
doit etre comptee, ainsi qu'on dit en musique, comme ,une mesure pour rien', et
que si plus tard eile lui declare: ,Tu m'as fait trop de peine tu m'as souvent cache
la verite, je suis ä bout', il doit interpreter: ,Un autre protecteur lui offre davanta-
ge'?"28
Und so bemerkt Adorno: „Das Tauschverhältnis, dem sie [die Liebe] durchs
bürgerliche Zeitalter hindurch partiell sich widersetzte, hat sie ganz aufgesogen;
die letzte Unmittelbarkeit fällt der Ferne aller Kontrahenten von allem zum Op-
fer. Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt."2<) Die romanti-
sche Liebesverklärung wird durch die Offenlegung kalkulierendem Prestigestre-
bens beinahe in allen Liebesbeziehungen der Recherche zerstört: Marcel - Alberti-
ne, Odette - Swann, Rahel - Saint-Loup, Charlus - Morel. Auf allen Ebenen der
Recherche dominiert die Käuflichkeit der Liebe wie ihre Fremdbestimmung.30
Baron de Charlus
In der Romanfigur Baron de Charlus vereinigen sich die Extreme des Snobismus.
Bei der ersten Begegnung Marcels mit Charlus wird der Erzähler eines zwiespälti-
gen, ja labilen Eindrucks des Barons inne, der nicht allein durch sein begehrliches
Interesse an dem jungen Marcel erklärbar ist. Die durchdringenden Blicke wer-
den gleichzeitig als flüchtig und tastend beschrieben. „II lanca sur moi une su-
preme oeillade ä la fois hardie, prudente, rapide et profonde, comme un dernier
coup que l'on tire au moment de prendre la fuite, et apres avoir regarde tout au-
tour de lui, prenant soudain un air distrait et hautain, par un brusque revirement
de toute sa personne il se tourna vers une affiche dans la lecture de laquelle il
s'absorba, en fredonnant un air et en arrangeant la rose mousseuse qui pendait ä
sa boutonniere."11 Nachdem Marcel auf den begehrlichen Blick nicht in gleicher
Weise antwortet, flüchtet sich der Baron in ein Schauspiel, in dem die von Mar-
27 Proust I, S. 263.
28 Proust II, S. 557.
29 Theodor W. Adorno: Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt
a.M. 1951, S. 220.
30 „En amour, notre rivaJ heureux, autant dire notre ennemi, est notre bienfaiteur. A un etre qui
n'excitait en nous qu'un insignifiant d&ir physique il ajoute aussitöt une valeur immense, Pran-
gere, mais que nous confondons avec lui. Si nous n avions pas de rtvaux, le plaisir ne se transforme-
rait pas en amour. [...] Süffisante pour notre bien est cette vie iüusoire que donnent ä des rivaux
inexistants notre soupcon, notre Jalousie." (Proust IV, S. 484, Hervorhebung D.F.)
31 Proust II, S. 111.
26 ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT
cel selbst zurückgelassene, vakante Stelle nun von einem angeblichen Dritten ge-
füllt werden muss, auf den der Baron vorgibt zu warten. Aus gekränkter Eitelkeit
vollzieht er nun unter den Augen Marcels ein ganzes Schauspiel seiner illustrier-
ten Autonomie, die sich als leere Pose erweist. „II sortit de sa poche un calepin sur
lequel il eut l'air de prendre en note le titre du spectacle annonce, tira deux ou
trois fois sa montre, abaissa sur ses yeux un canotier de paille noire dont il pro-
longea le rebord avec sa main mise en visiere comme pour voir si quelqu'un
n'arrivait pas, fit le geste de mecontentement par lequel on croit faire voir qu'on a
assez d'attendre, mais qu 'on ne fait jamais quand on attend reellement, puis rejetant
en arriere son chapeau et [...] il exhala le souffle bruyant des personnes qui ont
non pas trop chaud mais le desir de montrer qu'elles ont trop chaud."32 Charlus
täuscht nach der indirekten Abweisung durch Marcel vor, von einer anderen Per-
son versetzt worden zu sein, während Marcel dahinter das Schauspiel erkennt, das
um Aufmerksamkeit des Dritten buhlt. Dabei verhält er sich wie ein „Geistes-
kranker"3' im chronischen Alarmzustand. Den Dritten, auf den Charlus angeb-
lich wartet, gibt es jedoch nicht. Und doch gibt es ihn natürlich in der Gestalt
Marcels selbst, der als Zuschauer die ganze Szene erst zum Schauspiel werden
lässt. Die Arroganz des Snobs Charlus ist ein Schauspiel, das die Selbstzentrierung
des eigenen Ich in einer neurotischen Abhängigkeit vom Dritten als Mittler der
eigenen Wichtigkeit, des eigenen Selbstwerts offen legt: ,,qu' ä mon insu je lui eu-
sse infligee, de me donner l'id^e non pas tant qu'il ne m'avait pas vu, que Celle
que j'etais un objet de trop petite importance pour attirer son attention."34 Statt
aber einen positiven Eindruck zu hinterlassen, hält Marcel den Fremden „tantöt
pour un voleur et tantöt pour un aliene."3'' Diese Haltung von Charlus ist zentral
nicht nur für den Baron selbst, wie er in der Recherche gezeichnet wird, sondern
für den „chronischen Alarmzustand" des Snobs insgesamt. Die snobistische Ze-
remonie der Autonomie erweist sich als Schauspiel, das die eigene Abhängigkeit
gegenüber der Gesellschaft zu verbergen sucht. Die persönliche Neigung wird als
individuelle, authentische betrachtet, ohne übergeordnete Zusammenhänge, die
ihr Sein und Wollen prägen, zu durchschauen. Charlus, von dem es heißt er
„n'avait jamais ete dans la vie qu'un amateur"36 ist ebenso wie Swann zur einzigen
Form der Selbstverwirklichung verdammt: dem Salongespräch.37 Die von Marcel
Sieht Benjamin in einem frühen Text von 1913 im Gerede der Eltern-Generation
von ihrer Lebenserfahrung, die Erfahrung noch als Maske der Stereotypie, hinter
der sich „Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit"42 verbergen, so wird
ihm der Begriff schließlich zu einem ,,tragende[n] Element in vielen meiner Sa-
chen"43, denn an diesem Begriff hängt Benjamin seine Modernetheorie auf.
Die Diagnose seiner Zeit lautet „Entwertung der Erfahrung"44. Ihren Ur-
sprung sieht Benjamin in der Neuzeit, den Höhepunkt der „Verkümmerung"4''
dagegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei der Erste Weltkrieg das ganze
Ausmaß zutage fördert.
„Nein, soviel ist klar: Die Erfahrung ist im Kurs gefallen und das in einer Ge-
neration, die 1914 - 1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltge-
schichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint.
Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt
aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann
zehn Jahre danach in der Flut der Kriegbücher ergossen hat, war alles andere als
Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt. Nein, merkwürdig war das nicht.
Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategi-
schen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die kör-
perlichen durch den Hunger, die sitdichen durch die Machthaber. Eine Genera-
tion, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem
Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die
Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosio-
nen, der winzige gebrechliche Menschenkörper."46
Erfahrung, die ehemals von Mund zu Mund ging, verstummt vor den Schrek-
ken des Krieges. Ihre Entwertung betrifft ebenso die alltägliche Wirklichkeit und
zwar dort, wo die „ungeheure Entfaltung der Technik über die Menschen ge-
kommen"4" ist. Damit steht Benjamin in der Tradition von Max Webers Diagno-
se der Rationalisierung und Modernisierung, die den Menschen in seinen alltäg-
lichsten Lebensvollzügen in seiner ganzen Unwissenheit gegenüber den ihn um-
gebenden Mechanismen und Prozessen entlarvt. „Wer von uns auf der Straßen-
bahn fährt, hat - wenn er nicht Fachphysiker ist — keine Ahnung wie sie das
macht, sich in Bewegung zu setzen. Er braucht auch nichts davon zu wissen. Es
genügt ihm, daß er auf das Verhalten der Straßenbahn ,rechnen' kann, er orien-
tiert sein Verhalten daran; aber wie man eine Trambahn so herstellt, daß sie sich
bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen un-
gleich besser."48 Der Komfort der Technik führt zu einer höheren Abstraktheit
von ehemals selbstverständlichen Zusammenhängen. Gegenüber dem ,geübten'
Wissen des „Wilden", ist das Wissen des modernen Menschen von dem Glauben
geprägt, „daß man, wenn man nur wollte, es [die technischen Bedingungen der
Straßenbahnfahrt] jeder Zeit erfahren könne. Das aber bedeutet: die Entzaube-
rung der Welt."49 Auch die traditionelle Bildung ist vor dem Verfallsprozess der
Erfahrung nicht bewahrt: „Denn was ist das Bildungsgut wert, wenn uns eben
nicht Erfahrung mit ihm verbindet?"50
In Benjamins Aufsatz „Der Erzähler" wird dieser Erfahrungsverlust nicht nur als
gattungstheoretischer (zum Roman), sondern auch als politisch und damit ge-
schichtsphilosophischer Umbruch behandelt. Der Untergang des Erzählens als
„Begleiterscheinung säkularer geschichdicher Produktivkräfte"51 hat für Benjamin
in der Moderne seine höchste Ausdrucksform. Die Zeit der Erfahrungslosigkeit
entspricht der abstrakten Signatur der Zeit in der kapitalistischen Produktions-
52 Benjamin I, S. 636.
53 Benjamin I, S. 1167.
54 Benjamin II, S. 440.
55 Benjamin II, S. 442.
56 Benjamin II, S. 447.
57 Benjamin I, S. 608.
58 Georg Lukics: Die Theorie des Romans, Hamburg 1988, S 32.
59 Benjamin II, S. 446.
30 ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT
ner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburts-
kammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit." 60 So erscheint die
Erzählung als Zwischenetappe eines Umschreibungsprozesses, in dem jede indi-
viduelle Erfahrung in der kollektiven aufgehoben ist, die keinen Anfang kennt
und ihr Ende ständig in alle Richtungen hinausschiebt. Dagegen bewegt sich der
Roman um eine Mitte als „Sinn des Lebens" 6 '.
„In der Tat gibt es keine Erzählung, an der die Frage: wie ging es weiter? ihr
Recht verlöre. Der Roman dagegen kann nicht erhoffen, den kleinsten Schritt
über jene Grenze hinaus zu tun, an der er den Leser, den Lebenssinn ahnend sich
zu vergegenwärtigen, dadurch einlädt, daß er ein ,Finis' unter die Seiten
schreibt." 62
Als „Trockenwohner der Ewigkeit" 63 zieht sich der Romancier in seiner tran-
szendentalen Obdachlosigkeit ins Interieur als Zufluchtsstätte ausgehöhlter In-
nerlichkeit. Der „Sinn des Lebens" erweist sich dabei - so die Interpretation von
Lukäcs - als bloße Immanenz, d.h. er kann nur noch synthetisch hergestellt wer-
den. 64 „Der Roman ist die Form, die sich die Menschen schufen als sie die wich-
tigsten Daseinsfragen nur mehr unter dem Gesichtspunkt der Privatangelegenheit
zu betrachten vermochten."^
Es ist die Einbettung in eine kollektive Lebenswelt, einen Welthorizont von
der aus Benjamin eine Genese des mehrdimensionalen symbolischen Denkens als
Zusammenspiel von Körper, Geste und Hand bestimmt. „Wo ihn [den Lau-
schenden] der Rhythmus der Arbeit ergriffen hat, da lauscht er den Geschichten
auf solche Weise, daß ihm die Gabe, sie zu erzählen, von selber zufällt."66 In die-
ser Gesellschaft ist die Einheit des Arbeitsprozesses noch gewahrt. Leroi-Gourhan
beschreibt in seinem Werk „Hand und Wort" eine Rückbindung des Logos an
die Gestik des Körpers dort, wo „die Hand zu einem bestimmten Zeitpunkt [...]
in der Schöpfung eines graphischen Ausdrucksmodus Bedeutung erlangt, der
gleiches Gewicht besaß wie die gesprochene Sprache." 67 Damit verweist er auf ei-
nen historischen Ort in der Menschheitsgeschichte, an dem Wort und Schrift
gleichursprünglich zwei Momente eines Zeichensystems sind, das sich nicht auf
eine binäre Struktur reduzieren lässt. Die Komplizität von Geste und W o n bei
Leroi-Gourhan und dem einheitlichen Arbeitsprozess und dem Erzählen bei
Benjamin impliziert eine „permanente Kontinuität zwischen dem denkenden
Subjekt und der Umwelt" 68 . „Erzählung" meint Einschreibung eines mimetischen
Verhältnisses in ein Erfahrungskontinuum und eben nicht Nacherzählung im
Sinne einer imitatio, als Abbildung und Repräsentation. Benjamin hält dem mo-
dernen Subjekt in seiner „transzendentalen Obdachlosigkeit" die Figur des Er-
zählers als ein Bewusstsein entgegen, das sich in einem Gewebe von Geschichten
verzweigt. In der Vielfalt der „Lebensregeln" verkörpert der Erzähler die epische
Seite der Wahrheit, die „Weisheit".69 Es gibt keine Erzählung „an der die Frage:
Wie ging es weiter? ihr Recht verlöre."70
Ganzheit beraubt ist. „Fremdheit zur Außenwelt", aber auch zum eigenen Ich
fuhrt zu einer tiefgehenden Dissonanz mit dem Begriff der substantiellen Ein-
heit.76
„Der Romancier hat sich abgeschieden", schreibt - auf Lukacs Bezug nehmend
— Walter Benjamin in seinem Aufsatz: Der Erzähler: „Die Geburtskammer des
Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit"7". In seiner metaphysischen
Obdachlosigkeit zieht er sich zurück ins Interieur als Foyer der Innerlichkeit und
kündigt seine Beziehung mit dem Kollektiv. Die eigenen vier Wände werden
zum Resonanzraum einer Innerlichkeit, die glaubt, durch Rückzug sich schützen
zu können.
76 Für Georg Lukacs beginnt der moderne Roman mit ,Don Quijote' von Miguel de Cervantes, zu
einer Zeit „wo der Mensch einsam wird und nur in seiner nirgends beheimateten Seele den Sinn
und die Substanz zu finden vermag, wo die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegen-
wärtigen Jenseits losgelassen, ihrer immanenten Sinnlosigkeit preisgegeben ist." Abgeschirmt von
der Außenwelt verrichtet er seine Arbeit. (Lukacs: Theorie des Romans, Hamburg 1988, S. 89f.)
77 Benjamin II, S. 443.
78 Bachelard: La Poeuque de l'espace, Paris 1970, S. 51.
79 Ebenda, S. 57.
80 Proust III, S. 138. Die Weichtier-Metaphorik steht in Korrelation zu einer anderen Textpassage,
in der Marcel die Adelstitel der Oberschicht mit Schneckenhäusern vergleicht (Proust II, S.
829f.), leeren Hülsen also, welche potentiellen Inhabern offen stehen. Der Untergang des Fau-
bourg kündigt sich in diesem Bild an.
81 Proust III, S. 138.
82 Volker Roloff liest die Innenräume bei Proust als allegorische Orte der Lektüre. (Vgl. Roloff:
Werk und Lektüre, Baden-Baden 1984, S. 88f.) Ähnliches tut Edward Bizub in seiner Interpre-
tation des Proust-Textes „Sur la lcture". Das Zimmer wird von Bizub als Allegorie eines fremden
ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT 33
Es sind diese bei Proust anklingenden Momente, die auch Walter Benjamin an-
geregt haben, das Interieur als Seismograph einer kollektiven gesellschaftlichen
Verfassung zu lesen. So wie Adorno in seiner Dissertation über Kierkegaards Äs-
thetik Details gesellschaftlichen Lebens wie „Gasbeleuchtung und roter Plüschses-
sel" als „historische Spuren" interpretiert83, liest Benjamin das Interieur als Seis-
mograph einer gesellschaftlichen Verfassung des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
das im Ornament, im .Schnörkel' des Wohnraums seine eigene Aushöhlung
durch eine von der Warenproduktion „sinnlich ,verklärt[e]'"84 Lebensform auf-
zuhalten sucht. Den „grauenhaften Mischmasch der Stile und Weltanschauun-
gen"8'' an der Schwelle vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert versteht
Benjamin als Kompensationsphänomen, des unumkehrbaren Prozesses der Ra-
tionalisierung und der Entzauberung. Mitbestimmend für seine Interpretation
des Interieurs ist dabei die Analyse der Kierkegaardschen Innerlichkeit Adornos:
„Ihr Modell ist das bürgerliche Interieur", schreibt Benjamin in seiner Rezension
des Buches, „in welchem historische und mythische Züge ineinandertreten."86
Adorno: „Im Zentrum der philosophischen Konstruktionen des frühen Kierke-
gaard [...] erscheinen Bilder von Innenräumen, die wohl aus Philosophie [...] er-
zeugt sind, über diese aber hinausdeuten kraft der Dinge, die sie festhalten [...]
das große Motiv der Reflexion gehört dem Interieur zu. Der .Verführer' beginnt
eine Notiz: ,Ob ihr nun Ruhe halten wollt!? Was habt ihr den ganzen Morgen
lang getrieben? An meiner Markise gezerrt, an meinem Reflexionsspiegel gerüt-
telt, mit dem Glockenzug vom dritten Stock gespielt, an die Fensterscheiben ge-
klopft, kurz durch allerlei Allotria euch bemerklich gemacht'... Der Reflexions-
spiegel ist in der geräumigen Mietwohnung des neunzehnten Jahrhunderts cha-
rakteristisch angebracht... Funktion der Reflexion ist, die endlose Straßenlinie
solcher Mietshäuser in den abgeschlossenen bürgerlichen Wohnraum hineinzu-
projizieren; zugleich der Wohnung sie unterwerfend und die Wohnung mit ihr
begrenzend."87
Textes interpretiert. Bizub: „La chambre est l'espace de lautre, eile est explicitement deTinie
comme le lieu de non-moi. L'enfant y p^netre ainsi comme dans un univers oranger." (Vgl. Bi-
zub: La venise intirieur, Boudry-Neuchätel 1991, S. 76)
83 Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 1974, S. 85.
84 Benjamin V, S. 1256.
85 Benjamin II, S. 215.
86 Benjamin III, S. 382.
87 zitiert nach Benjamin V, S. 672.
88 Benjamin V, S. 53.
34 ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT
ken sich im Interieur ab."89 Die seelische Innerlichkeit sucht den Erfahrungs- und
,Spuren'verlust durch ein permanentes Spurenlegen im Interieur aufzuhalten, wo-
bei der „Kitsch"90 die „allerletzte Fratze dieses Totenbaumes ist"91. Für Benjamin
war der Bewohner des Interieurs, der sich mit dem Blendwerk und Trugbild der
,,warenproduzierende[n] Gesellschaft [...] umgibt"92, „ganz auf den Traum einge-
richtet, war auf Traum möbliert"93. Interieurs sind ihm phantasmagorische „Zau-
berbilder des Jahrhunderts"94, Wunschbilder eines Kollektivs, kulissenhafte Pan-
oramen der Weltgeschichte in denen sogar „der Aschenbecher" noch vorgibt „an-
tikisch"9'' zu sein. Dabei ist das Verhältnis von Ding und .Weltgeschichte' von
der gleichen Struktur wie das von Ware und Preis.96 „Für den Privatmann tritt
erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte"97, die der eigentliche
Lebensbereich des ,Erzählers' war. "Der erste konstituiert sich im Interieur. Der
Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur
in seinen Illusions unterhalten zu werden. [...] Es stellt für den Privatmann das
Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Sa-
lon ist eine Loge im Welttheater."98
Der Bourgeois - bei Benjamin hat er die Physiognomie einer .ausgetrockneten'
Hülse - braucht das Etui, um die Erfahrungsarmut durch einen Rausch am Möbel
zu kompensieren. „Alle Raumgestalten des Interieurs sind bloße Dekoration;
fremd dem Zweck, den sie vorstellen, bar eigenen Gebrauchswertes, erzeugt allein
aus der isolierten Wohnung.... Das Selbst wird im eigenen Bereich von Waren er-
eilt und ihrem geschichtlichen Wesen. Deren Scheincharakter ist geschichtlich-
ökonomisch produziert durch die Entfremdung von Ding und Gebrauchswert."99
Die Natur ragt nur noch als .konservierte' in diese Welt. „Die Modejournale der
Zeit enthielten Anweisungen, wie man Buketts konservieren kann."100 Die Woh-
nung wird zum Gehäuse. „Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Das
neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig."101 Es bettet den
Menschen „mit all seinem Zubehör so tief in sie [die Wohnung] ein, daß man
ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Er-
satzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was
nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: Für Taschenuh-
89 Benjamin V, S. 53.
90 Benjamin V, S. 281.
91 Benjamin V, S. 281.
92 Benjamin V, S. 1256.
93 Benjamin V, S. 282.
94 Benjamin V, S. 1153.
95 Benjamin V, S. 287.
96 Benjamin V, S. 466. Vergleiche auch Hans Robert Jauß: Studien zum Epochenwandel der äs-
thetischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990: „Das Interieur ist für Benjamin von symptomati-
scher Bedeutung für die veränderte Lebenswelt bis hin zum Jugendstil. (Ebenda. S. 201)
97 Benjamin V, S. 52.
98 Benjamin V, S. 52.
99 Adorno, zitiert nach Benjamin V, S. 290f. (Hervorhebung D.F.)
100 Benjamin V, S. 291.
101 Benjamin V, S. 292.
ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT 35
mann Swann träumt von einem Leben, in dem die Möbel eine atmosphärische
Einheit mit seiner Liebe bilden: „parce qu'ils [les meubles] auraient en meme
temps fait partie de la vie d'Odette [...] comme cette lampe, cette Orangeade, ce
fauteuil qui contenaient tant de reve, qui materialisaient tant de desir - une sorte
de douceur surabondante et de densite mysterieuse.""2
Aber die mythische Aufladung des Raumes, die Sehnsucht nach einer heimeligen
Atmosphäre durch Futterale und Schoner, geschichtsträchtige Aschenbecher ent-
puppt sich für Benjamin als ein Traumschlaf in einer im Warenrausch sich verlie-
renden Gesellschaft. Benjamin zitiert in Assoziation mit seiner Vorstellung von
der Warenwelt des 19. Jahrhunderts, bzw. der Passage ausführlich eine Textstelle
aus dem Roman von Friedrich Gerstärker: „Die versunkene Stadt". Das Zitat, das
eine „unterseeische Welt" mit Menschen ähnlichen Fischen, Muschel bewachse-
nen Häuserwänden und eine „durchsichtige Fluth" beschreibt, die die „Straßen
bis hoch über die Häuser hinauf'113 füllt, scheint ihm das Bild einer vom Waren-
rausch verschluckten Epoche zu veranschaulichen. Benjamin liest aus der Phanta-
sievorstellung des Autors in Bezug auf Freud, .verdrängte ökonomische Bewusst-
seinsinhalte eines Kollektivs'"4. Das Bild der versunkenen Stadt ist ihm „die voll-
endete Sublimierung der Passagen mit ihrem aus den Auslagen hervorwuchern-
den Handelskram" m . Umgekehrt entspricht dann der Vergangenheit das kollek-
tive und individuelle Unbewusste.
In einigen Textpassagen kommt Proust Benjamins Interpretation sehr nahe.
Während der Aufführung von Racines Phidre vergleicht Marcel den Zuschauer-
raum im Theater als Unterwasserwelt und Grottenlandschaft. Noch deutlicher ist
die Verbindung zwischen Prunk als Ausdruck einer ,versunkenenen' Gesellschaft
im Grand-Hotel von Balbec. Dort sitzt die zum Abendessen versammelte Gesell-
schaft wie in einem „immense et merveilleux aquarium devant la paroi de verre
duquel la population ouvriere de Balbec, les pecheurs et aussi les familles de petits
bourgeois, invisibles dans l'ombre, s'ecrasaient au vitrage pour apercevoir, lente-
ment balancee dans les remous d'or, la vie luxueuse de ces gens [...]."116 In einer
nicht näher bestimmten Ahnung erkennt der Erzähler die ihn umgebende
Abendgesellschaft - Benjamin nennt sie „Verbrecherclan, eine Verschwörerban-
de, mit der sich keine andere vergleichen kann: die Kamorra der Konsumen-
ten"" 7 - als eine zum Sturz verurteilte. Er stellt die „grande question sociale, de
Die mit Prousts Roman in etwa gleichzeitig entstehende Kunstrichtung des Ju-
gendstils verkörpert beispielhaft die Spannung von künstlerischem Anspruch und
einer vom Tausch bis in die Denkformen dominierten Gesellschaft: „Mitten im
industriellen Zeitalter wollte der Jugendstil ein Paradies. Viel mehr als eine klas-
Benjamin nennt Prousts Romanzyklus und die Theorie der „memoire involontai-
re" einen Versuch, Erfahrung „unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf
synthetischem Wege herzustellen" 136. Wie Benjamin in seinem Aufsatz „Über ei-
nige Motive bei Baudelaire" bemerkt, setzt sich Proust explizit von Bergsons Er-
fahrungsbegriff einer „memoire pure" ab, die im eigentlichen Sinne Erfahrung
nur als kognitiven Aneignungsprozess des reinen kontemplativen Gedächtnisses
versteht und jedwede „geschichtliche Determinierung der Erfahrung"137 von sich
weist. Bergson kritisierte an der philosophischen Tradition, dass sie Raum und
Zeit durcheinanderbringe, weil sie die Differenz zwischen den einzelnen Mo-
menten gelebter und erlebter Zeit übersieht. Die einzelnen Bewusstseinszustände,
die aufeinander folgen, sind nach Bergson qualitativ voneinander verschieden.
Gegenüber dem Konzept einer quantitativ messbaren Zeit betont er daher den
qualitativen Aspekt der Zeit. Die Vernachlässigung dieser Differenz führt dazu,
dass die verschiedenen Bewusstseinszustände wie Punkte auf einer Zeitskala ne-
beneinander gestellt werden. Das Raumkonzept glaubt man auf die Zeit übertra-
gen zu können, denn so wie die Dinge im Raum nebeneinander existieren, liegen
die Zeitpunkte nach einem mechanischen Zusammenhang auf einer Linie. Aber
die Verschiedenheit der Bewusstseinszustände, so Bergson, ist von innerer Art.
Die Zustände durchdringen einander. In diesem Zusammenhang entwickelt er
seinen Begriff der „duree". Sie verweist auf den inneren Zusammenhang dieser
verschiedenen Bewusstseinszusammenhänge.138 Das Bewusstsein hält unthema-
tisch bzw. unbewusst die ganze Zeit über den aktuellen Zustand mit der Vergan-
genheit zusammen. Damit ist die Vergangenheit jederzeit gegenwärtig, wenn
auch unthematisch.
Proust widerspricht nun mit seinem Konzept der „memoire involontaire" der
„duree", insofern er das Vergessen als notwendige Bedingung der Wiedererinne-
rung thematisiert und das Bewusstsein dem Zufall überantwortet. „II y a beau-
coup de hasard en tout ceci, et un second hasard, celui de notre mort, souvent ne
nous permet pas d'attendre longtemps les faveurs du premier."139
Einerseits teilt Proust Bergsons Skepsis gegenüber dem herrschenden Konzept
der Zeit, das den qualitativen Aspekt der Zeit zugunsten einer rationalen Ord-
nung von Taupunkten bevorzugt. Andererseits scheint ihm das Konzept der
„duree" doch noch zu sehr derselben Tradition verhaftet zu sein. Proust wendet
sich somit durch sein Konzept der „memoire involontaire" gegen die Vorstellung,
die sich durchdringenden Zeitebenen seien dem einzelnen Menschen jeder Zeit
abrufbar. Gerade in ihrer Unzugänglichkeit, in ihrer Verborgenheit vor dem Be-
wusstsein des Menschen bewahren sie ihre eigentliche Authentizität. Nur in den
unwillkürlichen Erinnerungen kann Marcel seinem Ich der vergangenen Lebens-
abschnitte begegnen, und nur aufgrund der willkürlich über ihn einbrechenden
Erinnerungen am Ende der Recherche auf der Matinee Guermantes erkennt er
schließlich sich selbst als den Autor der Recherche. Die Zeitebenen durchdringen
sich für Proust nicht in der Weise, wie Bergson dies in der „duree" darzustellen
versucht. Vielmehr ist die „duree" bei Proust eine Reihe blinder Flecken. Die
Vergangenheit ist ja bei Proust in ihren eigentlichen, wesentlichen Gehalten ge-
rade nicht präsent, sondern permanent vergessen und das Bewusstsein in seinem
Bestreben diese wiederzugewinnen allein vom Zufall abhängig. Die Erkenntnis
der Defizienz der herkömmlichen, alltäglichen Erinnerung beschreibt Proust
gleich zu Beginn der Recherche. Dort liegt Marcel in seinem Bett und versucht
vergeblich, sich die Tage seiner Kindheit in Erinnerung zu rufen. Seine Erinne-
rung aber kann sich nicht von dem „drame de mon coucher" trennen, und so ist
es die Erinnerung an den gelegentlich verweigerten Gutenachtkuss seiner Mutter,
die die eigentliche Durchleuchtung der Vergangenheit blockiert. Marcel ver-
gleicht in dieser Szene die Vergangenheit allegorisch mit einem Haus, welches
nicht wie bei der antiken Gedächtnismetaphorik beschritten, sondern von außen
betrachtet wird. Marcel spricht von einem „pan lumineux, decoupe au milieu
d'indistinctes tenebres, pareil ä ceux que l'embrasement d'un feu de Bengale ou
quelque projection electrique eclairent et sectionnent dans un edifice dont les au-
tres parties restent plongees dans la nuit"140. Die Erinnerung bleibt wie das spär-
lich beleuchtete Haus zu großen Teilen im Schatten der Nacht des Vergessens.
Dass der Text hier nicht endet, verdankt sich der „memoire involontaire" in der
berühmten Madeleine-Episode. Die unerwartete, dem Zufall überantwortete Ge-
schmacksempfindung erhellt mit einem Mal die vergessenen Partien des Erinne-
rungsgebäudes. „Ce goüt c'eteit celui du petit morceau de madeleine que le di-
manche matin ä Combray [...] ma tante Leonie m'ofFrait apres l'avoir trempe
dans son infusion de the ou de tilleul."141
Und so kann Marcel schließlich sagen, dass „tout Combray"142 in diesem
Moment - „un peu de temps ä l'etat pur"14' - wie aus einer verzauberten Teetasse
aufsteigt. Durch die fast im Sinne von Benjamins Geschichtsphilosophie gefor-
derte gegenseitige Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart erhört
Marcel den Appell seiner schon in der Kindheit angelegten Berufung zum
Schriftsteller.144
lität - Albertine endormie, 1988, neu abgedruckt in Rainer Warning: Proust Studien, und Ders.:
„Gefängnismusik - Feste des Bösen in Lapriwnnierc"', ebenda. Warning interpretiert mit Bezug
auf die Differenz-Theorie Jacques Derridas die Poetik des ,roman d'Albertine' als ein Roman-
konzept der Differenz und Dissemination. Die Recherche dekonstruiert auf diese Weise ihre ei-
genen Voraussetzungen, nämlich das Projekt einer gelingenden Ich-Konstitution mit Hilfe von
Erinnerung. Sinnbild dieses Scheiterns ist Albertine, die als Gegenfigur zur Großmutter Mar-
cels durch die „memoire involontaire" nicht wiederbelebt werden kann, was besonders in der
Telegramm-Episode im Venedig-Kapitel verdeutlicht wird. (Proust IV, S. 221) Albertine tritt
Marcel nur als eine „seVie indeTinie d'AJbertines imagin^es" (Proust II, S. 213) gegenüber, eine
- wie Rainer Warning schreibt: Silhouette ohne Tiefenwirkung. Warning, Gefängnismusik. An
anderer Stelle nennt Marcel Albertine ein „etre de mite" (Proust III, S. 600). Allein durch den
Tod der von Marcel selbst bei sich diagnostizierten Teil-Ichs, die seine Identität konstituieren,
kann seine Eifersucht ausgelöscht werden.
145 Benjamin I, S. 609.
146 Benjamin I, S. 609.
147 Andre' Leroi-Gourhan: Hand und Wort - die Evolution von Technik, Sprache und Kunst,
Frankfurt a.M. 1980, S. 263.
148 Vgl. Piaton: Theaitetos, 191 c8 - 195 a9.
42 ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT
sich Eindrücke und Wahrnehmungen unmittelbar ein. Sie bedürfen keiner Über-
setzung in Zeichen, d.h. keiner Repräsentation, die sich entfremdend zwischen
Ding und Gedächtnis schiebt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich,
warum Piaton im Phaidros149 die Schrift als Destabilisierung des Gedächtnisses
versteht. Wahre Erinnerung der Seele wird durch die Arbeit der Buchstaben, als
schädliche, bzw. defizitäre Kopie überflüssig.
ben aufgesetzt" und erweist Erfahrung nur noch als die strukturgleiche Wieder-
holung des Austauschbaren.,55 Das Erlebnis ist für Benjamin im Akt des Erlebens
bereits vergessen.
Die Bilder der „memoire involontaire" beinhalten dagegen die Erfahrung der
Aura'. Damit meint Benjamin die „Übertragung einer in der menschlichen Ge-
sellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der
Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt
den Blick auf."156 Was Benjamin mit der Erfahrung der Aura meint, expliziert er
durch ein Zitat von Paul Valery: „Die Dinge, die ich sehe, sehen mich ebenso-
wohl wie ich sie sehe."15" Aura ist für Benjamin eine Erscheinungsweise, die den
wahrgenommenen Gegenstand als einen zu bestimmen sucht, der im Anblick
dem Betrachter immer auch schon selbst einen Blick entgegenschlägt. Schauen ist
keine rein geistige Konstruktion, sondern immer schon einem körperlichen
Wechselspiel zur Umwelt nachträglich. Wenn diese Erfahrung dem Subjekt
greifbar wird, so teilt sich ihm die Erfahrung der Aura mit.
Prousts „memoire involontaire" bleibt für Benjamin trotz seiner Ausführungen
als Erfahrungskonzept der Moderne unbefriedigend. Denn einerseits ist sie eine
nur rein individuelle „Erlösung", andererseits vom „Zufall"158 abhängig. Die
„memoire involontaire" gehört der Welt der „vielfältig isolierten Privatperson"159
an und ermöglicht somit keinen Austausch zwischen individuellen und kollekti-
ven Erfahrungsräumen, die zu eröffnen Benjamin eigentlich anstrebt. Die indivi-
duelle Erlösung, von der Prousts Recherche handelt, ist Benjamin zu wenig. Wäh-
rend für ihn die Rückwendung auf Vergangenheit mit dem Anspruch auf Zu-
kunft verbunden ist, begnügt sich Proust mit der ganz singulär privaten Erinne-
rung als „meine private Veranstaltung"160, was Benjamins Absicht zuwiderläuft:
diese Erfahrungen in einen soziologischen Horizont, bzw. in seine Geschichts-
philosophie zu integrieren. Erinnerung wird zur Nostalgie und dadurch konser-
vativ. Benjamin kritisiert diese Haltung Prousts in seinem Baudelaire-Aufsatz,
wenn er die „duree" als „schlechte Unendlichkeit des Ornaments"161 beschreibt.
„Sie ist der Inbegriff des Erlebnisses, das im geborgten Kleide der Erfahrung ein-
herstolziert."162
155 Vgl. Barbara Kleiner: Sprache und Entfremdung - Die Proust-Übersetzungen Walter Benja-
mins innerhalb seiner Sprach- und Übersetzungstheorie, Bonn 1980, S. 36.
156 Benjamin I, S. 646.
157 Benjamin I, S. 647.
158 Benjamin I, S. 610.
159 Benjamin I, S. 611.
160 Benjamin I, S. 643.
161 Benjamin I, S. 643.
162 Benjamin I, S. 643.
44 ERFAHRUNGSARMUT BEI PROUST UND BENJAMIN: EINE DIAGNOSE DER ZEIT
Nähe ist ein Phänomen der Macht, weil die Aufhebung der Ferne die Aneignung
der Dinge ermöglicht. Wenn das Wesen der Aura aber die „Ferne" ist, muss sie -
ebenso wie der Raum - in diesem Prozess auf der Strecke bleiben. Der Raum oh-
ne Aura kann nur noch rein funktional artikuliert sein.
In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit" (1927) stellt Martin Heidegger die These
auf: „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe."ia Heideggers Analytik
des .Daseins' gilt aufgrund ihrer ahistorischen Gültigkeit nicht nur für das heuti-
ge Leben. Seine Beispiele jedoch beziehen sich auf seine Zeit, wenn er - analog
zu Benjamins Analyse der Moderne - schreibt: „Alle Arten der Steigerung der
Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drän-
gen auf Überwindung der Entferntheit. Mit dem ,Rundfunk' zum Beispiel voll-
zieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-
fernung der ,Welt' auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt."168
Auch in Heideggers ,Ding'-Kollektion findet man neben den Zeugdingen, die der
Mensch hergestellt hat, und den Naturdingen, wie es ein Fels zum Beispiel ist,
kein Ding der modernen Technik. Deren Einfluss auf die Wahrnehmungen und
Erfahrungsstrukturen des Menschen lässt die Aura verkümmern. Der Raum der
Moderne ist, als ein von auratischer Distanz gereinigter, zu einem Funktionsraum
verkümmert.
Während Heidegger in „Bauen Wohnen Denken" der „Brücke" noch zuge-
steht, sich .„leicht und kräftig' über den Strom" zu schwingen, die Ufer einander
in Verbindung zu stellen, die Erde als Landschaft um den Strom zu versam-
meln169, so besteht das Wesen der Autobahnbrücke nur noch in der Überwin-
dung der Distanz.170 Rein funktional bestimmt wäre aber die Autobahnbrücke
für Heidegger kein Ding mehr. Sie eröffnet keinen auf „das Geviert"]7] verwei-
senden Bezirk, weil ihre einzige Funktion in der Zweckdienlichkeit besteht. Die
reine Zweckrationalität macht nämlich das, was das „Geviert" ausmacht: jene
„Innigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen
einfaltig in die Dinge einzulassen"r2, ganz überflüssig. Die Erde und der Fluss
wird der Autobahnbrücke nur noch als ein Element erscheinen, das es zu über-
brücken gilt. Dagegen versammelt die Brücke als Ding „auf ihre Weise Erde und
Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich. [...] Die Brücke ist - und
zwar als die gekennzeichnete Versammlung des Gevierts - ein Ding. [...] Allein,
die Brücke ist, wenn sie eine echte Brücke ist, niemals bloße Brücke und hinter-
her ein Symbol. Die Brücke ist ebensowenig im voraus nur ein Symbol in dem
Sinn, daß sie etwas ausdrückt, was, streng genommen, nicht zu ihr gehört."173
Der Aura ist nach der Definition von Benjamin der Raum eingeschrieben, weni-
ger als wirklich quantifizierbarer Raum, als vielmehr die Erscheinung einer Ferne.
Wenn diese verkümmert, verkümmert auch der von Heidegger thematisierte
Raum von einem zweckfreien Verweisungsbezug zu einem rein funktionalen,
quantifizierbaren analytischen Raum.
Auch von Proust sind die von Heidegger und Benjamin beschriebenen Ver-
kümmerungen wahrgenommen und als Prozesse zunehmender Erfahrungsarmut
beschrieben worden. Die Recherche thematisiert an verschiedenen Stellen wie die
wechselseitigen Beziehungen der Menschen durch die neuen Apparaturen eine
Veränderung angestammter Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten erfah-
ren.
Vor der Erfindung des Telefons zum Beispiel waren die Leute nicht in die La-
ge gekommen, einander zu hören, ohne sich dabei in einer abstrakten Distanz ge-
genüberzustehen, Blicke zu erwidern, die Gestik des Körpers an die Worte zu
binden. Der neue Zustand ist, wie wir durch die Feder von Proust erfahren, kein
anheimelnder. In einer berühmten Romanpassage erfährt Marcel durch seinen
Freund Saint-Loup, dass ihn seine Großmutter von Paris aus anrufen werde, da
es neuerdings eine Telefonverbindung zwischen der französischen Haupt- und
der Granisonsstadt Doncieres gebe. Die Beschreibungen Marcels haben phäno-
menologischen Charakter: „C'est lui, c'est sa voix qui nous parle, qui est lä. Mais
comme eile est loin! [...] Presence reelle que cette voix si proche - dans la Separa-
tion effective! Mais anticipation aussi d'une Separation eternelle!"174
In den bisherigen Gesprächen konnte Marcel immer parallel zu den gespro-
chenen Worten in den Gesichtszügen seiner Großmutter ,wie in einer Partitur'175
lesen. Das Telefon verhindert nun diese Parallelität von Stimme und körperlich
räumlicher Präsenz und führt dazu, dass Marcel die Stimme seiner Großmutter
zuerst nicht erkennt. Der Raum verkümmert in der Kommunikation: „mais sa
voix elle-meme, je l'ecoutais aujourd'hui pour la premiere fois."176 Die Erfahrung
des ersten Telefongespräches nimmt eine spätere vorweg: den Tod der Groß-
mutter. Der verkümmerte Raum erweist sich als Totenreich von Marcel mythisch
aufgeladen in seiner Interpretation der Telefonfräulein, die er „Danaiden" nennt,
„ironiques Furies", „les servantes toujours irritees du Mystere"177. Der verküm-
merte Raum, den das Telefon hervorruft ist Ausdruck einer „Separation eternel-
le"178. „Je criais: ,Grand-mere, grand-mere', et j'aurais voulu l'embrasser; mais je
n'avais pres de moi que cette voix, fantome aussi impalpable que celui qui revien-
drait peut-etre me visiter quand ma grand-mere serait morte. ,Parle-moi'; mais
alors il arriva que, me laissant plus seul encore, je cessai tout d'un coup de perce-
So wie das Telefon markiert auch das Automobil einen Einschnitt gegenüber den
bisherigen, durch Fußwege und Kutschfahrten angestammten Raumverhältnis-
sen. Marcel erfährt dies in dem Moment, als ein von ihm bestelltes Taxi „franchit
d'un seul bond vingt pas d'un excellent cheval."180 „Les distances ne sont que le
rapport de l'espace au temps et varient avec lui. Nous exprimons la difficulte que
nous avons ä nous rendre ä un endroit, dans un Systeme de lieues, de kilometres,
qui devient faux des que cette difficulte diminue."181 Der Chauffeur Marcels ver-
sichert „qu'il etait facile d'aller dans une meme apres-midi ä Saint-Jean et ä La
Raspeliere. Douville et Quetteholme, Saint-Mars-le-Vieux et Saint-Mars-le-Vetu,
Gourville et Balbec-le-Vieux [...]."18: Die Welt rückt durch die ,Siebenmeilen-
stiefel'183 des Automobils um den Nachmittagstee, „autour de l'heure de notre
goüter"184. Distanzen, für die man zuvor entweder zu Fuß oder mit der Kutsche
Stunden brauchte, .verkümmern' zur reinen Fahrzeit. Die Entdeckung der Ge-
schwindigkeit raubt dem Panorama die Aura, weil jede Ferne sich als eine in Kür-
ze zu erreichende darstellt.18'' Der Ort erfährt eine Gleichnishaftigkeit, die Marcel
als sein „Geheimnis" beschreibt und Grund einer reichen semantischen Besetzung
ist. „Mais l'automobile qui ne respecte aucun mystere, apres avoir depasse Incar-
ville [...] je demandai comment s'appelait cet endroit et avant meme que le
chauffeur m'eüt repondu, je reconnus Beaumont ä cote duquel je passais ainsi
sans le savoir chaque fois que je prenais le petit chemin de fer, car il etait ä deux
minutes de Parville." 186 Der Ort, der zu Zeiten der Kutsche noch das Privilege
der „exterritorialite" 187 genossen hatte, wird vom Bezug eines bisher als beschwer-
lich empfundenen Weges abgelöst und seiner Beredetheit, seiner „Exterritoriali-
tät" beraubt. Das bisher von Marcel - in seiner reichen Semantik — beschriebene
Geheimnis des Ortes verflüchtigt sich. Beaumont ist jetzt ,nur noch' zwei Minu-
ten entfernt.
Die Topographie der Umgebung verändert sich durch die Erfindung des Au-
tomobils von Grund auf: ehemals weit entfernte Ortschaften rücken heran und
angeblich weit entfernte Ausflugsziele erweisen sich als Ortschaften in unmittel-
barer Nähe, nur weil man nicht alle Wege zu ihnen kannte, die dem Automobil
nun kein Problem mehr sind. Beaumont war nun plötzlich „relie tout d'un coup
ä des endroits dont je le croyais si distinct, perdit son mystere et prit sa place dans
la region f...]." 1 8 8
Marcel spricht selbst in diesem Zusammenhang der Analyse der veränderten
Raumwahrnehmung von der neu entstandenen „fine precision, la verkable
geometrie". 189 Und doch gewinnt er - anders als Heidegger - dem geheimnislo-
sen Eindringen des Autos in den Raum noch einen taktilen Mehrwert ab. So
kommt es „que cet emplacement, point unique que l'automobile semble avoir
depouille du mystere des trains express, il donne par contre l'impression de le
decouvrir, [...] de nous aider ä sentir d'une main plus amoureusement exploratri-
ce, avec une plus fine precision, la v^ritable geometrie, la belle ,mesure de la
terre.'" 190
Mit Hilfe der „memoire involontaire" scheint Proust ein Gegenkonzept zum
Auraverfall zu inszenieren, das eine auratische Erfahrung reaktivieren soll. W e n n
Benjamin dieses Erfahrungskonzept unter modernen Bedingungen zu Beginn
seiner Beschäftigung mit Proust würdigt, so hält er sie dennoch — wie im Kapitel
zuvor dargelegt - für unzureichend, da sie im Bereich der isolierten Privatperson
befangen bleibt.
Sich der kindlichen Lektüre zu erinnern, ist ein Kraftakt. Denn: „Was mir die er-
sten Bücher gewesen sind - das zu erinnern muß ich jedes andere Wissen um Bü-
cher allererst vergessen haben."2 Dem Kind ist Lektüre noch nicht in die Dualität
von Geist und Buchstabe gespalten, denn wo „heute Inhalt und Thema, Gegen-
stand und Stoff" dem Buch als Äußeres gegenübertritt, fand es sich früher ganz
allein in ihm, es war sowenig dem Buch ein Äußerliches, Unabhängiges, wie es
ihm heute die Anzahl seiner Seiten wäre oder sein Papier."3
Benjamin interpretiert das kindliche Lesen nicht als rein geistigen Akt, son-
dern als Akt, in dem die Hand des Kindes sich beteiligt, was uns zurückführt auf
Benjamins Rede von der im ersten Kapitel erwähnten „Töpferhand an der Ton-
schale"4, die für ein - auch die kindliche Lektüre bestimmendes - erfahrungsstif-
tendes Ineinanderspiel von Wort und Hand bzw. Physis und Logos steht. Das
Kinderspiel ist dabei ein Beispiel für die Indifferenz von Körper und Zeichen, ei-
ne Sphäre in dem die „leiblich- natürlichen Behelfe des Eingedenkens"5 noch prä-
sent sind. Sei es, dass an den „Blättern [...] die Spur von [Kinder-]Fingern"6 haf-
tet, oder die „Hand beim Lesen auf dem Blatt liegt"7. Von einem ähnlichen Bei-
spiel ist auch in der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" die Rede, wenn
Benjamin dort von der Sehnsucht schreibt, die der „Lesekasten" in ihm „er-
weckt"8. Ein Kinderspielzeug, bei dem kleine Buchstabentäfelchen auf einer
Schiene aufgereiht werden. Diese Sehnsucht „beweist, wie sehr er [der Leseka-
sten] eins mit meiner Kindheit gewesen ist. Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist
sie selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, mit dem die Hand
die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollte. Die Hand
kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu
vollziehen."9 Die Anspielung auf Proust ist eindeutig: die „ganze Kindheit" in ei-
ner körperlichen Geste auferstehen zu lassen zitiert die „memoire involontaire".
Die kindlich „magische" Lektüre unterscheidet sich von der profanen darin, dass
sie, wie Benjamin in „Die Aufgabe des Übersetzers" schreibt, sich nicht be-
schränkt auf das Mitteilbare, das Kommunizierbare der Sprache.10 Gegen die
Auffassung, Lektüre sei Verlebendigung einer zur toten Buchstabenmaterie er-
storbenen Bedeutung, wird sie bei Benjamin zum Auflesen von Dingen und
Kennzeichen, die gerade nicht vom abstrakten Tauschwert sozial konvertierbarer
Zeichen bestimmt sind. Benjamins Diktum: „was nie geschrieben wurde, le-
sen"", meint Lektüre eines nicht intentional Eingeschriebenen, eines noch nicht
Verzeichneten, Kategorisierten. Was das Kind mit dem Lumpensammler aus dem
Kontext von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen verbindet, ist die
Gleichgültigkeit gegenüber einem gesellschaftlich tradierten Sinnzusammenhang
und die Fähigkeit das „Geheimnis [...] im Alltäglichen wieder[zu]finden, kraft ei-
ner dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurch-
dringliche als alltäglich erkennt."12 Der Lumpensammler ist ebenso wie der histo-
rische Materialist und das Kind ein Leser des Ausgestoßenen, des Marginalen und
für bedeutungslos erklärten. Was der Lumpensammler und das Kind auffinden,
ist gerade nicht wertvolles Tauschobjekt im Zeichensystem des herrschenden
Diskurses. Der Gegenstand des Lesens bei Benjamin ist ein Relikt, das nicht „der
Nachwelt [...] .hinterlassen' worden ist, das kein Denkmal, sondern eine Spur"13
ist, „und ihre Rätselhaftigkeit ist in Bedingungen begründet, die keinen Men-
schenwillen je ausgemacht haben, sondern schicksalhaft am Zeitverlauf hän-
gen."14
Ebenso wie die Recherche von Proust unternimmt die „Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert" den Versuch, Vergangenes als Lebendiges zu erretten, und
die unausschöpfliche Intensität frühester Erfahrung zu erneuern.15 Gleichzeitig ist
sie eine Anti-Biographie, weil die Erinnerung nicht chronologisch ausgerichtet
ist.
Der Lesekasten ist Ausdruck einer spielerischen Weltaneignung des Kindes, wo-
bei das Aneinanderreihen kleiner Täfelchen mit einzelnen Buchstaben Worte
auftauchen lässt, die erst im Nachhinein erkannt werden. Der Zauber des Spiels
liegt für Benjamin im magischen Aufblicken der Worte und nicht in ihrer sub-
jektzentrierten Setzung. Der Lesekasten ist nicht Medium einer Wortgestaltung
im Sinne von Nachbildung oder Abbildung, sondern Medium einer zum Spre-
chen herausgeforderten Sprache. Worte sind hier nicht Teil eines auf Abstraktion
beruhenden Sprachverständnisses, das zwischen Geist und Materie unterscheidet,
sondern sie kommen gleichursprünglich im Hand-„Griff" zur Erscheinung."'
Dabei tragen sie die Spur des Kindes „wie die Spur der Töpferhand an der Ton-
schale."17 „Das Erzählen ist ja seiner sinnlichen Seite nach keineswegs ein Werk
der Stimme allein. In das echte Erzählen wirkt vielmehr die Hand hinein, die mit
ihren, in der Arbeit erfahrenen Gebärden, das was laut wird, auf hundertfältige
Weise stützt."18 Statt abstrakte Entitäten zu sein, ist dem Lesekasten die Kinder-
hand eingeschrieben. Dagegen ist uns diese Praxis, die den Erzähler und das Kind
der Sprache gegenüber vereinen, nicht mehr geläufig. Die Rolle der Hand „ist be-
scheidener geworden und der Platz, den sie beim Erzählen ausgefüllt hat, ist ver-
ödet."19
„mots" vs „noms"
Es ist naheliegend, dass sich Benjamin bei seiner Unterscheidung zwischen der
Sprachkonvention der Erwachsenen und den Sprachspielen des Kindes von
Proust inspirieren ließ. An einer zentralen Stelle stoßen wir in der Recherche auf
die Unterscheidung zwischen dem offenen Sprachraum des Kindes und der defi-
13 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 373.
14 Ebenda, S. 373.
15 Vgl. dazu Burkhardt Lindner: Das Interesse an der Kindheit, in: Literaturmagazin 14 (1981)
16 Proust IV, S. 267.
17 Benjamin II, S. 447.
18 Benjamin II, S. 464. (Hervorhebung D.F.)
19 Benjamin II, S. 464.
52 DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG
Namen und ihre Wirkung auf Marcel sind für Proust Ausdruck eines be-
stimmten Sprachverständnisses des Kindes, das die Sprache nicht als reines Me-
dium der Erkenntnis definiert, sondern ihr eigentümliche Fähigkeiten zuspricht.
„Le Nom est en effet catafysablr, on peut le remplier, le dilater, combler les inter-
stices de son armature semique d'une infinite de rajout."24 „Namen" im Sinne
von Orts- und Personennamen umgeben Marcel im Gegensatz zu „Wörtern"
(mots) (= Bausteine der Semantik) wie geheimnisvolle und verheißungsvolle
,Mächte'. Gerade ihre Unscharfe und Flüchtigkeit ermöglicht der Phantasie des
Kindes, sich mit Hilfe der Namen zur Außenwelt zu verhalten: „Meme au prin-
temps, trouver dans un livre le nom de Balbec suffisait ä reveiller en moi le desir
des tempetes et du gothique normand; meme par un jour de tempete le nom de
Florence ou de Venise me donnait le desir du soleil, des lys, du palais des Doges
et de Sainte-Marie-des-Fleurs.[...] [C]es noms [...] exalterent l'idee que je me
faisais de certains lieux de la terre, en les faisant plus particulieres, par consequent
plus reels."25 Die Namen, bestimmt durch ihre Einzigartigkeit, umgeben die Orte
mit erhöhter Wirklichkeit, entrücken sie dem Sprachbereich der Konvention und
erlauben es dem Kind, sich die Umwelt mimetisch anzueignen.26 Dahinter ver-
birgt sich der Glaube, die Eigenschaften, die das Bewusstsein dem Objekt zuer-
kennt, kämen diesem realiter zu.27
Kabbalistische Namensspekulation
Wie Benjamin hat Proust die „Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja
Aromen"28 der Sprache zur Darstellung gebracht, wobei wir feststellten, dass die
Namen der Geliebten bei Proust, diejenigen sind, die die nachdrücklichste Magie
ausüben. In der von Benjamin 1925 geschriebenen „Einbahnstraße" heißt es un-
ter dem Titel „Loggia": „Geranie. Zwei Menschen, die sich lieben, hängen über
alles an ihren Namen."29 Bei Proust findet sich folgende vielzitierte Stelle: „Ainsi
24 Ebenda, S. 127.
25 Proust I, S. 380.
26 Die Namen tragen eine Signatur, die es ermöglicht, sie jenseits einer instrumenteilen Bestim-
mung zu .lesen'. Dies gilt besonders bei den Personen, denen Marcel seine Liebe entgegenbringt.
Als er die junge Gilberte im Garten des Landhauses von Swann erblickt, hört er wie dessen Frau,
Madame Swann, den Namen ihrer Tochter ruft. .Ainsi passa pres de moi ce nom de Gilberte,
donne^ comme un talisman qui me permettrait peut-etre de retrouver un jour celle dont il venait
de faire une personne et qui, l'instant d'avant, nYtait qu'une image incertaine. Ainsi passa-t-il,
profere' au-dessus des Jasmins et des giroflees, aigre et frais comme les gouttes de l'arrosoir vert,
impregnant, irisant la zone d'air pur qu'il avait traversee [...] d^ployant sous l'epinier rose, ä hau-
teur de mon ^paule, la quintessence de leur familiarite\ pour moi si douloureuse, avec eile, avec
l'inconnu de sa vie ou je n'entrerais pas." (Proust I, S. 140)
27 Vgl. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu',
Frankfurt a.M. 1986, S. 214.
28 Benjamin II, S. 208.
29 Benjamin IV, S. 119.
S4 DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG
30 Proust I. S. 140.
31 Proust I, S. 405.
32 Vgl. Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Ders.: Judaica 3,
Frankfurt a.M. 1973, S. 7ff.
33 Ebenda, S. 13.
34 Ebenda, S. 7f.
35 Ebenda, S. 10,14.
36 Ebenda, S. 14.
37 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,
Frankfurt a.M. 1991, S. 363.
38 Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel, in: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Ak-
tualität Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1972, S. 127.
DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG ^
Im Verweis auf eine Geschichte von Hans Christian Andersen über ein Bilder-
buch in dem „alles lebendig"41 war, treten für Benjamin nicht „die Dinge [...]
dem bildernden Kind aus den Seiten heraus"42. Im „Schauen dringt es selbst als
Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein. Es macht
vor seinem ausgemalten Buche die Kunst der taoistischen Vollendeten wahr: es
meistert die Trugwand der Fläche [...]."43 Die Hieroglyphik des Kinderbuches
durchbricht die Linearität des Satzes und somit die „Mauer vor der Sprache des
Originals"44. „Da findet man z.B. auf der Tafel A ein Stilleben aufgetürmt, das
sehr rätselhaft wirkt, bis man dahinter kommt, daß hier Aal, ABC-Buch, Adler,
Apfel, Affe [...] sich versammelt haben. Solche Bilder kennen Kinder wie ihre Ta-
sche, sie haben sie genau so durchwühlt und das Innerste zu äußerst gekehrt, oh-
ne das kleinste Fetzchen oder Fädchen zu vergessen."4'' Was diese Wörter mitein-
ander verbindet, ist nicht im Bereich der Semantik zu finden, sondern in der
Graphik der Buchstaben. Die Buchstaben der Kinderbücher sind mehr als nur
lesbar, weil sie gleichzeitig Bilder sind: „F tritt in der Verkleidung des Franziska-
ners, K als Kanzlist, T als Träger auf."46 In der „Lehre vom Ahnlichen" spricht
Benjamin vom „Verhältnis des Schriftbildes von Wörtern oder Lettern zu dem
Bedeuteten bzw. dem Namengebenden"47. Dieser „Wort- und Letternfasching"48
hat die „allervomehmste Abkunft", denn er stamme „geradewegs aus der Hiero-
glyphik der Renaissance"49. In der Verschmelzung figürlicher Materialität und
semantischer Signifikation liegt ihr Wert, „weit ab von jener stumpfen Drastik,
um derentwillen die rationalistische Pädagogik sie empfahl."50 „Der Text wird
selbst zu einem Bild, das den Betrachter in den Bann schlägt und ihm nicht ge-
stattet, kurzerhand zur Sache zu kommen."51 „Wort- und Letternfasching" meint,
die Buchstaben in ihrer Materialität zu nehmen und sie nicht, wie Piaton in sei-
nem Dialog Kratylos, ausschließlich dem Geist zuzuordnen. Ihre Lektüre liegt
jenseits des kulturellen Codes.
„Erst wenn das Geschriebene als Zeichensignal verstorben (defunt) ist, wird es
als Sprache geboren. Erst dann sagt es, was ist, wobei es nur noch auf sich selbst
verweist: [...] Deshalb wird die Schrift niemals bloße .Malerei der Stimme' (Vol-
taire) sein. Sie bringt den Sinn hervor, in dem sie ihn verzeichnet, in dem sie ihn
einer Gravierung, einer Furche, dem Relief einer Fläche anvertraut, von der man
verlangt, dass sie unendlich übertragbar sei."52 Eine neue sozio-ökonomische Be-
deutung der Schrift erkennt Benjamin daran, wie sie „unerbittlich von Reklamen
auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen
Chaos unterstellt [wird]."5' „Bereits die Zeitung wird mehr in der Senkrechten als
in der Horizontalen gelesen, Film und Reklame drängen die Schrift vollends in
die diktatorische Vertikale."54
Das Kind erweist sich als „bricoleur", das keine Bedeutung schriftlich zur Abbil-
dung, sondern diese im Handgriff selbst erst zur Erscheinung bringt. Den Buch-
stabenkonstellationen entsprechen die Sternenkonstellationen der Urzeit. Sie
können dem Kind eine Bedeutung entgegentragen als mediales Erscheinen im
Kontinuum von Ähnlichkeiten. Die imaginierte Welt des Gelesenen ist mit der
körperlich-gestischen Verrichtung des Kindes im Handgriff verbunden. Bei
Proust ist es Marcels assoziative Entfaltung der Sprachbewegung im Klang eines
Namens, die die Welt des Kindes als Sinnkontinuum zwischen Subjekt und Ob-
jekt darstellt. So wie für Marcel der Name immer auch sein Inhalt ist bevor er
beim Kontakt mit der wirklichen Person als Träger des Namens entzaubert wird,
so war für das Benjaminsche Kind „mit einem Buche auch sein Inhalt, seine Welt
handgreiflich da, mit einem Griff zur Stelle."55 Es ist diese „handgreiflich^^
Welt, in der Erfahrung noch möglich ist. Ihr gegenüber steht eine Welt aus Glas.
Ihr Motto lautet .Verwisch die Spuren!' Einhausung in die Sprache ist hier nicht
mehr möglich5", weil der Raum nur noch als quantifizierbarer gesehen wird.
Die Materialität der Sprache geht so weit, dass sie dem Kind bei Proust und
Benjamin zum Obdach und zur Zufluchstätte wird: „So war mit einem Buche
auch sein Inhalt, seine Welt handgreiflich da, mit einem Griff zu Stelle. So aber
verklärte dieser Inhalt, diese Welt nun auch das Buch an allen seinen Teilen. Sie
brannten in ihm, strahlten von ihm aus; sie nisteten nicht nur im Einband oder
in den Bildern; Kapitelüberschriften und Anfangsbuchstaben, Absätze und Ko-
lonnen waren ihr Gehäuse. Man las sie nicht aus nein, man wohnte, hauste zwi-
schen ihren Zeilen und wenn man nach einer Pause sie wieder aufschlug, so
schreckte man sich selber an der Stelle auf, an der man stehen geblieben war."sa
Es ist dieses Erschrecken einer Wiederbegegnung in der Bibliothek kurz vor dem
Finale der Recherche auf der Matinee Guermantes, die bei Proust die ganze Kind-
heit beschreibbar werden lässt, als Marcel zufällig ein altes Kinderbuch „Francpis
le Champi"''', entdeckt: „C'etait une impression d'enfance bien ancienne, oü mes
Souvenirs d'enfance et de famille etaient tendrement meles et que je n'avais pas
reconnue tout de suite. Je m'etais au premier instant demande avec colere quel
etait l'etranger qui venait me faire mal. Cet l'etranger c'etait moi-meme, c'etait
l'enfant que j'etais alors, que le livre venait de susciter en moi, car de moi ne con-
naissant que cet enfant, c'est cet enfant que le livre avait appele tout de suite, ne
voulant etre regarde que par ses yeux, aime que par son coeur et ne parier qu'ä
lui."60 Ein altes Ich, das, wie es auf der ersten Seite der Recherche heißt, eins wur-
de mit dem Gelesenen61, trifft ihn schmerzvoll, weil ihm, wie Benjamin schreibt,
die Sprache ein Gehäuse war, der eigentliche Lebensraum des Erzählers.
Das mimetische Vermögen des Kindes bei Proust und Benjamin liest sich in den
Text, wobei die Angleichung so weit führt, dass das Kind sich selbst beim Wie-
deraufschlagen des Buches auf der Buchseite entdeckt. Diese Angleichung ist
Benjamin ein Bild perfekter Lektüre, das er in einem Denkbild aus der „Berliner
Kindheit um Neunzehnhundert" festhält. Von einer Fabel ist dort die Rede: „Sie
stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein
neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am
Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die
hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler
umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg
zur Tür, stand still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt."w
Dieses Bild einverleibender Betrachtung bzw. Lektüre gilt mustergültig für den
Prozess, den Proust seinem Leser anrät: als auslegende Einschreibung des Lesen-
den in das Gelesene.63
Ein Hauptmotiv der „Berliner Kindheit" ist das den Dingen ähnlich werden, die
Anverwandlung als die Kompetenz der Kindheit schlechthin. Dabei verdankt das
Kind der Nicht-Identität die Fähigkeit zur Assimilation an die Welt in ihrer
.Stofflichkeit'. „Verstecktes Kind. Es kennt in der Wohnung schon alle Verstecke
und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu
finden. Ihm klopft das Herz, es hält seinen Atem an. Hier ist es in die Stoffwelt
eingeschlossen. Sie wird ihm ungeheuer deutlich, kommt ihm sprachlos nah. So
wird erst einer, den man aufhängt, inne, was Strick und Holz sind. Das Kind, das
hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Ge-
spenst. [...] Und hinter einer Tür ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer
Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten."6S
Hier verbindet sich das Kind mit dem Interieur in einer Einheit, das für den Bür-
ger als „Etui-Mensch"''6 zur leeren Hülse geworden ist. Dem Kind wird es in der
mimetischen Angleichung Überlebens- und Spielraum. ,Tür werden' meint in-
tuitive Überschreitung, um in der Welt „Fuß zu fassen"67. Das Kinderspiel ist da-
bei ein Beispiel für die Indifferenz von Körper und Zeichen, eine Sphäre in dem
die „leiblich- natürlichen Behelfe des Eingedenkens"68 noch präsent sind. Der
mimetische Vorgang bildet nicht ein Vorgegebenes im Sinne einer metaphori-
schen Ähnlichkeit als Nachgebildetes ab, vielmehr gehört zur rezeptiven Auffas-
sungsgabe für „Korrespondenzen"69 stets eine spontane „Fähigkeit im Produzie-
ren von Ähnlichkeiten"70, die äußeren „Stimulantien und Erweckern [...] Ant-
wort gibt."71
So ist dem Kind auch „Mißverstehen" nicht Irrtum und Fehler, sondern Mög-
lichkeit sich im Innersten der Welt zurecht zu finden. „Das Mißverstehen ver-
stellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres
führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht. [...] Beizeiten lernte ich es, in die Wor-
te, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen.'" 2 Die Bedeutung der auf-
gefangenen Worte, „die auf der Grenze zweier Sprachbereiche, dem der Kinder
und der Alteren stehen"73, enthüllt sich nicht im konventionellen Gebrauch.
Stattdessen eröffnen sie ein Feld metonymischer Verschiebungen. So wird die
„gnädige Frau" zur „Nähfrau", die „Muhme Rehlen" zur „Mummerehlen" und
das Wort „Brauhausberg" enthält „von einem Brauhaus überhaupt nichts mehr
und ist allenfalls ein vom Blauen umwitterter Berg, der im Sommer sich aufbaut
mich und meine Eltern zu behausen."74
„Manchmal [...] im Winter, wenn ich in der warmen Stube am Fenster stand,
erzählte das Schneegestöber draußen mir so lautlos. Was es erzählte, hatte ich
zwar nie genau erfassen können, denn zu dicht und unablässig drängte zwischen
dem Altbekannten Neues sich heran. Kaum hatte ich mich einer Flockenschar
inniger angeschlossen, erkannte ich, daß sie mich einer anderen hatte überlassen
müssen, die plötzlich in sie eingedrungen war."75
Das Kind „kennt nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet
ihm, stößt ihm zu."76 „Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert
[...]."77 Dazu erkennt es in „Abfallprodukten [...] das Gesicht, das die Dingwelt"
gerade ihm, ihm „allein, zukehrt." 8 Durch „sprunghafte Beziehungen"7l), d.h.
jenseits der Linearität semantischer Bedeutungen, bildet sich ihm die „Ding-
welt"80.
„Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Über-
bleibsel, des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber
übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, son-
dern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. Nur meinem eigenen Bil-
de nie."81 Das sich-ähnlich-machen des Kindes gegenüber der Objektwelt meint
nie ein sich selbst ähnlich werden. Dem eigenen Bild kann das Kind sich nicht
ähnlich machen, weil es dieses Bild nicht als Identität gibt. Das Benjaminsche
Kind erfährt dies beim Photographen: „Und darum wurde ich so ratlos, wenn
man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photogra-
phen."82 Das Kind bei Benjamin, sonst Meister darin, durch Entstellung, Ver-
Gleich in der Eingangsszene der Recherche beschreibt der Erzähler eine Metamor-
phose des schlafenden Marcel, wie er den Objekten gleich wird, über die er in
seinem Buch gelesen hat: „je n'avais pas cesse en dormant de faire des reflexions
sur ce que je venais de lire, mais ces reflexions avaient pris un tour un peu parti-
culier; il me semblait quej'etais moi-meme ce dontparlait l'ouvrage: une eglise, un
quatuor, la rivalite de Francois Ier et de Charles-Quint."86 Diese Identifikation
des Lesenden mit dem Gelesenen erscheint hier beinahe als voraus aufgebautes
Ziel wahrer Lektüre: die totale Mimikry, als metaphorisches in den Schriftraum
der Lektüre treten.81 Noch in der Nacht, da Marcel vergeblich auf den Gu-
tenachtkuss seiner Mutter wartet, liest sie ihm schließlich aus den Büchern vor,
die ihm eigentlich als Geschenke zugedacht waren. Ähnlich wie wir an den Bei-
spielen bei Benjamin gesehen haben, empfindet das Kind Marcel ein Zusammen-
spiel von Gelesenem und Lesendem: „toute la tendresse naturelle, toute l'ample
douceur qu'elles reclamaient ä ces phrases qui semblaient dcrites pour sa voix
[...]."88 Aber auch noch eine andere Erfahrung der Lektüre prägt Marcel an den
Abenden, an denen ihm seine Mutter aus dem Buch „Francois le Champi" vor-
liest: „L'action s'engagea; eile me parut d'autant plus obscure que dans ce temps-
lä, quand je Iisais, je revassais souvent pendant des pages entieres, ä tout autre
chose. Et aux lacunes que cette distraction laissait dans le recit, s'ajoutait, quand
c'etait maman qui me lisait ä haute voix, qu'elle passait toutes les scenes
Proust schreibt in seinem Text „Sur la lecture", was das Kind Marcel bei den Le-
sungen seiner Mutter erfährt: „nous ne pouvons recevoir la verite de personne [...]
nous devons la creer nous-memes [...]."91 „[...] recreer en soi ce qu'a senti un
maitre. Dans cet effort profond c'est notre pensee elle-meme que nous mettons,
avec la sienne au jour."92 Lektüre vermag die persönliche Aktivität der Wahrheits-
erkenntnis seitens des Lesers nicht zu ersetzen.
Der Text „Sur la lecture"93 ist darüber hinaus auch noch auf andere Weise in-
teressant, denn Proust hebt darin die äußeren Umständen der kindlichen Lektüre
mehr als den Inhalt des Gelesenen hervor, was in Analogie steht zu dem von
Benjamin beschriebenen Ineinander von Innen und Außen in der Lektüreerfah-
rung des Kindes: „les charmantes lectures de l'enfance [...] laissent surtout en
nous [...] l'image des lieux et des jours oü nous les avons faites."94 Schließlich wi-
derspricht er dem englischen Kulturphilosophen John Ruskin 9 \ wenn er schreibt:
„La lecture est au seuil de la vie spirituelle; eile peut nous y introduire: eile ne la
constitue pas."96
89 Proust I, S. 41.
90 Die Erfahrung der „Lücke" in der Kindheitslektüre spielt eine Rolle in der Fragment-Poetik von
Proust und bestimmt die Suche nach dem verlorenen Gesamtsinn. Auch hier stoßen wir wieder
auf Flaubert als Wegbereiter Prousts. In seinem Aufsatz über den Stil des Romanciers rühmt
Proust besonders eine Stelle in der Education, eine Leerstelle, ein blanc. „A mon avais la chose la
plus belle de .L'Education sentimentale', ce n'est pas une phrase, mais un blanc." (Proust: Contre
Sainte-Beuve, prececte de Pastiches et melanges et suivi de Essais et articles, hrsg. von Pierre Cla-
rac / Yves Sandre, Paris 1971, S. 595) Proust meint mit diesem Verweis einen abrupt am Ende
der Education hereinbrechenden Absatz, der mit der vorherigen, linearen und kontinuierlichen
Handlungsbeschreibung nicht vereinbar scheint. Ähnliche „blancs" finden sich im letzten Band
der Recherche. Von zwei nicht näher spezifizierten Sanatoriumsaufenthalten Marcels ist dort die
Rede (Proust TV, S. 301 f. und IV, S. 433) ohne, dass der Leser erfährt, wie viel Zeit nun genau
bis zur Matinee Guermantes, dem eigentlichen Erweckungserlebnis der .memoire involontaire',
verstrichen ist. Dieser Mangel einer zeidichen Lokalisierung scheint die Wichtigkeit größtmögli-
cher Zeitentiefe für die Erinnerung zu betonen.
91 Proust, Sur la lecture, S. 33.
92 Proust: John Ruskin, in: Ders.: Contre Sainte-Beuve, pr&ede' de Pastiches et mdanges, Ed. £ta-
blie par Pierre Clarac / Yves Sandre, Paris 1971, S. 140.
93 Proust schrieb diesen Text 1905 und veröffentlicht ihn ein Jahr später als Vorwort seiner Ruskin
Übersetzung „Sesame et les lys". 1919 nimmt er den Text wieder auf und integriert ihn in seine
Textsammlung: „Pastiches et Melanges" unter dem neuen Titel: „Journee de lecture" mit leichten
Veränderungen.
94 Proust: Sur la lecture, S. 26.
95 John Ruskin (1819-1900): Schriftsteller und Kunstkritiker im viktorianischen England.
96 Proust: Sur la lecture, S. 35. Die Übersetzung Ruskins versah Proust darüber hinaus mit Kom-
mentaren, welche Raum geben für eigene Reflexionen. „Ainsi j'ai essaye de pourvoir le lecteur
comme dune memoire improvisee oü j'ai dispose des Souvenirs des autres livres de Ruskin - Sorte
de caisse de resonance, oü les paroles de ,La Bible d'Amiens' pourront prendre quelque retentis
62 DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG
sement en y eveillant des echos fraternels." Vgl. Proust: Contre Sainte-Beuve, prec&te de Pasti-
ches et melanges, Ed. etablie par Pierre Clarac / Yves Sandre, Paris 1971, S. 76.
97 Benjamin VI, S. 469.
98 Benjamin IV, S. 237.
99 Benjamin IV, S. 237.
100 Benjamin IV, S. 237.
101 Vgl. Anna Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, Göttingen 1977, S. 15.
102 Benjamin IV, S. 237.
DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG 63
kannte.' os Auf der Schwelle zwischen der Welt des Dorfes und der Unendlichkeit
des Flusses lässt sich das Kind nieder: „je montais en courant dans le labyrin-
the".109 Hier im Labyrinth „le silence etait profond, le risque d'etre decouvert
presque nul".110 Allein die Schläge der Turmuhr sind hörbar, und doch löst sich
hier das Kind aus den Koordinaten von Raum und Zeit, wenn es feststellt, dass
trotz der Deutlichkeit der Glockenschläge „je n'etais jamais sür du nombre des
coups."" 1 Schon das Vorlesen der Mutter an Marcels Bett war von übersprunge-
nen Liebesszenen geprägt, die das Kind zur Füllung der Lücken im Text anregen.
Prousts Kontiguität von Lesen und Labyrinth bestimmt Lektüre als Irr- und
Umweg, weil die ersehnte Mitte nur in den sie umstellenden Konfigurationen
abgeschritten werden kann: „Alors, quio? ce livre, ce n'etait que cela?""2 Die Per-
sonen der Romanhandlung erscheinen dem Kind noch zu schemenhaft. Es
möchte mehr wissen, aber der - wie ,von der Höhe des Himmels herabgeschrie-
bene'"' — Epilog des Buches erfüllt nicht das angestachelte „desir" des Lesers."4
Und so bestimmt Proust auch im weiteren Verlauf des Essays das Ende eines
Textes als permanenten Aufschub, insofern es dem Leser ein ständig neuer An-
fang ist: „Nous sentons tres bien que notre sagesse commence oü celle de l'auteur
finit, et nous voudrions qu'il nous donnät des reponses, quand tout ce qu'il peut
faire est de nous donners des desirs."115
„Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem
er sich schenkt."" 6 Das heißt nichts anderes als die Aura einer Erscheinung zu
erfahren, denn „da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu."" 7 „Die
Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den
Blick aufzuschlagen [...].""8 Die Recherche liefert uns ein Beispiel einer solchen
108 Ebenda.
109 Ebenda, S. 21.
110 Ebenda, S. 21.
111 Ebenda, S. 22.
112 Ebenda, S. 24.
113 Ebenda, S. 24.
114 „On aurait tant voulu que le livre continuät, et. si, cVtait impossible, avoir d'autres renseigne-
ments sur tous ces personnages, apprendre maintenant quelque choses de leur vie, [...) ne pas
avoir aime' en vain [...] des etres qui demain ne seraient plus qu'un nom sur une page oubliee,
dans un livre sans rapport avec la vie et sur la valeur duquel nous nous etions bien mepris puis-
que son lot ici-bas, nous le comprenions maintenant et nos parents nous l'apprenaient au be-
soin d'une phrase d^daigneuse, n'etait nullement, comme nous l'avions cru, de contenir
l'univers et la destinee, mais d'occuper une place fort ^troite dans la bibliotheque du notaire
[...]." (Proust: Sur la lecture, S. 25)
115 Proust: Sur la lecture, S. 32f.
116 Benjamin I, S. 646.
117 Benjamin I, S. 646.
118 Benjamin I, S. 646f.
DIE KINDHEIT ALS ORT BESONDERER ERFAHRUNG 65
Zwischen der sprachlosen Natur und dem empfindenden Ich findet eine Kom-
munikation statt. Die Schönheit der Natur zeigt sich erst durch die Schönheit der
Sprache. Die Sprache wird noch nicht als Medium verbaler Inhalte verstanden,
sondern als magische Quelle der Weltaneignung. Nicht die Sprache richtet sich
nach der Welt, sondern die Welt entfaltet sich in den Sinnstufen einzelner Wör-
ter und veranlasst das Kind, in ein mimetisches Wechselverhältnis mit ihr zu tre-
ten. Aber statt das Rätsel der drei Türme zu lösen, bleibt das Schriftstück analog
zur ganzen Recherche nur die aufschiebende, meandernde Artikulation einer sich
entziehenden Essenz.
Dem Kind Marcel begegnet die Welt als Rätselschrift. Die Dingwelt zeigt sich
ihm als eine Welt, der Bedeutungen eingeschrieben und zugleich verwehrt sind:
„tout d'un coup un toit, un reflet de soleil sur une pierre, l'odeur d'un chemin me
faisaient arreter par un plaisir particulier qu'ils me donnaient, et aussi parce qu'ils
avaient l'air de cacher, au-delä de ce que je voyais, quelque chose qu'ils invitaient
ä venir prendre et que malgre mes efforts je n'arrivais pas ä decouvrir. Comme je
sentais que cela se trouvait en eux, je restais lä, immobile, ä regarder, ä respirer, ä
tächer d'aller avec ma pensee au delä de l'image ou de l'odeur. [...] je m'attachais ä
me rappeler exactement la ligne du toit, la nuance de la pierre, qui, sans que je
pusse comprendre pourquoi, m'avaient semble pleines, pretes ä s'entrouvrir, ä me
livrer ce dont elles n'etaient qu'un couvercle."125
Eine andere Stelle in Form einer Rückbesinnung auf die Zeit in Combray fin-
det sich in ,Le Temps retrouve': „[...] dejä ä Combray je fixais avec attention de-
vant mon esprit quelque image qui m'avait force ä la regarder, un nuage, un tri-
angle, un clocher, une fleur, un caillou, en sentant qu'il y avait peut-etre sous ces
signes quelque chose de tout autre que je devais tächer de decouvrier, une pensee
qu'ils traduisaient a la facon de ces caracteres hieroglyphiques [...]. Sans doute ce
dechiffrage etait difficile mais seul il donnait quelque verite ä lire."126
Es braucht den Rückzug ins Interieur wie in eine Camera Obscura, um die
Eindrücke zu entfalten. In diesem Zusammenhang spricht Marcel ebenso wie
Benjamin im Verweis auf ein vormodernes Zeitalter von „hieroglyphiques"127, die
zu entziffern sind. Die Eindrücke werden dem Autor zum „livre interieur de
signes inconnus", „de signes en relief'128. Der Erinnernde versucht, die einer
Zauberschrift ähnlichen Zeichen zu entziffern, ohne dass damit die Enthüllung
einer letzten Wahrheit gemeint ist.129 „Alors je ne m'occupais plus de cette chose
inconnue qui s'enveloppait d'une forme ou d'un parfum, bien tranquille puisque
je la ramenais ä la maison, protegee par le revetement d'images sous lesquelles je
la trouverais vivante [...] Une fois ä la maison je songeais ä autre chose et ainsi
s'entassaient dans mon esprit (comme dans ma chambre les fleurs que j'avais cu-
eillies dans mes promenades ou les objets qu'on m'avait donnes), une pierre oü
jouait un reflet, un toit, un son de cloche, une odeur de feuilles, bien des images
differentes sous lesquelles il y a longtemps qu'est morte la realite pressentie que je
n'ai pas eu assez de volonte pour arriver ä decouvrir."130 Das Kind stößt auf ein
Glücksversprechen. Es kommt ihm nicht auf den Grund und bewahrt es als eine
Sammlung unenträtselter Bilder. In der Erfahrung der „memoire involontaire"
werden sie plötzlich lesbar, wobei die Bilder der Erinnerung „cachaient non une
Sensation d'autrefois mais une vente nouvelle"1". Das heißt, sie zeigen sich als
Deja-vu des nie Erlebten.132
Benjamins Beschäftigung mit dem ..mimetischen Vermögen" des Kindes, das von
der „Einbahnstraße" (1923-1926) über die „Berliner Chronik" (1932) bis hin zur
„Berliner Kindheit" (1932-38) reicht, ist ein wichtiger Baustein im Feld seiner
mimesis-theoretischen Gedanken. Dass er sich dabei durch die Proustsche Recher-
che, an deren Übersetzung er seit 1925 gearbeitet hat, inspirieren ließ, ist offen-
sichtlich. Das zeigt neben expliziten Bezügen auf das Thema der Chockerfahrung
der Erinnerung133, des Interieurs134 besonders aber die Erfahrungsweise des Kin-
des. Dazu gehören sowohl das Kinderspiel als eine Form der Weltaneignung
ebenso wie der spielerische Umgang mit der Sprache, der an Marcels Namens-
spekulationen erinnert. Der Leser bekommt den Eindruck, als wäre Proust für die
Rückbesinnung Benjamins auf die eigenen Erinnerungen wichtiger als das gelebte
Leben des Autors Benjamin selbst und würde seine Texte präformieren. Die Be-
züge der im Text evozierten Erinnerungsbilder sind somit zu einem großen Teil
textueller Natur. Benjamins Proustlektüre legt sich als weitere Schicht über das
autobiographische Ich, das als fremder „Text", als Ergebnis eines fordaufenden
Zeichenprozesses erscheint. Diese verborgene Intertextualität dezentriert von An-
beginn an den eigenen Text.
Benjamins Ausführungen zur kindlichen Weltaneignung sind ein Verbin-
dungsstück zwischen seiner Lektüre der Recherche und seinen späten Traktaten
zur Mimesis aus dem Jahr 1933. Sie sollen im folgenden Kapitel hergeleitet und
seiner Interpretation der Proustschen Poetik an Hand des Aufsatzes „Zum Bilde
Prousts" gegenübergestellt werden.
Wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, stehen Spiel, Wortspiel und
Lektüre des Kindes bei Proust und Benjamin gleichermaßen für ein Fort- und
Einschreiben in Sinnzusammenhänge, die nicht von einem eindimensionalen
Sinn beglaubigt oder letztbegründet werden brauchen. Auch wenn die Kindheit
von beiden Autoren nur als Durchgangsstadium in der Entwicklung des Men-
schen angesehen und ihr Verlust in gleicher Weise als tragisch empfunden wird,
so bleiben doch beide Autoren diesen Erkenntnissen treu in ihrer Konzentration
und Thematisierung der Sprache. Benjamin selbst veranlasst uns dazu, den kind-
lichen L'mgang mit der Sprache ernst zu nehmen, wenn er schreibt: „Ein Teil
von solcher [kindlicher] Sicht liegt aber wirklich in jedem Akt des Lesens einge-
schlossen [...] auch der Gebildete liegt lesend auf der Lauer nach Wendungen
und Worten, und der Sinn ist nur der Hintergrund, auf dem der Schatten ruht,
den sie mit Relieffiguren werfen."1
Der kindliche, vieldimensionale Zugriff auf die Semantik der Sprache und die
Analyse ihrer „prägenden Gewalten", die nicht auf die Konvention reduziert wer-
den können, lebt in den Werken beider Autoren fort. Das aber weder in Gestalt
einer Wiederbelebung nostalgischer Kindheitsverklärung, noch in der Verherrli-
chung eines kindlichen Irrationalismus'. Vielmehr in der sprach- und mimesis-
theoretischen Aufdeckung von Differenzstrukturen innerhalb der Sprache, die
dort an vorprädikative Erfahrungen des Kindes anknüpfen, wo eine Spaltung zwi-
schen Logos und Physis sich zugunsten eines Kontinuums in der besonderen
Medialität der Sprache ausdrückt. Was in der Analyse der Kindheit noch spiele-
risch ausgeführt wurde, findet in Benjamins Mimesistheorie und Prousts Poeto-
logie seine theoretische Vertiefung.
Wenn somit im folgenden eine Gegenüberstellung von Benjamins Mimesis-
Theorie, die aufs engste mit seiner Theorie der,Magie' der Sprache verwoben ist,
und Prousts Poetologie vorgenommen wird, dann geht es dabei nicht nur um ei-
ne Bestimmung historischer Einflüsse, sondern auch um eine Erhellung systema-
tischer Übereinstimmungen. Eine Analyse der Proustschen Poetologie beleuchtet
Aspekte in der Interpretation von Benjamins Theorie des „mimetischen Vermö-
gens" dort, wo es sich als ein semiologisches zu erkennen gibt. „Kontinua der
Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke"2 durchmisst
dieses Vermögen. Beide Autoren sind dahingehend zu befragen, inwiefern ihre
Reflexionen sich als eine parallellaufende und konvergierende Kritik an einer
abendländischen Ontologie ausnimmt, bzw. als eine Suche nach ihrer Überwin-
dung. Dabei soll gezeigt werden, wie die von Benjamin interpretierte Poetologie
der Recherche eine sptzch-interne Bedeutungsebene hervorzubringen sucht, die sich
nicht auf ein transzendentales Signifikat, bzw. auf einen Logos als Bedeutungs-
zentrum reduzieren lässt. Gleichzeitig soll in dem Abschnitt über Benjamins Auf-
satz „Zum Bilde Prousts" deutlich werden, inwiefern seine Proust-Lektüre wich-
tige Aspekte seiner Mimesis-Traktate in ihrer semiologischen Bestimmung der
Sprache vorwegnimmt. Eine paraphrasierende Wiedergabe von Benjamins Mime-
sistheorie, ohne die Berücksichtigung seiner frühen Traktate über Erfahrung und
Sprache, aus denen sie sich herleitet, beraubt sie ihrer Spannung von Wörtlichkeit
und Funktionalität. Daher werden wir im folgenden auf diese Werke näher ein-
gehen.
Kritik am Neukantianismus
Benjamin will „unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoreti-
sche Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffs"8 vornehmen. Cohens Neu-
kantianismus spricht nur einer an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis orientierten Erfahrung Gültigkeit zu. Benjamin behauptet dagegen, dass
eine einzelwissenschaftliche Verfahrensweise nicht aus sich heraus begründet wer-
den kann. Sie bleibt „Weltanschauung"9, die selbst noch der Begründung bedarf.
Und Weltanschauung ist sie, insofern sie die Historizität der Vernunft nicht be-
rücksichtigt und das transzendentale Subjekt als eine a-historische Größe defi-
niert. Benjamin kritisiert Kants Wirklichkeits- und Erfahrungsbegriff, wenn die-
ser in seiner anthropomorphen Auffassung der Erkenntnis das absolute Erkennt-
nissubjekt nach dem Bild des Menschen entwirft.10 Auf diese Weise ist Kants Re-
de vom transzendentalen Bewusstsein durchsetzt mit einer „nicht endgültig
überwundene[n] Auffassung der Erkenntnis als Beziehung zwischen Subjekten
und Objekten."" Für Benjamin ist aber diese Dualität das „metaphysische Ru-
diment in der Erkenntnistheorie"12. Einheit der Erkenntnis ist für Kant nur
denkbar in einer außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegenden Vernunft
und innerhalb der von ihr a priori durch die Kategorien gesetzten Grenzen. Auch
wenn Benjamin die Bestimmung einer systematischen Einheit als Bedingung der
Wahrheit des Erkennbaren am Anfang aller kommenden Philosophie stehen lässt,
setzt er sich von Kants einheitsstiftender Funktion des Subjekts ab. Kants Rede
von einer transzendentalen Subjektivität deklassiert die Erfahrung als zweitrangig.
Es geht Benjamin um den Aufweis eines Grundes, der die „geistige und psycho-
logische Verbindung des Menschen mit der Welt umfaßt."13 Einen solchen
Grund sieht er allein in einem „reinen erkenntnistheoretischen (transzendentalen)
Bewußtsein"14, womit er jedoch nicht Kants „transzendentales Bewußtsein" als
ahistorisches, apriorisches Zentrum der Erkenntnistheorie meint. Benjamin fragt
„ob die Anwendung des Terminus Bewußtsein hier statthaft"1'' sei, da das „reine
transzendentale Bewußtsein [...] artverschieden von jedem empirischen Bewußt-
sein"16 ist, und der Begriff des Bewusstseins immer eine Trennung von Subjekt
und Objekt voraussetzt. Bewusstsein ist immer schon Bewusstsein von etwas, auf
das es sich bezieht. Benjamin stellt Kants Theorie auf den Kopf. Macht Kant die
apriorischen Momente seiner Erkenntnislehre zum Fundament der Erfahrung,
die erst durch diese ihre Einheit und Gewissheit erfährt, sagt Benjamin, dass „in
der Struktur der Erkenntnis die der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist."17
Benjamins Rede vom „Erfahrungskontinuum"18 verweist auf einen Einheitsho-
rizont, der jeder prädikativen Erkenntnis immer schon vorausgeht. Seine Verbin-
dung zur Phänomenologie und ihrem Bemühen um eine innere, prä-dualistische
Korrelation zwischen Subjekt und Objekt betont er selbst: „Hier ist der logische
Ort vieler Probleme, die die Phänomenologie neuerdings wieder aufgeworfen
hat."19 Benjamins „transzendentales Bewußtsein" soll die Trennung von Subjekt
und Objekt unterschreiten, womit es „arrverschieden von jedem empirischen Be-
wußtsein"20 ist. Es geht dabei um die Spezifizierung eines Bereiches, in dem Sub-
jekt und Objekt in keinem reprasentationalen Verhältnis stehen. Und so schreibt
Benjamin: „Es ist die Aufgabe der kommenden Erkenntnistheorie, für die Er-
kenntnis die Sphäre totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt und
Subjekt zu finden; mit anderen Worten, die autonome ureigene Sphäre der Er-
kenntnis auszumitteln, in der dieser Begriff auf keine Weise mehr die Beziehung
Das folgende Zitat zeigt, inwiefern diese Analyse des Erfahrungsbegriffes auf
Benjamins Sprachtheorie verweist. „Die große Umbildung und Korrektur",
schreibt Benjamin am Ende seiner Abhandlung, „die an dem einseitig mathema-
tisch-mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, kann nur
durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Leb-
zeiten Hamann versucht hat gewonnen werden. [...] Ein in der Reflexion auf das
sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von ihr wird einen korre-
spondierenden Erfahrungsbegriff schaffen der auch Gebiete deren wahrhafte sy-
stematische Einordnung Kant nicht gelungen ist umfassen wird."2'' Für Kant sei
die Tatsache, dass alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der
Sprache und nicht in Formeln und Zahlen habe, völlig zurückgetreten. Sprache
und Erfahrungsraum gehen in einander, was nicht als Reaktivierung einer
Sprachmystik misszuverstehen ist. Der Subjekt-Objekt Teilung geht die Sprache
als Raum reiner Differentialität immer schon voraus. Bei Novalis, mit dem sich
35 Tilmann Lang: „Erfahrung ist ein Moment, das nicht im strengen Sinne selbst Gegenstand der
Erkenntnis ist, sondern den Zusammenhang der Einzelerkentnisse, der einzelnen Prädikationen
strukturiert." (S. 86)
36 Benjamin VI, S. 48.
VI Benjamin II, S. 161.
38 Benjamin II, S. 162.
39 Benjamin II, S. 162.
40 Benjamin II, S. 162.
41 Benjamin II, S. 162.
76 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOGIE
keinem ewigen Logos, sondern der Logos erweist sich als eine sich nachträglich in
das Zeichenkontinuum einschreibende Bestimmtheit analytischen Denkens.
Freilich kann es Benjamin nicht um eine Verkindlichung der Menschheit, eine
Rückkehr zur archaischen Gesellschaft oder eine Re-theologisierung der Moderne
gehen. Wo aber sieht er die Alternative eines Auszugs aus der .entzauberten
Welt'? Im Anbetracht einer zunehmenden Versachlichung, Abstrahierung von
Lebenserfahrungen glaubt Benjamin anscheinend, in der Freilegung dieser Er-
kenntnis, einem möglichen Ausbruch aus der Moderne den Weg zu bereiten in
Richtung einer neuen Rückbesinnung auf den Erfahrungsbereich der Religion.
Leider bleibt der Begriff der Religion als neu zu begründender Erfahrungs- und
Erkenntnisbereich der Philosophie vollkommen unbestimmt. Benjamin ringt sich
nur zu einer negativen Bestimmung, bzw. einer Abgrenzung durch, wenn er
schreibt, armselig wäre es, darin den ,,beklemmende[n] Ideenreichtum"42 von
„Yogaweisheit, Christian Science [...] Scholastik und Spiritismus"43 zu verstehen.
Die kommende Philosophie „wäre entweder in ihrem allgemeinen Teil selbst als
Theologie zu bezeichnen oder wäre dieser sofern sie etwa historisch philosophi-
sche Elemente einschließt übergeordnet."44
„ Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen "
„Was kümmert sich der reine Logiker um die Ausdrucksvalenzen der Zeichen, die
er mit Kreide auf die Tafel malt?" fragt Karl Bühler in seinem Buch „Sprachtheo-
rie" (1934) und verdeutlicht auf seine Weise, worauf Benjamins Rede vom „gei-
stigen Wesen" abzielt. Bühler behauptet: jedes sprachliche Zeichen - wie sachbe-
zogen es sich auch geben mag — hat, als Äußerung eines Subjekts, expressive
Qualitäten. Dies führt er uns vor Augen, wenn er fortfährt: „Er [der Logiker] soll
sich auch gar nicht darum kümmern; und doch würde vielleicht an dem und je-
nem Kreidestrich oder am Duktus der ganzen Zeilen ein geübter Graphologe sei-
ne Freude haben und seine Deutekunst nicht vergebens bemühen. Denn ein Rest
von Ausdruck steckt auch in den Kreidestrichen noch, die ein Logiker oder Ma-
thematiker an die Wandtafel malt. Man muß also nicht erst zum Lyriker gehen,
um die Ausdrucksfunktion als solche zu entdecken."50 Bei Benjamin ist es die
Sprache selbst, und nicht das Subjekt, das einen Mehrwert - ihr .geistiges Wesen'
- in der verbalen Fracht mitliefert.
Benjamins Rede vom „geistigen Wesen" der Sprache ist nicht misszuverstehen
als eine vorsprachliche Essenz, die in der Vermittlung durch verbale Inhalte zum
Ausdruck kommt, da „geistiges" und sprachliches Wesen nicht zu trennen sind.
Es gibt keinen geistigen Inhalt der Sprache vor oder außerhalb von Sprache. Das
„geistige Wesen" versteht Benjamin als das formative Prinzip, das sich im Spre-
chen als solchen realisiert. Es ist nicht durch „verbale Inhalte" bezeichnet und
darstellbar.51 Autoreflexivität der Sprache meint, die Sprache ist eine „sich in sich
selbst mitteilende"52, bzw. macht an sich selbst einen Inhalt sui generis erfahrbar,
der aber nicht sprachanalytisch fixierbar ist. Daher kann Benjamin von einer
„Sprache der Sprache"53 reden. Winfried Menninghaus hat die Vorläufer dieser
Theorie unter den Frühromantikern bestimmt und zeigt, wie Benjamins Theorie
Wilhelm von Humboldts Rede von der „sprachbildenden Kraft" und vom ,in-
haltstranszendenten Inhalt' der Sprache weiterdenkt.54
Mag die Literatur unter der Kategorie ,Stil' in besonders deudichem Maße ei-
nen inhaltstranszendenten Inhalt transportieren, gelten Benjamins Ausfuhrungen
doch für jede „Art der Sprache": Alltagssprache, Justiz, Technik etc. Ja, in „gewis-
ser Weise", sogar für „schlechthin alles"55. Benjamin lässt somit die Grenzen der
48 Benjamin I, S. 924.
49 Benjamin II, S. 323.
50 Kar! Bühler: Sprachtheorie, Jena 1934, S. 32.
51 Da das "geistige Wesen" nie bis ins letzte bestimmbar, nie übersetzbar ist, steht es doch für das
ideale Einheitszentrum aller Sprachen. Auf diesen Aspekt seiner Sprachphilosophie geht
Benjamin in seiner Schrift: „Die Aufgabe des Übersetzers" näher ein.
52 Vgl. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1995,
S.U.
53 Benjamin II, S. 144.
54 Vgl. Menninghaus: Sprachmagie, S. 12.
55 Benjamin II, S. 140.
78 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE
Wenn sich die Sprache mitteilt, dann meint .Mitteilung' nicht Austausch prädi-
kativ fixierter Inhalte, sondern einen nicht-prädikativen Prozess von Darstellung
und Verstehen. In diesem Sinne ist die Sprache „im reinsten Sinne das .Medium'
der Mitteilung."5^ Die Sprache „teilt sich in sich selbst mit"58. Diese „Unmittel-
barkeit" der Sprache nennt Benjamin ihre „Magie"59. Die Sprache lässt etwas von
ihrem Inhalt kategorial Verschiedenes aufscheinen. Erst durch die Form der Rede
besteht die Chance, etwas in der Sprache aufscheinen zu lassen.
Benjamins SprachaufFassung des frühen Sprachaufsatzes ist gleichweit entfernt
von den Theorien der Konvention, nach denen der Gebrauch der Zeichen auf
Vereinbarung beruht, die Beziehung von Bezeichnendem und Bezeichnetem also
im Prinzip willkürlich ist, wie auch von der mystischen Ineinssetzung von Spra-
che und Sache.
Jedes Wort, auch das gegenüber dem Namen „unreine" Wort - also auch die
menschliche Sprache - ist unmittelbar in seinem Bedeuten. Mit diesem Gedan-
ken einer jenseits der Medialität verorteten eigenständigen Bedeutung des Wortes
wird aber die klassisch-metaphysische Dualität von Geist und Materie zur Dispo-
sition gestellt. Für Benjamin ist Sprache „niemals bloßes Zeichen", sie ist niemals
bloß „Zeichen von" und daher auch nicht allein durch die Vermittlung von In-
halten bestimmt. Sprache tritt nicht erst zu einer Intention hinzu. Medium meint
bei Benjamin nicht mehr ein Vermittelndes zwischen zwei Entitäten wie Spra-
chinhalt (Idee) und Sprachhülle (Lautfolge). Stattdessen ist das Medium selbst
geprägt durch ein vorstrukturierendes Moment in der Modellierung von Wirk-
lichkeit. „Sprache teilt sich selbst mit. Oder genauer: jede Sprache teilt sich in
sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das ,Medium' der Mitteilung. Das Me-
diale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem
der Sprachtheorie f...]."60 Benjamin folgt Friedrich Schlegel und Novalis darin,
dass „die Unendlichkeit der Reflexion [...] nicht eine Unendlichkeit des Fort-
gangs, sondern eine Unendlichkeit des Zusammenhanges"61 meine.62 Es gibt kei-
ne Wesenheiten, Bedeutungen jenseits der Medialität der Sprache. Reflexion
meint nicht Gedankentransport durch das Medium der Sprache, sondern Refle-
xion ist das Medium in seinem unendlichen Zusammenhang. „Das Mediale, das
ist die Unmittelbarkeit'^ in aller Mitteilung, jene „dichterische Seite der Sprache
[...], die man zur Not magisch nennen darf."64 Für Benjamin ist das Grundpro-
blem der Sprache ihre Magie. „Zugleich aber deutet das Wort von der Magie der
Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit. Sie ist durch Unmittelbarkeit
bedingt. Denn gerade weil durch die Sprache sich nichts mitteilt, kann, was in der
Sprache sich mitteilt, nicht von außen beschränkt oder gemessen werden, und
darum wohnt jeder Sprache ihre inkommensurable einziggeartete Unendlichkeit
inne."6,i Der Sprache wohnt in ihrer von einer Essenz losgelösten Medialität, in
der sie das Medium ihrer Selbst ist, eine unkommensurable, eine unmessbare
Endlosigkeit inne. Diesen unendlichen Zusammenhang nennt Benjamin „ma-
gisch".66
Die Bestimmung des „Medialen" und der „Unmittelbarkeit" der Sprache als des
immanenten, unendlichen-systematischen Zusammenhangs grenzt Benjamin ge-
gen die des mittelbar-mitteilenden Wortes als „unschöpferische Nachahmung des
schaffenden Wortes"67 ab. Mit dem Sündenfall, so Benjamin, verliert die Sprache
ihre Unmittelbarkeit. Trotz dieser Reduktion des Wortes auf den instrumentellen
Aspekt der Vermittlung spricht Benjamin von einer „Magie des Urteils". Das
Urteil ordnet das Zeichen dem Denken unter. Zeichen und Denken, Subjekt und
Objekt werden voneinander gelöst, das Denken steht vor dem Zeichen.
Benjamins Rede von einer „Sprache der Sprache"68 verneint die in jedem re-
präsentationslogischen Modell implizierte Unmittelbarkeit von Denken und In-
halt, die doch erst durch die Sprache zu vermitteln ist. Wird nun der Vermitt-
lungsort, die Sprache, selbst zu einem „Unmittelbaren" erklärt, so wird die Dua-
lität unterlaufen. Die Beziehung zwischen Physis und Logos unterliegt nicht der
Sprache, sondern liegt vielmehr in ihr. Sprache als „Dazwischen" ist mit dem Be-
griff der Vermittlung nicht mehr zu fassen. Die Medialität der Sprache liegt als
Bedingung jeglichen Bedeutens voraus. Bedeutungsbildung ist ein sprachinterner
Prozess in Form einer Einfältung, die aber keine Wesenheit einschließt, sondern
Hülle und Verhülltes in einem ist. So wie die Sprache als Medium Medium ihrer
selbst ist, so sind Unmittelbarkeit und Vermittlung gleichursprünglich zu denken.
„Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen. Mißverständlich ist aber auch die Ab-
lehnung der bürgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. Nach ihr ist näm-
lich das Wort schlechthin das Wesen der Sache. Das ist unrichtig [...]."69
Auf eine ähnliche Interpretation der Sprache stoßen wir auch bei Ernst Cassi-
rer. Dieser beschreibt die Entwicklung der Sprachtheorie in seiner „Philosophie
der symbolischen Formen" als einen Weg, auf dem der „Zwang des Nachah-
mungsbegriffs und der Abbildtheorie"70 allmählich an Verbindlichkeit verliert."1
Schon das mythische Denken ahme, so Cassirer, nicht einfach unverstandene
natürliche Gegebenheiten nach72 und stehe somit auch nicht mehr in einem
Raum einheitlicher Ursprünglichkeit. „Der letzte Schein irgendeiner mittelbaren
oder unmittelbaren Identität zwischen Wirklichkeit und Symbol muß getilgt, -
die Spannung zwischen beiden muß aufs äußerste gesteigert werden, damit eben
in dieser Spannung die eigentliche Leistung des symbolischen Ausdrucks [der
Sprache, D.F.] und der Gehalt jeder einzelnen symbolischen Form sichtbar wer-
den kann."73 Cassirer zeichnet über die Stationen des „mimetischen", „analogi-
schen" und „symbolischen" Ausdrucks die Ablösung eines klassischen Imitatio-
verständnisses hin zum selbständigen symbolischen Status der Sprache nach.74
Damit zielt er auf eine ähnliche Interpretation der Sprache wie Benjamin und
Proust. Erst die Verabschiedung eines platonischen Sprachmodells macht die
Sprache als ein eigenständiges symbolhaltiges System erkennbar: „das Ziel der
sprachlichen Bezeichnung liegt in der Differenz."75 Die symbolische Form der
Sprache sieht er als durch Differenz und Andersheit ausgezeichnet.76
Rolf Tiedemann hat als erster darauf verwiesen, dass für Benjamin die Alter-
native von Sprache als Konvention oder reine Mimesis hinfällig geworden ist.77
Statt dessen bemüht er sich um eine synthetisierende Position, die sich in seiner
Theorie der Übersetzung herauskristallisiert.
Sprache" nennt. Übersetzung meint nicht Kopie, sondern Erweiterung des Ori-
ginals genau auf diesen Bereich hin.86
Die Aufgabe des Übersetzers besteht demnach darin: „In der Übersetzung den
Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen"8". Auch wenn dies „niemals lösbar"88
erscheint, die „reine Sprache" nie in der Sprache des Menschen aufgeht, ist jede
Übersetzung dennoch Bereicherung und Erweiterung des Originals. „Die wahre
Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht
im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medi-
um, nur um so voller aufs Original fallen."8'' Steht die „reine Sprache" als me-
tapoetischer Einheitshorizont allen einzelnen Sprachen als die Fülle „geistigen
Wesens" gegenüber, kommt nur die Allheit der verschiedenen Sprachen und die
sich untereinander ergänzenden Intentionen der „reinen Sprache" am nächsten.
Was Benjamin jedoch mit „reiner Sprache" meint, darf nicht, auch wenn der Be-
griff dazu verfuhrt, als vorsprachliche Essenz, als sprachunabhängiger Ideenhori-
zont verstanden werden. Es gibt kein .geistiges Wesen' jenseits der Sprache.
Gleichzeitig kann man sich sehr wohl die Frage stellen, wozu Sprache noch nötig
sein soll, wenn sie statt eines Sinnes, einer verbalen Fracht nur noch einen Inhalt
sui generis transportiert. Im vom „Geschwätz" unberührten Paradies, am Ende der
Geschichte ist Kommunikation nicht mehr nötig, bringt die ,reine Sprache' alle
Sprachen zur Erlöschung.'"' „In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und
nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das
in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn [...] auf
eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind."'" Der heilsgeschichtliche
Impetus ist unverkennbar. Benjamins Konzept der ,reinen Sprache' kommt keine
empirische Wirklichkeit zu.
Die Übersetzung fügt der „Bruchstück" gebliebenen Sprache des Originals ein
verwandtes „Bruchstück" aus einer anderen Sprache hinzu, wie „nämlich Scher-
ben eines Gefäßes, um sich zusammenfugen zu lassen, in den kleinsten Einzel-
heiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem
Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr
86 „Worin kann die Verwandtschaft zweier Sprachen [...] gesucht werden? In der Ähnlichkeit von
Dichtungen jedenfalls ebensowenig wie in derjenigen ihrer Worte. Vielmehr beruht alle überhi-
storische Verwandtschaft der Sprachen darin, daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar
dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer ein-
ander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache." (Benjamin IV, S. 13)
87 Benjamin IV, S. 17.
88 Benjamin IV, S. 17.
89 Benjamin IV, S. 18.
90 Eine kritische Anmerkung an dieser Stelle: Der Begriff einer „reinen Sprache" erweckt in der Ge-
genüberstellung mit dem, was Benjamin „Medien verschiedener Dichte" meint, den Gedanken
einer Dualität. Gerade weil Benjamin diese Dualität vermeiden will, wirkt die Rede von ei-
ner„reinen Sprache" wie ein Fehlgriff. Der Begriff kommt gefährlich nahe in den Bannkreis eines
neuen Dualismus.
91 Benjamin IV, S. 19.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE 83
und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich
abbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück
einer größeren Sprache erkennbar zu machen.'"'2 Original und Übersetzung deu-
ten in ihrer „irgendwie vorläufigen Art" auf eine Vollendung, auf eine „Konver-
genz"93, auf eine „Harmonie all jener Arten des Meinens"94, die jedem einzelnen
Sprechen versagt ist.95
Kann eine Übersetzung das ,geistige Wesen', den ,Stil' als Signatur des Autors
des Originaltextes übertreffen oder muss sie zwangsläufig in ihrem Anspruch
scheitern? Hans-Georg Gadamer behauptet, der Übersetzer müsse im Vergleich
zum Autor des Originals „klar sagen, wie er versteht"96. Daher sei jede Überset-
zung, die ihre Aufgabe ernst nimmt „klarer und flacher als das Original."97 Hinter
dieser Behauptung erkennt man, dass Gadamer im Gegensatz zu Benjamin im-
mer noch ein Existieren des Verständnisses eines Originaltextes außerhalb der
sprachlichen Objektivation in der Übersetzung voraussetzt. Nach Benjamins
Theorie der Übersetzung scheint es durchaus möglich zu sein, dass eine Überset-
zung das Original überbietet, insofern Übersetzung und Original nicht in einem
Ahnlichkeitsverhältnis zueinander stehen98, sondern in gleicher Weise ausgerich-
tet sind auf die „reine Sprache". Sie ist der Bereich, in dem die Sprache unmittel-
bar „ohne vermittelnden Sinn" in ihrer „Wörtlichkeit [...] der Wahrheit"99 ange-
hört. So verlangt jeder Sprachzustand unterhalb des paradiesischen durch seine je
verschiedene Ferne zu diesen nach Erlösung, d.h. auch nach Übersetzung. Die
Unterschiedlichkeiten der nebeneinander bestehenden Sprachen erweisen sich als
„Medien verschiedener Dichte"' 00 .
Die Übersetzung ist für Benjamin nicht bedeutungsloses Beiwerk, sondern eine
„Ergänzung", die sich von anderer Seite mit eigener Intentionalität auf den Be-
reich der „reinen Sprache" hin ausstreckt. Original und Übersetzung verweisen in
ihrer „irgendwie vorläufigen Art" auf eine „Harmonie all jener Arten des Mei-
nens", die jedem einzelnen Sprechen „versagt" sind. Versteht Benjamin die Über-
setzung als Bereicherung des Originals, als das Übersich-hinaus-Wachsen des
Originals in „einen reineren Luftkreis der Sprache hinauf'"", so hat sie damit
Teil an einer Umkehrung des Sündenfalls, wie ihn Benjamin in seiner Genesis-
Interpretation auslegt.
Benjamins Ansicht, die Übersetzung könne nicht darauf zielen, Abbild des
Originals zu sein, bricht mit einem in Übersetzungstheorien des 18. Jahrhunderts
eingepflanzten Mimesis-Verständnis, das Ur- und Abbild in eine ungebrochene
Kausalbeziehung zueinander setzt.102
Die Aufgabe der Übersetzung in Hinsicht auf das Original besteht für Benja-
min darin, „diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden,
von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird."103 Eschatologisches End-
ziel ist die Aufhebung der Bedeutungen. Der Weg dahin ist gepflastert mit immer
neuen Differenzen, die sich erst am Ende der Geschichte auflösen. Erst in der
Versöhnung aller Arten des Meinens am messianischen Ende der Geschichte
kann die „reine Sprache" hervortreten. Demgegenüber bleibt die Sprache des
Menschen im Bereich der Differenz.
Nach Benjamin besteht das sprachliche Wesen des Menschen darin, „daß er
die Dinge benennt."104 Der Mensch teilt sein „geistiges Wesen" in den Namen
mit, die er - in der Gestalt Adams - den Dingen gibt. Laut dem Schöpfungsbe-
richt in Genesis l,27f. wird der Mensch nicht selbst benannt. Ihm allein wird die
„Gabe der Sprache"105 verliehen. D.h. der Mensch teilt sich mit, indem er die
Dinge benennt und eine anthropomorph verschobene Wiederholung des
Schöpfungsaktes zitiert. Die Frage bleibt aber, wie denn die Sprache des Namens
die Dinge benennen und zugleich eine „Übersetzung der Sprache der Dinge in
die des Menschen"106 sein kann. Dies scheint nur möglich, wenn die Dinge im-
mer auch Zeichen sind und in einem Verweisungs- und Zeichenzusammenhang
stehen, der der menschlichen Sprache vorausgeht. Ist die Namenssprache des
Menschen immer schon Übersetzung, so ist die Welt dem Menschen immer auch
schon lesbar. Analog dazu heißt es dann auch im Übersetzungsaufsatz: „Die
Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein
Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte
Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt die Übersetzung."107 Die Spra-
che des Namens überträgt eine stumme Sprache der Dinge in die lauthafte Spra-
che des Menschen. Die benennende Sprache wird von Benjamin als ein Überset-
102 Ein extremes Beispiel ist Johann Jakob Breitinger, der meint, es seien „ungleiche Sprachen nicht
anders zu achten... als so viele verschiedene Sammlungen vollkommen gleichviel geltender
Wörter und Redensarten, welche miteinander können verwechselt werden, und, da sie alleine
in Ansehung ihrer äußerlichen Beschaffenheit des Thones voneinander abweichen, sonst der
Bedeutung nach völlig miteinander übereinstimmen." (J.J. Breitinger: Fortsetzung der Criti-
schen Dichtkunst, nach Rolf Kloepfer: Die Theorie der literarischen Übersetzung. In: Freibur-
ger Schriften zur romanischen Philologie (12 / 67), Hg. Hugo Friedrich, München 1967, S.
45)
103 Benjamin IV, S. 16.
104 Benjamin II, S. 143.
105 Benjamin II, S. 149.
106 Benjamin II, S. 150.
107 Benjamin II, S. 151.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOGIE 85
zungsfall beschrieben: Übersetzung aus einer „Sprache der Dinge", in der die
Dinge „eine mehr oder minder stoffliche Gemeinschaft einander mitteilen"108
und als Elemente eines medialen Zusammenhangs erscheinen. Das bedeutet je-
doch, dass die namensgebende Übersetzung sich - mit den Worten Paul de Mans
— auf das bezieht, „what in the original belongs to language, and not to a meaning
as an extralinguistic correlate susceptible of praphrase and imitation."109
,,[C]ritical philosophy, literary theory, history [...] disarticulate, they undo the
original, they reveal that the original was always already disarticulated."110
„Translation [...] gets drawn into what he [Benjamin] calls the bottomless depth,
something essentially destructive, which is in language itself."1" „The process of
translation [...] is one of change and of motion that has the appearance of life, but
of life as an afterlife, because translation also reveals the death of the original."112
Übersetzung meint nicht mehr einen Rückbezug des Namens auf einen außer-
sprachlichen Gegenstand, sondern einen immanent medialen Prozess zwischen
„Medien verschiedener Dichte". „The translation is the fragment of a fragment, is
breaking the fragment - so the vessel keeps breaking, constantly - and never re-
constitutes it, there was no vessel in the first place, or we have no knowledge of
this vessel, or no awareness, no access to it, so for all intents and purposes there
has never been one."113
Ebenso wie für Benjamin ist für Proust die Übersetzungsarbeit eine Restauration
einer verlorenen Einheit, die selbst der zu übersetzende Originaltext nicht hat.
Darin mag auch der Grund liegen, warum er schließlich mit der Hilfe seiner
Mutter und der Marie Nordlingers zwei Hauptwerke des englischen Kulturphilo-
sophen John Ruskin, „The Bible of Amiens" (La Bible d'Amiens) und „Sesame
and Lilies" (Sesame et les Lys), übersetzte. Proust, der von der Unzulänglichkeit
seiner Englischkenntnisse wußte - „Je ne sais pas un mot d'anglais parle et je ne
lis pas bien l'anglais."114 - zitiert in einem Brief aus dem Jahr 1903 ein Gespräch
mit seinem Freund Humieres. Dieser half ihm bei schwierigen Textpassagen,
kommt aber bei einer Vielzahl von Sätzen Ruskins zu der Erkenntnis, dass sie
auch in der Originalsprache keinen Sinn machen würden. „Pour plus de vingt
phrases, d'Humieres me disait: ,C'est impossible ä traduire, cela n'a aucun sens en
anglais. Si c'etait moi je la sauterais.'"
Statt, wie Humieres vorschlägt, die kryptischen Sätze ganz aus der Überset-
zung herauszulassen, ist Proust im Gegensatz zu seinem Freund von diesen Sätzen
außerordentlich begeistert, zwingen sie doch den Übersetzer in besonderem Maße
dazu, nicht eine „Kopie" des Originals anzustreben, sondern das Original selbst
im Horizont neuer Bedeutungsebenen und Differenzen zu erweitern. ,A force de
patience, meme ä ces phrases-lä j'ai fini par trouver un sens."115
Der neugefundene Sinn ist für Proust eine Erweiterung, eine Erhellung des
Originals, selbst dann, wenn das Original nicht eigendich für dessen Beglaubi-
gung einstehen kann. Wenn - so Proust - seine Übersetzungen der Ruskinschen
Texte Fehler aufweisen, liegen sie statt in den .dunklen' Textpartien im Gegenteil
in den allzu verständlichen Sätzen seiner Arbeit: „[...] s'il reste des fautes dans ma
traduction ce sera dans les parties claires et faciles."116
Die Übersetzung Ruskins versah Proust darüber hinaus mit Kommentaren,
welche Raum geben für die eigenen Reflexionen zukünftiger Leser. „Ainsi j'ai es-
saye de pourvoir le lecteur comme d'une memoire improvisee oü j'ai dispose^ des
Souvenirs des autres livres de Ruskin - sorte de caisse de resonance, oü les paroles
de ,La Bible d'Amiens' pourront prendre quelque retentissement en y eveillant
des echos fraternels."117
Proust sieht die Bestimmung der Übersetzung demnach nicht in erster Linie
darin, Abbild des Originaltextes in Gestalt einer eins zu eins Kopie zu sein. Viel-
mehr soll der Übersetzer in der Beschäftigung mit dem Text, neue Funken aus
der „irrdductible obscurite de la pensee contemplee" herausschlagen. ,,[E]loigner
encore l'original et eteindre l'originalite"118 ist der Wahlspruch seiner Überset-
zertätigkeit, der schließlich auch die Poetologie seiner Recherche prägt. Dort heißt
es: „Le devoir et la täche d'un ecrivain sont ceux d'un traducteur."119 Übersetzung
meint nicht Einschluss des Originals in die Grundfeste einer anderen Sprache,
sondern Erweiterung des Werkes durch neue Bedeutungsebenen ins Unendliche.
Die Semiotik als die Theorie des Gebrauchs konventioneller Zeichen setzt eine
strikte Trennung von Bezeichnendem und Bezeichnetem voraus, die Benjamin
überschreitet, wenn er mit den Worten Levy-Bruhls erklärt: „kein Phänomen, das
nur ein Phänomen, kein Zeichen, das nur ein Zeichen"120 ist. Die Dinge sind
nicht nur im Register des Bezeichneten befangen, sondern auch in dem des Be-
zeichnenden: Bezeichnetes ist selbst bezeichnend, indem es auf anderes verweist.
Und so finden wir auch schon bei Nietzsche folgende Sätze, die Benjamins „mi-
metisches Vermögen" Nietzsches „ästhetischem Verhalten" annähern: „denn zwi-
schen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt,
gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens
ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nach-
stammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls ei-
ner freidichtenden und freierfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf."121
Die Schriften „Die Lehre vom Ähnlichen" und „Über das mimetische Vermö-
gen" verfasste Benjamin 1933 bzw. 1934. Die Magie der Sprache ist nun nicht
mehr wie in Benjamins früher Sprachphilosophie von Gott gestiftete Identität,
sondern die vom Menschen erkannte Ähnlichkeit zwischen Ding, Sprache und
Schrift.
In der „Lehre vom Ähnlichen" bestimmt Benjamin den Menschen als das We-
sen mit der „allerhöchsten Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten"122. Die
Fähigkeit ähnlich zu werden entstammt der ontogenetischen Phase des Men-
schen. „Dieses Vermögen aber hat eine Geschichte, und zwar im phylogeneti-
schen so gut wie im ontogenetischen Sinne. Was letzteres angeht, so ist das Spiel
in vielem seine Schule. Zunächst einmal sind Kinderspiele überall durchzogen
von mimetischen Verhaltungsweisen [...]. Das Kind spielt nicht nur Kaufmann
oder Lehrer sondern auch Windmühle und Eisenbahn."123 Das Kinderspiel wird
von Benjamin angeführt als die Schule nicht nur .Ähnlichkeiten zu sehen", son-
dern den Dingen regelrecht ähnlich zu werden.124 Es ist nicht der Mensch, der
Ähnlichkeiten durch zufällige Vergleiche in die Dinge hineintreibt. Das ,mimeti-
sche Vermögen' ist also nicht eine subjektiv konstituierte Ordnung des Wirkli-
chen, sondern der Natur immer schon inhärent. „Man braucht nur an die Mimi-
kry zu denken" 12 \ d.h. an Angleichungs- und Ähnlichkeitsprozesse in der Tier-
und Pflanzenwelt.
Hat sich die Produktion von Sinn angesichts einer verdinglichten gesellschaft-
lichen Realität auf die Innerlichkeit einer absoluten Subjektivität zurückgezogen,
so ist sie in einer Frühzeit menschlicher Entwicklung eingebunden in ein Sinn-
kontinuum, in dem die Elemente des natürlich kosmischen Zusammenhangs zu
dem Menschen in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen.126 Gerade das Beispiel des
Kinderspiels zeigt, dass Benjamin ähnlich wie Adorno Mimesis als Mimikry und
121 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Ders.: Kritische
Studienausgabe Bd. I, Hg. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München 1988, S. 884.
122 Benjamin II, S. 204.
123 Benjamin II, S. 204f.
124 Schon Aristoteles erwähnt in seiner Poetik das Kinderspiel der Nachahmung, bzw. der Verklei-
dung. Was das Kind in der Verkleidung darstellt, soll nicht entdeckt, sondern als das anerkannt
werden, was es ist: eben dies. Vgl. Aristoteles: Poetik, Hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1991,
Abschnitt 4, insbesondere 1448.
125 Benjamin II, S. 210.
126 Vgl. Ulrich Schwarz: Mimesis und Erfahrung, in: Grundprobleme der großen Philosophen,
Hg.: Josef Speck, Reihe: Philosophie der Gegenwart IV, Göttingen 1984, S. 49.
88 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE
Das Kind, das „nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und
Eisenbahn"12'' spielt, ist für Benjamin noch nicht dem historischen Verfallsprozess
des mimetischen Vermögens unterworfen. Das Kind setzt sich körperlich mit den
Dingen in einer Weise in Beziehung, in der die Unterscheidung zwischen Wahr-
nehmendem und Wahrgenommenem aufgehoben ist. Das Kind bildet die
Windmühle oder die Eisenbahn nicht nach, es bezeichnet sie nicht mit seiner
Körperbewegung, sondern es ist Windmühle oder Eisenbahn. Ahnlich ist der
kultische Tanz nicht Repräsentation, sondern Antwort einer mit Sinn und Spra-
che aufgeladenen Mitwelt. Ahnlich wie Roger Caillois in „Le Mimetisme" identi-
fiziert Benjamin Mimesis als Mimikry, als einen Schematismus bewusstloser
Selbsterhaltung. Mimetische Nachahmung ist keine bloß imitative Wiedergabe.
Im kultischen Tanz handelt es sich in keinem Fall um das bloße Abbild vorausge-
setzter „Gegenstände"130. Vielmehr ist das mimetische Vermögen geprägt durch
zwei Momente, der rezeptiven .Auffassungsgabe" für „magische Korresponden-
zen", wie durch die spontane „Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten"131,
die den äußeren „Stimulantien und Erwecker[n...] Antwort gibt."132 Carlo Ginz-
burg nennt die induktive Kunst des Spurenlesens „den vielleicht ältesten Gestus
in der Geschichte des menschlichen Intellekts."133 Beim Wahrsager, beim Priester
und Arzt handelt es sich um ein induktives Verfahren, das von unscheinbaren
aber offensichtlichen Anzeichen zu bedeutungsvollen aber verborgenen Inhalten
127 Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1991, S. 189.
128 Ebenda, S. 190.
129 Benjamin II, S. 205.
130 Benjamin II, S. 205.
131 Benjamin II, S. 204.
132 Benjamin II, S. 205.
133 Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherungen - über verborgene Geschichte, Kunst und soziales
Gedächtnis, Berlin 1983, S. 72.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE 89
vorstößt. In einem spezifischen Ausschnitt erscheint die Welt als Text, der statt in
Schrift in einer kodierten Gegenständlichkeit vorliegt.134
In seinem Surrealismus-Essay stellt Benjamin gegen eine territorialisierte Welt
einen kollektiven, „hundertprozentigen Bildraum [...] konkreter: Leibraum"135,
einen Leibraum, in dem der Körper des Subjekts seine bestimmten Grenzen ver-
loren hat. Benjamin verweist so auf eine deterritorialisierte Welt. Wenn Benjamin
von einer „mehr oder minder stofflichen Gemeinschaft"136 spricht, in der Dinge
zueinander stehen, die sich „einander mitteilen", scheint er eine transcogitale
Ordnung des Realen zu meinen.13" Gegenüber der abstrahierenden Erkenntnis
will der Erfahrungsbegriff Benjamins unmittelbaren Kontakt mit mimetischem
Verhalten wahren. Es geht ihm um ein „gefühltes Wissen"138.
Was Benjamin nur andeutet im Verweis auf kultische Fähigkeiten der „alten Völ-
ker oder auch der Primitiven"139, hat Arnold Hauser in seiner „Sozialgeschichte
der Kunst und Literatur" im Zusammenhang mit der paläolithischen Kunst aus-
fuhrlich analysiert.140 Hauser thematisiert in seiner Studie die magische Zielset-
zung der Werke auf die unmittelbare Lebensfürsorge. Darauf verweisen sowohl
Pfeil-, Speer- und Wundzeichnungen auf vielen dargestellten Tierkörpern als
auch tatsächliche Wurf- und Einschußstellen auf Malereien und Skulpturen. Mit
dem Beschießen der „an unsere photographischen Momentaufnahmen" erin-
nernden Darstellungen vermeint der ,Wilde' das wirkliche Tier zu treffen: „Für
ihn bedeutet die Welt der Fiktionen und Bilder, die Sphäre der Kunst und der
bloßen Nachahmung noch keinen eigenen, von der Erfahrungswirklichkeit ver-
schiedenen und geschiedenen Bezirk."141 In Hausers Theorie der Magie „mit ih-
rem Axiom von der wechselseitigen Abhängigkeit der Ähnlichen"142 wird der ma-
gische Vorgang als Antizipation des ersehnten Ergebnisses gesehen. Von geform-
ter Ähnlichkeit schließt er auf das Moment naturalistischen Nachbildens in der
Kunst der paläolithischen Menschen. In Korrelation zu den konsumtiven und
undifferenzierten Lebensverhältnissen steht die Ungeschiedenheit seiner Wirk-
lichkeitssicht. Hauser schreibt in Hinsicht auf die paläolithische Malerei: „Der
Dualismus des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Gesehenen und des Ge-
wußten bleibt ihr vollkommen fremd."143 Subjektives und Objektives, Bild und
Abgebildetes werden noch als ineinander erfahren: das Gemalte. Das gemalte Tier
134 Vgl. Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge, in: Hans Ulrich Gumbrecht: Materialität der
Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 240.
135 Benjamin II, S. 309.
136 Benjamin II, S. 147.
137 Vgl. Lang, S. 104.
138 Vgl. Rolf Tiedemann, Einleitung zum Band V, S. 19.
139 Benjamin II, S. 206.
140 Vgl. Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1967.
141 Ebenda, S.S.
142 Ebenda, S. 8.
143 Ebenda, S. 7.
90 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOG1E
stellt nicht dar, symbolisiert nicht, sondern ist, was es ist, in dem es als mit dem
verschränkt erfahren wird, was es nicht ist.
Im Agens des Rituals verschränken sich die Erfahrung des Jägers und der Ent-
wurf der anstehenden Tat. Da der paläolithische Mensch die Trennung von In-
nen und Außen, Wunsch und Wirklichkeit noch nicht vollzogen hat, ist er von
der Wirksamkeit des magischen Aktes ergriffen, ohne zu begreifen. Jede Redukti-
on der Kunstwerke auf eine fixierbare Grundform verfehlt die indifferente Vielfalt
des Phänomens.144
Mit dem Rückgang des mimetischen Vermögens wird die Ähnlichkeit, die ur-
sprüngliche Schrift, die Sprache und Gegenstandswelt miteinander in einem Ta-
bleau verband, immer flüchtiger. Michel Foucault liefert in seinem Hauptwerk:
„Die Ordnung der Dinge" die historischen Details für Benjamins These, in dem
er die jeweils epochal bestehende Homologiebeziehung zwischen Sprachauffas-
sung und Organisation des Wissens aufweist. Foucaults Aufriss der geschichtli-
chen Entwicklung des 16. Jahrhunderts bis zur Moderne liest sich wie die struk-
turalistische Ausfaltung zu Benjamins Rede vom Verlust des mimetischen Ver-
mögens. Das Wissen des 16. Jahrhunderts ist für Foucault eingebettet in eine
Episteme der Ähnlichkeit. Die .Ähnlichkeit bleibt niemals in sich selbst fest, sie
wird nur fixiert, wenn sie auf eine andere Ähnlichkeit verweist, die ihrerseits neue
anspricht, so dass jede Ähnlichkeit nur durch die Akkumulation aller anderen ih-
ren Wert erhält."145 Er erläutert diesen Gedankengang mit folgendem Beispiel:
„Um zu wissen [...], dass die im Mörser zerstampfte Nuß mit Weingeist unsere
Kopfschmerzen heilt, muß man durch ein Zeichen darauf aufmerksam gemacht
werden."146 Dieses Zeichen, dieses Tertium datur, ist für Foucault die Ähnlich-
keit selbst. Die Ähnlichkeit ist dritte Kraft und einzige Gewalt, weil sie auf glei-
che Weise dem Zeichen und dem Inhalt innewohnt. Der Raum der unmittelba-
ren Ähnlichkeiten wird zu einem großen offenen Buch. Es starrt vor Schriftzei-
chen.'47 Gebrauchs- und Tauschwert fallen in jener Epoche zusammen, sind ein-
ander „ähnlich". Das Konkrete - Produkt, Arbeit, Form wird nicht reduziert aufs
Abstrakte wie Wert, Preis und Sinn. Die Kette der Ähnlichkeiten, die den Kos-
mos durchzieht, macht auch vor dem Menschen nicht halt, er ähnelt selbst den
Dingen der Natur. Dadurch konstituiert sich der Mensch unter diesen Bedin-
144 Auf ein ähnliches Phänomen stoßen wir beim „emblematischen Denken" in der Renaissance,
wie es Aleida Assmann interpretiert. Vgl. Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge, in: Hans Ul-
rich Gumbrecht (Hg.): Materialität der Sprache, S. 244: „Die emblematische Dingschrift [der
Renaissance] hat ein reiches D^xikon standardisierter Assoziation hervorgebracht, das sämtliche
Aspekte der Menschenwelt in .natürliche Lettern' ausschrieb."
145 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1991, S. 61.
146 Ebenda, S. 56.
147 Ebenda, S. 57.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE 91
gungen nicht als Subjekt gegenüber einer ihm äußerlichen Natur, sondern als
Glied einer nicht abschließbaren und nicht geschlossenen Kette. Unter diesen
Bedingungen ist für Benjamin Erfahrung vollständig.
Im 16. Jahrhundert ist die Sprache kein willkürliches System. Sie ist in der
Welt niedergelegt und gehört zu ihr, weil die Dinge selbst ihr Rätsel wie eine
Sprache verbergen.148 „Die Sprache gehört zur großen Distribution der Ähnlich-
keiten und Signaturen."14'' Ist die Astrologie die .Wissenschaft' sinnlicher Ähn-
lichkeiten und Ausdruck eines ungebrochenen prä-analytischen Verhältnisses zwi-
schen Welt und Mensch, so ist die Sprache bestimmt durch „unsinnliche Ähn-
lichkeiten." „Es ist somit die unsinnliche Ähnlichkeit, die die Verspannung nicht
zwischen dem Gesprochnen und Gemeinten sondern auch zwischen dem Ge-
schriebnen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochnen und Ge-
schriebnen stiftet. Und jedesmal auf eine völlig neue, originäre, unableitbare Wei-
se."150
Auch wenn Benjamin einen Verfallsprozess des mimetischen Vermögens auf-
weist, so sagt er doch, dass die mimetische Erfahrung nicht an ihre phylogene-
tisch frühen kultisch-fetischistischen Inhalte gebunden ist. Auch der moderne
Mensch besitzt in der Sprache das Medium mimetischen Sich-Verhaltens.151
Benjamin begreift Mimesis als eine menschliche Fähigkeit zur Herstellung von
.Ähnlichkeit des Einen mit dem Andern"152. Das „mimetische Vermögen" ist
aber von .Anweisungen"lJ3, die ihm von außen zugetragen werden, abhängig,
„die [...] zu einem solchen Verhalten objektiv vorhanden sind. Das objektive
Vorhandensein von solchen Anweisungen definiert sogar den wahren Sinn von
Ähnlichkeit."154 Wenn Benjamin vom „Durchspüren von Strukturen"155 spricht,
scheint Grundvoraussetzung der Welt-Belehnung eine gewisse Ordnung zu sein,
die dem Menschen durch die Natur entgegenkommt. Benjamin wehrt sich gegen
den Gedanken, dass „diese Ähnlichkeiten [...] nur durch zufällige Vergleiche un-
sererseits in die Dinge hineingetragen werden."156
Wir wollen im folgenden dieser „Ordnung" mit Hilfe von Edmund Husserls
Analyse der Lebenswelt auf den Grund gehen, denn auch der Phänomenologe
versucht in seinem Werk „Erfahrung und Urteil" einer ursprünglichen Ordnung
der Welt, bzw. - um Derrida zu zitieren - einer „Urschrift" auf den Grund zu
gehen, die den Menschen affiziert. Seine Analyse entfaltet Bedeutungsebenen von
dem, was Benjamin „natürliche Korrespondenzen [...] Stimulantien und Erwek-
ker[n] jenes mimetischen Vermögens"1'' nennt.
Was Edmund Husserl als „Lebenswelt" bezeichnet, ist eine passive Vorgege-
benheit. Diese Passivität sieht der Phänomenologe darin, dass dieser Bereich „oh-
ne jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen
des Interesses immer bereits da ist."158 „Lebenswelt" bezeichnet für Husserl den
Bereich, der uns in einer Weise der Vorbekanntheit vorgegeben und als solcher
vorausgesetzt ist. Wir können uns nur mit Selbstverständlichkeit zu all den uns
umgebenden Dingen und Personen verhalten, weil wir uns in einer Haltung typi-
scher Vertrautheit in einem Horizont typischer Vorbekanntheit bewegen. Das
Feld der „Doxa" ist das Feld habitueller Niederschläge der Erfahrungen des Le-
bensalltags vergangener Generationen und unserer eigenen. Sie ist die Umge-
bung, aus der heraus uns die einzelnen Gegenstände affizieren. Die Lebenswelt ist
das Universalfeld menschlicher Praxis. „Welt", schreibt Husserl in Erfahrung und
Urteil, „ist für uns immer schon eine solche, in der bereits Erkenntnis in der
mannigfaltigsten Weise ihr Werk getan hat."'19 Jedes Individuum wird in eine
„gewordene"160 Lebenswelt hineingeboren, in der wir Gegenstände wahrnehmen,
die uns affizieren. Dabei affiziert der Gegenstand nie als isolierter, einzelner Ge-
genstand. Affizieren ist ein „Sichherausheben aus der Umgebung, die immer da
ist."161 Dass die Umgebung, aus der uns die einzelnen Gegenstände affizieren,
und dass die Welt durch die Struktur der Vorbekanntheit der aus ihr affizieren-
den Dinge bestimmt ist, das macht die „Fundamentalstruktur"162 der Welt aus,
die Voraussetzung zu dem, was Benjamin das „Durchspüren von Strukturen"16*
nennt. Vorbekanntheit meint, dass wir niemals auf einen Gegenstand in völliger
Unbekanntheit treffen. Dies steht in Analogie zu Benjamins Rede von „natürli-
chen Korrespondenzen", wenn er die Natur als einen Bereich unabschließbarer
Ahnlichkeitsverhältnisse beschreibt. „Diese natürlichen Korrespondenzen aber
erhalten die entscheidende Bedeutung erst im Licht der Überlegung, daß sie alle,
grundsätzlich, Stimulantien und Erwecker jenes mimetischen Vermögens sind,
welches im Menschen ihnen Antwort gibt."164 Auch wenn er vom Verlust dieses
Jedes Ding, dem wir begegnen, bringt immer schon ein Moment der Bekanntheit
mit sich. Für Husserl ist demnach das Bewusstsein nicht spontan aktiv, sondern
es wird durch die Vorgegebenheit der Dinge, durch ihr Affiziert-werden zu einem
„aktiven Intendieren"16" erst gedrängt.
Husserl geht davon aus, dass es ein Intendieren von Welt in passiver Weise
gibt.168 Eine affektive Kraft entwickelt sich dann, wenn sich etwas Heterogenes aus
einem Feld des Homogenen abhebt. Das „Ungleiche hebt sich ab vom Boden des
Gemeinsamen. [...] Ähnliches wird durch Ähnliches geweckt und tritt in Kontrast
zu Unähnlichem."169 So ragt ein einzelner Gegenstand aus einem homogenen Feld
heraus und affiziert das Ich. Ein Ton und eine Farbe wird dann z.B. „aufdringlich"
und durch dieses Sichaufdrängen kommt es zu ,,qualitative[r] Diskontinuität"170.
Der Gegenstand drängt sich dem Ich auf, reizt es, tritt ihm gegenüber und wird
schließlich von ihm erfasst.rl Aus der Affizierung kann sich schließlich ein prädi-
katives Erkennen entfalten. Die passive Vorgegebenheit der Lebenswelt ist „ohne
jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des
Interesses immer bereits da"172. Die Welt der Dinge ist also in einem seht vereinfa-
chenden, auf Heidegger bezogenen Sinne „zuhanden". Sie ist immer schon mit
Korrespondenzen überzogen, die - einer Urschrift gleich - den Menschen zum
„Lesen vor aller Sprache"173, zur Entschlüsselung anregen und affizieren. Der
Mensch steht diesen Korrespondenzen nicht autonom gegenüber. Er ist gleichsam
ein Teil von ihnen. Das „Lesen vor aller Sprache"'74 meint, das, „was nie geschrie-
ben wurde"1 \ in den Dingen als zeichenhafte Konstellation lesen.
165 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 373.
166 Ebenda, S. 373.
167 Vgl. Werner Marx: Die Phänomenologie Edmund Husserls, München 1987, S. 107.
168 Vgl. Husserl: Erfahrung und Urteil, § 16.
169 Vgl. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 79.
170 Ebenda, S. 80.
171 Für Proust und Benjamin ist das Kind noch in einem besonderen Maße einer Spontaneität fä-
hig, auf die Appelle der Außenwelt reflexionslos und intuitiv zu antworten. Es ist ja gerade diese
Aufdringlichkeit, die Marcel dazu bringt, seine Eindrücke in der Sprache zu artikulieren.
172 Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 24.
173 Benjamin II, S. 213.
174 Benjamin II, S. 213.
175 Benjamin II, S. 213.
94 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOGIE
Fassen wir zusammen: Das was Husserl mit seiner Phänomenologie und Heideg-
ger - Husserl überbietend - mit seiner Fundamentalontologie als Umkehrung der
abendländischen Philosophie anstreben, artikuliert sich bei Benjamin in seiner
Sprach- und Mimesistheorie. Als .unreiner Begriff im Sinne des rationalen Den-
kens wird das mimetische Vermögen des Menschen von Benjamin zu einer Zeit
wiederentdeckt, in der das Ideal einer klaren Trennung zwischen Logos und Phy-
sis in seiner Ausschließlichkeit für das wissenschaftlich-objektivistische Denken in
Frage gestellt wird. Benjamins Mimesis-Theorie artikuliert eine Neuinterpretati-
on des Gegensatzes von ,guter' und .schlechter' Mimesis, und der damit einher-
gehenden Rede von einer defizitären Verdopplung im Abbild des Seienden, wie
es das Simulacrum ausmacht und von Piaton in der „Politeia" daher des Abfalls
von der Wahrheit bezichtigt wird. Auch wenn Benjamin einen Verfallsprozess des
mimetischen Vermögens aufweist, so sagt er doch, dass die mimetische Erfahrung
nicht an ihre phylogenetisch frühen kultisch-fetischistischen Inhalte gebunden
ist. Auch der moderne Mensch besitzt in der Sprache das Medium mimetischen
Sich-Verhaltens wie Benjamin am Beispiel Marcel Prousts in seinem Text „Zum
Bilde Prousts" aufweist. Auf diesen Text wollen wir nun im folgenden näher ein-
gehen.
Es ist besonders ein Motiv aus Benjamins Aufsatz „Zum Bilde Prousts" (1929),
das in expliziter Korrelation mit seinem Sprachverständnis der Mimesis-Theorie
steht. Es ist das Bild des „Strumpfes" - als ineinandergerollte Hülle und Verhüll-
tes - als „Drittes" ohne ein Erstes176, das Benjamin auf Proust anwendet. In dem
autobiographischen Text „Berliner Kindheit" aus dem Jahr 1938 beschreibt Ben-
jamin erstmals, wie er als Kind in der Verborgenheit des Schrankes mit verschie-
denen Strümpfen spielte; „Nichts ging mir über das Vergnügen, meine Hand so
tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Und nicht nur ihrer wolligen Wär-
me wegen. Es war ,Das Mitgebrachte', das ich immer im eingerollten Innern in
der Hand hielt und das mich derart in die Tiefe zog. [...] Nicht oft genug konnte
ich so die Probe auf jene rätselhafte Wahrheit machen: daß Form und Inhalt,
Hülle und Verhülltes, ,Das Mitgebrachte' und die Tasche eines waren. Eines -
und zwar ein Drittes: jener Strumpf [...]." r7 Carol Jacobs hat diese Passage wie
folgt interpretiert: „As the children play their game the rolled up stocking seems
[...] to promise access to a plenitude behind it; but what seemed to function as a
Container and as a sign for fullness is found to have from the first been a mere
stocking, an empty sign."178 Der Strumpf „eingerollt" ist „Tasche' und ,Mitge-
brachtes' zugleich"179 und damit „Hülle und Verhülltes, Form und Inhalt"180. In
dieser dialektischen Verschränkung von zwei sich ausschließenden Kategorien, ist
er für Benjamin ein drittes, nämlich „Bild". Als ,Mitgebrachtes' zieht die in sich
selbst gefaltete Hülle „in die Tiefe"181. Nur wenn der Vorgang des Entrollens als
ein Enthüllungsvorgang des .Geheimnisses' verstanden wird, steht die Leere am
Ende dieses Vorgangs. Benjamins Ziel ist es aber, diesen Prozess zum eigentlichen
Ereignis einer Verschränkung von Form und Inhalt zu machen. Verstehen wir
das Bild des Entrollens entweder als Prozess der Lektüre oder als Schreibprozess,
so erweist er sich als nicht terminierbare Selbstentfaltung. Der „Strumpf als
,Bild' ist ein leeres Zeichen, aber nicht im Sinne einer Leerstelle gegenüber einer
Fülle, sondern als Zeichen, das nicht mehr auf einen Referenten bezogen werden
kann. Was findet das Kind im Strumpf, den es entwickelt? Den Strumpf sowie
die Erkenntnis, dass Form und Inhalt dasselbe sind.182 Der eingerollte Strumpf ist
„ein Modell des Medialen [...]. Das Medium, der kleine Raum enthält nichts als
sich selbst."183
Im Proust-Aufsatz kehrt das Bild des Strumpfes wieder. Nun wird es Benjamin
zum Wahrzeichen für die Welt des Autors Proust, die sich abgelöst hat vom
Glauben an metaphysische Wesenheiten, die den Schreibprozess als einen Ent-
bergungsprozess der Wahrheit legitimieren. Denn so wie die Hand des Kindes in
den eingerollten Strumpf hinabtaucht auf der Suche nach dem .Mitgebrachten',
so taucht auch der Erzähler der Recherche, Marcel, in die eigene Vergangenheit,
um sie ab- und nachbildend zu entbergen.
Aber so wenig wie die Kinderhand das .Mitgebrachte' herausnehmen kann,
ohne dabei zu erkennen, dass das Zentrum des eingerollten Wollstrumpfes nur
die eingestülpte Außenseite war, so wenig kann Proust umhin, die Berufungsge-
schichte Marcels als einen Auflösungsprozess zu beschreiben. Übrig bleibt eine
Welt nicht reduzierbarer Ähnlichkeiten. Benjamin hat dieses Moment der
Dissemination, der Zerstreuung in der Poetologie der Recherche lange vor der
modernen Proust-Rezeption (de Man, Genette, Warning) erkannt und als Quelle
seiner Sprach- und Mimesistheorie benutzt. „Und wie sie [die Kinder] selbst sich
nicht ersättigen können, dies beides: Tasche und was drin liegt, mit einem Griff
in etwas Drittes zu verwandeln: in den Strumpf, so war Proust unersättlich, die
Attrappe, das Ich, mit einem Griffe zu entleeren [...]."184 Benjamins Ziel ist es,
diesen Prozess zum eigentlichen Ereignis einer Verschränkung von Form und In-
halt zu machen. Er hat im Bild des Strumpfes das Bild für Prousts Erinnerungs-
semantik gefunden.
Der Strumpf ist ,Bild' eines vielversprechenden Inhalts, der sich „aus dem Gefüge
der Proustschen Sätze wie unter Francoisens Händen in Balbec der Sommertag,
alt, unvordenklich, mumienhaft aus den Tüllgardinen"185 löst. „Das Vermögen
der Phantasie ist die Gabe im unendlich Kleinen zu interpolieren, jeder Intensität
[...] ihre neue gedrängte Fülle zu erfinden, kurz jedes Bild zu nehmen, als sei es
das des zusammengelegten Fächers, das erst in der Entfaltung Atem holt und
mit der neuen Breite die Züge des geliebten Menschen in seinem Innern auf-
führt."186
Die Fähigkeit der Phantasie zur Entfaltung einer Oberflächenstruktur wider-
spricht einem hermeneutischen Tiefenmodell. An Stelle von Tiefe meint Bedeu-
tung Einfältung einer Oberfläche, die immer noch eine weitere Falte entfalten
kann.
Prousts Recherche ist Wiederholung einer „Gegenwart", die anders nicht als
nachträglich, als Zitat, figural gegeben ist. Der Schreibprozess ist dabei ein Nach-
Leben dessen, was nie als solches gewesen ist. Was Benjamin über Robert Walser
schreibt, erstreckt seine Bedeutung auch auf Proust. Walser fuge Satz an Satz, um
den jeweils vorhergehenden zu löschen und zu überdecken; um keinen Satz als
einen fixierten, endgültigen stehenzulassen, überschreibe er ihn durch immer
neue, auf der Flucht vor den fixierten Bedeutungen, diese aufschiebend. Sein
Schreiben sei „zerreißende, so ganz unmenschliche, unbeirrbare Oberflächlich-
keit"187 des Textes. „Kaum hat er die Feder zur Hand genommen, bemächtigt
sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm verloren, ein Wortschwall
bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu ma-
chen."'88 Und so gibt Proust am Beispiel von Mlle Vinteuils Rekonstruktion der
hinterlassenen Kompositionen ihres Vaters ein Abbild der eigenen Schreibarbeit
als Dechiffrierung seiner Paperoles. Auch hier wieder erscheint das Motiv zu ent-
ziffernder Schriftschichten, bzw. Hieroglyphen. „Comme dans les illisibles carnets
oü un chimiste de genie, qui ne sait pas la mort si proche, a note des decouvertes
qui resteront peut-etre ä jamais ignorees, l'amie de Mlle Vinteuil avait degage, de
papiers plus illisibles que des papyrus ponctues d'^criture cuneiforme, la formule
eternellement vraie, ä jamais feconde, de cette joie inconnue, l'esperance mystique
de Tange ecarlate du matin."189
[...]." Worauf es ankommt, ist „das Weben seiner Erinnerung. Die Penelopear-
beit des Eingedenkens."195 Benjamin weist den Gedanken einer Aufhebung des
Lebens im Werk zurück, bzw. verweist ihn ins Feld unendlicher Mühsal, die den
Autor aufzehrt.
Was Benjamin in seiner Metapher vom Strumpf als Bild der Proustschen Er-
innerungssemantik zu fassen sucht, führt Jacques Derridas „Dekonstruktion" in
seiner Mimesis-Theorie konsequent zu Ende. Die Terminologie seiner Philoso-
phie, auf die wir oben schon ansatzweise eingegangen sind, bringt zur begriffli-
chen Klarheit, was Benjamin in seiner Proust-Interpretation andachte. Sie soll im
folgenden noch einmal vertieft werden.
Jacques Derrida wendet sich mit seiner vielbeachteten Theorie der „differance"
gegen die Vorstellung, es gebe eine Wahrheit da draußen, die durch unsere Ver-
nunft ergründbar ist und ihr als Einheitshorizont aller Erkenntnis dient.1'"' Dage-
gen behauptet er in der Nachfolge des Mitbegründers der strukturalistischen
Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussures: da wir nur durch Sprache denken,
sind unsere Erkenntnisse von der Wirklichkeit alle schon determiniert durch die
Struktur der Sprache selbst. Das heißt: metaphysische Grundbegriffe wie „Wahr-
heit", „Realität", „Sein" sind für Derrida keine der Sprache vorausgehenden me-
taphysischen Entitäten, sondern nachträgliche Effekte der Sprache. Die Struktur
unserer Sprache bildet die Wirklichkeit also nicht ab, sondern lässt sie auf ihre
Weise uns als Effekt entgegentreten. Auf diese Weise erfährt auch das Subjekt,
die große Errungenschaft der Neuzeit, eine Dezentralisierung. Es ist nicht mehr
Herr über sein eigenes Denken, sondern immer auch schon in einem Abhängig-
keitsverhältnis zur Sprache. Da Sprache etwas ist, woraus meine Gedanken beste-
hen, und nicht so sehr ein bequemes Instrument, das ich benutze, muss auch der
Gedanke, dass ich eine mir präsente stabile Entität und Einheit bin, ein Kon-
strukt der Selbsttäuschung sein. Das bedeutet nicht nur, dass ich einem anderen
gegenüber nie völlig gegenwärtig bin, es heißt auch, dass ich mir selbst nie in
meinem Denken und Sprechen gegenwärtig sein kann.
Ein kurzer Blick auf die Semiologie Saussures zeigt uns das zeichentheoretische
Fundament von dem aus Derrida argumentiert. Saussure wandte sich in seinen
Vorlesungen aus den Jahren 1907 - 1911 zu den „Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft" gegen die Vorstellung, dass es zuerst Wörter gibt, die dann
nachträglich auf einen Gegenstand wie Etikette aufgedrückt werden, um diese als
Dinge zu definieren.14" Ein derartiges Modell basiert auf der fragwürdigen An-
nahme, dass schon vor der Sprache fertige Vorstellungen existieren. Entgegen die-
ser Vorstellung hat Saussure schließlich Lautbild und Vorstellung, Signifikant
und Signifikat mit den beiden Seiten eines Blattes verglichen.198 Beide Seiten -
die zwei verschiedene Momente des selben Zeichens sind — werden erst durch
den Akt der Artikulation konstituiert. Dies hat zur Folge, dass es für Saussure
kein Signifikat vor oder nach der sprachlichen Bezeichnung, sondern eben nur in
der Artikulation selbst gibt. So wie für Saussure ein Zeichen allein durch seine
Relation zu anderen Zeichen bestimmt wird19'', erklärt Derrida in seiner Schrift
„La Pharmacie de Piaton" die Präsenz als nur dadurch positiv bestimmt, was an-
dere Positivitäten im Vergleich mit ihr nicht sind. Insofern erweist sich auch der
Begriff der Präsenz als eine nicht vom Spiel der Differenzen losgelöste Einheit,
die allein bestimmt wird durch ein immer schon bestehendes Verhältnis zu ande-
ren Sequenzen. „Der Sinn muß warten, bis er benannt oder beschrieben wird, um
sich selbst bewohnen zu können [...]. Der Sinn ist weder vor noch nach dem
Akt"200 der sprachlichen Artikulation. Ausführlicher heißt es in „Die differan-
ce"201: „so bezeichnen wir mit differance jene Bewegung, durch die sich die Spra-
che oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen .historisch' als
Gewebe von Differenzen konstituiert."202 Dabei gibt es nicht nur kein transzen-
dentales Signifikat jenseits sprachlicher Strukturen, sondern auch der in der Spra-
che eingegrenzte Sinn erscheint nicht als Selbstpräsenz, sondern als im Wechsel-
spiel der Differenzen bestehender Effekt. Dieser entsteht aus einer Kombination
von Abwesenheiten. Bedeutung „bildet sich demnach nur in der [...] Diskonti-
nuität oder der Diskretion, der Aufschiebung und Zurück(be)haltung dessen, was
nicht in Erscheinung tritt."203
197 Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S.
17.
198 Ebenda, S. 134.
199 Die Bedeutung eines Wortes ergibt sich für Saussure immer in Bezug auf und in Abgrenzung
zu anderen Wörtern. Ein banales Beispiel soll das verdeutlichen: Wenn wir die Bedeutung eines
Wortes erfahren wollen, was tun wir dann? Wir schauen in den Duden. Die Erklärungen, die
sich dort hinter einem Wort befinden, sind wiederum mit Worten abgefasst, die wir erneut
nachschlagen können. Wo soll man hier aufhören? Es hat den Anschein, als könne dieser Pro-
zess der Unterscheidung innerhalb einer Sprache in einem unendlichen Kreis weiter verfolgt
werden. Das Beispiel verdeutlicht ein fundamentales Motiv in Derridas Philosophie: Bedeutung
ist nicht in einer grundlegenden Weise fixiert. Sie ergibt sich nur aus dem potentiell unendli-
chen Gewebe von Unterscheidungen im Regelnetz der Sprache.
200 Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 22f.
201 in: Derrida: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29-53.
202 Derrida: Die difftrance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 38.
203 Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 121.
100 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOGIE
Bedeutung ist für Derrida nicht in einer grundlegenden Weise fixiert. Eine posi-
tive Qualität für den Laut ist auch für Saussure nicht auszumachen. „Die Sprache
enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System
präexistent wären, sondern nur begriffliche oder lautliche Verschiedenheiten, die
sich aus dem System ergeben."204 Saussures Angriff auf eine positiv substantielle
Bedeutung geht Derrida jedoch nicht weit genug. Schon die Unterscheidung zwi-
schen Zeichen und Bedeutung ist ihm zu viel Konzession an eine sprachunab-
hängige Bedeutung, bzw. ein „transzendentales Signifikat". Daher versucht er die
Schraube noch weiter anzuziehen, in dem er die Bedeutung in das Spiel der Dif-
ferenzen selbst einzubinden, d.h. die Strukturalität der Struktur zu denken ver-
sucht. Jeder Versuch, sich der Bedeutung unmittelbar und positiv zu vergewis-
sern, sei weiterhin Teil einer abendländischen Metaphysik', die es zu überwinden
gelte.21»
Aus alldem folgt für Derrida, dass die Sprache ein sehr viel weniger stabiles
Gebilde ist, als der klassische Strukturalismus gedacht hatte. Anstatt eine wohlde-
finierte, klar abgrenzbare Struktur mit klar zuordbaren Signifikanten und Signifi-
katen darzustellen, beginnt die Sprache nun mehr und mehr wie ein grenzenloses
Netz, ein Gewebe auszusehen, das bestimmt wird durch eine ständige Fluktuati-
on. Dieses Netz aber hat kein Zentrum, in dem sich die Wahrheit kristallisiert,
oder von dem aus sich abstrahierend die Sprache abhebt. Es besteht nur aus Dif-
ferenzen, nicht aber aus irgendeiner Form metaphysischer Entitäten, nennt man
sie Substanz, Sein, das Eine, Gott oder Wahrheit. Infolgedessen muss man sich
nach Derrida eingestehen, „dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in
der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen
Ort besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von
Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt."206 Der
Verlust einer Matrixform der Wahrheit „erweitert das Feld und das Spiel des Be-
zeichnen ins Unendliche."207 „In einer Sprache, im System der Sprache, gibt es
nur Differenzen."208
Von Piaton über Rousseau bis hin zu Saussure und Levi-Strauss wurde die Schrift
als eine leblose, entfremdete Ausdrucksform verunglimpft und dem gesprochenen
Wort als schlechte Kopie gegenübergestellt. Die Schrift erscheint in dieser Ab-
wertung nur als ein Instrument der sich präsent gebärdenden Stimme zu sein, die
immer bei sich ist, während die Schrift materiell erscheint, mit Äußerlichkeit be-
haftet.
Was diese Abwertung der Schrift indes übersieht, ist - so Derrida - die Tatsa-
che, dass die lebendige Stimme, das gesprochene Wort ebenso materiell ist wie
das gedruckte. Gesprochene Zeichen können ebenso wie geschriebene nur dann
funktionieren', d.h. erkannt werden, wenn sie immer selbst schon Teil eines vor-
ausgehenden Zeichensystems sind. Diese Erkenntnis veranlasst Derrida dazu, die
Hierarchie von Wort und Schrift als einer Hierarchie von Präsenz und Abbild
umzukehren. Er sagt: die Sprache ist selbst eine Form der Schrift. Das heißt
nichts anderes als das oben erwähnte: das gesprochene Wort ist nie bei sich, son-
dern auch immer eine Form der Kopie. Nur wenn ein Wort (egal ob gesprochen
oder geschrieben) wiederholbar, kopierbar, zitierbar ist, können wir es verstehen,
verlieren, weil im permanent meandernden Geflecht der Differenzen auch keine Differenzen
mehr erkennbar wären, die eine Differenztheorie artikulieren könnten. Eine Sprache, die unun-
terbrochen kollabiert, kann nicht mehr das Grundgerüst einer „Iterabilität", eines Codes sein.
102 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE
weil die Zitathaftigkeit eine Bedingung der Sprache ist. Demgegenüber hat sich
nach der Interpretation Derridas die abendländische Philosophie immer nach
dem Zeichen gesehnt, das allen ihre Bedeutung gibt — dem transzendentalen Si-
gnifikanten — als Fundament aller Bedeutungen. Gegenüber der Hierarchie zwi-
schen Wort und Zeichen sagt Derrida: Wort und Zeichen sind gleichursprüng-
lich.
Von diesem Grundgedanken ausgehend, löst Derrida die für Piatons Philosophie
und seine Mimesis-Theorie bedeutsame ontologische Hierarchie zwischen der
reinen, gleichbleibenden Wahrheit, dem gesprochenen Wort und schließlich der
Schrift als schlechte Kopie' auf. Die Schrift ist in dieser Perspektive keine parasi-
täre Ableitung, keine defizitäre, ,tote' Kopie gegenüber einer lebendigen' Sprache
(Logos), sondern es gilt vielmehr, dass Sprache (Logos) essentiell Schrift (Kopie)
ist. Sprache beruht auf einem System differentieller Relationen von sprachlichen
Zeichen, welche immer nur Absenzen produzieren und niemals zur ursprüngli-
chen Präsenz zurückführen.209
Wenn jeglicher Ursprung zum Ursprung erst durch dasjenige wird, was auf
ihn folgt, so erweist es sich als problematisch, dieses Nachfolgende (z.B. die
Schrift) als Veränderung, Verschiebung, Verkehrung oder Umkehr eines ur-
sprünglichen Sinns aufzufassen. Viel wahrscheinlicher wäre demnach die Hypo-
these, dass es einen ursprünglichen Sinn gar nicht gegeben hat, sondern dass die-
ser einen nachträglichen Effekt darstellt. Derridas Rede von der .Urschrift' meint,
dass jeder Bedeutung immer schon eine ,Schriftlichkeit' eingeschrieben ist, die
sich aus einem Spiel nicht endender Differenz herleitet. Die Rede ist für Derrida
selbst schon bereits eine Form der Schrift. Das heißt aber auch: Bedeutung ist nie
rein im Sinne von original und ursprünglich. Jeder Sinn, jede Bedeutung wird
durch das Differenz-Prinzip zu einer wesentlich durch das Spiel von Abwesen-
heiten geprägten Anwesenheit.210 „Das Supplement ist ein unwesentlicher Zusatz,
der zu etwas hinzugefugt wird, was schon in sich vollständig ist; aber das Sup-
plement wird hinzugefügt, um zu vervollständigen, um in dem, was eigentlich als
in sich vollständig galt, einen Mangel zu kompensieren."2" Das Zeichen kann der
Wahrheit nur hinzugefügt werden, wenn diese sich selbst nicht genügt, wenn sie
keine Fülle ist, wenn in der Wahrheit bereits ein Mangel vorhanden ist, der es
dem Zeichen erst ermöglicht, diese zu supplementieren. Wahrheit kommt immer
nur zum Vorschein, indem es von einer Spur, einem Supplement seine Bedeu-
209 Vgl.: Derrida erläutert dies in seiner Auseinandersetzung mit dem SupplementbegrifF bei
Rousseau, den der französische Philosoph im Zusammenhang seiner Reflexionen über die Spra-
che prägt. (Derrida: Grammatologie, S. 244-283)
210 Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 17.
211 Jonathan Culler: Dekonstruktion, Reinbeck 1988, S. 114.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE 103
Der Mime
Piatons Zwei-Welten-Lehre stellt die Welt der Erscheinungen (die Welt des
Werdens und Vergehens) hierarchisch unter seinen Ideenhimmel, als den Bereich
gleichbleibender Entitäten. Diese Spaltung der Welt veranlasst den griechischen
Philosophen in seinem Hauptwerk „Politeia" schließlich dazu, nur noch diejeni-
gen Künstler in seinem Staat zu dulden, die dem Spiel von Zweideutigkeiten ent-
sagen und stattdessen in ihren Werken den Glauben an die Götter als Stellver-
treter der einen, gleichbleibenden Wahrheit unterstützen. Während die mytholo-
gischen Erzählungen damit rechnen dürfen, weiterhin in Piatons Staat geduldet
zu werden, muss dagegen die Mimesis der Tragödie verbannt werden, da ihr Ma-
kel in der tragischen Form selbst verankert ist. Während der Mythos die Größe
göttlicher Macht und Schönheit darstellen kann, regt die Tragödie als Affekt
produzierende Kunst zur Verzweiflung und Klage an. Aristoteles sieht darin einen
befreienden, das Publikum reinigenden Affekt (Katharsis)212, Piaton die Gefahr
einer Destabilisierung der Identität. So dürften nach seiner Meinung die Schrek-
ken der Unterwelt nicht ausgemalt werden.213 Besonders gefährlich aber ist Pia-
ton die Mimesis der Schauspieler. Und so fragt Sokrates seinen Gesprächspartner:
„Oder hast du nicht bemerkt, dass die Nachahmungen, wenn man es von Jugend
an stark damit treibt, in Gewöhnungen und in Natur übergehen, es betreffe nun
den Leib oder die Töne oder das Gemüt?"214 Schon hier taucht die entscheidende
Opposition zwischen Identität und Identitätsvermischung auf. Statt den Bereich
des Göttlichen als Identität der Identität mit sich selbst zu erkennen, durchmischt
Homer in der griechischen Götterwelt Gutes und Schlechtes, als wäre sie ein
zweideutiger Bereich der Widersprüche. Die Zweideutigkeit des Göttlichen an-
zunehmen hieße aber, der Zweideutigkeit des Denkens und der Moral den Weg
zu bereiten.215 In der identifizierenden Darstellung im Drama einer Person durch
eine andere meldet sich für Piaton eine sehr gefährliche mimetische Fähigkeit des
Menschen zu Wort. Während sie für Benjamin ein positives Vermögen ist, wie
wir bei seiner Interpretation der Erfahrungsstrukturen des Kindes gesehen haben,
so sieht Piaton darin die Gefahr eines Ausbruchs der Seele aus dem Korsett des
Ichs. Piaton befürchtet im mimetischen Schauspiel die Infragestellung der Sich-
212 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kapitel 6, Hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982.
213 Piaton: Politeia 386c.
214 Piaton: Politeia 392c-ff.
215 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos - Die Konstitution des Subjekts im Diskurs
der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S 151.
104 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOG1E
selbstgleichheit der Ratio, als könnte sich das Subjekt in seiner Rolle verlieren.,2"'
Diese Zersetzung des „Ichs" im mimetischen Schauspiel ist als feindliches Spiel
gegenüber dem Logos die große Gefahr für den Staat. Besonders deudich wird
dies im Dialog Ion. 2 r
Es ist interessant, dass Piaton zu annähernd demselben Urteil über das mimeti-
sche Vermögen und die magische Kraft der Worte wie Benjamin in seinen auto-
biographischen Schriften zur Kindheit kommt, sie aber im Gegensatz zu ihm ge-
rade deswegen aus dem Staat ausschließen möchte. Der Magie theatralischer Re-
de und Gestik stellt Piaton entschlossen den Logos entgegen. So wie die Schrift
von Sokrates mit einem gemalten Bild verglichen218 und somit als defizitär ge-
genüber dem gesprochen Wort betrachtet wird und wie das Portrait den „Schein"
von Leben erweckt, so wird das künstlerische Abbild als „ganz weit entfernt"214
von der Wahrheit kritisiert. Für Piaton erweist sich Mimesis als schlechtes Spiel
gegenüber dem Ernst des Logos.
216 Hermann Koller interpretiert in seinem Buch „Mimesis in der Antike" Piatons Mimesis-Begriff
als Verengung eines vorsokratischen Mimesis-Konzepts, das seinerseits „von der Mimesis des
griechischen Tanzes ausgeht" in Gestalt der Musiklehre Dämons und Poseidonios und den
Dionysos-Kulten. (Vgl. Hermann Koller: Mimesis in der Antike, Bern 1954, S. 108) Koller
findet in diesen Kulten eine Alternative zur platonisch-aristotelischen Mimesistradition. Mime-
sis hat, so Koller, „ursprünglich nicht das geringste mit Naturwahrheit, Realismus und Ähnli-
chem zu tun gehabt [...], man wäre fast versucht zu sagen, das Gegenteil sei der Fall. Die ur-
sprüngliche Verbindung mit Tanz, und zwar in erster Linie mit Gruppentanz, verbietet von
vornherein jeden Realismus." (Ebenda, S. 45) Die Differenz zwischen Täuschung und Wahr-
heit ist diesem Mimesis-Konzept noch nicht inhärent. In seinem Buch „Spiel als Weltsymbol"
bemängelt Eugen Fink an Koller, er gehe in seiner Platon-Kritik noch nicht weit genug. Er be-
stimmt seinerseits einen Spielbegriff, der frei ist von jeder imitativen Beziehung an eine meta-
physische Instanz: „Im Spiel des Menschen scheint das Weltganze in sich selbst zurück, lässt an
und in einem Innerweltlichen, an und in einem Endlichen Züge der Unendlichkeit aufschim-
mern. Das Spiel ist ein existentieller Vollzug. [...] Das Spiel ist ein Weltbezug des menschlichen
Daseins." (Vgl. Eugen Fink: Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960, S. 230)
217 Sokrates: „Sage mir dies, Ion, und verheimliche es mir nicht, was ich dich fragen will. Wenn du
die Verse schön vorträgst und deine Zuschauer am meisten hinreißt, es sei nun, dass du den
Odysseus singst, wie er auf die Schwelle springt, sich den Freiern offenbart und sich die Pfeile
ausgießt vor die Füße, oder den Achilleus, wie er gegen den Hektor dringt [...] bist du dann bei
völligem Bewusstsein, oder gerätst du außer dich und glaubt deine begeisterte Seele, bei den
Gegenständen [sie] zu sein, von welchen du sprichst, sie mögen nun in Ithaka sein oder in
Troja oder wo sonst das Gedicht sich aufhält? Ion: Welch deutlichen Beweis hast du mir da
aufgestellt, Sokrates! Denn ich will dir nichts davon verheimlichen. Wenn ich nämlich etwas
Klägliches vortrage: so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und
Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht.{...} - Und weißt
du wohl, dass ihr auch unter den Zuschauern gar viele ebendahin bringt? - Gar sehr weiß ich
das." (Piaton: Ion, 535b. Hervorhebungen D.F.)
218 Piaton: Phaidros 275 d.
219 Piaton: Politeia 605c.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE 105
Das Benjaminsche Bild des Strumpfes als Verschränkung von Innen und Außen,
das er auf Prousts Poetologie anwendet, gleicht dem Begriff der „Fältung" bei
Jacques Derrida wie er ihn in „La double Seance" in Anlehnung an die oben er-
wähnte Interpretation Mallarmes entwirft. Die Fältung in sich ist eine Struktur
der Selbstbeziehung, eine Fältung ,in sich selbst'2'5, „die Falte des [...] Textes auf
sich"226. ,Falte' meint aber nicht, dass sich in ihm ein erstes ,Selbst' in einer rein
akzidentell hinzugefügten Falte identisch und transparent durchhält. Vielmehr ist
die Fältung mit dem, was sie einfaltet, identisch. Jedes Sein, jedes Selbst ist irre-
duzibel in der Position eines ihm hinzugefugten Signifikanten, eine Verdopplung
ohne einfachen Grund, eine Kopie ohne Original, eine „double seance". Im
Raum einer derartigen Verdopplung oder Spiegelung wird, „die einfache Oppo-
sition von Aktivität und Passivität wie die des Hervorbringens und des Hervorge-
brachten oder noch die aller Partizipien Präsens und aller Partizipien Perfekt [...]
unpraktizierbar [...]."227 Mit dem Begriffspaar „Fältung" und „Strumpf kommen
Derrida und Benjamin zu einer Neubestimmung von Reflexion und Spiegelung
in ihrer Mimesistheorie. „In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ur-
sprungspunkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses
Aufeinander-Verweisen - aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ur-
sprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sieh selbst, es wird ihm nicht nur
sein Bild hinzugefügt. Der Reflex, das Bild, das Doppel zweiteilen, was sie ver-
doppeln. Der Ursprung [...] der Spekulation wird eine Differenz. Was sich be-
trachten lässt, ist nicht Eins [...]"228, bzw. ist nicht auf Eins reduzierbar. Eine Er-
kenntnis, die Proust auf mehr als drei Tausend Seiten am Beispiel der Berufungs-
geschichte Marcels zum Schriftsteller in Szene setzt. Da Sprache etwas ist, woraus
unsere Gedanken bestehen, und nicht so sehr ein bequemes Instrument, stellt
Proust im Bild seines Erzählers den Gedanken in Frage, dass das Ich eine sich
präsente stabile Entität und Einheit ist, die sich im Abbild der zu ergründenden
Vergangenheit findet. Das Subjekt bei Proust ist nicht mehr Herr über sein eige-
nes Denken, seine eigene Erinnerung, sondern immer auch schon in einem Ab-
hängigkeitsverhältnis zur Sprache, deren Differenzstrukturen auch das Ich nicht
unberührt lassen.22'' In der Hoffnung, sich im Abbild des Romans zu finden, ver-
liert sich das erzählende Ich im „Nil der Sprache"2'0, in der ewigen „Restaurati-
on" 2 " eines angeblichen ursprünglichen Glücks, das immer schon verloren ist.
Benjamins Interpretation von Prousts Poetik verdeutlicht ebenso wie seine Trak-
tate aus dem Jahr 1933, dass wir Mimesis um eine entscheidende Dimension re-
duzierten, würden wir sie allein mit Begriffen wie Repräsentation und Abbildung
definieren. Nachahmung ist, wie Wolfgang Iser sagt, ein zweistelliger Begriff,
„der den engen Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Nachahmung
[das Vorgegebene] und des jeweiligen Diskurs über diesen Gegenstand bezeich-
225 Vgl. Derrida: Die zweifache Seance, in: Ders.: Dissemination, Wien 1995, S. 290.
226 Ebenda, S. 290.
227 Ebenda, S. 250.
228 Derrida: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1983, S. 65.
229 Siehe dazu Kapitel IV dieser Arbeit.
230 Benjamin II, S. 310.
231 Benjamin II, S. 311.
BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEOR1E UND PROUSTS POETOLOGIE 107
232 Wolfgang Iser: Mimesis und Emergenz, in: Andreas Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation,
Freiburg im Breisgau 1998, S. 669.
233 ,,[D]as Verschwinden der ursprünglichen Anwesenheit", schreibt Derrida, „ist zugleich die Be-
dingung der Möglichkeit und die Bedingung der Unmöglichkeit der Wahrheit". (Derrida:
Piatons Pharmazie, in: Ders.: Dissemination, S. 187) Die Unmöglichkeit, zwischen Pharmakon
als Heilmittel sowie Gift zu unterscheiden, beruht gerade darauf, dass das „Pharmakon das Selbe
genau deshalb" ist „weil es keine Identität hat." (Ebenda, S. 188) Wir müssen also „die Präsenz
nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins, sondern als eine .Bestimmung' und als .Ef-
fekt'" denken. (Derrida: Die DifTerance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S.
42)
234 Derrida: Dissemination, S. 356.
235 Derrida: Die zweifache Söance, in: Ders.: Dissemination, S. 216.
236 Ebenda, S. 397.
237 Vgl. Lacoue-Labarthe: Typography - Mimesis, Philosophy, Politics, S. 259.
108 BENJAMINS SPRACH- UND MIMESISTHEORIE UND PROUSTS POETOLOGIE
Benjamins Traktate „Lehre vom Ähnlichen" und „Über das mimetische Vermö-
gen" entstanden 1933, vier Jahre nach seinem Proust-Aufsatz (1929) und neun
Jahre nach dem Beginn seiner Übersetzungsarbeit der Recherche (1925).
Wenn also für Benjamin im Gegensatz zu seiner frühen Theorie der
Sprachmagie schließlich die semiologische Seite der Sprache im Mittelpunkt sei-
ner beiden Traktate zur Mimesis steht**, so ist anzunehmen dass Prousts Erinne-
rungssemantik eine von mehreren Quellen für seine eigene Theorie war.240 Ben-
jamin selbst legt uns diese These nahe, wenn er in seinem Proust-Aufsatz, lange
vor der modernen Proust Rezeption (Warning, Genette, de Man) die Erinne-
rungssemantik als „Penelopearbeit des Eingedenkens", als unabschließbaren Zu-
sammenhang beschreibt. Die besondere Medialität der Proustschen Sprache wird
im Bild des Gewebes, der Textur festgehalten, die keinen Abschluss mehr kennt.
Es scheint, als würde Benjamin die mystische Seite der Sprache offenkundig zu-
gunsten einer dem Strukturalismus verbundenen Theorie der Semiologie eintau-
schen. .Alles Mimetische der Sprache ist [...] eine fundierte Intention, die über-
haupt nur an [...] dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus
in Erscheinung treten kann."241
Benjamin erkennt in Prousts Schreibstil einen Prozess sprachlicher Zerstreu-
ung, insofern die Recherche die Unmöglichkeit eines abschließenden Erkennt-
nisprozesses thematisiert. Die Kraft der Proustschen Sprache liegt dort, wo Ben-
jamin das „mimetische Vermögen" in der Sprache aufgehoben sieht: in ihrer be-
sonderen Medialität, die Benjamin ähnlich wie der Strukturalismus242 gegen die
Prousts Stil
Prousts Erzähler Marcel reflektiert über den Schreibstil Bergottes1, die Komposi-
tionen Vinteuils2, den Sprachstil von Oriane* und den Malstil von Elstir4. Was
Proust im Rahmen seiner literarkritischen Essays am Beispiel Flauberts darlegt,
gilt somit auch für seine eigene ,ecriture': der Stil ist nicht Technik, er vermittelt
nicht nur Inhalte, sondern transportiert eine ,vision du monde'. Auch wenn die
Schreibstile von Proust und Flaubert sehr differieren, prägt sie dennoch eine -
wie bei Benjamin - ähnliche Anschauung der Sprache als Medium, das jenseits
der verbalen Fracht Inhalte in der Sprachbewegung transportiert, eine Anschau-
ung, die einen unmittelbaren und dennoch nicht analytisch fixierbaren Zugriff
auf die Welt ermöglicht und die Subjekt-Objekt-Dualität als Zielhorizont über-
winden kann. Wie für Benjamin ist auch für Proust in der Mächtigkeit der Welt
ein Graphismus mit den Dingen vermischt. Er verläuft unter ihnen. Diese be-
drängenden Markierungen verlangen einen Schreibstil. Das Wesen der Sprache
geht für Benjamin und Proust dem, was man in ihr lesen kann, und den Wörtern
voraus, mit denen man sie wiederklingen lässt. Sprache verlangt nach Deutung
und verlagert die Erkenntnis des Wahren in den Deutungsvollzug selbst. Gegen-
über sich selbst befindet sich die Sprache somit für beide Autoren in einer Positi-
on ständigen Kommentars, den der Stil zur Darstellung bringen kann. Flaubert:
„II n'y a pas de Vrai! II n'y a que des manieres de voir.'"" Sechs Jahre später spricht
Nietzsche in der Vorrede zu „Jenseits von Gut und Böse" (1886) ähnlich radikal
vom Perspektivischen als der Grundbedingung alles Lebens'. Oberstes Ziel für
Flaubert ist ein Stil freischwebend gegenüber der ,verbal-instrumentellen' Fracht,
losgelöst von der individuellen Sichtweise des Autors, der sich quasi zu einer in-
neren Schau emporläutert, die sich auf eine „reine Sprache" ausrichtet. „Ce qui
me semble beau, ce que je voudrais faire, c'est un livre sur rien, un livre sans atta-
che exterieur, qui se tiendrait de lui-meme par la force interne de son style [...] un
livre qui n'aurait presque pas de sujet ou du moins oü le sujet serait presque invi-
sible [...]."* Das, was Flaubert mit der .Entselbstung" des Autors und der ,Entper-
1 Proust I, S. 540-544.
2 Proust I, S. 208, 520; III, S.754.
3 Proust II, S. 502, 505.
4 Proust II, S. 191 f.
5 Gustave Flaubert in einem Brief an L. Hennique, 2. Februar 1880, in: Flaubert: PreTace ä la vie
d'&rivain, Paris 1963, S. 290.
6 Ebenda S. 62.
7 Vgl. Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans, Frankfurt a.M. 1980, S. 105.
1 1 2 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
In der Vorrede zum Trauerspielbuch bestimmt Benjamin den Traktat mit den
Worten „Darstellung als Umweg — das ist denn der methodische Charakter des
Traktats. [...] Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich
geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste
Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinn-
stufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie
den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer
intermittierenden Rhythmik."10 Benjamins Ideal eines „retardierenden Stils""
definiert „Darstellung" als unendlichen Aufschub in der Verklammerung von
Wahrheit und Verhüllung und „wahre Deutung" als „Überwindung des Sin-
nes."12
In der Kunst des Aufschubs sah er den Kern von Prousts Schreibstil als Dar-
stellung im „Umweg", denn „Proust wählte nie den kürzesten Weg, immer den
längsten"13. Sein Stil tritt dem Leser als „retardierender"14 entgegen durch ein
„System von Parenthesen"1S. Ein Schreibstil des Umwegs, der sich in sich selbst
verliert, verliert schließlich den Charakter des Umwegs, weil es die Abkürzung
nicht gibt. Das ständige Hinzufügen von „Sinnstufen" zeigt, dass der Umweg
zum Ziel wird. ,,[D]as Vermögen der Phantasie ist die Gabe, im unendlich Klei-
nen zu interpolieren, jeder Intensität [...] ihre neue gedrängte Fülle zu erfinden,
kurz jedes Bild zu nehmen, als sei es das des zusammengelegten Fächers, das erst
8 Ebenda. S. 107.
9 Benjamin II, S. 314.
10 Benjamin I, S. 208.
11 Benjamin I, S. 926.
12 Benjamin II, S. 618.
13 Benjamin II, S. 316.
14 Benjamin II, S. 1053
15 Benjamin II, S. 316.
MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 1 3
in der Entfaltung Atem holt und mit der neuen Breite die Züge des geliebten
Menschen in seinem Innern aufführt."16
Der Sieg Marcels darüber, dass am Anfang des Romans die Mutter mit ihm
die Nacht im Zimmer verbringt, erscheint als ein Sieg, aber das Glück, das er ver-
spricht, kann er nicht verschaffen. Der Verlust erweist sich als Verlust dessen, was
man nie gehabt hat und nie haben wird. Die Darstellung stellt das Gedeutete in
ihrer Konstellation erst her, sie vollzieht sich in ,,sprunghafte[n] Beziehung-
en] " n , im umständlichen Rückgang aufs „Disparate"18, wobei wiederum neue
Korrespondenzen „von diesen [...] nach geraumer Zeit seidiche ab [zweigen]"19.
„Methode ist Umweg"20, schreibt Benjamin.
Fünf berühmte Szenen der Recherche — die Matinee Villeparisis, das Diner
Guermantes, die Soiree bei der Prinzessin, die Soiree in La Raspeliere, die Mati-
nee Guermantes - , die für sich etwa 600 Seiten ausfüllen, scheinen fast völlig frei
von allem deskriptiven oder diskursivem Beiwerk. Gegenüber einer früheren Tra-
dition, die aus der Szene einen Ort dramatischer Konzentration macht, wird sie
mit den Worten J. P. Houstons zum „zeitlichen Fokus"21 für alle möglichen In-
formationen und Zusätze. Die Szenen sind überfüllt mit Abschweifungen, Retro-
spektiven, Parenthesen und Exkursen des Erzählers, die „das gesellschaftliche Er-
eignis, das sozusagen als Vorwand dient, in Form einer Syllepse mit einem ganzen
Hof von sonstigen Ereignissen und Betrachtungen umgeben, die imstande sind,
ihm einen hohen paradigmatischen Wert zu verleihen."22 Überwiegen in den er-
sten vier oben erwähnten Szenen die narrativen Elemente, so kehrt sich dieses
Verhältnis in der Matinee Guermantes um. Dort tauchen narrative Elemente nur
noch ab und zu auf zwischen deskriptiv-diskursiven Textpassagen, als würden
sich die szenische Zeitlichkeit und die narrativen Elemente der Erzählung zugun-
sten von Arabesken auflösen.2' Im folgenden Zitat artikuliert Proust seine Ver-
zichtserklärung auf die Erkennbarkeit des Autors: „Mais pour en revenir ä moi-
meme, je pensais plus modestement ä mon livre, et ce serait meme inexact que de
dire en pensant ä ceux qui le liraient, ä mes lecteurs. Car ils ne seraient pas, selon
moi, mes lecteurs, mais les propres lecteurs d'eux-memes, mon livre n'etant
qu'une sorte de ces verres grossissants [...] gräce auquel je leur fournirais le moyen
de lire en eux-memes."24
Ins Unendliche wiederholt sie sich selbst und ins Unabsehbare verkleinert sie den
Kreis, den sie umschließt."M Gleich wesentlich sind diese beiden Seiten der Re-
flexion: die spielhafte Reduzierung des Wirklichen wie die Einführung einer re-
flexiven Unendlichkeit des Denkens.
Was Benjamin in der Architektur am Beispiel der Volute abliest, vollzieht sich
bei Proust in Form der Arabeske, als rankenreiche Zauberschrift: „un grimoire
complique et fleuri"36, für die er seine verschiedenen Erinnerungen hält. Die
Poetik des Ornaments und der Arabeske könnte er dabei von der Architektur des
Mittelalters abgeschaut haben, die in der Recherche immer wieder bewundert wird
in der Gestalt von Kirchen und mittelalterlichen Skulpturen. Als Beispiel der
Selbsteinfältung dient die mittelalterliche Marienfigur, die ihre eigene Kathedrale
als „objet minuscule et ouvrage"3" in der Hand hält. Wie Kerstin Behnke in ih-
rem Aufsatz „Romantische Arabesken" an der Gegenüberstellung von Goethe,
Hegel und Kant nachweist38, hat sich die literarische Arabeske besonders von der
gotischen Baukunst des Mittelalters inspirieren lassen. Ihr Charakteristikum ist
es, das Materielle, Massige nicht in seiner Materialität gelten zu lassen, sondern es
überall zu durchbrechen. Anstatt die Arabeske als das Andere von Vernunft und
Ordnung als .willkürlich' und .regellos' zu stigmatisieren und sie damit in ihrer
schweifenden Freiheit zu bestätigen, ordnen Goethe und Hegel die Arabeske ih-
rer Natur zuwider ein - außen, unten und vorläufig: Sie wird marginalisiert, wo
sie selbst kein Zentrum aufbaut, subordoniert, wo sie selbst keine Hierarchie
kennt. Ohne Sinn oder Bedeutung, wird die Arabeske dem unterstellt, das etwas
be-deutet. Paradoxerweise ist sie als freies Gebilde dem höchsten Dienenden un-
tergeordnet.39 Aus dieser Hierarchie und der Position befreit sie Marcel Proust,
insofern die Arabeske die metaphorische Figur seines Schreibstils wird.40
35 Benjamin I, S. 262.
36 Proust IV, S. 457.
37 Proust, Cahier 57, f. 6r, vgl. Roloff: Werk und Lektüre, S. 182.
38 In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Schrift, München 1993, S. 111-113.
39 Vgl. Kerstin Behnke: Romantische Arabesken, in: Gumbrecht (Hg.): Schrift, München 1993, S.
111-113.
40 Die Proustforschung hat diese Motive ausgiebig analysiert: Leo Spitzer diskutiert Prousts Kon-
struktion des „soit que" unter dem Stichwort der Gabelung. Die „soit que" Konjunktion in sei-
nen teilweise über halbe Seiten sich fortspinnenden Sätzen beschreibt eine uneindeutige Alterna-
tive, bzw. mehrere Alternativen, in der klare Oppositionen gebrochen werden. Der ,roman
d'Albertine' entfaltet solche Serien über Seiten. (Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 69) Jean Milly
scheint von Spitzers Beobachtung auszugehen, wenn er diese Gabelungen unter dem Aspekt von
Binaritäten untersucht, die - gegenübergestellt - den Satz in ständig neue Verzweigungen ab-
gleiten lassen: so z.B. die berühmte Passage aus der Eröffnung der Recherche über die „chambres
d'hiver" und „chambres d'ete^' (Proust I, S. 7). Am Ende seiner Untersuchungen einzelner Satz-
partien schreibt Jean Milly: „Dans I 'ecriture (...) le binarisme peut aboutir ä une d&tructuration.
Car l'accumulation des paires, leur developpement, la plupart du temps, du cöte^ du second
terme, engendrent une sorte de demarche des phrases qu'on pourrait appeler glisse1 sur le cöte", tout
terme nouveau s'accompagnant du n dewur vers un semblable ou un oppose\ de sorte que la
phrase foisonne et en meme temps se decentre, se gauchit, n'a plus l'assurance de la phrase classi-
que aux parties bien denombrees et equilibrees, mais presente, comme la realne1 dans la m^ta-
phore, un vacillement." (Jean Milly: La phrase de Proust, Paris 1975, S. 186) „La duplication
1 1 6 MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
Ähnlich wie der von Proust beschriebene Stil Flauberts, stehen die Bilder des im
Personenkosmos der Recherche bedeutsamen impressionistischen Malers Elstirs
für eine kantianische Wende im Sinne einer Verkehrung von Wahrnehmung und
Erkenntnis. Dementsprechend groß ist ihr Eindruck, den sie bei dem Erzähler
Marcel hinterlassen.
Der Stil bei Flaubert ist nicht mehr vom Gegenstand her zu denken, sondern
umgekehrt der Gegenstand vom Stil als Bedingung seiner Möglichkeit. Das hat
Proust gemeint, wenn er von der Kantischen Wende spricht, die Flaubert herbei-
geführt habe. Wenn die Melancholie der französischen Romantiker in Wahrheit
eine sich absolut setzende Subjektivität ist, bricht Flaubert damit, indem er die
Selektivität des Wahrgenommenen thematisiert. Flaubert: „II n'y a pas de Vrai! II
n'y a que des manieres de voir."4'' Proust: „ce qui jusqu'ä Flaubert etait action de-
vient impression. Les choses ont autant de vie que les hommes, car c'est le raison-
nement qui apres coup assigne ä tout phenomene visuel des causes exterieures,
mais dans l'impression premiere que nous recevons cette cause n'est pas impli-
proustienne, qui structure faussement l'univers, est enfin une demarche fondamentalement ironi-
que, dans la mesure ou eile rapproche le memc et lautre, attenue par le contact et l'osmose, voire
dewuit, leur difftrence essentielle. [...] Elle introduit le glissement du syntagme dans la securite
unitaire du paradigme. [...] tout est fragile et mobile." (Milly: La phrase de Proust, S. 187) Pierre
V. Zima nennt die Recherche eine „pulsion mimetique". (Vgl. Pierre V. Zima: L'Ambivalence
romanesque, Proust, Kafka, Musil, Paris 1980, S. 283)
41 Proust II, S. 191.
42 Proust: Contre Sainte-Beuve, Paris 1971, S. 242.
43 Proust III, S. 211.
44 Proust I, S. 79.
45 Brief von Flaubert an Leon Hennique, 2.-3. Februar 1880, in: Flaubert: Preface ä la vie
d ecrivain, hrsg. von Genevieve Bolleme, Paris 1963, S. 290.
MIMESISTHEORETISCHE ER1NNERUNGSSEMANT1K UND MED1ALITÄT DER SPRACHE 1 1 7
quee."46 Indem Elstir im Verweis auf den Subjektivismus der Wahrnehmung ei-
nen mimetischen Objektivismus ablöst, stehen die Bilder des Impressionisten für
die Nachordnung des objektiven Gegenstands hinter die subjektive Wahrneh-
mung des Betrachters. Proust macht sich diesen Gedanken selbst zu eigen.
In dem Romanteil „A l'ombre des jeunes filles en fleurs" besucht Marcel das Ate-
lier des Künstlers. Es ist besonders ein Bild, das sich Marcel einprägt: das tableau
„representant le port de Carquethuit".4 Für Rainer Warning bricht Proust in die-
ser Romanpassage mit dem klassischen Konzept der Bildbeschreibung (Ekphra-
sis), insofern die Gattung der Ekphrasis an das Konzept von Kunst als Nachah-
mung / Imitatio gebunden ist. „Eine wesentliche Zäsur aber markiert hier der
Impressionismus, sofern er nicht mehr einen vorgegebenen Gegenstand abschil-
dern, sondern zeigen will, wie wir ihn wahrnehmen."48 Statt mit einer Ekphrasis
haben wir es mit „einer hochgradig selbstreflexiven Bildbeschreibung"49 zu tun.
Das von Proust beschriebene Bild soll die sinnliche Wahrnehmung aufwerten ge-
genüber der „notion de l'intelligence".''0 Das Atelier gleicht Marcels .Camera ob-
scura', wie wir es aus „Sur la lecture" oder aus dem Combray-Kapitel kennen.
„Les stores etaient clos de presque tous les cötes, l'atelier etait assez frais et, sauf ä
un endroit oü le grand jour apposait au mur sa decoration eclatante et passagere,
obscur; seule etait ouverte une petite fenetre rectangulaire [...] de sorte que
l'atmosphere de la plus grande partie de l'atelier etait sombre [...]."" Elstirs Arbeit
wird der göttlichen Schöpfung gleichgestellt, „si Dieu le Pere avait cree les choses
en les nommant, c'est en leur otant leur nom, ou en leur en donnant un autre qu'
Elstir les recr^ait.'"'2 Schafft Gottvater als Ausbund der Weltvernunft:, als Inbegriff
des Logos aus dem „Chaos all der Dinge" eine (sprachliche) Ordnung, indem
er die Dinge benennt, so ist dem jungen Marcel die Kunst Elstirs mit der Kraft
einer „neuen Weltschöpfung" verbunden. Der Maler kann nämlich den Dingen
ihren Namen entziehen oder durch einen neuen ersetzen. Dadurch wird aber die
in der Genesis" beschriebene innere Wesensbeziehung von Wort und Ding ge-
brochen und durch eine von Arbitrarität geprägte subjektive Schöpfung Elstirs er-
setzt. Elstirs Kunst ist Marcel dort Ausdruck einer Wesensschau, wo sie jede be-
46 Proust: A propos du ,style' de Flauben, in: Ders.: Contre Sainte-Beuve, hrsg. von Pierre Clarac /
Yves Sandre, Paris 1971, S. 588f. (Hervorhebung D.F.)
47 Proust II, 192.
48 Warning: Proust-Studien, S. 64.
49 Ebenda, S. 64.
50 Proust II, S. 191.
51 Proust II, S. 191.
52 Proust II, S. 191.
53 In der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis I) schafft Gott die Welt aus dem Nichts, indem
er die Dinge benennt. D.h. die götdiche Sprache ist gerade nicht arbiträr wie die Sprache des
Menschen, sondern durch ein inneres Wesensverhältnis von Zeichen und Bezeichnetem be-
stimmt. Insofern ist sie Ausdruck absoluter Wahrheit und Erkenntnis. Die göttliche Sprache er-
weist sich als absolut, rem und mit den Dingen deckungsgleich. Benjamin schreibt: „Das absolute
Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott." (Benjamin fl, S. 148)
1 1 8 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
54 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, München 1985, Bd. II, S. 327.
55 Proust II, S. 191.
56 Proust II, S. 191 f.
57 Proust II, S. 192.
58 Proust II, S. 192.
59 Die Kirchen von Cnquebec: „on les voyait Sans la ville, dans un poudroiement de soleil et de va-
gues, semblaient sortir des eaux, soufflees en albätre ou en ecume et [...] former un tableau irrel et
mystique." (Proust II, S. 192) „Dans le premier plan de la plage, le peintre avait su habituer les
yeux ä ne pas reconnaitre de frontiere fixe, de demarcation absolue, entre la terre et l'ocean. Des
hommes qui poussaient des bateaux ä la mer couraient aussi bien dans les flots que sur le sable
[...]." (Proust II, S. 192)
MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 1 9
nedig ist gleichzeitig Stadt und doch ein Teil der Lagune. Beim Blick auf das
Meer in Balbec beschreibt Marcel die Wasserlandschaft vor ihm ausschließlich
mit ländlichen Adjektiven.
Das Bild Elstirs nimmt auch die Venedig-Erfahrung Marcels in „La Fugitive"
voraus, wo er Venedig mit Combray — dem Ort seiner Kindheit — vergleicht. „J'y
goütais des impressions analogues ä Celles que j'avais si souvent ressenties autrefois
ä Combray, mais transposees selon un mode entierement different et plus ri-
che."60 So wie in Combray öffnen sich die Fenster auf einen Glockenturm. Wie
in Combray sieht er auf die Straßen, aber die Straßen sind Wasserkanäle. Elstirs
Bilder kennzeichnen einen „effort [...] pour se depouiller en presence de la realite
de toutes les notions de son intelligence"61. Das Elstirsche Bild reflektiert Prousts
eigene Poetik. Im Blick auf die Seegemälde Elstirs schreibt Marcel: „Mais j'y pou-
vais discerner que le charme de chacune consistait en une sorte de metamorphose
des choses representees, analogue ä celle qu'en poesie on nomme metaphore
62
Die Metapher, die - wie Marcel in Elstirs Atelier lernt - das Unterscheidende
zwischen den Dingen aufhebt, fugt eine zerrissene Welt wieder zusammen unter
Hereinnahme der Zerrissenheit in die Einheit des Bildes. Ein Beispiel für die von
Proust inszenierte Zerrissenheit zeigt die Nuancenfülle im Satz chambre d'hiver
und chambre d'ete. 6 ' Gegenüber einer immer neuen Präzision scheint die Meta-
pher das einzig mögliche stilistische Erkenntnisinstrument zu sein.64
Jean-Pierre Richard spricht im Zusammenhang von dieser Stelle von einer
„metaphore de la metaphore, c'est-ä-dire un spectade charge' de nous donner un
equivalent visuel de ce que Proust entend par ce terme meme."6'' Nach Genettes
Interpretation von Prousts Metaphern sind deren secundum nicht logisch moti-
viert durch die Schnittmenge der Bedeutungselemente (Seme), die es mit dem
primum teilt, sondern durch eine räumliche Kontiguität. Das secundum wird dem
Realbereich entlehnt, in dem das primum lokalisiert ist. Ein Kirchturm im Korn-
feld wird mit einer Ähre, derselbe Kirchturm unter dem Eindruck der Sehnsucht
nach der Kühle des Meeres aber auch mit einem in den Himmel stechenden
Fisch verglichen. Genette spricht hier von einer „voisinage spatio-temporei"66, zu
der Jean Milly treffend bemerkt: „Le dynamique du recit proustien consiste ä fai-
re se developper par contiguite, ä partir d'analogies fondamentales, de vastes series
60 Zitiert nach Genette: Proust Palimpseste, in: Ders.: Figures, S. 46 (Zitat nicht angegeben.)
61 Proust II, S. 196.
62 Proust II, S. 191.
63 Proust I, S. 7.
64 Vgl. Erich Köhler: Marcel Proust, Berlin 1994, S. 64.
65 Richard: Proust et le monde sensible, Paris 1974, S. 285.
66 Genette: Figures III, Paris 1972, S. 45.
120 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
d'images dans tous les sens et dans toutes les dimension."6" Diese durch Konti-
guität bedingte Kontingenz des Vergleichsgegenstandes ist ein Indiz für die „in-
difference ä l'egard du referent", für den „irreductible irrealisme de la description
proustienne"68, der für Benjamin die Allegorie auszeichnet.69
Warning wiederum vertieft Genettes Ansatz, indem er auf die Einbeziehung
des wahrnehmenden Subjekts bei Prousts metonymischen Metaphern hinweist.70
Genau dieser Aspekt ist es ja, der die Bilder Elstirs heraustreten lässt aus einem
mimetischen Objektivismus. Nach Michail Bachtin ist die metonymische Meta-
pher eine „rhetorische Hybride", denn in ihr verbinden sich zwei Subjekte: der
Erzähler: Er ist der Verwender der Metapher und die erzählte Figur: Ihre Wahr-
nehmung liefert das raumzeitliche Metaphernbild. Genette, so Warnings Kritik,
bezieht die Metapher selbst einseitig auf die Seite des Erzählers. Stattdessen, so
Warning, verweist das Bild Elstirs auf eine Impression, die in ihrer Authentizität
zu restituieren ist, d.h. die zurückgehen muss auf das sinnlich wahrnehmende
Subjekt Marcel selbst. Diese Interpretation hat ihre Tücken, geht sie doch davon
aus, dass sich für den Interpreten der Text der Recherche klar in die Perspektive
des Erzählers und des subjektiv empfindenden Marcel unterscheiden lasse. Doch
wer garantiert, dass hinter der Metapher des sinnlich wahrnehmenden Subjekts
Marcel nicht doch ein Erzählen in der „notion de l'intelligence" verborgen liegt?
Warnings Unterfangen, eine Impression „authentisch" zu restituieren71 bzw. vom
Erzähler selbst abzusondern, um Marcels Impression in seiner Reinheit herauszu-
destilieren, ist unmöglich. Richtig an der Interpretation ist natürlich der Verweis,
dass in der Authentizität von Prousts metonymischen Metaphern das wahrneh-
mende Subjekt enthalten ist, Prousts Stil also sich „der Perspektive des erleben-
den Subjekts anschmiegt"72.
Während an Genettes Kirchturmbeispielen die Hierarchie von primum und
secundum unangetastet bleibt, hebt sich diese Hierarchie in dem Bild Elstirs auf.
Ein secundum kann hier nicht mehr gefunden werden, weil die Grenzen zwi-
schen den termes marins und den termes urbains verwischen. Es gibt keinen Be-
reich der Seme, der eindeutig als Secundum für ein primum benutzt werden
könnte, da Land und Meer einen polysemischen Bereich bilden. Und so sind die
terms marins und terms urbains der Auftakt eines auf engstem Raum verdichteten
Spiels dekonstruktiver Merkmalsverwischung, zu denen auch die in „Sodome et
Gomorrhe" ausgebreitete Inszenierung einer Dekonstruktion der Geschlechter-
difTerenz gehört.
Schon Leo Spitzer hat darauf hingewiesen, dass Proust entgegen seiner Beto-
nung der Metapher bei seiner Umschreibung von Vergleichen mit „comme",
„comme si" selbst von einem rein metaphorischen Stil abweicht. „Die Metapher
würde in solchen Fällen eine Unterordnung mit sich bringen, bei Proust herrscht
eine relative Unabhängigkeit von Comparatum und Comparandum, die ausein-
anderstreben."73 Verbindet die Metapher zwei durch eindeutige Ahnlichkeitsver-
hältnisse auf einander bezogene Dinge, so charakterisiert die Metonymie das
Fehlen einer solchen Ahnlichkeitsrelation74, wobei Proust eine „seelische Konti-
nuität zwischen disparat scheinenden Ereignissen" aufzeigt.1''
Es sind die aneinandergereihten Vergleiche, in denen dasjenige, was eigentlich
durch den Vergleich erläutert werden soll, in der Bilderkette untergeht.76
Was Benjamin dem Kind als „Gewölk" zuspricht: sich der fest definierten
Objektwelt der Erwachsenen zu entziehen und so in einem bildreichen, vorratio-
nalen, vor-objektivistischen Erfahrungsraum zu leben, spricht Marcel den Bildern
Elstirs zu. Das auf der Leinwand inszenierte Ineinander von städtischen und ma-
ritimen Momenten entspricht der von Proust favorisierten Erkenntnis einer im
„Stande der Ähnlichkeit" entstellten Welt.
Der Vergleich mit dem Malstil Elstirs zeigt, dass sich Proust die Technik der
impressionistischen Überblendung für die Sprache zunutze macht, durch den
Gebrauch seiner Metaphern. Statt einen objektiven Wesenskern im Vergleich zur
Anschauung zu bringen, spielen sie mit vieldeutigen Verweisen, deren Entziffe-
rung dem Leser angetragen wird.
73 Leo Spitzer: Zum Stil Marcel Prousts, in: Ders.: Stilstudien, München 1961, Bd. II, S. 462.
74 Vgl. Michel Le Guern: Semantique de la Meuphore et de la Metonymie, Paris 1973, S. 107.
75 Spitzer: Stilstudien, Bd. II, München 1961, S. 458.
76 Spitzer verweist in diesem Zusammenhang auf die Parenthesen, in die entweder konkrete Hand-
lungen abgedrängt werden, oder die stattdessen die Verbindung zu anderen Stellen der Recherche
herstellen. Am Beispiel von Prousts Umschreibung der Wintergärten in „A l'ombre des jeunes
filles en fleurs" wird deutlich, wie nicht die Sache beschrieben wird, sondern all dasjenige, womit
sie durch vielfältige Relationen - wie räumlicher Nachbarschaft, Ähnlichkeit, Kontrast, Abbild
oder Verkleinerung - in Beziehung steht. „Le .jardin d'hiver', que dans ces annees-lä le passant
apercevait d'ordinaire, quelle que füt la rue, si l'appartement n'eiait pas ä un niveau trop eleve au-
dessus du trottoir, ne se voit plus que dans les heliogravures des livres d'&rennes de P.-J. Stahl oü,
en contraste avec les rares ornements floraux des salons Louis XVI d'aujourd'hui [...], il semble, ä
cause de la profusion des plantes d'appartement [...] avoir du, chez les maitresses de maison, r^-
pondre plutöt ä quelque vivante et delicieuse passion pour la botanique qu'ä un froid souci de
morte decoration. II faisait penser en plus grand, dans les hötels d'alors, ä ces serres minuscules et
portatives posees au matin du Ier janvier sous la lampe allumee - les enfants n'ayant pas eu la pa-
tience d'attendre qu'il fit jour - parmi les autres cadeaux du jour de l'an, mais le plus beau d'entre
eux, consolant, avec les plantes qu'on va pouvoir eultiver, de la nudite^ de l'hiver; plus encore qu'ä
ces serres-lä elles-memes, ces jardins d'hiver ressemblaient ä Celle qu'on voyait tout aupres d'elles,
figuree dans un beau livre, autre cadeau du jour de l'an, et qui, bien quelle füt donnee non aux
enfants, mais ä Mlle Lili, l'heroine de l'ouvrage, les enchantait ä tel point que, devenus mainte-
nant presque vieillards, ils se demandent si dans ces annees fortunees l'hiver n'&ait pas la plus
belle des Saisons." (Proust I, S. 582f) Keine der Detailbeschreibungen bezieht sich auf einen
Wintergarten selbst. Dieser wird umschrieben mit Abbildungen, Heligravuren, Miniaturen, „ser-
res minuscules". Statt den Wintergarten näher zu erklären, wird er .verschoben'.
1 2 2 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
Die Räumlichkeit des Daseins hat für Heidegger einen Tätigkeitscharakter. Sie ist
„Ent-fernung" und „Ausrichtung"7 . Ent-fernung meint, entgegen der eigentli-
chen Wortbedeutung, ein Verschwindenlassen der Ferne: also eine Annäherung.
Erst aufgrund der Zuhandenheit kann das Vorhandene zum Objekt werden. Und
es ist ja gerade dieses Räumlichkeitskonzept, das die Bilder Elstirs ausmachen:
Entfernung als Überblendung von Nah und Fern, Stadt und Meer darzustellen.
„Die Näherung ist nicht orientiert auf das körperbehaftete Ichding, sondern auf
das besorgende In-der-Welt-sein, das heißt das, was in diesem je zunächst begeg-
net. Die Räumlichkeit des Daseins wird daher auch nicht bestimmt durch Anga-
be der Stellen, an der ein Körperding vorhanden ist."78
Die Bilder Elstirs zeigen gerade mit ihrer Betonung der „vision premiere", dass
es Proust auf die Explizierung des Daseins in einem horizontähnlichen Raum-
konzept auf den Moment ankommt, wo die Außenwelt, das Vorhandene gerade
noch nicht zum Objekt — hier Stadt, dort Meer — geworden ist. Die Textpassage
zeigt, dass diese Trennung ein nachträglicher Effekt ist. Stellvertretend für einen
Schreibstil der „vision premiere" verdeutlichen die Bilder Elstirs ebenso wie die
Eröffnungsszene des Erwachens, dass Raum bzw. Räumlichkeit Strukturmoment
des Daseins ist und nicht etwa Strukturmoment einer als daseinsunabhängig ge-
dachten Welt, in der das Dasein kontingenterweise wie in einen Container hin-
eingestellt ist. Nur daher kann uns überhaupt die Umwelt als Zusammenhang
räumlich begegnen."9 Der so konstituierte Raum „ist weder im Subjekt" als aprio-
rische Anschauungsform (Kant), „noch ist die Welt im Raum"80, wie es die Na-
turwissenschaften voraussetzen. „Der Raum ist vielmehr ,in' der Welt, sofern das
für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat. Der Raum
befindet sich nicht im Subjekt, noch betrachtet dieses die Welt, ,als ob' sie in ei-
nem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene .Subjekt', das Dasein,
ist in einem ursprünglichen Sinn räumlich."81 Das Subjekt ist immer schon bezo-
gen auf die konkreten Gegenstände seines Umgangs.
schreibt der Phänomenologe: „Personne n'a ete plus loin que Proust dans la fixa-
tion des rapports du visible et de l'invisible, dans la description d'une idee qui
n'est pas le contraire du sensible, qui en est la doublure et la profondeur."82
Die Erfahrung eines vorbegrifflichen Sehens steht im Mittelpunkt des Aufsat-
zes: „Das Auge und der Geist" (1961) von Merleau-Ponty. Dort will er die
grundlegende, lebendige Intentionalität, in der die natürliche, vorprädikative
Einheit der Welt und unseres Lebens gründet, herausheben. Dabei bezieht er sich
auf eine Welt, die vor jeglicher Analyse immer schon da ist. Was Merleau-Ponty
in dem Werk „Das Auge und der Geist" in der Auseinandersetzung mit den
Werken Cezannes als den Blick des Malers analysiert, trifft Marcels Elstir-
Erfahrung im Kern und führt uns schließlich zum Begriff der Benjaminschen Au-
ra. „Zwar gibt es kein Sehen ohne zu denken, aber es genügt nicht zu denken um
zu sehen: das Sehen ist ein bedingtes Denken, das erzeugt wird ,auf Veranlassung'
dessen, was im Körper geschieht, er ist es, der zum Denken .anregt'."8' Merleau-
Ponty beschreibt in dem ersten Abschnitt seines Textes, wie das heutige wissen-
schaftliche Denken, welches für ihn ein operatives Denken ist, nur geringfügig
zur einer richtigen Welterkenntnis vordringt. Ihm ist das Wissen um die verbor-
genen Zusammenhänge der Welt und ihrer Ganzheit verloren gegangen. Die
moderne Wissenschaft sieht sich „als eine Konstruktion auf einer unbearbeiteten
oder bloß seienden Welt."84 Behauptet man aber die „Welt ist der Gegenstand X
unserer Operationen, so setzt man die Erkenntnissituation des Wissenschaftlers
absolut, als wäre alles, was war und ist, nur für das Labor bestimmt."85
Merleau-Ponty bestimmte Descartes' Weise des Sehens wie folgt: Das, was von
den Dingen als Wahrnehmendes ausgeht und von ihnen verschieden ist, trifft auf
unsere Sinnesorgane und wird vom Geist gelesen, wie ein Text gelesen wird.
Mittels dieses Entzifferns stellt der Geist Kausalzusammenhänge her und versucht
Aussagen über das Wesen der Dinge zu treffen: aus Höhe und Breite wird die
dritte Dimension erschlossen. Die Dinge sind ausgedehnt und außer einander.
Dergestalt wird Wahrnehmung auf eine Mechanik des Körpers reduziert, und das
Erfassen und in Beziehung setzen des Wahrgenommenen ist konstruktives Den-
ken. In diesem Sinne wird, so Merleau-Pontys Kritik, Sehen zum Denken. De-
scartes konstruiere das Sehen: etwas dringt von außen in unser Auge und be-
stimmt unser Sehen. Der Tastsinn des Blinden ist ihm Modell für die Mechanik
des Sehens.86
Die Bildhaftigkeit der Dinge selber erhält mit der modernen Malerei ihre Eigen-
funktion zurück, wenn nicht bloß nach dem Abbild gesucht wird. Es gibt keine
fertigen Vorzeichnungen, bestimmte .Unbestimmtheiten' gehören zur Erfahrung
des Sehens dazu. Die Erkenntnis dieses Sehens sieht in eine andere Welt, die
nicht bloß Phantomen nachjagt, sondern „Unsichtiges sichtbar" macht und das
Gefüge des Sichtbaren als ein Zusammenspiel von Betrachter und einer ebenfalls
als betrachtend zu verstehenden Außenwelt verdeutlicht. Das Bild hat sozusagen
87 Ebenda, S. 31.
88 Ebenda, S. 16.
89 Ebenda, S. 16.
90 Ebenda, S. 16.
91 Ebenda, S. 16.
MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANT1K UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 2 5
eine dialektische Struktur, etwas als Äußerlich abzubilden, das in mir selbst schon
vorhanden ist und einen Widerhall erzeugen kann. Daher ist das Bild nicht ein-
fach Ding und auch nicht einfach Kopie, sondern markiert eine Ambivalenz zwi-
schen Innen und Außen. Es verdeutlicht die Doppelnatur des Empfindens. „Die
Malerei bringt nichts zum Bewusstsein und insbesondere nicht das Tastbare. Sie
tut eher das Umgekehrte: Sie verleiht sichtbare Existenz dem, was das alltägliche
Sehen für unsichtbar hält. [...] Dieses verschlingende Sehen öffnet sich über die
,visuellen Gegebenheiten' hinaus, auf ein Gefüge des Seins."92 Die für Descartes
uns entgegenstehende Objektwelt hat also für Merleau-Ponty immer schon sub-
jektive Züge. „Es gibt tatsächlich eine Inspiration und Exspiration des Seins, ein
Atmen im Sein, eine Aktion und Passion, die so wenig voneinander zu unter-
scheiden sind, dass man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer
malt und wer gemalt wird."93
ExkursEnde
Wenn Proust an einer anderen Stelle schreibt: ,,[L]es objets conservent quelque
chose des yeux qui les regarderent"94, dann entspricht das nicht nur Merleau-
Pontys Bestimmung des Blicks, sondern eröffnet auch eine Brücke zu Benjamins
Begriff der Aura, als ein dem Betrachter ,entgegenblickendes' Moment der Ob-
jektwelt.95 „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen
belehnen, den Blick aufzuschlagen. Die Funde der memoire involontaire entspre-
chen dem."96 Der „belehnende Blick", der für die auratische Erscheinung kon-
stitutiv ist, kommt einem Erkennen von Ähnlichkeiten gleich. „Dem Blick wohnt
[...] die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo
diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentio-
nalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlich-
ten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. [...] Die Er-
fahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Ge-
sellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der
Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt
den Blick auf"9" Marcel entlockt seinem Blick das Vetmögen, die Korresponden-
zen aufzuspüren. „[Die] Ähnlichkeiten zwischen zwei Objekten sind stets ver-
mittelt dutch die Ähnlichkeit, welche der Mensch mit beiden in sich findet oder
die er als mit beiden annimmt."98 Die Erzeugung der Ähnlichkeit durch den
Menschen ist - „ebenso wie ihre Wahrnehmung durch ihn - in vielen und zumal
92 Ebenda, S. 19.
93 Ebenda, S. 21.
94 Proust IV, S. 463.
95 Für Prousts Erzähler ist die Welt ein offenes Buch, sie ist durch eine emblematische Dingschrift
geprägt, die der Lektüre harn. „Ce plaisir, dont l'objet nVtait que pressenti, que j'avais ä erder
moi-meme, je ne l'dprouvais que de rares fois [...]." (Proust II, S. 77)
96 Benjamin I, S. 646f.
97 Benjamin I, S. 646.
98 Benjamin II, S. 956.
1 2 6 MIMESISTHEORETISCHE ER1NNERUNGSSEMANT1K UND MED1ALITÄT DER SPRACHE
in den wichtigsten Fällen an ein Aufblitzen gebunden."99 „Sie bietet sich dem
Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation."100 Und bei
Proust heißt es: „Je vis les arbres s'eloigner en agitant leurs bras desesperes, sem-
blant me dire: ,Ce que tu n'apprends pas de nous aujourd'hui, tu ne le sauras ja-
mais.'"101
Gelesen wird letztlich immer, „was nie geschrieben wurde".102 In diesem Her-
auslesen, das „in der Urzeit der Menschheit das Lesen schlechthin war"103, sind
das rezeptive und erzeugende Element ineinander verschränkt.
lichkeit beider Textschichten nahe. Der Ursprungstext ist nur als sekundärer les-
bar auf der Basis des zuerst gelesenen Textes. Die zugrundeliegende Schrift ist nur
aufspaltend lesbar, interpretierend. „Eben dies bedeutet Urschrift: nicht eine al-
lererste Schrift als Gegenstand einer Archäologie, sondern stets schon eine Schrift
unter Schriften, auf gleicher Höhe.""" Gegen einen solchen Glauben an die
Jungfräulichkeit eines Originaltextes behauptet Benjamin, dass ein „verblichener
Text" immer nur in den „Zügen einer kräftigen Schrift, die sich auf ihn be-
zieht"" 1 zu entziffern ist. Und so ist Benjamin auch die Erzählung verglichen mit
dem Roman und dem Informationschaos der Presse ein ,,langsame[s] Einander-
Überdecken dünner und transparenter Schichten [...], das das treffendste Bild
von der Art und Weise abgibt, in der die vollkommene Erzählung aus der
Schichtung vielfacher Nacherzählungen an den Tag tritt."112
Gerard Genette analysiert bei Proust dasselbe Moment seiner Poetik in seinem
Aufsatz: „Proust Palimpseste".1" Ebenso wie de Man zeigt auch Genette, dass die
Metapher bei Proust an wichtigen Stellen innerhalb der Recherche metonymisch
motiviert ist, und er spricht in diesem Zusammenhang von einem Palimpseste-
ähnlichen Schreibstil Prousts. Statt dass primum und secundum eine Schnitt-
menge in einem Dritten bilden, überwiegt die raumzeitliche Nähe in der Moti-
vierung seiner Metaphern. Dabei stellt Genette sich folgende Frage: „Comment
concevoir en effet qu'une metaphore, c'est-ä-dire un deplacement, un transfert de
sensations d'un objet sur un autre puisse nous conduire ä l'essence de cet objet?
Comment admettre que la ,verite' profonde' d'une chose, cette verite particuliere
et .distincte' que cherche Proust puisse se reveler dans une figure qui n'en degage
les proprietes qu'en les transposant c'est-ä-dire les alienant?""4 Die von Proust
geheiligte Metapher wird statt von einer von Proust vorgetäuschten Vertikal-
vielmehr durch eine Horizontalbewegung bestimmt.
Genette verweist auf das Anliegen von Proust, die Oberflächlichkeit der
Dingwelt zu durchbrechen, um ein Bild der verlorenen Substanz an den Tag zu
befördern."5 „Cette idee d'un style-substance, restituant par la seule vertu de son
haut degre de fusion l'unite materielle des choses, Proust l'a souvent exprimee en
des termes presque identiques.""6 Diesen ,style-substance' glaubt Proust bei
Flaubert gefunden zu haben, denn im Anblick von Flauberts Stil schreibt er:
„Aucune impurete n'est rest.ee."117
110 Derrida: Scribble, in: William Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter,
Frankfurt a.M. 1980, S. XVII (Vorwort).
111 Benjamin I, S. 125.
112 Benjamin II, S. 448.
113 abgedruckt in: Genette: Figures, Paris 1966, S. 39ff.
114 Ebenda, S. 45.
115 Genette: Figures, S. 42.
116 Genette: Figures, S. 42.
117 zitiert nach: Genette: Figures, S. 42.
1 2 8 MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
In einer wichtigen Szene der Recherche erkennt der Schriftsteller Bergotte, ein
bedeutendes Vorbild des Erzählers Marcel, in einer Bildpartie bei Vermeer die
Perfektion des Stils. Überwältigt von der Schönheit des Bildausschnittes sagt er
resigniert über seine eigenen schriftstellerischen Leistungen: „C'est ainsi que
j'aurais du ecrirer, disait-il. Mes derniers livres sont trop secs, il aurait fallu passer
plusieurs couches de couleur, rendre ma phrase en elle-meme precieuse [...]."" 8
Die Rede von den „plusieurs couches de couleur" wird zu dem Merkmal, mit
dem Marcel den von ihm bewunderten Schriftsteller übertrifft.
Was es genau mit diesem Stil der „plusieurs couches" auf sich haben könnte,
veranschaulicht die Vermischung landschaftlicher mit maritimen Impressionen
am ersten Morgen in Balbec am Fenster: Das Grundmotiv dieser Metaphern ist
die Kunst des impressionistischen Malers Elstirs. Beim Blick aus dem Fenster in
Balbec auf das Meer verwendet Marcel hauptsächlich landschaftliche Begriffe.11''
Zwar wird die landschaftliche Referenz nicht direkt genannt, aber beständig sug-
geriert. Aber der Vergleich zwischen Land und Meer fuhrt uns nicht zur Essenz
des einen oder des anderen. Wir befinden uns vor einer paradoxen Landschaft,
wo Berg und Meer ihre Qualitäten ausgetauscht haben, um auf diese Weise ihre
Substanz aufzuhellen.
In der Oper werden Marcel die ihn umgebenden Logen zu Grotten einer Un-
terwasserwelt. Venedig ist gleichzeitig Stadt und doch verweisen die Bodenwellen
in St. Marco auf die Wellen der Lagune: St. Marco - eine maritime Kathedrale.
Ein wesentlicher Zug der Proustschen Repräsentation ist demnach die Überblen-
dung, die Übereinanderschichtung simultaner Objekte. Für diese Methode steht
die „lanterne magique"120, ein Spielzeug aus Marcels Kindheit, von dem wir im
ersten Romanteil erfahren. Marcel darf sich vor dem Schlafengehen die Bilderge-
schichte von Genevieve de Brabant anschauen, damit ihm das Drama seines zu-
Bett-Gehens erträglicher wird. Die durch die Lampe erzeugten Projektionen le-
gen sich nun wie eine zweite Schicht über die Zimmerwände und verschränken
sich mit ihnen zu einer neuen Wirklichkeit. Der Blick des Kindes auf die sich in-
einander verschränkenden Schichten nimmt den durch Überblendungen gepräg-
ten Schreibstil des Erzählers vorweg: „Si on bougeait la lanterne, je distinguais le
cheval de Golo qui continuait ä s'avancer sur les rideaux de la fenetre, se bombant
de leurs plis, descendant dans leurs fentes. Le corps de Golo [...] s'arrangeait de
toutobstacle materiel [...]." m
Die Zeit metamorphorisiert nicht nur die Charaktere, auch die Gesichter, die
Orte und sedimentiert sie im Raum. Und sie fuhrt übereinanderlappende
Schichten zusammen wie in einem Palimpsest. So zum Beispiel die Signatur von
Gilberte, die mit derjenigen von Albertine verwechselt wird122, so wie das Gesicht
von Odette de Forcheville, die sich mit der Erinnerung an die ,Dame in Rot'
übereinanderlegt, das Bild der Caritas von Giotto, das mit dem Küchenmädchen
korreliert123. Und so könnte man in Analogie zu Benjamin auch für Proust sagen,
dass sich die Wahrheit nur in der Interpretation der „plusieurs couches" zeigt. Ein
Beispiel für diese Permanenz neuer Schichten ist Albertine, das „etre de fuite", de-
ren Identität und Wahrhaftigkeit Marcel sich nie vergewissern wird. Beinahe täg-
lich muss er sein inneres Bild von ihr korrigieren. „Certains jours, mince, le teint
gris, l'air maussade, une transparence violette descendant obliquement au fond de
ses yeux comme il arrive quelquefois pour la mer, eile semblait eprouver une tri-
stesse d'exilee. D'autres jours, sa figure plus lisse engluait les desirs ä sa surface
vernie [.„]."124 Ebenso ist auch die Vergangenheit nur durch verschiedene
Schichten hindurch lesbar, die nicht voneinander abtrennbar sind. „Notre moi
est fait de la superposition de nos etats successiß."125
Die Recherche macht einen Schritt zurück hinter die Ermächtigung des Subjekts
im gefestigten Weltgefüge der Aufklärung: sie fuhrt den Helden gleichsam durch
die äußerste Steigerung seiner Reflexionen zur Umwendung auf sich selbst, wobei
die tradierten Wert- und Sinnkonstrukte der französischen Adelsgesellschaft, die
„Einheit der Familie und der Persönlichkeit, der Sexualmoral und der Standeseh-
re"126 — als mythengleiche Illusionen entlarvt - in „Scherben" zerbrechen. Nähe
und Abstand des Proustschen Diskurses zum philosophischen lässt sich durch die
Erinnerung an die Kantische Theorie des Erhabenen zeigen.
Bei der ästhetischen Einschätzung gewisser Sachverhalte, wie z.B. der Weite
oder Entfernung einer Naturerscheinung oder der Kraft eines Naturereignisses,
gelangt die Suche der Erkenntniskräfte - so Kants Theorie - nach adäquaten Be-
griffen bald an ihre Grenzen. Dies kommt für Kant darin zum Ausdruck, dass wir
ästhetisch die Natur in theoretischer Hinsicht als unermesslich, in praktischer
Hinsicht als überwältigend schätzen. „Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Ge-
fühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästheti-
schen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft, und eine dabei
zugleich erweckte Lust, aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unan-
gemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen [,..]."127 In
beiden Hinsichten sehen wir uns nicht imstande, diese Sachverhalte mit den
Maßstäben der Einbildungskraft zu erfassen. Die Achtung und Bewunderung, die
wir der Natur mit der Einschätzung ihrer Erhabenheit erweisen, beruht also auf
Prousts Schreibstil der Parenthesen und Arabesken hat Konsequenzen für das
Hauptmotiv der Recherche. Die Erinnerung als konstituierendes Moment des
Autors Marcel zu seiner eigenen Identität als (angeblicher) Urheber des Roman-
zyklus. Im folgenden Abschnitt wollen wir uns daher mit der Frage nach dem Ur-
sprung und der .Echtheit' der Proustschen „memoire involontaire" auseinander-
setzen, ist sie doch für Proust das Stilmittel seiner frühen Poetik, um den Prozess
der Suche nach der „temps perdu" in Szene zu setzen. Es soll dabei gezeigt wer-
den, inwiefern das frühe Erinnerungskonzept der „memoire involontaire" statt
auf Einmaligkeit und Echtheit zu beruhen, vielmehr strukturell an Nachträglich-
keit und Wiederholbarkeit gebunden bleibt. Dabei hilft uns Benjamins Analyse
von Echtheit und Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, der wir uns im folgenden
widmen wollen.
131 Proust: Choix de lettres, presentees et datees par Philip Kolb, Meaux 1965, S. 280.
132 Vgl. Thomas Klinkert: Bewahren und löschen - Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett,
Claude Simon und Thomas Bernhard, Tübingen 1996.
133 Proust IV, S. 482.
1 3 2 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
144 D. Harth und H. Grzimek haben Benjamins „Aura"-Konzept als wirkungsgeschichtlichen Zu-
sammenhang, der „gleichsam in den Umkreis des individuellen Werkes wie in dessen Gravitati-
onsfeld" einzieht, bezeichnet (D. Harth und M. Grizmek: Aura und Aktualität als ästhetische
Begriffe: in: Dies, u.a.: Walter Benjamin. Zeitgenosse der Moderne, Kronenberg 1976, S. 117).
145 Benjamin I, S. 639.
146 Benjamin II, S. 448.
147 Benjamin II, S. 448.
148 Benjamin II, S. 446.
1 3 4 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
Baudelaires „passante"
Baudelaires Gedicht aus den „Fleurs du Mal" mit dem Titel „A une passante"
veranschaulicht in der Interpretation von Benjamin das flüchtige Auftauchen von
Ähnlichkeiten und Korrespondenzen in Gestalt des Chocks. Die von Baudelaire
beschriebene Frau in der Menge erscheint als Verschwindende und nur als diese
wird sie dem Betrachter zum Objekt seiner Erkenntnis. „Im Witwenschleier,
schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im Gewühl, kreuzt eine
Unbekannte den Blick des Dichters. Was das Sonette zu verstehen gibt, ist, in ei-
nem Satz festgehalten: Die Erscheinung, die den Großstädter fasziniert — weit
entfernt, an der Menge nur ihren Widerpart, nur ein ihr feindliches Element zu
haben -, wird ihm durch die Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Groß-
städters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick."150 Als
Vorüberziehende lässt die Frau die Spur eines erwiderten Blickes hinter sich. „Un
eclair... puis la nuit! Fugitive beaute / Dont le regard m'a fait soudainement
renaitre."151 Der erwiderte Blick, der erkannt wird, wo er sich entzieht, ist gegen-
wärtig nur als ein bereits verlorener.
149 Vgl. Marleen Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Wal-
ter Benjamin, München 1983, S. 34ff.
150 Benjamin I, S. 623.
151 Benjamin I, S. 622.
MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 3 5
„Nicht anders hat Proust das Sonett gelesen"152, schreibt Benjamin im An-
schluss und erwähnt eine Beschreibung Albertines, die den Einfluss Baudelaires
aufweist. In dem Zitat aus der Recherche ist sie die ,„Frau, die, frischer Luft ent-
wohnt, durch ihre Lebensweise inmitten von Massen und vielleicht auch durch
den Einfluß des Lasters angegriffen, an einem bestimmten Blick zu erkennen ist,
welcher [...] unstet wirkt.'"',-' Aber auch noch an einer anderen Textstelle scheint
Proust das Gedicht von Baudelaire zu zitieren und das Albertine-Motiv vorweg-
zunehmen. Er beschreibt den Reiz einer „flüchtigen Vision" als er bei einem Aus-
flug mit seiner Großmutter und Mme de Villeparisis ein Landmädchen erkennt.
Es ist das Moment des Entzugs, der der Vision eine nicht verlöschende Spur ein-
drückt. Im Entzug wird das „d&ir" Marcels zur inneren Notwendigkeit der Er-
kenntnis. „La voiture de Mme de Villeparisis allait vite. Ä peine avais-je le temps
de voir la fillette qui venait dans notre direction; et pourtant [...] des que son in-
dividualite, äme vague, volonte inconnue de moi, se peignait en une petite image
prodigieusement reduite, mais complete, au fond de son regard distrait, aussitot,
mysteYieuse replique des pollens tout prepares pour les pistils, je sentais saillir en
moi l'embryon aussi vague, aussi minuscule, du desir de ne pas laisser passer cette
fille sans que sa pensee prit conscience de ma personne, sans que j'empechasse ses
desirs d'aller ä quelqu'un d'autre, sans que je vinsse me fixer dans sa reverie et sai-
sir son coeur."154 Jedoch der Wagen fährt weiter und Marcel fragt sich, ob nicht
gerade der Entzug im Moment der Erkenntnis ihm die Schönheit des Mädchens
erst zugetragen hat. „Etait-ce parce que je ne l'avais qu'entr'apercue que je l'avais
trouvee si belle? Peut-etre. [...] Puis si l'imagination est entrainee par le desir de ce
que nous ne pouvons posseder, son essor n'est pas limite par une realite com-
pletement percue dans ces rencontres oü les charmes de la passante sont genera-
lement en relation directe avec la rapidite du passage."15'' Ursache und Wirkung
werden somit von Proust verkehrt. Nicht die Schönheit des Mädchens erweist
sich als Ursache des Verlustgefühls. Sondern des Gefühl des Verlustes erzeugt erst
die Schönheit der begehrten Person. Der .Entzug' des Mädchens erscheint mithin
als primäres Moment der Realitätserkenntnis, da er die Phantasie drängt, die sich
(zwischen dem Erzähler Marcel und dem Mädchen) ausdehnende Distanz zu
überbrücken. Die Phantasie füllt somit keine vorhergehende Realität im Sinne
einer Bedeutungsfülle. Sie erzeugt diese erst, angestachelt durch die Erfahrung des
Verlustes.
Aber Baudelaires „passante" als Beispiel einer flüchtigen Correspondance, die
nicht eigentlich „wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden"156 kann, er-
hellt auch die Poetik der „memoire involontaire." Der ,Einbruch' des Alltägli-
chen, der sich in ihr durch das Auftauchen einer Vergangenheit ereignet, ist auch
bestimmt durch das Moment des Entzugs. Ähnlich wie im Falle des „Echtheits-
siegeis", das Werken der Kunst immer erst nachträglich verliehen wird, so ist
auch der blitzartige Einbruch der Vergangenheit Inbegriff eines erfüllten Augen-
blicks spiegelbildlicher Repräsentation, der gegenwärtig nur als immer bereits
verlorener ist. Was Prousts „nachahmendem Verhalten" im Schreibprozess bleibt,
ist allein die Nachzeichnung der Bewegung des Entzugs dessen, was sich bereits
immer schon entfernt: ein authentisches Bild seines Lebens. Der Vorgang von
Prousts Erinnerungssemantik erweist sich als Wiederherstellung der Vergangen-
heit, die immer schon bereits verloren ist, als Übersetzung ohne Original.1J7
Genau dieser Aspekt ist es, der den Bildern der „memoire involontaire" ihre
Aura zuspricht. Auch wenn der Erzähler-Aufsatz den Begriff der Aura an die Er-
fahrung koppelt, so könnte man meinen, Aura sei eine Bestimmung eines vor-
modernen Modus der Erfahrung. Gleichzeitig aber verweist Benjamins Begriff
der „correspondances"158 auch auf den Ansatz einer anderen Deutung. Den Zu-
sammenhang von Aura und Spur im Erzähler-Aufsatz leistet eine Vermittlung
subjektiver und kollektiver Erfahrung. Nun scheint die Aura, trotz ihres Ver-
schwindens, auch in der Moderne erfahrbar zu sein, zumindest als unwieder-
bringlich verlorene. Bettine Menke zeigt, wie der Aura Begriff von Benjamin in
seiner Baudelaire-Studie im Zusammenhang mit seinem Begriff der „correspon-
dances" als moderne Erscheinung dadurch wiedererscheint, in dem es Baudelaire
gelingt, diese gerade als unwiederbringlich verlorene lesbar zu machen.1SI) In der
Konzeption der Aura, wie sie an die der „memoire involontaire" sich heften lässt,
gehe, so Bettine Menke, ihr .residualer' Charakter ein, ein Nicht-Mehr, in dem
aber gerade nicht mehr vorauszusetzen ist, dass sie vormalig war. Aura ist dem-
nach „ein Modus der ,Re'-Konstruktion ihres Verlorenseins"l6°. Sie wird erst als
Entschwindende sichtbar und ist somit die .„Erfahrung' des permanenten Ent-
schwindens oder Entschwundenseins des .Gegenstandes' ihrer .Erfahrung'""'1.
Benjamin schreibt: „Wenn man die Vorstellungen, die, in der memoire involon-
taire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren stre-
ben, dessen Aura nennt,"162 so meint „Aura" die Konstellation von Vorstellungen
um einen Gegenstand, die sich im Verlauf der Geschichte an diesen geheftet ha-
ben als Medium von Erfahrungen. Menke: „Die Korrespondenzen, die die aurati-
sche Umstellung des Gegenstands ausmachen, verdecken als Schleier seiner Ferne
nicht ein Eigentliches, sondern stellen ihn als einen nicht-identischen erst dar."163
Die „Einmaligkeit des Kunstwerks" ist — so Benjamin — „identisch mit seinem
Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition"164, d.h. einer Vielzahl von
157 Vgl. Samuel Weber: Tertium datur, in: Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geistes
Wissenschaften, München 1980, S. 204-221.
158 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, in: Benjamin I, S. 638.
159 Vgl. Menke: Sprachfiguren, S. 246.
160 Ebenda, S. 247.
161 Ebenda, S. 247.
162 Benjamin I, S. 644.
163 Vgl. Menke: Sprachfiguren, S. 248.
164 Benjamin I, S. 480.
MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANT1K UND MED1ALITÄT DER SPRACHE 1 3 7
Anwesenheiten und so schreibt Benjamin: „Wie sehr Proust im Problem der Aura
bewandert war, bedarf nicht der Unterstreichung."165 ,,[D]er identische Gegen-
stand, um den die Bewunderung wirbt, [ist also] in dem Werke nicht zu finden
[...], [sondern] sie erntet ein, was frühere Geschlechter an ihm bewundert ha-
ben."166 Damit wird die Verhüllung zum eigentlichen Original. „Die correspon-
dances geben Auskunft darüber, was unter solcher Verhüllung zu denken sei."167
Die „correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine histori-
schen, sondern Data der Vorgeschichte."168 „Man darf [die Verhüllung], mit ei-
ner freilich gewagten Abbreviatur, als das Abbildende' am Kunstwerk anspre-
chen. Die ,correspondances' stellen die Instanz dar, vor der der Gegenstand der
Kunst als ein treulich abzubildender, dadurch allerdings durch und durch apore-
tischer, vorgefunden wird. Wollte man versuchen, im Material der Sprache selbst
diese Aporie nachzubilden, so käme man dahin, das Schöne zu bestimmen als den
Gegenstand der Erfahrung im Stande des Ähnlichseins."169 .Correspondances'
sind „Kennzeichen" der „Welt im Stande der Ähnlichkeit", in der sie „herr-
schen"170.
Prousts Erinnerungssemantik ist ,Gewebe' der .correspondances' als das .Ab-
bildende", als „Nachahmung dessen, was an den Dingen undefinierbar ist"171.
Wenn Proust so seine Welt [die Vergangenheit Marcels] als eine in den „Stand
der Ähnlichkeit"1"- entstellte zur Darstellung bringt, ist sie als Gegenstand seiner
Erinnerungssemantik immer nur präsent als nicht-identische. Das verleiht ihr die
Aura, als .einmalige Erfahrung einer Ferne'. Wie für Benjamin das Kunstwerk ein
Gewebe in der Zeit ist, so ist auch Marcels Leben ein Gewebe aus nachträglichen
Korrespondenzen. Lesen, was „nie geschrieben wurde"173, wird erst im Lesen zum
Gegenstand, zur Spur ohne Ursprung.
Derrida: „Die .Wahrheit' wäre also nur eine Oberfläche, sie würde erst tiefe,
nackte begehrenswerte Wahrheit durch den Effekt eines Schleiers; der über sie
fällt. Wahrheit, die nicht durch Anführungszeichen in der Schwebe gehalten ist
und die die Oberfläche mit einer Geste der Scham wieder verhüllt. Es würde ge-
nügen, den Schleier in der Schwebe [...] zu lassen, damit es keine Wahrheit oder
nur die - so geschriebene - ,Wahrheit' gäbe."174 Wahrheit ist allein nur als ver-
hüllte sie selbst, ja sie ist geradezu diese Verhüllung. In diesem Zusammenhang
sei daran erinnert, wie bestimmte Anblicke in Combray dem Helden als „une ve-
rite ä lire" unter der Gestalt von „caracteres hieroglyphiques" r5 erscheinen.
Was Benjamin im Wahlverwandtschaften-Aufsatz über „das Schöne" sagt, be-
trifft auch die Wahrheit. Das Schöne ist gebunden an den „Schein" in Gestalt der
Hülle, „und als das Wesensgesetz der Schönheit zeigt sich somit, daß sie [die
Schönheit] als solche nur im Verhüllten erscheint."1"6 „Also wird allem Schönen
gegenüber die Idee der Enthüllung zu der der Unenthüllbarkeit."1^ Wollte man
das, was hinterm Schleier sich verbirgt, enthüllen, so würde dieses vielleicht als
„unendlich unscheinbar sich erweisen."178
Auch in der Erkenntniskritischen Vorrede zum Trauerspielbuch stoßen wir auf
den Begriff der verschleierten Wahrheit. In seinem Angriff auf den „Systembe-
grifT" der Philosophie „des XIX. Jahrhunderts"17'' kritisiert Benjamin einen „Syn-
kretismus", „der die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spin-
nennetz einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen."180 Die
Wahrheit kann für Benjamin nicht als Sachverhalt verstanden werden, der in Sät-
zen aussagbar oder begründbar ist. Die „Wesenheit des Wahren"181 ist „unum-
schreiblich". Das mit den Ideen gemeinte Wissen ist nicht systematisch erfassbar.
Während also das „System" die Wahrheit prädikativ auszusagen versucht, zielt
der Traktat auf das Einsichtigmachen des Unaussagbaren. Das System folgt ei-
nem strengen Beweisgang, dem gegenüber verzichtet der Traktat „auf den unab-
gesetzten Lauf der Intention [...]. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem
an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. [...] Wie bei der Stückelung
in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philoso-
phische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten
sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Hei-
ligenbildes, sei's der Wahrheit lehren."18' Wahrheit ist nicht durch Begriffsbe-
stimmung fixierbar, d.h. aber auch, sie ist dem Logos versperrt. Wahrheit ist nur
im Fragment, in unendlichen Sinnstufen, Denkbruchstücken, Mosaikteilen
denkbar, die wie der Schleier eine Essenz vortäuschen, die nur als fragmentarische
zu denken ist.183
fen vermag und sie damit dem wahren Sein übergibt, als welches Hegel bekannt-
lich das Denken bestimmt."I8l) Ihren Konzeptionen ist also gemeinsam, dass der
Schacht der Intelligenz die Vergangenheit in ihrer Totalität bewahrt. Hegel kennt
keine unwillkürliche Erinnerung, zu sehr ist er der „Grundprämisse [...] einer
selbstmächtigen Subjektivität"190 verschrieben.
Bei Proust zerfällt dieser Glaube an eine selbstmächtige Subjektivität. An die-
ser Differenz lässt sich ein geschichtsphilosophischer Bruch für Warning ablesen.
Zwar kennt die „memoire involontaire" in Analogie zur Hegeischen Gedächt-
nistheorie das Merkmal der Innerlichkeit und das der vollständigen Aufbewah-
rung der Vergangenheit. Es kennt aber nicht das Verständnis eines selbstmächti-
gen Subjekts. An seiner statt findet sich das Konzept einer unwillkürlichen Erin-
nerung. Proust feiert Erinnerung als Überwindung von Diskontinuität. Sie ist ge-
rade durch ihre Unverfügbarkeit gekennzeichnet, da sie nur durch einen Zufall
erweckt werden kann. Die Unmöglichkeit, die Geliebte zu verinnerlichen, hat
Konsequenzen für das erinnernde Ich, das nicht zurückgreifen kann auf ein Bild
im „Schacht der Intelligenz". Steht Hegel für die .Allgemeinheit des Ich", das mit
seiner Macht über die Bilder seiner Innerlichkeit verfügt, so steht Prousts Poetik
für ein Ich, das sich selbst unverfügbar ist.191 Erinnern wird keine Zusammenfü-
gung kohärenter Inhalte, sondern ein Prozess der Differenz. Besonders deutlich
wird dies auf der Matinee Guermantes, wo Marcel noch einmal in die Versu-
chung gebracht wird, gemäß seiner Erfahrung im „äge des noms"" 2 Zeichen und
Bezeichnetes als ein essentielles Ahnlichkeitsverhältnis zu interpretieren, denn im
Augenblick der Wiedererinnerung an Balbec und Venedig stellt der Erzähler an
sich selbst fest: „j'avais dte tente, sinon, ä cause de la saison, d'aller me repro-
mener sur les eaux pour moi surtout printanieres de Venise, du moins de retour-
ner ä Balbec."193 Aber er gibt dieser Versuchung, die er als Rückfall in die Zeit
seiner kindlichen Welterfahrung erkennt, nicht nach. „Non seulement je savais
que les pays n'etaient pas tels que leur nom me les peignait [...]. Mais, meme en
ce qui concernait ces images d'un autre genre encore, Celles du souvenir, je savais
que la beaute de Balbec, je ne l'avais pas trouvee quand j'y etais, et que celle
meme qu'il m'avait laissee, celle du souvenir, ce n'etait plus celle que j'avais re-
trouve ä mon second sejour."194 Marcel wendet also unbewusst die Saussuresche
Zeichentheorie selbst auf das Motiv der Erinnerung an: Zwischen Erinnerndem
und Erinnertem besteht eine unüberbrückbare Differenz, die jede Erinnerung als
Entstellung und Auslöschung endarvt. Gerade weil die Verschmelzung von Ver-
gangenheit und Gegenwart, von erinnertem und gegenwärtigem Ich, von Gedan-
kenproduktion und Wahrheitserkenntnis nur diskursiv geleistet werden kann,
steht sie dem eigentlichen Projekt der Recherche entgegen.i9i Dieser nicht durch
Textproduktion zu überbrückende Hiatus zwischen Zeichen und Bezeichnetem,
Erinnerung und Erinnertem führt statt zu einem Abbruch des Textes ganz im
Gegenteil zu einer Supplementierung dieser Leerstelle der Recherche in Gestalt ei-
ner „mörderischen Produktion"196 von Text.
Das Gedächtnis ist bei Proust ein Magazin19", in dem die Erinnerungen voll-
ständig bewahrt werden, ohne mit mnemotechnischen Mitteln auffindbar zu
sein. Ein weiterer Unterschied zur Mnemotechnik besteht darin, dass das Ich
selbst das Magazin der Aufbewahrung ist.198 Ein Bild verdeutlicht diesen Sach-
verhalt dort, wo Proust das Gedächtnis mit einer „bibliotheque immense" ver-
gleicht. Dort ist jeder gelebte Tag wie ein Buch deponiert „oü il y a des plus vieux
livres un exemplaire que sans doute personne n'ira jamais demander."199 Wenn
Proust daraufhin schreibt: „Notre moi est fait de la superposition de nos etats
successifs"200, so meint dies wiederum nicht, dass es ein reines, essentielles ,Ich'
am Urgrund der „superposition" gibt, sondern, dass es aus einem ständigen
Wechselspiel heraus entsteht. Auch die Metapher eines gelebten Tages in Gestalt
eines, wenn auch nicht jederzeit griffbereiten, so doch zumindest objektiv vor-
handenen Buches wird später untergraben in der Rede von den „caracteres hiero-
glyphiques"201, in denen die vergangenen Tage wie schwer zu lesende Zeichen
festgehalten sind, die statt auf einen festen Sinn, wieder nur auf weitere Interpre-
tationsmöglichkeiten verweisen.
Auf diese Weise wird - wie Benjamin sagt — das „Weben" der Erinnerung „die
Penelopearbeit des Eingedenkens" zum „Geflecht"202, das keinen Abschluss
kennt. „Wenn die Römer einen Text das Gewebte nennen, so ist es kaum einer
mehr und dichter als Marcel Prousts."203 Die Vergangenheit ist Marcel nur ver-
mittelbar durch die Erinnerung mit Zeichen und Worten, weil ein Zeichen auch
in der Abwesenheit der bezeichneten Sache funktioniert. In diesem Sinne ist das
Zeichen / die Zeichenproduktion sogar die Abwesenheit der bezeichneten Sache,
in unserem Fall die Vergangenheit Marcels. Mit all dem aber macht sich in der
Präsenz der Zeichen eine nicht zu tilgende Nichtpräsenz geltend.
Vergangenheit ist nur erinnerbar durch die sich mit Zeichen auf sie beziehende
Erinnerung. Das heißt aber auch, dass Vergangenheit nie ursprünglich und rein
ist, sondern abhängig von den sie supplementierenden Zeichen. Nur weil die
Vergangenheit immer wieder (neu) erinnert werden kann, erweist sie sich bei
195 Vgl. Klinken: Bewahren und löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon
und Thomas Bernhard, S. 44.
196 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 1986, S. 84.
197 Proust IV, S. S. 125
198 Vgl. Klinkert: Bewahren und löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon
und Thomas Bernhard, S. 74.
199 Proust IV, S. 125.
200 Proust IV, S. 125.
201 Proust IV, S. 457.
202 Benjamin II, S. 311.
203 Benjamin II, S. 311.
1 4 2 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
Proust als ursprünglich. Es soll damit die Nachträglichkeit jedes Ursprungs deut-
lich werden, der gerade, weil er nur als zeichenharter fassbar ist, immer schon in
der Position eines zweiten ohne ein erstes steht. Was aber für die Vergangenheit
gilt, gilt auch für ihren Sinn, den Marcel zu „übersetzen"204 sucht. Er empfängt
diesen nur im Feld einer „passe indefiniment deroule"205. Jede .memoire invo-
lontaire' gewinnt damit zusätzlich zu der schon erinnerten Vergangenheit noch
die Bedeutung hinzu, Bestandteil eines neuen Kontextes geworden zu sein und
„prolongee sans mesure [...] dans le Temps"206 in einer unendlichen Weise immer
anderen Kontexten eingefügt werden zu können. Es kommt somit der Mimesis
im Erinnerungs- und Schreibprozess nicht zu, sich in Gestalt einer abgeschlosse-
nen Ordnung darzustellen. Das „mimetische Vermögen" ist eine Form der Suche
immer nur vorläufig zu erschließender Spuren. „Die Abwesenheit sucht sich im
Buch selbst zu erzeugen und verliert sich, indem sie sich benennt."207 Die Mög-
lichkeit einer identischen Erinnerung geht so mit ihrer Unmöglichkeit einher.
Die Vergangenheit, der sich Marcel im Schreibakt zu bemächtigen sucht, ist eine
„passe indefiniment deroule que je ne savais pas que je portais."208 Sie weist eine
paradoxe Struktur auf: Sie wird immer schon gewesen sein.
Prousts Ziel einer Darstellung der Zeit, wie er sie einst in der Kirche von Com-
bray erahnte „et qui nous reste habituellement invisible"209, gelingt ihm unter der
Einschränkung „que nous occupions une place sans cesse accrue dans le Temps
r 1 "210
Jede Erinnerung setzt das, was sie nicht erinnert, und ist demnach von den
Spuren anderer möglicher Erinnerungen gekennzeichnet. Diese Relation begrün-
det die Präsenz seiner Erinnerung. Ursprünglicher aber als die Präsenz seiner Er-
innerung ist das Spiel von Abwesenheiten, dem sie sich verdankt. Dieses Spiel ist
unendlich, da in ihm fortlaufend neue und andere Gegebenheiten entstehen, die
die Bedeutung des schon Existierenden beeinflussen und auch in Zukunft beein-
flussen können. Die Vergangenheit Marcels ist immer schon mit allen anderen
Möglichkeiten sie zu interpretieren verbunden. Nur im Hinblick und als Verweis
auf dieses unbeschränkte Spiel von Bedeutungen von Marcels Vergangenheit ist
seine Vergangenheit sie selbst. Jede Vergangenheit wird wie jede Bedeutung, jeder
Sinn, jede Präsenz immer schon gewesen sein. Keine Erfahrung (auch nicht die
der memoire involontaire) kann eine absolute Einmaligkeit sein, in der etwas völ-
lig Einmaliges erfahren würde. Jede Erfahrung .erinnert immer schon an', .sieht
aus wie', .verweist auf, ist ,analog zu'.
„Die Repräsentation verflicht sich mit dem, was sie repräsentiert; dies geht so
weit, dass man spricht wie man schreibt, dass man denkt, als wäre das Repräsen-
tierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden. Gefährliche
Promiskuität, unheilvolle Komplizität zwischen Reflex und Reflektiertem, wel-
ches narzisstisch sich verführen lässt. In diesem Spiel der Repräsentation wird der
Ursprungsort ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses
Aufeinander-Verweisen, aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ur-
sprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur
sein Bild hinzugefügt."211
nicht mehr der Ort der wiedergefundenen Erinnerung, sondern die Spur ihres
Verlustes.
Insofern trifft Benjamins Selbstaussage über das Passagenwerk auch Prousts
Recherche, „nichts von alledem, was wir hier sagen, [ist] wirklich gewesen. All das
hat nie gelebt: so wahr, wie nie ein Skelett gelebt hat, sondern nur ein
Mensch."217 Über den Begriff der „Vergegenwärtigung" des Vergangenen,
schreibt Benjamin in seinem Aufsatz über Julien Green, dass erst diese „zweite
Gegenwart", „wie sie sich nie einem Zeitgenossen hätte darstellen können", „ver-
ewigt, was war"218. Und so war auch das „geheimnisvollste Antlitz der Antike nie
das ihres Lebens, nur das ihres magischen Nachwirkens."210
Ebenso relativieren die Worte Prousts, dass die Imagination „mon seul organe
pour jouir de la beaute"220 sei, die implizite Unmittelbarkeit der „memoire invo-
lontaire".221 Die Imagination leistet immer schon ihren Beitrag bei der Erinne-
rung. Der Erinnerung tritt immer schon die Imagination des Dichters zur Seite.
Dieser „reveille entre deux images disjointes des harmonies obliees, ä tout mo-
ment il nous fait respirer avec delices le parfum de la terre natale."222
Wie schwierig der Status der Erinnerung geworden ist, zeigt vor dem ,roman
d'Albertine' auch die Erinnerungspoetik am Beispiel der Madeleine-Episode, wo
Erinnerung und Fiktion letztlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
Nachdem Marcel versucht hat, dem Glücksgefühl der „memoire involontaire" auf
den Grund zu gehen, hält er schließlich inne: „II est temps que je m'arrete, la
vertu du breuvage semble diminuer. II est clair que la verite que je cherche n'est
pas en lui, mais en moi."223 Doch dann fährt er fort: „Grave incertitude, toutes les
fois que l'esprit se sent depasse par lui-meme; quand lui, le chercheur, est tout en-
semble le pays obscur oü il doit chercher et oü tout son bagage ne lui sera de rien.
Chercher?pas seulement: creer."224 Schon hier wird auf den kreativen Akt der Erin-
nerung verwiesen. Die Bemerkung reflektiert darauf, dass die an die Oberfläche
der Erinnerung empor getauchte Vergangenheit selbst nicht unverändert bleibt.
Erinnerung wird ein Akt der Kreation und somit auch ein Akt der Verstellung
und schließlich der Auslöschung. Erst die Erinnerung erzeugt das Erinnerte.
Oder anders formuliert: Der Erinnerungsakt supplementiert eine Fülle, die erst
durch das Supplement, das Beiwerk, als solche das verlorene Objekt der Erinne-
rung bewusst macht. Was die Erinnerung aktualisiert, ist nicht das Erinnerte,
sondern dessen eigene Leerstelle, dessen eigener Verlust. Als Neuschöpfung ist die
Vergangenheit immer ein Akt der Zeichenproduktion, ein supplementäres Ver-
217 Benjamin V, D 3.
218 Benjamin II, S. 331 f.
219 Benjamin II, S. 626.
220 Proust IV, S. 450.
221 Vgl. Billermann: Die .metaphore' bei Marcel Proust, München 2000, S. 234.
222 Proust: Contre Sainte-Beuve, S. 393, Paris 1971.
223 Proust I, S. 45.
224 Proust I, S. 45. (Hervorhebung D.F.)
MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 4 5
fahren in Gestalt einer Textproduktion. Dieses Konzept schließlich bricht mit der
„memoire involontaire", die von einer essentiellen Tiefen- bzw. Urschicht des
Vergangenen als gleichbleibendes Objekt ausgeht.
Zur weiteren Untermauerung der oben erwähnten Thesen soll im folgenden dar-
gestellt werden, wie Proust in einer zentralen Textpassage der Recherche den Ur-
sprungsmythos der griechischen und abendländischen Erinnerungskunst unter
den Bedingungen der Moderne deutet und uminterpretiert. Dabei zeigt sich
Proust bei genauer Textlektüre der „Matinee Guermantes" in dem Romanteil „Le
Temps retrouve" als ein Leser des griechische Dichters Simonides (6. Jahrhundert
v. Chr.), der als Erfinder der „ars moriae", der Gedächtniskunst, den Römern als
ein Lehrer der klassischen Rhetorik diente.
Das Prinzip der Simonidesschen Mnemotechnik beruht darauf, sich be-
stimmte „Orte auszuwählen und von den Dingen, die man im Bewusstsein be-
halten will, geistige Bilder herzustellen und sie an die bewussten Orte zu heften.
So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild
der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen."22'' Das Gedächtnis wird räumlich
gegliedert für die rhetorische Argumentation.
Renate Lachmann gelingt es in ihrer Interpretation der von Cicero und Quin-
tilian überlieferten Erzählung von Simonides von Keos geschichtsphilosophisch
die Bruchstelle aufzuweisen, an der Erinnerung aus dem Bereich der kultischen,
körperlichen Partizipation am Abwesenden zu einer repräsentativen auf Schema-
tisierung beruhenden Technik wird. In der Ciceronischen Version der Simoni-
des-Legende226 sind es die durch den Zusammenbruch des Hauses entstellten
Toten, die die Vergangenheit als eine nicht mehr entzifferbare Zeichenordnung
darstellen. Die Katastrophe besteht in der Erfahrung des Vergessens durch den
Einsturz des Hauses, die Verwüstung des Zeichenraums, in dem die Verun-
glückten bei einem Festmahl zusammengesessen haben. Die Gesichter der Toten
sind zerschmettert (bei Quintilian sind die Leichen zerstückelt). Nur durch die
Rekonstruktion der Sitzanordnung können die Verunglückten durch Benennung
identifiziert werden. Lachmann schreibt: „Die tabula der Speisenden wird in der
Einsturzkatastrophe zur tabula rasa. Als Gedächtnis-Totenfeld wird sie neu ge-
deckt. Auf die verheerte Tafel, die zerstörte Festordnung (die alte Ordnung) folgt
die Ordnung des Friedhofs. [...] Der Dichter wird zum Zeugen der alten, verlas-
senen, durch einen epochalen Einschnitt unkenntlich gemachten Ordnung, die er
225 Vgl. Cicero: De Oratore II 86, 351-352, (Lateinisch / Deutsch) Stuttgart 1976.
226 Cicero: De oratore II, 86, 352-87.
1 4 6 MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
durch ein inneres Schreiben und Lesen vermittels der Bilder, die wie Buchstaben
funktionieren, restituiert."227
Die Kunst der memoria erweist sich aber bei Cicero nicht mehr als Gedenk- und
Ahnenkult, sondern als Instrumentarium der Rhetorik. Renate Lachmann sieht
hier einen epochalen Bruch in der Gedenkkultur von einem „sinnlich erfahrbaren
Gedächtnisraum" von dem Simonides spricht, hin zu einer schematischen und
klassifikatorischen Erinnerungsform bei Cicero. „Die Ordnung des Wissens führt
zur Systembildung [,..]."228 Im Sinne einer „Klassifikation" des Wissens, geht es
bei Cicero um die Inhalte [!] der Rede, d.h. die Repräsentationen, die memoriert
werden sollen, nicht mehr um die Ahnen, auch wenn die Rede den Ahnen gelten
mag. Der sich im Anblick der Katastrophe erinnernde Augenzeuge wird durch
den ciceronischen Rhetor ersetzt, der geprägt ist durch seinen Hang zum Kalkül.
„Die natürliche' facultas wird manipuliert für Zwecke. [...] Die evidentia, ener-
geia, welche die ordo, die collocatio der vormals Speisenden in der Erzählung wie-
derherzustellen erlaubt, wird abgelöst durch die Fiktion."229 Während das Ritual
kein Gedenken im Sinne der Repräsentation sondern vielmehr Handlung der
Partizipation am Abwesenden ist, wird die Gedächtnishandlung bei Cicero zu ei-
ner „Vertretungshandlung, Verdoppelung".230 Die Erinnerungstechnik, d.h. die
Repräsentation, löst das Ritual ab. Diese Form der Gedächtniskunst hat aber mit
dem Verständnis einer Erinnerungskultur nichts mehr gemein.231
Die Simonides Geschichte ist nicht nur geschichtsphilosophisch als Aufweis
einer epochalen Bruchstelle von einer Mnemo- zu einer Repräsentationstechnik
interessant, sondern sie wird, wie ich im folgenden zeigen werde, von Proust
selbst in einer zentralen Schlüsselszene der Recherche im letzten Romanteil „Le
Temps retrouve" als Subtext zitiert und vor dem Hintergrund der Moderne — als
einer Zeit krisenhafter Ähnlichkeitsbeziehungen - interpretiert.
Eine der bedeutendsten Szenen des Romanzyklus ist bekanntlich die sich am En-
de der Recherche befindende Matinee Guermantes als der Ort, an dem die Irühe
Poetik der „memoire involontaire" ihre eigendiche Entschlüsselung finden soll.
Der Erzähler Marcel erfährt auf dieser Matinee nach einem ganzen Feuerwerk
unwillkürlicher Erinnerungen seine „vocation" zum Schriftsteller. Nach einem
nicht näher spezifizierten aber anscheinend doch sehr langen Zeitraum in ver-
schiedenen Sanatorien tritt nun Marcel hier seinen alten Freunden aus der Welt
des Faubourg Saint-Germain von neuem gegenüber. Doch ihm, dem .Salonlö-
wen', bietet sich statt der erwarteten Salonwelt plötzlich ein ganz unerwartetes, ja
geradezu barockes Trauerspiel dar. In den ersten Momenten seiner Ankunft er-
227 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur — Intertextualität in der russischen Moderne,
Frankfurt a.M. 1990, S. 22.
228 Ebenda, S. 23
229 Ebenda, S. 23.
230 Ebenda, S. 25.
231 Darauf verweist auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 29.
MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 4 7
kennt er niemanden wieder, ja er glaubt sich sogar auf einem Maskenball. Erst
allmählich kann er dank der Kraft der — die Vision premiere entziffernden — In-
telligenz, die durch Falten und Furchen ausgestatteten Masken als entstellte Ge-
sichter entziffern. Ein Bild der desaströsen Auswirkungen der Zeit stellt sich ihm
dar. „Au premier moment je ne compris pas pourquoi j'hesitais ä reconnaitre le
maitre de maison, les invites, et pourquoi chacun semblait s'etre ,fait une tete',
generalement poudree et qui les changeait completement."232
Es ist dieser inszenierte Einbruch der Zeit als Katastrophe, der es nahelegt, dass
Proust hier absichtlich die Simonides-Geschichte zitiert und auf eine, für die
cherche bedeutsame Form uminterpretiert. Dafür spricht auch Marcels kurzer
Zwischen-Aufenthalt in der Bibliothek im Hause der Guermantes, wohin ihn ein
Diener begleitet mit dem Hinweis, er möge dort bis zum Ende einer musikali-
schen Vorstellung im Festsaal ausharren. Dieser Zwischenstop gleicht dem Her-
ausrufen Simonides' im Sinne einer Absonderung vom Kreis der übrigen Gäste,
damit er selbst aufgrund einer göttlichen Fügung der Katastrophe entgeht.
Die vom Tod Gezeichneten, ja sogar von Marcel als Leichen und Puppen be-
schriebenen Gäste der Matinee233, gleichen den Leichen nach dem Hauseinsturz
bei Simonides. Ihre Gesichter sind zerstört234, ihre Bewegungen todgeweiht235.
Schließlich erkennt Marcel ebenso wie Simonides den Anspruch, den das Bild der
Zerstörung ihm nahelegt: Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Einbruch des
Todes in das Leben. Dabei bietet die Erinnerung gegen die Destruktion, die
gleichwohl den Beginn der Erinnerungsarbeit setzt, eine Rekonstruktionsarbeit
auf. Das Vergangene liegt vor den Augen Marcels in Trümmern. Als anscheinend
Einzigem, dem die Katastrophe der Todesverfallenheit des Faubourg auffällt,
wird er wie Simonides zum Überlebenden, der damit beginnt, die dem Tod Ver-
fallenen als Lebende in eine Vorstellung von ihnen zu transportieren. Die
che zitiert zwar den Urtext der Mnemotechnik, bricht aber gleichzeitig mit dessen
Erinnerungskonzept, da es Marcel nicht gelingt, einen sinnlich erfahrbaren, auf
„evidentia, energeia"15'' gegründeten Gedächtnisraum aufzubauen, was besonders
die Erinnerung an Albertine illustriert.237 Eine Rückkehr zu einer kultischen
Form der Erinnerung als Partizipation und Fortschreibung erweist sich somit
unter den Bedingungen der Moderne als unmöglich. Übrig bleibt nur der Schrei-
b e t . Dadurch bleibt aber Marcel der Ciceroschen Version der Mnemotechnikle-
gende verschrieben, und zwar dort, wo Cicero auf Bilder als Repräsentanten für
Dinge und Worte insistiert. Bei ihm wird der Prozess der identifizierenden Be-
nennung zu einem der stellvertretenden Bebilderung, wenn er schreibt: „Sic fore,
ut ordinem rerum locorum ordo conservaret, res autem ipsas rerum effigies nota-
ret atque ut locis pro cera, simulacris pro litteris uteremur."238 „So werde die Rei-
henfolge dieser Plätze die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge
aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können somit die Plätze anstelle der
Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen."239 Dabei erzeugt die
.techne' „einen Verdopplungsmechanismus, den der re-praesentatio, des Wieder-
in-die-Präsenz-Rückens des Abwesenden."240 Lachmann interpretiert dabei das
Konzept bildlich geprägter Erinnerungsstrukturen bei Cicero zeichentheoretisch:
Wenn Cicero sich die Bilder (= „Zeichenkomplexe"24') als Repräsentanten der
Dinge vorstellt, überlagern sie dabei das Original, denn jetzt sind sie es, die erin-
nert werden müssen. „Wie aber bezeichnen die Bilder die Dinge, die sie als zu
erinnernde zu bewahren haben? Usurpieren sie nicht eine Stellvertreterfunktion,
die die Dinge verstellt, das Vergangene/Abwesende unähnlich macht?"242 Die bei
Cicero ausgearbeitete Erinnerungsform hat selbst in ihrem Verweis auf Bild-
strukturen zeichentheoretische Konsequenzen. Sie betreffen die Proustsche Re-
cherche dort, wo sie ihrem eigenen Schreibprozess skeptisch gegenübersteht und
dabei ihr eigenes mnemotechnisches Tun als Verstellung und Manipulation in
Szene setzt. Sie beschreibt ein richtiges und falsches Bild von Marcels Vergangen-
heit, verweist auf dieses und kündigt gleichzeitig den Verweis auf. Sie rekonstru-
iert ein Abwesendes und verstellt es zugleich.243 Damit aber steht Prousts Recher-
che für ein Repräsentationsverständnis, das - ähnlich wie wir es bei Benjamin ge-
sehen haben - nicht mehr wie die klassische Mimesis-Theorie auf Ähnlichkeit in-
sistiert, sondern den Gedanken der Stellvertretung durch den einer schöpferi-
schen Arbitrarität ersetzt. Der Roman spielt mit der Lust am Verlust. Das mime-
sis-theoretische Konzept der Recherche beruht - so paradox diese klingen mag —
auf: Auslöschung des Gegenstandes im Moment seiner Erkenntnis. Als Trugbild
ist Marcels Vergangenheit eine durch Zeichen entstellte Rekonstruktion. Als Das-
selbe ist es das andere.
238 Cicero: De oratore, 355, nach Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 25.
239 Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 21.
240 Ebenda, S. 25.
241 Ebenda, S. 27
242 Ebenda, S. 27.
243 Auch Jan Assmann interpretiert, wenn auch in einem anderen kulturhistorischen Kontext, die
Erinnerung in ihrer dialektischen Verschränkung mit der Auslöschung am Beispiel der Schrift.
Einerseits ermöglicht sie „als externalisiertes Gedächtnis eine ungeahnte Ausdehnung zur Wie-
deraufnahme gespeicherter Mitteilungen und Informationen." Andererseits stehen mit diesen
„positiven neuen Formen [...] des Rückgriffs [...] die negativen Formen eines Vergessens" in
Verbindung und zwar „durch Auslagerung, [...] durch Manipulation, [...] Umschreibung und
Ersetzung." (Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 23)
M1MESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANT1K UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 4 9
Wie wir gesehen haben, ist für Benjamin und Proust Schrift und Sprache von ei-
ner Unheimlichkeit affiziert. Sie fördert eine gespenstische Kraft zutage, die
schließlich auch von einem anderen Autoren der Moderne, von Franz Kafka, na-
hezu zeitgleich thematisiert wurde. Schrift und Sprache sind, so legen die Auto-
ren in ihren Werken nahe, geprägt durch einen eigenen Automatismus, der sich
jeder letzten Repräsentation entziehend diese als Sehnsucht aber aufschiebend
produziert.
In der Bewegung der Schrift findet Kafka ein unstillbares Begehren. Er be-
schreibt dies in einem Brief an die Journalistin Milena Jesenska, der ihm zu einer
- Proust und Benjamin sehr naheliegenden - medientheoretischen Reflexion
über das Medium des Briefes (bzw. der Sprache) selbst Anlass gibt und auf andere
Momente der Schrift wie Angst, Faszination und Furcht hinweist.
„Alles Unglück meines Lebens — womit ich nicht klagen, sondern eine allge-
mein belehrende Feststellung machen will - kommt, wenn man will, von Briefen
oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben mich kaum
jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern
meine eigenen. [...] Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit
dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich
einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in ei-
ner Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeu-
gen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch
Briefe mit einander verkehren können! [...] Briefe schreiben aber heißt, sich vor
den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kom-
men nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege
ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört.
[...] Man kann sie übrigens auch an den Ausnahmen erkennen, manchmal lassen
sie nämlich einen Brief ungehindert durch und er kommt an wie eine freundliche
Hand, leicht und gut legt sie sich in die eigene. Nun wahrscheinlich ist auch das
nur scheinbar und solche Fälle sind vielleicht die gefährlichsten, vor denen man
sich mehr hüten soll, als vor andern, aber, wenn es eine Täuschung ist, so ist es
doch jedenfalls eine vollkommene."244
Der Briefverkehr, das ,Briefeschreiben' ist Kafka eine lustvolle Qual, die das
Medium der Schrift mit sich führt. „[...] diese Briefe sind doch nur Qual, kom-
men aus Qual, unheilbarer, machen nur Qual, unheilbare [...]."245 Und in seinem
Tagebuch vermerkt er: „Es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Ster-
bens."246 Kafka beschreibt in bildstarker Sprache ein erkenntnistheoretisches Pro-
blem. In seiner Frage, wie man „nur auf den Gedanken" käme, „daß Menschen
durch Briefe mit einander verkehren können", klingt ein Skeptizismus an, der
244 Vgl. Franz Kafka: Briefe an Milena, Frankfurt a.M. 1986, S. 301f, Brief von Ende März 1922.
245 Ebenda, S. 301, Brief vom November 1920.
246 Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt a.M. 1949, S. 420.
1 5 0 MIMESISTHEORET1SCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
den sprachlichen Zeichen nicht allzu viele Erfolgschancen der Verständigung zu-
spricht. Stattdessen haben sie eine andere Macht: die Macht, Adressat und Ab-
sender zu „Gespenstern" zu verwandeln. Milena Jesenska und Kafka werden zu
diesen „Gespenstern", da sie in einem Verhältnis der Ungreifbarkeit zueinander
stehen, die die Schrift in Kafkas Interpretation mehr vermehrt als vermindern
lässt. Übrig bleibt ein Austausch von Phantomen, der weitere Phantome, bzw.
Gespenster wie supplementäre Individualitäten erzeugt. Gerade über den Umweg
dieser Gespenstern adressiert sich dieser Brief. Die Schrift bietet dabei dem Autor
Kafka eine Obhut, eine Einhausung, die gleichzeitig als ein nicht endendes Leid
interpretiert wird. „Das Schreiben ist ein süßer, wunderbarer Lohn, aber wofür?
In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrich-
tes klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunk-
len Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige
Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben
nichts mehr weiß, wenn man im Sonnlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt
es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die
Angst nicht schlafen lässt, kenne ich nur dieses. Und das Teuflische daran scheint
mir sehr klar."247
Das, was Kafka das Teuflische der Schrift nennt, scheint dem zu entsprechen,
was sich bei Proust und Benjamin als Automatismus der Sprache erweist. Sie
nährt in der Artikulation aufschiebend das Phantombild einer .Präsenz', das sich
gleichzeitig entzieht. Schreiben als „ewige Qualen des Sterbens"248 ist die meta-
phorische Umschreibung eines unstillbaren Verlangens nach einer Schrift, die
mehr als ein Medium sein will und doch gerade in dieser Stellung befangen
bleibt.
Die Erinnerung kann nur deshalb eine Ergänzung, ein Supplement der Vergan-
genheit sein, weil die Vergangenheit keine natürliche Fülle ist und bereits von
den Eigenschaften gezeichnet ist, die allgemein der Erinnerung zuerkannt wer-
den: Kreativität und Irrtum. Erinnerung kann nur unter der Bedingung sekundär
und abgeleitet sein, dass die Vergangenheit als ursprüngliche nie existiert hat, dass
sie nie unversehrt, nie unberührt von der Erinnerung war, dass sie selbst immer
schon eine Form der Erinnerung ist, bzw. strukturell bedingt ist durch diese.
Proust zeigt: die Vergangenheit muss durch Erinnerung vervollständigt werden,
wenn sie wirklich sie selbst sein soll. Damit aber wird die Erinnerung ursprüngli-
cher als die Vergangenheit, bzw. sie kehrt die Hierarchie zwischen Vergangenheit
247 Franz Kafka: Briefe 1902-1924, Frankfurt a.M. 1995, S. 384/385 (Brief an Max Brod,
5.7.1922)
248 Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt a.M. 1949, S. 420.
MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 151
und Erinnerung um. Die Erinnerung stiftet den Sinn dessen, was sie aufschiebt
und als Vergangenes konstituiert.
Kann aber die Selbständigkeit der Erinnerung wirklich auf ein „fundamentum
in re", zumindest als Auslöser verzichten? Die Frage ist nicht eindeutig mit ja
oder nein zu beantworten, da sich beide Pole, Erinnertes und Erinnerung, gegen-
seitig zu bedingen scheinen. Der Auslöser der Erinnerung, das „fundamentum in
re", zeigt sich in Prousts Erinnerungssemantik ja gerade in seiner radikalen Insta-
bilität. Es ruht auf tönernen Säulen und kann je nach Kontext von der Phantasie
des Erzählers neu bestimmt werden. Kann man dann sagen, dass die Vergangen-
heit, nach der sich der Erzähler Marcel ausstreckt „da" ist? Ist sie wirklich als sta-
biles Fundament erfahrbar? Selbst wenn der Titel der Recherche ebenso wie das
Motiv der „memoire involontaire" dieses nahelegt, so erweisen doch die Alberti-
ne-Kapitel die Unmöglichkeit einer von der Phantasie und unterhöhlenden Erin-
nerungssemantik unberührten, ursprünglichen Vergangenheit. Auch die zirkuläre
Struktur der Recherche verdeutlicht dies. Das Ende verweist auf den Anfang und
umgekehrt, ohne dass der Leser wirklich ein „nunc terminal" zu sehen bekommt,
d.h. einen Moment, in dem der Erzähler Marcel die Niederschrift der Recherche
beginnt.249
249 Hans Robert Jauß hat diesen Aspekt untersucht und den Begriff des „nunc terminal" geprägt.
Er ist für ihn ein strukturelles Motiv der Infragestellung des Autors als Zentrum der Erzählper-
spektive der Recherche. Dabei zeigt Jauß bei seiner Untersuchung der Doppelstruktur von er-
zählendem und erzähltem Ich, wie Proust auf die Perspektive eines kohärenten und wissenden
Erzählers und einer teleologischen Reorganisation geschichtlicher Ereignisse, wie sie den Bil-
dungsroman charakterisieren, verzichtet. In der Madeleine-Episode sieht Jauß den Moment in
Szene gesetzt, an dem sich die „Doppelperspektive von erinnerndem und erinnertem Ich" (Vgl.
Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ,A la recherche du temps perdu', Kapitel III,
1955, S. 98-135) entzündet. Hier verschränken sich zwei verschiedene Erzählrichtungen: der
„Weg zurück" des erinnernden Ichs in die Vergangenheit und der „Weg vorwärts" des erinner-
ten Ichs in seine Zukunft als Schriftsteller. Die Erzählung lebt nun gerade aus dieser doppelten
Perspektive, jener „Distanz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem"(Jauß, S. 107) und der
Notwendigkeit für das erinnerte Ich, den Weg in die Zukunft noch einmal abzuschreiten.
Durch die wechselseitige Bedingung von erinnerndem und erinnertem Ich wird „der Weg des
Erinnerns in die erinnerte Zeit integriert." (Jauß> S. 108) Die Recherche prägt demnach eine
Textstruktur, die stets durch eine doppelte Perspektive bestimmt ist, eine Verdopplung, die sich
auch am Ende in dem Romanteil „Le Temps retrouve"' nicht durch ein - wie Jauß es nennt -
,nunc terminal' zugunsten des Erzählers auflöst. Der eigentliche Erzählakt muss aus der Recher-
che ausgeklammert werden, was dazu führt, dass die Recherche im Tempus der Unabgeschlossen-
heit, im „futur dans le passe" Qzuß, S. 109) abgefasst ist. In „Le Temps retrouve" wird der ei-
gentliche Schreibakt, der eigentliche Moment, in dem sich Marcel vor den Augen des Lesers an
den Schreibtisch setzt, nur im Verweis auf den kommenden Tag (also im futur dans le passe*)
antizipiert, selbst aber nicht in Szene gesetzt. Diese Leerstelle interpretiert Jauß als das Fehlen
eines ,nunc terminal', von dem aus der Erzähler auf seine Geschichte wie auf ein fest umschlos-
senes, bzw. abgeschlossenes Objekt aus der Distanz zurückblicken könnte, wodurch die „wie-
dergefundene Zeit zum .Objekt' der Erinnerung" (Jauß, S. 282) würde. Der fehlende Erzählakt
und die Integration des Erinnerns in die erinnerte Zeit lassen die Recherche zum „Roman des
Romans" werden. Er ist also geprägt durch eine Selbstbezüglichkeit (Autoreferentialität) und
wird zu einem, seine eigene Genese miterzählenden Text. Gleichzeitig aber bleibt der Text
durch die Ausblendung des eigentlichen Erzählaktes in einem allegorischen Sinne autorenlos,
denn der Moment, in dem sich das erinnerte und erinnernde Ich zu einem homogenen, die Be-
1 5 2 MIMESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE
deutung des Textes in sich versammelnden Autor zusammensetzen müsste, wird gerade nicht
beschrieben. Diese Leerstelle lässt den Text in seiner Autoreferentialität zurück, der kaum, dass
er am Ende ist, schon wieder von vorne beginnen könnte. Ein „nunc terminal", ein die Erzäh-
linstanz legitimierendes Zentrum gibt es nicht.
250 Benjamin IV, S. 400.
251 Benjamin IV, S. 400.
252 Benjamin IV, S. 400.
253 Benjamin IV, S. 400.
254 Benjamin IV, S. 400.
255 Benjamin IV, S. 401. (Hervorhebung D.F.)
M1MESISTHEORETISCHE ERINNERUNGSSEMANTIK UND MEDIALITÄT DER SPRACHE 1 5 3
ehern unserer späten Einsicht - wie Torsi in der Galerie des Sammlers - ste-
hen."263 Die Zitierbarkeit der Geschichte erweckt keine Wahrheit, die ewig die-
selbe bleibt. „Das wahre Bild der Vergangenheit h u s c h t vorbei", schreibt
Benjamin, und er fährt fort: „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Mo-
ment seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten."264
Der Bezug zu Prousts Erinnerungssemantik ist unübersehbar, denn auch Proust
artikuliert - wie oben dargelegt - die Suche nach der „temps perdu" als Lust am
Verlust, bzw. als Entähnlichung des Gegenstandes im Moment seiner Erkenntnis.
Ein ,wahres Bild' der Vergangenheit kann nie arretiert werden, weil sich dessen
Ursprung immer schon in Differenzen auflöst. Proustscher Erzähler und histori-
scher Materialist betrachten mit gleicher Sehnsucht die Geschichte und hoffen
auf ihre Rettung in die Gegenwart. Sie wollen die Vergangenheit vor einem fal-
schen Zugriff bewahren, der statt einer Einlösung des Rechtsanspruches der Ver-
gangenheit, Geschichte nur als Registrierung vergangener und damit bedeu-
tungsloser Zufälligkeiten (Proust) und Leiden (Benjamin) zulässt. Proust bezieht
sich dabei auf die individuelle Geschichte seines Erzählers. Ziel der Recherche ist
die Konstruktion seiner Berufungsgeschichte zum Schriftsteller durch die Insze-
nierung der „memoire involontaire". Hier werden die Zufälligkeiten, mit denen
die „memoire involontaire" ausgelöst werden, als Ausbruch aus einem linearen
und damit oberflächlich-falschen Zeitverständnis inszeniert. Diese Augenblicke
,reiner Zeit'265 werden von Proust wie heilbringende, ,messianische' Momente
vorgestellt. Darüber hinaus sind historischer Materialist und Proustscher Erzähler
Meister der Hermeneutik. Sie müssen dies sein, um auf ihre je eigene Weise die
Erinnerungen und Bruchstücke der Vergangenheit interpretieren zu können. Erst
die Hermeneutik garantiert die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart,
wobei der Verstehungsprozess nicht abschließbar ist.
Benjamin sucht die kollektive Rettung in seiner Geschichtsphilosophie. Der hi-
storische Materialist sucht den Ausnahmezustand' der Gegenwart außer Kraft
setzen und zwar, indem er die Konstellation erkennt, in der seine eigene Epoche
mit einer ganz bestimmten früheren steht. In diesem „messianischen" Moment
erkennt die Gegenwart im Anblick der Vergangenheit ihre Verantwortung vor
sich und vergangenen Generationen. Benjamin begründet so einen Begriff der
Gegenwart als der „Jetztzeit"266, ein Begriff der Anleihen an der jüdischen Mes-
siaslehre nimmt. Benjamins Rede vom „messianischen Moment" und Prousts
„memoire involontaire" wirken somit wie analoge Gedankengänge, denen es um
den Einbruch einer neuen Dimension in den „petit traintrain"267 der Realität
geht. Gleichzeitig sind die Differenzen unübersehbar. Das individuelle Glück, das
den Proustschen Erzähler immer wieder überkommt, ist für Benjamin keines,
ohne dass die Rettung der Vergangenheit ganz die gesellschaftliche Gegenwart
durchdringt. Hier ist seine deutliche Skepsis gegenüber Proust begründet. Das
individuelle Glück, das Proust in der Recherche inszeniert, bleibt für den späten
Benjamin nur eine minderwertige Privatangelegenheit. Kollektive Erfahrungen
können aus der „memoire involontaire" nicht entspringen.
Wenn Benjamin schreibt, das wahre Bild der Vergangenheit „huscht vorbei"
dann artikuliert er damit eine Kritik am Historismus. Dieser steht für Benjamin
unter dem Motto „Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen." ,,[D]ieses Wort,
das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus
genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen
wird."268 „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die
homogene oder leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet."269 So wollte
Benjamin in seinem Passagenwerk verfahren: „Geschichte schreiben heißt [...]
Geschichte zitieren.'"70 Damit aber bricht er mit dem Begriff der traditionellen
Wahrheit der Vergangenheit. „Entschiedene Abkehr vom Begriff der .zeitlosen
Wahrheit' ist am Platz."271
Benjamins Selbstaussage über das Passagenwerk betrifft auch Prousts
che, „nichts von alledem, was wir hier sagen, [ist] wirklich gewesen. All das hat
nie gelebt: so wahr, wie nie ein Skelett gelebt hat, sondern nur ein Mensch."272
Über den Begriff der „Vergegenwärtigung" des Vergangenen, schreibt er darüber
hinaus in seinem Aufsatz über Julien Green, dass erst diese „zweite Gegenwart",
wie sie sich nie einem Zeitgenossen hätte darstellen können, „verewigt, was
war"1771. Und so war auch das „geheimnisvollste Antlitz der Antike nie das ihres
Lebens, nur das ihres magischen Nachwirkens."274
In den vorhergehenden Kapiteln haben wir gesehen, dass für Proust und Benja-
min die Sprache nicht mehr für ein repräsentationslogisches Modell steht, wie es
die abendländische Metaphysik beherrschte. Beide Autoren versuchen vielmehr
aufzuweisen, wie die Sprache diese Dualität aufgrund ihrer besonderen Medialität
immer auch schon überwunden hat.
Eine Sprachgestalt, die für Benjamin geradezu mustergültig für das in seiner
Sprach- und Mimesislehre thematisierte zerbrochene Repräsentationsverhältnis
steht, ist die Allegorie, die im Zentrum dieses Kapitels steht. Keine Sonderform
der Sprache taucht für Benjamin rein zufällig auf in den Werken einer Epoche,
sondern birgt oft spezifische historische Gründe, die benannt werden wollen.
Dies erklärt, warum Benjamin der Allegorie seine Aufmerksamkeit in der Ausein-
andersetzung mit dem deutschen Trauerspiel und den Gedichten Charles Bau-
delaires zukommen lässt. Benjamin schreibt von der Allegorie, sie sei für ihn ein
Zentrum der „poetischen Strategie"1. Sie ist dies für Baudelaire, auf den Benja-
min dieses Zitat münzt. Sie ist dies aber auch für Proust, der an zentralen Stellen
innerhalb der Recherche die Allegorie zum Muster einer scheiternden Verweisung
auf eine Bedeutung hin macht und damit uns ein einbrechendes Repräsentations-
verhältnis vor Augen führt, für dessen Unversehrtheit noch in vormoderner, klas-
sischer Zeit das Symbol stand.
Gegenüber der Allegorie vertritt das Symbol für Hans-Georg Gadamer „keine
beliebige Zeichennahme oder Zeichenstiftung [...]", sondern es setzt einen „me-
taphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraus."2 „Im
Begriff des Symbols klingt [...] ein metaphysischer Hintergrund an, der dem
rhetorischen Gebrauch der Allegorie ganz abgeht."3 So erfährt das Symbol An-
schaulichkeit und eine repräsentative Bedeutung, die besonders in der deutschen
Klassik Anklang fand.4 „Ein Besonderes vertritt ein Allgemeines, insofern es ein
1 Benjamin I, S. 603.
2 Gadamer: Wahrheit und Methode, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 79.
3 Ebenda, S. 79.
4 In einer berühmten Formulierung prägt Goethe gegenüber Friedrich Schiller in einem Brief seine
Neudefinition des Symbolbegriffs. Am 17. 8. 1797 schildert er seine .sentimentalische' Stim-
mung, die Eindrücke von Frankfurt in ihm auslösen. Die Gegenstände, die eine solche Nachwir-
kung hervorrufen, sind ihm „symbolisch [...], d.h. wie ich kaum zu sagen brauche: es sind emi-
nente Fälle, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentanten von vielen ande-
ren dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen [...]." Diese Erfahrung hilft ihm, die Gefahr
der „millionenfachen Hydra der Empirie" zu bannen. Hans-Georg Gadamer betont, dass diese
Erfahrung für Goethe .nicht so sehr eine ästhetische als eine Wirklichkeitserfahrung' sei. (Vgl.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 82) Das Symbol steht in der Poetologie Goe-
thes am Beispiel seines Wilhelm Meisters für einen ungebrochenen Bezug des Einzelnen zu einer
158 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
charakteristischer und eminenter Teil dieses Allgemeinen ist, und macht dieses
Allgemeine dadurch gegenwärtig, d.h. bewusst, vorstellbar, überschaubar.'"' Diese
Totalität, wie sie das Symbol ausdrückt, gibt es nicht mehr in der Moderne, wes-
wegen sie die Allegorie dem Symbol vorzieht.
Zwischen Symbol und Symbolisiertem herrscht eine notwendige Kontiguität.
Die Allegorie dagegen setzt zwei Bedeutungszusammenhänge, die diskontinuier-
lich verbunden sind. Während das Symbol eine Verschmelzung von Subjekt und
Objekt inszeniert, betont ihr gegenüber die Allegorie gerade die Unvereinbarkeit
beider Sphären. „AUegory [...] is the instance of ,mechanic form', of a deliberate
yoking together of the heterogeneous, while the Symbol is a case of ,organic form'
based on the intuitive grasp of natural relationships."6 Die Arbitrarität der Allego-
rie, ihr Widerstreben nach einer Integration in einen Verweisungszusammenhang
macht sie zur Signatur der Moderne und zu einem wichtigen Motiv in den Wer-
ken von Proust und Benjamin. Sie steht in ähnlicher Weise bei den beiden Auto-
ren für ein „Herausreißen der Dinge aus den ihnen geläufigen Zusammenhän-
gen"7 und für einen Einbruch im Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem.
In dem ersten Teil dieses Kapitels werden wir auf Benjamins Analyse der Alle-
gorie im „Ursprung des deutschen Trauerspiels" eingehen. Im zweiten Teil wer-
den wir zeigen, wie Proust am Beispiel allegorischer Gemälde von Giotto die Al-
legorie interpretiert und inwiefern Marcels Rede von der „figure allegorique" dem
Wesen seiner Geliebten, Albertine, als „etre de fuite" entspricht.
abgeschlossenen Totalität, in die sich das Individuum dem Bereich der Gesellschaft (vertreten
durch die Turmgesellschaft) eingliedert. Moretti: "the sense of the whole is finally visible." (Vgl.
Franco Moretti: The Way of the World - The Bildungsroman in European culture. New York
2000)
5 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1988, S. 70.
6 Jonathan Culler: Literary History, Allegory, and Semiology, in: New Literary History, VII, 2,
1976, S. 263.
7 Benjamin I, S. 670.
8 Benjamin III, S. 192.
9 Benjamin III, S. 192.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 159
Anspruch bleibt Benjamin mit seinem Trauerspielbuch auf der Spur seiner frühe-
ren Traktate über die Sprache, in denen er sich mit der magisch-physiogno-
mischen Seite der Sprache jenseits ihrer verbalen Inhaltsseite als ,Sprachmagie' be-
schäftigte. Er sucht nach einem prägenden Prinzip, das sich unmittelbar in den
verbalen Inhalten manifestiert. Benjamin fragt nach der „Idee" des Trauerspiels
als einer, die sich nach überindividuellen historisch bestimmenden Kräften her-
ausgebildet hat. Der Begriff „Idee" verweist statt auf einen platonischen Ideen-
himmel auf historische Kräfte als vom Subjekt unbeeinflusstes Gravitationsfeld.
Die prägende Gewalt historischer Prozesse hat einen Ausdruck" hervorgerufen,
der sich an und nicht in den sprachlichen Phänomenen der Trauerspiele entzif-
fern lässt.10
Der Begriff „Idee" zitiert Piatons ontologische Spaltung der Welt in zwei
Welten mit dem Ziel einer diesseitigen Umdeutung in der Aufspaltung zweier
Sprachbereiche: der mitteilenden inhaltlichen und der magisch-überindividuellen
Sprache, die bedingt ist durch anonyme Gravitationskräfte der Geschichte. Die
„Idee" ist nicht in den einzelnen Allegorien als Inhalt enthalten, vielmehr gehört
sie als „solche [...] einem grundsätzlich anderen Bereiche an als das von ihr Er-
faßte. Es kann also nicht als Kriterium ihres Bestandes aufgefaßt werden, ob sie
das Erfaßte wie der Gattungsbegriff die Arten unter sich begreift [...]. Die Ideen
verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen."11 Es geht, wie
Heymann Steinthal sagt, Benjamin darum, was „in der Sprache waltet", ohne
dass sie „das mindeste davon enthält".12 Die „Ideen" erscheinen als eine „prägen-
de Gewalt" nur in den Phänomenen und nicht jenseits von ihnen.
Die Definitionen der Allegorie aus der deutschen Klassik stimmen in der Auf-
fassung überein, sie sei im Unterschied zum Symbol ein bloßes arbiträres Zei-
chen." Benjamin führt nun im Trauerspielbuch als wesentlichen Unterschied
zwischen Symbol und Allegorie den Sachverhalt an, dass die Beziehung zwischen
Signifikant (Laut oder Schrift) und Signifikat (Gemeintes, Referent) im Symbol
auf einer ursprünglichen Verwandtschaft zwischen beiden Elementen beruhe,
während diese enge Bindung in der Allegorie des barocken Trauerspiels aufgelöst
sei. Das schon in der antiken Rhetorik erwähnte Merkmal einer Spannung zwi-
schen Signifikant und Signifikat14 greift Benjamin als Wesensart der Allegorie des
10 Menninghaus: „Die „Idee" einer Sprache als solcher existiert nicht als ein unmittelbar dingfest zu
machender (besitzbarer) .Gegenstand der Erkenntnis', sondern ist, als eine ,das Wesen (der) Em-
pirie... prägende Gewalt', nur als ein ,Sich-Darstellendes' - nämlich in den Phänomenen sich
Manifestierendes, aber nicht durch die Phänomene Ausgesagtes «fahrbar." (Vgl. Menninghaus:
Sprachmagie, S. 85f., Zitate von Benjamin: I, 207f.)
11 Benjamin I, S. 214.
12 Vgl. Heymann Steinthal: Kleine sprachtheoretische Schriften, neu zusammengestellt und mit ei-
ner Einleitung versehen von Waltraud Bumann, Hildesheim/New York 1970, S. 424.
13 Vgl. Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de
Mans, in: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1992, S. 293f.
14 Die Vorstellung von der Allegorie als einer den Analogie-Figuren wie der Metapher entgegenzu-
setzenden Figur der „Unähnlichkeit" findet sich schon in Texten der antiken Rhetorik: Quintili-
ans Definition: .Allegoria... aut aliud verbis aliud sensu ostendit aut etiam interim contrarium."
160 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
(zitiert nach Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk
Paul de Mans, in: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1992, S.
293)
15 Vgl. Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de
Mans, in: Willem van Reijen (Hg): Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1992, S. 293.
16 Benjamin I, S. 405f.
17 Benjamin I, S. 406.
18 Vgl. Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie..., S. 293.
19 Benjamin I, S. 350.
20 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1984, S. 92ff.
21 Benjamin I, S. 352.
22 Benjamin I, S. 343.
23 Benjamin I, S. 258f. Benjamins zunächst instinktive Erkenntnis, dass im Barock jene Heilsge-
wißheit fehlte, die im Mittelalter den Menschen gegenwärtig war, wurde durch die Forschung auf
dem Feld der Emblematik bestätigt. Albrecht Schöne verweist in seinem Buch „Emblematik und
Drama im Zeitalter des Barock" auf den Wechsel der Verweisungssemantik der Welt auf eine
jenseitige Heilsordnung. Die mittelalterliche Allegorese begriff sich „in ihrem eigentlichen Sinn
als inspirierte, von daher objektiv verbindliche Darstellung der den Dingen innenwohnenden
gottgewirkten Verweise." (Vgl- Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Ba-
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 161
rock, München 1968, S. 47) Die Emblematik des 16. Jahrhunderts setzt die „Wirrnis des Seien-
den in ein Mosaik von Sinnfiguren um", ohne aber den „Hinweis auf den Schöpfer" oder einen
„auf die götdiche Sinnmitte hingeordneten Heilsbezug." (Schöne, S. 47) In der dem Mittelalter
ferner stehenden Literatur nimmt die Verbindlichkeit tradierter Bedeutungen ab.
24 Benjamin I. S. 350.
25 Benjamin I, S. 350f.
26 Benjamin I, S. 346.
27 Benjamin I, S. 351.
28 Benjamin I, S. 351.
29 Benjamin I, S. 319.
30 Benjamin I, S. 352.
162 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
Bilder miteinander. Vor allem herrscht dabei der Gegensatz."31 Die barocke Alle-
gorie ist nicht zu reduzieren auf eine bloße Weise der Bezeichnung.32 Das bedeu-
tende allegorische Bild hat „nichts Dienendes an sich, fällt beim Lesen nicht ab
wie Schlacke. Ins Gelesene geht sie ein als dessen ,Figur'".33 .Figur' meint hier
nicht die Figur des Allegorisierten, d.h. der Bedeutung, sondern die Figur des
Allegorisierens selbst.34
Die Allegorie verweist als Emblem auf ihren eigenen Verweischarakter, der sich
nicht auflöst auf der Seite des Bedeuteten. Die Bedeutungen halten kaum in ei-
nem ganzen Dialog durch, sondern ersetzen sich gegenseitig. Statt von den Be-
deutungen ausgelöscht zu werden, behalten die (allegorischen) Bilder die Über-
hand gerade durch die Unmöglichkeit, im Spiel und Gegenspiel sie auf eine letzte
Bedeutung zu beziehen. Die allegorischen Bilder entfalten ein eigenes „erregen-
des" Spiel.-" Verwandlung selbst wird zum „Schema"36. Die Signatur der allegori-
schen Bilder des Barock besteht darin, „Unvollendung und Gebrochenheit [...] zu
gewahren." In der Auseinandersetzung mit dem barocken Drama ist diese Er-
kenntnis die als Bedeutung zurückbleibende Spur der Allegorie.37 Sie kann in ih-
rem Spiel als nicht-signifikative Spur ihrer eigenen Bedeutung gelesen werden.
Die Allegorie ist Ausdruck des Allegorisierens selbst.
Dies trifft zu für diejenigen Allegorien, die einen Sturz von „Sinnbild zu Sinn-
bild"38 zeigen. Die Allegorie, die Ausdruck des Allegorisierens ist, ist für Benja-
min auch das Bruchstück, das „hochbedeutende Fragment", „es ist die edelste
Materie der barocken Schöpfung."3'' Die Antinomie der Allegorie teilt sich nach
Benjamin in zwei Aspekte: Der erste beruht auf dem Zusammenspiel von Belie-
bigkeit und göttlicher „Kodifikation". Der zweite verweist auf die „religiöse Dia-
lektik des Gehalts" barocker Allegorisierung aus der Konfrontation der Vergäng-
lichkeit und dem Umschlag in Heilserfahrung. In der Dynamik der Beliebigkeit
unendlich vieler Bedeutungen auf der Suche nach der sakralen Festgelegtheit
bleibt die Allegorie nicht stehen. Sie führt den Umschlag aus der Gottesferne in
das Bewusstsein der Präsenz Gottes vor. Mit der „Einsicht ins Vergängliche der
Dinge" korrespondiert in der Allegorie die „Sorge, sie ins Ewige zu retten"40.
Auch wenn die Allegorisierung ihren Gegenstand mortifiziert, lässt sie ihn als
,,tote[n], doch in Ewigkeit gesicherte[n]" 41 zurück. So liegt er „vor dem Allegori-
31 Benjamin I, S. 404.
32 Benjamin I, S. 339.
33 Benjamin I, S. 388.
34 Vgl. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 115.
35 Benjamin I, S. 352.
36 Benjamin I, S. 403.
37 Vgl. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 116.
38 Benjamin I, S. 405.
39 Benjamin I, S. 354.
40 Benjamin I, S. 397.
41 Benjamin I, S. 359.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 163
ker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. Das heißt: eine Bedeutung, einen
Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm
das zu, was der Allegoriker ihm verleiht."42
42 Benjamin I, S. 359. Das Zitat geht wie wie folgt weiter: „Er [der Allegoriker] legt's in ihn hinein
und langt hinunter: das ist nicht psychologisch sondern ontologisch hier der Sachverhalt. In sei-
ner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm
ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht
den Schriftcharakter der Allegorie." (Ebenda)
43 Benjamin I, S. 361.
44 Benjamin I, S. 354.
45 Benjamin I, S. 359.
46 Benjamin I, S. 353.
47 Benjamin I, S. 392.
48 Vgl. Meinninghaus: Sprachmagie, S. 115f. Dazu auch: Harald Steinhagen: Zu Walter Benjamins
Begriff der Allegorie, in: Walter Haug (Hg.): Form und Funktionen der Allegorie, Stuttgart
1979, S. 666-685. Steinhagen stellt die barocke Allegorie als Ausdruck des Sieges des modernen
Nominalismus über den scholastischen Realismus. Der mit dem Sieg des Nominalismus verbun-
dene .Substanzverlust' wird nach seiner Meinung im Barock im Begriff der Vergänglichkeit und
der Nichtigkeit alles Seienden reflektiert. (Ebenda, S. 669) Der barocke Allegoriker ist „radikaler
Nominalist". (Ebenda, S. 672) Der Nominalismus am Ausgang des Mittelalters wollte zeigen,
164 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
Die Leblosigkeit der Körperteile ist unabdingbar, denn „die Allegorisierung der
Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen."49 Wenn zur Eigenart
der Allegorisierung, die Verwendung der Dinge als Signifikanten beliebiger Be-
deutungen gehört, setzt dies die Abgestorbenheit der Gegenstände voraus.,u Denn
„an Bedeutung" kann dem Gegenstand nur dann zukommen, „was der Allegori-
ker ihm verleiht'"51, wenn er keine Inhalte mehr trägt, d.h. tote Materie ist. Al-
brecht Schöne schreibt dazu: ,„Der Schauplatz liget voll Leichen / Bilder / Cro-
nen / Zepter / Schwerter etc.' So wenig wie Cronen bestimmter Könige, sind das
die Leichen bestimmter Personen. Sie werden nicht identifiziert, gehören als
Schaustücke tatsächlich zur Bühnenausstattung und geben das Theater [...] als ei-
nen .Schauplatz der Sterblichkeit' zu erkennen."52 Die Leiche als Requisit steht
nicht nur für die Vergänglichkeit des Menschen, sondern gleichzeitig - so Schöne
- für „ihr Erstarren zum Schaubild" und deren „Überwindung", eine „Erhebung
ins Dauernde". Je lebensvernichtender das Requisit, um so deutlicher wird die
Notwendigkeit der Transzendenz, die gerade „in den Todesmalen"53 sich ankün-
digt. So kann Benjamin sagen: „Das barocke Kunstwerk will nichts als dauern
und klammert sich mit allen Organen ans Ewige."54
dass es nicht an sich seiende Wesenheiten, Universalien, sind, die, als metaphysische Prinzipien,
den einzelnen, konkret daseienden Dingen ihre Wesen verleihen. (Vgl. zum Universalienstreit:
Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere, Stuttgart 1992)
49 Benjamin I, S. 391.
50 Vgl. Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie..., S. 299.
51 Benjamin I, S. 359. Das Zitat geht wie wie folgt weiter: „Er [der Allegoriker] legt's in ihn hinein
und langt hinunter: das ist nicht psychologisch sondern ontologisch hier der Sachverhalt. In sei-
ner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm
ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht
den Schriftcharakter der Allegorie." (Ebenda)
52 Schöne: Emblematik, S. 217f.
53 Benjamin I, S. 406.
54 Benjamin I, S. 356.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 165
kelt, die sich mit allem dem deckt, was unter dem Begriff der Allegorie ich selbst
zu fassen suchte."55
Hans Robert Jauß hat als einer der ersten die allegorischen Formen der Recherche
in die mittelalterliche Tradition gerückt, indem er sie als „überpersönliche We-
senheiten"56 interpretiert. Er ging in diesem Zusammenhang von der Frage aus,
wie sich ein konstanter psychischer Prozess bei dem Erzähler Marcel in seiner
Dauer darstellen kann, wo doch die Zeitlichkeit seines Bewusstseins primär durch
eine heterogene Folge von Zeitparzellen bestimmt ist.57 Die Konstanz psychologi-
scher Vorgänge wird - so Jauß' These — dadurch hervorgerufen, dass die Zeit
„allegorisch-mythische Gestalt" annimmt, wie sie im „Roman de la Rose"58 aus
dem frühen 13. Jahrhundert hervortritt. „Insofern bewusstseinsimmanente Vor-
gänge wie .Vergessen', ,Gewohnheit', .Betrübnis' im Laufe der Erzählung sicht-
lich über den innerseelischen Bereich hinauswachsen und sich [...] als überper-
sönliche Mächte enthüllen können, fühlt sich der Betrachter plötzlich an die al-
legorischen Figuren im Roman de la Rose erinnert, wo ähnliche Wesenheiten wie
Oubli, Habitude, Chagrin erscheinen und zugleich als ,Potenzen' wirksam sind."59
Jauß zitiert als Pendant aus der Recherche eine Passage aus „Sodome et Gomor-
rhe": „L'amour cause ainsi de veritables soulevements geologiques de la pensee.
Dans celui de M. de Charlus [...] s'etaient brusquement dresses, dures comme la
pierre, un massif de montagnes, mais de montagnes aussi sculptees que si quelque
statuaire, au lieu d'emporter le marbre, Pavait cisele sur place et oü se tordaient,
en groupes geants et titaniques, la Fureur, la Jalousie, la Curiosite, l'Envie, la
Haine, la Souffrance, l'Orgueil, l'Epouvante et l'Amour."60
Jauß untersucht die Zusammenhänge, in denen die Allegorien in „statuarischer
Monumentalität"61 auftauchen und als Zentralbegriffe der Proustschen Seelenfor-
schung begegnen. Marcel gerät in diesen Bannkreis unbegreiflicher Mächte,
„forces occultes"62, die ihn wie ungreifbare Wesenheiten umtreiben. Jauß gibt ein
Beispiel anhand der „Habitude". „Sie taucht überall auf, um sogleich wieder zu
entfliehen und versetzt .Marcel', nachdem ihn einmal ihre ,Pfeile' [...] getroffen
haben, in eine ständige Bewegung der Verfolgung. Sie inkarniert sich in der
Gruppe der „Jeunes Filles" wandert als beaute fluide, collective et mobile [...] im-
merzu von der einen zur anderen, foppt ihn in seinem misslungenen Abenteuer
mit Albertine und ist so plötzlich wieder entschwunden wie die Saison am
Strand."63
Benjamin scheint noch einen anderen Aspekt in der Behandlung der Allegorie
in der Recherche zu entdecken. In der zu Beginn dieses Kapitels in seinem Mos-
kauer Tagebuch erwähnten Textstelle über die Caritas-Darstellung von Giotto,
erkennt Marcel in der Recherche den Wahrheitsgehalt der mit dem Dienstmäd-
chen verglichenen Caritas gerade darin, dass sie eine ,„Caritas' ohne Liebe" ist
und die Dienstmagd allegorisch werden lässt: als .Nichtteilnahme der Seele an der
Tugend'. ,,[L]a servante enceinte [...] elle-meme ne me semblait pas beaucoup
moins allegorique [...] cette non-participation (du moins apparente) de l'äme
d'un etre ä la vertu [...]."M Schon die Einführung der Dienstmagd weist eine Be-
sonderheit auf: „La fille de cuisine etait une personne morale, une institution
permanente ä qui des attributions invariables assuraient une sort de continuite et
d'identite, ä travers la succession des formes passageres en lesquelles eile s'incamait: car
nous n'eümes jamais la meme deux ans de suite."65
Schon wenn Marcel die Position/Institution der Dienstmagd an der Seite der
altgedienten Haushälterin Francoise im familiären Personenkosmos einführt, er-
weist sich diese als zweideutig, da sie als Institution gleichbleibend sich im Ein-
zelfall nie länger als zwei Jahre an der Seite von Francoise durchhält und als „suc-
cession des formes passageres" auftritt, was ein Licht auf ihr allegorisches Wesen
wirft. „[La fille de cuisine] rappelaient les houppelandes qui revetent certaines des
figures symboliques de Giotto dont M. Swann m'avait donne des photographies.
C'est lui-meme qui nous l'avait remarquer et quand il nous demandait des nou-
velles de la fille de cuisine il nous disait: .Comment va la Charite de Giotto?'
D'ailleurs elle-meme, la pauvre fille, engraissee par sa grossesse jusqu'ä la figure,
jusqu'aux joues qui tombaient droites et carrees, ressemblait en effet assez ä ces
vierges, fortes et hommasses, matrones plutot, dans lesquelles les vertus sont per-
sonnifiees ä l'Arena."66
63 Ebenda, S. 233. Warnings Kritik an Jauß: „Wenn nun Jauß [...] die Allegorien deutet als .For-
men, in welche die Zeit sich kleidet', dann erscheint mir eben dieser Widerspruch verdeckt [...].
Nun sind [...] die Allegorien nicht eigentlich Kleider, in die die Zeit selbst sich hüllt, sondern sie
sind stilistische Interpretamente, die, wie die metonymischen Metaphern, in der Spannung eines
doppelten Subjektbezugs stehen. Sie verweisen auf den Protagonisten Marcel, der die jeweilige
Situation in der Betroffenheit durch überpersönliche Mächte erlebt, wie auch auf den Erzähler
Marcel, der diese Betroffenheit allegorisch bekennt. Die Allegorien stehen für die destruktive
Potenz eines Imaginären, denen das Ich die Autonomie des Selbstbewußtseins opfert Die Allego-
rien sind nicht Stationen auf einem Weg, der einmündet in die Selbstenthüllung der Zeit als
prineipium individuationis, sondern sie bezeichnen jene Ebene der Recherche, die das genaue Ge-
genteil aller Individuation inszeniert: den .dechirement pr^cieux', die Zerreißung, die schmerz-
hafte Entdifferenzierung." (Warning: Proust-Studien, S. 139f.)
64 Proust I, S. 81.
65 Proust I, S. 79. (Hervorhebung von D.F.)
66 Proust I, S. 79f.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 167
Konnte Marcel als Kind in den Photographien von Monsieur Swann nicht ent-
decken, was dieser so vortrefflich in der Dienstmagd in bezug auf Giottos Fresken
wiederfand, sieht er jetzt aus der Retrospektive in der Position des Erzählers die
Korrelation: „c'est sans paraitre s'en douter que la puissante menagere qui est re-
pr&entee ä l'Arena au-dessous du nom ,Caritas' et dont la reproduction etait ac-
crochee au mur de ma salle d'etudes, ä Combray, incarne cette vertu, c'est sans
qu aucune pensee de charite semble avoir jamais pu etre exprimee par son visage
energique et vulgaire."67 Die allegorische Verweisung erweist sich als Störfall.
Dieser geht vor allem darauf zurück, dass die Allegorie keine irgendwie als sub-
stantiell zu verstehende Beziehung zu dem, worauf sie referiert, hat. Das Band
zwischen Allegorie und Wahrheit ist gestört. „Die Intention der Allegorie ist [...]
der auf Wahrheit widerstreitend."68 Ahnlich setzt das anschließende Beispiel mit
der „Invidia" von Giotto eine semantische Dissonanz in Szene: „dans cette fres-
que-lä encore, le Symbole [l'Envie] tient tant de place et est represente comme si
reel, le serpent qui siffle aux levres de L'Envie est si gros, il lui remplit si com-
pletement sa bouche grande ouverte, que les muscles de sa figure sont distendus
pour pouvoir le contenir, comme ceux d'un enfant qui gonfle un ballon avec son
souffle, et que l'attention de l'Envie - et la notre du meme coup - tout entihe
concentree sur l'action de ses levres, na guere de temps a donner a d'envieuses
pensees."69
In einem weiteren Vergleich bezieht sich die Bedeutung der Caritas auch noch
auf Francoise. Denn so wie die Caritas ,Gott ihr Herz in Flammen darbietet, so
reicht sie es ihm eigentlich in der Weise heraus, wie eine Köchin einen Korken-
zieher aus dem Kellerfenster jemandem hinhält.'70 Einerseits ähnelt das Küchen-
mädchen Giottos Caritas, aber es stellt sich heraus, dass die Geste der letzteren es
auch der Dienstbotin Francoise ähnlicher macht. In diesem Fall aber kehrt das
allegorische Bild seine Bedeutung ins Gegenteil.71 Denn Francoise begegnet dem
Leser der Recherche als eine Persönlichkeit, die in ihrem gnadenlosen Umgang mit
ihren Küchenmädchen alles andere, nur keine Caritas verkörpert. So wie sich die
Caritas als „Charite sans charite"72 erweist, so untergräbt auch die ,Invidia' als
Allegorie ihren eigentlichen Signifikanten (den Neid). Sie erweist sich somit als
beliebige Setzung des Allegorikers.
67 Proust I, S. 80.
68 Benjamin I, S. 403.
69 Proust I, S. 80, (Hervorhebung D. F.) Paul de Man schreibt über das Beispiel mit der Invidia:
„Dadurch, daß die Aufmerksamkeit des Betrachters der Invidia auf die pittoresken Details des
Bildes konzentriert wird, hat Marcel .keine Zeit für neidische Gedanken' [...]. Die allegorische
Darstellung führt auf eine Bedeutung hinaus, die von der anfänglichen soweit abweicht, daß sie
ihre Manifestation für nichtig erklärt." (Paul de Man, in: Allegorien des Lesens, S. 109)
70 Proust I, S. 80.
71 Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 109.
72 Proust I, S. 81.
168 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
73 Vgl. Hannah Arendt: Faubourg Saint-Germain in: Arendt: Elemente und Ursprung totaler Herr-
schaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 135-157.
74 Der Titel „bal de tetes" entstammt Prousts erstem Konzept des Gesamtwerks aus dem Jahr 1909.
Er sollte ursprünglich den ersten Teil des letzten Bandes „Matinee chez la Princesse de Guer-
mantes" betiteln, entfiel aber schließlich mit einer Reihe anderer Änderungen, die das Gesamt-
werk in der Überarbeitung erfuhr.
75 Samuel Beckett: Proust - Essay, Frankfurt a.M. 1989, S. 69.
76 Proust IV, S. 499.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 169
als Metaphorisierung des Lebens beschrieben hat. Das Fest wurde zum perma-
nenten Zauber, in dem die höfischen Götter sich selbst beschwören.
Hier erreicht die Welt der Guermantes ihre gültigste Form: als „reine Meta-
pher", in die sich die Gesellschaft kleidet, bevor sie vom Fluss der Zeit weggespült
wird.77 Die Gäste auf der Matinee Guermantes gleichen den Leichen auf der ba-
rocken Bühne. Die Lebendigkeit der Gesellschaft (der „monde") ist vom Tod ge-
zeichnet: „Des poupees, mais que pour les identifier ä celui qu'on avait connu, il
fallait lire sur plusieurs plans ä lafois, situes derriere elles et qui leur donnaient de
la profondeur [...], des poupees baignant dans les couleurs immaterielles des
annees, des poupees exteriorisant le Temps, le Temps qui d'habitude n'est pas vi-
sible [...]."78
Es ist das Todesbewusstsein, das eine Sinnsetzung bei Marcel auslöst. Im An-
blick seiner alten Freunde starrt ihn der eigene Tod an, die Vergänglichkeit des
Lebens. So wie für Rene Girard mit dem Opferritus die Semantik der Gesell-
schaft gestiftet wird und in einen Prozess unendlicher Bedeutungsverschiebungen
auf der Suche nach der Urszene des Opfers gleitet79, bricht hier im Roman der
Tod als „fundamentalste Schicht von Sinngehalten" ein. Von hier aus schreibt
Marcel den Roman.
War schon das Leben in der aristokratischen Welt mehr als eine permanente
Unbequemlichkeit, ein permanenter Auftritt auf der Bühne der Gesellschaft, so
bedeutete der „bal de tetes" darin den Gipfel, das Fest als Maskenball und seine
Gäste als „possenhafte Todeskandidaten".8" Der melancholische Blick des Allego-
rikers Marcel bricht die Personen aus ihren zeitlichen Zusammenhängen heraus,
da sie unter seinen Augen nicht mehr im Zeitfluss verbunden mit den Personen
stehen, die ihn durch sein Leben begleitet haben. Daher kann er auch seinem
Erzfeind Monsieur dArgencourt nicht mehr böse sein, „parce qu'en lui, qui avait
retrouve l'innocence du premier äge, il n'y avait plus aucun Souvenir des notions
meprisantes ' Aus der Zeit herausgetreten tragen die Personen zwangsläufig
die Maske des Todes. Sie werden unter Marcels Blick zu Fragmenten ihres eige-
nen Lebens, zu menschlichen Ruinen, toten Gegenständen, Ausstellungsgegen-
ständen. „J'avais l'impression de regarder derriere le vitrage instructif d'un museum
d'histoire naturelle ce que peut etre devenu l'insecte le plus rapide [...]."82 Odette
7 7 Vgl. Richard Alewyn: Das große Welttheater - Die Epoche der höfischen Feste, München 1989.
78 Proust IV, S. 503. (Hervorhebung D.F.)
79 Rene Girard stellt einen internen Zusammenhang zwischen der Konstitution von Sinn und dem
menschlichen Todesbewusstsein her. „Das Grab ist [...] die erste, elementarste, fundamentalste
Schicht von Sinngehalten. Keine Kultur ohne Grab, kein Grab, ohne Kultur, zugespitzt gesagt ist
das Grab das erste und einzige Kultursymbol." (Rene Girard: Das Ende der Gewalt, Freiburg
1983, S. 85- Siehe dazu auch: Lutz Ellrich: „Gewalt und Zeichen: Rene' Girard, in Joseph Jurt
(Hg.): Von Michel Serres zu Julia Kristeva, S. 57-87)
80 Proust IV, S. 501.
81 Proust IV, S. 502.
82 Proust IV, S. 501. (Hervorhebung D.F.)
170 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
Die im Roman zuvor ständig vorgewiesenen Ansprüche auf den eigenen Famili-
enstammbaum, die Tradition, verwandeln sich in eine reizvolle Illusion. Statt
dem Adel drängt sich das Bürgertum empor, fallen die Standesgrenzen bis in den
innersten Bereich der Gesellschaft. Die Welt der Guermantes erweist sich als ent-
zauberte Welt, ihre Herrscherin - Oriane - als machtlos und gefallene, vom
Thron gestürzte Fürstin: „En realite, eile, la seule d'un sang vraiment sans alliage,
eile qui, etant nee Guermantes, pouvait signer: .Guermantes-Guermantes' [...]
eile 6ta.it devenue [...] une Guermantes declassee."91
Ewige zu retten."92 Und weiter: „Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesie-
delt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen."9' So wird
die Neigung der Recherche zur Apotheose verständlich, dort wo die Transzendenz
im Umschlag von Vergänglichkeit in Erlösung in den Roman einbricht. Nicht
durch Verklärung, sondern durch das Vergraben in die „Immanenz" der Zeit, des
Allzu-Irdischen, durch das Spiel mit vom Zeitfluss ruinierten Menschen ver-
schafft sich die Recherche förmlich die verlorene Transzendenz. Es ist eine Trans-
zendenz des Schriftraums, der Differenz ohne Eschatologie, Gott, Jenseits oder
Heil. Proust beschreibt eine Welt, die von Schicksalsschlägen überwältigt zu-
gleich sich über diese erhebt. Die Beschauung der Vergänglichkeit, Nichtigkeit
des menschlichen Lebens wird zum Mittel der Evokation ihres Gegenteils. Der
Zeitschock, mit dem der ,bal de tetes' den Autor konfrontiert, wird zum Vehikel
einer Erfahrung, die Marcel seine Berufung aufdrängt.
Gerade durch das beklemmende, allzu irdische Auftreten der Romanfiguren
wird deutlich, dass der Aufweis der Vergänglichkeit nicht das Telos der Recherche
ist. Gerade in den Masken der Zeit(-Verfallenheit) klammert sich der Maskenball
an das Ewige. Die „vocation" des Schriftstellers korreliert mit der barocken Aufer-
stehung, die von Benjamin als Umschwung von „Verhängnis" in .Auferste-
hung"94 als gerade nicht mysteriös beschrieben wird. Die Trostlosigkeit der
menschlichen Existenz erweist sich nur als Durchgangsphase. Die allegorische
Bettachtung springt um in die „Allegorie der Auferstehung".'^ Für Benjamin ist
sie nicht mehr als Gegenteil der zuvor gegebenen Bestimmungen für eine plötz-
lich hereinbrechende „Himmelfahrt" des allegorischen „Vernichtungsrausches",
sondern als notwendige religiöse Dialektik bezeichnet. Der „bal de tetes" als .An-
tinomie des Allegorischen" stellt die Berufung zum Schriftsteller als Auferstehung
im Moment der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit Marcels dar. Auf dem
Maskenball erkennt Marcel, dass auch er von der Zeit nicht unangetastet geblie-
ben ist. Das literarische Werk seines Lebens scheint in Gefahr zu sein: „Mais
etait-il encore temps pour moi? N'etait-il pas trop tard? [...] Alors, je pensai tout
d'un coup que si j'avais encore la force d'accomplir mon oeuvre, cette matinee
[...] m'avait [...] donne ä la fois l'idee de mon oeuvre et la crainte de ne pouvoir la
realiser [...]."%
An dieser Stelle berührt sich die Recherche auch mit der Geschichtsphilosophie
Walter Benjamins. Beiden, Benjamin und Proust, ist eine Erfahrung von Zeit als
Endzeit und Geschichte als .Frist' gemeinsam. Ihr geschichtsphilosophisches
Denken ist mit apokalyptischer Energie auf das Ende der Geschichte bezogen.
92 Benjamin I, S. 397.
93 Benjamin I, S. 397.
94 Benjamin I, S. 406.
95 Benjamin I, S. 406. „[Auch] diese Zeit der Hölle wird im Räume säkularisiert und jene Welt, die
sich dem tiefen Geist des Satan preisgab und verriet, ist Gottes. In Gottes Welt erwacht der Alle-
goriker." (Ebenda.)
96 Proust IV, S.621f.
172 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
Bei jeder neuen Drehung des Kaleidoskops stürzt das Alte in eine neue Ordnung
zusammen: das 19. Jahrhundert in eine vom Verfall geprägte Moderne zu Beginn
des 20. Jahrhunderts bei Benjamin, die Adelsgesellschaft in eine von Neureichen
geprägte Warengesellschaft bei Proust. Doch während in der eschatologisch kon-
zipierten Geschichtsphilosophie Benjamins die Überwindung des Ausnahmezu-
stands, der die Realität ist, mit der Ankunft des Messias und damit dem Ende der
Geschichte zusammenfällt, bleibt die Erlösung bei Proust eine Privatangelegen-
heit im Feld der Literatur. Das Kollektiv erscheint bei Proust hoffnungslos verlo-
ren. Nur der Einzelne kann dem Maskenball, dem barocken Totentanz im letzten
Romanteil, als Verkörperung der leeren Zeit entkommen. Seine Erlösung wird
mit Hilfe der „memoire involontaire" als reines Zufallsspiel dargestellt, das doch
nie zu einem Ende kommt. Allein die Disposition des Künstlers erscheint als
Ausbruch aus dem „kaleidoscope de l'obscurite""r. Eschatologisches Moment ist
nicht Ankunft des Messias, noch Jüngstes Gericht, sondern die Eröffnung und
Erweiterung eines Schriftraums auf dem Feld der Kunst, die Zelebrierung einer
unendlichen Suche nach dem Sinn.
Vor der auf den Maskenball fokussierenden Zuspitzung ist Prousts Situierung
einer Kunstphilosophie als sichtbare Machtform zu lesen. Auch wenn die
„memoire involontaire" sich als Einbruch der Ewigkeit in den Leerlauf der - in
unabhängig voneinander getrennten Parzellen — Zeit erweist, zielt sie dennoch
nicht auf eine transzendentale Eschatologie, sondern auf den unendlichen Schrif-
traum der Erfahrung, die dort weitergeht, wo sie Proust dem Leser am Ende der
Recherche überantwortet. Bei Benjamin aber ist diese Aufhebung der Geschichte
in der Rückkehr des Messias präsent. Hier zeigt sich die Geschichte in ihrer Erlö-
sungsbedürftigkeit. Der ,messianische Moment' in Benjamins Geschichtsphiloso-
phie beinhaltet das Moment der Transzendenz, während Prousts Erlösung nur
immanent im Bereich der Kunst artikuliert wird.
Goethe hat im Jahr 1823 einen Text mit dem Titel „Wiederholte Spiegelungen"
verfasst, der das Verhältnis von Erinnerung und Wiederholung zu einem Theo-
rem verdichtet. Damit artikuliert er ansatzweise einen noch im Keim verborgenen
Grundgedanken, den die Recherche zur Entfaltung bringt: dass nämlich die Form
nichtidentischer Wiederholung zur Basis von Bedeutung erklärt wird. Durch die
Berichte des Bonner Professors Näke wird Goethe an seine frühe Liebe zu Friede-
rike Brion erinnert, und er schreibt seine Erinnerung als „erneuertes Bild", das
nun plötzlich „nach außen ausgesprochen und abermals abgespiegelt wird."98 Erst
durch die Artikulation der Erinnerung und die damit einhergehende Rekon-
struktion „aus Trümmern von Dasein und Überlieferung" entsteht eine „zweite
97 Proust I, S. 4.
98 Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 322f.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 173
Die Albertine-Kapitel der Recherche, die in ihrer Konzeption erst auf die Jahre
1914/15 zurückgehen10', sprengen endgültig die ursprüngliche Romanpoetik von
Proust. Die im ersten Romanprojekt von 1909/13 angelegte Antithetik von
Temps perdu und Temps retrouve gerät aus dem Gleichgewicht.
Albertine erscheint Marcel schon beim ersten Eindruck am Strand von Balbec
als eine „Silhouette" vor dem Hintergrund des Meeres, wobei sie sich mit der
Mädchengruppe um sie herum zu vermischen scheint.104 Silhouette105 konnotiert
Abwesenheit von Tiefe, und entspricht damit einem Aspekt der Allegorie, derge-
genüber das Symbol auf eine atemporale Bedeutungstiefe verweist. Albertine zeigt
sich dann im Verlauf der Recherche als Serie ineinander gespiegelter Projektionen
Marcels: „la serie indefinie d'Albertines imaginees"106, selbst im Augenblick zärt-
lichster Umarmung. „Je pouvais bien prendre Albertine sur mes genoux, tenir sa
fite dans mes mains, je pouvais la caresser, passer longuement mes mains sur eile,
mais, comme si j'eusse manie une pierre qui enferme la salure des oceans im-
memoriaux ou le rayon d'une etoile, je sentais que je touchais seulement
l'enveloppe close d'un etre qui par l'interieur accedait ä rinfini."107
99 Ebenda, S. 323.
100 Ebenda, S. 323.
101 Ebenda, S. 323.
102 Ebenda, S. 323.
103 Zur genaueren Entstehungsgeschichte der Albertine-Kapitel vgl. Veitkamp, S. 63f.
104 Proust II, I46ff.
105 Proust II, S. 213f. „Depuis que j'avais vu Albertine, j'avais fait chaque jour a son sujet des mil-
liers de re'flexions, j'avais poursuivi, avec ce que j'appelais eile, tout en entretien intirieur oü je
la faisais questionner, r^pondre, penser, agir [...]. Cette Albertine-lä n'^tait guere qu'une sil-
houtte [...]."
106 Proust II, S. 213.
107 Proust III, S. 888.
174 DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN
Insofern die Allegorie alles vorstellen kann und somit eben auch allen Eifer-
suchtsprojektionen Marcels Raum gibt110, ist ihm Albertine eine allegorische Fi-
gur trügerischer Sinnkonstruktionen. Barocke und moderne Allegorie über-
schneiden sich in der Artikulation eines Misstrauens gegenüber einer Welt, die
durchzogen ist von Störungen im Transzendenzbezug, in der Stiftung von Iden-
tität und gelingender Selbstreflexion, im Glauben an ein transzendentales Ich,
dem die Geschichte des empirischen Ichs gegenständlich zuhanden wäre." 1
Die Recherche inszeniert kein authentisches, sondern nur ein supplementäres
Erzählen, so z.B. wenn Albertines Augenbrauen ihre Lider wie ein „doux nid
d'alcyon" umranden112. In Ovids Metamorphosen ist von diesem Nest die Rede.
Es bebrütet Alkyone, nachdem die Götter ihrer Klage um ihren verstorbenen
Gatten nachgaben und sie mit ihm in der Gestalt von Eisvögeln wieder vereinten.
Die bildliche Fülle dieses Erzählens ist trügerisch, weil sie in neue Übertragungen
und Verweise abdriftet. Marcel dringt nicht zum Kern von Albertine der „deesse
du temps". Er kann nur immer ein Bild von ihr mit einem anderen austauschen.
Sie verweist auf die einzige Möglichkeit, die dem dezentrierten Ich Marcels
bleibt, seiner Vergangenheit habhaft zu werden.
Ist die Ruine im Barocken Trauerspiel allegorisch vergegenwärtigte Vergäng-
lichkeit der weltlichen Dinge, so erfahren wir eine ähnliche Mortifikation bei
Proust am Beispiel der Geliebten, die unter Marcels Augen wie unter dem Blick
des barocken Melancholikers in eine Grabfigur verwandelt wird. Statt einer ro-
108 Benjamin I, S. 391. „[D]er menschliche Körper durfte keine Ausnahme von dem Gebote ma-
chen, das das Organische zerschlagen hieß [...]. Ja, wo konnte dieses Gesetz triumphierender
dargestellt werden als am Menschen, der seine konventionelle, mit Bewußtsein staffierte Physis
im Stich läßt, um an die vielfachen Regionen der Bedeutung sie auszuteilen." (Ebenda.)
109 Proust III, S. 888.
110 Vgl. hierzu die Studie von Ingrid Vcltkamp: Marcel Proust - Eifersucht und Schreiben, Mün-
chen 1987.
111 Warning schreibt: „Was am Ende identifiziert wird, ist nicht die Geliebte als symbolische
Mittlerein zwischen Ich und Universum, sondern die Allegorie einer Göttin der Zeit, die den
romantisch Begehrenden auf seine eigene Unverfügbarkeit zurückwirft. [...] Die Serie unzähli-
ger Albertinen, den .innombrables Albertines' korrespondiert eine Serie von .innombrables
moi'." (Warning: Proust-Studien, S. 95) Albertine ist nicht „deesse" der Ewigen Zeit im Kon-
zept der „memoire involontaire", sie ist Göttin der „contigence du temps".
112 Proust III, S. 580. Vgl. Warning, S. 88.
DIE ALLEGORIE BEI PROUST UND BENJAMIN 175
lungswelt daraufhin eine Metamorphose begonnen, die den ersten Eindruck zer-
stört: „Avant que j'eusse eu le temps de m'apercevoir de la metamorphose sociale
de ces jeunes filles, et tant ces decouvertes d'une erreur, ces modifications de la
notion qu'on a d'une personne ont l'instantaneite d'une reaction chimique, s'etait
dejä installee derriere le visage d'un genre si voyou de ces jeunes filles que j'avais
prises pour des maitresses de coureurs cyclistes, de champions de boxe, l'idee
qu'elles pouvaient tres bien etre liees avec la famille de tel notaire que nous con-
naissions."120
Der Moment der Begegnung mit Albertine auf der Matinee Elstir ist ein Mo-
ment von Zusammenbruch und Neubildung eines neuen Bildes vom Gegenüber,
ein mythischer, märchenhafter Moment. Dabei erkennt Marcel, dass seine bishe-
rige Vorstellung von Albertine imaginär war: „la jeune fille de la plage avait ete
fabriquee par moi. Malgre cela, comme je l'avais, dans mes conversations avec El-
stir, identifiee ä Albertine, je me sentais envers celle-ci l'obligation morale de tenir
les promesses d'amour faites ä l'Albertine imaginaire."121 Auch das zweite Bild
von Albertine auf der Matinee Elstir wird nur eines in einer langen Kette von
Metamorphosen sein: „II n'empeche d'ailleurs qu'apres cette premiere metamor-
phose, Albertine devait changer encore bien des fois pour moi."122 Die Vorstel-
lung des Beobachters vermag den gegenwärtigen Menschen nicht mehr vollstän-
dig zu repräsentieren.
Die jeweils neuen Bilder, die Marcel von Albertine gewinnt, zerstören nicht
unweigerlich ihr Vorhergehendes, sondern haben nebeneinander Bestand: „En
face de la mediocre et touchante Albertine ä qui j'avais parle, je voyais la mysteri-
euse Albertine en face de la mer. C'etait maintenant des Souvenirs, c'est-ä-dire des
tableaux dont l'un ne me semblait pas plus vrai que I'autre."123 Im Hinblick auf
diese Erkenntnis erscheint das „vorbegriffliche" Bild Albertines auf der Strand-
promenade den späteren beinahe überlegen. Das Glück des Paares während des
zweiten Balbec-Aufenthalts wird schon überschattet von dem abrupten Umschlag
in die nächste Etappe der Liebe zu Albertine, die ganz im Zeichen der Eifersucht
steht.124
125 Derrida: Die difftrance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 39.
126 Proust IV, S. 221.
SCHLUSSBETRACHTUNG
Ein literarisches Werk wie die Recherche lebt von Anspielungen und Zweideutig-
keiten, die die klassische Philosophie durch klare Argumentationsketten zu durch-
brechen versucht. Dass die Sicht der Dichtung auf die Welt aber nicht nur als
minderwertiges „Spiel" gegenüber dem „Ernst" der Philosophie verstanden werden
muss, dafür steht Benjamins Beschäftigung mit Proust mustergültig ein. Prousts
Poetologie offenbart, dass die Sprache eines literarischen Werkes strukturelle Mu-
ster zutage fördert, die nicht mehr nur subjektiv an den Autor gebunden bleiben,
wie es geschilderte Erlebnisse sind. Aus ihnen lassen sich Erkenntnisse herauslesen,
die sich übergangslos in den Kontext der Philosophie einbinden lassen.
Die Ausführungen dieser Arbeit haben gezeigt, dass sich die Werke von Proust
und Benjamin in einer inneren Kommunikation um die Begriffe wie Wahrheit,
Ursprung, Einmaligkeit gruppieren und dass die besondere Medialität der Erinne-
rungssemantik von Marcel Prousts Recherche dort für Benjamins Mimesistheorie
eine Quelle ist, wo er die magische Seite der Sprache zugunsten der semiologi-
schen Seite eintauscht. Dabei half uns die Begrifflichkeit der Philosophie Derridas,
die in den Werken der beiden Autoren angelegten Infragestellungen metaphysi-
scher Axiome abendländischer Philosophie aufzudecken. Benjamin zeigt in seiner
Beschäftigung mit Proust einem Unbehagen gerecht werden zu wollen, das sich
schon vor Derrida in Martin Heideggers Projekt einer Umwertung der Metaphy-
sik und in Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung" niederschlägt.
Die „Dialektik der Aufklärung" verortet den Ursprung totalitärer Gewaltherrschaft
im Prozess der westlichen Aufklärung. Dieser Lesart des westlichen Denkens und
dem damit einhergehenden Einbruch einer zielgerichteten Geschichte versucht
Benjamin die Erfahrungsstrukturen des „Erzählers", des Kindes und Prousts
Schreibstil als personifizierte Infragestellungen der Allmacht des Subjekts entge-
genzustellen. Auch wenn der französische Romancier nicht die Katastrophen des
20. Jahrhunderts vor Augen gehabt hatte wie Benjamin, so ist dennoch seine
cherche eindeutig (vor dem Hintergrund einer sich im Warenrausch befindenden
Hochkultur) ein Angriff auf ein Subjektverständnis, das glaubt, den Lauf der Ge-
schichte, und sei es nur die eigene Lebensgeschichte, auktorial und allmächtig in
den Blick zu bekommen, geschweige denn lenken zu können. Für Benjamin,
ebenso wie für seinen Freund Adorno, war der Faschismus nicht ein zeitlich be-
grenzter Irrtum einer sonst erträglichen Entwicklung des Kapitalismus, sondern
das nicht zu vermeidende Resultat seines Prozesses, der sich aus einer sich all-
mächtig gebärdenden Aufklärung speist.
Benjamin und Proust hatten ein ähnliches Gespür für die Krisenhaftigkeit ihrer
Zeit und suchten unabhängig von einander nach Auswegen aus der .entzauberten
Welt', von der Max Weber sprach. Prousts „illusionslose, gnadenlose Entzau-
180 SCHLUSSBETRACHTUNG
ber[ung]"' eines auktorialen „Ich" ist die radikalisierte Version der kindlichen
Sprachspiele Benjamins, in denen sich das Kind als „Gewölk" erfährt und vom
„Sinn" gerade nicht zensieren lässt.
Beide Autoren fanden in ihrer Konzentration auf die Sprache keinen stabilen
Rückzugsort. Stattdessen favorisierten sie die Instabilität der Sprache, so als be-
fürchteten sie, die Dominanz eines transzendenten Logos setze das Denken zu
schnell auf eindimensionale Gleise und beraube eine - mit Bedeutungsebenen,
Hinweisen und Zeichen durchwobene - Welt ihrer vieldimensionalen Sprachlich-
keit. Benjamin und Proust gehen aus von einer Ordnung auf der Rückseite der
Sprache, die uns beim Sprechen entgeht. Einer Ordnung jedoch, die sich keiner
letzten Ordnung beugt. Das ist wichtig. Dagegen geht die kommunikative Hand-
lungstheorie von Jürgen Habermas z.B. von einem universalen praktischen Ver-
mögen der Menschen aus, dessen sie sich beim Sprechen souverän bedienen. Das
bedeutet nicht, dem Subjekt in Benjamins Philosophie jeden möglichen Rang ab-
zusprechen. Vielmehr soll diesem Subjekt innerhalb der Sprache eine andere Posi-
tion eingeräumt werden. Es gleicht bei Proust und Benjamin einer beständig ver-
löschenden Spur: Die Sprache weist ihm seinen Ursprung und Ort zu. Sie gewährt
ihm Obdach, doch so, dass dieser Ort immer wieder neu erobert werden muss.
Die Sprache „hat den Vortritt. Nicht nur vor dem Sinn. Auch vor dem Ich."2
Und doch muss hier die kritische Frage gestellt werden, ob die Autoren nicht die
Bedingungen der Möglichkeiten, so zu denken, wie es ihre Werke - in den hier
untersuchten Aspekten - nahelegen, untergraben, wenn die Medialität der Sprache
als freischwebende Signifikantenbewegung angeblich jeder Wahrheit immer schon
vorausgeht. Anders formuliert: laufen beide Autoren nicht Gefahr, einem Relati-
vismus zu verfallen, der den Erkenntniswert ihrer Werke in Frage stellt? Eine
Sprachtheorie, die - wie die Beispiele aus Benjamins Kindheitbeschreibungen na-
helegen - mit einer Infragestellung des Logos spielt, eine Mimesis-Lehre, die den
Bereich eines .Urbildes' in Frage stellt, muss erklären, von woher die .Wahrheit'
ihrer eigenen Argumentation noch kommen soll, wenn diese selbst immer schon
medial unterwandert wird.
Ein Verweis auf Derrida, dessen Philosophie denselben Anfragen ausgesetzt ist,
mag eine Antwort geben auf diesen Einwand. In dem folgenden Zitat aus Derridas
Aufsatz „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel" parallelisiert der französische
Philosoph seine Arbeit mit der Arbeit eines Grammatikers. Derrida stellt sich fol-
gende Frage: Ist die Bemühung des Grammatikers sinnlos, wenn seine Erkenntnis-
se eingestehen, nie eine Totalität der Sprachstrukturen fassen zu können? „Ebenso
könnte man einem Linguisten vorwerfen, dass er die Grammatik einer Sprache
schreibt, ohne zuvor die Totalität der Wörter verzeichnet zu haben, die in dieser
Sprache seit ihrem Bestehen ausgesprochen wurden, und ohne den verbalen Aus-
tausch zu kennen, der, solange es diese Sprache gibt, stattfinden wird. Die Erfah-
rung beweist, dass eine lächerlich kleine Anzahl von Sätzen es dem Linguisten ge-
stattet, eine Grammatik der Sprache zu erarbeiten, die er untersucht."3
Die Arbeit eines Grammatikers führt - so Derridas Argumentation - sehr wohl
Erkenntnisse zu Tage, selbst wenn es eine allumfassende Grammatik, die hier
stellvertretend für eine letzte Wahrheit steht, nie geben wird. „Und selbst eine lük-
kenhafte Grammatik oder nur der Entwurf einer Grammatik stellt schon eine
kostbare Errungenschaft dar [...]."4
Auch Proust und Benjamin scheinen dem von Derrida skizzierten Bild des
„Grammatikers" zu entsprechen. Sie zielen auf die Offenlegung von Grundstruk-
turen der Welterfahrung, wobei sich ihr Hauptaugenmerk auf die Sprache richtet.
Wenn sie auch den Glauben an eine letzte Wahrheit als Einheitshorizont der Er-
kenntnis in ihren Werken im Bereich der Sprache, des mimetischen Vermögens,
der Erinnerung immer wieder in Zweifel ziehen, so heißt dies jedoch nicht, dass
beide Autoren auf die Kollabierung letzter Sinnstrukturen zielen. Auch die ratio-
nale Argumentation wird in ihren Werken nicht in Frage gestellt.
Es geht nicht um eine finale Implosion von „Sinn", sondern um die Offenlegung
eines Mechanismus nicht-Einhalt-gebietender Sinnproduktion, den die Sprache
wie einen Virus in sich trägt. Die retardierende, sich - auf der Suche nach der
Wahrheit der Erkenntnis, der Wahrheit der Erinnerung - in immer neue Diffe-
renzen ausstreckende Bewegung der Sprache wird - das zumindest legt Benjamins
Proustlektüre nahe - nie an einen Punkt kommen, von dem aus beide Denker ab-
schließend sagen könnten: ,Und Er sah, dass es gut war.'
1895 — Arbeit an seinem posthum 1916 - Über Sprache überhaupt und über
erschienenen, unvollendeten Roman Jean die Sprache des Menschen.
SanteuiL
1917 - Über die Wahrnehmung.
1899 - Proust gibt Jean Santeuil auf und be-
ginnt seine Ruskin-Studien und seine Über- 1918 - Über das Programm der
setzung von La Bible d'Amiens. kommenden Philosophie.
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1 Bei den Werken handelt es sich um eine Auswahl der wichtigsten Schriften.
184 ZEI "AFEL
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