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Richard Heinrich
1.0 Einleitung
Ist ‚die Linie‘ ein philosophischer Begriff, stellt sie genuine Probleme für die
Philosophie? Wer über die Linie in breiter Perspektive nachdenkt, wird leicht
auf solche Fragen – um nicht zu sagen: Zweifel – verfallen. Denn da bieten sich
Zugänge von der Mathematik oder Kunstgeschichte her scheinbar selbstver-
ständlich an, während sich das philosophische Interesse zunächst in disparaten
Zusammenhängen – und mit sehr verschiedener Ernsthaftigkeit – bekundet.
Aber was ist schon ein genuines Problem der Philosophie? Selbst dort, wo
solideste Tradition einem Begriff sein philosophisches Gewicht verbürgt, pro-
filiert er sich wesentlich im Austausch mit externen Ansprüchen, Disziplinen,
Entwicklungen. Ein drastisches Beispiel: Man kann wohl sagen, dass der Begriff
Wahrheit bei Platon geradezu definierend in eine Vorstellung von Philosophie
eingeht, die bis heute Verbindlichkeit beansprucht – ja, dass er vor allem immer
wieder dazu diente, philosophische Kompetenz gegen konkurrierende intellektu-
elle Ambitionen abzugrenzen. Und doch ist alle philosophische Theoriebildung
über Wahrheit – auch schon am Ursprung – von Impulsen aus den Sphären von
Politik, Recht, Religion und Wissenschaft geprägt (vgl. Heinrich 2009).
Erst recht wird man bei einem facettenreichen Begriff wie der Linie die unab-
hängigen Praktiken und Kontexte im Auge haben müssen, die sich jeweils in
DOI 10.1515/9783110467949-002
Ein intrinsisches Interesse? Ein inneres Interesse der Philosophie an der Linie,
motiviert aus ihrer Selbstreflexion, muss allerdings nicht schon spezifisch sein:
Die gleichen Fragestellungen können sich auch in anderen Disziplinen, vor einem
anderen Hintergrund, geltend machen. In besonderem Maße ist dies überall
dort der Fall, wo die Darstellung von Ordnungen und systematischen Zusam-
menhängen Gegenstand – und nicht bloß Mittel – der Theoriebildung ist, wie
in der Mathematik, der Rhetorik und der Logik. Hierarchie, Abfolge, Einteilung,
Verzweigung beispielsweise sind wichtige Begriffe in diesen Feldern, die eine
Vorstellung der Linie (Verbindungslinie, genealogische Linie usf.) aufrufen. Die
vielleicht berühmteste Textstelle, die die europäische Philosophiegeschichte zur
Linie vorzuweisen hat, Platons Liniengleichnis, macht eine Aussage zur Theorie
des Erkennens, und ist doch zugleich ein Beispiel für diese nicht-spezifische
Funktion der Linie. Prägend wird sie vor allem in der Logik, in Grenzbereichen
von Notation, Symbolismus und Theoriebildung.
Gelegentlich aber erscheint das Linienmotiv (als Bild systematischen Zusam-
menhanges) zugespitzt auf das Denken schlechthin, auf die Erfassung dessen,
was man die authentische Bewegung des Denkens nennen könnte, und in
diesem Umfeld begegnen dann Versuche einer genuin philosophischen Deutung
oder Aneignung der Linie. Manche Philosophen – z. B. G. W. F. Hegel oder Gilles
Deleuze – setzen sich mit jener Vorstellung einer Bewegung des Denkens direkt
auseinander,21 interessant sind aber auch enger gefasste Problemstellungen,
21 Hegel spricht in der Phänomenologie des Geistes, im Kapitel über das „Unglückliche Bewußt-
sein“, von einer „reine[n] Bewegung des Denkens“ (Hegel 1970, S. 157), deutlicher noch in der
etwa die Rolle von Zeichen und Ausdruck im Verhältnis von Denken und Sprache
betreffend: Dann ist ein Auftritt der Linie als elementares Phänomen der Versinn-
lichung fast obligat. Auch spekulative Ansätze Jacques Derridas zum Verhältnis
von Schrift, Sprache und Spur, in denen Aspekte des Linearen prominent hervor-
treten, gehören in diesen Zusammenhang.22
Metaphorik. Wenn man an konkrete Fälle denkt, wo die Linie als Darstellungs-
mittel für Ordnung fungiert, wird man unweigerlich auf ein Problem der Meta-
phorik stoßen: Ist ein Begriff wie Zusammenhang auf einer Ebene der Abstraktion
fassbar, wo er keinerlei bestimmte Darstellungsform impliziert? Oder enthalten
auch solche Vorstellungen gewisse Restriktionen hinsichtlich möglicher Dar-
stellungsformen? Ist vielleicht, drittens, Ordnung ohne bildliche (tendenziell:
graphische) Repräsentation gar nicht denkbar? Im ersten Fall wird man geneigt
sein, alle diskursiven Beschreibungen, die auf bildliche Darstellung verweisen,
als metaphorisch zu bezeichnen. In den anderen beiden Fällen wird man sich
darum bemühen, das eigentlich Metaphorische von stärkeren Weisen der Dar-
stellung zu unterscheiden, wie sie etwa Immanuel Kant mit dem Begriff Schema
im Auge hatte – eine Art Basisprozedur für die sinnliche (raum-zeitliche) Deutung
abstrakter Begriffe.23 In solchen Zusammenhängen wird die Linie immer ein hoch
charakteristisches Grenzphänomen sein: Symbol und Mittel der Symbolisierung,
Bild und Schema jeweils zugleich.
Während also im Rahmen einer Philosophie der Darstellung oder des Sym-
bolischen ein theoretisches Interesse an der Linie besteht,24 ist sie doch zugleich
auch als einfache Metapher, als Wald- und Wiesen-Metapher, in der Philoso-
phie allgegenwärtig: Aus irgendeinem Gesichtspunkt können fast alle philoso-
phischen Bezüge auf die Linie figürlich verstanden werden. Hier ist es freilich
wichtig, Grade der Verbindlichkeit der Metapher zu unterscheiden. So gibt es die
Vorrede, wo er von den „reinen Gedanken“ des „sein Wesen denkende[n] Geist[es]“ sagt: „Ihre
[der reinen Gedanken] Selbstbewegung ist ihr geistiges Leben und ist das, wodurch sich die
Wissenschaft konstituiert […]“ (Hegel 1970, S. 17). Deleuze: „Das Denken beansprucht ‚nur‘ die
Bewegung, die bis ins Unendliche getrieben werden kann. Was das Denken in rechtlicher Bezie-
hung beansprucht und auswählt, ist die unendliche Bewegung oder die Bewegung des Unendli-
chen. Sie ist es, die das Bild des Denkens konstituiert.“ (Deleuze 2000, S. 44–45)
22 Vgl. Derrida 1988b, sowie den Text „Freud und der Schauplatz der Schrift“ (Derrida 1972,
S. 302–350).
23 Vgl. Kant KrV, S. 100–101 und auch KU, S. 351–352
24 In dem einflussreichen Ansatz Nelson Goodmans (vgl. Goodman 1973) ist das Verhältnis von
Repräsentation und Ausdruck grundlegend für eine Differenzierung der Darstellungsmodalitä-
ten
25 Vgl. auch z. B. Nietzsche in der Götzendämmerung: „Womit compromittirt man sich heute?
Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht“ (Nietzsche 1980, KSA 6, S. 122).
26 Eine solche unverbindliche Metapher bleibt die Linie, ungeachtet ihrer prominenten Stellung
im Titel, auch in Ernst Jüngers Essay Über die Linie (Jünger 1950).
27 Im Sinne dessen, was Thomas Kuhn „wissenschaftliche Revolution“ nennt, „eine Verschie-
bung des begrifflichen Netzwerks […], durch welches die Wissenschaftler die Welt betrachten“
(Kuhn 1990, S. 141).
28 So etwa im Tractatus logico-philosophicus des frühen Wittgenstein: „6.122: Daraus ergibt sich,
daß wir auch ohne die logischen Sätze auskommen können, da wir ja in einer entsprechenden
Notation die formalen Eigenschaften der Sätze durch das bloße Ansehen dieser Sätze erkennen
können“ (Wittgenstein TLP, 70). Zum Begriff der Notation selbst siehe Goodman 1973, S. 135–180
nomen zur Geltung kommt (lineare, zwei- oder mehrdimensionale Ordnung von
Symbolen), zu philosophischer Geltung gewissermaßen. Am Gegenpol steht die
Auffassung, dass Philosophie die Unverbindlichkeit, die auch in sachlich moti-
vierten Metaphern steckt, durch Festlegung eines technischen Gebrauches nicht
prinzipiell auszuschalten vermag – Philosophie kann nicht nur in einer techni-
schen Sprache existieren. Anstelle der Fixierung von Vagheit in Definitionen oder
Notationen werden dann oft Prozeduren (oder auch Rituale) der transzendenta-
len oder phänomenologischen Begründung aufgeboten – oder Thesen wie die
von Derrida, dass man eben die Umgangssprache als die technische Sprache der
Philosophie betrachten müsse (vgl. Derrida 1988b).
Linie und Raum. Eine Frage, die sich über die Verschiedenheit dieser (und
anderer) Motive hinweg immer wieder stellt – und daher auch eigene Aufmerk-
samkeit verdient –, ist die nach dem Verhältnis von Linie und Raum. Natürlich
lassen sich unschwer Kontexte finden, in denen sie mühelos zu beantworten
scheint. Wir sagen etwa: ‚Die Linie ist ein eindimensionaler Raum‘ – und schon
ist die Sache vom Tisch. Oder wir sagen: ‚Drei Linien können einen Raum auf-
spannen‘ – und schon haben wir eine Abhängigkeit fixiert. Oder wir sagen: ‚Eine
Linie kann man nur in einem Raum ziehen‘ – und die Frage ist (auf wieder andere
Weise) erledigt. Diese Vorschläge legen allerdings den Verdacht nahe, dass es
eher die (ein wenig schnippischen) Antworten sind, die die Eindeutigkeit des
Kontexts suggerieren, als dass sie umgekehrt von so einem Kontext her vorgege-
ben wären. Denn es lässt sich nicht ohne weiteres sagen: Hier ist der Kontext die
Geometrie; in diesem Fall müsste man erst erklären, ob jene drei Antworten über-
haupt eine konsistente Auffassung von Linie repräsentieren, und das ist gerade
nicht aufwandslos möglich. Es sind in Wahrheit mehrere, wesentlich engere,
genauer zu beschreibende Kontexte, in denen das geometrische Verhältnis von
Linie und Raum jeweils eindeutig gemacht werden kann.29
Einerseits ist dies also ein einprägsames Beispiel für die innere Aspektvielfalt
der Linie; andererseits deutet sich auch eine Versuchung für die Philosophie in
der entgegengesetzten Richtung an: nämlich zu glauben, dass die multiple Meta-
phorizität der Linie im Grunde nur die Verschiedenheit jener Aspekte ausbeute,
die in der Geometrie manifest werden. Wenn wir von einem sozialen oder einem
logischen Raum sprechen (oder sonst in offen bildlicher Rede von einem Raum),
so tun wir das meist gerade deswegen, weil wir auch von Linien, Koordinaten,
Richtungen, Schnitten usf. sprechen möchten. Stillschweigend appellieren wir
an die Geometrie als Autorität, wenn es darum geht, verschiedene Sichtweisen
auf die Linie in einem übergeordneten Ganzen zu integrieren. Für diese Erwar-
tung hat insbesondere der Begriff der Dimension Gewicht: Mit ihm wird traditio-
nell die Linie in den Gesamtkontext räumlichen Denkens hineingezogen.
Alternativ zu dieser Tendenz macht es durchaus Sinn zu fragen, bis zu
welchem Grad eine Reflexion auf die Linie sich in einer Philosophie des Raumes
artikulieren ließe. Denn historisch gibt oder gab es eine Philosophie des Raumes –
im Unterschied zu einer der Linie – tatsächlich, und in diesem Rahmen wurde
immer wieder nach einer Perspektive gesucht, die auch die Geometrie transzen-
dierend oder transzendental zu begründen erlaubt (etwa bei Leibniz, Kant, aber
auch Husserl).30 Dass ‚Raum‘ selbst ein gleichsam vieldimensionaler Begriff ist,
in dem mythologische, geometrische, psychologische … Elemente zusammen
gewachsen sind (vgl. Cassirer 2010, S. 98), spricht nicht dagegen, ihn als den
geeigneten Ort für eine Philosophie der Linie anzusehen: Er hat doch gerade
deshalb in der europäischen Philosophie immer wieder entscheidende Fragestel-
lungen (aus Theologie und Physik, Logik und Mathematik) gebündelt.
Gegen diese Neigung, und in vielen weiteren Hinsichten unorthodox, denkt
Deleuze, der eine philosophische Emanzipation der Linie nicht bloß von der Geo-
metrie, sondern vom Raum anstrebt: Es gelte mindestens ebenso sehr, den Raum
von der Linie her zu verstehen, wie umgekehrt. Ein Charakteristikum seines Ver-
suches ist die Aufwertung des Direktionalen gegenüber dem Dimensionalen in
der Auffassung der Linie. Deleuze hat seine diesbezüglichen Gedanken nirgends
effektiv koordiniert – in einer eigenen Gruppe von Textauszügen soll hier jedoch
ein Bild vom Zusammenhang der wichtigsten Aspekte gegeben werden.
Zu den Texten. Die Texte sind weder nach einem übergreifenden Prinzip ausge-
wählt, noch sind sie – das gilt auch für einzelne Teilbereiche – in irgendeinem
Sinn vollständig. Repräsentativ ist die Auswahl bloß insofern, als sie die Inho-
mogenität in den philosophischen Bezügen auf das Phänomen spiegelt: Sie wird
in der Mannigfaltigkeit der thematischen Schwerpunkte ebenso deutlich wie in
den Unterschieden der Intensität, mit der auf den Begriff Linie selbst reflektiert
wird. Die immer wieder neu pointierten, immer auf Grundsätzliches gerichteten
Gedanken von Deleuze* zur Linie stechen gerade unter diesem Gesichtspunkt
hervor und werden deshalb in einer eigenen (letzten) Gruppe von Auszügen prä-
sentiert.
30 In diesem Kontext ist Manfred Sommers Buch Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Line-
atur (M. Sommer 2016) zu sehen: ein völlig eigenständiger Versuch, Konstitution und Erfahrung
von Dimensionalität aus einer interdisziplinären gestaltgeschichtlichen Perspektive zu beschrei-
ben.
Die erste, umfangreiche Gruppe ist Texten gewidmet, in denen die Funktion
der Linie bei der Konzeptualisierung und Darstellung von Ordnung sichtbar wird;
hier sind auch Texte zu der Frage der Linienmetaphorik aufgenommen.
Unter dem Titel ‚Zeit‘ werden Texte vorgestellt, die die Funktion der Linie als
Leitmetapher für einen konkreten Problembereich veranschaulichen.
Selbstverständlich ist es schließlich, dass in einer eigenen Gruppe die beson-
dere Bedeutung veranschaulicht wird, die der Geometrie auch für philosophische
Reflexion auf die Linie zukommt.
Wenn in einem philosophischen Text der Begriff Linie begegnet, muss man
nicht damit rechnen, dass seine Aussagekraft aus den theorietragenden Prinzi-
pien oder den argumentativen Zielsetzungen begründet ist, die an der jeweiligen
Stelle Geltung haben. Meist verhält es sich umgekehrt: Gewisse Annahmen über
das Wesen der Linie, die in unseren gewöhnlichen Sprachgebrauch eingegangen
sind, sollen die Sachaussage deutlicher fassbar machen, ihr eine kräftigere Farbe
verleihen: Die Linie ist in solchen Fällen Bild, Metapher. Metaphorische Effekte
müssen nicht auf die rhetorische Ebene beschränkt bleiben: Sie produzieren
Erkenntnischancen, wenn im Schlepptau eines bestimmten Leitbegriffes ein Netz
sprachlicher Differenzierungen von einem Verwendungsbereich in einen anderen
übertragen wird31 (man denke an die Wanderungen zwischen Natur- und Sozial-
wissenschaften, die Begriffe wie Feld oder Strom hinter sich haben). Während in
den Wissenschaften der Erfolg einer solchen Transaktion üblicherweise dadurch
als bestätigt gilt, dass die importierten Begriffe eine exakte Neu-Definition erhal-
ten, bleibt in der Philosophie oft unausgesprochen, welche Elemente oder Facet-
ten eines übertragenen Idioms im aktuellen Kontext eigentlich operativ sind.
An einer Stelle in der Götzendämmerung, wo Friedrich Nietzsche* über den
Wert des Egoismus spricht, kann man Grade der Ernsthaftigkeit unterscheiden,
mit denen die Linienmetapher funktioniert. Nietzsche sagt dort, dass Egoismus
nicht an sich ein Wert oder Unwert sei, sondern nur im Verhältnis zu einem Ent-
wicklungsverlauf, in den er sich einbindet oder den er darstellt. Jene Entwicklung
sollen wir als „Gesammt-Leben“ auffassen, und dessen Fortschritt oder Verfall als
31 „A memorable metaphor has the power to bring two separate domains into cognitive and
emotional relation by using language directly appropriate to the one as a lens for seeing the
other; the implications, suggestions, and supporting values entwined with the literal use of the
metaphorical expression enable us to see a new subject matter in a new way“ (Black 1962, S. 236).
32 An dieser Stelle gilt das genau genommen nur für eine der beiden Kolonnen, die Bilder der
Bausteinformen.
verhält es sich aber in dem Fall, wo wir zwei Reihen von korrelierten Eintragun-
gen ungenau nebeneinander geschrieben haben und erst durch das Einzeichnen
von Linien erkennen, welche Verbindungen bestehen? Wenn wir darauf beharren
wollen, dass die Linien bloße Zeichen sind, werden wir wohl etwas Ähnliches
sagen wie, dass sie Zeichen (zeichenhafter Ausdruck) für die suchende Aktivität,
die suchende Bewegung unseres Denkens, sind. Wie aber würden wir diese Akti-
vität beschreiben, wenn nicht als das Ziehen einer Linie in der Vorstellung?
Wittgenstein möchte an dieser Stelle vor allem einer Alternative ausweichen:
dass nämlich entweder die Linien von sich aus sagen, was korreliert ist — oder
bloß Zeichen für die schon unabhängig bestehende eigentliche Korrelation wären.
Er hingegen fasst die Linie als charakteristisches Element in einer Gesamtszene
des Erlernens einer Regel. Weder die gezeichnete Linie allein, noch ein mentaler
Vorgang allein, sondern die komplexe Situation der ‚Abrichtung‘ in ihrer Ganz-
heit ist die Basis der Korrelation: Wir haben es mit einer Linienpraktik zu tun,
zugeschnitten auf ein bestimmtes Szenario des Ordnens.
Das gilt bei Wittgenstein [(6), S. 55] auch für einen einzelnen (richtungswei-
senden) Pfeil: Weder zeigt er als toter Strich, noch handelt es sich um einen rein
psychischen Vollzug – der Pfeil zeigt in der Anwendung, die den Strich und die
Reaktion (oder: Reaktionsbereitschaft) integriert.
An diesem Zusammenhang von Linie und Ordnung (Zuordnung, Anord-
nung, Reihenfolge etc.) hält Wittgenstein in aller Allgemeinheit fest: Ein Schlüs-
selbegriff ist ‚Regel‘. Bei der Tabelle haben wir es mit einer bestimmten Art von
Regel zu tun, man könnte sie Zuordnungsregel nennen; die Linie spielt ihre Rolle
aber überall, wo die wesentlichen Elemente von Regelhaftigkeit (Allgemeinheit,
Gleichheit) vorliegen,33 vor allem auch in dem Bereich, wo Wittgenstein die ent-
scheidenden Beispiele für seine Untersuchung des Begriffes Regelfolgen über-
haupt findet: wo es um das Fortsetzen einer Reihe (etwa von Zahlen) geht.
Wittgenstein [(4), S. 54–55] zeigt (in der Abfolge der Bemerkungen PU § 229
bis 232), wie die Linie konkretisiert, was am Anfang bloß das unbestimmte Gefühl
ist, das allgemeine Gesetz der Reihe als solches anschaulich erfasst zu haben.
Genauso wenig, wie die in der realen Tabelle gezogenen Verbindungslinien von
sich aus zeigen, kann aber die vorgestellte Linie inspirierend die Richtigkeit der
Fortsetzung begründen. Sie hat in diesem Sinn symbolischen Stellenwert – so
Wittgenstein [(3), S. 54]. Das bedeutet keineswegs, dass sie das Bild einer tiefe-
33 Das verdeutlicht Wittgenstein [(1), S. 53] mit dem Zusammenhang von Richtungspfeil und
Wegweiser.
ren (in den Tiefen der Seele verborgenen, wie Kant sagt34) Instanz wäre, in der
jene Verbindlichkeit wirklich gründete. Sie ist – wie die Tabellenlinien – in einer
stabilen, aber kontingenten Weise mit anderen Faktoren in dem Ganzen des Ver-
haltens ‚Regelfolgen‘ verknüpft. Sie kann die richtige Fortsetzung nicht rechtferti-
gen und ist auch nicht bildhafte Vertretung einer anderen, autoritativen Instanz;
aber sie ist ein obligates, nicht wegzudenkendes Element in der Reflexion, in der
Beschreibung des regelkonformen Verhaltens. Auch als vorgestellte Linie bleibt
sie konkretes Element einer komplexen Praxis. Wittgenstein [(5), S. 55] macht
diese Abhängigkeit sinnfällig: In dieser Szene ist die vorgestellte Linie, in der sich
ein Gesetz veranschaulicht (die Linie als Gleis, dem entlang sich die Vorstellung
bewegt), gleichsam nach außen gestülpt, sichtbar gemacht; wenn aber nicht das
gesamte Verhalten (Öffnen und Schließen des Zirkels, Gestalt der zweiten Linie)
diese Regelmäßigkeit bezeugt, ist die als Vorlage dienende Linie einfach keine
Regel. Jedoch: Könnte – kontrafaktisch – das fiktive Subjekt dieser Szene „seine
Art, der Linie zu folgen“ lehren, dann funktionierte sie als Regel, als Gleis im
Sinne von Wittgenstein [(3), S. 54].
Keineswegs immer manifestiert sich die Linie dort, wo sie bei der Herstel-
lung oder Erhaltung einer Ordnung leitend ist, so deutlich. Ein einschlägiger
Fall ist die Disziplinierung des Gedächtnisses in der Rhetorik. Um die Abfolge
der Teile einer langen Rede sicher im Gedächtnis zu speichern, werden Hilfsmit-
tel wie die klassische Methode der Bilder und Plätze eingesetzt: Die einzelnen
Inhalte werden durch Bilder vertreten, und diese wiederum in der Vorstellung
an Orten ‚deponiert‘, die – mit fester Reihenfolge – vorgegeben sind, typischer-
weise als eine Architektur, in der sich auffällige Stellen wie Mauervorsprünge,
Fenster, Fensterbänke, Säulenkapitelle, Architrave, Türen etc. leicht unterschei-
den lassen (für einen professionellen Redner kann es ausreichen, sich eine der-
artige Architektur einmal in seiner Karriere für immer eingeprägt zu haben). Im
Vollzug der Rede werden dann die Inhalte – in der vorgegebenen Folge – von
ihren Plätzen gleichsam abgeholt. Die Vorstellung einer linearen Bewegung
durch den Raum ist hier offensichtlich zentral. Dabei braucht, von den konkre-
ten Inhalten her gesehen, der imaginierte Weg nicht notwendig wiederholungs-
frei zu verlaufen – ein bestimmtes Bild (oder eine begrenzte Bildfolge) kann an
mehreren Plätzen deponiert werden. Wenn ein umfangreicher Text ohne das
Hilfsmittel eines solchen vorgezeichneten Weges präsent gehalten werden soll,
34 „Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer blo-
ßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Hand-
griffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“
(Kant KrV, S. 101)
haben Wiederholungen sogar einen positiven Effekt: Man kehrt an eine Stelle
zurück, an die man sich erinnert, und gelangt von da in einer Schleife wieder
an die jeweils aktuelle Position in der Rede. Doch muss der Verlauf immer linear
(im umgangssprachlichen Sinn) und frei von Verzweigungen sein – weil die
Bildung des Gedächtnisses hier speziell auf den Vollzug einer Rede abzielt, die
irreversibel auf einer Zeitlinie ablaufen wird. An der klassischen Literaturstelle
zur Methode der Bilder und Orte, in der Rhetorica ad Herennium* aus dem ersten
vorchristlichen Jahrhundert, wird diese Linearität der Gedächtnisordnung nicht
eigens betont.35 Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt sie allerdings, wenn in
dem Dreiecksverhältnis von Gedächtnis, Rede und Linie das Gedächtnis die Form
schriftlicher Aufzeichnung36 annimmt: Die kompromisslose Schärfe, mit der sich
die lineare Schrift gegenüber jeder mehrdimensionalen Aufzeichnung abhebt
und durchsetzt, wird von Derrida als Effekt eines kulturell tief verankerten Pho-
nologismus erkannt. So wie die Rhetorik die Einlinigkeit des Erinnerungsweges
(pragmatisch) erzwingt – weil nämlich die Zeitlichkeit des Hörens berücksichtigt
werden muss –, so legitimiert nach Derrida* [(1), S. 55–56] Ferdinand de Saussu-
res Phonologie die Linearität der Schrift aus der Hörbarkeit des Signifikanten.
Dabei ist, für sich betrachtet, das Aufzeichnen bedeutungshaltiger Markierungen
ebenso wenig wie die Speicherung von Gedächtnisinhalten auf einen eindimen-
sionalen Raum angewiesen – so Derrida [(2), S. 56].
Für ihn bezeugt dieser Zusammenhang zwischen der Zeit des Hörens und der
linearen Schrift eine philosophisch nicht aufgeklärte Angleichung des Denkens
selbst an die Linearität der Rede, an eine ‚epische Rationalität‘. Die Befreiung der
Schrift aus dem Zwang des Phonetischen sieht Derrida [(3), S. 56] daher als ein
wesentliches Element philosophischer Metaphysik-Kritik.
Seine Gedanken wurden u. a. in Theorien zum Hypertext, besonders in den
neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, aufgegriffen.37 Mit der elektroni-
schen Verarbeitung und Speicherung – und vor allem mit der damit verbunde-
nen Eröffnung neuer Darstellungsformen – von Text wird (mutatis mutandis)
das Memoria-Problem der klassischen Rhetorik re-inszeniert: die irreversible
35 Auch nicht in der Interpretation, die Frances Yates in ihrem maßgeblichen Buch über die
Gedächtniskunst davon gibt (Yates 1978, S. 21–24).
36 „Typischerweise ist Schrift ein Mittel der Reproduktion, der Fixierung und Konservierung
tradierbarer Inhalte. Obwohl in verschiedenen Kulturkreisen Schriften grundsätzlich unter-
schiedlicher Funktionsweise und systematischer Konstitution entwickelt wurden, war die Mne-
motechnik der visualisierten Sprache und damit die raum-zeitliche Ausdehnung des Kommuni-
kationsraums in jedem Fall der ausschlaggebende Grund für Entwicklung und Verbreitung der
Schrift“ (Coulmas 1981, S. 133–134).
37 Vgl. vor allem Landow 1997, S. 33–34, und Bolter 1991, S. 116.
Einlinigkeit der ‚Zeit des Hörers‘ mit der Räumlichkeit der Gedächtnisarchitek-
tur abzustimmen. Im Projekt Hypertext geht es darum, „die Spannung zwischen
einer netzförmigen Topologie und einer grundsätzlich linearen Erschließungsbe-
wegung zu rekonstruieren“ (Winkler 1997, S. 231). Für die radikaleren Proponen-
ten ist das Ziel die Emanzipation des Lesens, des Texts, letztlich – wie bei Derrida
[(3), S. 56] – der Zeit als solcher von der Linie.
Eine formal ähnliche Konstellation begegnet in der (nicht nur historisch)
weit entfernten Philosophie Kants*: Immer wieder, wenn er die Systematik in
den wechselseitigen Beziehungen einer Menge von Elementen (Daten, Ereignis-
sen, Gegenständen etc) nachvollziehen möchte, orientiert Kant [(1), S. 51] sich an
einer Vorstellung linearer Ordnung. ‚Leitfaden‘ ist ein Begriff, den er dabei oft
verwendet, theoretisch besonders exponiert in der Überschrift „Von dem Leitfa-
den der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“. Die Zweidimensionalität
der berühmten Tafel, in der die Kategorien angeordnet sind, hat eine eigene Aus-
sagekraft (es lassen sich darüber „artige Betrachtungen anstellen“, Kant KrVb,
S. 95), für die konkrete Denkbewegung ihrer Aufschließung (von der Tafel der
Urteile her) greift Kant jedoch zu einem Linienbild; genau genommen dient es
dazu, diesem theoretisch entscheidenden Übergang eine gewisse Unverbindlich-
keit zu belassen: Bewusst vermeidet Kant zu sagen, dass die Kategorientafel in
der Urteilstafel gründet, und verweist mit der Leitfaden-Metapher auf ein Reflek-
tieren, das nach jener Verbindung erst sucht.
Seine Einstellung zur Linie als solcher lässt sich aber allein von derartigen
Redewendungen her nicht verstehen. Denn an sich betrachtet ist sie stets schon
Resultat oder Ausdruck einer spezifischen Aktivität des Denkens: Wo immer eine
Linie gesehen oder auch nur als objektiv vorgestellt wird, muss sie in Gedanken
gezogen werden.38
In einer späten Schrift aus dem Jahre 1786 mit dem Titel Was heißt: Sich im
Denken orientieren? versucht Kant ernsthaft, einen universalen Denkraum zu kon-
zipieren. ‚Universal‘ bedeutet dabei vor allem, dass nicht bloß gewisse Strukturen
verallgemeinert werden sollen, die die Räumlichkeit erkennbarer Gegenstände
ausmachen; es geht vielmehr um Orientierung im „unermeßlichen und für uns
mit dicker Nacht erfülleten Raum des Übersinnlichen“ (Kant WDO, S. 137). Kla-
rerweise verbietet diese Aufgabenstellung jede Vorannahme über die mögliche
Dimensionalität des fraglichen Raumes; aber auch die Antwort, die Kant findet,
gibt dazu keine Auskunft, sondern benennt nur das Mittel, auch ohne alle Kennt-
nis über die Grundstruktur des Raums einen Weg zu verfolgen: Orientierung wird
nicht in Übersicht, sondern in der Konsequenz eines Pfades realisiert. „Wegwei-
Für das Verständnis des Liniengleichnisses (wenn schon nicht der platonischen
Lehre vom Erkennen schlechthin) ist es entscheidend, dass dieser Sachver-
halt nicht diskursiv, sondern über eine Anschauung (oder Vorstellung) der Art
der Linienteilung kommuniziert wird.40 Es ist daher zunächst die Linie selbst
(und nicht eine theoretische Annahme), die den ursprünglich bloß stipulierten
Gesamtbereich ‚Erkennen‘ als eine (hierarchisch gegliederte) Einheit aufzufassen
erlaubt: Wenn den beiden verschiedenen Agenturen bloß die ratio ihrer jeweili-
gen Teilung gemeinsam wäre, müssten sie selbst sachlich in gar keinem bestimm-
ten Verhältnis zu einander stehen.
Die Linie ‚arbeitet‘ in dieser Phase des Texts also an der Entwicklung des
Gedankens mit und ist tendenziell mehr als nur die Veranschaulichung einer dis-
kursiv vorgegebenen Position. Unter anderen Gesichtspunkten jedoch ist ihr rein
metaphorischer Charakter unbestreitbar, vor allem wenn man sieht, dass sie als
Bild die Last der theoretischen Differenzierungen, die ihr im Fortgang des Dialogs
zugemutet werden, gar nicht tragen kann.41 Es beginnt schon damit, dass die
Parallelität von ontologischer und erkenntnistheoretischer Ordnung (Sichtbares,
Erkennbares gegen Sehen, Erkennen) nicht auf das eindimensionale Schema zu
40 Unangesehen dessen, dass es sich bei dieser Bevorzugung des Erkennbaren gegenüber dem
Sichtbaren natürlich um das Markenzeichen schlechthin der platonischen Erkenntnisphiloso-
phie handelt.
41 „In the divided line passage, no single figure can be iconic of all the key relations of the
four levels of knowledge.“ (Brumbaugh 1952, S. 533) In einem neueren Aufsatz hat Richard Foley
dies als „the overdetermination problem“ bezeichnet und zum Ausgangspunkt einer inspirierten
Deutung genommen (Foley 2008, S. 1).
projizieren ist;42 man kann aber diese Doppelung nicht für unwesentlich erklä-
ren (oder auf eine der beiden Seiten reduzieren) angesichts der Tatsache, dass
Sokrates und Glaukon sie am Ende des 6. Buches ausdrücklich als Grundzug der
erreichten Ordnung bekräftigen. So wurde etwa endlos um die Interpretation
des Umstandes gestritten, dass auf der (‚von unten‘) dritten Stufe des Erkennens
dieselben Gegenstände (sichtbare Dinge) adressiert werden, die für die zweite
typisch sind.43
An einem Punkt ist die Überfrachtung des Linienbildes mit theoretischen
Ansprüchen besonders interessant. In diesem Text, der sich so bestimmt über
das genuin geometrische Denken äußert, möchte man die mathematischen
Implikationen des Bildes von der Linienteilung (von dem der Gedanke seinen
Ausgang nimmt) nicht völlig unberücksichtigt lassen. Die Forderung, dass auf
der Linie dieselbe ratio dreimal gilt (für die Teilung des Ganzen und der beiden
Teile), gehört geometrisch gesehen noch zur Angabe. Eine zwingende Folgerung
daraus ist aber, dass die beiden mittleren Abschnitte gleich lang sind. Das lässt
sich durch einfachste Umformungen aus der vollständigen Angabe A:B = C:D =
(A+B):(C+D) ableiten – zu Platons Zeit war das nicht weniger trivial als heute;
wenn man diese Folgerung explizit macht, scheint sie jedoch einer grundlegen-
den philosophischen Position in dem gleichen Text zu widersprechen, nämlich
der Verschiedenheit jedes der vier Teile von allen anderen. Man möchte sagen:
Könnte die geteilte Linie sprechen, würde sie die Rede widerlegen. Sie wird aber
im Text stumm gehalten – er gibt nicht den geringsten Hinweis auf den Sachver-
halt.
Es wäre lächerlich, hier bloß eine Unzulänglichkeit des Bildes zu diagnos-
tizieren, die Platon (aus welchen Gründen auch immer) verbergen wollte. Für
eine verständnisvollere Deutung stehen sehr verschiedene Richtungen offen: So
könnte man an einem Extrem, zu Ungunsten der Theorie gleichsam, behaupten,
die geheime Botschaft des Gleichnisses bestehe darin, dass es letztlich doch nur
drei verschiedene Arten (bzw. Typen von Objekten) des Erkennens gibt. Noch
gewagter klingt es am anderen Ende des Spektrums, nun zu Ungunsten der Linie:
In Wahrheit seien alle ihre Teile untereinander verschieden. Dieser Behauptung
ist nur Sinn abzugewinnen, wenn man entweder annimmt, dass auf irgendeiner
Ebene der Textgenese ein Fehler (bis hin zum Kopierfehler) unterlaufen sei, oder
dass Platon von der Linie (und bestimmten ihrer Eigenschaften) in einem nicht-
42 So wird ja auch in fast allen graphischen Darstellungen, die man in Interpretationen der
geteilten Linie findet, die Ebene ausgenützt, um die beiden Seiten der Linie als epistemologische
bzw. ontologische Dimension auseinander zu halten.
43 Zur Geschichte der Interpretation vgl. Brentlinger 1963.
geometrischen Sinn spricht. Weder für das eine, noch für das andere gibt es aber
Indizien.
Gleichwohl geht von dieser These eine wichtige Anregung aus. Das Argument
für die Gleichheit der mittleren Abschnitte lässt sich rein arithmetisch führen;
man könnte es also in derselben Form auch über unbestimmte Zahlen gehen
lassen.44 Es ist wichtig zu sehen, dass dies eine zum Liniengleichnis alternative,
ihm gleichwertige Metapher ergibt. Das Resultat B=C wäre dann so zu verste-
hen, dass die beiden Zahlen identisch, ein und derselbe Gegenstand sind. Der
Unterschied gegenüber dem Linienbild liegt auf der Hand: So lange die Linie
als konkret-anschauliches Gebilde aufgefasst wird, können die beiden längen-
gleichen mittleren Abschnitte gleichwohl als verschiedene Entitäten betrachtet
werden. Sie sind in einer Hinsicht gleich, aber nicht tout court (B=C bedeutet nun
die Identität zweier – um eine Stufe – abstrakterer Gegenstände, nämlich Stre-
ckenlängen). Aus diesem Blickwinkel erscheint der Konflikt zwischen der Linie
und der philosophischen Theorie gemildert; allerdings erhebt sich im Gegenzug
die Frage nach dem Stellenwert jener Argumentation, die zu dem Resultat der
Gleichheit B=C führt: Deren Rationalität macht nicht nur gleich, was auf der
konkret gezeichneten Linie verschieden bleibt, sondern scheint darüber hinaus
dem ‚Sinnbild Linie‘ die Botschaft zu unterschieben, dass der für die Philosophie
selbst definierende Unterschied von Sichtbarem und Denkbarem nicht durchgän-
gig aufrecht zu erhalten ist (sondern seinerseits nur auf der Ebene des Sichtba-
ren, letztlich als Trugbild, zum Erscheinen kommt). Offenkundig konfrontiert uns
die Interpretation des Liniengleichnisses aber hier mit einer Spannung, die auch
im Gleichnis selbst thematisch ist: als Verhältnis von sichtbaren Figuren und rati-
onaler Einsicht in der Geometrie (im dritten Abschnitt). Das Wesen dieses diano-
etischen Erkennens ist ja gerade der Zugriff auf eine abstrakte Gegenständlich-
keit vom Sichtbaren aus. So gesehen macht das Gleichnis eine definitive Aussage
über seine eigene Begrenztheit: Es kann keine Erkenntnis vermitteln, die über die
dritte seiner Stufen hinausgeht.
Für die Interpretation bedeutet das, dass der Unterschied, den die geometri-
sche Rationalität tilgt (zwischen zweitem und drittem Abschnitt der Linie), immer
nur das Sinnbild des Unterschiedes von Erkennbarem und Sichtbarem gewesen
sein kann. Die intendierte Unterscheidung selbst, im Sinne einer radikalen
Emanzipation der Erkenntnis vom Sichtbaren, kann in dieser Erkenntnisart nicht
vollzogen werden. Diese Differenz kann überhaupt nicht auf eine Weise, die beide
ihrer Pole repräsentiert, auf einer Linie eingetragen werden – das dialektische
44 Statt von einer Strecke, Teilstrecken und ihren Verhältnissen wäre dann von Summen, Pro-
dukten, Brüchen etc. die Rede.
Denken kann sich gleichsam nur selbst vom Scheinhaften unterscheiden. Sokra-
tes versucht diesen Punkt so weit klar zu machen, wie es diskursiv überhaupt
möglich ist: Die Rationalität der Geometrie (und damit eines Gleichnisses wie der
geteilten Linie) lässt das Anschauliche, von dem sie ausgeht, als ihre eigene Vor-
aussetzung immer bestehen; das dialektische Denken jedoch unterscheidet sich
von aller Anschaulichkeit nicht mehr in dem Sinn einer Differenz, die von der
Natur eines Verhältnisses wäre, sondern in dem Sinn einer radikalen Emanzipa-
tion, die alle Gleichnishaftigkeit auf die Ideen hin transzendiert.
Das platonische Liniengleichnis bestimmt also das Verhältnis der philoso-
phischen, dialektischen Vernunft zu allen anderen Weisen des Erkennens nicht
dadurch, dass es davon eine anschauliche Darstellung gibt, sondern dadurch,
dass es von der Unmöglichkeit einer derartigen Darstellung überzeugt. In diesem
Argumentationsgang spielt allerdings die Linie – sowohl als konkret gezeichnetes
oder imaginiertes Gebilde wie auch als Gegenstand geometrischer Erforschung –
die entscheidende Rolle.
Zeit (1.2)
ist dürftig: Sehr wohl lassen sich auch ohne Gebrauch von Zahlen „Mehr und
Minder“ unterscheiden, und dementsprechend komparative Begriffe bilden
(beziehungsweise Begriffe wie ‚Bewegung‘ komparativ deuten). Der Gehalt der
Aussage liegt einzig darin, dass die Vergleichbarkeit von Bewegung (Bewegungs-
verläufen) mit der Vergleichbarkeit von Zeit (Zeitabschnitten) zusammenhängt.
An mindestens zwei Stellen jedoch, wo Aristoteles darüber hinausgeht, bringt er
die Linie ausdrücklich ins Spiel.
Einerseits, wenn er die Affinität von Zeit und Zahl als solche erläutert. Aris-
toteles [(1), S. 57] geht es um die Vereinbarkeit der Zahlartigkeit der Zeit mit ihrem
stetigen Zusammenhang. Dieser stetige Zusammenhang bezeugt ja – so ist der
letzte Satz zu lesen – überhaupt die wesenhafte Zugehörigkeit der Zeit zur Bewe-
gung. Dass jedoch an einer zusammenhängenden Bewegung Phasen unterschie-
den und in quantitativer Hinsicht verglichen werden können, liegt am ‚Jetzt‘. Das
Jetzt ist weder die Zeit noch ein Teil der Zeit, erscheint aber nicht anders als an
der Zeit: als Grenze. In der Begrenzung von Zeitabschnitten zählt es die Bewe-
gung. Um dieser Vorstellung einer Grenze, die nicht Teil ist (die also den stetigen
Zusammenhang des Geteilten erhält), Bedeutung zu geben, wird die Vorstellung
der Linie gebraucht, genauer: des Verhältnisses von Linie und Punkt. Das Zahl-
artige der Zeit besteht nicht darin, dass sie Punkte zählt, sondern – durch das
‚Jetzt‘ – einer Linie Anfang und Ende setzt. Um die Zeit in ihrer Zahl-Artigkeit
verstehen zu können, muss man sie wie eine Linie betrachten. Diesen Gedan-
ken vertieft Aristoteles [(2), S. 58] mit der Unterscheidung von Menge und Größe.
Wenn für das Ausmessen einer Linie eine Einheit festgesetzt ist, stellt diese
selbst – unter dem Gesichtspunkt der Menge – die kleinste mögliche Anzahl dar.
Die Einheit jedoch kann, da sie ein Abschnitt ist, ihrerseits in weitere kleinere
Abschnitte geteilt werden. Für die Dimension dieses Kleinerwerdens steht der
Begriff ‚Größe‘ – und dafür kann es freilich keine kleinste Zahl geben („denn stets
geteilt wird jede Linie“). Bei der Zeit verhält es sich ebenso.
Der andere Aspekt, unter dem die Beziehung von Zeit und Linie fassbar wird,
ist grundsätzlicher. Es handelt sich um einen vorgängigen Zusammenhang von
Raum, Bewegung und Zeit, innerhalb dessen die Linie sich mit einer gewissen
Unabweisbarkeit abzeichnet. Aristoteles [(3), (4), S. 58] begründet die Zugehö-
rigkeit der Zeit zur Bewegung noch einmal eine Stufe tiefer, in der notwendigen
Beziehung der Bewegung auf Ort und Raum. Was sich vom Raum der Bewegung
und von dieser dann der Zeit mitteilt, ist zunächst und vor allem die Stetigkeit.
Aristoteles [(4), S. 58] erkennt – in dem Bild des Weges (Abfolge von Orten), den
die Reise (Bewegung) beschreibt –, dass auch schon unabhängig von der Zähl-
barkeit, bloß als vergleichbare Größe (komparativer Begriff) aufgefasst, die Zeit
lineare Gestalt haben muss.45 Was das berühmte Zitat „Dieß nämlich ist die Zeit;
Zahl der Bewegung…“ angeht, so verweist es also implizit auf die Linie sowohl
über den Begriff der Zahl wie auch mit der Vorstellung des „Mehr und Minder“.
In der Begründungskette vom Raum über die Bewegung zur Zeit ist, neben der
Stetigkeit, noch ein zweiter Strang von Interesse: Ordnung. Aristoteles [(3), S. 58]
sagt, dass sich schon die grundlegende Ordnung der Zeit in „Vor“ und „Nach“
aus der Erfahrung der Anordnung von Orten herleitet. Damit wird zwar nicht
ausdrücklich, aber doch zwingend auf die Linie verwiesen, denn nur im eindi-
mensionalen Raum kann diese Unterscheidung Sinn haben (ohne nicht ihrerseits
wieder eine Zeitordnung vorauszusetzen, die einen Weg – etwa über eine Folge
von Feldern einer Ebene – eindeutig macht). Die Frage, zu der Aristoteles hier
Stellung bezieht, wird auch in der modernen und zeitgenössischen Philosophie
als zentral betrachtet: die lineare Ordnung der Zeit, ihr Verhältnis zum Begriff
der Richtung, ihr Bezug zu Kausalität und Veränderung. Solche Differenzierun-
gen kommen in dem zitierten Text nicht zur Geltung – bis auf eine. Wenn Aristo-
teles sagt, dass das „Vor“ und „Nach“ zuerst beim Ort angetroffen werde, dann
fügt er hinzu: „der Lage nach“ (das Wort für Lage ist thesis). Er kommentiert das
nicht weiter, und so wurde gelegentlich dieses „der Lage nach“ (thesei) für eine
wesentliche Bestimmung (oder gar ein Synonym) des Begriffes der Anordnung
als solchen gehalten — ein Missverständnis, das etwa auch bei Hans Blumen-
berg* nachwirkt. Tatsächlich aber ist das thesei eine Eigentümlichkeit der ‚Vor-
Nach-Ordnung‘ auf der Linie, im Unterschied zu der Art, wie die gleiche Ordnung
sich in der Zeit (oder in der Zahl) darstellt. Man findet eine ausführliche Erläute-
rung dazu bei Aristoteles [(6), S. 59] im 6. Kapitel der Kategorienschrift, das der
Quantität gewidmet ist. Dort ist auch, mit Hinblick auf die Zeit, terminologisch
zwischen Ordnung (taxis) und Lage (thesis) unterschieden. ‚Linearität der Zeit‘
bedeutet also zwar, dass sie die gleiche Ordnung aufweist wie die Linie („davor
und danach“), sich diese Ordnung aber nicht auf die gleiche Weise realisiert.
Freilich, wenn es um den spezifischen Unterschied zwischen der Ordnung
auf einer Linie einerseits und der Linearität der Zeit andererseits geht, ist die klas-
sische Aufgabe schlechthin mit der Richtung der Zeit gestellt. Die Relation des
‚davor und danach‘ in der Zeit legt wegen ihrer formalen Ähnlichkeit mit der Rela-
tion von ‚links und rechts‘ die Vorstellung von Linearität nahe. Etwas genauer:
Die Relation ‚A vor B‘ verhält sich zu der Relation ‚B nach A‘ so, wie die Relation
‚A links von B‘ zu der Relation ‚B rechts von A‘, nämlich so, dass innerhalb jedes
der Paare die beiden Relationen formal nicht verschieden sind. Im Fall einer Linie
kann man sich das dadurch veranschaulichen, dass gleichsam sie selbst keine
Auskunft bietet, ob A nun rechts oder links von B liegt; das muss durch Auszeich-
nung von einem externen Standpunkt bestimmt werden. Damit wird der Ordnung
eine Richtung gegeben. Wenn man nun aber behaupten möchte, dass die Zeit als
solche, ihrer inneren Verfasstheit nach, gerichtet sei, entfällt diese Möglichkeit.
Welche Optionen dann noch offen stehen, ist eine schwierige Frage im Rahmen
der Philosophie der Zeit, abhängig von grundsätzlichen Annahmen über das
Verhältnis von Zeit, Zeiterfahrung, Bewegung, Veränderung und Kausalität (vgl.
Mellor 1998, S. 118). In The Direction of Time bietet Hans Reichenbach* keine
Antwort auf dieser Ebene der Fragestellung (vgl. Horwich, 1987, S. 39), sondern
ein Modell dafür, wie man sich das Verhältnis der ungerichteten Linie (im Sinne
einer Geraden im euklidischen Raum) zu einer ‚intrinsisch gerichteten‘ Linie vor-
stellen könnte – die also erfüllt, was man sich von einer gerichteten Zeit erwartet.
Die Linie – als Bild des Kontinuums der reellen Zahlen – kann mithin selbst für
jenen Aspekt der Zeiterfahrung (ihre Anisotropie) noch das Modell abgeben, den
die Ähnlichkeit der Anordnungsbeziehungen nicht erklärt.
Die bereits erwähnte Passage aus Blumenbergs* Genesis der kopernikanischen
Welt erinnert energisch an die Bedeutung der Linie in den (antiken) kosmologi-
schen Reflexionen über die Zeit. Insbesondere hebt sie die zusätzliche Deutung
hervor, die dort der Spannung von Stetigkeit und Zählbarkeit gegeben wird: Sie
kommt nun in der Verschiedenheit von Kreisbewegung und linearer Bewegung
zum Ausdruck. Eine Stelle aus dem 8. Buch der Physik belegt diese Auffassung
des Aristoteles* [(5), S. 58–59] von der Kreisbewegung als Paradigma des stetigen
Zusammenhanges. Gleichsam unterhalb ihres Zahlcharakters, in ihrer Stetigkeit,
verweist Zeit nicht nur – wie oben bemerkt – zurück auf den Zusammenhang der
Orte, sondern noch einmal auf eine besondere Gestalt der Linie: den Kreis.
Am Ende eröffnet Blumenberg allerdings, indirekt, eine völlig neue Perspek-
tive: Die Möglichkeit, die Reflexion auf die Zeit nicht an den Phänomenen von
Räumlichkeit und Bewegung zu orientieren, sondern „den Zeitbegriff auf das
innere Zeitbewußtsein zurückzuführen“. An einer Stelle aus Kants* [(3), S. 59]
Kritik der reinen Vernunft wird genau diese Möglichkeit ergriffen. Auch in diesem
radikal veränderten Rahmen freilich bleibt die Linie eine unverzichtbare Vorstel-
lung: Sie ist als Analogie ohne Alternative, wenn spezifische Eigenschaften der
inneren Zeitanschauung erklärt und dargestellt werden sollen.
Geometrie (1.3)
Es gibt Kontexte in der Philosophie der Mathematik, in denen die Linie theoreti-
sches Profil gewinnt – wo aber gleichwohl die Frage, ob sie eine immanent phi-
losophische Bedeutung hat, kaum in Betracht kommt. Die Aufmerksamkeit gilt
in diesen Fällen den Grundlagen der Geometrie, und die Bestimmtheit, die der
Begriff Linie erhält, bleibt mit seiner systematischen Stellung innerhalb dieser
Wissenschaft verknüpft.46 Von den hier zusammengestellten Texten trifft das am
ehesten auf die beiden Leibniz*-Stellen zu; sie wurden aus zwei Gründen trotz-
dem aufgenommen: Einmal, weil Leibniz nachdrücklich den Anspruch einer
philosophischen Grundlegung stellt und auch einlöst. Die elementaren Begriffe,
auf die er zurückverweist – wie Ähnlichkeit, Ort oder Bewegung – sind in seiner
Metaphysik tief verankert und keineswegs nur in einem wissenschaftstheoreti-
schen Rahmen erklärt. Zum anderen, weil sein definitorischer Zugang zur Linie
als solcher Perspektiven eröffnet, die auch unabhängig von der Wissenschaft der
Geometrie Interesse verdienen.
Das eigentliche Auswahlprinzip in diesem Abschnitt war allerdings ein
anderes: nämlich einen Eindruck davon zu geben, wie verschieden die philoso-
phischen Annahmen (und Theorien) sind, auf die hin der geometrische Begriff der
Linie befragt oder relativiert werden kann. Maurice Merleau-Pontys Bemerkung,
die Linie sei „nicht mehr, wie in der klassischen Geometrie, die Erscheinung eines
Seins auf der Leere des Hintergrunds; sie ist, wie in den modernen Geometrien,
Einschränkung, Absonderung, Modulation einer vorherigen Räumlichkeit“47
deckt, in ihrer Allgemeinheit, theoretische Konstellationen ab, in denen grund-
verschiedene Auffassungen von Räumlichkeit (und Modulation) leitend sind. Die
Texte von Cusanus, Descartes und Kant veranschaulichen jeweils eine theologi-
sche, methodologische und erkenntnistheoretische Perspektive auf die Linie in
dieser Spannung von Geometrie und Raum.
Nicolaus Cusanus* etwa spielt auf geometrische Verfahren der Approxima-
tion an, wenn er vom Aufgehen (oder Gründen) der Figuren Linie, Dreieck, Kreis
in der unendlichen Kugel spricht. Es ist aber nicht unmittelbar klar, ob das Ver-
hältnis dieser Vorstellung zu der Idee Gottes als unendlicher Größe rein symbo-
lisch ist – sodass dem Übergehen der Linie in den Raum der unendlichen Kugel
(einerseits) die Aufhebung alles Seienden und aller Bewegung in Gott (anderer-
seits) bloß per analogiam entspräche. Denn Cusanus könnte auch an ein tatsäch-
liches Zusammenfallen der unendlichen Kugel mit der unendlichen Größe und
Wirksamkeit Gottes gedacht haben – schließlich ist Gott „als die größte Kugel das
einfachste Maaß aller kreisförmigen Bewegungen“ und wird nicht bloß damit ver-
glichen. In diesem Fall erstreckt sich gleichsam der Raum, als dessen Modulation
die Linie (ebenso wie Dreieck und Kreis) erscheint, von der geometrischen Gegen-
ständlichkeit über den Kosmos in den überhimmlischen Bereich hinaus und ist
letztlich theologisch gedacht.48
Völlig anders motiviert sind Gedanken des jungen René Descartes in dem
methodologischen Fragment Regulae ad directionem ingenii. Ziel dieses Werks
ist die Beschreibung einer universalen Problemlösungsmethode.49 Sie ist wesent-
lich vom Vorbild der Mathematik inspiriert und schließt darüber hinaus geo-
metrische Lösungs- und Konstruktionsstrategien als solche ein. Insbesondere
spielt die Linie eine entscheidende Rolle bei der Behandlung aller Probleme
(aus welchem Erfahrungsbereich immer), die einen gewissen Komplexitätsgrad
überschreiten,50 und sie scheint zunächst auch auf naheliegende Weise an den
übergeordneten Begriff des Raumes (Ausdehnung) angebunden, nämlich als
eine von drei im ausgedehnten Körper real (wenn auch nur der Zahl nach, und
nicht qualitativ) unterscheidbaren Dimensionen (vgl. Descartes 1973, S. 137). Zu
beachten ist natürlich, dass Descartes zu dieser Zeit seine epochale Erfindung der
analytischen Geometrie noch nicht realisiert hatte, also noch nicht erkannt hatte,
dass und wie alle geometrischen Probleme (alle geometrischen Kurven) auf die
Verhältnisse von Abschnitten gerader Linien zurück geführt werden können.51
Die hervorstechende Eigentümlichkeit seiner Auffassung in den Regulae liegt
im Dimensionsbegriff: Der junge Descartes* [(1), S. 64] hat ein radikal verallge-
meinertes Verständnis von Dimension als ‚Dimension der Messbarkeit‘, wo kein
Bezug auf die Natur des Raumes als solchen mehr wesentlich ist. Das Verhältnis
der Begriffe Ausdehnung, Dimension und Linie ist also komplexer als vermutet.
Der letztlich fundierende Zusammenhang besteht darin, dass dasjenige, was (in
den jeweiligen Dimensionen) gemessen wird, immer ‚Größe‘ ist. Weil aber – wie
Descartes [(2), S. 64–65] sagt – jegliche Regelmäßigkeit dieser völlig allgemeinen
Größenvorstellung auch an jeder besonderen Art von Größen gefunden werden
kann, ist es pragmatisch gerechtfertigt, alle überhaupt messbaren Beziehungen
als Beziehungen in räumlicher Ausdehnung darzustellen — dem einfachsten
48 Vgl. zu der Stelle Mahnke 1937, S. 81–82. Mahnke akzeptiert die Bezeichnung dieser Spekulati-
onen als „mathematischen Mystizismus“, betont aber zugleich ihre Bedeutung für den Übergang
zu einer mathematischen Naturwissenschaft.
49 „Es muß das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die Erkenntniskraft darauf auszu-
richten, daß sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt
(Descartes 1973, S. 3).
50 Auf diesen Punkt zielt die gebräuchliche Auffassung der cartesischen Methode als ‚Geome
trisierung‘ aller Wissenschaft.
51 Der erste Satz der späteren Abhandlung über die Geometrie lautet: „Alle Probleme der Geo-
metrie können leicht auf einen solchen Ausdruck gebracht werden, daß es nachher nur der
Kenntnis der Länge gewisser gerader Linien bedarf, um diese Probleme zu konstruieren.“
52 Die Definition der Ähnlichkeit lautet: „Ich bin nun durch eine Erklärung der Qualität oder
Form, die ich aufgestellt, zu der Bestimmung gekommen, daß ähnlich das ist, was für sich be-
trachtet nicht voneinander unterschieden werden kann.“ (Leibniz 1966b, S. 71–72) Der metaphy-
sische Status dieser Definition springt sofort ins Auge, wenn man sie neben das principium iden-
titatis indiscernibilium stellt: „[…] daß niemals zwei Substanzen einander vollkommen gleichen
und nur der Zahl nach verschieden sind“ (Leibniz 1966d, S. 144).
lung von einem synthetischen Urteil a priori immer wieder plausibel zu machen
versuchte, indem er auf geometrische Sätze (von der Art „daß die gerade Linie
zwischen zwei Punkten die kürzeste sei“ (Kant KrVb, S. 38)) verwies.
Der andere Gesichtspunkt ist substantieller: Er meinte, dass Akte des mathe-
matischen (und insbesondere geometrischen) Konstruierens in jede Erkenntnis
eingehen, die auf einen unabhängig von unseren Vorstellungen existierenden
Gegenstand zielt. Insofern ist Geometrie nicht bloß Beispiel für, sondern auch
notwendiges Element von Erkenntnis. Unter beiden Aspekten aber ist Kants Inter
esse an der Geometrie dezidiert erkenntnistheoretisch.
In einem späten Brief aus dem Jahre 1789 erklärt Kant* [(4), S. 67] (relativ
oberflächlich), was er darunter versteht, einen Begriff von einem bestimmten
geometrischen Objekt (in diesem Fall: der Kreislinie) zu haben. Er möchte her-
ausarbeiten, dass dies nicht bedeutet, durch rein intellektuelle Operationen – die
letztlich in einer Definition terminieren – den Begriff eines möglichen Objekts zu
bilden und dann nachträglich zu fragen, wie es realisiert oder zur Anschauung
gebracht werden könnte. Im Falle eines geometrischen Objekts birgt die Defini-
tion vielmehr selbst die ganze Komplexität dieses Szenarios in sich: Sie ist schon
die Realisierung gewisser begrifflich-intellektueller Inhalte in einer Anschauung,
ist schon eine Konstruktionshandlung.
In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant [(5), S. 67–68] aber schon ein
wesentlich differenzierteres Bild dieses Grundgedankens gegeben. Man sieht
hier gleichsam aus der Gegenrichtung, dass auch in jener Anschauung als solcher
(hier: im Raum) noch kein geometrisches Objekt gegeben ist – sie ist nur ein
reines Mannigfaltiges. Das Objekt Linie (als gleichsam gegenständlicher eindi-
mensionaler Raum) existiert auch nicht ohne intellektuell-diskursive Aktivität.
Im Unterschied zu Leibniz’ Konzeption im „Entwurf der geometrischen Charak-
teristik“ stehen Raum und Linie hier freilich auf radikal verschiedenen Ebenen.
Während bei Leibniz beide denselben ontologischen Status als geometrische
Örter haben, ist für Kant der Raum primär gar kein Objekt, sondern stellt eine
epistemologische Voraussetzung für mögliche Objektivität dar.
An einer anderen Stelle scheint Kant [(6), S. 68] diesen Gedanken zunächst
nur noch etwas energischer zu wiederholen. Bei näherer Betrachtung sieht man
aber, dass hier implizit der Unterschied zwischen dem Raum als Anschauung
(epistemologische Voraussetzung) und einem als geometrisches Objekt konstitu-
ierten Raum verallgemeinert wird. So wie die Linie können natürlich auch zwei-
und dreidimensionale (räumliche) Objekte aus einer begrifflichen Konstruktion
resultieren (hier ist es insbesondere die Konstruktion des dreidimensionalen
Raumes). Der besondere Wert der Stelle im gegenwärtigen Zusammenhang liegt
indes darin, dass sie in dieser Hierarchie der geometrischen Objekte der Linie die
absolute Priorität zuweist: Wenn der Raum ein geometrisches Objekt (und nicht
Deleuze (1.4)
53 Auf ähnliche Weise beschreibt Derrida seine Fassung der différance als ‚Bündel‘, um zu ver-
deutlichen, „daß die vorgeschlagene Zusammenfassung den Charakter eines Einflechtens, eines
Webens, eines Überkreuzens hat, welches die unterschiedlichen Fäden und die unterschiedli-
chen Linien des Sinns – oder die Kraftlinien – wieder auseinanderlaufen läßt, als sei sie bereit,
andere hineinzuknüpfen.“ (Derrida 1988a, S. 32)
54 Vor allem auch für die Verwendung des Begriffes Diagramm bei Deleuze.
55 Das ist von Bedeutung für die Einschätzung seiner emphatischen Rezeption von Wilhelm
Worringers Denken über die Linie; s. dazu unten S. 307 und 399.
56 Hier ist Deleuzes Auseinandersetzung mit Paul Klee* wichtig; vgl. dazu unten S. 413.
57 Zur Linie als Bewegung des Denkens vgl. Claire Parnet: „In den Dingen, unter den Dingen
denken heißt, ein Rhizom bilden und keine Wurzel, heißt, eine Linie ziehen …“ (Deleuze/Parnet
1980, S. 33).
58 „Cette taxonomie multilinéaire qui marque l’œuvre de Deleuze depuis ‚Mille plateaux‘…“
(Martin 1993, S. 165).
59 Vgl. zum Kontrast die Bemerkung Merleau-Pontys über die Linie oben S. 39.
60 Das Konzept der „segmentären Gesellschaft“ wurde 1893 von Emile Durkheim für einen
Typus gesamtgesellschaftlicher Organisation – mechanisch im Gegensatz zu organisch – geprägt
(Durkheim 1960). Im Abschnitt „Mikropolitik und Segmentarität“ in Tausend Plateaus bezieht
Deleuze sich auf Meyer Fortes, Evans-Pritchard, Lévi-Strauss und vor allem Georges Balandier
(Balandier 1967). Ergänzend wäre hinzuweisen auf Sigrist 1967.
61 Zu diesem Deleuze prominenten Thema vgl. vor allem Deleuze/Guattari 2000, S. 7.
62 Zu diesem Motiv des äußeren Anstoßes für das Denken vgl. das Kapitel „Das Bild des Den-
kens“ in Deleuze 1992, S. 181: „Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der
Feind …“
möglichkeit fasziniert war: einem Abstrakten, das durch und durch konkret, eine
Steigerung des Lebens wäre.
1.1 Ordnung im Denken
Platon hat die Philosophie als eine besondere Disziplin des Denkens – abgehoben
vor allem gegen Rhetorik und religiöse Überlieferung – zu begründen gesucht.
Eine entscheidende Rolle spielt für ihn dabei die Differenzierung unserer Vorstel-
lung von Erkenntnis: Wissen im maßgeblichen Sinn bindet er an einen extrem
starken Wahrheitsanspruch, der den Bezug auf ein unwandelbar Seiendes ver-
langt. Die Verallgemeinerung von Erfahrungswissen wird diesem Standard nicht
gerecht. Eine spezielle positive Bedeutung jedoch hat für ihn die Geometrie als
Paradigma sicherer Schlussweisen. Dass dabei die Berufung auf Intuitionen
wesentlich ist, die nicht in der Gegebenheit sinnlicher Wahrnehmungen aufge-
hen, ist bis in die frühe Neuzeit immer wieder Anknüpfungspunkt für Ansätze
einer geometrischen Mystik gewesen. Zu Platons Theorie der Einheit von räum-
licher Ausdehnung und Materie finden sich noch bei Descartes Parallelen. Von
größtem Interesse hier ist das mit theoretischen Ansprüchen hoch aufgeladene
‚Linien-Gleichnis‘ (s. auch oben S. 31–35).
Brentlinger 1963; Brumbaugh 1952; Fine 1999; Foley 2008; Gloy 1986; Klibansky
1939; Krämer 2016, S. 146–160; Rowe 2007; Shorey 1938; Wieland 1982, S. 48,
196–218
Der Staat
In: Ders.: Platons Werke. Hrsg. u. übers. v. Friedrich Schleiermacher. Berlin: Reimer, 1828, Teil 3,
Bd. 1, S. 356–360.
Merke also, sprach ich, wie wir sagen, daß dieses zwei sind und daß sie herrschen, das eine über
das denkbare Geschlecht [S. 357] und Gebiet, das andere über das sichtbare, damit du nicht,
wenn ich sage über den Himmel, meinest ich wolle in Worten spielen. Also diese beiden Arten
hast du nun, das denkbare und sichtbare. – Die habe ich. – So nimm nun wie von einer in zwei
getheilten Linie die ungleichen Theile, und theile wiederum jeden Theil nach demselben Ver-
hältniß das Geschlecht des sichtbaren und das des denkbaren: so giebt dir vermöge des Ver-
hältnisses von Deutlichkeit und Unbestimmtheit in dem sichtbaren der eine Abschnitt Bilder.
Ich nenne aber Bilder zuerst die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und die sich auf
allen dichten glatten und glänzenden Flächen finden und alle dergleichen, wenn du es ver-
stehst. – Ich verstehe es. – Und als den andern Abschnitt seze das, dem diese gleichen, nemlich
die Thiere bei uns und das gesammte Gewächsreich und alle Arten des künstlich gearbeiteten. –
Das seze ich, sagte er. – Wirst du auch die Sache selbst behaupten wollen, sprach ich, daß in
Bezug auf Wahrheit und nicht, wie sich das Vorstellbare von dem Erkennbaren unterscheidet,
so auch das nachgebildete von dem welchem es nachgebildet ist? – Das möchte ich gar sehr,
sagte er. – So betrachte nun auch die Theilung des denkbaren wie dies zu theilen ist. – Wonach
also? – Sofern den einen Theil die Seele genöthiget ist, indem sie das damals abgeschnittene
als Bilder gebraucht, zu suchen von Voraussetzungen aus nicht zum Anfange zurükschreitend,
sondern nach dem Ende hin, den andern hingegen auch von Voraussezungen ausgehend, aber
zu dem keiner Voraussezung weiter bedürfenden Anfang hin, und indem sie ohne die bei jenem
angewendeten [S. 358] Bilder mit den Begriffen selbst verfährt. – Dieses, sagte er, was du da
erklärst, habe ich nicht gehörig verstanden. – Hernach aber, sprach ich; denn wenn folgendes
noch vorangeschikt ist, wirst du es leichter verstehen. Denn ich denke du weißt, daß die, welche
sich mit der Meßkunst und den Rechnungen und dergleichen abgeben, das Gerade und Unge-
rade und die Gestalten und die drei Arten der Winkel und was dem sonst verwandt ist in jeder
Verfahrungsart voraussezend, nachdem sie dies als wissend zum Grunde gelegt keine Rechen-
schaft weiter darüber weder sich noch andern geben zu dürfen glauben, als sei dies schon allen
deutlich, sondern hievon beginnend gleich das weitere ausführen und dann folgerechterweise
bei dem anlangen, auf dessen Untersuchung sie ausgegangen waren. – Allerdings, sagte er, dies
ja weiß ich. – Auch daß sie sich der sichtbaren Gestalten bedienen und immer auf diese ihre
Reden beziehen, ohnerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenem, dem diese glei-
chen, und um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonale ihre Beweise führen, nicht um
deswillen welches sie zeichnen, und so auch sonst überall dasjenige selbst was sie nachbilden
und abzeichnen, wovon es auch Schatten und Bilder im Wasser giebt, deren sie sich zwar als
Bilder bedienen, immer aber jenes selbst zu erkennen trachten, was man nicht anders sehen
kann als mit dem Verständniß. – Du hast Recht, sagte er. – Diese Gattung also sagte ich aller-
dings sei auch erkennbares, die Seele aber sei genöthiget bei der Untersuchung derselben sich
der Voraussezung zu bedienen, nicht so daß sie zum Anfang zurückgeht, weil sie sich nemlich
über [S. 359] die Voraussetzungen hinauf nicht versteigen kann, sondern so daß sie sich dessen
als Bilder bedient, was von den unteren Dingen dargestellt wird, und zwar derer die im Vergleich
mit den andern als hell und klar verherrlicht und in Ehren gehalten werden. – Ich verstehe, sagte
er, daß du meinst, was zur Geometrie und den ihr verwandten Künsten gehört. – So verstehe
denn auch, daß ich unter dem andern Theil des denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft
unmittelbar ergreift, indem sie mittelst des dialektischen Vermögens Voraussezungen macht,
nicht als Anfänge, sondern wahrhaft Voraussezungen als Einschritt und Anlauf, damit sie bis
zum Aufhören aller Voraussezung an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife, und so
wiederum, sich an alles haltend was mit jenem zusammenhängt, zum Ende hinabsteige, ohne
sich überall irgend etwas sinnlich wahrnehmbaren, sondern nur der Ideen selbst an und für sich
dazu zu bedienen, und so am Ende eben zu ihnen, den Ideen, gelange. – Ich verstehe, sagte er,
zwar noch nicht genau, denn du scheinst mir gar vielerlei zu sagen, doch aber daß du bestim-
men willst, was vermittelst der dialektischen Wissenschaft von dem seienden und denkbaren
geschaut werde, sei sicherer als was von den eigentlich so genannten Wissenschaften, deren
Anfänge Voraussezungen sind, welche dann die Betrachtenden mit dem Verstande und nicht
mit den Sinnen betrachten müssen. Weil sie aber ihre Betrachtung nicht so anstellen, daß sie
bis zu den Anfängen zurükgehen, sondern nur von den Annahmen aus: so scheinen sie dir keine
Vernunfterkenntniß davon zu haben, obgleich, ginge man vom An[S. 360]fange aus, sie eben-
falls erkennbar wären. Verstand aber scheinst du mir die Fertigkeit der Meßkünstler und was
dem ähnlich ist zu nennen, als etwas zwischen der bloßen Vorstellung und der Vernunfterkennt-
niß zwischen inne liegendes. – Vollkommen richtig, sprach ich, hast du es aufgefaßt! Und nun
nimm mir auch die diesen vier Theilen zugehörigen Zustände der Seele dazu, die Vernunftein-
sicht dem obersten, die Verstandesgewißheit dem zweiten, dem dritten aber weise den Glauben
an und dem vierten die Wahrscheinlichkeit; und ordne sie dir nach dem Verhältniß, daß soviel
das, worauf sie sich beziehn, an der Wahrheit Theil hat, soviel auch jedem von ihnen Gewißheit
zukomme. – Ich verstehe, sagte er, und räume es ein, und ordne sie wie du sagst.
Der unbekannte Autor der Rhetorica ad Herennium war ein jüngerer Zeitgenosse
Ciceros, mit dessen De inventione (vor 80 v. Chr.) das Werk deutliche Verwandt-
schaft zeigt. Es wurde erstmals im fünften nachchristlichen Jahrhundert erwähnt
und bis ins 15. Jahrhundert unter den Werken Ciceros geführt. Für die Gedächtnis-
kunst der Bilder und Orte, deren Erfindung dem griechischen Dichter Simonides
(6. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben wird, stellt es eine Hauptquelle dar. Die
Mnemotechnik ist der strikten Linearität des Redeverlaufs verpflichtet (s. auch
oben S. 28–29).
Wir müssen also, wenn wir uns an vieles erinnern wollen, uns viele Orte zurechtlegen, damit
wir an vielen Orten viele Bilder festsetzen können. Ebenso, glaube ich, muss man diese Orte der
Reihe nach (ex ordine) zur Verfügung haben, damit wir nicht durch ein Durcheinanderkommen
der Reihenfolge daran gehindert werden, die Bilder von jedem beliebigen Ort aus entweder von
vorne oder von hinten aufzuzählen und das, was den Orten anvertraut ist, auszusprechen […]
Deshalb, glaube ich, muss man die Orte der Reihe nach zurechtlegen.
Kants Popularität ging zunächst vor allem von Schriften zur Moral- und Religi-
onsphilosophie aus. Um 1800 gewannen systematische Aspekte seines Denkens
entscheidenden Einfluss auf die idealistische Philosophie. Erst im weiteren
Verlauf des Jahrhunderts wurden seine Thesen über die Grundlegung der Wis-
senschaften und insbesondere der Mathematik zu einer wichtigen Referenz für
aktuelle Diskussionen. Im Zentrum stand und steht dabei die kritische Ausein-
Allison 2004; Bencivenga 1987; Brittan 1978; Cassirer 1921; Ferrarin 1995; Heideg
ger 1965; Melnick 1989
Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee,
wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte,
eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman
zu Stande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der
menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl
brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veran-
staltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst plan-
loses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.
Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker
sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch
von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg so wohl in theoretischer als
praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen
kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung,
zum Grunde gelegt werden muß.
Der Begriff von Gott, und selbst die Überzeugung von seinem Dasein, kann nur allein in der
Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen, und weder durch Eingebung, noch
durch eine ertheilte Nachricht, von noch so großer Autorität, zuerst in uns kommen. Widerfährt
mir eine unmittelbare Anschauung von einer solchen Art, als sie mir die Natur, so weit ich sie
kenne, gar nicht liefern kann: so muß doch ein Begriff von Gott zur Richtschnur dienen, ob diese
Erscheinung auch mit allem dem übereinstimme, was zu dem Charakteristischen einer Gottheit
erforderlich ist.
Brusotti 1997, v. a. S. 410–411; Conant 2014; Foucault 1982; Kofman 1972; Nehamas
1991; A. Sommer 2012, S. 488–489; Williams 2002
Naturwerth des Egoismus. – Die Selbstsucht ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der
sie hat: sie kann sehr viel werth sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne
darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens
darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, [132] was seine
Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth ausser-
ordentlich, – und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter thut, darf die
Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der
Einzelne, das „Individuum“, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum: er ist
nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette“, nichts bloss Vererbtes von Ehedem, – er ist die
ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch… Stellt er die absteigende Entwicklung, den
Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, in‘s Grosse gerechnet,
bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu,
und die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich wegnimmt. Er ist
bloss noch deren Parasit…
Arnswald 2004; Bouveresse 1987; Brusotti 2014; Crary/Read 2000; Hanfling 1988;
Kemp/Mras 2016; Kripke 1981; Kuusela 2008; Mounce 1981; Pears 1987; Sluga 1996
Philosophische Untersuchungen
In: Ders.: Schriften I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969b, S. 333, 334, 386, 388, 389, 440 (wiederab-
gedruckt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Suhrkamp).
Die einzelnen Stellen werden mit der Seitengabe dieser Edition sowie der Nummer der Bemer-
kung zitiert.
(1) [S. 333] § 85. Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den
Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei
bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne
ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z. B.) in der entgegengesetzten? –
Und wenn statt eines Wegweisers eine geschlossene Kette von Wegweisern stünden [sic], oder
Kreidestriche auf dem Boden liefen, – gibt es für sie nur eine Deutung? – Also kann ich sagen, der
Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen,
manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.
(2) [S. 334] § 86. Ein Sprachspiel […] werde mit Hilfe einer Tabelle gespielt. Die Zeichen, die A dem
B gibt, seien nun Schriftzeichen. B hat eine Tabelle; in der ersten Spalte stehen die Schriftzei-
chen, die im Spiel gebraucht werden, in der zweiten, Bilder von Bausteinformen. A zeigt dem B
ein solches Schriftzeichen; B sucht es in der Tabelle auf, blickt auf das gegenüberliegende Bild,
etc. Die Tabelle ist also eine Regel, nach der er sich beim Ausführen der Befehle richtet. – Das
Aufsuchen des Bildes in der Tabelle lernt man durch Abrichtung, und ein Teil dieser Abrichtung
besteht etwa darin, daß der Schüler lernt, in der Tabelle mit dem Finger horizontal von links
nach rechts zu fahren; also lernt, sozusagen eine Reihe horizontaler Striche zu ziehen.
Denk dir, es würden nun verschiedene Arten eingeführt, eine Tabelle zu lesen, nämlich einmal,
wie oben, nach dem Schema:
oder einem andern. – So ein Schema werde der Tabelle beigefügt als Regel, wie sie zu gebrau-
chen sei.
Können wir uns nun nicht weitere Regeln zur Erklärung dieser vorstellen? und war anderseits
jene erste Tabelle unvollständig ohne das Schema der Pfeile? Und sind es die andern Tabellen
ohne ihr Schema?
(3) [S. 386] § 218. Woher die Idee, es wäre die angefangene Reihe ein sichtbares Stück unsichtbar
bis ins Unendliche gelegter Geleise? Nun, statt der Regel könnten wir uns Geleise denken. Und
der nicht begrenzten Anwendung der Regel entsprechen unendlich lange Geleise.
§ 219. „Die Übergänge sind eigentlich alle schon gemacht“ heißt: ich habe keine Wahl mehr. Die
Regel, einmal mit einer bestimmten Bedeutung gestempelt, zieht die Linien ihrer Befolgung
durch den ganzen Raum. – Aber wenn so etwas wirklich der Fall wäre, was hülfe es mir?
Nein; meine Beschreibung hatte nur Sinn, wenn sie symbolisch zu verstehen war. – So kommt es
mir vor – sollte ich sagen.
(4) [S. 388] § 229. Ich glaube, im Reihenstück ganz fein eine Zeichnung wahrzunehmen, einen
charakteristischen Zug, der nur noch des „usw.“ bedarf, um in die Unendlichkeit zu reichen.
§ 230. „Die Linie gibt’s mir ein, wie ich gehen soll“: das paraphrasiert nur: sie sei meine letzte
Instanz dafür, wie ich gehen soll.
§ 231. „Aber du siehst doch …!“ Nun, das ist eben die charakteristische Äußerung Eines, der von
der Regel gezwungen ist.
§ 232. Nimm an, eine Regel gebe mir ein, wie ich ihr folgen soll; d. h., wenn ich der Linie mit den
Augen nachgehe, so sagt mir nun eine innere Stimme: „Zieh so!“ – Was ist der Unterschied zwi-
schen diesem Vorgang, einer Art Inspiration zu folgen, und dem, einer Regel zu folgen? Denn sie
sind doch nicht das Gleiche. In dem Fall der Inspiration warte ich auf die Anweisung. Ich werde
einen Andern nicht meine ‚Technik‘ lehren können, der Linie zu folgen. Es sei denn, ich lehrte
ihn eine Art des Hinhorchens, der Rezeptivität. Aber dann kann ich natürlich nicht verlangen,
daß er der Linie so folge wie ich.
(5) [S. 389] § 237. Denke dir, Einer folgt einer Linie als Regel auf diese Weise: Er hält einen Zirkel,
dessen eine Spitze er der Regel-Linie entlang führt, während die andre Spitze die Linie zieht,
welche der Regel folgt. Und während er so der Regel entlang fährt, verändert er die Öffnung
des Zirkels, wie es scheint mit großer Genauigkeit, wobei er immer auf die Regel schaut, als
bestimme sie sein Tun. Wir nun, die ihm zusehen, sehen keinerlei Regelmäßigkeit in diesem
Öffnen und Schließen des Zirkels. Wir können seine Art, der Linie zu folgen, von ihm nicht
lernen. Wir würden hier vielleicht wirklich sagen: „Die Vorlage scheint ihm einzugeben, wie er
zu gehen hat. Aber sie ist keine Regel!“
(6) [S. 440] § 454. […] Wie kommt es, daß der Pfeil zeigt? Scheint er nicht schon etwas
außerhalb seiner selbst in sich zu tragen? – „Nein, es ist nicht der tote Strich; nur das Psychische,
die Bedeutung, kann dies.“ – Das ist wahr und falsch. Der Pfeil zeigt nur in der Anwendung, die
das Lebewesen von ihm macht.
Dieses Zeigen ist nicht ein Hokuspokus, welches nur die Seele vollziehen kann.
Derrida war der Begründer und wichtigste Exponent des philosophischen Dekon-
struktivismus. Wesentlichen Einfluss auf sein Denken hatten Strukturalismus
(Saussure, Jakobson, Lévi-Strauss) und Phänomenologie (Husserl, Heidegger).
Insbesondere in der Auseinandersetzung mit Heidegger ist seine Kritik eines
nicht-problematisierten Zusammenhanges von Dasein, Temporalität und linea-
rer Schrift von Bedeutung. Seit dem Erscheinen von De la Grammatologie (1967)
haben Derridas Thesen zu Phonologismus, Schrift und Schriftkritik in philoso-
phischen, literaturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Diskussio-
nen wesentliche Akzente gesetzt (s. auch oben S. 29–30).
Grammatologie
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 126, 151–152, 155–156 (wiederabgedruckt mit freundlicher
Genehmigung der Verlage Suhrkamp und Éditions de Minuit).
(1) [S. 126] [Der] Linearismus [der Schrift] ist vom Phonologismus nicht zu trennen, er vermag
seine Stimme nur so weit zu erheben, wie es ihm zu gelingen scheint, sich eine lineare Schrift
zu unterwerfen. Die Saussuresche Theorie von der „Linearität des Signifikanten“ könnte unter
diesem Gesichtspunkt interpretiert werden.
„Für die akustischen Signifikanten (gibt es) nur die Linie der Zeit; ihre Elemente treten
nacheinander auf; sie bilden eine Kette. Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar,
sowie man sie durch die Schrift vergegenwärtigt … Der Signifikant, als etwas Hörbares, ver-
läuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind: a) er
stellt eine Ausdehnung dar, und b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimen-
sion: es ist eine Linie.“
An diesem Punkt distanziert sich Jakobson ganz entschieden von Saussure, indem er die Homo-
genität der Linie durch die Struktur des musikalischen Notensystems, „den Akkord in der Musik“
ersetzt.
(2) [S. 151] Die Wurzeln der Schrift im engeren Sinn, vor allem der phonetischen Schrift, gründen
in der Vergangenheit einer nicht-linearen Schrift. Diese Vergangenheit mußte besiegt werden
[…]. Eine Verdrängung der „Mythographie“ (Leroi-Gourhan), d. h. einer Schrift, die ihre Symbole
in der Mehr-Dimensionalität buchstabiert und deren Bedeutung nicht der Sukzessivität, der
Ordnung der logischen Zeit oder der irreversiblen Zeitlichkeit des Lautes unterworfen ist.
Diese Mehrdimensionalität para[S. 152]lysiert jedoch nicht die Geschichte in der Simultaneität,
sondern entspricht einer anderen Schicht der historischen Erfahrung, wie umgekehrt das lineare
Denken als eine Reduktion der Geschichte angesehen werden kann. […] Der Begriff der Lineari-
sierung ist weitaus wirksamer, genauer und inhärenter als alle anderen, welche man gewöhnlich
für die Klassifikation der Schriften und zur Beschreibung ihrer Geschichte heranzieht (Pikto-
gramm, Ideogramm, Buchstabe usw.). Leroi-Gourhan entkräftet mehr als nur ein Vorurteil, vor
allem jenes über das Verhältnis zwischen dem Ideogramm und dem Piktogramm sowie über den
vorgeblichen graphischen „Realismus“, wenn er an die im Mythogramm vorhandene Einheit
von Technik (insbesondere der Graphik), Kunst, Religion und Ökonomie erinnert, welche durch
die lineare Schrift aufgebrochen wurde. Um aber den Zugang zu dieser Einheit, zu dieser ganz
andersartigen Einheitsstruktur wiederaufzufinden, müssen „viertausend Jahre linearer Schrift“
Schicht für Schicht abgetragen werden.
(3) [S. 155] Seit über einem Jahrhundert läßt sich diese Unruhe in der Philosophie, der Wis-
senschaft und der Literatur registrieren, deren Revolutionen als Erschütterungen interpretiert
werden müssen, die das lineare Modell – unter dem wir das epische Modell verstehen – nach
und nach zerstören. Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht
niedergeschrieben werden; ein derartiges Unterfangen käme dem Versuch gleich, die moderne
Mathematik mit Hilfe einer Rechenschiebermaschine bewältigen zu wollen. Die hoffnungslose
Rückständigkeit eines derartigen Verfahrens zeigt sich heute deutlicher denn je. Der [S. 156]
Zugang zur Mehrdimensionalität und zu einer de-linearisierten Zeitlichkeit ist keine einfache
Regression, die wieder beim „Mythogramm“ enden würde, sondern läßt im Gegenteil die ganze,
dem linearen Modell unterworfene Rationalität als eine weitere Form und eine weitere Epoche
der Mythographie erscheinen.
1.2 Zeit
Ackrill 1985; Bostock 2006; Claghorn 1954; Coope 2005; Mellor 1998, S. 118–135;
Mueller 1970; Ross 1995; Wieland 1992
Physik
Hrsg. u. übers. v. Christian H. Weiße. Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1829, S. 106, 108–110, 228.
setzten Bewegungen geschehen. Also kann auch weder in einem Halbkreis, noch in irgend einem
andern Bogen eine stetige Bewegung geschehen. Denn mehrmals muß hier auf dem Nämlichen
die Bewegung geschehen, und die entgegengesetzten Uebergänge vorkommen. Nicht nämlich
verknüpft sie mit dem Anfange das Ende. Die des Kreises aber verknüpft beides, und ist allein
vollkommen.
Ferner ist manches Grosse aus Theilen zusammengesetzt, welche eine bestimmte Lage gegen
einander haben, und anderes Grosse aus Theilen, welche keine solche bestimmte Lage haben.
So haben die Theile einer Linie eine bestimmte Lage gegen einander; denn jeder Theil [S. 11] der-
selben hat seine bestimmte Lage, und man kann bei jedem Theile unterscheiden und angeben,
wo er in der Fläche liegt und mit welchen von den übrigen Theilen er sich berührt. Ebenso haben
auch die Theile einer Fläche eine bestimmte Lage gegen einander; denn man kann von jedem in
gleicher Weise angeben, an welchem er liegt und welche Theile einander berühren. Das Gleiche
gilt von den Theilen eines Körpers und des Raumes. Dagegen wird bei einer Zahl Niemand zeigen
können, wie die Theile derselben eine Lage zu einander haben oder wo sie liegen, und welche
Theile einander berühren; und eben so wenig wird dies bei der Zeit geschehen können, da kein
Theil derselben beharrt; was aber nicht beharrt, wie könnte das wohl eine bestimmte Lage
haben? vielmehr könnte man eher sagen, dass die Zeit eine gewisse Ordnung habe, weil ein
Theil der Zeit der frühere, der andere der spätere ist. Eben dasselbe gilt für die Zahl, weil die Eins
eher gezählt wird als die Zwei und die Zwei eher als die Drei; so dass die Zahl zwar eine gewisse
Ordnung hat, aber man schwerlich eine Lage bei ihr annehmen kann.
Die Zeit ist nichts anders, als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und
unsers innern Zustandes. Denn die [S. 60] Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen
sein; sie gehört weder zu einer Gestalt, oder Lage etc., dagegen bestimmt sie das Verhältniß der
Vorstellungen in unserm innern Zustande. Und, eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt
giebt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge
durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe aus-
macht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf
alle Eigenschaften der Zeit, außer dem einigen [sic], daß die Theile der erstern zugleich, die der
letztern aber jederzeit nach einander sind. Hieraus erhellt auch, daß die Vorstellung der Zeit
selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken
lassen.
Black 1962; Horwich 1987, S. 37–57; Milkov 2015; Reichenbach 1928, S. 112–135; Rei-
chenbach 1935; Reichenbach 1944; Reichenbach 1951
Wenn wir sagen, dass eine Linie keine Richtung hat, auch wenn sie seriell geordnet ist, meinen
wir damit, dass es keine Möglichkeit zur strukturellen Unterscheidung zwischen rechts und
links, also zwischen der Relation und ihrem Gegenteil gibt. Um eine Richtung als „links“ zu
bezeichnen, müssen wir auf das Diagramm zeigen; oder wir können den Punkten Namen zuord-
nen und die intendierte Richtung mithilfe dieser Namen angeben. Hätten wir das, was wir
üblicherweise als „links“ bezeichnen, „rechts“ genannt und umgekehrt, würden wir keinen
strukturellen Unterschied erkennen. Die Relation „links von“ hat also dieselben strukturellen
Eigenschaften wie die Relation „rechts von“. Im Falle eines linearen Kontinuums von negativen
und positiven reellen Zahlen, die wir auf einer geraden Linie abbilden können, verhält es sich
anders. Die Zahlen sind durch die Relation „kleiner als“ geregelt, die asymmetrisch, zusammen-
hängend und transitiv ist wie die Relation „links von“, und haben daher eine Ordnung. Zusätz-
lich dazu weist die Relation „kleiner als“ jedoch auch eine Richtung auf. Darin unterscheidet sie
sich strukturell von ihrem Gegenteil: „größer als“. Dies wird aus der Tatsache deutlich, dass wir
zwischen negativen und positiven Zahlen folgendermaßen unterscheiden können: Das Quadrat
einer positiven Zahl ist positiv wie auch das Quadrat einer negativen Zahl. Deshalb trifft diese
Aussage auf die Klasse der reellen Zahlen zu: Jede Zahl, die ein Quadrat einer anderen Zahl ist,
ist größer als jede Zahl, die nicht ein Quadrat einer anderen Zahl ist. Folglich haben wir die
Relation „größer als“ und damit auch „kleiner als“ in einer strukturellen Weise definiert. Bei der
Anwendung dieses Ergebnisses auf das Problem der Zeit sehen wir, dass die Zeit üblicherweise
als etwas verstanden wird, was nicht nur eine Ordnung hat, sondern auch eine Richtung. Die
Relation „früher als“ wird als gleichartig mit der Relation „kleiner als“ angesehen, nicht als rich-
tungslos wie die Relation „links von“. Dies bedeutet, dass wir meinen, dass die Relation „früher
als“ von ihrem Gegenteil, „später als“, strukturell verschieden ist.
Blumenberg 1960; Blumenberg 1965; Blumenberg 1966; Goldstein 1998; Wetz 1999
Dazu muß genauer gefragt werden, wie das Schema des Kreises den antiken Zeitbegriff charak-
terisiert. Wenn Aristoteles sagt, die Zeit sei die Zahl der Bewegung, so meint er das, was an der
Bewegung das Zählbare ist, und zwar nicht nur hinsichtlich der unterscheidbaren Abschnitte
der Bewegung, sondern hinsichtlich ihrer Lage zueinander in einem Verhältnis des Vorher und
Nachher, Früher und Später. Die Festlegung dieser Abschnitte, des Zählbaren also, erfolgt frei-
lich durch die angenommene absolute Gleichförmigkeit einer zyklischen Bewegung. Der Kreis
ist dadurch ausgezeichnet, daß in ihm überall eine Grenze angesetzt werden kann, von der aus
und auf die hin eine Periode als Einheit gezählt wird und die über das Vorher und Nachher, das
Früher und Später entscheidet. Aber jeder Umlauf in diesem Kreis, also jede kosmische Einheit
der Zeit, deren Vielfaches oder deren Bruchteile die Messung von Zeit ermöglichen, hat ihrer-
seits eine Stelle in einem Ordnungsschema einander folgernder Einheiten, die nicht vertauscht
werden können. Und eben dieses Schema der einander folgenden Einheiten ist als das Zählbare
linear. Erst in dem ordinalen Schema, das die Zeit als Zahl der Bewegung zu fassen gestattet,
steht hinter jeder Einheit das andere Schema des Kreises, der kosmisch-anschaulichen elemen-
taren Bewegungseinheit.
Hält man sich dieses Ineinandergreifen von zyklischer und linearer Schematik im antiken
Zeitbegriff vor Augen, so ergibt sich eine Erklärung dafür, daß es für das griechische Denken
unmöglich war, den Zeitbegriff auf das innere Zeitbewußtsein zurückzuführen und in ihm zu
begründen.
1.3 Geometrie
Nikolaus von Kues war Philosoph, Theologe und Mathematiker und schon zu
Lebzeiten (auch kirchenpolitisch) einflussreich. Er wird unter die Humanisten
und Neuplatonisten eingereiht, seine Bedeutung für die modernen (Natur-)Wis-
senschaften ist ebenso umstritten wie das Gewicht des Mystischen in seinem
Denken. Das liegt u. a. an der besonderen Rolle, die die Mathematik in seiner
Philosophie spielt: Ihr Einsatz soll der Erkenntnis der Welt, Gottes, des Absolu-
ten dienen, und doch soll sie dadurch den Charakter ihrer Wissenschaftlichkeit
keineswegs verlieren. Während heute vor allem die theologisch-metaphysischen
Arbeiten des Cusaners diskutiert werden, galt er noch den Forschern des 18. und
19. Jahrhunderts vor allem als Mathematiker (vgl. Müller 2014, S. 86). Diesen Ruf
brachten ihm seine Bemühungen um die Quadratur des Kreises (das Umwandeln
eines Kreises in ein flächengleiches Quadrat mittels Zirkel und Lineal) ein. In den
mathematischen Abhandlungen taucht auch jenes Prinzip auf, für das Cusanus
berühmt geworden ist: die coincidentia oppositorum. Das Kleinste und das Größte
sind Eins. Cusanus entwirft – vor allem in seiner Hauptschrift De docta ignorantia
(Von der Wissenschaft des Nichtwissens) – verschiedene Bilder zur Erläuterung
dieser Idee; die mathematischen unter ihnen verwenden durchgehend Linien (s.
auch oben S. 39–40).
Blumenberg 1966; Böhlandt 2002; Counet 2005; Flasch 2004; Folkerts 2003; Hoff
2007; Mahnke 1937, S. 76–106; Müller 2014; Nagel 1984
I, 23 Übertragung der unendlichen Kugel auf die Alles wirkende Existenz Gottes
In der unendlichen Kugel sehen wir die drei größten Linien der Länge, Breite und Tiefe im
Centrum zusammenlaufen. Das Centrum der größten Kugel ist aber gleich dem Durchmesser und
der Peripherie; es ist folglich das Centrum jenen drei Linien gleich, ja, das Centrum ist sie alle:
Länge, Breite und Tiefe. Im Größten sind daher alle Länge, Breite und Tiefe das Eine einfachste
und untheilbare Größte selbst. Und wie das Centrum aller Breite, Länge und Tiefe vorhergeht,
das Ende und die Mitte von ihnen ist (denn in der unendlichen Kugel sind Centrum, Dichtigkeit
und Peripherie Ein und Dasselbe), wie die unendliche Kugel ganz in actu und auf die einfachste
Weise ist, so ist auch das Größte ganz in Wirklichkeit (in actu) auf die [S. 25] einfachste Weise. Wie
die Kugel die volle Wirksamkeit der Linie, des Dreiecks und des Kreises ist, so ist das Größte die
Wirksamkeit von Allem (omnium actus). Jedes wirksame Sein hat also von ihm alle seine Wirk-
samkeit; jedes Sein existirt in Wirksamkeit insoweit, wie weit es in dem Unendlichen wirksam
ist. Daher ist das Größte das bildende Prinzip von Allem (forma formarum), das Prinzip des Seins
(forma essendi) oder das höchste wirksame Sein (maxima actualis entitas). Sehr scharfsinnig
sagt daher Parmenides, Gott sei es, für den jegliches Sein all das Sein ist, das es ist (Deum esse,
cui esse quodlibet, quod est, est esse omne id, quod est). Wie die Kugel die höchst mögliche Voll-
endung der Figuren ist, so ist das Größte die vollkommenste Vollendung von Allem, so daß alles
Unvollkommene in ihm das Vollkommenste ist, wie die unendliche Linie Kugel und in ihr das
Krumme gerade, das Zusammengesetzte einfach, das Verschiedene identisch, das Anderssein
Einheit ist. Wie könnte dort eine Unvollkommenheit sein, wo die Unvollkommenheit die höchste
Vollkommenheit, die Möglichkeit die unendliche Wirksamkeit ist etc.? Ist das Größte wie die
größte Kugel, so ist es das einfachste, adäquateste Maaß des ganzen Universums und aller Wesen
im Universum, denn in ihm ist das Ganze nicht größer, als der Theil, wie die Kugel nicht größer
ist, als die unendliche Linie. Gott ist daher der einzige einfachste rationelle Grund (ratio) des
ganzen Universums, und wie aus unendlich vielen Umkreisen (circulationes) die Kugel entsteht,
so ist Gott als die größte Kugel das einfachste Maaß aller kreisförmigen Bewegungen; denn alle
Belebung (vivificatio), Bewegung und Intelligenz ist aus ihm, in ihm und durch ihn, bei dem Eine
Kreisbewegung der achten Sphäre nicht kleiner ist, als die der unendlichen, weil er das Ziel aller
Bewegung ist, in dem alle Bewegung als in ihrem Ziele zur Ruhe kommt. Es ist nämlich Dasjenige
die größte Ruhe, in dem alle Bewegung Ruhe ist. So ist denn die größte Ruhe das Maaß aller
Bewegung, wie das größte Gerade das Maaß aller Umkreise, die größte Gegenwart oder die Ewig-
keit das Maaß aller Zeiten ist. Und weil Gott das Sein alles Seins ist und alle Bewegung sich auf
das Sein bezieht, so ist er, das Ziel der Bewegung, auch die Ruhe der Bewegung, d.i. das Princip
(forma) und die Wirksamkeit des Seins. Alles Seiende hat daher einen Zug zu ihm (ad ipsum
tendunt). Weil es aber endlich ist und nicht auf gleiche Weise an ihm participiren kann, so par-
ticipiren die einen Wesen an dem Ziele aller Dinge mittelst der andern, wie die Linie mittelst des
Dreiecks und Kreises, das Dreieck mittelst des Kreises, der Kreis durch sich selbst zur Kugel wird.
Alquié 1962; Beyssade 2001; Clarke 1982; Cottingham 1992; Gaukroger 1980; Hyp-
polite 1971; Krämer 2016, S. 179–234; Lachterman 1989; Rodis-Lewis 1995; Schus-
ter 2013; Sepper 1996
Hieraus ergibt sich aber leicht, daß es sehr zweckmäßig sein wird, wenn wir das, was wir für
Größen im allgemeinen gültig erkennen, auf diejenige Größenart übertragen, die sich am leich-
testen und deutlichsten von allen in unserer Einbildungskraft abmalt. Daß dies aber die reale
Ausdehnung eines Körpers ist, abgelöst von allem anderen, außer von ihrer Gestalt, folgt aus
dem Text zur zwölften Regel […].
Leibniz hat als einer der letzten Philosophen kreative und dauerhaft gültige
Leistungen in Mathematik und Physik erbracht. In der Philosophie des 20. und
21. Jahrhunderts ist er vor allem durch seine Ansätze zu einer Arithmetisierung
der Logik sowie durch sprachphilosophische und zeichentheoretische Überle-
gungen präsent (vgl. Ishiguro 1990). Bis in die Lebenszeit Kants hat seine Meta-
physik (insbesondere mit der Wiederaufnahme des Konzepts der substantiellen
Form) die sogenannte rationalistische Schulphilosophie geprägt. Seine Entwick-
lung einer konsequent relationalen Auffassung des Raumes (gegen die Theorie
Newtons) hat mit der Entwicklung der Relativitätstheorie um die Wende zum
20. Jahrhundert besondere Würdigung gefunden (vgl. Reichenbach 1979). Im
Zusammenhang seiner originellen Entwürfe zu einer metaphysischen Grundle-
gung der Mathematik ist die Linie ein wichtiger Begriff (s. auch oben S. 39 und
S. 41–42).
Deleuze 2006; Ishiguro 1990; Kaulbach 1960; Mugnai 1992; Mugnai 2001; North-
rop 1946; Parkinson 1969; Reichenbach 1979
[S. 56] H o m o g e n sind zwei Elemente, wenn man zwei andere derart angeben kann, daß sie den
ersten gleich und untereinander ähnlich sind. Es seien z. B. A und B gegeben, und es lasse sich
ein Element L=A, ein anderes M=B in der Weise angeben, daß L und M einander ähnlich sind,
dann bezeichnet man A und B als homogen.
Daraus kann man ersehen, daß man den Begriff der Lage zweier Punkte gegeneinander fassen
kann, ohne dazu der Geraden zu bedürfen, sofern man die Punkte nur durch irgend eine belie-
bige Linie verbunden sein läßt. Unter der Voraussetzung, daß diese Linie starr ist, wird dann
die relative Lage der beiden Punkte unveränderlich sein. Und von 2 Punkten kann man sagen,
daß sie dieselbe relative Lage zueinander haben, wie zwei andere, wenn sie durch eine Linie
verbunden werden können, die der Verbindungs-[S. 82]linie des zweiten Punktpaares kongruent
ist. Ich bemerke dies ausdrücklich, damit man daraus ersehen kann, daß das bisher Gesagte
noch nicht von der Geraden, – deren Definition ich erst geben will – abhängig ist und daß es ein
Unterschied ist, ob ich von A, C, als von der Lage, die A und C zueinander haben oder von der
geraden Linie A C spreche.
An Marcus Herz.
Königsberg, d. 26. Mai 1789.
Auch ist die Möglichkeit eines Cirkels nicht etwa vor dem practischen Satze: einen Cirkel durch
die Bewegung einer geraden Linie um einen festen Punct zu beschreiben, blos problematisch,
sondern sie ist in der Definition des Cirkels gegeben, dadurch, daß dieser durch die Definition
selbst construirt wird, d. i. in der Anschauung zwar nicht auf dem Papier (der empirischen),
sondern in der Einbildungskraft (a priori) dargestellt wird. Denn ich mag immer aus freyer Faust
mit Kreide einen Cirkel an der Tafel ziehen und einen Punkt darinn setzen, so kann ich an ihm
ebenso gut alle Eigenschaften des Zirkels unter Voraussetzung jener (so genannten) Nominal-
definition, welche in der That real ist, demonstriren, wenn er gleich mit dem durch die Herum-
tragung einer Geraden an einem Puncte bevestigten Linie beschriebenen, gar nicht zusammen-
träfe. Ich nehme an: daß sie, die Puncte des Umkreises, gleich weit vom Mittelpuncte abstehen.
Der Satz, einen Cirkel zu beschreiben ist ein practisches Corollarium aus der Definition (oder so
genanntes Postulat), welches gar nicht gefodert werden könnte, wäre die Möglichkeit, ja gar die
Art der Möglichkeit der Figur, nicht schon in der Definition gegeben.
(5) So ist die bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine Erkennt-
niß; [S. 112] er giebt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einem möglichen Erkennt-
niß. Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also
eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so,
daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie)
ist, und dadurch allererst ein Object (ein bestimmter Raum) erkannt wird.
(6) [S. 121] Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel
denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne
aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht,
ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit
sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn
successiv bestimmen, und dadurch auf die Succession dieser Bestimmung in demselben, Acht
haben. Bewegung, als Handlung des Subjects (nicht als Bestimmung eines Objects), folglich die
Synthesis [S. 122] des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahiren und bloß auf
die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt
sogar den Begriff der Succession zuerst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa
schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn
afficirt.
1.4 Deleuze
Das Denken von Gilles Deleuze ist in einer Vielzahl von Bereichen intensiv rezi-
piert worden. Werke mit hohem philosophisch-systematischem Anspruch (Diffé-
rence et répétition 1968, dt. als Differenz und Wiederholung 1992) und interpretie-
rende Texte zu Spinoza, Hume, Kant, Nietzsche, Bergson gehören mehrheitlich
einer frühen Phase seines Denkens an. Großen Einfluss üben seine Texte zu Film,
Literatur, Malerei aus. Bedeutende Bücher sind in Zusammenarbeit mit dem Psy-
chiater Félix Guattari entstanden, wie L’Anti-Oedipe (1972, dt. als Anti-Ödipus
1974), das späte Qu’est-ce que la philosophie? (1991, dt. als Was ist Philosophie?
1996) und auch Mille plateaux (1980, dt. als Tausend Plateaus 1992), in dem sich
eine Philosophie der Linie besonders deutlich abzeichnet; wichtige Reflexionen
zur Linie finden sich auch in Teilen von Pourparlers (1990, dt. als Unterhandlun-
gen 1972–1990 1993) und in Dialogues (gem. mit Claire Parnet 1977, dt. als Dialoge
1980) (s. auch oben S. 44–48).
Dialoge
Gem. m. Claire Parnet, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, S. 45, 51, 56, 80–81, 110, 135–136, 143–
144, 147–148 (wiederabgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Suhrkamp).
(1) Aufbrechen, sich davonmachen heißt, eine Linie ziehen. Der höchste Gegenstand der Lite-
ratur ist, nach Lawrence: „Weggehen, weggehen, aufbrechen, […] den Horizont überschreiten
in ein anderes Leben. […] So findet sich Melville inmitten des Pazifik wieder, er hat wahrhaftig
den Horizont überschritten.“ Die Fluchtlinie ist eine Deterritorialisierung. Die Franzosen sind in
dieser Hinsicht kleine Ignoranten. Natürlich fliehen sie, wie die anderen auch; doch meinen sie,
das bedeute, der Welt den Rücken zu kehren, eine Art Mystik oder Kunst, oder aber, es sei etwas
Feiges, da man so sich aller Engagements und Verantwortlichkeiten entziehe. Tatsächlich heißt
fliehen keineswegs, auf Taten verzichten – nichts Aktiveres als eine Flucht! Sie ist das Gegenteil
des Imaginären, des Hirngespinsts. […]
[S. 51] Durchaus möglich, daß Schreiben in einem wesentlichen Verhältnis zu den Fluchtlinien
steht. Schreiben heißt ja, Fluchtlinien ziehen, die keineswegs imaginär sind, denen man notwen-
dig folgen muß, weil Schreiben uns darin in Wirklichkeit engagiert, uns in sie einsteigen läßt.
Schreiben heißt werden, wenngleich gewiß nicht Schriftsteller werden, wohl aber anderes. Kri-
terium der Selbsteinschätzung eines Schriftstellers können seine Vergangenheit oder Zukunft,
seine individuelle Zukunft oder die Nachwelt sein („In zwei, in hundert Jahren wird man mich
verstehen …“). Ganz und gar verschieden davon ist das im Schreiben enthaltene Werden, sofern
es sich von den herrschenden Parolen nicht einfangen läßt und selbst Fluchtlinien zieht. […]
[S. 56] Der große, der einzige Irrtum ist der, zu glauben, eine Fluchtlinie bedeute, dem Leben zu
entfliehen, sei die Flucht ins Reich der Einbildung oder der Kunst. Statt dessen heißt fliehen,
Reales erschaffen, eine Waffe finden.
(2) [S. 80] Alles ist eine Frage der Linie. Zwischen Malerei, Musikmachen und Schreiben klafft
kein unüberwindlicher Graben. Die Tätigkeiten unterscheiden sich nach ihren jeweiligen Mate-
rien, Codes und Territorialitäten, nicht jedoch im Hinblick auf die abstrakte Linie, die sie ziehen,
die zwischen ihnen verläuft und sie einem gemeinsamen Schicksal entgegentreibt. Gelingt es
einem, die Linie zu ziehen, mag er getrost sagen: „Das ist Philosophie“. Nicht etwa deshalb, weil
die Philosophie die höchste Disziplin darstellte, letzte Wurzel und die Wahrheit aller übrigen in
sich fassend, ganz im Gegenteil. Noch weniger, weil sie populäre Weisheit verkörperte. Vielmehr
allein deshalb, weil die Philosophie von außen durch den Maler, den Musiker und den Schrift-
steller geschaffen wird – wann immer die Melodielinie den Ton nach sich zieht, die Zeichenlinie
die Farbe und die Schriftlinie die artikulierte Stimme. Es gibt kein singuläres Bedürfnis nach
Philosophie; sie wird zwangsläufig immer dort hervorgebracht, wo eine Tätigkeit [S. 81] ihre
Deterritorialisierungslinie weitertreibt.
(3) [S. 110] Wir sind zusammengesetzt aus in jedem Moment variablen, verschieden kombinier-
baren Linien, aus Linienbündeln, Longitüden und Latitüden, Wendekreisen, Meridianen etc. Es
gibt keinen Mono-Strom. Die Analyse des Unbewußten hätte eher Geographie denn Geschichte
zu sein. Welche Linien finden sich blockiert, durch Mauern gestoppt, in Sackgassen geführt, in
ein schwarzes Loch gefallen oder seicht und ausgetrocknet, welche anderen sind dagegen aktiv
und lebendig, wodurch etwas entwischt und uns mit sich reißt?
(4) [S. 135] Egal, ob Individuum oder Gruppe, wir bestehen aus Linien, aus Linien von höchst
unterschiedlicher Beschaffenheit. Eine erste Sorte ist segmentärer Natur, es sind Linien harter
Segmentarität: Familie – Beruf; Arbeit – Urlaub; Familie – dann Schule – dann Militär – dann
Fabrik – dann Pension. Und bei jedem Wechsel von einem Abschnitt zum nächsten liegt man
uns in den Ohren: Jetzt bist du kein Baby mehr; auf der Schule: hier geht’s dir nicht mehr wie zu
Hause in der Familie; beim Militär: da ist es nicht mehr wie in der Schule … Kurzum, mannigfa-
che, säuberlich gegliederte, in alle Richtungen sich erstreckende Segmente, uns an allen Ecken
und Enden zerschneidend, Bündel segmentarisierter Linien. Zugleich besitzen wir weitaus flexi-
blere, gewissermaßen molekuläre Segmentaritätslinien. Nicht daß sie persönlicher oder intimer
wären – sie durchziehen Gesellschaften und Gruppen ebenso wie Einzelwesen. Doch zeichnen
sie kleine Veränderungen, machen Umwege, skizzieren Abschwünge und Aufschwünge; sie sind
deshalb nicht minder präzis, ja, sie steuern sogar irreversible Prozesse. Statt um molare Seg-
mentlinien handelt es sich um molekuläre Ströme mit Schwellen oder Quanten. Eine Schwelle
wird überschritten, die nicht zwangsläufig mit einem Segment der sichtbaren Linien zusammen-
fällt. Hier, auf diesen Linien, ereignet sich mancherlei: vielfältiges Werden, Mikro-Werden,
dessen Rhythmus ein anderer ist als der unserer „Geschichte“. Das ist auch der Grund, warum
die – ach so gequälten – Familiengeschichten, die Selbstorientierungen und Rememorationen
sich anderswo abspielen als unsere wirklichen Veränderungen – es ist eine andere Politik,
eine andere Zeit, eine andere Individuation. Der Beruf, das ist ein hartes Segment. Doch was
geschieht darunter nicht alles, welche Verbindungen, welch ein Anziehen und Abstoßen, die
sich mit den Segmenten nicht decken, welche geheimen Verrücktheiten und Manien, und doch
verknüpft mit den öffentlichen Mächten – etwa Professor sein oder Richter, Rechtsanwalt, Buch-
halter, Hausfrau?! Damit nicht genug besteht eine dritte, überaus sonderbare Art von Linie, so
als risse uns etwas fort, quer durch unsere Segmente, aber auch über unsere Schwellen hinweg,
einem unbekannten, unvorherseh-[S. 136]baren, noch nicht existierenden Ziel entgegen. Diese
Linie ist einfach, abstrakt und dabei die komplizierteste, die gewundenste von allen; es ist die
Gravitäts- oder Zeleritätslinie, die Fluchtlinie oder die Linie mit der stärksten Neigung. („Die
Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach und, wie er glaube, in
den meisten Fällen gerade. […] Dagegen wäre diese Linie wieder von einer anderen Seite etwas
sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers …“). Diese
Linie scheint erst nachträglich hervorzutreten, von den beiden erstgenannten sich abzulösen, so
sie sich überhaupt zu lösen vermag. Denn es mag schon Leute geben, die keine derartige Linie
besitzen, lediglich die beiden übrigen oder vielleicht gar nur eine einzige; die bloß auf einer
leben. Dennoch ist diese Linie, auf eine andere Art, von jeher da, obwohl doch alles andere als
ein Schicksal – sie braucht sich von den übrigen zwei nicht erst zu lösen, sie ist die primäre,
und jene zwei gehen aus ihr hervor. Jedenfalls sind die drei immanent, ineinander verschränkt.
Wir besitzen genauso viele sich kreuzende, durcheinander verlaufende Linien wie eine Hand.
Wir sind komplizierter als eine Hand. Was wir mit vielfältigen Namen belegen: Schizo-Analyse,
Mikro-Politik, Pragmatik, Diagrammatismus, Rhizomatik, Kartographie, hat zum alleinigen
Objekt das Studium dieser Linien in den Gruppen und in den Individuen. […]
[S. 143] Wie die Geschwindigkeitsindikatoren Formen voraussetzen, die sie auflösen, so die Orga-
nisationen fusionierendes Material, das sie ordnen können. Wir sprechen folglich von keinem
Dualismus zwischen zwei Arten von „Dingen“, sondern von einer Vielheit von Dimensionen,
Linien und Richtungen innerhalb einer Verkettung. Auf die Frage: Wie kann das Begehren seine
eigene Unterdrückung, seine eigene Versklavung begehren? heißt unsere Antwort: Die Mächte,
die das Begehren vernichten oder unterjochen, sind bereits selbst Teil der Begehrensverkettun-
gen. Das Begehren muß bloß dieser Linie da folgen, und schon ist es, wie ein Segelboot, von
diesem Wind gepackt, ihm ausgeliefert. Ein Begehren nach Macht, nach Selbstunterdrückung
oder Unterdrückung der anderen existiert ebensowenig wie das Begehren nach Revolution. Viel-
mehr bilden Revolution, Unterdrückung, Macht etc. aktuelle Linien einer [S. 144] gegebenen Ver-
kettung, Nicht daß diese Linien präexistent wären; wechselseitig immanent, ineinander verwo-
ben, zeichnen und bilden sie sich in dem Moment, da auch die Begehrensverkettung sich samt
ihren gleichermaßen ineinander verschränkten Maschinen und sich überkreuzenden Plänen,
Ebenen konstituiert. Weder weiß man im voraus, was als künftige Neigungslinie fungieren, noch
kennt man die Form dessen, was dieser einmal den Weg versperren wird. Das hat Geltung auch
für die Musik-Verkettung mit ihren Codes und Territorialitäten, ihren Zwängen und Machtappa-
raten, ihren dichotomisierten Takten, ihren sich entwickelnden melodischen und harmonischen
Formen, ihrem transzendenten Organisationsplan – und zugleich mit ihren Geschwindigkeits-
transformatoren zwischen Lautmolekülen, ihrer „nicht pulsierten Zeit“, ihren Wucherungen und
Auflösungen, ihrem Kind-, Frau-, Tier-Werden, ihrem immanenten Konsistenzplan. So noch die
jahrhundertelange Rolle der Kirchenmacht innerhalb der Musik-Verkettung – und was, dessen
ungeachtet, die Musiker darin erfolgreich haben anstellen können. Das gilt für jede Verkettung.
(5) [S. 147] Jetzt dürfte auch verständlich sein, warum wir, äußerst verwirrend, manchmal von
mindestens drei unterschiedlichen Linien, dann wieder nur von zwei und zuweilen sogar nur
von einer sprechen – von drei Linien tatsächlich deshalb, weil die Flucht- oder Bruchlinie alle
Deterritorialisierungsbewegungen vereinigt, deren Quanta beschleunigt, daraus schneller wer-
dende Partikel losreißt, die in gegenseitige Nachbarschaft treten, sie auf einen Konsistenzplan
oder eine Veränderungsmaschine trägt; dann eine zweite, die molekuläre Linie, bei der die Deter-
ritorialisierungen nur noch relativ sind, fortwährend aufgewogen werden durch Reterritoriali-
sierungen, die ihnen Schleifen, Umwege, Ausgleich und Stabilisierung aufzwingen; schließlich
die molare Linie mit [S. 148] säuberlich festgelegten Segmenten, wo die sich akkumulierenden
Reterritorialisierungen einen Organisationsplan erstellen und in eine Übercodierungsmaschine
übergehen. Drei Linien: Nomaden-Linie, Migranten-Linie, Seßhaften-Linie (Nomade und
Migrant sind grundlegend verschieden). Oder wir sprechen von zwei Linien. Grund: Die mole-
kuläre Linie erscheint nur als zwischen den beiden Extremen oszillierend, bald davongetragen
von der Vereinigung der Deterritorialisierungsströme, bald zurückgeführt auf die Akkumulation
der Reterritorialisierungen (der Migrant macht sich einmal zum Bundesgenossen der Nomaden,
dann wieder zum Söldner oder Verbündeten eines Reiches: Ostgoten und Westgoten). Oder
aber nur eine Linie wird relevant, die primäre Fluchtlinie, die Rand- oder Grenzlinie, die sich
in der zweiten relativiert, in der dritten stoppen oder abkappen läßt. Doch selbst unter solchen
Umständen mag es nützlich sein, die Linie als aus dem Bersten der beiden übrigen hervorgehend
darzustellen. Nichts komplizierter als die Linie (oder die Linien) – es ist jene, von der Melville
spricht, die die Boote in ihrer organisierten Segmentarität, Käpt’n Ahab mit seinem molekulären
und Tier-Werden, den weißen Wal in seiner wahnsinnigen Flucht vereinigt. Kommen wir noch
einmal zurück auf die Zeichensysteme, von denen oben die Rede war – wie die Fluchtlinie im
despotischen System verbarrikadiert, mit einem negativen Zeichen behaftet ist, wie sie dann im
System der Hebräer einen positiven Wert erlangt, aber relativiert und in nachfolgende Prozesse
unterteilt wird. Das waren nur zwei höchst summarische Fälle, es gibt eine Vielzahl weiterer, das
macht jedes Mal das Wesentliche der Politik aus. Denn die Politik ist aktives Experimentieren,
bei dem man vorher nie weiß, welche Wendung die Linie nehmen wird. Ein ‚Buchhalter‘ würde
zwar darauf insistieren, eine (Leit-)Linie festzulegen; aber die Crux dabei ist ja, daß man die
Linie beliebig legen kann.
Was wir „Karte“ oder sogar „Diagramm“ nennen, ist ein Ensemble verschiedener Linien, die
gleichzeitig wirksam sind (die Linien der Hand bilden eine Karte). Es gibt nämlich sehr unter-
schiedliche Linientypen, in der Kunst, aber auch in einer Gesellschaft, in einer Person. Es gibt
Linien, die etwas darstellen, und andere, die abstrakt sind. Es gibt unterteilte Linien und andere
ohne Segmente. Es gibt dimensionale Linien, und es gibt Richtungslinien. Es gibt Linien, die, ob
abstrakt oder nicht, eine Kontur bilden, und [S. 53] andere, die keine Kontur bilden. Diese sind
am schönsten. Wir glauben, daß die Linien die konstitutiven Elemente von Dingen und Ereignis-
sen sind. Daher hat jedes Ding seine Geographie, seine Kartographie, sein Diagramm. Sogar bei
einer Person sind das Interessante die Linien, von denen sie gebildet wird oder die sie bildet, die
sie entlehnt oder schafft. Warum die Linie gegenüber der Ebene oder dem Volumen privilegie-
ren? In Wirklichkeit gibt es keinerlei Privileg. Es gibt Räume korrelativ zu verschiedenen Linien
und umgekehrt (auch hier wieder könnte man wissenschaftliche Ausdrücke anführen wie die
„Fraktale“ Mandelbrots). Dieser oder jener Linientyp schließt diese oder jene räumliche oder
körperliche Formation ein.
(7) Fassen wir die wesentlichen Merkmale eines Rhizoms zusammen: im Unterschied zu Bäumen
oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom [S. 36] einen beliebigen Punkt mit einem anderen
beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien ver-
weist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins
Spiel. Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Mannigfaltige zurückführen. Es ist
nicht das Eine, das zu zwei wird, oder etwa direkt zu drei, vier oder fünf, etc. Es ist kein Man-
nigfaltiges, das sich aus der Eins herleitet und dem man die Eins hinzuaddieren kann (n+1). Es
besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtun-
gen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich aus-
breitet. Es bildet lineare Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen, die weder Subjekt noch Objekt
haben, die auf einer Konsistenzebene verteilt werden können und von denen das Eine immer
abgezogen wird (n-1). Eine solche Mannigfaltigkeit kann in ihren Dimensionen nicht variieren,
ohne ihre Beschaffenheit zu verändern und sich völlig zu verwandeln. Im Gegensatz zu einer
Struktur, die durch eine Menge von Punkten und Positionen definiert wird, sowie durch binäre
Beziehungen zwischen diesen Punkten und durch bi-univoke Verhältnisse zwischen den Positi-
onen, besteht das Rhizom nur aus Linien: aus Dimensionen der Segmentierungs- und Stratifizie-
rungslinien, aber auch der Flucht- und Deterritorialisierungslinie, einer äußersten Dimension, in
der die Mannigfaltigkeit, der Fluchtlinie folgend, sich völlig verwandelt und dabei ihre Beschaf-
fenheit verändert. Man darf solche Linien und Umrißlinien nicht mit den Abstammungslinien
des Baumtypus verwechseln, die nichts als lokalisierbare Verbindungen zwischen Punkten und
Positionen sind. Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom kein Gegenstand der Reproduktion:
weder als äußere Reproduktion wie beim Bild-Baum, noch als innere Reproduktion wie in der
Baum-Struktur. Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-
Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, Expansion und Eroberung, im
Einfangen und im Zustechen. Im Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und
im Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die produziert und konstruiert
werden muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele
Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat. Man muß die Kopien auf die Karten übertragen, und nicht
umgekehrt. Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommuni-
kation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches
und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen
zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert.
Im Rhizom geht es um eine Beziehung zur Sexualität, aber auch zum Animalischen [S. 37] und
Pflanzlichen, zur Welt, zur Politik, zum Buch, zu natürlichen und künstlichen Dingen, die sich
völlig von der baumartigen Beziehung unterscheidet: um alle möglichen Arten des „Werdens“.
Ein Plateau ist immer Mitte, hat weder Anfang noch Ende. Ein Rhizom besteht aus Plateaus.
Gregory Bateson benutzt das Wort „Plateau“, um etwas ganz Spezielles zu bezeichnen: eine
zusammenhängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede Ausrichtung
auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet. Bateson zitiert als Beispiel die balinesi-
sche Kultur, in der sexuelle Spiele zwischen Mutter und Kind oder auch Streitereien zwischen
Männern zu dieser bizarren Intensitäts-Stabilisierung gelangen. Eine Art von gleichmäßigem
Intensitäts-Plateau hat den Höhepunkt ersetzt, ob im Krieg oder beim Orgasmus. Es ist eine
bedauerliche Eigenheit des westlichen Denkens, Gefühlsäußerungen und Handlungen auf
äußere oder transzendente Ziele zu beziehen, anstatt sie auf einer Immanenzebene nach ihrem
eigenen Wert einzuschätzen64. Ein Buch zum Beispiel, das aus Kapiteln besteht, hat seine Höhe-
und Schlußpunkte. Was geschieht dagegen in einem Buch, das aus Plateaus besteht, die mitei-
nander über Mikro-Fissuren kommunizieren, wie es im Gehirn geschieht? Wir bezeichnen jede
Mannigfaltigkeit als „Plateau“, die mit anderen Mannigfaltigkeiten durch äußerst feine unterir-
dische Stränge verbunden werden kann, so daß ein Rhizom entstehen und sich ausbreiten kann.
Wir schreiben dieses Buch wie ein Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder kompo-
niert. Wir haben ihm eine zirkuläre Form gegeben, aber nur zum Spaß. Jeden Morgen nach dem
Aufstehen hat sich jeder von uns gefragt, welches Plateau er sich vornehmen würde, um hier
fünf oder dort zehn Zeilen zu schreiben. Wir haben halluzinatorische Experimente gemacht, wir
haben beobachtet, wie Linien ein Plateau verlassen haben, um wie kleine Ameisenkolonnen zu
einem anderen weiterzuziehen. Wir haben Konvergenzkreise gezogen. Jedes Plateau kann von
jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden. Für das
Mannigfaltige braucht man eine Methode, mit der man es tatsächlich herstellen kann; sie kann
weder durch typographische Tricks, lexikalische Geschicklichkeit, Wortmischungen oder Wort-
schöpfungen noch durch kühne syntaktische Schritte ersetzt werden. In Wirklichkeit sind das
alles häufig nur mimetische Verfahren, mit denen eine Einheit aufgelöst und zerstreut werden
soll, die in einer anderen Dimension für ein Bild-Buch beibehalten wird. Techno-[S. 38] Narziß-
mus. Typographische, lexikalische oder syntaktische Schöpfungen sind nur dann notwendig,
wenn sie nicht länger zur Ausdrucksform einer verborgenen Einheit gehören und selber eine der
64 Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, übers. von H. G. Holl, Frankfurt 1985, S. 160–176. Wie
man feststellen kann, wird das Wort „Plateau“ in klassischen Untersuchungen über Zwiebeln,
Knollen und Rhizome verwendet; vgl. den Artikel über die „Knolle“ in M. H. Baillon, Dictionnaire
de botanique, Paris 1876–1892.
Dimensionen der jeweiligen Mannigfaltigkeit werden. Wir kennen auf diesem Gebiet nur wenige
gelungene Versuche.65 Wir selbst waren dazu nicht in der Lage. Wir haben nur Wörter verwendet,
die für uns wie Plateaus funktionieren. RHIZOMATIK = SCHIZOANALYSE = STRATOANALYSE =
PRAGMATIK = MIKROPOLITIK. Diese Wörter sind Konzepte, aber Konzepte sind Linien, das heißt
Zahlensysteme, die mit dieser oder jener Dimension der Mannigfaltigkeiten verbunden sind
(Schichten, Molekularketten, Flucht- und Unterbrechungslinien, Konvergenzkreise etc.). Wir
beanspruchen keinesfalls den Rang einer Wissenschaft. Wir kennen keine Wissenschaftlichkeit
und keine Ideologie mehr, sondern nur noch Gefüge. Und es gibt nur noch maschinelle Gefüge
des Begehrens und kollektive Gefüge der Äußerung.
(8) [S. 663] Das Modell des Meeres. – Gewiß, sowohl im gekerbten wie im glatten Raum gibt es
Punkte, Linien und Oberflächen (auch Volumen, aber diese Frage lassen wir für den Moment
beiseite). Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet:
man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind
der Bahn untergeordnet. Bereits bei den Nomaden gab es den Außen-Vektor Kleidung-Zelt-Raum.
Die Unterordnung des Wohnraumes unter den Weg oder die Strecke, die Anpassung des Innen-
raumes an den Außenraum: das Zelt, der Iglu, das Boot. Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es
Punkte des Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den Stillstand fort, hier
umfaßt das Intervall noch alles, ist das Intervall Substanz (daher die rhythmischen Werte).66
Im glatten Raum ist die Linie also ein Vektor, eine Richtung und keine Dimension oder metrische
Bestimmung. Er ist ein Raum, der durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderun-
gen geschaffen wird. Diese Richtungsänderungen können von der Art der Strecke abhängig sein,
wie zum Beispiel bei den Archipel-Nomaden (der Fall eines „gerichteten“ glatten Raumes); aber
sie können sich auch aus der Variabilität des Ziels oder des zu erreichenden Punktes ergeben,
wie zum Beispiel bei den Nomaden in der Wüste, die sich auf eine örtlich begrenzte und ver-
gängliche Vegetation zubewegen (der „nicht gerichtete“ glatte Raum). Aber ob gerichtet oder
nicht, und vor allem im zweiten Fall, der glatte Raum ist direktional und nicht dimensional oder
metrisch. […]
[S. 666] Kehren wir zum einfachen Gegensatz zwischen dem Glatten und dem Gekerbten zurück,
denn wir sind noch nicht in der Lage, die konkreten und dissymmetrischen Mischformen zu
betrachten. Glattes und Gekerbtes unterscheidet sich zuerst durch die umgekehrte Beziehung
von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt zwi-
schen zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die Art der Linie
(gerichtet-glatt, offene Intervalle; dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle). Und schließ-
lich gibt es einen dritten Unterschied, der die Oberfläche oder den Raum betrifft. Im gekerb-
ten Raum wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den festgelegten Intervallen,
nach den festgesetzten Einschnitten „teilt man sie wieder auf“; beim Glatten wird man in einem
65 So zum Beispiel Joëlle de la Casinière, Absolument nécessaire, Paris 1973, ein wirklich noma-
disches Buch. In dieselbe Richtung weisen die Forschungsarbeiten im „Montfaucon Research
Center“.
66 Zu dieser Anpassung des Innen an das Außen bei den Nomaden der Wüste, vgl. Annie Milo-
vanoff, „La seconde peau du nomade“, Nouvelles littéraires, Nr. 2646 (27.7.1978), S. 18. Und über
die Beziehungen des Iglus zum Außen bei den Nomaden der Eiswüste, vgl. Edmund Carpenter,
Eskimo, Toronto 1964.
offenen Raum „verteilt“, entsprechend den Frequenzen und der Länge der Strecken (Logos und
Nomos).67
(9) [S. 687] Kurz gesagt, das Glatte und das Gekerbte müssen zunächst an sich definiert werden,
bevor sich daraus die entsprechenden Unterscheidungen von Haptischem und Optischem, von
Nahem und Fernem ergeben.
Hier kommt ein drittes Begriffspaar ins Spiel: „abstrakte Linie – konkrete Linie“ (neben den
Paaren „haptisch-optisch“ und „nah-fern“). Worringer hat dieser Idee der abstrakten Linie eine
grundlegende Bedeutung gegeben, da er in ihr sogar den Beginn der Kunst oder den ersten Aus-
druck eines künstlerischen Wollens gesehen hat. Kunst als abstrakte Maschine. Und zweifel-
los sind wir auch hier noch geneigt, die gleichen Einwände wie zuvor geltend zu machen: die
abstrakte Linie scheint Worringer zunächst in der möglichst geradlinigen geometrischen oder
kristallinen, ägyptischen imperialen Form aufzutauchen; und erst danach macht sie eine spe-
zielle Wandlung durch und bildet die „gotische oder nordische Linie“ im weitesten Sinne.68 Für
[S. 688] uns ist die abstrakte Linie dagegen zuallererst „gotisch“ oder vielmehr nomadisch und
nicht geradlinig. Daher verstehen wir die ästhetische Motivation der abstrakten Linie und ihre
Gleichsetzung mit dem Beginn der Kunst auf ganz andere Weise. Während die geradlinige (oder
„gleichmäßig“ abgerundete) ägyptische Linie durch Angst vor allem, was geschieht, fließt oder
sich verändert, negativ motiviert ist und die Konstanz und Ewigkeit eines An-sich einsetzt, ist die
nomadische Linie gerade deswegen abstrakt, weil sie aus einer vielfachen Richtung besteht und
zwischen den Punkten, Figuren und Umrissen verläuft: ihre positive Motivierung liegt in dem
glatten Raum, den sie umreißt und nicht in der Einkerbung, die sie vornähme, um die Angst zu
bannen und sich das Glatte unterzuordnen. Die abstrakte Linie ist der Affekt von glatten Räumen
und nicht das Angstgefühl, das die Einkerbung hervorruft. Andererseits ist es allerdings richtig,
daß die Kunst mit der abstrakten Linie beginnt; aber nicht etwa deshalb, weil das Geradlinige die
erste Weise wäre, mit einer Nachahmung der Natur zu brechen, also mit einer nicht ästhetischen
Nachahmung, von der noch die Vorgeschichte, das Wilde und das Kindliche als etwas abhängig
wären, dem es an „Kunstwollen“ mangelte. Wenn es dagegen eine rein vorgeschichtliche Kunst
gibt, so deshalb, weil sie die abstrakte, aber nicht geradlinige Linie benutzt: „Die primitive Kunst
beginnt also im Abstrakten, ja sogar im Präfigurativen (…), hier wird es vielleicht deutlicher,
daß die Kunst am Anfang abstrakt war und daß sie es an ihren Ursprüngen gar nicht anders sein
konnte.“69 Die Linie ist in der Tat um so abstrakter, als es keine Schrift gibt, entweder weil es
67 Emmanuel Laroche, Histoire de la racine „Nem“ en grec ancien, Paris 1949, verweist auf den
Unterschied zwischen Verteilung und Aufteilung, zwischen den beiden entsprechenden Sprach-
gruppen, zwischen den beiden Arten von Raum und zwischen dem Pol „Land“ und dem Pol
„Stadt“.
68 Schon Riegl ging von einer Korrelation „haptisch-nah-abstrakt“ aus. Aber erst Worringer hat
dieses Thema der abstrakten Linie ausgeführt. Und auch wenn er sie vorwiegend in ihrer ägyp-
tischen Form konzipiert, so beschreibt er an ihr doch eine zweite Form, bei der das Abstrakte
ein intensives Leben und einen Ausdruckswert bekommt, wobei es dennoch anorganisch bleibt:
Abstraktion und Einfühlung, a. a. O., Kap. V, und vor allem Formprobleme der Gotik, München
1922, S. 27–35.
69 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, übers. von M. Bischoff, Frankfurt 1980, S. 457 ff. («Die
rhythmischen Markierungen gehen den eigentlichen Figuren voraus»). Die Position von Worrin-
noch keine gibt oder weil sie außerhalb oder am Rande existiert. Wenn die Schrift, wie zum Bei-
spiel in den Imperien, die Abstraktion übernimmt, tendiert die bereits aufgelöste Linie zwangs-
läufig dahin, konkret und sogar [S. 689] figurativ zu werden. Kinder verlernen das Zeichnen.
Aber wenn es keine Schrift gibt oder wenn die Völker kein Bedürfnis nach einer eigenen Schrift
haben, weil sie ihnen (wie den Nomaden) von den mehr oder weniger benachbarten Imperien
geliefert wird, dann kann die Linie nur abstrakt sein und erfreut sich zwangsläufig der ganzen
Abstraktionskraft, die in etwas anderem keinen anderen Ausweg findet. Deshalb glauben wir,
daß die verschiedenen großen Typen der imperialen Linie (die ägyptische geradlinige Linie, die
assyrische oder griechische organische Linie, die chinesische supra-phänomenale, einschlie-
ßende Linie) bereits die abstrakte Linie umgewandelt, sie aus ihrem glatten Raum herausgeris-
sen und ihr konkrete Werte zugeordnet haben. Man kann allerdings sagen, daß diese imperialen
Linien zeitgleich mit der abstrakten Linie vorkommen; diese steht deshalb nicht weniger am
„Beginn“, da sie der Pol ist, der von allen Linien vorausgesetzt wird, die dazu in der Lage sind,
einen anderen Pol zu schaffen. Die abstrakte Linie steht am Beginn, und zwar sowohl durch ihre
geschichtliche Abstraktion selber wie durch ihre vorgeschicht1iche Datierung. Daher taucht sie
in der Ursprünglichkeit, in der Irreduzibilität der nomadischen Kunst auf, auch wenn es eine
wechselseitige Interaktion, Beeinflussung und Konfrontation mit den imperialen Linien der
Kunst der Seßhaften gibt.
Abstrakt ist nicht das direkte Gegenteil von figurativ: das Figurative gehört als solches niemals
zu einem „Kunstwollen“; daher kann man in der Kunst auch nicht eine figurative Linie und
eine, die es nicht ist, einander gegenüberstellen. Das Figurative oder die Nachahmung, die Dar-
stellung, sind eine Konsequenz, ein Resultat, das sich aus bestimmten Eigenheiten der Linie
ergibt, wenn sie diese oder jene Form annimmt. Deshalb muß man zunächst diese Eigenheiten
definieren. Man nehme ein System, in dem die Transversalen den Diagonalen, die Diagonalen
den Horizontalen und Vertikalen und die Horizontalen und Vertikalen sogar virtuellen Punkten
untergeordnet sind: ein solches geradliniges oder einliniges (ganz gleich, wie groß die Zahl der
Linien ist) System bringt die formalen Bedingungen zum Ausdruck, unter denen ein Raum ein-
gekerbt wird und die Linie einen Umriß bildet. Eine solche Linie ist formal an sich darstellend,
auch wenn sie nichts darstellt. Eine Linie dagegen, die nichts eingrenzt, die keinen Umriß mehr
zieht, die nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten ver-
läuft, die unaufhörlich von der Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich ständig
von der Diagonalen löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt – diese mutierende Linie
ohne Außen und Innen, ohne Form und Hintergrund, ohne Anfang und Ende, eine solche Linie,
die ebenso lebendig ist wie eine kontinuierliche Variation, ist wahrhaft eine abstrakte Linie und
beschreibt einen glatten Raum. Sie ist nicht [S. 690] ausdruckslos. Es ist allerdings richtig, daß
sie keine feste und symmetrische Ausdrucksform bildet, die auf einer Resonanz von Punkten
und einer Vereinigung von Linien beruht. Aber sie hat trotzdem materielle Ausdrucksmerkmale,
ger war sehr doppeldeutig. Da er davon ausging, daß die vorgeschichtliche Kunst vor allem figu-
rativ war, rechnete er sie ebensowenig zur Kunst wie die „Kritzeleien eines Kindes“ (Abstraktion
und Einfühlung, a. a. O., S. 90–94). Er wagte dann die These, daß die Höhlenbewohner vielleicht
nur noch „ein letztes fortsetzungsloses Endglied innerhalb ihrer Entwicklungsreihe dargestellt
haben könnten“, die mit dem Abstrakten begonnen habe (S. 30). Aber müßte diese These Worrin-
ger nicht dazu bringen, seine Konzeption des Abstrakten zu überdenken und es nicht mehr mit
der ägyptischen Geometrie gleichzusetzen?
die sich mit ihr verschieben und deren Wirkung sich schrittweise vervielfacht. In diesem Sinne
sagt Worringer von der gotischen Linie (für uns, von der nomadischen Linie, die von der Abs-
traktion lebt): sie hat Ausdruckskraft und keine Form, sie hat die Wiederholung als Kraft und
nicht die Symmetrie als Form. In der Tat, durch Symmetrie begrenzen die geradlinigen Systeme
die Wiederholung, indem sie eine unendliche Progression verhindern und wie bei gespiegelten
oder sternförmigen Figuren die organische Vorherrschaft eines Zentralpunktes und von strah-
lenförmigen Linien aufrechterhalten. Aber die Kraft der Wiederholung als eine maschinelle Kraft
zu entfesseln, die ihre Wirkung vervielfacht und eine unendliche Bewegung verfolgt, ist eine
Eigenheit der freien Tätigkeit, die mit Verschiebung und Dezentrierung oder zumindest durch
eine Bewegung an der Peripherie vorgeht: eher eine verschobene Polythetik als eine symmetri-
sche Antithetik.70 Man darf allerdings Ausdrucksmerkmale, die einen glatten Raum beschreiben
und sich mit einer Materie-Strömung verbinden, nicht mit Einkerbungen verwechseln, die den
Raum umwandeln, indem sie ihn zu einer Ausdrucksform machen, die die Materie rastert und
organisiert.
Die schönsten Seiten bei Worringer sind die, auf denen er [S. 691] Abstraktes und Organisches
gegenüberstellt.
[…]
Die abstrakte Linie ist der Affekt eines glatten Raumes, ebenso wie die organische Darstellung
das Gefühl ist, das den gekerbten Raum beherrscht. Daher müssen die Unterschiede von Hap-
tischem und Optischem, sowie von Nahem und Fernem der Differenz von abstrakter und orga-
nischer Linie untergeordnet werden, damit sie ihr Prinzip in einer allgemeinen Konfrontation
von Räumen finden können. Und die abstrakte Linie kann nicht als geometrisch und geradlinig
definiert werden. Daraus ergibt sich die Frage: Was muß man in der modernen Kunst als abs-
trakt bezeichnen? Eine Linie mit variabler Richtung, die keinen Umriß zieht und keine Form
umgrenzt …71
71 In ihrem Vorwort zur französischen Übersetzung von Abstraktion und Einfühlung (Paris 1978)
verweist Dora Vallier zu recht auf die wechselseitige Unabhängigkeit von Worringer und Kan-
dinsky und auf die Unterschiedlichkeit ihrer Probleme. Sie hält aber dennoch daran fest, daß
es zwischen ihnen eine Konvergenz oder Resonanz geben könnte. In gewisser Weise ist jede
Kunst abstrakt, und das Gegenständliche entwickelt sich nur aus bestimmten Abstraktionsty-
pen. Aber wenn es ganz unterschiedliche Arten von Linien gibt (die ägyptisch-geometrische, die
griechisch-organische, die gotisch-lebendige, etc. Linie), dann muß man doch bestimmen, wel-
che Linie abstrakt bleibt oder die Abstraktion als solche verwirklicht. Man kann daran zweifeln,
ob es die geometrische Linie ist, da sie immer noch eine, wenn auch abstrakte oder nicht-gegen-
ständliche Figur umreißt. Die abstrakte Linie wäre eher diejenige, die Michael Fried anhand von
einigen Werken Pollocks definiert: multidirektional, ohne Innen und Außen, ohne Form und
Hintergrund, eine Linie, die nichts eingrenzt, keinen Umriß beschreibt, zwischen Flecken und
Punkten verläuft, einen glatten Raum ausfüllt und eine nahe und haptische visuelle Materie
durcheinanderwirbelt, die „zugleich das Auge des Betrachters anzieht und ihm keinen Platz zum
Verweilen läßt“ (Three American Painters, Cambridge, Mass. 1965, S. 14). Bei Kandinsky selber
wird die Abstraktion weniger durch geometrische Strukturen, als durch Marsch- oder Weglinien
geschaffen, die auf mongolische Nomadenmotive zu verweisen scheinen.