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der bei uns in der Badstube wohnt.

" Der „Denkt nicht so von diesem heiligen Buch,


neugierige Amtmann, ein Pole übrigens, kam, Väterchen. Nicht einfache griechische Mön-
um einen Blick auf mich zu werfen, und traf che haben es geschrieben, sondern große und
mich dabei an, als ich gerade in der „Tugend- überaus heilige Männer des Altertums, die
liebe" las. Wir kamen ins Gespräch und er auch von Eurer Kirche verehrt werden, so
fragte : „Was liest du da ?" Ich zeigte ihm der große Antonius, der große Makarios, der
das Buch. „Ah," sagte er, „das ist die ‚Tu- fromme Marcus, Johannes Chrysostomus und
gendliebe'. Ich habe dieses Buch bei unserem andere. Und was die indischen und die bu-
Priester gesehen, als ich noch in Wilna lebte; charischen Mönche betrifft, so haben diese ja
man hat mir aber gesagt, daß es allerhand von jenen die Herzensart des inneren Gebets
seltsame Kunststücke enthält und Kniffe, wie übernommen, haben sie aber verdorben und
man beten müsse; griechische Mönche haben verfälscht, wie mir mein Starez erzählt hat.
es geschrieben; es ist so ähnlich, wie es in In- In der ,Tugendliebe` aber sind alle Beleh-
dien und in Buchara Fanatiker gibt, die da rungen über das Beten mit dem Herzen aus
sitzen und sich aufblasen, um dadurch einen dem Worte Gottes, aus der Heiligen Bibel ge-
Kitzel im Herzen zu verspüren, und in ihrer schöpft, in welcher ja auch Jesus Christus,
Dummheit halten sie dieses natürliche Gefühl der uns das Vaterunser beten hieß, das un-
für ein Gebet, das ihnen von Gott gleichsam ab ässige Herzensgebet gebietet, wenn er
verliehen würde. Man muß einfach beten, sagt: Du sollst den Herrn deinen Gott lieben
um unserer Pflicht vor Gott zu genügen; wenn von deinem ganzen Herzen und in deiner
ich am Morgen aufstehe, so bete ich ein Vater- ganzen Seele und in deinem ganzen Gemüt1);
unser, wie es uns Christus gelehrt hat; da wachet und betete); bleibt in mir und ich in
bin ich denn für den ganzen Tag in Ordnung euch2 ). Die heiligen Väter aber führen das
und brauche nicht ununterbrochen immer Zeugnis des heiligen Königs David im Psalter
dasselbe zu leiern; auf diese Weise könnte an : Schmecket und sehet, wie freundlich der
man ja wohl um seinen Verstand kommen;
außerdem ist es wohl auch für das Herz ) Matth. 22, 37.
2)Marc. 13, 33.
schädlich." 3)Ev. Joh. 15, 4.
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Herr ist1). Sie deuten dieses Wort in der Weise, auch im weltlichen Leben das unablässige
daß ein jeder Christ mit allen Mitteln die Süs- Beten erlangten."
sigkeit im Gebet suchen und erlangen müsse, Ich schlug in der „Tugendliebe" das Kapi-
auch soll er darin unablässig Trost suchen, tel auf, in dem Simeon der neue Theologe vom
nicht aber nur einmal am Tage ein Vater- Jüngling Georgios berichtet, und begann zu
unser beten. Ich will euch vorlesen, wie diese lesen.
selbigen heiligen Väter diejenigen tadeln, die Dem Amtmann gefiel dies wohl, und er
nicht danach streben, das beseligende Her- sagte : „Laß mir 1nаl das Buch hier; ich will
zensgebet zu erlangen und zu erlernen. Sie in meinen Mußestunden darin ättern."
schreiben, selbige sündigten darin, daß sie „Für einen Tag will ich es Euch meinet-
1. den von Gott eingegebenen Schriften wi- halben lassen; für länger kann ich es aber
dersprechen, 2. keinen höchsten und vollkom- nicht geben, da ich täglich darin lese und
mensten Zustand der Seele wünschen, son- nicht ohne dieses Buch sein kann."
dern sich nur mit äußeren Tugenden begnü- „Dann schreib' mir doch wenigstens ab,
gen, die Sehnsucht und den Durst nach Wahr- was du eben vorgelesen hast; ich will dich
heit nicht haben, darum auch der Seligkeit dafür bezahlen."
und der Freude in dem Herrn verlustig gehen, „Eurer Zahlung bedarf ich nicht; ich will
3. daß sie, sofern sie nur auf Grund der es aber mit Liebe abschreiben, nur daß Gott
äußeren Tugenden über sich selber nach- Euch Eifer zum Gebet gebe."
denken, nicht selten in Versuchung oder 1 Unverzüglich machte ich mich mit Freuden
in Hoffart verfallen und hierdurch Schaden }
daran, den gelesenen Abschnitt abzuschrei-
leiden." ben. Er las ihn seiner Frau vor, und er gefiel
„Das ist für unsereinen zu hoch," sagte der beiden wohl. So kam es, daß die beiden mit-
Amtmann, „was sollten wir Laien wohl damit unter nach mir schickten; ich suchte sie dann
anfangen!" mit meiner „Tugendliebe" auf; ich las ihnen
„Dann will ich Euch was Einfacheres vor- vor, während sie am Teetisch saßen und zu-
lesen, nämlich darüber, wie gute Menschen hörten. Einmal ließen sie mich zum Mittag-
1) Ps. 34, 9. essen dableiben. Die Frau des Amtmanns,

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eine alte, gütige Frau, saß ebenfalls am Tisch den." „Aber wie soll ich es ihr -einflößen,
und aß einen gebratenen Fisch. Da geschah wenn sie doch so einen Widerwillen dagegen
es, daß sie sich an einer Gräte verschluckte; hat ? Sie wird es nicht trinken wollen." „Du
alle Mittel, die man anwandte, halfen nicht; sollst dem Amtmann sagen, daß er ihren Kopf
sie hatte starke Schmerzen im Halse und festhält und gieß es ihr dann, wenn auch mit
legte sich nach ein paar Stunden zu Bett. Gewalt, in den Mund." Als ich erwachte,
Man schickte nach einem Heilgehilfen, der ging ich unverzüglich zum Amtmann und er-
dreißig Werst entfernt wohnte; ich bedauerte zählte ihтh dies ausführlich. Er sagte:
den Vorfall und ging nach Hause; es war aber „Was könnte jetzt wohl dein C1 helfen! Sie
inzwischen später Abend geworden. röchelt ja schon und redet irre, auch ist ihr
Da hörte ich in der Nacht im Wachtraum Hals ganz geschwollen. Aber wir können es
die Stimme meines Starez, konnte aber nie- ja versuchen; 01 ist eine unschädliche Arznei,
manden sehen. Die Stimme sprach : „Siehst, wenn es wohl auch nicht helfen wird."
dein Hauswirt hat dich geheilt, warum willst Er goß Baumöl in ein kleines Glas, und wir
du denn nicht der Amtmannsfrau helfen ? nötigten sie, es, so gut es gehen wollte, hin-
Gott hat geboten, dem Nächsten hilfreich unterzuschlucken. Alsbald stellte sich ein
beizustehen." ‚Mit Freuden wollte ich ihr hel- heftiger Brechreiz ein, und bald darauf spie
fen, wenn ich nur wüßte wie ! Ich kenne doch sie die Gräte mit blutiger Auswurf heraus.
kein Heilmittel.' „Tu mal folgendes : sie hat Nun fühlte sie sich erleichtert und fiel in
ihr Lebtag einen Widerwillen gegen Baumöl festen Schlaf.
gehabt, und zwar so ausgesprochen, daß sie Am Morgen kam ich noch einmal, um nach
es nie benutzt, ja, nicht einmal den Geruch ihr zu fragen, und sah sie schon ganz gesund
kann sie vertragen, weil ihr davon übel wird; am Teetisch sitzen. Sie und ihr Mann konn-
laß sie darum einen Löffel Baumöl trinken; ten nicht genug über die Heilung staunen,
sie wird brechen müssen, die ŭräte wird her- zumeist aber darüber, daß ich es im Traum
ausgestoßen werden, das 01 wird sich aber erfahren hatte, daß sie einen Widerwillen
über die Wunde im Halse ergießen, die die gegen Baumöl habe, denn außer ihnen beiden
Gräte gekratzt hat; alsdann wird sie gesun- wußte es niemand. Inzwischen traf auch der

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Arzt ein; die Amtmannsfrau erzählte, was ihr von dieser süßen Wallung beruhigende Ströme
widerfahren war, ich aber berichtete, wie der durch alle meine Gliedmaßen. Das Gedenken
Bauer meine Beine geheilt hatte. Der Arzt Jesu Christi prägte sich so sehr in meinem
hörte uns an und sagte : Geiste ein, daß ich, wenn ich an die Begeben-
„Ich finde weder den einen noch den andern heiten im Evangelium dachte, sie gleichsam
Fall erstaunlich, denn in beiden Fällen hat deutlich vor Augen sah, gerührt war und Freu-
die Kraft der Natur aus sich selber heraus dentränen vergoß; mitunter empfand ich im
gewirkt; immerhin will ich mir diese Mittel Herzen einë solche Freude, daß ich es gar nicht
anschreiben." zu schildern vermag. Es geschah, daß ich mit-
Er nahm seinen Bleistift und schrieb es sich unter drei Tage lang zu keinen menschlichen
in seinem Notizbuch an. Wohnstättenkam,undvollerBeseligung glaub-
Bald hierauf ging das Gerede in der ganzen te ich zu fühlen, ich wäre allein auf der Welt,ich
Umgegend, daß ich ein Wahrsager, ein Arzt allein, derverruchte Sünder,vor dem Angesicht
und Zauberer wäre : von überallher kamen des gnädigen und menschenliebenden Gottes.
nun die Menschen mit verschiedenen Anliegen Diese Einsamkeit tröstete mich, und die Süßig-
und Geschichten zu mir; sie brachten mir Ge- keit des Gebets war so viel mächtiger zu em-
schenke und ließen mir viel Ehre widerfahren. pfinden als unter vielen Menschen.
Eine Woche sah ich mir das an, fürchtete Endlich langte ich in Irkutsk an. Ich be-
dann aber, in Hoffart zu verfallen und mir zeugte den Reliquien des heiligen Inokentij
selber durch diese Zerstreuung zu schaden; andächtige Verehrung und begann bei mir
daher entwich ich heimlich in einer Nacht. selber zu überlegen: wohin soll ich mich nun
So pilgerte ich denn wieder auf meinen ein- wohl wenden ? Ich mochte dort aber nicht
samen Wegen und fühlte eine solche Leich- lange leben, weil die Stadt sehr bevölkert ist.
tigkeit, als wäre mir ein ganzer Berg von den In Nachdenken versunken ging ich durch die
Schultern genommen. Das Gebet tröstete Straßen; da traf ich einen Kaufmann vom
mich immer mehr und mehr, so daß mein Ort; er hielt mich an und sprach:
Herz mitunter in grenzenloser Liebe zu Je- „Bist du ein Pilger ? Warum kommst du
sus Christus aufwallte, und es war, als gingen nicht zu mir ?"
7 Ein ruвaisches Pilgerleben
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Da ging ich mit ihm in sein reiches Haus. Da ich dies hörte, freute ich mich, dankte
Er fragte mich, was ich für ein Mensch sei, meinem Wohltäter für seine Güte viele Mal,
und ich erzählte ihm von meiner Wanderung. dankte aber noch mehr Gott dafür, daß er Seine
Nachdem er mich angehört hatte, sagte er: väterliche Liebe und Sorge mir, dem verruch-
„Du solltest ins alte Jerusalem pilgern; ten Sünder, erwies, der ich doch weder mir
es ist dies ein Heiligtum, das seinesgleichen noch andern Gutes tue und müßig von frem-
nicht hat." der Leute Brot lebe. So blieb ich denn bei
„Mit Freuden wollte ich hinpilgern," er- diesem wohltätigen Kaufmann drei Tage als
widerte ich, „doch fehlen mir dazu die Mittel; sein Gast. Wie er mir versprochen hatte,
über Land könnte ich schon bis ans Meer kom- schrieb er einen Brief an seinen Sohn; da bin
men, aber um die Fahrt übers Meer zu be- ich nun unterwegs nach Odessa und habe die
zahlen, fehlt mir das Geld; man braucht aber Absicht, auch bis zur heiligen Stadt Jerusa-
viel Geld dazu." lem zu pilgern; ich weiß aber nicht, ob es der
„Willst du," sagte der Kaufmann, „ich Herr geschehen lassen wird, daß ich Seinem
werde dir die Mittel zur Verfügung stellen; lebenspendenden Grabe meine andächtige
ich habe bereits im vergangenen Jahr einen Verehrung bezeuge.
alten Mann, einen hiesigen Kleinbürger, hin-
geschafft." *
Ich fiel ihm zu Füßen, er aber sprach :
„Hör' mich an, — ich will dir einen Brief
an meinen Sohn ш Odessa geben; er wohnt
dort und betreibt Handelsgeschäfte mit Kon-
stantinopel; er hat Schiffe, die hint berfahren,
und er wird dich mit Freuden nach Konstan-
tinopel bringen und wird seinen Angestellten
sagen, daß sie dir einen Platz in einem Schiff
nach Jerusalem schaffen; erwird auch das Geld
dafür geben. Das ist ja nicht allewelt teuer."

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und ich stand im dritten Jahr. Unser Groß-
vater nahm uns zu sich in Pflege; er war ein
vermögender, ehrlicher, alter Mann; er unter-
hielt eine Herberge an der Landstraße, und
da er wegen seiner Güte bekannt war, kehrten
DRITTE ERZÄHLUNG. viele Reisende bei ihm ein. So lebten wir denn
bei ihm; mein Bruder war ein flinker Junge
Bevor ich mich von Irkutsk aus auf die und trieb sich im Dorf herum, während ich
Wanderung begab, ging ich noch zu meinem mich stets in der Nähe des Großvaters auf-
Beichtvater, mit dem ich mich zu unterreden hielt. An Sonn- und Feiertagen gingen wir
pflegte, und sagte : mit ihm zur Kirche; zu Hause pflegte er aber
„Da bii} ich nun auf dem Wege nach Jeru- häufig die Bibel zu lesen, eben in diesem Buch,
salem. Ich bin gekommen, um Abschied zu das ich hier bei mir habe. Als mein Bruder
nehmen und Euch für die christliche Liebe, heranwuchs, tat er nicht gut; er hatte sich
die ihr mir unwürdigem Pilger erwiesen habt, das Trinken angewöhnt. Damals war ich
zu danken." schon sieben Jahre alt. Einmal lag ich mit
Er sagte mir: „Gott segne deinen Weg. meinem Bruder auf dem Ofen; er stieß mich
Warum hast du mir aber nichts von dir selber herunter, und ich verletzte mir den linken
erzählt, wer du bist und woher du kommst. Arm. Seit jener Zeit kann ich ihn nicht brau-
Du hast mir so viel von deinen Wanderungen chen. Er ist ganz verdorrt.
berichtet, nun würde ich auch gerne was über Da der Großvater sah, daß ich für Feld-
deine Herkunft und dein Leben vor der Pil- arbeiten nicht zu brauchen war,lehrte er mich
gerschaft erfahren." lesen. Da wir aber keine Fibel hatten, lehrte
„Gut," sagte ich, „dies will ich mit Ver- er mich nach dieser Bibel hier lesen: er zeigte
gnügen tun. Die Geschichte ist nicht gerade mir die Buchstaben und ließ mich nach Silben
lang. — Ich bin in einem Dorf im Gouverne- buchstabieren. Ich weiß selbst nicht recht,
ment Oriol geboren. Nach dem Tode der El- wie ich ihm nachsprechend im Laufe der Zeit
tern blieben mein älterer Bruder und ich al- lesen lernte. Als dann später Großvaters
lein zurück. Er war damals zehn Jahre alt,
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Augen schwach wurden, ließ er mich ihm des seinem Willen, und so wurde ich denn ver-
öfteren aus der Bibel vorlesen; er hörte zu heiratet ; man wählte mir ein gesittetes,
und verbesserte mich. Häufig pflegte bei uns gutes Mädchen von zwanzig Jahren. Ein
ein Schreiber vom Landamt einzukehren; er Jahr verging, da wurde der Großvater tod-
schrieb vortrefflich. Ich sah zu, und es gefiel krank. Er rief mich zu sich, nahm von
mir, wie er schrieb. Da begann' ich nun, sei- mir Abschied und sagte: „Mein Haus soll
nem Beispiele folgend, einzelne Worte zu dir gehören und das ganze Erbe auch; lebe
schreiben, und er leitete mich an; er gab mir so, wie es dir dein Gewissen vorschreibt;
Papier und Tinte und schnitt mir die Federn betrüge niemanden, und laß nicht ab, zu
zurecht. So lernte ich denn auch schreiben. Gott zu beten, denn alles kommt von Ihm.
Großvater freute sich hierüber und gab mir Verlasse dich auf niemanden als auf Gott;
folgende Lehre : „Gott hat dich nun des Le- besuch' die Kirche, lies die Bibel und ge-
sens und Schreibens kundig gemacht; so wirst denke im Gebet meiner und der Alten. Da
du denn ein Mensch werden; danke darum hast du tausend Rubel an barem Gelde;
Gott dafür und bete recht fleißig." So gingen geh' vorsichtig damit um, gib es nicht un-
wir denn zu jedem Gottesdienst zur Kirche, nütz aus, sei aber auch nicht geizig; habe
beteten aber auch zu Hause viel; ich mußte für Bettler und für die Kirchen Gottes eine
sprechen: Gott, erbarme Dich meiner, — wäh- offene Hand."
rend Großvater und Großmutter sich andäch- So starb er denn, und ich begrub ihn. Mei-
tig verbeugten oder knieten. Ich war sieb- nen Bruder faßte der Neid, daß Hof und
zehn Jahre alt, als Großmutter starb. Groß- Habe mir allein zufallen sollten; er wurde
vater sagte mir: „Jetzt haben wir keine Haus- mir gram, und der böse Feind förderte ihn
frau mehr im Hause; wie sollen wir es aber so sehr darin, daß er sogar mit der Absicht
ohne ein Weib schaffen ? Dein älterer Bruder umging, mich zu töten. Schließlich tat er
ist auf Abwege geraten; ich will dich verhei- eines Nachts, als wir schliefen und außer uns
raten." niemand in der Herberge war, folgendes : er
Ich widersprach, wies auf meinen verkrüp- erbrach die Kammer, in der das Geld bewahrt
pelten Arm hin, aber Großvater beharrte auf wurde, holte es aus dem Kasten heraus und

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steckte die Kammer in Brand. Wir merkten daß sie spann oder webte, -während ich neben
das Unglück erst, als die Hütte und der ganze ihr saß und ihr die Bibel vorlas. Sie hörte zu,
Hof in Feuer standen; wir sprangen mit Mühe und manchmal brach sie in Tränen aus. Wenn
zum Fenster hinaus und retteten nichts, als ich fragte : „Warum weinst du denn ? Gott
was wir am Leibe hatten. hat uns doch am Leben gelassen," antwor-
Die Bibel hatte uns zu Häupten gelegen, tete sie : „Das finde ich so rührend, was in der
und wir hatten sie gerade noch ergreifen kön- Bibel so wundervoll gesagt ist." Desgleichen
nen. Da wir sahen, wie unser Haus in Flam- gedachten wir auch, was uns der Großvater
men stand, sagten wir zueinander: „Gott sei geboten hatte, fasteten häufig und lasen jeden
Dank, wenigstens haben wir doch die Bibel Morgen das Offizium der Mutter Gottes ; ge-
gerettet, so haben wir denn, was uns in un- gen Abend aber machten wir beide wohl an
serem Leid trösten wird." So war denn unsere tausend Verbeugungen, um nicht in Versu-
ganze Habe verbrannt; unser Bruder aber chung zu fallen. So führten wir zwei Jahre
war spurlos verschwunden. Erst später er- lang ein ruhiges Leben. Eines war doch wun-
fuhren wir, daß er sich trunkenen Muts rühm- derbar: obwohl wir vom inneren Gebet, das
te, er habe das Geld geraubt und Feuer an im Herzen verrichtet wird, nicht die geringste
den Hof gelegt. Vorstellung und auch nie davon gehört hat-
So waren wir denn nackt, und bloß, und ten, sondern einfach mit der Zunge beteten
bettelarm. Für ein weniges, was wir uns und ganz unvernünftig unsere andächtigen
liehen, bauten wir uns ein kleines Hüttchen Verbeugungen machten, ja, wie Narren Pur-
und lebten da als arme Häusler. Meine Frau zelbäume schlugen, war doch die Lust zum
verstand sich meisterlich auf Handarbeiten : Beten da, und ein langes, äußeres und un-
sie konnte spinnen, nähen, sticken. Sie ließ verstandenes Beten schien uns nicht schwie-
sich von andern Menschen Arbeit geben, ar- rig zu sein, vielmehr verrichteten wir es mit
beitete Tag und Nacht und sorgte für meinen Freuden. Der Lehrer mag wohl recht ge-
Unterhalt. Weil ich doch aber die verkrüp- habt haben, der mir einmal sagte, es gäbe
pelte Hand hatte, konnte ich nicht einmal ein geheimes Gebet im Menschen selber, von
Bastschuhe flechten. Da kam es wohl vor, dem er gar keine Ahnung habe; unbewußt
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würde es von der Sееlе verrichtet, und es regte vorerst nach Kijеw1) pilgern und Gottes Hei-
einen jeden zum Flehen an, so gut er es gerade ligen andächtige Verehrung bezeugen und sie
könnte. um ihre Hilfe in meinem Kummer anrufen.'
Nachdem wir so zwei Jahre miteinander Kaum hatte ich dieses beschlossen, als mir
gelebt hatten, erkrankte meine Frau plötzlich auch leichter wurde, und so kam ich freudigen
an einem hitzigen Fieber und starb am neun- Herzens nach Kijew. Seit jener Zeit, es sind
ten Tage, nachdem sie vorher das heilige Sa- aber schon dreizehn Jahre her, pilgere ich un-
krament empfangen hatte. So war ich denn unterbrochen von einem Ort zum andern; in
mutterseelenallein, und arbeiten konnte ich ja vielen Kirchen und Klöstern bin ich gewesen;
auch nicht; so hätte ich denn als Bettler um- nun pilgere ich aber zumeist durch Steppen
herziehen müssen, und doch war es mir pein- und Felder. Ich weiß nicht, ob Gott mir gnä-
lich, um Almosen zu bitten; zudem überkam dig sein wird, daß ich in das heilige Jerusalem
mich eine solche Sehnsucht nach meiner Frau, komme. Wenn es denn Gottes Wille ist, wäre
daß ich nicht wußte, wohin mit mir. Wenn es schon an der Zeit, daß mein sündiges Ge-
ich meine Hütte betrat und ihre Kleider da bein dort zur Ruhe kommt."
hängen sah oder ein Kopftuch etwa, das ihr „Und wie alt bist du denn ?"
gehörte, so kam es wohl vor, daß ich aufheulte „Dreiunddreißig Jahre."
und ohne Besinnung hinstürzte. So konnte „Na, lieber Freund, dann hast du ja just
ich denn, in diesem Hause lebend, meine das Alter Christi erreicht."
Sehnsucht nicht länger ertragen; darum ver-
1) In Kijew befindet sich das älteste russische Klo-
kaufte ich die Hütte für zwanzig Rubel; alles, ster, die sog. „Petschërskaja Lawra"; berühmter Wall-
was meine Frau und ich an Kleidern besaßen, fahrtsort.
verschenkte ich den Armen. Weil ich doch
ein Krüppel war, bekam ich einen fristlosen,
militärfreien Paß; unverzüglich nahm ich
meine geliebte Bibel und zog in die weite Welt.
Als ich mich auf den Weg machte, dachte ich :
‚Wohin soll ich wohl gehen ? Ich will mal
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ich drei Jahre nicht gesehen hatte. Nachdem
wir uns begrüßt, fragte er, wohin ich ginge.
Ich antwortete : ,Ich möchte, wenn es Gott
VIERTE ERZÄHLUNG. gefällt, ins alte Jerusalem.` ‚Gott sei Dank,'
erwiderte er, ,da hätte ich auch gleich einen
„Mir aber frommt es, Gott anzuhangen und guten Weggefährten für dich.' ,Gott sei mit
auf den Herrn meine Hoffnung zu setzen"1). dir und mit ihm,' sagte ich. ,Weißt du denn
„Das Sprichwort ,Der Mensch denkt, und nicht, daß es meine Eigenart ist, nie mit an-
Gott lenkt' hat schon recht", sagte ich, als ich dern Weggenossen zusammenzugehen; ich
meinen Beichtvater abermals aufsuchte. „Ich habe mich daran gewöhnt, immer allein zu
glaubte, daß ich mich heute auf den Weg ma- pilgern.' ‚Aber hör' mich doch an, ich weiß,
chen und zur heiligen Stadt Jerusalem pilgern daß dieser Gefährte gerade der rechte für dich
würde; nun ist es aber anders gekommen; ein ist; wie er mit dir, so wirst du es mit ihm
ganz unvorhergesehener Zufall hält mich an gut haben. Sieh mal, der Vater des Besitzers
diesem Ort noch für drei weitere Tage fest. dieses Hauses, dem ich mich als Arbeiter ver-
Ich habe nicht anders gekonnt, als euch auf- dingt habe, hat ein Gelübde getan, ebenfalls
zusuchen, um euch davon Mitteilung zu ma- ins alte Jerusalem zu pilgern, und du wirst
chen, und euch um euren Rat zu bitten, mit ihm gut fahren. Er ist ein hiesiger Klein-
was ich wohl in diesem Fall, der mir ganz bürger; ein guter Alter, zudem ist er völlig
überraschend kommt, tun soll. Nachdem ich taub, man mag schreien, so laut man will, er
von allen Abschied genommen, machte ich kann nichts hören; willst du ihn nach etwas
mich mit Gottes Hilfe auf die Pilgerschaft; fragen, so mußt du es zuvor auf einen Zettel
als ich gerade die Stadtgrenze überschreiten schreiben, und alsdann wird er antworten; so
wollte, sah ich vor dem Tor des letzten Hauses wird er dir denn unterwegs nicht zur Last
einen mir bekannten Menschen stehen, der fallen, wird auch überhaupt nicht mit dir
dereinst ein Pilger war wie ich auch, und den sprechen, schweigt er doch auch zu Hause zu-
1) Ps. 72, 28. meist; du würdest ihm aber unterwegs un-
entbehrlich sein. Der Sohn gibt ihm bis
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Odessa Pferd und Wagen, die er dort ver- machen. Ja, das sind so Zufälle, die einem
kaufen soll. Obwohl der Alte nun zu Fuß auf dem Lebenswege begegnen Alles aber,
wandern will, wird man ihm doch für sein was wir tun und planen, wird von Gott und
Gepäck und für einige Stiftungen, die er fürs von seiner heiligen Vorsehung gelenkt, wie ja
Heilige Grab mitnehmen soll, Pferd und Kar- auch geschrieben stehet, ,denn Gott ist es, der
ren geben. Deinen Beutel brauchst du dann in euch sowohl das Wollen als auch das Voll-
auch nicht selbst zu schleppen. Überleg' nun, bringen nach seinem Wohlgefallen bewirkt"1).
wie könnte man einen alten tauben Mann Nachdem mein Beichtvater mich angehört
ganz allein eine so weite Reise unternehmen hatte, sagte er : „Ich freue mich von Herzen,
lassen. Wir haben lange nach einem Begleiter geliebtesterBruder, daß Gott es unerwarteter-
gesucht, doch verlangen alle einen zu hohen weise gefügt hat, daß ich dich nach so kurzer
Lohn; zudem ist es auch gefährlich, ihn mit Zeit wiedersehe. Da du nun frei bist, würde
einem unbekannten Menschen ziehen zu las- ich dich mit Vergnügen länger bei mir be-
sen, denn er führt ja auch Geld und Gut mit halten, und du wirst mir dann noch von dei-
sich. Schlag' ein, Bruder, sicher, es wird gut nen erbaulichen Begegnungen erzählen, die
sein; entschließe dich zur Ehre Gottes und du in deinem langen Pilgerleben gehabt hast.
aus Liebe zu deinem Nächsten ! Ich aber will Auch alle deine früheren Erzählungen habe
dich den Wirtsleuten empfehlen, und sie wer- ich mir mit Vergnügen und Aufmerksamkeit
den sich unaussprechlich freuen; es sind gute angehört."
Menschen, und sie haben mich sehr lieb ; ich „Dies will ich mit Freuden tun," sagte ich
arbeite schon seit zweiJahrenin diesem Hause.' und begann zu erzählen.
Nachdem wir so amTor geredet hatten, führte „Vielerlei ist mir begegnet, Gutes und
er mich in das Haus zu dem Besitzer, und ich Schlechtes ; alles läßt sich ja nicht erzählen,
sah, daß es wohl eine rechtschaffene Familie und vieles habe ich schon vergessen, denn ich
sein mußte und ging auf ihren Vorschlag ein. war bemüht, vor allen Dingen nur das zu be-
Da haben wir nun beschlossen, am dritten halten, was meine träge Seele zum Gebet an-
Weihnachtstage, wenn Gott seinen Segen leitete und anregte; an das Übrige habe ich
gibt, nach dem Hoch amt uns auf den Weg zu 1) Phil. 2, 13.

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selten zurückgedacht, oder besser gesagt, ich keit erachten oder für ehrgeizige Geistesgier,
war bemüht, es zu vergessen, wie ja der hei- was besonders für Anfänger gilt, denen es
lige Apostel Paulus lehrt: ,Ich vergesse, was erforderlich ist, daß die im Gebet zugebrachte
hinter mir ist, dagegen strecke mich aus nach Zeit an Dauer die Zeit überträfe, die sie an-
dem, was vor mir ist`1). Auch pflegte mein dern frommen Übungen zuwenden. Es ist ja
seliger Starez zu sagen, daß die Angriffe gegen aber doch nicht möglich, alles zu vergessen.
das Herzensgebet von zwei Seiten erfolgen, Manches hat sich mir ganz von selbst ins Ge-
von der rechten und von der linken, das heißt, dächtnis eingeprägt, daß ich mich daran leb-
wofern es dem bösen Feinde nicht gelingt, haft erinnere, selbst dann, wenn ich lange
durch eitle Gedanken und sündigeв Begehren nicht daran zurückgedacht habe; ich denke
vom Gebet abzulenken, so läßt er im Ge- zum Beispiel an eine fromme Familie, bei der
dächtnis erbauliche Erinnerungen erstehen, ich nach Gottes gnädiger Führung einige
oder er gibt einem wunderbare Gedanken ein, Tage verbracht habe.
um einen, wenn auch nur hierdurch von dem „Als ich durch das Gouvernement Tobolsk
Gebet, das ihm verhaßt ist, abzulenken. Die- pilgerte, kam ich durch eine kleine Kreis-
ses wird aber ein Diebstahl zur Rechten ge- stadt. Ich hatte sehr wenig Hartbrot bei mir,
nannt, wobei die Seele, das Unterreden mit darum ging ich in ein Haus, um mir Brot für
Gott mißachtend, sich einem verführenden den Weg auszubitten. Der Hausherr sagt
Zwiegespräch mit sich selber oder mit den mir: ‚Gott sei Dank, du bist zur rechten Zeit
Geschöpfen zuwendet. Darum lehrte er mich gekommen; meine Frau hat gerade in diesem
auch, während des Gebets selbst die schön- Augenblick das Brot aus dem Ofen genom-
sten geistigen Gedanken und Tagesbegeben- men; da hast du ein noch warmes Brot; bitte
heiten nicht aufzunehmen; wofern man be- für uns zu Gott.' Ich dankte und legte das
merkt, daß man die Zeit mehr in erbaulichen Brot in meinen Beutel. Da das die Hausfrau
Gedanken und Zwiegespräch zubrachte, als sah, sagte sie: ,Dein Beutel ist ja schon ganz
in dem wesentlichen, unsichtbaren Herzens- abgetragen, ich will dir einen andern geben,'
gebet, soll man auch dieses für eine Maßlosig- und sie brachte mir einen guten, festen Sack.
1) Phil. 3, 13. Ich dankte ihnen von Herzen und setzte mei-

112 8 Ein russisches Pilgerleben 113


neu Weg fort. Unterwegs ging ich zu einem mich alsbald an der Hand und sagten:
Krämer und bat ihn um etwas Salz; der Krä- ,Komm mit zu Mama, sie hat die Bettler
mer gab mir auch ein kleines Säcklein. Da lieb.' ,Ich bin kein Bettelmann,` sagte ich,
freute ich mich im Geist und dankte Gott, ,ich bin nur unterwegs auf einer Wanderung.'
daß er mir, dem Unwürdigen, so gute Men- ,Und warum trägst du denn den Sack ?` ,Da
schen weist. Ich dachte : nun kann ich eine habe ich mein Brot für die Reise drin.' ‚Nein,
Woche lang unbesorgt sein; ich werde satt komm du unbedingt, Mama wird dir Geld für
zu essen haben und kann zufrieden sein. die Reise geben.' ,Wo ist denn eure Mama ?`
Meine Seele lobe den Herrn. fragte ich. ,Drüben, hinter der Kirche, hinter
„Als ich dann etwa fünf Werst weiterge- diesem Wäldchen.`
wandert war, sah ich ein nicht gerade reiches „Nun führten sie mich in einen wunder-
Kirchdorf am Wege liegen; die Kirche war vollen Garten, und in der Mitte des Gartens
ein Holzbau, war aber von außen schön ge- sah ich ein großes, herrschaftliches Haus; wir
schmückt und bemalt. Mich kam der Wunsch betraten das Haus. Oh, wie sauber war da
an, dem Tempel Gottes andächtige Verehrung alles und wie prachtvoll eingerichtet ! Da
zu bezeugen, und ich trat an den Kirchenein- kam uus auch schon die Herrin selber ent-
gang, um zu beten. Abseits von der Kirche, gegengeeilt. ,Sei willkommen! sei willkom-
auf einer kleinen Wiese, spielten zwei Kinder- men ! Woher hat dich Gott zu uns gesandt ?
lein von fünf oder sechs Jahren. Ich dachte, Setz' dich, setz dich hierher, lieber Freund.'
es wären die Kinder des Priesters, obwohl sie Sie knüpfte mir eigenhändig meinen Sack ab,
sehr sorgfältig angezogen waren. Nachdem legte ihn auf den Tisch und nötigte mich, auf
ich mein Gebet verrichtet hatte, pilgerte ich einem sehr weichen Stuhl Platz zu nehmen.
weiter. Ich war noch keine zehn Schritt ge- ‚Willst du nicht was essen ? Oder vielleicht
gangen, als ich hinter mir rufen hörte : ‚Bet- willst du Tee haben ? Oder womit könnte ich
telmann, Bettelmann, halt !' So riefen die dir sonst helfen ?' ,Ich danke untertänigst,`
beiden Kleinen, die ich gesehen hatte, ein antwortete ich, ,mein ganzer Sack ist voll Le-
Knabe und ein Mädchen, und kamen auf mich bensmittel; zwar trinke ich Tee, bin aber doch
zugelaufen; ich blieb stehen, und sie faßten nach Bauernart nicht gerade daran gewöhnt;

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Euer Eifer und Eure liebevolle Begrüßung sind gehen und dort beten, und alsdann würden
mir teurer noch als jede Bewirtung; ich werde wir zusammen speisen, was Gott gegeben hat;
zu Gott flehen, daß er Euch segne wegen Eurer Feiertags haben wir immer Gäste, — bis zu
so evangelischen Liebe zu mir, dem Fremd- dreißig Bettler, Christi Brüderschaft. Warum
ling.' Da ich so sprach, fühlte ich in mir das hast du mir denn noch gar nichts von dir
lebhafte Verlangen, mich in mein Inneres zu selber erzählt ? Woher du kommst und wohin
versenken. Das Gebet wallte in meinem Her- du gehst ? Sprich mit mir, ich liebe geistlichen
zen auf, und mich verlangte nach Ruhe und Gesprächen gottwohlgefälliger Leute zuzu-
Einsamkeit, um diese von selbst auflodernde hören. Kinder, Kinder ! nehmt den Sack des
Gebetsflamme nicht zu unterdrücken, denn Pilgers und bringt ihn in das Heiligenbild-
ich wollte die äußeren Gebetsanzeichen, als zimmer; er wird dort übernachten.` Da ich
da sind : Tränen, Seufzer, ungewöhnliche diese Worte hörte, staunte ich und dachte bei
Zuckungen des Gesichts und der Lippen vor mir: ‚Rede ich mit einem Menschen, oder was
andern Leuten verbergen. für ein Gesicht ist mir geworden?'
„Darum erhob ich mich und sagte : ,Ich „So blieb ich denn, um auf den Herrn zu
bitte um Vergebung, Mütterchen; ich muß warten. In Kürze berichtete ich über meine
nun gehen; der Herr Jesus Christus sei mit Pilgerfahrt, und daß ich auf dem Wege nach
Euch und mit Euren lieben Kinderlein.` ‚Ach Irkutsk sei. ,Das trifft sich ja sehr gut,' sagte
nein, Gott verhüte, daß du uns schon verläßt; die Frau, ,dann mußt du unbedingt über
ich lasse dich nicht ziehen. Gegen Abend Tobolsk gehen; meine Mutter ist dort; sie
wird mein Mann aus der Stadt kommen, er ist Nonne in einem Kloster, und jetzt lebt
ist dort Richter am Kreisgericht. Wie sehr sie in der Einsiedelei; wir geben dir einen
wird er sich freuen, wenn er dich sieht ! Jeden Brief mit, sie wird dich empfangen. Viele
Pilger erachtet er für einen Boten Gottes. suchen sie auf, um sich geistlichen Rat bei
Wenn du nun gehen wolltest, würde ihn das ihr zu holen. Alsdann magst du ihr auch ein
sehr betrüben, denn er hätte dich dann ja Buch des Johannes Klimax bringen, das wir
nicht gesehen; zudem ist morgen Sonntag; für sie aus Moskau auf ihren Wunsch haben
du könntest mit uns zusammen ins Hochamt kommen lassen. Wie gut sich das alles trifft!'

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Endlich war es Mittagszeit, und wir setzten will mit dir in den Garten kommen, und du
uns zu Tisch. Es kamen noch vier Damen, wirst mir da was Erbauliches erzählen. Wenn
die ebenfalls mit uns speisten. Nach Beendi- du nämlich allein gingest, würden dir die
gung des ersten Ganges erhob sich eine der Kinder keine Ruhe geben; wenn sie dich
Damen, verneigte sich andächtig vor dem sehen, werden sie keinen Schritt von dir wei-
Heiligenbild, verneigte sich alsdann vor uns, chen, — so sehr lieben sie Bettler, Christi
ging hinaus, brachte den zweiten Gang und Brüder und alle Pilgersleute.'
setzte sich wieder; alsdann stand eine andere „Da war nichts zu machen; so gingen wir
auf und holte das dritte Gericht. Da ich dies denn. Als wir in den Garten kamen, ver-
sah, sagte ich zur Frau des Hauses : ,Darf ich neigte ich mich tief vor der Herrin und sagte,
wohl wagen, Mütterchen, zu fragen, ob diese damit ich nicht selber zu reden brauchte : ,Ich
Damen etwa eure Verwandten sind?` ,Ja, bitte Euch im Namen Gottes, Mütterchen,
es sind meine Schwestern; diese da ist die sagt mir, ob ihr schon lange ein so Gott wohl-
Köchin, jene ist die Kutschersfrau, jene die gefälliges Leben führt, und auf welche Weise
Kastellanin und diese hier — meine Zofe; sie ihr diese Frömmigkeit erlangt habt.' ,Ich
sind alle verheiratet; im ganzen Hause habe will dir meinethalben alles erzählen. Schau,
ich kein unverheiratetes Mädchen.` Da ich meine Mutter ist die Enkelin des seligen Joas-
dies hörte und sah, staunte ich noch mehr, saf, dessen Gebeine in Belgorod ruhen. Wir
dankte Gott, der mir zu so frommen Men- besaßen ein großes Haus in der Stadt; einen
schen den Weg gewiesen hatte und fühlte das Seitenflügel bewohnte ein armer Edelmann.
starke Wirken des Gebets in meinem Herzen; Schließlich starb er, und seine Frau blieb
um möglichst schnell in die Einsamkeit zu schwanger zurück; sie gebar und starb gleich
kommen und das Gebet nicht zu stören, er- nach der Geburt. Das Neugeborene war also
hob ich mich und sagte zur Hausfrau : ,Ihr ein armes Waisenkind; aus Mitleid nahm
müßt nach dem Essen ruhen, und ich will, da mein Mütterchen es bei sich auf; ein Jahr
ich doch gewöhnt bin, zu wandern, mich im darauf wurde ich geboren. Wir wuchsen zu-
Garten ergehen.' ‚Nein,' sagte die Hausfrau, sammen auf und hatten bei denselben Lehrern
,ich pflege mich nicht hinzulegen; auch ich und Lehrerinnen Unterricht, und wir gewöhn-

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ten uns so aneinander, als wären wir Bruder ich will es holen.' Wir hatten uns gerade
und Schwester. Nach einiger Zeit starb auch hingesetzt, um darin zu lesen, als der Haus-
mein Vater, mein Mütterchen aber zog mit herr eintrat. Da er mich sah, umarmte er
uns aus der Stadt in dieses Dorf, das ihr ge- mich liebevoll, und wir küßten uns wie christ-
hörte. Als wir herangewachsen waren, ver- liche Brüder; er führte mich in sein Zimmer
heiratete mich Mütterchen mit ihrem Pflege- und sagte :
sohn und gab uns dieses ihr Dorf, während „,Komm nur, geliebter Bruder, in mein
sie selber ins Kloster ging. Sie gab uns ihren Schreibzimmer, und segne meine Zelle. Ich
elterlichen Segen und befahl uns, wir sollten denke, sie wird dich gelangweilt haben! (hier-
ein christliches Leben führen, eifrig zu Gott bei zeigte er auf seine Frau). Immer, wenn
beten, vor allen Dingen aber darauf bedacht sie einen Pilger oder eine Pilgerin sieht oder
sein, das wichtigste Gebot Gottes zu erfüllen, irgendeinen Kranken, würde sie sich am lieb-
das heißt, die Nächsten lieben, sie pflegen, sten Tag und Nacht nicht von ihnen trennen;
den Bettlern und den Brüdern Christi in von jeher war dies eine Gewohnheit in ihrer
Schlichtheit und Demut helfen, die Kinder Familie.'
in der Furcht Gottes erziehen und mit un- „Wir kamen in das Schreibzimmer. Oh,
seren Knechten so umgehen, als wären sie wie viele Bücher da waren, welch schöne Hei-
unsere Brüder. Da leben wir nun schon seit ligenbilder, das lebenspendende Kreuz, man-
zehn Jahren hier in dieser Einsamkeit und nesgroß, und daneben das Evangelium! Ich
sind bemüht, das Gebot unserer Mutter nach verrichtete ein Gebet und sagte : ,Ihr habt
Kräften zu erfüllen. Wir haben auch ein hier ein wahres Gottesparadies, Väterchen.
Bettlerheim, in welchem jetzt mehr als zehn Hier ist der Herr Jesus Christus selber, seine
Krüppel und Kranke leben; wir können ja Allerreinste Mutter und seine Heiligen; dies
morgen hingehen.' aber (ich zeigte auf die Bücher) sind ihre gött-
„Nachdem sie mir dies erzählt hatte, fragte lichen, lebenspendenden, nie verstummenden
ich, wo denn das Buch des Johannes Klimax Worte und Unterweisungen; ich denke, Ihr
wäre, das sie ihrer Mutter schicken wolle. werdet Euch des öfteren an ihnen in himmli-
,Komm, wir wollen wieder ins Haus gehen, scher Unterredung ergötzen."

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,,,Ich gestehe,' antwortete der Herr, ,daß ,,,Sie mag uns vorlesen; sie liest wunder-
ich eine Vorliebe für Bücher habe.' schön; wir wollen uns inzwischen stärken.`
,,,Was habt Ihr denn hier für Bücher ?` „Da begann sie uns vorzulesen, wir aber
fragte ich. hörten zu. Während ich zuhörte, horchte ich
,Ich besitze auch viele geistliche Bücher,` auch auf das Gebet, das sich in meinem Her-
antwortete der Herr. ‚Hier habe ich ein voll- zen verrichtete; je weiter sie las, desto mehr
ständiges Heiligenleben, hier die Werke des entwickelte sich auch das Gebet und beseligte
Johannes Chrysostomus, hier — Basil den mich. Plötzlich sah ich, daß jemand vor mei-
Großen, viele theologische und philosophische nen Augen, gleichsam durch die Luft, vorbei-
Bücher, alsdann auch viele neueste Postillen huschte, als wäre es mein seliger Starez. Ich
berühmter Prediger. Meine Bibliothek hat fuhr auf, sagte aber, um meine Bewegung zu
mich an fünftausend Rubel gekostet.' verbergen: ‚Vergebt mir, ich habe ein wenig
„,Besitzt Ihr nicht vielleicht die Werke geschlummert.' Da fühlte ich, daß der Geist
eines Schriftstellers, der über das Gebet des Starez meinen Geist gleichsam durch-
schreibt ? Ich liebe es sehr, über das Gebet drang oder ihn erleuchtete; ich fühlte ein
zu lesen.' Licht in meinem Geist aufflammen, und mir
,,,Ich habe hier ein ganz neues Buch über kamen viele Gedanken über das Gebet. Ich
das Gebet. Es ist das Werk eines Peters- bekreuzigte mich und wollte diese Gedanken
burger Priesters.' Der Herr holte eine Er- zurückweisen; da hatte die Dame das ganze
klärung des Vaterunsers hervor, und wir be- Buch gerade zu Ende gelesen. Der Herr fragte
gannen darin voller Freuden zu lesen. Bald mich, ob mir dieses Werk gefallen habe, und
darauf kam auch die Hausfrau zu uns; sie da entspann sich eine Unterredung. — ,Sehr
brachte Tee, und die Kleinen kamen mit gefällt es mir,' antwortete ich, ,auch steht
einem Körbchen, ganz aus Silber, voll trock- des Herrn Gebet, das Vaterunser, höher und
ner Kuchen, wie ich sie mein Lebtag nie ge- ist wertvoller, als alle geschriebenen Gebete,
gessen hatte. Der Herr nahm mir das Buch die wir Christen haben; denn der Herr Jesus
aus der Hand, reichte es seiner Frau und Christus hat es uns selber gelehrt; und die hier
sagte : verlesene Erklärung ist auch sehr gut, nur
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daß alles zumeist auf das christliche Tun ge- mit einem Wort, der heilige Name Gottes
richtet ist, während ich bei den heiligen Vä- müsse heilig gebraucht und nicht unnütz im
tern auch eine geistanschauliche, geheime Er- Munde geführt werden; die mystischen Deu-
klärung dieses Gebets gelesen habe.' ter erblicken hierin aber eine Bitte um das
,Bei welchen Vätern hast du denn das innere Herzensgebet, das heißt, daß der hei-
gefunden?' ligste Name Gottes sich dem Herzen inner-
,,,Nun, zum Beispiel bei Maxim dem Bе- lichst einprägte und durch selbsttätiges Gebet
kenner; alsdann in der Tugendliebe bei Petrus geheiligt werde und auch a11е Gefühle und
Damascenus.' Seelenkräfte heiligte. Die Worte : ,zukomme
,,,Vielleicht fällt dir irgend etwas daraus uns Dein Reich' — deuten die mystischen Er-
ein, dann sag' es uns.' klärer also : in unsere Herzen möge der innere
,,,Sehr gerne. Der Anfang des Gebets: Frieden, Ruhe und geistige Freude einziehen.
Vater unser, der du bist im Himmel, wird in In dem Buch wird erklärt, man habe unter
dem Buch, das wir hier gelesen haben, so ge- den Worten ,unser tägliches Brot gib uns
deutet, man habe unter diesen Worten zu ver- heute' die Bitte um die tägliche Notdurft für
stehen, daß man sich die Liebe zum Nächsten das leibliche Leben zu verstehen, sofern einem
als zu Kindern eines Vaters einprägen solle. dieses zukommt, und sofern man es braucht,
Dies ist sehr richtig; aber bei den heiligen um seinen Nächsten hinreichend zu helfen.
Vätern wird dieses selbe auch ausführlicher Maxim, der Bekenner aber versteht unter dem
und geistiger gedeutet. Sie sagen nämlich, täglichen Brot die Speisung der Seele mit dem
man soll den Geist gen Himmel heben, empor himmlischen Brot, das heißt, mit dem Worte
zum Himmlischen Vater, und unserer Pflicht Gottes, und die Verbindung der Seele mit
gedenken, allezeit vor dem Antlitz Gottes zu Gott durch Gottdenken, durch unablässiges
stehen und vor Gott zu wandeln. Die Worte : inneres Herzensgebet.`
‚Geheiligt werde DeinName` erklärt das Buch ,,,Ach,` rief der Herr, ,dies ist allerdings
so, man solle mit Sorgfalt darauf achten, den eine große Sache und für uns Menschen in
Namen Gottes nicht ohne Andacht auszu- dieser Welt fast unerreichbar, das innere Ge-
sprechen, oder etwa dabei falsch zu schwören; bet zu erlangen. Wenn Gott einem nur dazu

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hülfe, das äußere Gebet ohne Trägheit zu ver- was tust, sollst du den Schöpfer aller Dinge
richten.' in der Erinnerung haben; wenn du das Licht
,Denkt nicht so, Väterchen. Wofern dies siehst, so erinnere dich Dessen, der es dir ge-
unmöglich und unüberwindlich schwierig schenkt hat; siehst du den Himmel, die Erde,
wäre, hätte es Gott nicht uns allen geboten. das Meer und alles, was darinnen ist, so stau-
Seine Kraft ist auch in dem Schwachen mäch- ne und preise Ihn, der das geschaffen hat;
tig. Die erfahrenen heiligen Väter geben uns wenn du dir deine Kleider anziehst, so denke
aber Mittel an, die es einem erleichtern, das daran, wessen Gabe sie sind, und danke Ihm,
Herzensgebet zu erlangen. Natürlich weisen der für dein Leben sorgt. Kurz gesagt, eine
sie den Einsiedlern besondere und höhere jegliche Bewegung soll dir Anlaß geben, Got-
Mittel an; aber auch den Laien schreiben sie tes zu gedenken und Ihn zu preisen. Alsdann
bequeme Mittel vor, die sicherlich zur Erlan- wirst du unablässig beten, und deine Seele
gung des inneren Gebets führen.` wird sich hierüber immer freuen'. — Da seht
,,,Nie habe ich noch Gelegenheit gehabt, nun, wie bequem es ist, also unablässig zu
hierüber Ausführlicheres zu lesen,' sagte der beten. Es ist leicht und für jeden erreichbar,
Herr. der wenn auch nur ein wenig menschliches
„,Wenn ihr wünscht, will ich Euch etwas Fühlen hat.'
aus der „Tugendliebe" vorlesen.' „Dieses gefiel ihnen sehr wohl. Der Herr
„Ich holte meine ,Tugendliebe`, schlug dort umarmte mich voller Freuden, dankte mir,
im dritten Teil auf Seite achtundvierzig die warf einen Blick auf meine ,Tugendliebe` und
Unterweisungen des Petrus Damascenus auf sagte : ‚Unbedingt will ich mir dieses Buch
und begann folgendes zu lesen: ,Man muß es kaufen; ich will es mir gleich aus Petersburg
lernen, den Namen Gottes mehr anzurufen, kommen lassen. Nun will ich mir aber zur
als zu atmen, zu jeder Zeit, allerorten und bei Erinnerung diese Unterweisung, die du mir
jeglicher Verrichtung. Der Apostel sagt: eben vorgelesen hast, abschreiben; lies sie mir
Betet ohne Unterlaß, das heißt, er lehrt, man noch einmal vor.' Und alsogleich schrieb er
solle zu jeder Zeit, allerorten und bei jeder sie geschwind und sehr vortrefflich nieder.
Verrichtung Gottes gedenken. Wenn du et- Alsdann rief er: ,Mein Gott, ich habe ja auch

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ein Bildnis des heiligen Damascenus (dies war aber sagte : „Der Ärmste, seine Sandalen
wahrscheinlich ein Heiligenbild des Johannes gehen auch schon fast auseinander." Er
Damascenus). Er öffnete den Rahmen, setzte brachte seine großen Überschuhe, die er über
das geschriebene Blatt unters Glas, befestigte dem Schuhwerk zu tragen pflegte, und sagte
es unter dem Heiligenbilde und sagte: ,Das mir: ,Geh in jenes Zimmer; da wird dich nie-
lebendige Wort des gottbegnadeten Mannes mand stören; wechsle die Wäsche.` Ich begab
unter seinem Bildnis wird mich immer wieder mich hin, kleidete mich um und kam dann
daran erinnern, diesen heilsamen Ratschlag wieder zu ihnen. Sie setzten mich auf einen
auch in meinem Tun zu befolgen.' Stuhl und bekleideten meine Füße; der Herr
„Hierauf begaben wir uns zum Abendessen. umwickelte meine Beine mit den Fußlappen,
Wie früher, saß auch jetzt die ganze Diener- die Herrin aber zog die Schuhe darüber. Ich
schaft mit am Tisch, Männer und Frauen. wollte dies anfangs nicht dulden, sie geboten
Welch andächtiges Schweigen und welche mir aber, stille zu sein, und sagten: ‚Halt
Stille herrschte während des Mahles ! Nach- stille und schweig : Christus hat seinen Jün-
dem wir gespeist hatten, beteten die Erwach- gern die Füße gewaschen.' Was konnte ich
senen und die Kinder lange. Ich mußte einen da tun! Ich mußte weinen, und sie weinten
Lobgesang auf den Süßesten Jesus vorlesen. auch.
„Hierauf begab sich die Dienerschaft zur „Hierauf begab sich die Herrin in ihre Ge-
Ruhe, und wir blieben selbdritt im Zimmer. mächer, wo sie mit den Kindern schlief, wäh-
Da brachte mir die Herrin ein weißes Herde rend ich mit dem Herrn in den Garten ging,
und Strümpfe; ich verneigte mich tief vor ihr in eine Laube. Lange konnten wir nicht ein-
und sagte : ,Die Strümpfe, Mütterchen, will schlafen, lagen da und sprachen miteinander.
ich nicht nehmen, denn mein Lebtag habe ich Da begann er mir zuzusetzen :
keine getragen; wir sind gewohnt, von Kind ,,,Sage mir um Gottes willen, wahr und
auf in Fußlappen zu gehen.' Da eilte sie wie- aufrichtig, — wer bist du ? Du mußt aus vor-
der hinaus und brachte ein altes Kleid aus nehmem Geschlechte sein und stellst dich
feinem gelben Tuch; sie zerschnitt es und nur so gottesnärrisch. Du kannst gut lesen
machte ein paar Fußlappen daraus. Der Herr und schreiben; du redest und denkst richtig;

128 9 Ein russisches Pilgerleben 129


bei einer bäuerlichen Erziehung wäre das seinen Fall und über seinen verderbten Willen.
nicht möglich.` Mit andern Menschen vernünftig zu reden,
,,,Euch und Eurer Gemahlin habe ich wahr- hält ja nicht schwer und ist durchaus möglich,
heitsgemäß und aufrichtig erzählt, woher ich denn Verstand und Herz sind ja früher da als
komme; auch habe ich nie daran gedacht zu Gelehrtheit und menschliche Weisheit. Hat
lügеn oder Euch zu betrügen. Warum sollte man Verstand, so kann man ihn auch, sei es
ich wohl auch ? Das, was ich abersage,kommt durch die Wissenschaft, sei es durch Erfah-
nicht von mir, sondern ich habe es von mei- rung, schulen; hat man aber keinen Verstand,
nem verstorbenen gottweisen Stаrez und aus so wird keine weise Lehre und keine Erzie-
den heiligen Büchern, die ich aufmerksam hung helfen. Das ist es ja eben, daß wir uns
gelesen habe; das größte Licht gibt aber das selber ferne sind und es kaum wünschen, uns
innere Gebet meiner Torheit; dieses habe ich näher zu kommen; vielmehr entfliehen wir
aber nicht selber mir erworben, sondern ich uns selber, um uns nicht zu begegnen, und
habe es von der Gnade Gottes und von der vertauschen die Wahrheit gegen gleichgültige
Unterweisung meines Starez. Jeder Mensch Kleinigkeiten und denken : wir wollten uns
kann es erlangen; man muß sich nur mög- ja schon mit geistlichen Dingen abgeben oder
lichst still in sein Herz vertiefen und mög- mit Beten, aber wir haben keine Zeit dazu;
lichst oft den erleuchtenden Namen Jesu die Geschäfte und die Sorgen des Lebens
Christi anrufen, so wird auch alsbald ein jeder lassen uns keine Zeit für selbiges Tun. Was
das innere Licht spüren, und er wird alles ist aber wichtiger und notwendiger — das
verstehen, er wird sogar einige Geheimnisse erlösende, ewige Leben der Seele oder das
des Reiches Gottes in diesem Lichte erken- schnell vorüberfliegende Leben des Leibes,
nen. Aber es ist ja schon ein tiefes, erleuch- um welches wir uns so eifrig bemühen ? Das,
tendes Mysterium, wenn der Mensch die Fä- was ich jetzt gesagt habe, ist es auch, was die
higkeit, sich in sich selbst zu vertiefen, er- Menschen, sei es zur Vernunft, sei es zur Tor-
kennt, wenn er sein eigenes Innere sieht, sich heit leitet.'
an der Selbstbeschauung ergötzt, wenn er ge- ,,,Vergib mir, lieber Bruder, es war nicht
rührt wird und selige Tränen vergießt über nur Neugierde, wenn ich dich fragte, sondern

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Wohlwollen und christliche Teilnahme; auch eine Abschrift davon gemacht. Dies setzte
habe ich etwa vor zwei Jahren einen Fall er- mich nicht wenig in Erstaunen und erweckte
lebt, der mich zu meiner Frage an dich bewog. in mir die Neugierde, ihn nach seiner Her-
Sieh mal, da kam ein Bettler zu uns ; in seinem kunft und nach seinem Leben zu fragen. Nach-
Paß hieß es, er wäre ausgedienter Soldat. Er dem ich ihm hatte schwören müssen, das,
war alt und hinfällig und so arm, daß er fast was er mir sagen würde, vor seinem Tode nie-
nackt und goß war. Er sprach wenig und so mandem zu sagen, erzählte er mir zum Ruhme
einfach, als wäre er ein Bauer aus der Steppe. Gottes seine Lebensgeschichte :
Wir nahmen ihn in unserem Bettlerheim auf; ,,,Ich war der Fürst N., besaß ein großes
nach fünf Tagen erkrankte er schwer, und wir Vermögen und führte ein glänzendes, üppiges,
brachten ihn in dieses Gartenhaus, redeten und zerstreutes Leben. Meine Frau starb,
ihm freundlich zu und pflegten ihn, so gut wir und ich lebte mit meinem Sohn zusammen,
konnten. Schließlich ging es aber doch ans der Gardehauptmann war. Als ich mich ein-
Sterben; wir riefen unseren Priester, damit er mal anschickte, auf einen Ball zu einer hoch-
ihm beichtete, das heilige Abendmahl und die gestellten Persönlichkeit zu fahren, ärgerte
Sterbesakramente empfinge. Am Tage vor ich mich über meinen Kammerdiener; ich
seinem Tode stand er auf, bat mich um einen konnte nicht an mich halten und versetzte
Bogen Papier und um eine Feder, verlangte, ihm einen schweren Schlag auf den Kopf und
daß ich die Tür schließe und niemand ein- befahl, daß er wieder ins Dorf zurück solle.
ließe, bis er sein Testament aufgesetzt habe; Dieses geschah am Abend, tags darauf aber
dieses Testament sollte ich dann nach seinem war der Kammerdiener an einer Gehirnent-
Tode an seinen Sohn nach Petersburg schik- zündung gestorben. Aber dies bekümmerte
ken. Ich staunte, als ich sah, daß er nicht mich nicht sehr; ich bedauerte meine Unvor-
nur eine vortreffliche, sehr gebildete Hand- sichtigkeit, vergaß die Geschichte aber bald
schrift schrieb, sondern daß auch das, was er wieder. Sechs Wochen waren darüber hinge-
schrieb, vortrefflich, durchaus richtig und gangen, da geschah es, daß mir dieser ver-
sehr zärtlich gehalten war. Ich will dir dieses storbene Kammerdiener erst im Traum er-
Testament morgen vorlesen, ich habe mir schien; Nacht für Nacht beunruhigte er mich

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und machte mir Vorwürfe; unentwegt wieder- In diesem qualvollen Zustande erkannte
holte er: ‚Gewissenloser, du bist mein Mör- ich meine Sünden, bereute, beichtete, gab
der!` Alsdann erschien er mir auch im wachen allen meinen leibeigenen Bedienten die Frei-
Zustande, am hellichten Tage. Und von Tag heit und tat das Gelübde, ich würde mir mein
zu Tag mehrten sich diese Erscheinungen, bis Lebenlang die schwersten Mühen aufladen
es schließlich so weit kam, daß er mich fast und mich als Bettler verborgen halten, um
unaufhörlich beunruhigte. Dann kam es da- wegen meiner Sünden der allerletzte Diener
hin, daß ich zusammen mit ihm auch andere unter den Menschen niedersten Standes zu
verstorbene Männer erscheinen sah, die ich sein. Kaum hatte ich mich hierzu fest ent-
schwer beleidigt und Frauen, die ich verführt schlossen, als auch die Erscheinungen, die
hatte. Sie alle machten mir ununterbrochen mich beunruhigten, aufhörten. Ich empfand
Vorwürfe und gaben mir keine Ruhe, so daß eine solche Freude und Seligkeit ob der Ver-
ich weder schlafen, noch essen, noch mich be- söhnung mit Gott, daß ich dies gar nicht mit
schäftigen konnte; meine Kräfte waren voll- Worten wiederzugeben vermag. Hier nun
kommen erschöpft, und ganz elend war ich lernte ich ebenfalls aus eigener Erfahrung
geworden, nur Haut und Knochen. Alle Bе- kennen, was das Paradies ist, und auf welche
mühungen berühmter Ärzte waren vergebens. Weise sich das Reich Gottes dem Herzen er-
Ich reiste zur Kur ins Ausland; nachdem ich schließt. Bald genas ich vollständig, führte
aber ein halbes Jahr dort gewesen war, fühlte meine Absicht aus und verließ heimlich, mit
ich durchaus keine Erleichterung, und die dem Paß eines verabschiedeten Soldaten ver-
qualvollen Erscheinungen mehrten sich von sehen, meine Heimat. Schon seit fünfzehn Jah-
Tag zu Tage. Mehr tot als lebendig wurde ich ren pilgere ich durch Sibirien. Mitunter habe
wieder nach Hause geschafft; alles Grauen ich bei Bauern als Tagelöhner gearbeitet, mit-
und alle höllischen Seelenqualen durchlebte unter im Namen Christi um Almosen gebeten.
ich in vollem Maße, noch ehe sich meine Seele Ach, welche Seligkeit empfand ich, welches
vom Körper getrennt hatte. Da überzeugte Glück und welche Gewissensruhe bei all die-
ich mich davon, daß es eine Hölle gibt, und sen Entbehrungen! Nur der vermag dies ganz
verstand ihre Bedeutung. zu empfinden, der durch die Barmherzigkeit

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unseres Mittlers aus der Qual der Höllе in das lernte, indem ich mich an den Früchten der
Paradies Gottes gelangte.' Nachdem er mir Reue ergötzte.
dies erzählt, übergab er mir sein Testament ,Ich sterbe ruhig bei meinem und zugleich
mit der Weisung, es seinem Sohn zu schicken. auch deinem gütigen Wohltäter, da die Wohl-
Tags darauf starb er. Eine Abschrift dieses taten, die dem Vater widerfahren, auch an
Testaments trage ich in meiner Tasche bei das empfindsame Herz eines dankbaren Soh-
mir; sie liegt in meiner Bibel. Willst du es nes rühren müssen. Erweise ihm Dankbarkeit
lesen, kann ich es ja gleich zeigen. Da ist es!` in meinem Namen, so sehr Du kannst.
„Ich faltete das Papier auseinander und ,Empfange denn meinen väterlichen Segen;
las: ich beschwöre Dich, Gottes zu gedenken, Dein
,Im Namen der Hochgelobten Dreieinig- Gewissen rein zu erhalten, vorsichtig, gütig
keit, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen und vernünftig zu sein, mit Deinen Unterge-
Geistes. benen möglichst wohlwollend und liebevoll
umzugehen, Bettler und Pilger nicht zu ver-
Mein vielgeliebter Sohn ! achten, eingedenk dessen, daß auch Dein ster-
,Schon fünfzehn Jahre sind es her, daß Du bender Vater nur als Bettler und als Pilger
Deinen Vater nicht gesehen hast; obwohl ver- Ruhe und Frieden für seine gequälte Seele
schollen, hat er sich doch hie und da nach Dir fand.
erkundigt und väterliche Liebe zu dir gehegt; ,Ich flehe Gottes Segen auf Dich herab und
diese Liebe ist es auch, die ihn dazu treibt, schließe ruhig meine Augen in der Hoffnung
Dir vor seinem Tode diese Zeilen zu senden, auf das ewige Leben und die Barmherzigkeit
auf daß sie Dir eine Lehre für Dein Leben 1 des Mittlers der Menschen, unseres Herrn
seien. Jesu Christi.
‚Du weißt, wie sehr ich wegen meiner Un- Dein Vater N .. .
achtsamkeit und wegen meines zerstreuten
Lebenswandels habe leiden müssen; Du weißt „Solche Gespräche führend, lag ich neben
aber nicht, welche Seligkeit ich im Verlauf dem gütigen Herrn. Da fragte ich ihn: ,Ich
meiner Pilgerschaft, als Namenloser, kennen denke mir, Väterchen, Euer Pilgerheim macht

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Euch viel zu schaffen und bringt Еисh Unruhe ? nur unter der Bedingung, daß du dich, wenn
Unter den Pilgern gibt es ja auch viele, die du dich satt getrunken hast, gleich schlafen
aus Langeweile oder aus Faulheit ein Wan- legst; wenn du dich aber nur im geringsten
derleben führen, auch unterwegs nicht gut widersetzt und Radau machst, so werden wir
tun, wovon ich mich habe überzeugen kön- dich nicht nur vor die Tür setzen und nie wie-
nen.` der aufnehmen, sondern ich werde auch dem
,Solcher Fälle hat es nicht viele gegeben; zu- Amtmann oder dem Stadthauptmann Mit-
meist kamen wirkliche Pilger zu uns,' antwor- teilung machen und dafür sorgen, daß du als
tete der Herr. ‚Aber gerade mit den Schelmen verdächtiger Strolch zwangsweise verschickt
gehen wir besonders liebevoll um und suchen wirst ...` Er erklärte sich hiermit einverstan-
sie bei uns zu halten. Es ist des öfteren vor- den und blieb bei uns. Etwa eine Woche oder
gekommen, daß sie, nachdem sie längere Zeit länger noch trank er tatsächlich viel, soviel
unter unseren guten Bettlern, den Christus- er nur wollte ; aber seinem Versprechen getreu,
brüdern, gelebt haben, ihr Leben besserten und weil er doch so sehr am Schnaps hing,
und als demütige, bescheidene Menschen das den er nicht missen mochte, legte er sich dann
Bettlerheim verließen. Da hatte ich kürzlich gleich schlafen, oder er ging aufs Feld hin-
so ein Beispiel: Ein hiesiger Kleinbürger war aus, legte sich dort nieder und schief. Wenn
so sehr auf Abwege geraten, daß er tatsäch- er wieder nüchtern war, redeten ihm die Bett-
lich überall mit Knüppeln fortgetrieben wur- ler aus dem Heim freundlich zu und gaben
de, und es war niemand da, der ihm auch nur ihm Ratschläge, er möge doch zusehen, daß
ein Stück Brot gegeben hätte. Er war ein er sich das Trinken nach und nach abgewöhne.
Säufer, ein wilder Raufbold, und zudem stahl So kam es denn, daß er allmählich weniger
er auch. In dieser Verfassung kam er halb trank, und nach drei Monaten war er zu einem
verhungert zu uns; er bat um Brot und um enthaltsamen Menschen geworden; jetzt hat
Schnaps, auf den er es besonders abgesehen er als Tagelöhner irgendwo Arbeit gefunden
hatte. Wir nahmen ihn freundlich auf und sag- und lebt nicht mehr als Müßiggänger von
ten: ,Du kannst bei uns wohnen; wir werden fremder Leute Brot. Vorgestern war er hier,
dir Schnaps geben, soviel du magst, aber um mir zu danken."
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Welche Weisheit liegt darin, dachte ich bei sich an einen Tisch. Oh, welches Schweigen
mir, die sich hier unter Anleitung der Liebe und welche Ruhe herrschte ! Ich erkühnte
auswirkt, und ich rief : ‚Gott sei gepriesen, der mich und sagte leise dem Herrn: ,In Klöstern
Seine Gnade darin erweist, daß er das Maß wird während des Mahles aus dem Heiligen-
eurer Mäßigkeit gesetzt hat !" leben vorgelesen; ihr solltet auch so tun; ihr
„Nachdem wir so miteinander geredet, besitzt ja ein vollständiges Heiligenleben.`
schliefen wir eine Stunde oder anderthalb und Der Herr wandte sich an seine Gemahlin und
wachten dann von den Glocken auf, die zur sagte : ,Tatsächlich, Mascha, wollen wir diese
Matutin riefen. Wir machten uns auf den Ordnung bei uns einführen. Das wird sehr
Weg, und als wir in der Kirche anlangten, war erbaulich sein. Heute will ich als Erster lesen,
die Herrin mit ihren Kinderlein schon da. Wir dann bei der nächsten Speisung du, dann der
nahmen am Gottesdienst teil, und bald dar- Priester und dann der Reihe nach die from-
auf begann auch das feierliche Hochamt. Ich, men Brüder, wer von ihnen grade lesen kann.'
der Herr und sein kleiner Sohn nahmen im Der Priester aß weiter und entgegnete : ,Ich
Altarraum Aufstellung, während die Herrin liebe wohl zuzuhören, aber was das Lesen
mit dem kleinen Mädchen am Altarfenster betrifft, da danke ich gehorsamst; ich habe
stand, um die Wandlung der heiligen Gaben keinen einzigen freien Augenblick. Wenn ich
zu sehen. Mein Gott! wie innig beteten sie nach Hause komme, weiß ich gar nicht vor
doch auf Knien liegend und selige Tränen lauter Arbeit, womit ich zuerst beginnen soll;
vergießend! Wie licht wurden ihre Angesich- lauter Sorgen und Mühen; bald ist's das Eine,
ter, so daß meinen Augen, als ich sie an- bald das Andere; ich habe für einen Haufen
blickte, Tränen entströmten. Kinder zu sorgen, und das Vieh macht auch
„Nach Schluß des Gottesdienstes begaben genug zu schaffen; den ganzen Tag habe ich
sich die Herrschaften, der Priester, die Be- nichts als Arbeit; da ist es mir nicht ums
dienten und alle Bettler zum Mittagstisch; Lesen zu tun oder um Erbauung. Was ich
etwa vierzig Bettler hatten sich versam- im Seminar gelernt habe, habe ich längst
melt; darunter gab es Krüppel, solche mit schon vergessen.' Da ich dies hörte, erbebte
kranken Gesichtern und Kinder. Alle setzten ich, aber die Herrin, die neben mir saß, faßte

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mich schnell an der Hand und sagte: ,Der ehr- Zunge ununterbrochen in Bewegung war und
würdige Vater sagt dies nur aus Demut; er gleichsam zitterte; ich dachte bei mir, ob ex
erniedrigt sich immer so sehr; in Wahrheit nicht ein Beter sei, und begann aufmerksa-
ist er aber überaus gütig und führt ein gott- mer hinzusehen. Gegen Schluß der Mahlzeit
wohlgefälliges Leben; schon seit zwanzig Jah- wurde einer alten Frau schlecht; ein Krampf
ren ist er Witwer, und nun erzieht er eine überkam sie, und sie stöhnte. Der Herr und
ganze Sehar von Enkeln; zudem hat er auch seine Gemahlin führten sie in ihr Schlafzim-
oft Kirchendienst.' mer und legten sie auf das Bett; die Herrin
„Bei diesen Worten mußte ich an den Aus- blieb da, um sie zu pflegen; für alle Fälle ging
spruch des Nikita Stеphata in der ‚Tugend- der Priester nach den Sterbesakramenten;
liebe' denken: ‚Nach der inneren Stimmung der Herr ließ anspannen und fuhr eilends in
der Seele wird die Natur der Dinge bemessen' die Stadt nach dem Arzt. Alle gingen aus-
— das heißt, wie einer ist, so urteilt er auch einander.
über die Andern; und weiter sagte er noch: „Ich fühlte gleichsam einen Gebetshunger
Wer das wahre Gebet und die Liebe erlangt in mir aufsteigen; mich überkam das starke
hat, der hat keine Unterscheidung mehr für Verlangen, mich im Gebet zu ergießen; nun
die Dinge; er unterscheidet nicht den Gerech- hatte ich aber schon zwei Tage nicht in Ruhe
ten vom Sünder, sondern er liebt alle gleich und Einsamkeit für mich allein sein können.
und verurteilt nicht, wie ja auch Gott die Ich fühlte, daB es in meinem Herzen wie eine
Sonne scheinen und den Regen niederfallen Hochflut aufstieg, die alles durchbrechen,
läßt über Gerechte und Ungerechte. — sich in alle Gliedmaßen ergießen wollte; da
„Wieder herrschte Schweigen; mir gegen- ich mich aber bezwang, empfand ich einen
über saß ein völlig blinder Bettler aus dem starken Schmerz im Herzen; es war übrigens
Bettlerheim. Der Herr fütterte ihn; er zer- ein beglückender Schmerz, der nach stiller
legte ihm den Fisch, gab ihm den Löffel, legte Ruhe und nach Sättigung im Gebet verlangte.
ihm die Suppe auf. Wie ich aufmerksam hin- Hier nun wurde mir klar, warum die wahren
blickte, merkte ich, daß dieser Bettler immer Verrichter des selbsttätigen Gebets den Men-
mit geöffnetem Munde dasaß, während seine schen entliehen und sich zu verbergen trach-

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ten; auch verstand ich, warum der heilige Dörfer, und nähte Bauernkleider. Da ge-
Isichia auch das geistigste und heilsamste Ge- schah es, daß ich in einem Dorf bei einem
spräch, sofern es aber maßlos ist, ein müßiges Bauern längere Zeit leben mußte, um für seine
Gerede nennt, wie ja auch der heilige Jefrem Familie Kleider zu nähen. An einem Feier-
Sirin sagt : Gute Rede ist Silber, Schweigen tage sah ich vor dem Heiligenbildschrein drei
aber ist lauteres Gold. — Während ich diese Bücher liegen; da fragte ich : ,Wer kann bei
Gedanken bei mir erwog, begab ich mich ins Euch lesen?' ‚Niemand,' antwortete man mir.
Bettlerheim. Hier ruhten alle nach der Mahl- ,Diese Bücher haben dereinst unserem Ohm
zeit. Ich stieg auf den Dachboden, beruhigte gehört; der konnte lesen.' Ich nahm eins der
mich dort, ruhte aus und betete. Als die Bücher zur Hand, schlug es auf und las, woran
Bettler sich erhoben hatten, suchte ich den ich mich heute noch genau erinnere, folgende
Blinden auf und führte ihn aufs Feld hinaus; Worte: Das unablässige Gebet besteht darin,
wir setzten uns in der Einsamkeit nieder und daß man den Namen Gottes immer anruft,
begannen miteinander zu reden. gleichviel, ob man mit einem andern redet,
,Sage mir um Gottes willen, tust du es ob man sitzt oder geht, ob man arbeitet oder
um deines Seelenheils willen, daß du das Je- ißt, oder gleichviel, was man tun mag, —
susgebet verrichtest ?' allerorten und zu jeder Zeit muß man den Na-
,Ich verrichte es schon seit langem unab- men Gottes anrufen. — Da ich dies gelesen
lässig.` hatte, dachte ich bei mir, daß mir dies sehr
,Was empfindest du denn dabei?' gelegen käme, und ich begann bei meinem
‚Nur das Eine : даß ich weder bei Tage noch Schneiderhandwerk das Gebet flüsternd zu
bei Nacht ohne Gebet sein kann.' sprechen, und dies gefiel mir wohl. Die An-
,Wie hat dir Gott dieses Tun offenbart ? dern, die mit mir in der Hütte waren, merkten
Erzähle mir das recht ausführlich, mein ge- dies und machten sich lustig über mich. ‚Du
liebter Bruder.' bist wohl ein Zauberer, daß du unablässig
,Nun sieh, ich bin ein hiesiger Handwerker. flüsterst, oder was murmelst du da?' Um es
Ich verdiente mir mein Brot als Schneider, zu verbergen, hörte ich auf, die Lippen zu
wanderte auch in andere Gouvernements und bewegen, verrichtete das Gebet aber, indem

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10 Gin russisches Pilgerleben 145
ich nur die Zunge bewegte. Schließlich hatte zuzusetzen: ,Was soll das bedeuten, und wie
ich mich so sehr ans Gebet gewöhnt, daß es macht man das?' Ich antwortete ihm : daß
die Zunge Tag und Nacht ganz von selbst die ganze Lehre über das Herzensgebet in
aussprach, und mir war dies angenehm. Lange diesem Buch, in der ,Tugendliebe`, ausführ-
wanderte ich so durch die Welt, dann erblin- lich auseinandergesetzt ist, und voller Eifer
dete ich plötzlich gänzlich. In meiner Familie bat er mich, ich möchte es ihm ganz vorlesen.
ist es fast bei allen so gewesen, daß wir dunk- ,Das wollen wir folgendermaßen machen,'
les Wasser in den Augen haben. Wegen mei- sagte ich. ,Wann wolltest du nach Tobolsk
ner Armut nun sollte ich im Armenhaus, das ziehen?'
wir in der Gouvernementsstadt Tobolsk ha- ,Wenn es sein muß, gleich,' antwortete er.
ben, untergebracht werden. Ich bin jetzt ,Dann wollen wir es so machen: auch ich
auf dem Wege dorthin; die Herrschaften hier will mich morgen auf den Weg machen. Wir
haben mich aber aufgenommen; sie wollen wollen zusammen gehen, und ich will dir alles
mir später Pferd und Wagen nach Tobolsk vorlesen, was auf das Herzensgebet Bezug hat,
geben.' auch will ich dir zeigen, wie man die Stelle
‚Wie hieß das Buch, darinnen du lasest ? des Herzens und den Zugang zu ihm findet.`
War es nicht die Tugendliebe ?` ‚Aber wie steht es denn mit dem Wagen?'
,Ich weiß wirklich nicht; ich habe das Titel- fragte er.
blatt nicht mal angesehen.' ,Ach, wozu brauchst du einen Wagen ! Es
,Ich holte meine Tugendliebe und schlug ist ja gar nicht so weit bis Tobolsk, nicht mehr
im vierten Teil die Worte des Patriarchen als hundertfünfzig Werst. Wir werden lang-
Kallist auf, die jener mir auswendig hergesagt sam wandern. Und weißt du denn, wie schön
hatte, und las sie ihm vor.' es ist, in der Einsamkeit selbander zu gehen;
‚Aber das ist es ja gerade!` rief der Blinde. auch läßt es sich im Gehen bequemer mit-
‚Lies mir das vor, Bruder. Wie sehr schön einander reden und über das Gebet lesen."
ist das.' Sokamenwir denn überein; gegenAbend er-
„Als ich an die Stelle kam, wo es heißt : man schien der Herr selbst, um uns alle zum Abend-
muß mit dem Herzen beten, begann er mir essen zu laden; nach der Mahlzeit erklärten
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wir, daß ich mich mit dem Blinden auf den Alsdann richtete er solche Fragen übеr das
Weg machen würde, und daß wir keinen Wa- Gebet an mich, daß mein Verstand nicht hin-
gen brauchten, weil es so bequemer sei, in der reichte, sie zu lösen.
,Tugendliebe'zulesen. Dasagte auch derHerr: „Nachdem ich ihm das Erforderliche aus
„Mir hat die Tugendliebe auch sehr gefallen; der ,Tugendliebe` vorgelesen hatte, begann er
ich habe schon geschrieben und Geld zurecht- mich inständig zu bitten, ich möchte ihm nun
gelegt, um es morgen, wenn ich ins Gericht denWeg zeigen, auf welche Weise man mit dem
fahre, gleich nach Petersburg zu schicken mit Geist das Herz finden und den göttlichen Na-
der Weisung, daß man mir mit der nächsten menJesu Christi in das Herz einführen könnte,
Post die ,Tugendliebe` hierherschickt." und wie man innerlich mit dem Herzen beten
So machtenwir uns denn am folgenden Mor- solle. Da begann ich ihm auseinanderzuset-
gen auf den Weg, nachdem wir diesen Herr- zen: ,Nun schau, du kannst nichts sehen, du
schaften für ihre vorbildliche Liebe und Barm- kannst dir aber doch mit deinem Geist das,
herzigkeit vielfach gedankt hatten; auch be- was du früher gesehen hast, einbilden und
gleiteten sie uns etwa eine Werst weit. Dann vorstellen, zum Beispiel einen Menschen oder
nahmen wir voneinander Abschied. irgendein Ding oder irgendeines deiner Glied-
So pilgerten wir denn selbander, der Blinde maßen, zum Beispiel deine Hand oder den
und ich; wir gingen ganz gemächlich, viel- Fuß, und du kannst es dir so lebhaft vor-
leicht zehn, vielleicht fünfzehn Werst am stellen, als sähest du es leibhaftig vor dir, und
Tage, saßen die übrige Zeit aber an einsamen kannst darauf deine wenn auch blinden Augen
Stellen und lasen die ,Tugendliebe'. Ich las lenken ?`
ihm alles über das Herzensgebet in der Reihen- ,Das kann ich,' antwortete der Blinde.
folge vor, die mir mein verstorbener Starez ,Dann stelle dir genau so das Herz vor,
gewiesen hatte, das heißt, ich begann mit dem richte deine Augen dorthin, als blicktest du
Buch des Mönches Nikifor, des Sinaiten Gri- es durch die Brust durch an, und stelle es dir
gorij usw. Mit solcher Begierde und Aufmerk- so lebhaft als möglich vor; horche aber mög-
samkeit hörte er sich dies alles an, und wie lichst aufmerksam mit den Ohren, wie es sich
sehr gefiel es ihm, wie sehr ergötzte es ihn! regt und Mal für Mal schlägt. Wenn du dich

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da hereingefunden hast, so beginne mit jedem bet nichts sehen, um nicht in Versuchung zu
Schlage des Herzens, in dieses hereinblickend, fallen.
die Gebetsworte dem anzupassen. Beim er- „Nachdem der Blinde dies alles aufmerk-
sten Schlage sage oder denke ‚Herr', beim sam angehört, begann er voller Eifer nach die-
zweiten ,Jesus`, beim dritten ‚Christus', beim ser Art zu verfahren, und wenn wir für die
vierten ,erbarme dich', beim fünften ,meiner`, Nacht irgendwo halt machten, so befaßte er
und wiederhole dies so oft als möglich; es sich lange vornehmlich damit. Etwa nach
wird dir dies leicht fallen, denn. du hast ja fünf Tagen verspürte er eine starke innere
schon den Anfang gemacht und dich auf das Wärme und ein unaussprechlich angenehmes
Herzensgebet vorbereitet. Wenn du dich aber Gefühl im Herzen; außerdem auch die größte
daran gewöhnt hast, so beginne das ganze Je- Lust, unablässig dieses Gebet zu wiederholen,
susgebet zugleich mit dem Atem ins Herze das ihm die Liebe zu Jesus Christus erschloß.
ein und wieder heraus zu führen, wie es die Zuzeiten sah er ein Licht leuchten, obwohl er
Väter lehren, das heißt, sage, wenn du die keine Dinge oder Gegenstände in diesem
Luft einatmest, oder denke dir : ‚Herr Jesus Lichte wahrnahm; mitunter schien es ihm,
Christus', läßt du sie aber entweichen — ,er- wenn er sich in sein Herz versenkte, daß sich
barme dich meiner'. Tue dieses so oft als gleichsam die starke Flamme einer entzün-
möglich, so wirst du bald einen feinen, ange- deten Kerze unbeschreiblich selig in seinem
nehmen Schmerz im Herzen spüren, alsdann Herzen entflammte und aus dem Halse nach
wird sich eine Wärme darin ausbreiten. So außen drang und ihn umleuchtete; im Lichte
wirst du mit Gottes Hilfe die Selbsttätigkeit dieser Flamme konnte er auch sogar entfernte
des beseligenden inneren Herzensgebetes er- Dinge sehen, wie beispielsweise einmal ge-
langen. Bemühe dich aber hierbei nach Kräf- schah. Wir wanderten durch einen Wald; er
ten, alles, was dir der Verstand zuflüstert, schwieg und war ganz in sein Gebet versun-
oder was dir sonst erscheinen mag, zurückzu- ken. Plötzlich sagte er mir : ‚Wie schade !
weisen. Nimm überhaupt gar keine Einbil- Schon brennt die Kirche, jetzt ist der Glok-
dung in dich auf; denn die heiligen Väter ha- kenturm zusammengestürzt.` Ich sagte ihm:
ben es angesagt, man müsse beim inneren Ge- ‚Bilde dir diese Dinge nicht ein; dies ist eine
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Versuchung, die dir naht; alle diese Gedan- und es ist natürlich, ist in der Ordnung der
ken mußt du so schnell als möglich zurück- Sache. Die menschliche Seele ist verhältnis-
drängen. Du kannst gar nicht sehen, was in mäßig durch den Ort und durch das Dingliche
der Stadt vorgeht. Wir haben noch zwölf nicht gebunden. Sie kann auch in der Dun-
Werst bis dahin.' Er gehorchte, fuhr im kelheit sehen, auch sehr Entferntes, зиiе auch
Beten fort und verstummte. Gegen Abend das, was in der Nähe geschieht. Wir geben
kamen wir in die Stadt, da sah ich tatsäch- dieser seelischen Fähigkeit nur keine Kraft
lich einige niedergebrannte Häuser und den und keinen freien Lauf, und wir unterdrücken
zusammengestürzten Glockenturm, der auf sie, sei es durch die Fesseln unseres feisten
Holzbalken errichtet war; viele Menschen Leibes oder durch die Verworrenheit unserer
standen ringsherum und staunten, daß der Gedanken und durch unser zerstreutes Wesen.
Glockenturm beim Zusammenstürzen nie- Wenn wir uns aber gesammelt haben, wenn
mand erschlagen hatte. Meiner Berechnung wir uns von der Umgebung lösen und unseren
nach hatte sich das Unglück gerade in der Geist verfeinern, wird die Seele ihrer Bestim-
Zeit ereignet, da mir der Blinde davon ge- mung zugeführt und wirkt im höchsten Gra-
sprochen hatte. Nun sagte er mir: ,Du hast de, sintemalen dies eine natürliche Sache ist.
gesagt, das Gesicht, das ich gehabt, wäre eitel; Ich habe mir von meinem verstorbenen Sta-
nun war es aber doch so, wie ich sagte. Wie rez sagen lassen, daß auch nicht betende Men-
sollte ich nicht danken und den Herrn Jesus schen, sondern nur hierzu Befähigte oder
Christus nicht heben, der seine Gnade auch Kränkliche im stockdunklen Zimmer Licht
Sündern, Blinden und Törichten offenbart! wahrnehmen, das von allen Dingen ausgeht,
Auch dir danke ich, daß du mich das Wirken daß sie die Gegenstände zu unterscheiden ver-
des Herzens gelehrt hast.' mögen, ihren Doppelgänger empfinden und in
Ich sagte ihm: ,Jesus Christus sollst du die Gedanken eines andern dringen. Was aber
allerdings heben, und danken sollst du Ihm beimHerzensgebet unmittelbar von der Gnade
auch; aber hüte dich davor, verschiedene Ge- Gottes herrührt, ist so beseligend, daß es
sichte für unmittelbare Offenbarungen zu keine Zunge zu schildern vermöchte, und daß
halten; denn dieses kann häufig geschehen, es mit keinem Dinglichen verglichen oder ihm

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an die Seite gestellt werden kann; alles Sinn- aber nicht nur im Inneren meiner Seele, son-
liche steht tief unten im Vergleich zu dem be- dern auch die ganze Außenwelt schien mir
seligenden Gefühl der Gnade im Herzen.' wunderbar schön, und alles verlockte mich
„Mein Blinder folgte mir aufmerksam und zur Liebe und zum Dank gegen Gott; Men-
wurde nun noch demütiger; das Gebet im schen, Bäume, Pflanzen, Tiere, alles war mir
Herzen entfaltete sich immer mehr und mehr unsäglich vertraut, und an allem sah ich das
und erfüllte ihn mit unsäglicher Wonne. Hier- Abbild des Namens Jesu Christi. Mitunter
über freute ich mich von ganzem Herzen und fühlte ich eine solche Leichtigkeit, als hätte
dankte Gott, daß er mich für wert befun- ich überhaupt keinen Körper, und es war mir,
den hatte, seinen also gesegneten Knecht zu als ginge ich nicht, sondern als flöge ich selig
schauen. durch die Luft; mitunter ging ich tief in mich
„Endlich kamen wir nach Tobolsk; ich selber herein und sah mein Inneres klar vor
führte ihn ins Armenheim, brachte ihn dort mir und staunte über die weise Anordnung des
unter, nahm liebevoll Abschied und begab menschlichen Leibes; mitunter empfand ich
mich alsdann wieder auf meine Pilgerschaft. eine so hohe Freude, als wäre ich König ge-
„Einen Monat wanderte ich langsam und worden, und bei all diesen Tröstungen wünsch-
fühlte es tief, wie erbaulich und wie anspor- te ich, Gott möge mich möglichst bald sterben
nend gute, lebendige Beispiele wirken; ich las lassen, um in Dankbarkeit am Schemel Seiner
häufig in der ,Tugendliebe` und prüfte alles, Füße in die Geisterwelt mich zu ergießen.
was ich dem blinden Beter gesagt hatte. Sein ‚Wohl mochte ich mich ohne Maß an diesen
belehrendes Beispiel entflammte in mir den Empfindungen ergötzt haben, oder war dies
Eifer, die Dankbarkeit und die Liebe zu Gott; so Gottes Wille, jedenfalls fühlte ich zu ge-
das Herzensgebet erfüllte mich mit solcher wissen Zeiten ein angstvolles Beben im Her-
Wonne, daß ich nicht glaubte, es könne wen zen. Wenn mir nur nicht wieder so ein Un-
auf der Welt geben, der glücklicher wäre als glück widerfährt, dachte ich, wie damals we-
ich, und ich konnte es nicht verstehen, daß gen jenes Mädchens, dem ich in der Kapelle
es noch größere und herrlichere Wonnen im das Jesusgebet beibrachte. Fremde Gedan-
Himmelreich geben würde. Dieses fühlte ich ken umlagerten mich wie Wolken, und ich

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gedachte der Worte des heiligen Johannes, „Als ich näher herankam, sah ich einen be-
der da sagt : ‚Mitunter fällt der Lehrende in trunkenen Greis, der einen Soldatenmantel
Unehre und duldet Versuchungen für jene, trug. Er saß vor selbigem Hof auf einer Erd-
die ihn geistlich in Anspruch nehmen.' Ich aufschüttung; ich verneigte mich vor ihm und
kämpfte diese Gedanken nieder, vermehrte sagte : ,Wen könnte man hier wohl um Her-
mein Gebet, vertrieb sie dadurch vollständig, berge für die Nacht bitten?'
fand wieder Mut und sprach zu mir selber: ‚Wer anders als ich könnte dich hereinlas-
‚Gottes Wille geschehe, ich bin bereit alles zu sen,' schrie der Alte. ,Ich bin hier der Oberste !
dulden, was mir Jesus Christus wegen meiner Das hier ist eine Poststation, und ich bin der
verruchten, hoffärtigen Art auferlegt. Zudem Aufseher.'
waren die, denen ich kürzlich das Mysterium ,So erlaubt mir denn, Väterchen, daß ich
des Eingangs in das Herz und des inneren Ge- hier über Nacht b eibe.`
bets offenbart habe, noch vor meiner Begeg- ‚Hast du einen Paß ? Her mit dem Ausweis
nung mit ihnen unmittelbar durch Gottes über deine Person!'
geheime Unterweisung vorbereitet.' Hier- „Ich gab ihm meinen Paß; er hielt ihn in den
durch beruhigt, ging ich wieder getröstet und Händen und fragte wieder : ,Wo ist der Paß ?`
betend meines Weges weiter und freute mich ,Ihr haltet ihn in Händen,` antwortete ich.
mehr denn früher. Ein paar Tage war Regen- ,Na, 'rein denn ins Haus !` Der Aufseher
wetter, und der Weg war so aufgeweicht, daß setzte sich die Brille auf, las und sagte:
man Mühe hatte, die Füße aus dem Straßen- ‚Recht. Der Ausweis stimmt. Bleib' über
schmutz zu ziehen; ich pilgerte über die Nacht. Ich bin ja doch ein guter Mensch; ich
Steppe, und auf einer Strecke von fünfzehn will dir auch einen Schnaps geben.'
Werst war kein Dorf im Umkreise zu sehen; ,Mein Lebtag habe ich nicht getrunken,'
endlich sah ich gegen Abend einen Hof an antwortete ich.
der Landstraße liegen; ich freute mich und ,Na, dann spuck ich drauf; wenigstens
dachte : ,Ich will hier um ein Nachtlager bit- kannst du mit uns zu Abend essen.'
ten; morgen aber wird, so Gott will, das Wet- ‚Wir setzten uns zu Tisch, er und die Kö-
ter vielleicht auch besser.' chin, ein junges Weib, das ebenfalls ziemlich

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men. Ganz erschrocken sprang das Weib in
betrunken war; und auch ich mußte mich
die Mitte des Zimmers und brach zusammen.
setzen. Während der Mahlzeit schimpften
Besinnungslos vor Angst sprang ich auf, denn
sie, machten einander Vorwürfe, und gegen ich dachte, die Erde habe sich unter mir auf-
Ende gab es auch eine Prügelei. Der Aufseher
getan. Da sah ich, wie zwei Kutscher einen
ging in eine Kammer auf dem Flur, um dort Menschen hereintrugen, der blutüberströmt
zu übernachten; die Köchin räumte auf, war, so daß man sein Gesicht nicht erkennen
wusch Tassen und Löffel und schimpfte auf
konnte. Dies vermehrte mein Grauen nur
ihren Alten. noch mehr. Es war ein Kourier, der hier
Eine Weile saß ich da und dachte bei mir,
halten wollte, um seine Pferde zu wechseln.
daß sie wohl nicht so bald Ruhe geben würde. Sein Kutscher war falsch durchs Tor gefah-
Ich sagte ihr: ren, war mit der Deichsel ins Fenster geraten,
,Wo könnte ich mich hier wohl hinlegen,
und da vor dem Hause ein Graben war, war
Mütterchen ? Ich bin müde vom Wege.'
der Wagen umgekippt, der Kourier flog her-
,Ich will dir hier ein Lager bereiten, Vä-
aus und erlitt tiefe Schnittwunden am Kopf,
terchen,` mit diesen Worten rückte sie eine weil er auf einen zugespitzten Pflock fiel, der
Pritsche an die Fensterbank beim Außen-
in der Erdaufschüttung steckte. Der Kou-
fenster, breitete eine Filzdecke darüber und
rier verlangte Wasser und Schnaps, um die
legte eine Rolle ans Kopfende. Ich legte mich
Wunde auszuwaschen; er machte sich einen
nieder, schloß die Augen und tat, als ob ich
Umschlag, trank ein Glas Schnaps und rief:
schliefe. Noch lange machte die Köchin Ra-
,Vorwärts !` Ich stand neben ihm und sagte :
dau; schließlich hatte sie alles in Ordnung,
,Ihr könnt doch nicht mit so einer Wunde
löschte das Licht und trat zu mir heran. Plötz- weiterfahren, Väterchen.`
lich flog das ganze Fenster der vorderen Ecke,
,Ein Kaiserlicher Kourier hat keine Zeit,
Fensterkreuz, Scheiben und Holzsplitter kra-
krank zu sein,' erwiderte er und brauste da-
chend ins Zimmer und stürzte mit furchtba-
von. Die Kutscher schleppten das Weib zum
rem Gepolter zu Boden; die ganze Hütte er-
Ofen; sie lag ohnmächtig da; sie bedeckten sie
bebte, und draußen vor dem Fenster ließ sich
mit einer Bastmatte und sagten: ,Die Angst
angstvolles Stöhnen und Geschrei verneh-

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ist ihr in die Glieder gefahren; närrisch wird als eine Irrsinnige hierher, hier aber hat sich
sie werden.' Gott meiner erbarmt. Die Mutter Äbtissin
„Der Aufseher war inzwischen nüchtern ge- hat mich hier behalten und mich im Kloster
worden und begab sich wieder zur Ruhe. aufgenommen.'
„So blieb ich allein im Zimmer. ,Wie kam es denn, daß ihr irrsinnig wur-
„Bald stand das Weib auf und begann wie det?' fragte ich.
besessen aus einer Ecke in die andere zu ge- ,Vor Schreck. Ich hatte eine Anstellung
hen; schließlich ging sie hinaus. Ich betete, auf einer Poststation, und in der Nacht bra-
fühlte meine Kräfte abnehmen und schlum- chen Pferde durchs Fenster; ich erschrak und
merte vor der Dämmerung ein wenig ein. verlor den Verstand. Ein ganzes Jahr lang
„Am Morgen nahm ich vom Aufseher Ab- führten meine Anverwandten mich an heilige
schied und machte mich auf den Weg; wäh- Orte, und hier erst bin ich gesundgeworden."
rend ich weiter wanderte, sandte ich voller „Als ich dies hörte, frohlockte ich in meiner
Glauben, Hoffnung und Dankbarkeit Gebete Seele und pries Gott, der alles weise zum
zum himmlischen Vater alles Trostes, der besten lenkt.
mich vor nahem Unheil bewahrt hatte. „Verschiedene Fälle hat es noch gegeben,"
„Sechs Jahre nach dieser Begebenheit kam sagte ich, zu meinem Beichtvater gewandt,
ich auf meiner Pilgerschaft an einem Nonnen- ,wollte ich sie der Reihe nach erzählen, würde
kloster vorbei; ich ging in die Kirche, um dort ich in drei Tagen nicht damit fertig werden.'
zu beten. Nach dem Hochamt ließ mich die Einen Fall will ich noch erzählen :
gastfreundliche Äbtissin kommen und ließ „An einem klaren Sommertage kam ich zu
mir Tee geben. Plötzlich trafen unerwarteter- einem Friedhof an der Landstraße, oder es
weise Besucher ein; sie ging zu ihnen hinaus, war vielmehr ein sogenannter ,Popost,` das
und ich blieb mit den Nonnen allein. Eine de- heißt, nur eine Kirche nebst ein paar Häusern
mütige Nonne, die den Tee einschenkte, regte für den Priester und die Kirchenangestellten.
mich zu der neugierigen Frage an : ,Seid ihr Es wurde gerade zum Hochamt geläutet;
schon lange in diesem Kloster ?` ,Seit fünf auch ich wollte hingehen. Leute aus der Um-
Jahren,` antwortete sie, ,man brachte mich gegend waren ebenfalls auf dem Wege zur

160 11 Ein russisches Pilgerleben 161


Kirche; einige hatten sich ins Gras gesetzt, schäftigt man sich doch mit dem inneren
und da sie mich, den eilig Dahinschreitenden, Tun! Das kommt daher, daß die Menschen
sahen, riefen sie mir zu : ,Nicht so eilig ! Du sich um ihre geistige, um ihre innere Erleuch-
wirst in der Kirche noch lange genug stehen tung nicht kümmern und nichts davon wissen
können, bevor das Hochamt beginnt; hier wollen.'
dauert der Gottesdienst sehr lange; unser Da fragte ich : ,Wie könnte man das aber
Priester ist krank; er liebt einen sachten wohl erreichen, scheint es doch sehr schwierig
Trott.' Tatsächlich dauerte der Gottesdienst zu sein.'
sehr lange; der junge Priester, der aber sehr ‚Durchaus nicht. Um sich geistig zu er-
elendundbiaß aussah, zelebrierte überaus lang- leuchten und zu einem aufmerksamen, inne-
sam, übrigens sehr andächtig und gefühlvoll; ren Menschen zu werden, braucht man nur
gegen Schluß des Hochamts hielt er eine vor- irgendeinen Text aus der Heiligen Schrift zu
treffliche, allgemein verständliche Predigt über nehmen und seine ganze Aufmerksamkeit und
die Arten, wie man Liebe zu Gott erlangt. Anschauung so lange als möglich darauf zu
Der Priester forderte mich auf, bei ihm zu richten; da wird einem das Licht des Ver-
Mittag zu bleiben. Bei Tisch sagte ich : ‚Wie ständnisses aufgehen. Also muß man auch
andächtig ihr zelebriert, ehrwürdiger Vater, beim Beten verfahren: wenn du wünschst,
und es dauerte auch so lange !` daß dein Gebet rein, richtig und erquickend
, Ja,` erwiderte er, ,das gefällt der Gemeinde sei, mußt du dir irgendein kurzes Gebet wäh-
allerdings nicht, und man murrt dаrüber, aber len, welches aus wenigen, aber starken Wor-
ich kann da nichts ändern; ich habe es gern, ten besteht; du mußt es häufig und anhaltend
jedes Gebetswort zuvor zu überlegen, mich wiederholen; alsdann wirst du das Gebet
daran zu ergötzen und es dann erst laut aus- schmecken.'
zusprechen; ohne inneres Fühlen und ohne Diese Unterweisung des Priesters gefiel mir
Teilnahme wäre ja jedes gesprochene Wort sehr wohl, war sie doch schlicht und wirksam,
für mich selber und für die andern nutzlos; zugleich aber auch tief und weise ! Ich dankte
alles liegt аm inneren Leben und am aufmerk- Gott im Geiste dafür, daß er mich zu einem so
samen Gebet! Und wie wenig,' sagte er, ,be- wahrhaften Hirten SeinerKirche geführt hatte.
11+
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Nach Tisch sagte der Priester: ,Leg' dich gnadenreichen Kraft des Jesusgebets. Ich
jetzt nach dem Essen hin, ich will inzwischen steckte meine ,Tugendliebe` wieder in den
das Wort Gottes lesen und mich zu meiner Beutel, rückte näher heran, und sie begann
Predigt, die ich morgen halten muß, vorbe- zu erzählen:
reiten.' ,Als Mädchen war ich eine schöne Dirne;
Da ging ich in die Küche. Außer einer ur- meine Eltern hatten mich einem Mann ver-
alten Frau, die ganz zusammengesunken in lobt. Morgen sollte die Hochzeit stattfinden,
der Ecke saß und hustete, war niemand da. der Bräutigam war zu uns unterwegs, und
Ich setzte mich ans Fenster, holte meine ‚Tu- plötzlich, zehn Schritt vor uns, stürzte er hin
gendliebe' hervor und begann langsam vor und starb, ohne einen Seufzer zu tun. Hier-
mich hinzulesen; da horchte ich auf und über kam mich ein solcher Schrecken an, daß
merkte, daß die Alte in der Ecke unablässig ich überhaupt nicht mehr heiraten wollte,
das Jesusgebet vor sich hinmurmelte; Freude und ich beschloß, als Jungfrau zu leben, an
überkam mich da, als ich den oft angerufenen, heilige Stätten zu pilgern und zu beten. Ich
heiligsten Namen des Herrn hörte, und ich fürchtete mich aber, mich allein auf den Weg
begann also : ,Wie gut ist es, Mütterchen, daß zu machen, denn es hätte wohl sein können,
du immerfort betest ! Dies ist das christlich- daß böse Menschen ob meiner Jugend über
ste Seelenwerk.` mich hergefallen wären. Da lehrte mich eine
, Jа, Väterchen,` erwiderte sie, ,auf meine Pilgerin, die ich kannte, ich solle, wenn ich
alten Tage ist ja nichts, was mir blieb, als zu unterwegs bin, unablässig das Jesusgebet
sagen: Herr, vergib.' sprechen, und sie versicherte mir, daß mir
‚Hast du denn schon lange die Gewohnheit, unterwegs, wofern ich dieses Gebet verrich-
zu beten ?' tete, kein Unglück widerfahren könne. Ich
,Von Kind auf, Väterchen, ich könnte ja glaubte hieran, und es ging auch alles wirklich
anders gar nicht leben, hat mich doch das gut, ich pilgerte sogar zu weit entfernten hei-
Jesusgebet von Tod und Untergang gerettet.' ligen Stätten; meine Eltern gaben mir das
,Wie denn das ? Erzähle es mir bitte zum Geld dazu. Bei zunehmendem Alter wurde
Ruhme Gottes und zur Verherrlichung der ich krank, und der ehrwürdige Priester hier
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läßt mich aus Barmherzigkeit bei sich wohnen auf den Kutscher zu und fragte ihn, wem der
und ernährt mich.' Wagen gehöre. Er antwortete, — einem
„Voller Freuden hörte ich dieses und wußte Herrn, der auf der Reise aus Kasan in die
nicht, wie ich Gott für diesen Tag danken Krim begriffen ist. Während ich so mit dem
sollte, an dem er mir so erbauliche Beispiele Kutscher sprach, schlug der Herr das Wagen-
offenbart hatte. Alsdann bat ich den guten leder zurück, blickte mich an und sagte:
und frommen Priester um seinen Segen und ‚Auch ich will hier übernachten, wollte aber
setzte freudig meinen Weg fort. nicht in die Hütte gehen, weil es bei den Tа-
„Nicht gar so lange ist es her, da pilgerte taren so dreckig ist; so habe ich beschlossen,
ich auf dem Wege hierher durch das Gouver- die Nacht über im Wagen zu bleiben.' Der
nement Kasan; hier geschah es, daß ich er- Herr stieg aus, um sich zu ergehen; es war
fuhr, wie die Kraft des im Namen Jesu Christi ein schöner Abend, und wir kamen ins Ge-
verrichteten Gebets sich klar und lebendig spräch.
auch denen offenbart, die sich unbewußt da- „Unter anderemberichtete er mir folgendes :
mit abgeben, und wie die Häufigkeit und an- ,Bis zu meinem fünfundsechzigsten Jahr war
haltende Dauer des Gebets der kürzeste und ich Kapitän der Flotte; da ich alt wurde, be-
zuverlässigste Weg ist, um zu den gnaden- fiel mich eine unheilbare Krankheit, nämlich
reichen Früchten des Gebets zu gelangen. Es Podagra. Ich nahm meinen Abschied und
geschah, daß ich einmal in einem Tatarendorf lebte hinfort, fast immer krank, auf einem
übernachten mußte. Da ich in selbiges Dorf Gütchen meiner Frau in der Krim. Meine
kam, sah ich vor einer Hütte einen Wagen Frau war eine ausbrüchige Person, zerstreut
halten; am Wagen machte sich ein russischer in ihrem Wesen, und eine leidenschaftliche
Kutscher zu schaffen; er fütterte die Pferde, Kartenspielerin. Es langweilte sie, mit mir,
die neben dem Wagen standen. Hierüber war dem Kranken, zusammen zu leben; sie ver-
ich erfreut und schickte mich an, um Her- ließ mich und reiste nach Kasan zu unserer
berge für die Nacht zu bitten, und dachte Tochter, die dort mit einem Beamten ver-
dabei, daß ich nun doch wenigstens mit Chri- heiratet ist. Meine Frau hatte mir alles ge-
sten zusammen übernachten würde. Ich trat nommen, ja, selbst die Leibeigenen vom Gut

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hatte sie mitgeführt, mir hatte sie nur einen Gebot zu erfüllen, hatte ich eine Rute neben
achtjährigen Jungen, mein Patenkind, ge- mir hegen. Solange er betete, las ich ruhig
lassen. So lebte ich denn drei Jahre allein. in meinem Buche oder hörte, wie er das Gebet
Der Junge, der mir aufwartete, war flink und sprach; kaum schwieg er aber, so zeigte ich
aufgeweckt. Er verrichtete alle Arbeiten im ihm die Rute; er erschrak und machte sich
Hause, hielt das Zimmer in Ordnung, heizte wieder daran, zu beten. Dies beruhigte mich
den Ofen, kochte die Grütze, richtete den nun sehr, denn so hatte ich endlich Ruhe in
Samowar. Bei all dem war er ungemein mun- meinem Hause. Nach einiger Zeit merkte ich,
ter, ein Schelm, der keinen Augenblick still daß die Rute überflüssig geworden war; der
sein konnte; immer war er unterwegs, schrie, Junge erfüllte mein Gebot gerne und mit
spielte, klapperte, war munter und brachte größtem Eifer. Weiter gewahrte ich eine
mir damit viel Unruhe ins Haus. Weil ich völlige Wandlung seines munteren Charak-
nun krank war, wohl auch aus Langeweile, ters. Er wurde still und schweigsam. Die
liebte ich es, geistliche Bücher zu lesen. Ich häuslichen Arbeiten verrichtete er besser.
besaß ein wundervolles Buch des Gregorius Dies freute mich, und ich gab ihm größere
Palama über das Jesusgebet; ich las fast un- Freiheit. Und was kam schließlich dabei her-
unterbrochen darin, und allgemach ging ich aus ? Er gewöhnte sich so sehr an das Gebet,
dazu über, dieses Gebet auch zu verrichten. daß er es fast immer und bei jeder Verrich-
Der Junge störte mich aber dabei, und keine tung, ohne daß ich ihn dazu nötigte, vor sich
Drohungen und Strafen hielten ihn davon hinsprach. Wenn ich mich bei ihm danach
ab, Unsinn zu machen. Da verfiel ich auf erkundigte, so erwiderte er, er habe das un-
folgendes Mittel: ich setzte ihn auf eine Bank überwindliche Verlangen, das Gebet immer-
in meinem Zimmer und gebot ihm, ununter- fort zu sprechen. ,Was empfindest du denn
brochen das Jesusgebet zu sprechen. Dies dabei?` fragte ich. ,Gar nichts empfinde ich
wollte ihm anfangs gar nicht behagen, und außer, daß mir wohl ist, wenn ich das Gebet
auf alle erdenkliche Weise suchte er sich dem spreche.' ,Was meinst du damit, daß dir wohl
zu widersetzen; sehr häufig hörte er auch auf ist?' ,Ich weiß nicht, wie ich das sagen
zu beten. Um ihn aber dazu zu nötigen, mein soll.' ‚Bist du dann fröhlich, wie?' ‚La, fröh-
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genossen sehen. Betet für mich verruchten
Frucht schmecken kann.' Bei diesen Worten
zeigte ich ihm meine ,Tugendliebe`. Ich be- Sünder, daß Gott in seiner großen Barmher-
merkte, daß er meinen Rat mit Befriedigung zigkeit meine Wege zum Besten führe."
„Von ganzem Herzen wünsche ich, in dem
entgegennahm, auch versprach er, sich so
Herrn geliebter Bruder," erwiderte er, „daß
ein Buch zu verschaffen.
die liebeströmende Gnade Gottes deinen Weg
,Mein Gott,' dachte ich bei mir selber,
,welch wunderbare Äußerungen der Kraft beschatte und dich geleite wie dereinst der
Engel Raphael Tobias geleitete."
Gottes gehen doch von diesem Gebet aus !
Und wie weise und belehrend ist dieses selbige
Vorkommnis : die Rute hat dem Knaben das *
Gebet beigebracht, und dieses hat auch als
Mittel gedient, ihn zu beruhigen. Sind unsere
Leiden und Kümmernisse, die uns auf dem
Gebetswege begegnen, nicht dieselben Ruten
in der Hand Gottes ? Warum fürchten wir
uns da und sind verwirrt, wenn wir unseres
himmlischen Vaters Hand spüren, unseres
Vaters, der doch erfüllt ist von grenzenloser
Liebe zu uns, und wenn uns doch diese Ruten
nur dazu anhalten, eifriger das Gebet zu erler-
nenunduns zu unsagbaremTroste hinführen."
Nachdem ich diese Erzählungen beendet
hatte, sagte ich zu meinem geistlichen Vater:
„Vergebt mir um Gottes willen, ich habe
schon zuviel geschwatzt; die heiligen Väter
nennen aber maßloses Reden, wenn es auch
geistlicher Art ist, müßiges Geschwätz. Ich
muß jetzt nach meinem Jerusalemer Weg-
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Im gleichen Verlag erschien:

EMANUEL SWEDENBORG
HIMMEL, HÖLLE
GEISIERWELТ
in deutscher Nachdichtung
von
Walter Hase nclever

Durch die Nachdichtung Walter Hasenclevers ist das


Hauptwerk des berühmten religiösen-Verkünders und
Geistersehers des 18. Jahrhuxlderts, den Balzac ais
den Buddha des Nordens bezeichnet, dem modernen
Menschen zugänglich gedacht worden.

Auf antikem Bütten 350 Seiten stark Preis M. 5.

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