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Frankfurter Rundschau - „Die SPD ist arrogant geworden“ Page 1 of 2

Politik - 6 | 10 | 2010
LINKEN-FRAKTIONSVORSITZENDER GYSI

„Die SPD ist arrogant geworden“


Herr Gysi, die Grünen mausern sich zur kleinen Volkspartei, die SPD
legt zu, die Linke tritt auf der Stelle. Woran liegt das?

Das ist vor allem selbst gemacht. Wir sind seit der Bundestagswahl in
Selbstbeschäftigung und Passivität verfallen. Aber das ändert sich
gerade. Ich schätze, dass wir ab Dezember in den Umfragen zulegen
werden.

Glauben Sie an den Nikolaus?

„Es kann doch nicht sein, dass ein Kanzler


Schon, aber ich denke vor allem in Zeiträumen. Wenn wir Fehler
die Konzerne fragen muss, was er machen
darf“: Gregor Gysi über die Macht der Politik.
begehen, verlieren wir nicht in der Woche danach, das dauert. Das gilt
Foto: Caro auch, wenn wir besser werden.

Im Januar, auf dem Höhepunkt der Krise Ihrer Partei, haben Sie
angekündigt, sich stärker einzumischen. Aber von Ihnen war zuletzt
nicht viel zu hören?

Ich habe mich doch eingemischt. Eine ganze Nacht habe ich durchgearbeitet, um die neue Parteiführung
zusammenzubekommen. Danach habe ich mich etwas zurückgenommen, um die neue Führung nicht zu
dominieren. Aber inzwischen bin ich wieder ziemlich rege.

Sind Sie zufrieden mit der neuen Führung, mit Gesine Lötzsch und Klaus Ernst?

Das zu beurteilen ist viel zu früh. Sie wachsen Schritt für Schritt in die neuen Rollen hinein. Aber sie sind doch
beide ganz gut, oder?

Das klingt nach drei plus. Wie sehr fehlt Lafontaine der Partei?

Lafontaine ist so extrem anders, dass sich ein Vergleich verbietet. Das gilt auch für Lothar Bisky. Wenn ich hier
abgelöst werde, erwarte ich auch nicht, dass da jemand kommt, der mir ähnlich ist. Ich bin ja auch nur einmal zu
ertragen. Aber natürlich fehlt er. Uns fehlt vor allem ein bekanntes Gesicht aus dem Westen. Klaus Ernst ist zwar
bekannt, aber nicht so wie Oskar.

Mit der Diskussion um sein Gehalt ist Ernst bekanntgeworden.

Ja, aber das war auch ungerecht. Andere verdienen in solchen Positionen viel mehr. Aber klar, die Sache mit
drei Gehältern sah doof aus, da kann man sagen, was man will. Nun ist es aber gut, er hat das geklärt.

Kommen der Linken Themen abhanden?

Nein. Hartz IV und die Rente mit 67, das bleibt hoch brisant, auch wenn die SPD da Kosmetik betreibt. Das sind
weiter unsere Themen. Außerdem verändert sich gerade etwas im Land: Am Beispiel Stuttgart 21 sehen wir
einen neuen Zeitgeist, es entsteht ein rebellisches Bürgertum. Das können wir nicht den Grünen überlassen, die

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vor allem das vornehme Bürgertum vertreten. Wir haben uns zu lange ausgeruht auf der Basis, die wir hatten.
Demokratie wird unser Thema.

Es scheint so, als sei das Verhältnis zwischen der SPD und Ihrer Partei heute noch schwieriger als unter
Lafontaine.

Die SPD ist durch die Umfragen arrogant geworden. Die denken, sie bräuchten uns nicht, weil sie sowieso eine
Mehrheit mit den Grünen erreichten. Das wird aber nicht passieren, es sei denn Union und FDP sind noch
bescheuerter, als man denkt. Und selbst wenn, wären wir als Motor für linke Politik nötig. Ich möchte nicht, dass
SPD und Grüne wieder nur von rechts unter Druck stehen, so dass sie immer Kompromisse in diese Richtung
machen. Wir müssen von links Druck machen.

Nächstes Jahr sind mehrere Landtagswahlen. In Sachsen-Anhalt könnte Die Linke stärkste Partei werden. Sind
Sie schon so weit, eine Regierung zu führen?

Na klar. Schauen Sie doch mal, wer heute so alles Ministerpräsident werden kann. Das sind ja nicht gerade
lauter verdeckte Nobelpreisträger. Also könnten wir das erst recht. Aber die SPD ist noch nicht so weit, das zu
begreifen.

Wir hatten nach Ihrer Partei gefragt. Könnte sie die nötigen Kompromisse aushalten?

Muss sie. Das wird schwierig, aber auch unsere westlichen Landesverbände verändern sich ja, seit sie in den
Landtagen sitzen. Deshalb bin ich auch gar nicht so pessimistisch, was unsere Programmdebatte betrifft.

Das Interessante an der Debatte ist, dass eine starke Minderheit in der Linken zurzeit Plädoyers für das
Erhaltenswerte am Kapitalismus hält, während ihn die Mehrheit überwinden will.

Es stimmt beides. Wir wollen den Kapitalismus überwinden und das von ihm behalten, was etwas taugt. Ein
Beispiel: Wissenschaft und Forschung haben im Kapitalismus immer besser funktioniert als in jedem
Staatssozialismus. Ich weiß auch, dass die Produktivität im Kapitalismus höher ist. Aber sie ist eben auch mit
grober Ungerechtigkeit verbunden. Ich denke, dass unsere Idee von einem Belegschafts-Miteigentum in
größeren Unternehmen eine Lösung für die Zukunft sein kann. Also so etwas wie Nokia, dass wir da Geld
reinstecken und dann sagen die, jetzt gehen wir mal in ein anderes Land, weil da noch höhere Gewinne winken
− das ginge dann nicht mehr. Da müsste man künftig die Belegschaft fragen, ob sie Lust hat, nach Rumänien zu
ziehen. Was auch nicht mehr ginge, ist eine Machtkonzentration wie bei den vier Energieriesen. Es kann doch
nicht sein, wenn ich Kanzler wäre, dass ich die immer fragen muss, was ich machen darf. Politiker haben mehr
Spielräume, als sie sich zutrauen. Die sind viel zu eingeschüchtert.

Interview: Jörg Schindler und Holger Schmale

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