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Evolutionäre Psychologie
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Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Dieses Buch ist
Charles Darwin
Francis Galton
Gregor Mendel
R. A. Fisher
W. D. Hamilton
George C. Williams
John Maynard Smith
Robert Trivers
E. O. Wilson
Richard Dawkins
Donald Symons
Martin Daly
Margo Wilson
Leda Cosmides
John Tooby
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David M. Buss
Evolutionäre Psychologie
2., aktualisierte Auflage
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10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
07 06 05 04
ISBN 3-8273-7094-9
Printed in Germany
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung 13
Vorwort 17
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6 Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis 9
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10 Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis 11
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12 Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis 531
Literaturverzeichnis 533
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Danksagung
Die Danksagungen für dieses Buch richten sich nicht nur an Kollegen, die den Inhalt
direkt kommentiert haben, sondern auch an diejenigen, die meine persönliche evolutio-
näre Odyssee beeinflusst haben, die sich nun schon über mehr als 20 Jahre erstreckt.
Mein Interesse für die Evolution wurde Mitte der 70er Jahre in einem Geologiekurs
geweckt, den ich in einem der ersten Semester an der Universität besuchte. Damals
erkannte ich, dass es Theorien gab, die speziell darauf ausgerichtet waren, den Ursprung
der Dinge zu erklären. Meine ersten evolutionären Versuche machte ich mit einem Refe-
rat im Jahr 1975, in dem ich Spekulationen aufstellte, die sich auf heute lächerliche Pri-
maten-Vergleiche stützten und darauf hinausliefen, dass der Hauptgrund, aus dem der
Mensch Statusbestrebungen entwickelt hat, darin besteht, dass dieser höhere Status
gleichzeitig mehr sexuelle Möglichkeiten bedeutete.
Mein Interesse an menschlichem Verhalten und an Evolution wuchs, als ich mein Stu-
dium an der Universität von Kalifornien in Berkeley fortsetzte, doch den fruchtbarsten
Boden für das Gebiet der Evolution fand ich an der Harvard-Universität vor, die mir 1981
eine Stellung als Assistenzprofessor der Psychologie anbot. Dort begann ich in einem
Kurs über die menschliche Motivation zu unterrichten, wobei ich mich auf die Prinzipien
der Evolution stützte, auch wenn das Wort Evolution im Lehrbuch kaum erwähnt wurde.
Meine Vorlesungen basierten auf den Arbeiten von Charles Darwin, W. D. Hamilton,
Robert Trivers und Don Symons. Ich nahm eine Korrespondenz mit Don Symons auf,
dessen Buch aus dem Jahr 1979 viele als die erste moderne Abhandlung über die mensch-
liche evolutionäre Psychologie betrachten. Don schulde ich besonderen Dank. Seine
Freundschaft und seine einsichtigen Kommentare begleiteten so gut wie alles, was ich
über die evolutionäre Psychologie geschrieben habe. Beeinflusst von seinen Ideen ent-
warf ich 1982 mein erstes evolutionäres Forschungsprojekt über das menschliche Partner-
verhalten, das sich schließlich zu einer kulturübergreifenden Studie mit 10.047 Teilneh-
mern aus 37 Kulturen auf der ganzen Welt ausweitete.
Als mein Interesse an der Evolution allmählich bekannt wurde, klopfte eines Tages eine
brillante junge Harvard-Studentin namens Leda Cosmides an meine Bürotür und stellte
sich vor. Wir führten eine erste Diskussion (oder vielmehr Auseinandersetzung) über
Evolution und menschliches Verhalten, der noch viele folgen sollten. Leda stellte mich
ihrem ebenso brillanten Ehemann und Kollegen John Tooby vor und zusammen versuch-
ten sie, einige der gravierendsten Fehler in meiner Denkweise zu korrigieren – etwas, das
sie bis heute tun. Durch Leda und John lernte ich Irv DeVore kennen, einen bekannten
Anthropologen von Harvard, der in seinem Haus in Cambridge „Affenseminare“ abhielt.
Außerdem lernte ich durch sie Martin Daly und Margo Wilson kennen, die in Harvard
ihren Forschungsurlaub verbrachten. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang bis Mitte der 80er
Jahre, hatten Leda und John noch nichts über evolutionäre Psychologie veröffentlicht und
die Bezeichnung des evolutionären Psychologen existierte noch gar nicht.
Das nächste wichtige Ereignis in meinem evolutionären Streben trat ein, als ich zu einem
Mitglied des Forschungsteams am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences
in Palo Alto gewählt wurde. Dank der Ermutigung des Direktors Gardner Lindzey schlug
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14 Danksagung
ich ein spezielles Projekt für das Zentrum mit dem Titel „Grundlagen einer evolutionären
Psychologie“ vor. Nachdem der Vorschlag angenommen wurde, verbrachten Leda Cos-
mides, John Tooby, Martin Daly, Margo Wilson und ich die Jahre 1989 und 1990 am Zen-
trum und arbeiteten an den Grundlagen einer evolutionären Psychologie. Dabei ließen wir
uns auch nicht von dem Erdbeben stören, das damals die Küste erschütterte. Die größte
intellektuelle Hilfe beim Schreiben dieses Buches erhielt ich von Leda Cosmides, John
Tooby, Don Symons, Martin Daly und Margo Wilson, allesamt Pioniere und Begründer
der aufstrebenden Wissenschaft der evolutionären Psychologie.
An beiden Küsten, in Harvard und am Center of Advanced Study gab es sehr viele neue
Vertreter der evolutionären Psychologie, doch muss ich auch zwei anderen Institutionen
und ihren Mitarbeitern danken. Zum einen unterstützte die Universität von Michigan zwi-
schen 1986 und 1994 die Gruppe Evolution und menschliches Verhalten. Besonderer
Dank gebührt Al Cain, Richard Nisbett, Richard Alexander, Robert Axelrod, Barb Smuts,
Randolph Nesse, Richard Wrangham, Bobbi Low, Kim Hill, Warren Holmes, Laura Bet-
zig, Paul Turke, Eugene Burnstein und John Mitani für ihren Einsatz in Michigan. Zum
anderen danke ich der psychologischen Fakultät an der Universität Texas in Austin, die
das Vorwissen besaß, um eines der ersten Studienprogramme der evolutionären Psycholo-
gie weltweit zusammenzustellen mit der Bezeichnung Individuelle Unterschiede und evo-
lutionäre Psychologie. Besonders danken möchte ich Joe Horn, Dev Singh, Del Thiessen,
Lee Willerman, Peter MacNeilage, David Cohen und den Fakultätsleitern Randy Diehl
und Mike Domjan für ihren Einsatz an der Universität von Texas.
Ganz besonderer Dank gebührt Freunden und Kollegen, die an den Ideen zu diesem Buch
in der einen oder anderen Weise mitgearbeitet haben: Dick Alexander, Rob Axelrod,
Robin Baker, Jerry Barkow, Jay Belsky, Laura Betzig, George Bittner, Don Brown,
Eugene Burnstein, Arnold Buss, Bram Buunk, Liz Cashden, Nap Chagnon, Jim Chis-
holm, Helena Cronin, Michael Cunningham, Richard Dawkins, Irv DeVore, Frans de
Waal, Mike Domjan, Paul Ekman, Steve Emlen, Mark Flinn, Robin Fox, Robert Frank,
Steve Gangestad, Karl Grammer, W. D. Hamilton, Kim Hill, Warren Holmes, Sarah Hrdy,
Bill Jankowiak, Doug Jones, Doug Kenrick, Lee Kirkpatrick, Judy Langlois, Bobbi Low,
Kevin MacDonald, Neil Malamuth, Janet Mann, Linda Mealey, Geoffrey Miller, Ran-
dolph Nesse, Dick Nisbett, Steve Pinker, David Rowe, Paul Rozin, Joanna Scheib, Paul
Sherman, Irwin Silverman, Jeff Simpson, Dev Singh, Barb Smuts, Michael Studd, Frank
Sulloway, Del Thiessen, Nancy Thornhill, Randy Thornhill, Lionel Tiger, Bill Tooke,
John Townsend, Robert Trivers, Jerry Wakefield, Lee Willerman, George Williams, D. S.
Wilson, E. O. Wilson und Richard Wrangham.
Ich möchte folgenden Rezensenten für ihr Feedback zur ersten Ausgabe danken: Clifford
R. Mynatt, Bowling Green State-Universität; Richard C. Keefe, Scottsdale College; Paul
M. Bronstein, Universität von Michigan-Flint; Margo Wilson, McMaster.Universität; W.
Jake Jacobs, Universität von Arizona; und A. J. Figueredo, Universität von Arizona;
sowie den Rezensenten dieser Ausgabe John A. Johnson, Penn-State, Dubois; Kevin
MacDonald, California State-Universität, Long Beach; und Todd K. Shackelford, Florida
Atlantic-Universität.
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Danksagung 15
Der Text der zweiten Ausgabe profitierte von den außerordentlich durchdachten Kom-
mentaren und Vorschlägen von und den Diskussionen mit einigen Freunden und Kolle-
gen: Petr Bakalar, Clark Barrett, Leda Cosmides, Martin Daly, Richard Dawkins, Todd
DeKay, Josh Duntley, Mark Flinn, Barry Friedman, Steve Gangestad, Joonghwan Jeon,
Doug Kenrick, Martie Haselton, Bill von Hipple, Rob Kurzban, Peter MacNeilage,
Geoffrey Miller, Steve Pinker, David Rakison, Kern Reeve, Paul Sherman, Valerie Stone,
John Tooby, Larry Sugiyama, Candace Taylor, Glenn Weisfeld und Margo Wilson. Josh
Duntley muss ich nochmals besonders dafür danken, dass er sein enzyklopädisches Wis-
sen und seine klugen Ansichten mit mir teilte. Auch möchte ich Carolyn Merrill von
Allyn & Bacon für ihre Beratung, Hartnäckigkeit und ihr vorausschauendes Wissen danken.
Vielen Dank auch meinen jetzigen und ehemaligen Studenten, die viel zum Bereich der
evolutionären Psychologie beitragen: April Bleske, Mike Botwin, Sean Conlan, Todd
DeKay, Josh Duntley, Bruce Ellis, Barry Friedman, Heidi Greiling, Arlette Greer, Martie
Haselton, Sarah Hill, Russell Jackson, Joonghwan Jeon, Liisa Kyl-Heku, Anne McGuire,
David Schmitt und Todd Shackelford. Besonderer Dank geht auch an Kevin Daly, Todd
DeKay, Josh Duntley, A. J. Figueredo, Barry Friedman, Martie Haselton, Rebecca Sage,
Todd Shackelford und W. Jake Jacobs dafür, dass sie mir detaillierte Kommentare zu die-
sem Buch lieferten;
und an Cindy.
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Vorwort
Es ist besonders spannend, zu dieser Zeit innerhalb der Wissenschaftsgeschichte ein evo-
lutionärer Psychologe zu sein. Die meisten Wissenschaftler arbeiten innerhalb lange
bestehender Paradigmen. Die evolutionäre Psychologie ist dagegen eine radikal neue
Wissenschaft, eine wahre Synthese der modernen Prinzipien der Psychologie und der
Evolutionsbiologie. Dieses Buch präsentiert den neuesten Stand und ich hoffe, dass es
dadurch seinen ganz bescheidenen Beitrag zur Vollendung der wissenschaftlichen Revo-
lution leisten wird, die die Grundlage für die Psychologie des neuen Jahrtausends bildet.
Seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe von Evolutionary Psychology: The New Science
of the Mind im Jahr 1999 gab es eine Unmenge neuer Forschungsarbeiten auf diesem
Gebiet. Neue Fachblätter für evolutionäre Psychologie wurden aufgelegt und die Anzahl
evolutionärer Publikationen in Fachzeitschriften der Psychologie ist ständig angewach-
sen. An Universitäten und Colleges weltweit werden neue Kurse in evolutionärer Psycho-
logie eingerichtet. Es bleiben noch immer viele Lücken bei den wissenschaftlichen
Erkenntnissen und jede neue Entdeckung wirft mehr Fragen auf und verweist auf neue
Bereiche, die erforscht werden müssen. Die Wissenschaft der evolutionären Psychologie
ist lebendig, aufregend und steckt voller empirischer Entdeckungen und theoretischer
Innovationen. Der Harvard-Professor Steven Pinker stellt sogar fest: „Beim Studium des
Menschen gibt es mehrere Hauptebenen menschlicher Erfahrung – Schönheit, Mutter-
schaft, Familie, Moralität, Kooperation, Sexualität, Gewalt – für die die evolutionäre Psy-
chologie die einzige kohärente Theorie anbietet.“ (Pinker, 2002, S. 135)
Charles Darwin muss als der erste evolutionäre Psychologe angesehen werden, denn er
beendete seine klassische Abhandlung Vom Ursprung der Arten (1859) mit dieser pro-
phetischen Äußerung: „In ferner Zukunft sehe ich viel Raum für weitere wichtige For-
schungsarbeiten. Die Psychologie wird eine neue Grundlage erhalten.“ Über 140 Jahre
später, nach vielen Fehlstarts und Verzögerungen, tritt die Wissenschaft der evolutionären
Psychologie endlich auf den Plan. Dieses Buch möchte die Grundlagen dieser neuen Wis-
senschaft und die faszinierenden Entdeckungen ihrer Vertreter präsentieren.
Als ich 1981 als junger Assistenzprofessor an der Harvard-Universität meine ersten For-
schungsarbeiten im Bereich der evolutionären Psychologie durchführte, kursierten zahl-
reiche Spekulationen über die Evolution des Menschen, doch es gab praktisch noch keine
empirischen Daten, die diese stützten. Ein Teil des Problems bestand darin, dass die Wis-
senschaftler, die sich für Fragen der Evolution interessierten, die Kluft zwischen den gro-
ßen evolutionären Theorien und den tatsächlichen wissenschaftlichen Studien des
menschlichen Verhaltens nicht überbrücken konnten. Heute hat sich diese Kluft weitge-
hend geschlossen, da es sowohl konzeptionelle Durchbrüche als auch eine Flut hart erar-
beiteter empirischer Erkenntnisse gibt. Viele spannende Fragen verlangen immer noch
nach empirischer Aufklärung, doch die bestehende Grundlage an Erkenntnissen ist
gegenwärtig so umfangreich, dass das Problem, dem ich mich gegenüber sah, eher darin
bestand, wie ich das Buch in einem vernünftigen Umfang halten und gleichzeitig der fas-
zinierenden Auswahl theoretischer und empirischer Erkenntnisse voll gerecht werden
konnte. Zwar waren beim Schreiben hauptsächlich Studenten der ersten Semester meine
Zielgruppe, doch möchte ich trotzdem auch ein breiteres Publikum von Laien, Studenten
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18 Vorwort
höherer Semester und auch Fachleuten ansprechen, die nach einem aktuellen Überblick
über die evolutionäre Psychologie suchen.
Ich schrieb die erste Ausgabe dieses Buches noch aus einem anderen – ehrlich gesagt
revolutionären – Grund. Ich wollte damit die zahllosen Professoren an Universitäten auf
der ganzen Welt, die über die Evolution des menschlichen Verhaltens nachdenken und
schreiben, motivieren, formale Kurse in evolutionärer Psychologie zu unterrichten und
diese Kurse als Pflichtbestandteil des Psychologiestudiums zu verankern. Schon heute
zieht die evolutionäre Psychologie die besten und klügsten jungen Köpfe an. Ich hoffe,
dass dieses Buch zur Beschleunigung dieser Entwicklung und irgendwie auch zur Erfül-
lung von Darwins Prophezeiung beiträgt.
Bei der Überarbeitung des Buches für die zweite Auflage verfolgte ich zwei Ziele.
Zunächst wollte ich alle neuen Entdeckungen integrieren. Deshalb wurden über 200 neue
Referenzen eingefügt. Zum zweiten wollte ich wichtige Auslassungen der ersten Ausgabe
nachreichen. Themen der kognitiven Psychologie werden nun beispielsweise viel aus-
führlicher behandelt. Auch wurden neue Abschnitte über Meilensteine der menschlichen
evolutionären Geschichte und über konkurrierende Theorien der menschlichen Ursprünge
(Out-of-Africa-Theorie gegenüber multiregionaler Hypothese) hinzugefügt. Der grundle-
gende Aufbau des Buches bleibt jedoch bestehen – eine Organisation um Ansammlungen
adaptiver Probleme herum, darunter Überleben, Partnerwahl, Elternschaft, Verwandt-
schaft und Gruppenleben.
Von Lehrern und Studenten habe ich viele inspirierende Briefe und E-Mails erhalten, die
die erste Ausgabe meines Buches gelesen haben, und ich hoffe, dass die Leser auch in
Zukunft ihre Begeisterung mit mir teilen werden. Die Suche nach dem Verständnis des
menschlichen Geistes ist ein hehres Unterfangen. Nun da das Feld der evolutionären Psy-
chologie reift, erhalten wir allmählich Antworten auf die Geheimnisse, die die Menschen
vermutlich seit hundertausenden von Jahren beschäftigen: Woher kommen wir? Welche
Verbindungen gibt es zwischen uns und anderen Lebensformen und welche geistigen
Mechanismen bestimmen, was es bedeutet, Mensch zu sein?
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20 Zur deutschen Ausgabe
Dem Trend der Zeit folgend hat sich der Verlag Pearson Education entschieden, das hier
vorliegende und jetzt schon als Standardwerk einzustufende Buch von David Buss nun-
mehr auch in deutscher Übersetzung herauszugeben. Bei dieser Übersetzung wurden –
wenn irgend möglich – für englische Fachtermini deutsche Entsprechungen gesucht
(wenn es sinnvoll schien mit Nennung des englischen Originalausdrucks in Klammern).
Bei einigen Begriffen wurde auf eine Übersetzung verzichtet (z.B. Fitness). Das englische
„mind“, welches im Deutschen keine rechte Entsprechung hat, wurde überwiegend mit
„Geist“, an einigen Stellen aber auch mit „Verstand“ übersetzt. Weiterhin wurde von der
Verwendung des Wortes „Evolutionspsychologie“ abgesehen. Grammatisch gesehen ist
dies ein Genitiv (die Psychologie der Evolution), aber da die Evolution im Sinne der Dar-
winschen Theorie nichts als ein blinder Mechanismus ohne Intention oder gar Psyche ist,
kann es auch keine Psychologie derselben geben. Am Ende eines jeden Kapitels hat
David Buss eine Liste von jeweils fünf Literaturempfehlungen angefügt. Insofern deut-
sche Übersetzungen der empfohlenen Werke vorliegen, wurden die entsprechenden
Angaben ergänzt. Ferner wurde in der vorliegenden Ausgabe die von Buss zusammenge-
stellte Liste jeweils um einige deutschsprachige Werke ergänzt (ggf. mit anschließender
Nennung des englischen Originals).
Abschließend sei noch all jenen gedankt, die die vorliegende Ausgabe ermöglicht haben.
Dies sind Christian Schneider, der als Produktmanager alles überwachte, Anke Kruppa
und Jutta König, die die Übersetzungen besorgten, Julie Holzhausen und Brigitta Keul,
die die Texte Korrektur gelesen und editiert haben sowie Claudia Bäurle, die für die Pro-
duktion und die Koordination von Satz und Druck verantwortlich zeichnet.
Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung sowie einen nachhaltigen Beitrag zur
der Diskussion und kritischen Auseinandersetzung mit diesem überaus spannenden und
für viele provozierenden Thema.
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Teil 1
Grundlagen der
evolutionären
Psychologie
Zwei Kapitel führen in die Grundlagen der evolutionären Psychologie ein. Kapitel 1
zeichnet die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie
nach. Zunächst werden die Meilensteine in der Geschichte der Evolutionstheorie be-
schrieben, angefangen bei den vor Charles Darwin entwickelten Theorien der Evolution
bis hin zu den modernen Formulierungen der Evolutionstheorie, die heute innerhalb der
biologischen Wissenschaften weithin akzeptiert sind. Danach werden drei häufige Miss-
verständnisse im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie genauer untersucht. Schließ-
lich betrachten wir die Meilensteine auf dem Gebiet der Psychologie: vom Einfluss Dar-
wins auf die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds bis hin zu den modernen
Lehrsätzen der kognitiven Psychologie.
Kapitel 2 liefert die konzeptionellen Grundlagen der modernen evolutionären Psycholo-
gie und stellt das wissenschaftliche Handwerkszeug zur Überprüfung evolutionspsycho-
logischer Hypothesen vor. Im ersten Abschnitt werden Theorien über die Ursprünge der
menschlichen Natur untersucht. Dann wenden wir uns der Definition des Kernbegriffs ei-
nes durch die Evolution geprägten psychologischen Mechanismus zu und skizzieren die
Eigenschaften solcher Mechanismen. Im Mittelteil des zweiten Kapitels werden die wich-
tigsten Methoden zur Überprüfung evolutionspsychologischer Hypothesen sowie die
Beobachtungsquellen beschrieben, auf die sich diese Prüfungsmethoden stützen. Da sich
der übrige Teil des Buches an adaptiven Problemen des Menschen orientiert, konzentrie-
ren wir uns am Ende des zweiten Kapitels auf evolutionspsychologische Methoden zur
Identifizierung dieser Probleme, angefangen beim Problem des Überlebens bis hin zum
Leben in der Gruppe.
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Kapitel
1 Die wissenschaftliche
Entwicklung auf dem
Weg zur evolutionären
Psychologie
In ferner Zukunft sehe ich viel Raum für weitere wichtige Forschungsarbeiten. Die
Psychologie wird eine neue Grundlage erhalten, nämlich die notwendige und gra-
duelle Erlangung jeder mentalen Kraft und Fähigkeit.
Als die Archäologin das Skelett von Staub und Schutt befreite, bemerkte sie etwas Son-
derbares. Der Schädel wies auf der linken Seite eine große Einkerbung auf, die offen-
sichtlich von einem heftigen Schlag stammte, und im Brustkorb steckte – ebenfalls links
– eine Speerspitze fest. Bei der anschließenden Laboruntersuchung stellten Wissenschaft-
ler fest, dass dies das Skelett eines männlichen Neandertalers war, der vor ca. 50.000 Jah-
ren gestorben und somit das älteste bekannte menschliche Mordopfer war. Aufgrund der
Verletzungen an Schädel und Brustkorb konnte man davon ausgehen, dass der Mörder die
tödliche Waffe mit der rechten Hand geführt hatte.
Fossilienfunde von Knochenverletzungen zeigen zwei auffallend ähnliche Schemata
(Trinkaus & Zimmerman, 1982; Walker, 1995). Zum einen weisen männliche Skelette weit-
aus mehr Brüche und sonstige Verletzungen auf als weibliche. Zum zweiten befinden sich
diese Verletzungen zumeist an der linken Vorderseite von Schädel und Skelett, was darauf
hindeutet, dass die Angreifer Rechtshänder waren. Solche Knochenfunde alleine reichen
zwar nicht aus, um nachzuweisen, dass der Kampf zwischen Männern ein wesentlicher
Bestandteil des sozialen Lebens unserer Vorfahren war. Ebenso wenig können wir aufgrund
dieser Funde mit Sicherheit sagen, dass sich der Mann zum physisch aggressiveren
Geschlecht entwickelt hat. Dennoch liefern sie wichtige Bausteine zur Lösung des Rätsels,
woher wir kommen, welche Kräfte uns geformt haben und welcher Natur unser Geist ist.
Das riesige menschliche Gehirn, etwa 1.350 Kubikzentimeter groß, ist die komplexeste
organische Struktur, die der Wissenschaft bis heute bekannt ist. Die neue wissenschaftli-
che Disziplin der evolutionären Psychologie zielt auf das Verständnis der Mechanismen
des menschlichen Gehirns/Geistes ab. Die evolutionäre Psychologie beschäftigt sich in
der Hauptsache mit vier Kernfragen: (1) Warum ist unser Geist so und nicht anders
beschaffen – d.h. welche kausalen Prozesse schufen und beeinflussten das menschliche
Bewusstsein und gaben ihm seine heutige Form? (2) Wie ist der menschliche Geist
beschaffen – welche Mechanismen und Bestandteile weist er auf und wie sind sie organi-
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24 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
siert? (3) Welche Funktionen haben die Bestandteile und ihre Organisationsstruktur – d.h.
was soll der Geist bewirken und erreichen? (4) Wie interagiert der Input aus der heutigen
Umwelt, insbesondere der sozialen, mit der Beschaffenheit des menschlichen Geistes bei
der Entstehung beobachtbaren Verhaltens?
Überlegungen über die Geheimnisse des menschlichen Geistes sind nichts Neues. Schon
die alten Griechen wie etwa Aristoteles und Plato haben zu diesem Thema Manifeste ver-
fasst. Heute buhlen andere Theorien des menschlichen Bewusstseins wie etwa die Freud-
sche Theorie der Psychoanalyse, die Skinnersche Theorie der Verstärkung und der Kon-
nektionismus um die Aufmerksamkeit der Psychologen.
Erst im Laufe der letzten Jahrzehnte ist es uns gelungen, die konzeptionellen Werkzeuge
zu entwickeln, um unserem Verständnis des menschlichen Geistes einen alles umfassen-
den Rahmen zu geben – die evolutionäre Psychologie. Sie zieht Erkenntnisse aus allen
Disziplinen des Geistes heran, u.a. aus bildgebenden Verfahren (brain imaging); aus Ler-
nen und Gedächtnis; Aufmerksamkeit, Emotion und Leidenschaft; Attraktion, Eifersucht
und Sexualität; Selbstwertgefühl, Status und Aufopferung; aus Elternschaft, Überzeu-
gung und Wahrnehmung; aus Verwandtschaft, Kriegsführung und Aggression; Koopera-
tion, Altruismus und Hilfsbereitschaft; Ethik, Moral und Medizin; aus Verpflichtung,
Kultur und Bewusstsein. Dieses Buch führt den Leser in die evolutionäre Psychologie ein
und gibt einen Überblick über diese neue Wissenschaft des Geistes.
Zu Beginn dieses Kapitels wollen wir die wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte
der Evolutionsbiologie nachzeichnen, die wesentlich zur Entstehung der evolutionären
Psychologie beigetragen haben. Dann wenden wir uns der Geschichte der Psychologie zu
und zeigen die Entwicklungen auf, die es notwendig machten, die Evolutionstheorie und
die moderne Psychologie zu integrieren.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 25
eigenständige Wissenschaft. Lamarck glaubte, dass es für die Veränderung der Arten
zwei Hauptursachen gab: zum einen eine natürliche Neigung jeder Art, sich zu einer
höheren Form zu entwickeln, und zum anderen die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaf-
ten. Nach Lamarcks Ansicht mussten die Tiere ums Überleben kämpfen, wobei ihre
Nervenzellen aufgrund dieses Kampfes ein Sekret absonderten, das die vom Kampf
betroffenen Organe vergrößerte. So glaubte er, dass Giraffen etwa durch ihre Bemühun-
gen, immer höher wachsende Blätter zu fressen, einen so langen Hals entwickelt hatten
(neuere Studien belegen, dass lange Hälse auch beim Wettbewerb um einen Fortpflan-
zungspartner eine Rolle spielen könnten). Lamarck glaubte weiter, dass die Veränderun-
gen des Halses, die von diesen Bemühungen herrührten, an die nachfolgenden Giraffen-
generationen weitergegeben wurden, daher die Formulierung „die Vererbbarkeit
erworbener Eigenschaften.“ Eine weitere Theorie zur Veränderung von Lebensformen
wurde von Baron Georges Léopold Chrétien Frédérick Dagobert Cuvier (1769-1832) ent-
wickelt. Cuvier formulierte die Theorie des so genannten Katastrophismus, der zufolge
bestimmte Arten in regelmäßigen Abständen durch plötzliche Katastrophen, z.B. Meteo-
riten, ausgelöscht und durch andere Arten ersetzt werden.
Schon vor Darwin erkannten Biologen die verwirrende Vielfalt der Arten, von denen
einige erstaunliche strukturelle Parallelen aufzuweisen schienen. Menschen, Schimpan-
sen und Orang-Utans beispielsweise haben alle genau fünf Finger und Zehen an Händen
und Füßen. Vogelflügel haben große Ähnlichkeit mit Seehundflossen, was bedeuten
könnte, dass das eine sich aus dem anderen entwickelt hat (Daly & Wilson, 1983). Ver-
gleiche zwischen diesen Arten ließen die Vermutung zu, das Leben sei nicht statisch, wie
einige Wissenschaftler und Theologen behauptet hatten. Knochenfunde lieferten weitere
Belege für eine im Laufe der Zeit stattfindende Veränderung. Knochen aus älteren geolo-
gischen Schichten stimmten nicht mit solchen aus jüngeren überein. Es wurde argumen-
tiert, dass es keine solchen Unterschiede bei den Knochenfunden geben würde, wenn sich
nicht auch die organische Struktur im Laufe der Zeit verändert hätte.
Eine weitere Beweisquelle waren Vergleiche der embryologischen Entwicklung verschie-
dener Arten (Mayr, 1982). Biologen stellten fest, dass diese Entwicklung bei einigen Arten
erstaunlich ähnlich verlief, die sich ansonsten scheinbar sehr voneinander unterschieden.
Die Embryos von Säugetieren, Fischen und Fröschen haben eine ungewöhnliche, schlau-
fenartige Anordnung der Arterien nahe der Bronchialschlitze gemeinsam. Dies könnte dar-
auf hindeuten, dass diese Arten vor vielen Jahren die gleichen Vorfahren gehabt haben
könnten. All diese Hinweise, die bereits vor 1859 bekannt waren, legten nahe, dass das
Leben keineswegs starr und unveränderlich war. Biologen, die glaubten, dass sich organi-
sche Strukturen im Laufe der Zeit veränderten, nannten sich selbst Evolutionisten.
Verschiedene Evolutionisten vor Darwin machen noch eine weitere wichtige Beobach-
tung. Viele Arten besitzen Eigenschaften, die scheinbar einem bestimmten Zweck dienen.
Die Stacheln des Stachelschweins dienen der Abwehr von Feinden. Der Panzer der
Schildkröte dient zum Schutz ihrer empfindlichen Organe gegen die rohen Naturgewal-
ten. Die Schnäbel vieler Vögel sind so beschaffen, dass sie damit Nüsse knacken können.
Diese offensichtliche Funktionalität, die uns in der Natur in scheinbar unerschöpflicher
Form begegnet, verlangte ebenfalls nach einer Erklärung.
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26 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Was den Evolutionisten vor Darwin jedoch noch fehlte, war eine Theorie, die erklärte,
wie sich eine Veränderung über einen bestimmten Zeitraum hinweg vollziehen konnte
und wie sich solche offensichtlich zweckmäßigen Strukturen wie der lange Hals der
Giraffe und die spitzen Stacheln des Stachelschweins entwickelt haben konnten. Was
fehlte, war ein kausaler Mechanismus oder Prozess, der diese biologischen Phänomene
erklärte. Charles Darwin lieferte die passende Theorie für eben diesen Mechanismus.
Antworten auf diese Fragen fand Darwin auf einer Reise, die er nach Abschluss seines
Studiums an der Cambridge University unternahm. Fünf Jahre lang, von 1831 bis 1836,
bereiste der Naturalist auf dem Schiff Beagle die Welt. Auf dieser Reise sammelte er Dut-
zende von Proben von Vögeln und anderen Tieren auf den Galapagos-Inseln im Pazifi-
schen Ozean. Nach seiner Rückkehr entdeckte er, dass die Galapagosfinken, von denen er
ursprünglich angenommen hatte, sie gehörten alle der gleichen Art an, sich so sehr von-
einander unterschieden, dass sie verschiedene Arten bildeten. Tatsächlich wies jede Insel
der Galapagos-Gruppe ihre eigene Finkenart auf. Darwin fand heraus, dass diese ver-
schiedenen Finkenarten zwar gemeinsame Vorfahren gehabt hatten, sich dann aber auf-
grund der unterschiedlichen lokalen ökologischen Bedingungen jeder Insel unterschied-
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 27
lich entwickelt hatten. Diese geografisch bedingten Unterschiede spielten für Darwins
Schlussfolgerung, dass biologische Arten keineswegs unwandelbar sind, sondern sich
vielmehr im Laufe der Zeit verändern können, eine zentrale Rolle.
Woran aber könnte es liegen, dass sich Arten verändern? Das war die nächste Herausfor-
derung. Darwin beschäftigte sich eingehend mit mehreren unterschiedlichen Theorien
über die Ursachen von Veränderung, verwarf diese aber schließlich wieder, denn sie alle
ließen einen kritischen Faktor außer Acht: die Existenz von Adaptationen. Natürlich
wollte Darwin Veränderungen erklären, was ihm aber vielleicht noch wichtiger war, war
eine Erklärung dafür zu finden, warum Organismen scheinbar so perfekt an ihre jeweilige
Umgebung angepasst waren.
Es war … offensichtlich, dass [diese anderen Theorien] [k]eine Erklärung für die
unzähligen Fälle liefern konnten, in denen sich Organismen jeder Art wunderbar
an ihren Lebensraum angepasst haben – wie etwa ein Specht oder Baumfrosch,
der an Bäumen hinaufklettert, oder ein Samen, der mittels Haken und Härchen für
seine Verbreitung sorgt. Mich hatten solche Adaptationen schon immer sehr beein-
druckt, und bevor diese nicht erklärt werden konnten, erschien es mir beinahe
nutzlos, auf indirekte Weise den Beweis anzutreten, dass sich die Arten verändert
haben. (Darwin, aus seiner Autobiografie, zitiert in Ridley, 1996, S. 9)
Darwin fand einen wichtigen Hinweis über das Rätsel der Adaptationen in Thomas Mal-
thus’ Werk An Essay on the Principles of Population (erschienen 1798), wo er zum ersten
Mal mit der Idee konfrontiert wurde, dass von jedem Organismus eine viel zu große
Anzahl existierte, als dass alle überleben und sich fortpflanzen könnten. Folglich ergibt
sich ein „Existenzkampf“, bei welchem sich vorteilhafte Varianten eher durchsetzen,
während unvorteilhafte eher aussterben. Wenn dieser Prozess von Generation zu Genera-
tion von neuem stattfindet, entsteht am Ende eine neue Art.
Allgemeiner ausgedrückt war Darwins Antwort auf all diese Rätsel des Lebens seine
Theorie der natürlichen Auslese und ihrer drei wesentlichen Bestandteile: Variation,
Vererbung und Selektion.1 Zum ersten gibt es zahlreiche Unterschiede zwischen den ein-
zelnen Organismen, z.B. bei der Länge der Flügel oder des Rüssels, bei der Knochen-
masse, der Zellstruktur, der Fähigkeit zu kämpfen und sich zu verteidigen sowie beim
Sozialverhalten. Die Variation ist eine entscheidende Voraussetzung für einen funktionie-
renden Evolutionsprozess – sie stellt den „Rohstoff“ für die Evolution dar.
Zum zweiten werden nur einige dieser Variationen auch vererbt – d.h. direkt und zuver-
lässig durch die Eltern an ihre Nachkommen weitergegeben, die sie dann wiederum an
ihre Nachkommen und weiter an viele nachfolgende Generationen weitergeben. Andere
Variationen, wie etwa ein aufgrund eines Unfalls deformierter Flügel, werden nicht an
den Nachwuchs weitervererbt. Nur die tatsächlich ererbten Variationen spielen im Evolu-
tionsprozess eine Rolle.
1 Unabhängig von Darwin entdeckte auch Alfred Russel Wallace (1858) die Theorie der natür-
lichen Auslese und beide präsentierten die Theorie gemeinsam bei einem Treffen der Linnaen
Society.
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28 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Der dritte wichtige Bestandteil von Darwins Theorie ist die Selektion. Organismen, die
bestimmte vererbbare Varianten aufweisen, hinterlassen auch mehr Nachkommen, weil
ihnen diese Eigenschaften für Überleben oder Fortpflanzung einen Vorteil verschaffen. In
einer Umgebung, wo etwa Nussbäume oder -sträucher die Hauptnahrungsquelle darstel-
len, können einige Finken, deren Schnäbel beispielsweise eine besondere Form haben,
besser Nüsse knacken und an das Fruchtfleisch gelangen als Finken mit anders geformten
Schnäbeln. Es überleben mehr Finken, deren Schnäbel zum Nüsse knacken besser geeig-
net sind, und diese tragen somit auch verstärkt zur nächsten Generation bei.
Ein Organismus kann aber auch viele Jahre lang überleben, ohne seine vererbbaren
Eigenschaften an zukünftige Generationen weiterzugeben. Damit diese Weitergabe an
zukünftige Generationen geschieht, muss er sich fortpflanzen. Bei der Evolution durch
natürliche Auslese kommt es also letztendlich auf den unterschiedlichen Fortpflanzungs-
erfolg aufgrund vorhandener Erbgutvariationen an, die die Überlebens- und Fortpflan-
zungschancen eines Individuums senken oder erhöhen. Unterschiedlicher Fortpflan-
zungserfolg oder -misserfolg definiert sich über den Reproduktionserfolg im Vergleich zu
anderen. Die Eigenschaften von Organismen, die sich häufiger als andere fortpflanzen,
werden also auch relativ gesehen häufiger an zukünftige Generationen weitergegeben. Da
das Überleben normalerweise zur Fortpflanzung notwendig ist, spielt es in Darwins
Theorie der natürlichen Auslese eine entscheidende Rolle.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 29
Da ist zunächst der intrasexuelle Wettbewerb – die Konkurrenz zwischen Vertretern des
gleichen Geschlechts – dessen Ausgang sich auf den Zugang zu Paarungsmöglichkeiten
mit dem anderen Geschlecht auswirkt. Der Prototyp der intrasexuellen Konkurrenz sind
zwei Hirsche, die im Kampf ihre Geweihe ineinander verkeilen. Der Sieger kann sich
dem Weibchen sexuell nähern – dies geschieht entweder direkt oder durch die Herrschaft
über Gebiete oder Ressourcen, die dem Weibchen attraktiv erscheinen. Für den Verlierer
kommt es normalerweise nicht zur Paarung. Alle Eigenschaften, die in diesem gleichge-
schlechtlichen Wettbewerb zum Erfolg führen, z.B. Körpergröße, Stärke, athletische
Fähigkeiten, werden durch den Paarungserfolg des Siegers an die nächste Generation
weitergegeben. Eigenschaften, die nicht zum Erfolg führen, werden auch nicht weiterge-
geben. Also kann sich Evolution – langsame, allmähliche Veränderung – schon als Folge
des reinen intrasexuellen Wettbewerbs vollziehen.
Die zweite Möglichkeit der sexuellen Auslese ist die intersexuelle Selektion, d.h. die
bevorzugte Partnerwahl. Sind sich Geschlechtsgenossen weitgehend einig über die
gewünschten Eigenschaften beim anderen Geschlecht, so werden Vertreter des anderen
Geschlechts, die eben diese Eigenschaften aufweisen, bevorzugt als Partner ausgewählt.
Diejenigen, die diese Eigenschaften nicht haben, gehen bei der Partnerwahl leer aus. In
diesem Fall vollzieht sich der evolutionäre Wandel nur deshalb, weil die erwünschten
Eigenschaften eines Partners in jeder nachfolgenden Generation häufiger auftreten. Wenn
Weibchen beispielsweise die Paarung mit Männchen vorziehen, die ihnen Hochzeitsge-
schenke machen, dann wird es im Laufe der Zeit immer mehr Männchen geben, die
Eigenschaften haben, die ihnen helfen, erfolgreich Geschenke zu machen. Darwin nannte
den Prozess der intersexuellen Selektion weibliche Auswahl, weil er in der Tierwelt beob-
achtet hatte, dass bei vielen Arten die Weibchen diejenigen sind, die bei der Partnerwahl
wählerisch sind. In Kapitel 4 und 5 werden wir jedoch sehen, dass ganz offensichtlich
beide Geschlechter eine bevorzugte Partnerwahl treffen und dass beide Geschlechter mit
ihren Geschlechtsgenossen um den Zugang zu den bevorzugten Vertretern des anderen
Geschlechts in Wettbewerb treten.
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30 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Darwins Theorie der sexuellen Selektion lieferte die gewünschten Erklärungen für die
Anomalien, die ihm Alpträume verursacht hatten. Der Schweif des Pfaus beispielsweise
entwickelte sich aufgrund des Prozesses der intersexuellen Selektion. Weibliche Pfaue
paaren sich bevorzugt mit Männchen, die das schillerndste und prächtigste Federkleid tra-
gen. Bei Arten, bei denen die Männchen körperlich um Paarungsmöglichkeiten mit den
Weibchen kämpfen müssen, sind diese oft größer als die Weibchen – ein Prozess der
intrasexuellen Selektion.
Zwar glaubte Darwin, die natürliche und die sexuelle Selektion seien zwei getrennte Pro-
zesse, heute steht jedoch fest, dass sie sich aus einem grundlegenden Prozess entwickelt
haben: dem unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg aufgrund vererbbarer Unterschiede in
den genetischen Entwürfen. Dennoch halten es einige Biologen für sinnvoll, zwischen
der natürlichen und der sexuellen Selektion zu unterscheiden. Diese Unterscheidung
macht die Bedeutung von zwei Adaptationsklassen besonders deutlich: Adaptationen, die
sich aufgrund eines den betroffenen Organismen entstandenen Überlebensvorteils entwi-
ckelt haben (die Vorliebe für Zucker und Fett beispielsweise lässt uns verstärkt Nahrung
wählen, die unser Überleben sichert; die Angst vor Schlangen bewahrt uns vor giftigen
Schlangenbissen), und Adaptationen, die sich aufgrund eines für die betroffenen Organis-
men entstandenen Paarungsvorteils entwickelt haben (z.B. bessere kämpferische Fähig-
keiten beim konkurrierenden Geschlecht). In Kapitel 4, 5 und 6 werden wir sehen, dass
die Theorie der sexuellen Selektion die Grundlage für das Verständnis der Evolution
menschlicher Paarungsstrategien darstellt.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 31
schen Drift auf, die als zufällige Veränderung im Genpool einer Population definiert ist.
Solche zufälligen Veränderungen ergeben sich als Auswirkungen verschiedener Prozesse
wie Mutation (eine zufällige Veränderung des DNA-Erbguts), Gründereffekte und geneti-
scher Flaschenhals. Zufällige Veränderungen können sich durch den Gründereffekt erge-
ben, der eintritt, wenn ein kleiner Teil einer Population eine neue Kolonie bildet und die
Gründer dieser neuen Kolonie die ursprüngliche Bevölkerung genetisch nicht in vollem
Umfang repräsentieren. Stellen wir uns beispielsweise vor, dass sich 200 Koloniegründer,
die auf eine neue Insel abwandern, zufällig verändern, so dass ungewöhnlich viele von
ihnen rothaarig sind. Ist die Population auf der Insel einmal auf z.B. 2.000 angestiegen,
enthält sie einen größeren Anteil rothaariger Menschen als die Ursprungspopulation, aus
der die Koloniegründer hervorgingen. Gründereffekte können also evolutionäre Verände-
rungen auslösen – in diesem Fall eine Vermehrung der Gene, die zu Rothaarigkeit führen.
Ähnliche zufällige Veränderungen können durch einen genetischen Flaschenhals
zustande kommen. Dies geschieht, wenn eine Population schrumpft, etwa durch eine
zufällig eingetretene Katastrophe wie z.B. ein Erdbeben. Die Überlebenden dieser Kata-
strophe tragen nur eine Teilmenge der Gene der Ursprungspopulation in sich. Auch wenn
also zusammenfassend die natürliche Auslese der Hauptgrund für den evolutionären
Wandel und die einzige bekannte Ursache für Adaptationen ist, ist sie dennoch nicht der
einzige Grund für evolutionäre Veränderungen. Genetische Drift – durch Mutationen,
Gründereffekte und genetische Flaschenhälse – kann also ebenfalls zu Veränderungen im
Genpool einer Population führen.
Zweitens ist die Evolution durch natürliche Auslese nicht vorausschauend oder „zielge-
richtet“. Die Giraffe entdeckt nicht zuerst die saftigen Blätter hoch oben im Baum und
„entwickelt“ daraufhin einen längeren Hals. Es ist vielmehr so, dass die Giraffen, die auf-
grund einer vererbten Variante zufällig einen längeren Hals haben, ihren Artgenossen
gegenüber bei der Nahrungsaufnahme im Vorteil sind. Also haben sie auch eine größere
Überlebenschance und dadurch mehr Möglichkeiten, ihre etwas längeren Hälse an ihre
Nachkommen weiterzugeben (neuere Studien legen nahe, dass der lange Hals der Giraffe
auch andere Funktionen haben könnte, etwa beim erfolgreichen Wettbewerb mit
Geschlechtsgenossen). Natürliche Selektion wirkt sich nur auf Varianten aus, die zufällig
existieren. Evolution ist nicht zielgerichtet, sie kann nicht in die Zukunft sehen und spä-
tere Bedürfnisse im Voraus erkennen.
Ein weiteres wichtiges Evolutionsmerkmal ist die allmähliche Entwicklung, zumindest in
Bezug auf die Dauer eines Menschenlebens. Die kurzhalsigen Vorfahren der Giraffen ent-
wickelten ihre langen Hälse nicht über Nacht oder auch nur im Laufe einiger weniger
Generationen. Dutzende, hunderte, tausende, in manchen Fällen sogar Millionen Genera-
tionen waren nötig, damit der Selektionsprozess allmählich unsere heute bekannten orga-
nischen Mechanismen formen konnte. Natürlich entwickeln sich manche Veränderungen
extrem langsam, andere dagegen schneller. Auch kann es lange Perioden ohne Verände-
rung geben, gefolgt von relativ plötzlichem Wandel, ein Phänomen, das als „punktuiertes
Gleichgewicht“ bezeichnet wird (Gould & Eldredge, 1977). Doch selbst diese „schnel-
len“ Veränderungen vollziehen sich in winzigen Teilschritten von Generation zu Genera-
tion und sind erst nach hunderten oder tausenden von Generationen erkennbar.
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32 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Darwins Theorie der natürlichen Selektion lieferte eine einleuchtende Erklärung für viele
verblüffende Aspekte des Lebens und auch für die Entstehung neuer Arten (obwohl Dar-
win die Bedeutung der geografischen Isolation als Vorläufer der natürlichen Auslese bei
der Bildung neuer Arten nicht in ihrem vollen Ausmaß erkannte; siehe Cronin, 1991).
Seine Theorie erklärte, warum sich organische Strukturen im Laufe der Zeit verändern
und bot ebenso eine Erklärung für die offensichtliche Zweckmäßigkeit der einzelnen
Bestandteile dieser Strukturen, d.h. man konnte ableiten, dass bestimmte Körperteile
scheinbar ganz darauf ausgelegt waren, bestimmte Funktionen im Zusammenhang mit
Überleben und Fortpflanzung zu erfüllen.
Für manche vielleicht am erstaunlichsten (für andere am schockierendsten) war in diesem
Zusammenhang der große Geniestreich im Jahre 1859, mithilfe der natürlichen Selektion
alle Arten in einem riesigen Stammbaum zu vereinigen. Zum ersten Mal überhaupt
erkannte man an, dass jede existierende Art durch gemeinsame Vorfahren mit allen ande-
ren Arten verbunden ist. So stimmen bei Menschen und Schimpansen z.B. über 98% der
DNA überein und beide Arten hatten vor etwa sechs Millionen Jahren einen gemeinsa-
men Vorfahren (Wrangham & Peterson, 1996). Noch verblüffender ist die relativ neue
wissenschaftliche Erkenntnis, dass sich für viele menschliche Gene ausgerechnet in dem
durchsichtigen Wurm Caenorhabditis elegans genaue genetische Gegenstücke finden.
Die chemische Struktur dieser Gene ist in beiden Fällen sehr ähnlich, was darauf
schließen lässt, dass Menschen und Würmer sich aus einem sehr frühen gemeinsamen
Vorfahren entwickelt haben (Wade, 1997). Kurz gesagt konnte man mithilfe von Darwins
Theorie den Menschen im großen Baum des Lebens genau positionieren, seinen Platz in
der Natur aufzeigen und seine Verbindung zu allen anderen Lebewesen bestimmen.
Darwins Theorie der natürlichen Auslese löste einen Sturm der Entrüstung aus. Als Lady
Ashley, eine Zeitgenossin Darwins, von der Theorie erfuhr, der Mensch stamme angeb-
lich vom Affen ab, bemerkte sie: „Hoffen wir, dass es nicht stimmt. Und wenn es doch
stimmt, dann hoffen wir, dass es sich nicht herumspricht.“ In einer berühmt gewordenen
Diskussion an der Oxford University fragte Bischof Wilberforce seinen Rivalen Thomas
Huxley bissig, ob der „Affe“, von dem er abstamme, wohl großmütterlicher- oder groß-
väterlicherseits zu finden sei.
Selbst Biologen standen Darwins Theorie zur damaligen Zeit äußerst skeptisch gegen-
über. Zunächst wandten Kritiker ein, es gebe in der Darwinschen Evolution keine schlüs-
sige Vererbungstheorie. Darwin selbst bevorzugte eine Vererbungstheorie der „Vermi-
schung“, die besagt, dass die Nachkommen eine Mischung ihrer Eltern sind, ebenso wie
die Farbe rosa eine Mischung aus roter und weißer Farbe ist. Diese Theorie gilt heute als
falsch, wie wir später in der Diskussion der Arbeiten Gregor Mendels sehen werden. Die
frühen Kritiker hatten also zu Recht beanstandet, dass der Theorie der natürlichen Aus-
lese eine fundierte Vererbungstheorie fehlte.
Ein weiterer Kritikpunkt bestand darin, dass einige Biologen sich nicht vorstellen konn-
ten, in welcher Form die frühen Evolutionsphasen einer Adaptation einem Organismus
von Nutzen sein konnten. Wie kann ein teilweise ausgebildeter Flügel einem Vogel nütz-
lich sein, wenn er damit nicht fliegen kann? Wie kann ein teilweise ausgebildetes Auge
einem Reptil nützlich sein, wenn es damit nicht sehen kann? Darwins Theorie der natürli-
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 33
chen Auslese sieht vor, dass jeder einzelne Schritt der graduellen Evolution einer Adapta-
tion für die Fortpflanzung vorteilhaft ist. Also müssen auch Teilflügel und -augen einen
adaptiven Vorteil bringen, noch bevor sie sich zu voll ausgebildeten Flügeln und Augen
weiterentwickeln. Im Augenblick genügt es uns festzuhalten, dass teilweise ausgebildete
Formen tatsächlich adaptive Vorteile bieten können. So können Teilflügel – auch wenn
sie nicht zum Fliegen verhelfen – z.B. den Vogel warm halten und ihm für Beutefang und
Flucht mehr Beweglichkeit verleihen. Diese Kritik an Darwins Theorie lässt sich also ent-
kräften (Dawkins, 1986). Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass nur weil
einige Biologen oder andere Wissenschaftler Probleme damit haben, sich bestimmte Evo-
lutionsformen vorzustellen, z.B. Teilflügel und deren Nutzen, dies noch lange kein aussa-
gekräftiges Argument gegen die tatsächliche Entwicklung dieser Formen darstellt. Diese
„Argumentation aufgrund von Unwissenheit“ oder wie Dawkins (1982) es nannte, die
„Argumentation aufgrund persönlicher Ungläubigkeit“, hat nichts mit Wissenschaft zu
tun, gleichgültig wie intuitiv überzeugend sie zunächst klingen mag.
Ein dritter Einwand kam von religiösen Anhängern der biblischen Schöpfungsgeschichte,
denn viele von ihnen sahen alle Arten als unveränderlich an und waren überzeugt, dass sie
keineswegs durch einen allmählichen Evolutionsprozess der Selektion entstanden, son-
dern vielmehr von einer Gottheit erschaffen worden waren. Darüber hinaus legte Darwins
Theorie nahe, dass die Entstehung des Menschen und anderer Arten „blind“ geschehen
und lediglich aus einem langsamen, ungeplanten, kumulativen Selektionsprozess hervor-
gegangen war. Das deckte sich nicht mit dem Menschenverständnis der Schöpfungsan-
hänger. Sie sahen den Menschen (und andere Arten) als einen Teil von Gottes großem
und beabsichtigtem Plan an. Darwin hatte diese Reaktion vorhergesehen und zögerte die
Veröffentlichung seiner Theorie offensichtlich auch aus Rücksicht auf seine Frau Emma
hinaus, die tief religiös war.
Die Diskussionen reißen bis heute nicht ab. Obwohl Darwins Evolutionstheorie, mit eini-
gen wichtigen Modifikationen innerhalb der biologischen Wissenschaften die einende
und nahezu allgemein akzeptierte Theorie ist, stößt ihre Anwendung auf den Menschen,
die Darwin klar vor Augen hatte, immer noch auf heftigen Widerstand. Doch all unseren
Widerständen zum Trotz, die es nicht zulassen, dass wir uns durch die gleiche wissen-
schaftliche Linse betrachten und analysieren lassen wie andere Arten, ist der Mensch
keineswegs vom Evolutionsprozess ausgeschlossen. Jetzt endlich steht uns das konzep-
tionelle Werkzeug zur Verfügung, um Darwins Revolution zu Ende zu führen und eine
evolutionäre Psychologie für die menschliche Spezies zu schaffen.
Die evolutionäre Psychologie kann sich wichtige theoretische Erkenntnisse und wissen-
schaftliche Entdeckungen zunutze machen, die zu Darwins Zeit noch nicht bekannt
waren. Zunächst ist da die physikalische Basis der Vererbung – das Gen.
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34 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
wobei die Nachkommen genau zwischen beiden Eltern anzusiedeln seien. Dieser
Mischungstheorie zufolge wären die Kinder eines groß gewachsenen Vaters und einer
kleinen Mutter also von mittlerer Größe. Heute weiß man, dass diese Theorie falsch ist.
Der österreichische Mönch Gregor Mendel wies nach, warum diese Theorie nicht funk-
tionierte. Er argumentierte, Vererbung sei „partikulär“ und keineswegs ein Mischprozess. Das
bedeutet, dass die elterlichen Eigenschaften nicht miteinander vermischt werden, sondern
intakt in separaten Paketen, den Genen, weitervererbt werden. Außerdem müssen Eltern ihre
vererbbaren Gene von Geburt an besitzen, sie können sie sich nicht durch Erfahrung aneignen.
Zum großen Pech für den wissenschaftlichen Fortschritt blieb Mendels Entdeckung der
partikulären Vererbung, die er durch Kreuzungen verschiedener Erbsensorten demonst-
rierte, der wissenschaftlichen Welt etwa dreißig Jahre lang weitgehend verborgen. Zwar
hatte Mendel Kopien seiner Arbeiten an Darwin geschickt, diese wurden aber entweder
nicht gelesen oder aber ihre Bedeutung blieb unerkannt.
Ein Gen ist definiert als kleinste abgeschlossene Einheit, die intakt, ohne geteilt oder ver-
mischt zu werden, an die Nachkommen vererbt wird – so Mendels entscheidende Ent-
deckung. Genotypen dagegen bezeichnen die Gesamtheit aller Gene eines Individuums.
Genotypen werden anders als Gene nicht intakt an die Nachkommen vererbt. Vielmehr
werden bei Arten, die sich sexuell fortpflanzen wie wir, die Genotypen in jeder Generation
geteilt. Also erhält jeder von uns eine zufällige Hälfte der Gene aus dem Genotyp der Mut-
ter und eine zufällige Hälfte aus dem Genotyp des Vaters. Die Genhälfte, die wir von
jedem Elternteil vererbt bekommen, ist jedoch identisch mit der Hälfte des Genotyps die-
ses Elternteils, denn sie wird als abgeschlossenes Paket ohne Modifikation weitergegeben.
Die Zusammenführung von Darwins Evolutionstheorie durch natürliche Auslese mit der
Entdeckung der partikulären Genvererbung gipfelte in einer Bewegung in den 30er und
40er Jahren, der so genannten „Modernen Synthese“ (Dobzhansky, 1937; Huxley, 1942;
Mayr, 1942; Simpson, 1944). Die Moderne Synthese verwarf eine Reihe von Irrtümern
der Biologie, darunter Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften und
der Mischungstheorie der Vererbung. Eindeutig bestätigt wurde Darwins Theorie der
natürlichen Auslese, der zudem noch durch eine wohl formulierte Erklärung der Verer-
bung eine festere Grundlage verliehen wurde.
Die Verhaltensforschung
Manche können sich Evolution am besten vorstellen, wenn sie auf physische Strukturen
angewendet wird. Es ist offensichtlich für uns, dass der Panzer einer Schildkröte eine
Adaptation zum Schutz und die Flügel eines Vogels eine Adaptation zum Fliegen sind.
Wir erkennen Ähnlichkeiten zwischen uns und den Schimpansen und deshalb fällt es den
meisten von uns leicht zu glauben, dass wir gemeinsame Vorfahren haben. Paläontologi-
sche Schädelfunde liefern, auch wenn sie unvollständig sind, genug Belege für die physi-
sche Evolution, so dass die meisten zugestehen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel
vollzogen haben muss. Die Evolution des Verhaltens jedoch ist für Wissenschaftler und
Laien von je her historisch schwerer vorstellbar. Schließlich lässt sich Verhalten nicht
durch Fossilienfunde belegen.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 35
Darwin hatte klar vor Augen, dass seine Theorie der natürlichen Auslese nicht nur auf
physische Strukturen anwendbar sei, sondern auch auf Verhalten und damit auch auf das
Sozialverhalten. Es gibt verschiedene Belege für diese Ansicht. Erstens erfordert Verhal-
ten immer die entsprechenden zugrunde liegenden physischen Strukturen. Der aufrechte
Gang z.B. ist ein Verhalten und erfordert als physische Struktur zwei Beine sowie eine
Vielzahl von Muskeln, die den Körper in seiner aufrechten Haltung stützen. Zweitens
kann man Arten mithilfe des Selektionsprinzips bestimmte Verhaltensmerkmale anzüch-
ten. Hunden z.B. kann man Aggressivität oder Passivität anzüchten (künstliche Selektion).
Diese Beobachtungen deuten alle darauf hin, dass auch das Verhalten der formenden Hand
der Evolution unterworfen ist. Die erste wichtige Disziplin, die es bei der Verhaltensfor-
schung aus evolutionärer Sicht zu betrachten galt, war die Verhaltensforschung (Etholo-
gie) und eines der ersten auf diesem Gebiet dokumentierten Phänomene war die Prägung.
Entenküken sind auf das erste sich bewegende Objekt, das sie in ihrem Leben sehen,
geprägt – sie bilden in einer kritischen Entwicklungsphase eine Assoziation. Dieses Objekt
ist im Normalfall die Entenmutter. Nach der Prägung folgen die kleinen Enten ihrem Prä-
gungsobjekt auf Schritt und Tritt. Die Prägung ist ganz klar eine Form des Lernens – es ent-
steht eine Assoziation zwischen Entenküken und Mutter, die vor der Erfahrung ihrer Bewe-
gung noch nicht vorhanden war. Diese Form des Lernens ist jedoch „vorprogrammiert“ und
sicherlich Teil der durch Evolution entstandenen biologischen Strukturen des Entenkükens.
Zwar haben wir schon oft Bilder von einer ganzen Reihe Entenküken gesehen, die ihrer
Mutter hinterherlaufen; wenn aber das erste Objekt, das eine Ente sieht, ein menschliches
Bein ist, wird sie stattdessen diesem Menschen folgen. Konrad Lorenz hat als Erster das
Phänomen der Prägung deutlich gemacht, indem er zeigte, dass Vogelküken, die in der kriti-
schen Phase kurz nach der Geburt als Erstes sein Bein gesehen hatten, auch tagelang ihm –
und nicht ihrer Mutter – nachliefen. Lorenz (1965) begründete einen neuen Bereich inner-
halb der Evolutionsbiologie, die so genannte Ethologie oder Verhaltensforschung, und die
Prägung bei Vögeln war ein erstaunliches Phänomen, das dieser Disziplin zum Start ver-
half. Ethologie ist definiert als „die Lehre der unmittelbaren Mechanismen und des adapti-
ven Werts tierischen Verhaltens“ (Alcock, 1989, S. 548).
Die Verhaltensforschung war zum Teil auch eine Reaktion auf die extremen Environmen-
talisten in der amerikanischen Psychologie. Verhaltensforscher interessierten sich für vier
Hauptfragen, die als die vier „Warum-Fragen“ des Verhaltens bekannt und von einem der
Begründer der Ethologie, Niko Tinbergen (1951), formuliert wurden: (1) die unmittel-
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36 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
baren Einflüsse auf das Verhalten (z.B. die Bewegungen der Mutter); (2) die entwick-
lungsbezogenen Einflüsse auf das Verhalten (z.B. die Ereignisse, die im Laufe des Lebens
einer Ente zu Veränderungen führen); (3) die Funktion des Verhaltens oder der „adaptive
Zweck“, den es zu erfüllen scheint (z.B. die ständige Nähe des Entenkükens zur Mutter,
die sein Überleben sichert); (4) die evolutionären oder phylogenetischen Ursprünge des
Verhaltens (z.B. welche Folge evolutionärer Ereignisse verursachte die Entwicklung
eines Prägungsmechanismus bei Enten).
Verhaltensforscher entwickelten eine Vielzahl von Begriffen, um zu beschreiben, was sie
zu den angeborenen Eigenschaften von Tieren zählten. Feste Handlungsmuster sind bei-
spielsweise die stereotypen Verhaltensabläufe von Tieren, ausgelöst durch einen genau
definierten Reiz (Tinbergen, 1951). Ist ein festes Handlungsmuster einmal angestoßen, so
führt es das Tier immer bis zum Ende aus. Zeigt man bestimmten Erpeln z.B. die hölzerne
Nachbildung einer weiblichen Ente, so löst das eine starre Abfolge von Balzhandlungen
aus. Mithilfe von Begriffen wie feste Handlungsmuster konnten Ethologen die durchge-
hende Abfolge von Verhaltensformen in abgeschlossene Analyseeinheiten unterteilen.
Die Ethologie brachte die Biologie einen großen Schritt voran und half den Biologen, die
große Bedeutung von Adaptationen zu erkennen. Man kann sogar die ersten Ansätze der
evolutionären Psychologie aus Konrad Lorenz’ frühen Arbeiten herauslesen, denn er schrieb:
„Unsere kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Kategorien, die wir noch vor jeder indivi-
duellen Erfahrung erhalten, sind unserer Umwelt angepasst, ebenso wie der Huf eines Pfer-
des für die Ebene geeignet ist, noch bevor es geboren wird und die Flosse eines Fisches dem
Leben im Wasser angepasst ist, noch bevor er aus dem Ei schlüpft.“ (Lorenz, 1941, S. 99).
Die Ethologie sah sich jedoch drei Problemen gegenüber. Erstens fungierten viele
Begriffe lediglich als „Etiketten“ für bestimmte Verhaltensmuster und trugen nicht viel zu
deren Erklärung bei. Zum zweiten konzentrierten sich Ethologen meist auf beobachtbares
Verhalten – ähnlich wie in Amerika die Behavioristen – und blickten daher nicht „in die
Köpfe“ der Tiere hinein, um die zugrunde liegenden Mechanismen zu identifizieren, die
für die Entstehung dieses Verhaltens verantwortlich waren; und drittens, obwohl sich die
Ethologie mit Adaptation befasste (einem der entscheidenden Themen, die Tinbergen
aufgezählt hatte), entwickelten sie keine genauen Kriterien für die Erkennung derselben.
Dennoch machten Ethologen viele wertvolle Entdeckungen; so dokumentierten sie z.B.
die Prägung, die bei einer Reihe von Vogelarten vorkommt oder stereotype feste Verhal-
tensmuster, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden. Die Ethologie zwang die Psy-
chologen außerdem dazu, die Rolle der Biologie in der menschlichen Verhaltenslehre neu
zu überdenken. Dies brachte eine bedeutende wissenschaftliche Revolution in Gang, die
dank einer grundlegenden Neuformulierung von Darwins Theorie der natürlichen Aus-
lese entstand – diese Neuformulierung ist die so genannte Gesamtfitness-Theorie.
Die Gesamtfitness-Revolution
Anfang der 60er Jahre des 20. Jhds. arbeitete ein junger Student, William D. Hamilton, an
seiner Doktorarbeit am University College in London. Hamilton trat für eine radikale
Neuordnung der Evolutionstheorie ein, die er „Gesamtfitness-Theorie“ (inclusive fitness
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 37
theory) nannte. Es heißt, dass seine Professoren die Dissertation weder verstanden noch
ihre Bedeutung erkannten (vielleicht weil sie extrem mathematisch war), weshalb seine
Arbeit zuerst abgelehnt wurde. Als sie schließlich angenommen und 1964 im Journal of
Theoretical Biology veröffentlicht wurde, lösten Hamiltons Theorien jedoch eine Revolu-
tion aus, die die gesamte biologische Wissenschaft von Grund auf verändern sollte.
Hamilton führte aus, dass die klassische Fitness – eine Maßeinheit, die den direkten
Reproduktionserfolg eines Individuums mittels Weitergabe von Genen durch die Zeu-
gung von Nachkommen bestimme – zu eng gewählt sei, um den Evolutionsprozess durch
Selektion angemessen zu beschreiben. Laut seiner Theorie werden bei der natürlichen
Auslese diejenigen Eigenschaften bevorzugt, die dafür sorgen, dass die Gene eines Orga-
nismus weitergegeben werden, gleichgültig ob dieser Organismus direkt Nachkommen
produziert oder nicht. Die Fürsorge der Eltern – die Investition in die eigenen Kinder –
wurde als bloßer Sonderfall der Fürsorge für Artgenossen, die Kopien der eigenen Gene
im Körper tragen, neu interpretiert. Ein Organismus kann die Reproduktion seiner Gene
auch fördern, indem er Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen dabei unterstützt, ihr
Überleben zu sichern und sich fortzupflanzen. Denn all diese Verwandten tragen mit einer
bestimmten Wahrscheinlichkeit Kopien der Gene dieses Organismus in sich. Hamiltons
große neue Erkenntnis bestand darin, dass die Definition der klassischen Fitness zu eng
gehalten sei und daher auf die Gesamtfitness erweitert werden müsse.
Technisch gesehen ist die Gesamtfitness nicht die Eigenschaft eines Individuums oder
eines Organismus, sondern vielmehr ein Resultat seiner Handlungen oder Wirkungen.
Also kann man die Gesamtfitness als Summe aus dem Fortpflanzungserfolg eines Indivi-
duums (klassische Fitness) zuzüglich der Auswirkungen seiner Handlungen auf den Fort-
pflanzungserfolg seiner genetischen Verwandten ansehen. Bei dieser zweiten Komponente
müssen die Auswirkungen auf Verwandte mit dem entsprechenden Verwandtheitsgrad
zum Zielorganismus gewichtet werden – etwa 0,50 für Brüder und Schwestern (da sie
genetisch zu 50% mit dem Zielorganismus verwandt sind), 0,25 für Großeltern und Enkel
(25-prozentige genetische Verwandtschaft), 0,125 für Cousins und Cousinen ersten Grades
(12,5% genetische Verwandtschaft) etc. (siehe Abbildung 1.1).
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38 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Die Gesamtfitness-Revolution läutete eine neue Ära ein, die man als „Gen-Blickwinkel“
bezeichnen könnte. Was würde mein Überleben und meine Reproduktion erleichtern,
wenn ich ein Gen wäre? Zunächst könnte ich sicherstellen, dass es meinem „Träger“, dem
Körper, in dem ich mich befinde, gut geht (Überleben). Weiter könnte ich versuchen,
mich selbst so oft wie möglich zu vervielfältigen (direkte Reproduktion). Und drittens
könnte ich das Überleben und die Reproduktion von Trägern unterstützen, die Kopien
von mir enthalten (Gesamtfitness). Natürlich können Gene nicht denken und all dies
geschieht weder bewusst noch beabsichtigt. Worauf es ankommt ist, dass das Gen die
kleinste Einheit der Vererbung ist, eine Einheit, die durch Reproduktion intakt weiterge-
geben wird. Adaptationen ergeben sich durch den Prozess der Gesamtfitness. Gene, deren
Wirkung ihren Reproduktionserfolg erhöhen, werden andere Gene verdrängen, so dass es
im Laufe der Zeit zur Evolution kommt.
Aus der Perspektive des Gens über die Selektion nachzudenken, bot den Evolutionsbiolo-
gen zahlreiche neue Einblicke. Die Gesamtfitness-Theorie hat tief greifende Auswirkungen
auf unser Verständnis von Familienpsychologie, Altruismus, Helfen, Gruppenbildung und
sogar Aggression – Themen, die wir in späteren Kapiteln behandeln werden. Wurde Hamil-
tons Theorie in den 60ern lediglich drei- bis viermal pro Jahr wissenschaftlich zitiert, waren
es in den 70ern und danach schon tausende von Zitierungen. Zu Recht wird sie als die alles
umfassende Theorie der Evolutionsbiologie verstanden. W. D. Hamilton selbst bekam nach
einer kurzen Zeit an der Universität von Michigan ein Angebot von der Oxford Universität,
das er nicht ablehnen konnte. Leider starb Hamilton schon 2000 an einer Krankheit, die er
sich im Dschungel von Kongo eingefangen hatte, wo er auf langen Reisen Material für eine
neue Theorie über den Ursprung des AIDS auslösenden Virus gesammelt hatte.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 39
George C. Williams war einer der wichtigsten Biologen des 20. Jahr-
hunderts. Sein Buch Adaptation und Natürliche Auslese wurde vor
allem berühmt, weil es die Theorie der Gruppenselektion widerlegte,
den zentralen Evolutionsbegriff der Adaptation klärte und ein neues
Denken auf Basis der genetischen Selektion einläutete.
Williams’ zweiter wichtiger Beitrag war die Übersetzung von Hamiltons hoch mathemati-
scher Theorie der Gesamtfitness in einen für jeden klar verständlichen Text. Sobald das Ver-
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ständnis für die Gesamtfitness gegeben war, begannen Biologen verstärkt damit, deren Aus-
wirkungen zu untersuchen. Als bekanntes Beispiel sei erwähnt, dass die Theorie der
Gesamtfitness das „Altruismus-Problem“ teilweise löste: Wie konnte Altruismus entstehen
– Reproduktionskosten auf sich zu nehmen, um die Reproduktion anderer zu fördern –,
wenn die Evolution doch solche Gene bevorzugt, die eine Selbstvermehrung bewirken? Die
Gesamtfitness-Theorie löste dieses Problem (zumindest teilweise), denn der Altruismus
konnte sich dann entwickeln, wenn der Nutznießer der eigenen Unterstützung ein genetisch
Verwandter war. So opfern etwa Eltern das eigene Leben, um das Leben ihrer Kinder zu ret-
ten, die Kopien der elterlichen Gene in sich tragen. Der gleichen Logik folgen auch selbst-
lose Taten für andere genetisch Verwandte wie Schwestern oder Cousins. Der Nutzen für
die Verwandten muss in Fitness-Einheiten ausgedrückt größer sein als die dem Altruisten
entstehenden Kosten. Ist diese Bedingung erfüllt, so kann sich Altruismus gegenüber Ver-
wandten entwickeln. In späteren Kapiteln werden wir aufzeigen, dass der genetische Ver-
wandtheitsgrad tatsächlich ein wichtiger Faktor der Hilfsbereitschaft unter Menschen ist.
Der dritte Beitrag, den Adaptation und Natürliche Auslese leistete, war Williams’ einge-
hende Analyse der Adaptation, die er als „schwierigen Begriff“ bezeichnete. Adaptationen
könnte man definieren als im Laufe der Zeit entstandene Lösungen für bestimmte Prob-
leme, die direkt oder indirekt zur erfolgreichen Fortpflanzung beitragen. Schweißdrüsen
können z.B. Adaptationen sein, die das überlebenswichtige Problem der Wärmeregulie-
rung lösen. Geschmackliche Vorlieben können Adaptationen sein, die zum erfolgreichen
Konsum nahrhafter Lebensmittel führen. Paarungsvorlieben können Adaptationen darstel-
len, die die erfolgreiche Auswahl eines Partners bestimmen. Das Problem besteht darin
festzulegen, welche Merkmale eines Organismus Adaptationen sind. Williams stellte
einige Bestimmungskriterien für Adaptationen auf und glaubte, dass eine Adaptation nur
dann als eine solche bezeichnet werden sollte, wenn sie zur Erklärung des vorliegenden
Phänomens notwendig sei. Wenn ein fliegender Fisch beispielsweise aus einer Welle hoch-
springt und dann ins Wasser zurückfällt, bedarf es keiner Adaptation, damit er „zurück ins
Wasser gelangt“. Dieses Verhalten beruht einfach auf dem physikalischen Gesetz der
Schwerkraft, das erklärt, warum alles, das hoch steigt, auch wieder herunterkommt.
William stellte aber nicht nur Bedingungen auf, unter denen wir den Begriff der Adapta-
tion nicht bemühen sollten, sondern er bot auch Bestimmungskriterien an, bei deren Vor-
liegen wir von einer Adaptation sprechen können: Zuverlässigkeit, Effizienz und Wirt-
schaftlichkeit. Entwickelt sich der Mechanismus regelmäßig bei allen Vertretern einer Art
in jeder „normalen“ Umwelt und funktioniert er wie ursprünglich vorgesehen (Zuverläs-
sigkeit)? Bietet der Mechanismus eine gute Lösung für ein bestimmtes adaptives Problem
(Effizienz)? Löst der Mechanismus das adaptive Problem, ohne dem Organismus extreme
Kosten zu verursachen (Wirtschaftlichkeit)? Der Begriff Adaptation wird also nicht nur
herangezogen, um die Nützlichkeit eines biologischen Mechanismus zu erklären, sondern
auch, um die unwahrscheinliche Nützlichkeit zu erklären (Pinker, 1997). Hypothesen über
Adaptationen sind im Grunde Wahrscheinlichkeitsaussagen darüber, warum eine zuver-
lässige, effiziente und wirtschaftliche Reihe von Entwurfsmerkmalen nicht nur rein durch
Zufall entstanden sein kann (Tooby & Cosmides, 1992; Williams 1966).
Im nächsten Kapitel untersuchen wir den Kernbegriff der Adaptation noch genauer. Im
Moment wollen wir nur festhalten, dass Williams’ Buch die wissenschaftliche Welt der
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 41
Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre studierte der Harvard-Student Robert
Trivers Williams’ Buch über Adaptationen aus dem Jahr 1966. Die revolutionären Aus-
wirkungen, die eine Verlagerung der Denkweise auf die Sicht der Gene für die begriffli-
che Erfassung ganzer Domänen hatte, verblüfften ihn sehr. Ein Satz oder kurzer Abschnitt
aus Williams’ Buch oder Hamiltons Artikeln könnte den Keim einer Idee enthalten, die
bei angemessener Pflege zu einer vollständigen Theorie aufblühen könnte.
Trivers verfasste drei erfolgreiche Arbeiten, die alle Anfang der 70er Jahre veröffentlicht
wurden. Die erste enthielt die Theorie des reziproken Altruismus unter Nicht-Verwandten
– die Bedingungen, unter denen sich für beide Seiten vorteilhafte Austausch-Beziehun-
gen oder Transaktionen entwickeln können (Trivers, 1971). Die zweite Arbeit behandelte
die Theorie elterlicher Investitionen und lieferte eine fundierte Aufstellung der Bedingun-
gen, unter denen sich sexuelle Selektion bei jedem Geschlecht vollzieht (1972). Die dritte
befasste sich mit der Theorie des Eltern-Kind-Konfliktes, die besagt, dass selbst Eltern
und ihre Nachkommen in vorhersagbare Konflikte geraten werden, weil sie nur 50% ihrer
Gene gemeinsam haben (1974). Vielleicht möchten Eltern ihre Kinder entwöhnen, bevor
diese entwöhnt werden wollen, um so Ressourcen für die Investition in weitere Kinder
zur Verfügung zu haben. Allgemein ausgedrückt kann das, was für ein Kind optimal ist
(z.B. einen größeren Teil der elterlichen Ressourcen für sich zu sichern), für die Eltern
eben nicht optimal sein (z.B. alle Ressourcen gleichmäßiger auf alle Kinder zu verteilen).
In Kapitel 4 (Theorie der elterlichen Investitionen), Kapitel 7 (Theorie des Eltern-Kind-
Konflikts) und Kapitel 9 (Theorie des reziproken Altruismus) werden wir diese Theorien
im Detail behandeln, denn sie haben tatsächlich tausende von empirischen Forschungs-
projekten beeinflusst, viele davon über den Menschen.
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42 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 43
Darüber hinaus basierte der enorme Widerstand gegen Wilsons Versuch, auch den Men-
schen in den Bereich der Evolutionstheorie miteinzubeziehen, auf etlichen verbreiteten
Missverständnissen über diese Theorie und ihre Anwendung auf den Menschen. Deshalb
möchten wir uns nun einigen davon zuwenden, bevor wir dann Parallelbewegungen inner-
halb der Psychologie betrachten, die den Grundstein für die evolutionäre Psychologie legten.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 45
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46 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
aus dem Weg geräumt sind, können wir uns der Entstehung des modernen Menschen und
dem Bereich der Psychologie zuwenden und die wesentlichen Beiträge, die zur Entste-
hung der evolutionären Psychologie führten, etwas näher betrachten.
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Zeit Ereignis
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48 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Zeit Ereignis
Einer der wichtigsten Entwicklungsschritte der Primaten-Linie, die der Entstehung des
modernen Menschen vorausging, vollzog sich vor etwa 4,4 Millionen Jahren: der auf-
rechte Gang, d.h. die Fähigkeit, auf zwei – und nicht auf vier – Beinen zu gehen, zu lau-
fen und zu rennen. Zwar kennt man den genauen evolutionären Auslöser nicht, der zum
aufrechten Gang führte, doch bot er in der afrikanischen Steppe, wo er sich zunächst ent-
wickelte, zweifellos eine ganze Reihe von Vorteilen. Durch ihn konnte man schnell und
energetisch effizient weite Strecken zurücklegen, er gewährte ein größeres Gesichtsfeld
zur Entdeckung von Feinden und Beute, durch ihn verringerte sich die Körperoberfläche,
die den schädlichen Sonnenstrahlen direkt ausgesetzt war und – vielleicht am wichtigsten
– durch ihn wurden die Hände frei. Da unser früher Vorfahre die Hände nun nicht mehr
zum Laufen benutzen musste, konnte er nicht nur Nahrung von einem Ort zum anderen
tragen, sondern es eröffnete sich ihm auch die Möglichkeit des späteren Werkzeugbaus
und -gebrauchs. In diesen aufrecht gehenden Primaten können wir zum ersten Mal den
frühen Mensch ansatzweise erkennen (siehe Abbildung 1.2). Viele Wissenschaftler glau-
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 49
ben, dass die Entwicklung des aufrechten Gangs für viele spätere Schritte der mensch-
lichen Evolution bahnbrechend war, so etwa für den Bau von Werkzeugen, das Jagen gro-
ßer Beutetiere und die schnelle Vergrößerung des Gehirns.
Es bedurfte jedoch noch weiterer zwei Millionen Jahre evolutionärer Entwicklung, bis
vor etwa 2,5 Millionen Jahren die ersten durch paläontologische Funde belegten groben
Werkzeuge auftauchten. Dies waren oldowanische Steinwerkzeuge, an denen durch
Abschlagen von Steinschichten eine scharfe Kante erzeugt wurde (siehe Abbildung 1.2).
Solche Werkzeuge nutzte man, um das Fleisch von Tierkadavern abzutrennen und aus
den größeren Knochen das nahrhafte Mark herauszulösen. Obwohl die oldowanischen
Werkzeuge aus heutiger Sicht einfach und grob wirken, bedurfte ihre Herstellung doch
eines gewissen Grades an technischem Wissen und Fertigkeit, den selbst ein gut trainier-
ter Schimpanse nicht erreicht (Klein, 2000). Die oldowanischen Steinwerkzeuge wiesen
eine so erfolgreiche Technik auf, dass sie über eine Million Jahre in fast unveränderter
Form genutzt wurden. Sie standen im Zusammenhang mit der ersten Gruppe der Homo-
Linie, dem Homo habilis, also dem „Handwerker“, der vor ca. 2 Millionen Jahren exis-
tierte.
Homo Homo Homo
vor Mio. Jahren neanderthalensis sapiens erectus vor Mio. Jahren vor Mio. Jahren Jüngere Steinzeit und
0 0 frühes Paläozen
0.05
Mittlere Steinzeit und
0.25 mittleres Paläozen
Homo
heidelbergensis
Paranthropus
1 boisei 1
2 ergaster robustus 2
oldowanische Periode
Australopithecus 2.5
Gehirnerweiterung
Rückbildung der Eckzähne
Konsum großer Tiere
garhi
Paranthropus
? aethiopicus
3 3
? Australopithecus
Australopithecus afarensis
africanus
(Steinwerkzeuge
unbekannt)
4 Australopithecus 4
anamensis
Ardipithecus ?
ramidus
5 5 5
Abbildung 1.2: Links: Ein unverbindlicher Stammbaum der menschlichen Familie (oder Unter-
Familie, wenn man davon ausgeht, dass die afrikanischen Großaffen und die Menschen derselben
Familie zuzuordnen sind) (Abgewandelt nach Strait et. al. 1997, S. 55). Rechts: Zeitachse mit wichti-
gen anatomischen und Verhaltensmerkmalen und paläolithischen kultur-stratigrafischen Einheiten in
Afrika und im westlichen Eurasien. Der am wenigsten umstrittene Aspekt des Stammbaums ist höchst-
wahrscheinlich die Teilung der Linien, die im Paranthropus (den „robusten“ Australopithecinen) und
im Homo gipfelte. Diese Teilung fand vor 2,5 bis 3 Millionen Jahren statt. Wie viele menschliche Arten
zu einer bestimmten Zeit existierten, ist heftig umstritten und der hier dargestellte Stammbaum zeigt
eine gemäßigte Position zu dieser Frage.
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50 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Vor etwa 1,8 Millionen Jahren entwickelten sich die Primaten, die aufrecht gehen und
Werkzeuge herstellen konnten, zu der sehr erfolgreichen Gruppe des Homo erectus und
begannen von Afrika aus nach Asien abzuwandern. In Java und China wurden etwa 1,8
Millionen Jahre alte Fossilien gefunden (Tatersall, 2000). Die Begriffe „Wanderung“ und
„Migration“ könnten eventuell irreführend sein, da man darunter das gezielte Streben
nach Besiedelung ferner Länder verstehen kann. Wahrscheinlicher ist, dass sich die „Mig-
ration“ durch eine allmähliche Ausdehnung der Bevölkerung in Landstrichen mit üppigen
Ressourcen vollzog. Es ist unklar, ob diese wachsende Gruppe des Homo erectus mit
Feuer umgehen konnte. Zwar fand man Belege, dass es die ersten Spuren von kontrollier-
tem Feuer vor 1,6 Millionen Jahren in Afrika gegeben hatte, in Europa taucht der eindeu-
tige Beweis für Feuer jedoch erst eine Million Jahre später auf. Die Nachkommen dieser
ersten großen Migration aus Afrika heraus besiedelten schließlich große Teile Asiens und
dann auch Europas und entwickelten sich später zu den Neandertalern.
Der nächste große technische Fortschritt war die Acheuléen-Handaxt vor 1,5 Millionen
Jahren. Diese Äxte unterschieden sich erheblich in Größe und Form voneinander und über
ihre genaue Nutzung ist wenig bekannt. Gemeinsam hatten alle, dass sie auf beiden Seiten
abgesplittert wurden, so dass rund um das Werkzeug eine scharfe Kante entstand. Die Her-
stellung dieser Äxte erforderte erheblich bessere Fähigkeiten als die der groben oldowani-
schen Steinwerkzeuge und oft weisen sie in Entwurf und Produktion eine Symmetrie und
Standardisierung auf, die es bei den frühen Steinwerkzeugen noch nicht gegeben hatte.
Vor etwa 1,2 Millionen Jahren begann sich das Gehirn der Vertreter der Homo-Linie
schnell auszudehnen. Heute erreicht es mit 1.350 Kubikzentimetern in etwa die doppelte
Größe wie damals. Die Periode der schnellsten Gehirnerweiterung vollzog sich vor etwa
500.000 bis 100.000 Jahren. Es gibt zahlreiche Spekulationen über die Ursachen für diese
schnelle Gehirnvergrößerung, wie etwa verstärkte Werkzeugherstellung und deren
Gebrauch, komplexere Kommunikation, gemeinsame Jagd großer Beutetiere und kompli-
ziertere soziale Beziehungen. Möglicherweise spielten all diese Faktoren eine Rolle
dabei. Leider versteinern Gehirne selbst nicht. Vielleicht werden wir nie herausfinden,
was genau diese Entwicklung angestoßen hat, es ist jedoch wahrscheinlich, dass eine
bestimmte Funktion oder mehrere Funktionen, die durch dieses große Gehirn gefördert
wurden, dazu führten, dass alle anderen Arten der Homo-Linie ausstarben.
Vor etwa 200.000 Jahren beherrschten die Neandertaler weite Teile Europas und des
westlichen Asiens. Der Neandertaler hatte ein schwach ausgeprägtes Kinn, eine fliehende
Stirn, doch seine dicken Schädelknochen schlossen ein großes Gehirn von 1.450 Kubik-
zentimetern ein. Er war an ein hartes Leben und kaltes Klima angepasst, stämmig mit
kurzen Gliedmaßen. Der kompakte Körper enthielt eine starke Skelettstruktur, die für
Muskeln ausgelegt war, die viel kräftiger waren als die moderner Menschen. Neandertaler
verfügten über ausgereifte Werkzeuge und ausgezeichnete Jagdfähigkeiten. Ihre Zähne
zeigten starke Verschleißerscheinungen, woraus man schließen kann, dass sie oft harte
Nahrung kauten oder ihre Zähne zum Erweichen von Leder für Kleidungsstücke benutz-
ten. Es gibt Belege dafür, dass die Neandertaler ihre Toten beerdigten. Sie überlebten Eis
und Schnee und bevölkerten ganz Europa und den Mittleren Osten. Und sie waren so
menschlich wie wir es sind. Vor 30.000 Jahren geschah dann etwas Dramatisches. Plötz-
lich starben die Neandertaler aus, nachdem sie über 170.000 Jahre lang Eiszeiten und
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 53
DNA-Funde, dass sich die DNA eines Neandertalers wesentlich von der anderer
moderner Menschen unterscheidet, was darauf schließen lässt, dass sich beide Linien
vor etwa 400.000 Jahren oder sogar noch früher auseinanderentwickelt haben. Die
Funde belegen auch, dass häufige Paarungen zwischen beiden Gruppen unwahr-
scheinlich waren. Zweitens, wenn die DNA des modernen Menschen außerdem Teile
der DNA eines Neandertalers enthielte, würden wir die größten Ähnlichkeiten wohl
bei den heutigen Europäern vermuten, die ja im früheren Siedlungsgebiet der Nean-
dertaler leben. Die DNA des Neandertalers weist jedoch weder zur DNA eines Euro-
päers noch zu der eines in einem anderen Teil der Welt lebenden Menschen große
Ähnlichkeiten auf. Drittens sind moderne Bevölkerungsgruppen durch eine äußerst
geringe genetische Abweichung gekennzeichnet, was darauf schließen lässt, dass wir
alle von einer relativ kleinen, genetisch homogenen Population abstammen. Viertens
ist die genetische Abweichung bei modernen afrikanischen Völkern größer als bei
Bevölkerungsgruppen irgendwo sonst auf der Welt. Dies deckt sich mit der Annahme,
der moderne Homo sapiens sei ursprünglich in Afrika entstanden, wo er über einen
längeren Zeitraum hinweg genetische Vielfalt entwickeln konnte und von wo schließ-
lich eine Teilgruppe abwanderte, um neue Regionen zu besiedeln. Also sprechen auch
die genetischen Beweise zum großen Teil für die OOA-Theorie.
Man kann sagen, dass heute die Mehrzahl aller Wissenschaftler die Out-of-Africa-
Theorie in der einen oder anderen Abwandlung bevorzugt vertreten. Alle modernen
Menschen scheinen ihren Ursprung vor etwa 120.000 bis 220.000 Jahren in Afrika zu
haben. Um mit den Worten eines bedeutenden OOA-Verfechters zu sprechen, „tief
drin sind wir alle Afrikaner“ (Stringer, 2002). Die Diskussion um die Ursprünge
modernen Lebens dauern jedoch bis heute an. So stellen Anhänger der MRC-Theorie
etwa die Interpretation der genetischen Befunde in Frage; auch gibt es genug Anoma-
lien, wie etwa bei australischen Fossilienfunden, um die OOA-Theorie ernsthaft in
Frage zu stellen (Hawks & Wolpoff, 2001; Wolpoff et al., 2001). Einige Wissen-
schaftler geben an, die genetischen Befunde sprächen sowohl für die MRC- als auch
für die OOA-Theorie (z.B. Relethford, 1998). Auch könnten die neuesten genetischen
Befunde wieder verstärkt die MRC-Theorie unterstützen (Marth et al., 2003). Beide
Theorien lassen viele Fragen unbeantwortet. So weiß z.B. niemand genau, warum die
Neandertaler so plötzlich verschwanden. Haben wir ihnen mit unserer überlegenen
Technik den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen verwehrt? Entwickelten wir
eine komplexere Sprache und dadurch bessere organisatorische Fähigkeiten, die uns
halfen, vorhandene Ressourcen effizienter zu nutzen? Konnten wir vorteilhaftere
Kleidung und Behausungen entwickeln, die uns besser vor klimatischen Schwankun-
gen schützten? Kam es zu Paarungen zwischen Homo sapiens und Neandertaler?
Haben wir die Neandertaler aus den ertragreichen Regionen in kargere Randgebiete
vertrieben oder haben wir sie etwa mit ausgefeilten Waffen getötet, gegen die sie trotz
ihres robusteren Körperbaus machtlos waren? Vielleicht gewährt uns der wissen-
schaftliche Fortschritt eines Tages eine Antwort auf die Frage, warum wir und nicht
die Neandertaler diejenigen sind, die heute noch die Erde bevölkern und über unsere
Vergangenheit nachdenken.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 55
Freud wandelte seine Theorie schließlich ab und fasste die lebenserhaltenden und die
sexuellen Instinkte zu einer Gruppe der „Lebensinstinkte“ zusammen. Dem fügte er einen
zweiten Instinkt, den so genannten „Todesinstinkt“ hinzu. Er strebte danach, die Psycho-
logie als eigenständige Disziplin zu etablieren und sein Denken entfernte sich immer wei-
ter von seiner anfänglichen darwinistischen Grundlage.
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56 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Im Gegensatz zur allgemein vorherrschenden Meinung glaubte James, dass der Mensch
sehr viel mehr Instinkte habe als ein Tier. „Bei keinem anderen Säugetier, nicht einmal
beim Affen, ist die Liste so lang.“ (S. 406). Und genau diese Länge der Liste war auch ein
Grund für ihr Scheitern. Viele Psychologen hielten es für absurd, dass der Mensch so
viele angeborene instinktive Anlagen haben solle. Im Jahr 1920 hatten diese Kritiker dann
eine Theorie entwickelt, die erklären sollte, warum der Mensch nur sehr wenige und all-
gemein gehaltene Instinkte besaß: die behavioristische Theorie des Lernens.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 57
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58 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
ten Thesen, die nun scheinbar als Mythos entlarvt waren, zueigen gemacht hatten. Spätere
Forschungen bestätigten jedoch Freemans Ergebnisse und, wichtiger noch, die Existenz
zahlreicher menschlicher Universaleigenschaften (Brown 1991). Zum Beispiel die sexu-
elle Eifersucht des Mannes, die in vielen bisher untersuchten Kulturen zum Ehegatten-
mord führt, hat sich als solch eine Universaleigenschaft herausgestellt (Daly & Wilson,
1988). Gefühlsregungen wie Furcht, Zorn und Freude wurden auch bei Menschen aus
Kulturen ausgemacht, die zu Fernsehen oder Kino keinen Zugang hatten (Ekman, 1973).
Sogar Gefühle wie Liebe, von der man glaubte, sie sei erst vor einigen hundert Jahren von
weißen Europäern erfunden worden, wiesen Universalität auf (Jankowiak, 1995).
Dennoch hängen noch immer viele dem Mythos unendlicher kultureller Vielfalt an. Mel-
vin Konner drückte es so aus: „Wir wollen die Vorstellung noch nicht aufgeben, dass es
irgendwo Menschen gibt, die mit sich und der Natur in vollkommener Harmonie leben,
und dass wir dasselbe tun könnten, wenn es nicht die korrumpierenden Einflüsse unserer
westlichen Kultur gebe“ (1990).
Die wachsende Zahl der Belege machte es den Sozialwissenschaftlern immer schwerer,
bei ihrer ursprünglichen Haltung zu bleiben. Darüber hinaus gab es neue Bewegungen in
anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die die Sichtweise des Menschen als Träger
einer bloßen „Kultur-Fähigkeit“, die nur durch die soziale Umwelt völlig ausgefüllt
wurde, massiv in Frage stellte.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 59
anscheinend für ihren Zustand verantwortlich war, zu verzichten. Koppelte Garcia die
Übelkeit dagegen mit Summern oder Lichtblitzen, konnte er den Ratten nicht beibringen,
diese zu umgehen. Ratten scheinen also bereits bei der Geburt auf das Lernen bestimmter
Dinge „vorprogrammiert“ zu sein, so etwa auf die Vermeidung von Nahrung, die Übel-
keit auslöst, während es ihnen außerordentlich schwer fällt, andere Dinge zu lernen.
Der Ansatz, dass Organismen durch die Evolution darauf „vorbereitet“ werden,
bestimmte Dinge zu lernen und andere nicht, wurde von Martin Seligman erneut aufge-
griffen. Seligman und seine Kollegen behaupteten, es sei tatsächlich sehr einfach, Men-
schen darauf zu „konditionieren“, bestimmte Arten von Furcht zu entwickeln – z.B. die
Furcht vor Schlangen – während es dagegen extrem schwierig sei, sie auf die Entwick-
lung anderer, weniger natürlicher Arten von Furcht zu konditionieren – z.B. Angst vor
Steckdosen oder Autos (Seligman & Hager, 1972).
Zusammenfassend wurden also zwei grundlegende Annahmen des Behaviorismus wider-
legt, was zwei wichtige Schlüsse zuließ: Erstens schienen Ratten, Affen und sogar Men-
schen darauf „programmiert“ zu sein, einige Dinge leicht, andere dagegen gar nicht zu
lernen. Zweitens ist die äußere Umwelt nicht der einzige bestimmende Faktor des Verhal-
tens. In den Organismen spielt sich etwas ab, das beim Betrachten des Verhaltens mitein-
bezogen werden muss. Diese Schlussfolgerungen führten zusammen mit anderen wissen-
schaftlichen Kräften zum Niedergang des radikalen Behaviorismus und zum Aufstieg
eines neuen Modells des menschlichen Geistes.
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60 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Eine dritte Kraft war der Aufstieg der Computer und die „Metapher der Informationsver-
arbeitung“. All diese Kräfte bildeten zusammen die so genannte kognitive Revolution.
Die kognitive Revolution gab der Psychologie die Verantwortung zurück, „in die Köpfe“
der Menschen „hineinzusehen“ anstatt nur die äußerlichen Kontingenzen der Verstärkung
zu betrachten. Diese Revolution war auch deshalb notwendig, weil äußerliche Kontingen-
zen nicht ausreichten, um beobachtetes Verhalten schlüssig zu erklären. Schließlich half
auch der aufkommende Computer den Psychologen dabei, die von ihnen postulierten
exakten kausalen Prozesse klarer auszudrücken.
Die kognitive Revolution wird heute fast immer mit der Informationsverarbeitung
gleichgesetzt. Eine kognitive Beschreibung spezifiziert, welche Arten von Informa-
tionen der Mechanismus als Input verwendet, mithilfe welcher Prozesse er diese
Information umwandelt, auf welche Datenstrukturen (Repräsentationen) sich
diese Prozesse auswirken und welche Arten von Repräsentationen oder Verhal-
tensweisen daraufhin als Output entstehen (Tooby & Cosmides, 1992, S. 64).
Damit ein Organismus bestimmte Aufgaben erfüllen kann, muss er eine Reihe von Prob-
lemen der Informationsverarbeitung lösen. Um beispielsweise erfolgreich sehen, hören,
aufrecht gehen und beurteilen zu können, braucht er ein groß angelegtes System zur
Informationsverarbeitung. Obwohl den meisten von uns das Sehen mit unseren Augen
mühelos und natürlich erscheint – wir öffnen einfach die Augen und sehen – sind in
Wahrheit doch tausende spezialisierter Mechanismen notwendig, z.B. eine Linse, eine
Netzhaut, eine Hornhaut, eine Pupille, spezielle seitliche Detektoren, Stäbchen, Zapfen,
bestimmte Bewegungsmelder, ein spezialisierter Sehnerv etc. Psychologen begriffen all-
mählich, dass sie das Informationsverarbeitungssystem in unserem Gehirn verstehen
mussten, um die kausalen Zusammenhänge menschlicher Leistung zu begreifen.
Mechanismen zur Informationsverarbeitung – die kognitiven Mechanismen – erfordern
die „Hardware“, in die sie eingebettet sind, die Neurobiologie des Gehirns. Doch die
Beschreibung eines Informationsverarbeitungsmechanismus wie etwa des Auges ist nicht
die gleiche wie die der zugrunde liegenden Neurobiologie. Betrachten wir analog dazu die
Textverarbeitungssoftware eines Computers, die ein Programm enthält, mit dem man
Sätze löschen, Abschnitte verschieben und Zeichen kursiv setzen kann. Das Programm
läuft auf einem IBM, einem Macintosh oder jedem anderen gleichartigen Computer.
Obwohl die zugrunde liegende Hardware der Maschinen verschieden ist, ist die Beschrei-
bung, wie das Programm die Information verarbeitet, die gleiche. Analog könnte man
einen Roboter bauen, der ähnlich wie ein Mensch „sehen“ könnte, dessen Hardware
jedoch völlig verschieden von der Neurobiologie des Menschen wäre. Folglich ist die
Beschreibung auf kognitiver Ebene (d.h. Input, Repräsentationen, Entscheidungsregeln,
Output) nützlich und notwendig, gleichgültig, ob die Hardware verstanden wird oder nicht.
Mit dem Niedergang bestimmter Annahmen des Behaviorismus und dem Einsetzen der
kognitiven Revolution wurde es legitim, „in den Kopf“ des Menschen „hineinzusehen“.
Es wurde nicht länger als „unwissenschaftlich“ angesehen, innere geistige Zustände und
Prozesse zu betrachten. Man sah es im Gegenteil als absolut notwendig an.
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62 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
plin der evolutionären Psychologie. Diese lieferte die fehlenden Puzzleteile, indem sie
eine breit angelegte Spezifikation der Art der Informationsverarbeitungsprobleme defi-
nierte, auf deren Lösung das menschliche Gehirn ausgelegt war – Probleme des Über-
lebens und der Reproduktion.
Zusammenfassung
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 63
Für viele Biologen war es ein großes Problem, dass es in Darwins Theorie keine
funktionierende Vererbungstheorie gab. Diese Theorie wurde erst formuliert, als man
die Arbeiten von Gregor Mendel anerkannte und sie mit der Darwinschen Theorie der
natürlichen Auslese in einer Bewegung, der so genannten modernen Synthese zusam-
menführte. Nach dieser Theorie ist die Vererbung keineswegs eine Mischung beider
Eltern, sondern vielmehr partikulär: die Gene, die Grundlagen der Vererbung, sind in
abgeschlossenen Paketen vorhanden, die nicht vermischt werden, sondern als intakte
Einheiten von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Die partikuläre Verer-
bungstheorie lieferte das fehlende Glied in Darwins Theorie der natürlichen Auslese.
Nach der modernen Synthese brachten zwei europäische Biologen, Konrad Lorenz
und Niko Tinbergen eine neue Bewegung auf, die Verhaltensforschung (Ethologie),
die darauf bedacht war, tierisches Verhalten in einen evolutionären Zusammenhang
zu bringen, indem sie sich sowohl auf die Ursprünge als auch auf die Funktionen des
Verhaltens konzentrierte.
1964 wurde die Theorie der natürlichen Auslese in zwei wegweisenden Artikeln von
William D. Hamilton neu formuliert. Der Evolutionsprozess beinhaltet Hamilton
zufolge nicht nur die klassische Fitness (die direkte Produktion von Nachkommen),
sondern auch die Gesamtfitness, die die Auswirkungen der Handlungen eines Indivi-
duums auf den Fortpflanzungserfolg genetisch Verwandter, gewichtet nach dem jewei-
ligen genetischen Verwandtschaftsgrad mit einschließt. Diese Umformulierung unter
Einbeziehung der Gesamtfitness machte die Theorie der natürlichen Auslese noch prä-
ziser, indem die Selektion aus dem „Blickwinkel des Gens“ betrachtet wurde.
1966 veröffentlichte George Williams den heutigen Klassiker Adaptation und natürli-
che Auslese und bewirkte damit dreierlei. Erstens führte dieses Buch zum Niedergang
der Gruppenselektion, zweitens unterstützte es die Hamiltonsche Revolution. Zum
dritten bot es strenge Identifikationskriterien für Adaptationen an, nämlich Zuverläs-
sigkeit, Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Präzision. In den 70er Jahren knüpfte Robert
Trivers an die Arbeiten von Hamilton und Williams an und veröffentlichte drei bahn-
brechende Theorien, die bis heute Bedeutung haben: reziproker Altruismus, elterliche
Investitionen und die Theorie des Eltern-Kind-Konflikts.
1975 veröffentlichte Edward O. Wilson sein Buch Soziobiologie: eine neue Synthese,
in dem er die wichtigsten Entwicklungsschritte der Evolutionsbiologie zusammenfas-
sen wollte. Wilsons Buch stieß auf sehr viel Kritik, die hauptsächlich wegen des letz-
ten Kapitels über den Menschen laut wurde, das zwar eine Reihe von Hypothesen,
jedoch kaum empirische Daten enthielt.
Der Hauptwiderstand gegen Wilsons Buch sowie gegen die Anwendung der Evolu-
tionstheorie zur Erklärung menschlichen Verhaltens rührt wohl von einigen weit verbrei-
teten Missverständnissen her. Entgegen dieser Missverständnisse behauptet die Evolu-
tionstheorie keineswegs, dass das menschliche Verhalten genetisch vorbestimmt oder
unveränderbar ist und sie setzt auch keinen optimalen (genetischen) Entwurf voraus.
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64 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Belege aus verschiedenen Disziplinen geben uns einen Einblick in die wichtigsten
Entwicklungsschritte des Evolutionsprozesses, der zur Entwicklung des modernen
Menschen führte. Menschen sind Säugetiere; sie sind Teil einer Gruppe von Lebewe-
sen, die vor über 200 Millionen Jahren entstanden sind. Wir gehören einer Primaten-
Linie an, die sich vor 85 Millionen Jahren entwickelte. Unsere Vorfahren begannen
vor 4,4 Millionen Jahren aufrecht zu gehen, sie entwickelten vor 2,5 Millionen Jahren
grobe Steinwerkzeuge und könnten vor 1,6 Millionen Jahren mit der Nutzung von
Feuer begonnen haben. Das Gehirn unserer Vorfahren wuchs und so konnten wir aus-
gefeiltere Werkzeuge und Techniken entwickeln und nach und nach viele Teile der
Erde besiedeln. Es gibt zwei konkurrierende Theorien über die Ursprünge der moder-
nen Menschen: die multiregionale Hypothese und die Out-of-Africa-Theorie. Man-
che behaupten, dass anatomisches, archäologisches und genetisches Beweismaterial
die Out-of-Africa-Theorie stützen, die besagt, dass sich der moderne Mensch höchst-
wahrscheinlich in Afrika entwickelt habe, von wo er nach Asien und Europa wan-
derte und dabei alle anderen Hominiden, darunter die Neandertaler, verdrängte.
Andere Theoretiker gehen davon aus, dass die genetischen Beweise beide Theorien
gleichermaßen stützen, wobei die allerneuesten genetischen Beweise sogar wiederum
stärker für die multiregionale Hypothese sprechen. Obwohl die Neandertaler über
170.000 Jahre lang Europa beherrschten, starben sie vor 30.000 Jahren aus, ein Ereignis,
das mit dem Auftauchen des anatomisch modernen Menschen zusammenfiel. Das plötz-
liche Verschwinden der Neandertaler bleibt bis heute ein wissenschaftliches Rätsel.
Während die Evolutionsbiologie von Veränderungen geprägt war, nahm die Psycho-
logie einen anderen Kurs, der für ihre spätere Zusammenführung mit der Evolutions-
theorie eine wichtige Rolle spielte. Sigmund Freud lenkte das Interesse auf die
Bedeutung von Überleben und Sexualität indem er eine Theorie vorlegte, die lebens-
erhaltende und sexuelle Instinkte vorsah. Sie entsprach Darwins Unterscheidung zwi-
schen natürlicher und sexueller Auslese. 1890 veröffentlichte William James die
Prinzipien der Psychologie, denen zufolge der Mensch eine Reihe spezifischer
Instinkte habe.
In den 1920er Jahren wandte sich die Psychologie in Amerika jedoch vom Evolu-
tionsgedanken ab und machte sich eine Version des radikalen Behaviorismus zu
eigen. Dabei ging man davon aus, dass eine Reihe sehr allgemeiner Lernprinzipien
die Komplexität menschlichen Verhaltens erklären konnte.
In den 1960er Jahren häuften sich jedoch empirische Daten, die nachhaltige Verlet-
zungen der allgemeinen Lerngesetze nahe legten. Harry Harlow zeigte, dass Affen
nicht die „Draht-Mütter“ bevorzugten, obwohl sie von diesen die primäre Verstär-
kung der Nahrung erhielten. John Garcia wies nach, dass Organismen einige Dinge
schnell und gut lernen konnten. Im Gehirn spielte sich etwas ab, das durch die exter-
nen Kontingenzen der Verstärkung allein nicht erklärt werden konnte.
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Kapitel 1 Die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Weg zur evolutionären Psychologie 65
Die Anhäufung derartiger Befunde führte zur kognitiven Revolution, die das „Hinein-
schauen in die Köpfe“ der Leute als ein wichtiges und respektables Unterfangen
betrachtete. Die kognitive Revolution basierte auf der Metapher der Informationsver-
arbeitung – Beschreibungen im Kopf angesiedelter Mechanismen nehmen bestimmte
Informationen als Input auf, wandeln sie aufgrund von Entscheidungsregeln um und
erzeugen Verhalten als Output.
Die Vorstellung, dass der Mensch dazu ausgerüstet oder angelegt sein könnte, einige
Informationsarten zu verarbeiten und andere nicht, schuf die Grundvoraussetzungen
für die Entwicklung der evolutionären Psychologie, die eine echte Synthese aus
moderner Psychologie und moderner Evolutionsbiologie darstellt.
Weiterführende Literatur
Darwin, C. (1859). On the Origin of species. London: Murray (dt.: Über die Entste-
hung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft, 1988).
Dawkins, R. (1989). The selfish gene (new edition). New York: Oxford University
Press (dt.: Das egoistische Gen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1994).
Eibl-Eibesfeldt, I. (1995). Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der
Humanethologie. 3.Aufl. München: Piper.
Klein, R.G. (2000). Archeology and the evolution of human behavior. Evolutionary
Anthropology, 9, 17-36.
Mayr, E. (2003). Das ist Evolution. München: Bertelsmann (Orig.: What evolution is.
New York: Basic Books, 2001).
Tattersall, I. (2000). Paleoanthropology: The last half-century. Evolutionary Anthro-
pology, 9, 2-16.
Voland, E. (2000). Grundriss der Soziobiologie. 2. Aufl. Heidelberg: Spektrum Aka-
demischer Verlag.
Williams, G.C. (1966). Adaptation and natural selection. Princeton, NJ: Princeton
University Press.
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Kapitel
Der evolutionäre Psychologe Karl Grammer untersuchte mit einem Forscherteam Sexualsig-
nale, wie sie im semi-artifiziellen Umfeld von Single-Bars vorkommen (Grammer, 1996). Er
postierte Beobachter in den Bars und hielt auf Beobachtungsbögen fest, wie oft Frauen von
Männern an der Bar berührt wurden. Ein anderer Teil des Forscherteams trat an jede Frau
heran, die die Bar verließ und fragte, ob sie mit einer Teilnahme an der Studie einverstanden
wäre. Die weiblichen Teilnehmer wurden fotografiert und füllten einen kurzen Fragebogen
aus, in dem sie nach der von ihnen verwendeten Verhütungsmethode und ihrem Menstruati-
onszyklus (Beginn der letzten Periode) gefragt wurden. Grammer digitalisierte die Fotogra-
fien und kalkulierte mithilfe eines Computerprogramms, wie viel Haut jede der Frauen zeigte.
Von den Frauen, die keine oralen Verhütungsmittel nahmen, berührten die Männer in den
Single-Bars am häufigsten diejenigen, die sich im fruchtbarsten Teil ihres Zyklus, der
Ovulation befanden. Frauen, die nicht ovulierten, wurden seltener berührt. Im Gegensatz
zu der herkömmlichen Überzeugung könnten Männer daher in der Lage sein, subtile Zei-
chen der weiblichen Ovulation zu erkennen. Aber es gibt auch eine andere Interpretation.
Ovulierende Frauen senden mehr sexuelle Signale aus: sie tragen engere, mehr Haut zei-
gende Blusen und kürzere Röcke und zeigen generell mehr Haut. Es muss also nicht
zutreffen, dass Männer scharfsinnig erkennen, wann Frauen ovulieren. Vielmehr könnten
auch ovulierende Frauen aktiv sexuelle Signale aussenden – eine Interpretation, die durch
eine andere Studie unterstützt wird, in der festgestellt wurde, dass ovulierende Frauen
häufiger sexuelle Begegnungen initiieren als in anderen Phasen ihres Zyklus (Gangestad,
Simpson, Cousins, Garver & Christensen, 2004).
Diese neuen Forschungsrichtungen markieren mehrere Besonderheiten der spannenden
Wissenschaft der evolutionären Psychologie. Eine bezieht sich auf die Entdeckung bisher
nicht vermuteter Verbindungen zwischen Merkmalen menschlicher Reproduktionsbiolo-
gie, in diesem Fall der Ovulation von Frauen und manifestem Verhalten. Zum zweiten ist
die evolutionäre Psychologie ein dynamischer Bereich, in dem laufend faszinierende neue
Entdeckungen gemacht werden. Zum dritten liefert das Nachdenken über adaptive Funk-
tionen, d.h. ob Männer über Adaptationen verfügen, um herauszufinden, ob Frauen ovu-
lieren oder ob Frauen über Adaptationen verfügen, um auf ihre Ovulation zu reagieren –
Impulse für spannende neue Forschungen.
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68 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Dieses Kapitel konzentriert sich auf Logik und Methoden der evolutionären Psychologie,
einer neuen wissenschaftlichen Synthese moderner Evolutionsbiologie und moderner
Psychologie. Dabei werden die neuesten theoretischen Fortschritte der Evolutionsbiolo-
gie wie die Gesamtfitness-Theorie (inklusive Fitness-Theorie), die Theorie der elterlichen
Investitionen und der sexuellen Selektion und die Entwicklung strikterer Standards für die
Einschätzung der An- oder Abwesenheit von Adaptationen angewandt. Die evolutionäre
Psychologie integriert auch die neuesten begrifflichen und empirischen Fortschritte in der
Psychologie; dazu gehören Informationsverarbeitung, die Erkenntnisse künstlicher Intel-
ligenz und Entdeckungen wie der universale emotionale Ausdruck (Ekman, 1973); Uni-
versalien, dass Menschen alle Arten in Pflanzen und Tiere einteilen (Atran, 1990; Berlin,
Breedlove & Raven, 1973) und Universalien darüber, wie Menschen andere Menschen
kategorisieren (White, 1980). Das Ziel dieses Kapitels ist eine Einführung in die konzep-
tionellen Grundlagen dieser neuen Synthese, auf denen die nachfolgenden Kapitel auf-
bauen. Beginnen wir, indem wir fragen, warum Psychologie in die Evolutionsbiologie
integriert werden sollte.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 69
drei Gründen nicht als „wissenschaftliche Theorie“ angesehen. Erstens kann sie nicht nach-
geprüft werden, weil keine spezifischen empirischen Vorhersagen aus ihrer wichtigsten Vor-
aussetzung gezogen werden können, dass alles aus dem einfachen Grund existiert, weil ein
höheres Wesen es geschaffen hat. Zum zweiten hat der Kreationismus die Forscher zu kei-
nen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt. Zum dritten konnte er keine wissen-
schaftlichen Erklärungen für schon entdeckte organische Mechanismen liefern. Der Kreati-
onismus wird daher als eine Frage von Religion und Glauben und nicht als Wissenschaft
angesehen. Es kann zwar nicht bewiesen werden, dass diese Theorie falsch ist, aber als vor-
hersagende oder erklärende Theorie hat sie sich als nicht zweckmäßig erwiesen.
Eine zweite Theorie ist die Samentheorie. Nach den Samentheoretikern entstand das
Leben nicht auf der Erde. Nach einer Version dieser Theorie kamen die Samen des
Lebens durch einen Meteoriten auf die Erde. Nach einer zweiten Version kamen außer-
irdische intelligente Wesen von anderen Planeten oder Galaxien zur Erde und pflanzten
die Samen des Lebens ein. Unabhängig vom Ursprung der Samen setzte sich jedoch ver-
mutlich die Evolution mit natürlicher Selektion durch und die Samen entwickelten sich zu
Menschen und anderen existierenden Lebensformen.
Die Samentheorie ist im Prinzip nachprüfbar. Man kann Meteoriten nach Lebenszeichen
untersuchen, die der Theorie Plausibilität verleihen würden, dass das Leben seinen
Ursprung woanders hat. Man kann die Erde nach Zeichen außerirdischer Landungen
absuchen. Man kann nach Belegen von Lebensformen suchen, die nicht auf der Erde
entstanden sein können. Man kann das Universum nach intelligentem Leben außerhalb
unseres Sonnensystems absuchen. Die Samentheorie weist jedoch drei Probleme auf.
Zum einen gibt es momentan keine fundierten wissenschaftlichen Belege, dass solche
„Aussaaten“ stattgefunden haben. Zum zweiten hat die Samentheorie zu keinen neuen
wissenschaftlichen Entdeckungen geführt und sie hat auch keines der existierenden wis-
senschaftlichen Rätsel gelöst. Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass die Samentheorie ein
grundlegendes Problem aufwirft, indem sie die kausale Erklärung nach dem Ursprung des
Lebens zeitlich zurückverlagert. Wenn die Samen tatsächlich von außerirdischen Wesen
auf die Erde gebracht wurden, welche kausalen Prozesse führten dann zum Ursprung die-
ser intelligenten Wesen? Welcher kausale Prozess ist verantwortlich für die Entwicklung
der Samen in die Lebensformen, die wir heute auf der Erde sehen?
Dies führt zur dritten Option: Evolution durch natürliche Selektion. Obwohl Evolution
durch natürliche Selektion eine Theorie genannt wird, wurden ihre grundlegenden Prinzi-
pien so oft bestätigt, dass sie von den meisten Biologen als Tatsache angesehen wird
(Alcock, 1993; Mayr, 1982). Die Komponenten ihrer Wirkungsweise – unterschiedliche
Reproduktion aufgrund vererbter Unterschiede in den genetischen Entwürfen– wurden
sowohl im Labor als auch in der Wildnis nachgewiesen. Die unterschiedliche Schnabel-
größe von Finken auf verschiedenen Galapagosinseln beispielsweise entwickelte sich ent-
sprechend der Größe der Samen auf den jeweiligen Inseln (Grant, 1991). Für größere
Samen werden größere Schnäbel benötigt, während es bei kleineren Samen vorteilhafter
ist, wenn die Schnäbel klein sind. Die Theorie der natürlichen Selektion weist viele Vor-
teile auf, die Wissenschaftler in einer profunden wissenschaftlichen Theorie suchen:
(1) bekannte Fakten werden geordnet; (2) sie führt zu neuen Vorhersagen und (3) sie lie-
fert Richtlinien zu wichtigen Bereichen wissenschaftlicher Untersuchungen.
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70 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Somit besteht zwischen den drei Theorien – Kreationismus, Samentheorie und natürlicher
Selektion – nicht wirklich ein Wettbewerb. Evolution durch natürliche Selektion ist die
einzig bekannte wissenschaftliche Theorie, die die erstaunliche Vielfalt des Lebens, wie
wir es heute um uns sehen, erklären kann. Auch wenn es immer möglich ist, dass es in
Zukunft eine bessere Theorie geben könnte, ist momentan die natürliche Selektion die
einzige, die alles Lebendige, Pflanzen, Tiere, Insekten und Vögel, von den kleinsten ein-
zelligen Organismen im Meer bis hin zu den komplexesten Säugetieren an Land, in einem
großen Stammbaum vereinigen kann. Es ist die einzige bekannte wissenschaftliche Theo-
rie, die die Ursprünge und Strukturen komplexer Adaptationsmechanismen, aus denen die
menschliche Natur besteht, erklären kann – von Schwielen produzierenden Mechanismen
bis hin zu übergroßen Gehirnen.
Adaptationen Vererbbare und sich zuverlässig entwickelnde Merkmale, die durch die
natürliche Selektion entstanden, da mit ihrer Hilfe Überlebens- oder
Reproduktionsprobleme besser gelöst werden konnten als durch alterna-
tive Modelle, die während ihrer Evolutionsperiode in der Population
existierten. Beispiel: Nabelschnur
Nebenprodukte Merkmale, die keine adaptiven Probleme lösen und kein funktionelles
Design aufweisen; sie sind „Anhängsel“ von Merkmalen mit funktionel-
lem Design, da sie an diese Adaptationen angekoppelt sind. Beispiel:
Bauchnabel
Zufallsrauschen Zufallsprodukte, die durch zufällige Mutationen, plötzliche und einma-
lige Veränderungen der Umwelt oder Zufälle während der Entwicklung
entstehen. Beispiel: besondere Form des Bauchnabels einer bestimmten
Person
Tabelle 2.1: Die drei Produkte des evolutionären Prozesses
Eine Adaptation wird als vererbbares und sich zuverlässig entwickelndes Merkmal defi-
niert, das sich durch die natürliche Selektion herausgebildet hat, weil mit ihr ein Überle-
bens- oder Reproduktionsproblem zum Zeitpunkt seiner Evolution gelöst werden konnte
(nach Tooby & Cosmides, 1992, S. 61-62; siehe auch Thornhill, 1997).
Gliedern wir diese Definition in ihre Kernelemente auf: Eine Adaptation weist Gene „für“
diese Adaptation auf. Diese Gene sind für den Übergang der Adaptation von den Eltern
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 71
zum Kind erforderlich; Adaptationen haben also eine genetische Basis. Die meisten
Adaptationen können nicht zu einzelnen Genen zurückverfolgt werden, sondern sind das
Produkt vieler Gene. Das menschliche Auge beispielsweise entsteht mithilfe von hunder-
ten von Genen. Die Tatsache, dass Adaptationen auf Genen basieren, bedeutet jedoch
nicht, dass das menschliche Verhalten „genetisch festgelegt“ ist (siehe Missverständnis 1
in Kapitel 1). Die Gene, die wir heute in uns tragen, wurden in der Vergangenheit selek-
tiert; die Umgebungen während der Lebenszeit eines Menschen sind für die Entwicklung
von Adaptationen verantwortlich und gegenwärtige Umwelten sind für die Aktivierung
dieser so entstandenen Adaptationen verantwortlich.
Eine Adaptation muss sich zuverlässig bei Angehörigen einer Art in allen „normalen“
Umwelten entwickeln. Das heißt um sich als Adaptation zu qualifizieren, muss sie sich
zur angemessenen Zeit im Leben eines Organismus in intakter Form entwickeln und cha-
rakteristisch für die meisten oder alle Angehörigen einer Art sein. Hierbei gibt es wich-
tige Ausnahmen wie Mechanismen, die nur bei einem Geschlecht oder bei einer spezifi-
schen Unterart einer Population existieren. Diese werden später behandelt, aber hier ist es
wichtig zu betonen, dass die meisten Adaptationen artentypisch sind.
Das Merkmal der zuverlässigen Entwicklung einer Adaptation bedeutet nicht, dass sie
schon bei der Geburt entwickelt sein muss. Viele Adaptationen entwickeln sich erst lange
nach der Geburt. Gehen ist eine sich zuverlässig entwickelnde Eigenschaft des Menschen,
aber die meisten Menschen lernen erst ein Jahr nach der Geburt zu laufen. Brüste gehören
zu sich zuverlässig entwickelnden Merkmalen von Frauen, entwickeln sich aber erst in
der Pubertät. Merkmale, die kurzlebig oder vorübergehend sind, leicht durch die Umwelt
gestört werden oder sich nur bei einigen Angehörigen einer Art entwickeln, entsprechen
daher nicht der Definition von Adaptationen.
Adaptationen entstehen durch den Selektionsprozess. Die Selektion handelt in jeder
Generation als Sieb, in dem die Merkmale, die nicht der Fortpflanzung dienen, herausge-
filtert, und die der Reproduktion dienen, durchgelassen werden (Dawkins, 1996). Diese
Auslese wiederholt sich in jeder Generation, so dass sich jede neue Generation etwas von
ihrer Elterngeneration unterscheidet. Dieser Prozess der natürlichen Selektion ist notwen-
dig, damit sich Adaptationen entwickeln können.
Die Merkmale, die die Auslese überstehen, verdanken dies der Tatsache, dass sie sich
besser zur Lösung eines Überlebens- oder Reproduktionsproblems eignen als alternative
(konkurrierende) Modelle in der Population. Die Funktion einer Adaptation bezieht sich
auf das adaptive Problem, für das sie entwickelt wurde, d.h. wie es zum Überleben oder
der Reproduktion beiträgt. Die Funktion einer Adaptation wird normalerweise durch den
Nachweis eines „speziellen Entwurfs“ identifiziert und bestätigt, wobei die Komponenten
oder „Entwurfsmerkmale“ auf präzise Art zur Lösung eines bestimmten adaptiven Prob-
lems beitragen. Wie in Kapitel 1 aufgeführt, umfassen die Maßstäbe für die Auswertung
einer hypothetischen Funktion einer Adaptation normalerweise Effizienz (leistungsfähige
Problemlösung), Wirtschaftlichkeit (Problemlösung auf kostengünstige Art), Präzision
(alle Komponenten sind spezialisiert, ein bestimmtes Ziel zu erreichen) und Zuverlässig-
keit (zuverlässige Leistung in den Zusammenhängen, für die sie entwickelt wurde) (siehe
Buss, Haselton, Shackelford, Bleske & Wakefield, 1998; Tooby & Cosmides, 1992;
Williams, 1996).
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72 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Jede Adaptation hat ihre eigene Evolutionsperiode. Zuerst erscheint in einem einzigen
Individuum eine Mutation, eine spontane Strukturänderung eines Teils der DNA. Man
nimmt an, dass Mutationen aus Fehlern bei der Replikation der DNA entstehen. Obwohl
die meisten Mutationen das Überleben oder die Reproduktion verhindern, unterstützen
einige wenige zufälligerweise das Überleben und die Reproduktion des Organismus.
Wenn die Mutation hilfreich ist und dem Organismus einen Reproduktionsvorteil gegen-
über anderen Angehörigen der Population verleiht, wird er in größer Anzahl an die
nächste Generation weitergegeben. In der nächsten Generation besitzen daher mehr Indi-
viduen das Merkmal, das am Anfang eine Mutation bei einer einzigen Person war. Sollte
es erfolgreich bleiben, verbreitet es sich in den folgenden Generationen in der gesamten
Population, bis es jeder Angehörige der Spezies besitzt.
Das Environment of Evolutionary Adaptedness oder EEA bezieht sich auf die statistische
Zusammensetzung des Selektionsdrucks, der während der Evolutionsperiode einer Adap-
tation vorherrschend war (Tooby & Cosmides, 1992). Anders ausgedrückt bezieht sich
das EEA jeder Adaptation auf den Selektionsdruck oder die adaptiven Probleme, die
während ihrer Evolution für ihre Form verantwortlich waren. Das EEA für das Auge
beispielsweise bezieht sich auf den spezifischen Selektionsdruck, der jede der Kompo-
nenten des Sehsystems über hunderte von Millionen Jahren gestaltete. Das EEA für die
bipedale Fortbewegung betrifft den Selektionsdruck, der etwa 4,4 Millionen Jahre
zurückreicht. Der springende Punkt ist, dass das EEA sich nicht auf einen bestimmten
Zeitpunkt oder Ort bezieht, sondern auf den Selektionsdruck, der für die Adaptationen
verantwortlich ist. Daher hat jede Adaptation ihr eigenes EEA. Die Evolutionsperiode
einer Adaptation bezieht sich auf den Zeitraum, in dem sie sich nach und nach entwi-
ckelte, bis sie zu einem universellen Entwurf der Art wurde.
Auch wenn Adaptationen die Hauptprodukte der Evolution sind, sind sie nicht die einzi-
gen. Der evolutionäre Prozess produziert auch Nebenprodukte der Adaptationen. Neben-
produkte sind Merkmale, die weder adaptive Probleme lösen noch einen funktionellen
Entwurf aufweisen. Sie sind „Anhängsel“ von Merkmalen mit funktionellem Entwurf, da
sie an diese Adaptationen angekoppelt sind, z.B. die Hitze einer Glühbirne wird als
Nebenprodukt des Lichts angesehen.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 73
Denken Sie an den Bauchnabel. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der Bauchnabel per se
dem Menschen beim Überleben oder bei der Reproduktion von Nutzen ist. Mit dem
Bauchnabel kann man weder Nahrung finden noch Raubtiere aufspüren, Schlangen mei-
den, gute Lebensräume finden oder Partner auswählen. Er trägt weder direkt noch indi-
rekt zur Lösung eines adaptiven Problems bei. Der Bauchnabel ist daher als Nebenpro-
dukt einer Adaptation anzusehen, nämlich der Nabelschnur, die den wachsenden Fötus
mit Nährstoffen versorgte. Die Hypothese, dass etwas als Nebenprodukt einer Adaptation
anzusehen ist, bedeutet daher, dass man die zugrunde liegende Adaptation identifizieren
muss und den Grund, warum seine Existenz mit dieser Adaptation assoziiert wird (Tooby
& Cosmides, 1992). Die Hypothese darüber, was als Nebenprodukt, ebenso wie die
Hypothese, was als Adaptation gilt, ist daher strengen Maßstäben der wissenschaftlichen
Bestätigung unterworfen. Das heißt, dass von jeder Nebenprodukt-Hypothese spezifische
empirische Vorhersagen abgeleitet und diese mit empirischen Methoden überprüft wer-
den müssen.
Das dritte und letzte Produkt des evolutionären Prozesses sind Zufallsrauschen oder
Zufallsprodukte. Zufallsprodukte können durch Mutationen (von denen die meisten zufäl-
lig sind), plötzliche und beispiellose Veränderungen der Umwelt oder Unfälle während
der Entwicklung entstehen. Einige dieser Zufallsauswirkungen beschädigen die Funktion
eines Organismus; wie wenn man beispielsweise einen Schraubenschlüssel in eine
Maschine wirft oder heißen Kaffee über das Festplattenlaufwerk des Computers schüttet,
wodurch seine zweckmäßige Funktion zerstört wird. Andere Zufallsauswirkungen sind
neutral – sie haben weder positive noch negative Auswirkungen und einige sind einem
Organismus auch nützlich. Die Glasummantelung einer Glühbirne beispielsweise ist auf-
grund von Materialfehlern oder des Herstellungsprozesses oftmals nicht ganz glatt, was
aber die Funktion der Glühbirne selbst nicht beeinträchtigt. Zufallsrauschen unterscheidet
sich von zufälligen Nebenprodukten dadurch, dass sie nicht mit den adaptiven Aspekten
der Merkmale verbunden, sondern von diesen unabhängig sind. Zufallsrauschen ist nicht
artentypisch.
Zusammengefasst kann man sagen, dass durch den evolutionären Prozess drei Produkte
entstanden sind: Adaptationen, Nebenprodukte von Adaptationen und Zufallsrauschen.
Im Prinzip kann man die Bestandteile einer Art analysieren und Studien durchführen um
festzustellen, was Adaptationen, was Nebenprodukte und was Zufallsprodukte sind. Evo-
lutionswissenschaftler unterscheiden sich in ihren Einschätzungen über die relative
Größe dieser drei Kategorien. Einige sind der Ansicht, dass selbst einzigartige menschli-
che Qualitäten wie Sprache lediglich zufällige Nebenprodukte unseres Großhirns sind
(Gould, 1991). Andere sehen überwältigende Belege dafür, dass die menschliche Sprache
eine Adaptation par excellence ist und alle oben beschriebenen Merkmale einer Adapta-
tion aufweist (Pinker, 1994). Glücklicherweise muss man sich nicht nur auf die Erfindun-
gen der Wissenschaftler verlassen, da ihre Ideen direkt überprüft werden können.
Trotz wissenschaftlicher Haarspaltereien über die relative Größe der drei Kategorien
stimmen alle Evolutionswissenschaftler in einem grundlegenden Punkt überein: Adapta-
tionen sind das Primärprodukt der Evolution durch Selektion (Dawkins, 1982; Dennett,
1995; Gould, 1997; Trivers, 1985; Williams, 1992). Selbst Kritiker der evolutionären
Psychologie wie Stephen Jay Gould „verneinen weder die Existenz und zentrale Bedeu-
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74 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
tung der Adaptationen noch die Entwicklung von Adaptationen durch die natürliche
Selektion. ... Ich kenne keinen anderen wissenschaftlichen Mechanismus außer dem der
natürlichen Selektion, der nachweisbar geeignet wäre, Strukturen für ein solch ausgespro-
chen praktisches Design zu schaffen.“ (Gould, 1997, S. 53-58). Diese Merkmale, die seit
Hunderten, Tausenden und Millionen von Jahren Generation für Generation durch das
Selektionssieb gefiltert wurden, sind diejenigen, die dazu beigetragen haben, die Überle-
bens- und Reproduktionsprobleme zu lösen.
Daher besteht der Kern aller tierischen Naturen, zu denen auch der Mensch gehört, aus
einer großen Sammlung von Adaptationen. Einige dieser Adaptationen sind die Sinnesor-
gane – Augen, Ohren, Nase und Geschmacksnerven, die Fenster zu relevanten Informa-
tionen unserer Umwelt darstellen. Einige dieser Adaptationen helfen uns dabei, uns durch
unsere Umwelt zu bewegen, wie der aufrechte Gang, Beinknochen und unsere großen
Zehen. Evolutionäre Psychologen tendieren dazu, sich auf eine spezielle Unterklasse der
Adaptationen zu konzentrieren; die psychologischen Adaptationen und die Nebenpro-
dukte dieser Adaptationen. Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, betrachten wir jedoch
ein entscheidendes Konzept, um über Menschen zu theoretisieren: die Analyse-Ebenen
der evolutionären Psychologie.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 75
Die Prinzipien der Evolution durch Selektion wurden erfolgreich genutzt, um beispiels-
weise aggressive oder passive Hunde zu züchten und Ratten, die sich im Irrgarten zurecht
finden, und solche, die sich nicht zurecht finden (Plomin, DeFries & McClearn, 1997).
Neue Hunde- und Pflanzenarten, die sich in ihrer Reproduktion von anderen Arten unter-
scheiden, wurden zu experimentellen Zwecken auf Basis der Prinzipien der Selektion
gezüchtet (Ridley, 1996).
Folgende Beobachtungen könnten die allgemeine Evolutionstheorie im Prinzip widerlegen:
Die Theorie würde sich als falsch nachweisen lassen, wenn Wissenschaftler komplexe
Lebensformen entdecken würden, die sich in für die natürliche Selektion zu kurzen Zeiträu-
men entwickelt hätten (z.B. in sieben Tagen), oder wenn Wissenschaftler Adaptationen ent-
decken würden, die zum Vorteil anderer Arten funktionierten, oder Adaptationen, die zum
Vorteil gleichgeschlechtlicher Konkurrenten funktionierten (Darwin, 1859; Mayr, 1982;
Williams, 1966). Solche Phänomene wurden jedoch noch nie dokumentiert.
Die allgemeine Evolutionstheorie ist das leitende Paradigma für die gesamte Biologie
sowie für die evolutionäre Psychologie. Wenn also ein evolutionärer Psychologe eine evo-
lutionäre Hypothese testet, so testet er nicht die „allgemeine Evolutionstheorie“, die in
ihren allgemeinen Grundzügen als wahr angenommen wird. Da im vergangenen Jahrhun-
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76 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Anders als bei den meisten anderen Arten sind bei den Mormonengrillen die Weibchen größer,
stärker und aggressiver als die Männchen. Dies wird durch die Theorie der elterlichen Investitionen
vorhergesagt. Bei dieser Art investiert das Männchen mehr in die Nachkommen und deshalb werden
die Weibchen nach ihrer Größe und anderen Qualitäten ausgesucht, die zu Erfolg im Wettbewerb mit
anderen Weibchen führen.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 77
Die männliche Seenadel empfängt die Eier vom Weibchen und trägt sie in einer beutel-
artigen Brusttasche aus (Trivers, 1985). Die Weibchen konkurrieren untereinander
aggressiv um die „besten“ Männchen und diese sind wiederum wählerisch, mit wem sie
sich paaren. Die „umgekehrte Geschlechterrolle“ dieser Art unterstützt Trivers’ Theorie,
indem sie aufzeigt, dass nicht „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ der Grund für die
sexuelle Unterscheidung des wählerischen Verhaltens ist, sondern das Verhältnis der
elterlichen Investitionen der beiden Geschlechter. So unterstützt das kumulative Gewicht
der Belege Trivers’ Theorie der mittleren Ebene über elterliche Investitionen als aus-
schlaggebenden Faktor für das wählerische Verhalten und den Wettbewerb um Partner.
Werfen Sie nochmals einen Blick auf die Abbildung 2.1. Man erkennt, dass Trivers’
Theorie der mittleren Ebene mit der allgemeinen Evolutionstheorie vereinbar ist. Er
schlägt nichts vor, was nicht durch den evolutionären Prozess so hätte kommen können.
Gleichzeitig ist die Theorie der elterlichen Investitionen nicht logisch von der allgemei-
nen Evolutionstheorie ableitbar. In der inklusiven Fitness-Theorie gibt es keine Hinweise
auf elterliche Investitionen. Daher müssen die Theorien der mittleren Ebene mit der allge-
meinen Evolutionstheorie vereinbar, aber auch in sich schlüssig sein.
Spezifische evolutionäre Hypothesen. Lassen Sie uns in der Abbildung 2.1 die spezifi-
schen evolutionäre Hypothesen der nächsten Ebene untersuchen. Eine für die Menschen
weiterentwickelte Hypothese ist beispielsweise die, dass Frauen spezifische Vorlieben für
Männer entwickelt haben, die Ressourcen bieten (Buss, 1989a; Symons, 1979). Die
Logik dahinter ist folgende. Erstens sind Frauen, da sie stark in Kinder investieren, wäh-
lerisch bei der Auswahl ihrer Partner (Standard-Vorhersage der Theorie über elterliche
Investitionen). Zum zweiten spiegelt der Inhalt der Wahl der Frauen das wider, was das
Überleben und die Reproduktion ihrer Kinder historisch gesehen verbessert hat. Daher
wird für Frauen die Hypothese aufgestellt, dass sie Präferenzen für Männer entwickelt
haben, die sowohl fähig als auch bereit sind, Ressourcen für sie und ihre Kinder zur Ver-
fügung zu stellen. Dies ist eine evolutionspsychologische Hypothese, da sie die Existenz
eines spezifischen psychologischen Mechanismus, eines Wunsches, zugrunde legt, der
entwickelt wurde um ein spezifisch menschliches adaptives Problem zu lösen – nämlich
einen Mann zu finden, der fähig ist, in Kinder zu investieren.
Diese spezifische evolutionspsychologische Hypothese kann empirisch getestet werden.
Wissenschaftler können Frauen aus einer Vielfalt von Kulturen befragen und feststellen,
ob sie tatsächlich Männer bevorzugen, die fähig und bereit sind, ihnen und ihren Kindern
Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Um diese Hypothese zu überprüfen, muss festge-
stellt werden, welche spezifischen Vorhersagen gemacht werden, was uns zur untersten
Stufe in der Abbildung 2.1 führt. Auf der Basis der Hypothese, dass Frauen Männer bevor-
zugen, die viele Ressourcen bieten, könnten die folgenden Vorhersagen getroffen werden:
(1) Frauen schätzen an Männern spezifische Qualitäten, von denen bekannt ist, dass sie mit
dem Erreichen von Ressourcen wie sozialem Status, Intelligenz und auch einem höheren
Alter verbunden sind; (2) in einer Single-Bar wird die Aufmerksamkeit von Frauen,
gemessen durch Blickkontakt, mehr von Männern angezogen, die Ressourcen zu besitzen
scheinen, als von Männern, die diese nicht haben und (3) Frauen, deren Ehemänner daran
scheitern, wirtschaftliche Ressourcen bereitzustellen, sind eher bereit, sich von diesen
scheiden zu lassen als von Ehemännern, die diese Ressourcen zur Verfügung stellen.
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78 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 79
Scheidung nicht vorsehen, oder vielleicht ist eine Frau der Meinung, dass sie es selbst
nicht besser machen könnte und bleibt deshalb bei ihrem Mann. Vielleicht denkt sie, ihre
Kinder seien mit ihrem Vater besser dran, selbst wenn dieser nicht die erforderlichen wirt-
schaftlichen Ressourcen aufbringt. Jeder dieser Faktoren könnte unsere spezifische Vor-
hersage als falsch widerlegen. Der springende Punkt ist, dass die Einschätzung von evolu-
tionären Formulierungen mit dem gesamten Gewicht dieser Belege steht oder fällt und
nicht notwendigerweise mit einer einzigen Vorhersage. Präzise formulierte evolutionäre
Hypothesen sind überprüfbar und eindeutig widerlegbar, wenn die Belege nicht ausrei-
chen, um von ihnen abgeleitete Vorhersagen zu unterstützen (siehe Ketelaar & Ellis, 2000
für eine ausgezeichnete Diskussion über die Widerlegbarkeit).
Zwei Strategien, wie evolutionäre Hypothesen entwickelt und überprüft werden. Die
Hierarchie-Ebenen in Abbildung 2.1 zeigen eine wissenschaftliche Strategie für die Ent-
wicklung von evolutionären Hypothesen und Vorhersagen auf. Diese Strategie wird „von
oben nach unten“ (top-down) oder „theoriegeleiteter Ansatz einer Hypothesengenerie-
rung“ genannt. Man kann oben mit der allgemeinen Evolutionstheorie beginnen und
Hypothesen ableiten. Man könnte beispielsweise, basierend auf der Formulierung der
inklusiven Fitness-Theorie vorhersagen, dass Menschen genetisch nahe stehenden Ver-
wandten eher helfen als genetisch entfernteren Verwandten. Man könnte eine Hypothese
entwickeln, die auf Trivers’ Theorie der mittleren Ebene über elterliche Investitionen
basiert. Bei beiden Ausgangspunkten fließen die Ableitungen im Diagramm von oben
nach unten, vom Allgemeinem zum Spezifischen.
Die top-down-Strategie illustriert, inwiefern Theorien außerordentlich wertvoll sein kön-
nen. Theorien liefern sowohl Arbeitsgrundlagen, von denen spezifische Hypothesen
abgeleitet werden können, sowie ein Grundgerüst, um Wissenschaftler zu wichtigen Fra-
gestellungen zu führen, wie die der Investitionen in Verwandtschaft oder Kinder.
Daneben gibt es eine zweite Strategie zur Entwicklung evolutionspsychologischer Hypo-
thesen (siehe Tabelle 2.2). Statt mit einer Theorie beginnt man mit einer Beobachtung.
Sobald die Beobachtung über die Existenz eines Phänomens gemacht wurde, kann man
von unten nach oben (bottom-up) vorgehen und eine Hypothese über deren Funktion auf-
stellen. Da Menschen mit Begeisterung andere Menschen beobachten, erkennen sie im
Allgemeinen vieles selbst ohne eine formale Theorie. Beispielsweise benötigt man keine
Theorie um festzustellen, dass Menschen durch gesprochene Sprache miteinander kom-
munizieren, aufrecht auf zwei Beinen gehen und von Zeit zu Zeit mit anderen Gruppen
Krieg führen. Es gibt nichts in der allgemeinen Evolutionstheorie, das die Hypothese auf-
gestellt hätte, dass sich Sprache, bipedale Fortbewegung oder Kriegsführung entwickeln
würden.
Die Tatsache, dass wir vieles über uns selbst und andere Arten beobachten, das nicht
durch die Evolutionstheorie vorhergesagt wurde, untergräbt diese Theorie nicht. Aber sie
wirft ein Problem auf: Wie können wir diese Phänomene erklären? Können evolutionäre
Denkmuster helfen, sie zu verstehen? Befinden sich diese nicht vorhergesagten Phäno-
mene innerhalb des großen Gebäudes der evolutionären Psychologie oder sind sie außer-
halb angesiedelt?
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80 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Schritt 1: Ableitung einer Hypothese aus Schritt 1: Entwicklung einer Hypothese über
einer existierenden Theorie eine adaptive Funktion, die auf einer bekann-
ten Beobachtung basiert
Beispiel: Von der Theorie der elterlichen Beispiel: A. Eine Beobachtung: Männer schei-
Investitionen kann die Hypothese abgelei- nen der physischen Erscheinung bei der Part-
tet werden, dass Frauen, da sie eine grö- nerwahl eine größere Bedeutung zukommen zu
ßere obligatorische Investition in ihre lassen als Frauen. B. Hypothese: Das physische
Nachkommen stecken als Männer, bei der Erscheinungsbild von Frauen gab unseren
Auswahl eines Partners wählerischer und männlichen Vorfahren Hinweise auf ihre
anspruchsvoller sind. Fruchtbarkeit.
Schritt 2: Die auf der Hypothese basieren- Schritt 2: Die auf der Hypothese basierenden
den Vorhersagen überprüfen Vorhersagen überprüfen
Beispiel: Durchführung einer Studie, um Beispiel: Durchführung von Studien, um her-
die Vorhersage zu überprüfen, dass eine auszufinden, ob die Maßstäbe von Männern
Frau länger wartet und strengere Maß- hinsichtlich der Attraktivität auf Hinweisen
stäbe anlegt, um die Qualitäten und die über die Fruchtbarkeit von Frauen basieren.
Bereitschaft eines Mannes, eine Verbin-
dung einzugehen zu überprüfen, bevor sie
Sex zustimmt.
Schritt 3: Auswertung, ob die empirischen Schritt 3: Auswertung, ob die empirischen
Ergebnisse die Vorhersagen bestätigen Ergebnisse die Vorhersagen bestätigen
Beispiel: Frauen warten länger und legen Beispiel: Männer finden ein niedriges Verhält-
strengere Maßstäbe als Männer an, bevor nis der Taille zur Hüfte, einen bekannten
sie Sex zustimmen (Buss & Schmitt, Zusammenhang zur Fruchtbarkeit, attraktiv
1993; Kenrick et al., 1990). (Singh, 1993).
Tabelle 2.2: Zwei Strategien, wie evolutionäre Hypothesen entwickelt und überprüft
werden
Denken wir an eine Beobachtung, die durch wissenschaftliche Forschung dokumentiert
wurde: Das physische Erscheinungsbild einer Frau spielt eine bedeutende Rolle dafür,
wie begehrenswert sie für Männer ist. Dies ist etwas, das viele Menschen auch ohne die
Hilfe einer wissenschaftlichen Theorie beobachten. Selbst Ihre Großmutter hätte Ihnen
sagen können, dass die meisten Männer attraktive Frauen bevorzugen. Eine evolutionäre
Perspektive geht jedoch tiefer und fragt nach dem Warum.
Die am häufigsten verfochtene evolutionäre Hypothese ist die, dass das Erscheinungsbild
einer Frau viele Hinweise über ihre Fruchtbarkeit gibt. Nach dieser Hypothese finden
Männer spezifische, mit der Fruchtbarkeit in Zusammenhang stehende physische Merk-
male attraktiv. Im Lauf der Evolution wurden Männer von Frauen angezogen, die diese
Hinweise auf ihre Fruchtbarkeit aufwiesen, und jene Männer verdrängten im Laufe der
Evolution Männer, die von Frauen angezogen wurden, die diese Hinweise nicht aufwiesen
oder die dem physischen Erscheinungsbild von Frauen gleichgültig gegenüberstanden.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 81
Die Psychologin Devendra Singh hat ein solches Merkmal herausgefunden: das Verhält-
nis der Taille zur Hüfte oder WHR (waist-to-hip-ratio) (Singh, 1993). Ein niedriger
WHR, d.h. die Taille weist einen kleineren Umfang als die Hüfte auf, wird aus zwei
Gründen mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Zum einen werden Frauen mit niedri-
gem WHR in Fruchtbarkeitskliniken schneller schwanger als Frauen mit einem höheren
WHR. Zum anderen leiden Frauen mit höherem WHR verstärkt an Herzerkrankungen
und endokrinologischen Problemen, welche mit einer geringeren Fruchtbarkeit in Verbin-
dung gebracht werden. Singh brachte daher vor, dass Männer Frauen mit niedrigem WHR
bevorzugen und dass sich bei ihnen die Tendenz entwickelte, diesen physischen Hinweis
auf Fruchtbarkeit zu berücksichtigen.
In verschiedenen Studien unterschiedlicher Kulturkreise legte Singh Männern Zeichnun-
gen von Frauen mit unterschiedlichen WHRs vor. Einige wiesen einen WHR von .70
(Taille 7/10 der Hüftgröße) auf, andere einen WHR von .80 und wieder andere einen
WHR von .90. Die Männer sollten die Zeichnung ankreuzen, die sie am attraktivsten fan-
den. In jedem Kulturkreis, von Afrika über Brasilien bis zu den Vereinigten Staaten, fan-
den Männer unterschiedlichen Alters die Frauen mit dem WHR von .70 am attraktivsten.
Obwohl die Annahme, dass Männer das physikalische Erscheinungsbild einer Frau schät-
zen, eine allgemeine Beobachtung ist, können daraus spezifische evolutionäre Hypothe-
sen entwickelt werden und es kann überprüft werden, warum dieses Phänomen existiert.
Zwei allgemeine Schlussfolgerungen können aus dieser „bottom-up“-Strategie der Ent-
wicklung und Überprüfung einer Hypothese gezogen werden. Zum einen ist es für Wis-
senschaftler legitim, Phänomene zu beobachten und daraus Hypothesen über deren
Ursprung und Funktion zu formulieren. In der Astronomie beispielsweise wurde zuerst
das Ergebnis eines sich expandierenden Universums beobachtet und dann wurden Theo-
rien aufgestellt, die versuchten, diese zu erklären. Die „bottom-up“-Strategie, d.h. Phäno-
mene zu entdecken und dann Hypothesen über deren Funktion aufzustellen, ist eine gute
Ergänzung zu den „top-down“, d.h. theoriegeleitet gefundenen Hypothesen über Phäno-
mene, die möglich sein könnten, aber noch nicht dokumentiert wurden.
Zum zweiten hängt der Wert einer evolutionären Hypothese von ihrer Genauigkeit ab. Je
genauer eine Hypothese ist, desto leichter können daraus spezifische Vorhersagen
abgeleitet werden. Diese Vorhersagen basieren oftmals auf der Analyse der „Entwurfs-
merkmale“, die die angenommene Adaptation haben sollte, wenn sich die Hypothese als
korrekt herausstellen soll. Schritt für Schritt, Vorhersage für Vorhersage, werden Hypo-
thesen, die empirisch nicht bestätigt werden, verworfen und solche, die durchweg empi-
risch bestätigte Vorhersagen hervorbringen, beibehalten. So zeigt sich eine kumulative
Qualität, während sich die Wissenschaft mehr und mehr der Existenz, Komplexität und
Funktionalität evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen nähert.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 83
Während sich das breitere Feld der Evolutionsbiologie mit evolutionären Analysen integ-
rierter Aspekte eines Organismus befasst, konzentriert sich die evolutionäre Psychologie
mehr auf die psychologischen Teile – die Analyse des menschlichen Verstandes als eine
Ansammlung evolutionsbedingter Mechanismen, die Zusammenhänge, die diese Mecha-
nismen aktivieren und das Verhalten, das durch solche Mechanismen ausgelöst wird. So
wenden wir uns nun direkt der Unterklasse der Adaptationen zu, aus denen der mensch-
liche Verstand besteht: evolutionsbedingte psychologische Mechanismen.
Jede Art verfügt über eine einzigartige Natur – einzigartige Adaptationen, die sie von anderen Arten
unterscheidet. Das Stachelschwein, das Stinktier und die Schildkröte verteidigen sich auf unterschied-
liche Weise gegen Raubtiere.
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84 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Form des Mechanismus, seine Entwurfsmerkmale, wie ein Schlüssel ist, der in ein
bestimmtes Schloss passt (Tooby & Cosmides, 1992). So wie die Form des Schlüssels
den Merkmalen des Schlosses angepasst werden muss, wird die Form der Entwurf-
merkmale eines psychologischen Mechanismus den Merkmalen angepasst, die erfor-
derlich sind, ein adaptives Problem des Überlebens oder der Reproduktion zu lösen.
Gelingt es nicht, das adaptive Problem zu lösen, fällt der Mechanismus durch das
selektive Raster der Evolution.
2. Ein evolutionsbedingter psychologischer Mechanismus berücksichtigt nur ein schma-
les Informations-Segment. Denken Sie an das menschliche Auge. Obwohl wir meinen,
dass wir fast alles sehen, wenn wir unsere Augen öffnen, empfangen unsere Augen
nur eine schmale Bandbreite von Eindrücken im breiten Spektrum elektromagne-
tischer Wellen. Unsere Augen verarbeiten nur Eindrücke aus einem sehr schmalen
Bereich der Wellen – solchen innerhalb des visuellen Spektrums. Wir sehen auch
keine Radiowellen, die länger als die des visuellen Spektrums sind.
Selbst innerhalb des visuellen Spektrums verarbeiten unsere Augen nur schmale
Informations-Teilmengen (Marr, 1982). Menschliche Augen verfügen über spezifi-
sche Randdetektoren, die kontrastierende Reflektionen von Objekten wahrnehmen
und Bewegung wahrnehmende Bewegungsdetektoren. Sie verfügen auch über spezifi-
sche Netzhautzapfen, die entwickelt wurden, um bestimmte Informationen über die
Farbe von Objekten aufzufangen. Das Auge ist somit keine universelle Sehvorrich-
tung. Es kann nur schmale Teilmengen eines unendlich großen Bereichs potentieller
Informationen verarbeiten – Wellen in einer bestimmten Bandbreite von Frequenzen,
Ränder, Bewegung und so weiter.
Ebenso beanspruchen psychologische Mechanismen wie die Veranlagung zur Angst
vor Schlangen nur eine schmales Informations-Segment – gleitende Bewegungen
eines länglichen Gegenstands mit Selbstantrieb. Unsere evolutionsbedingten Vorlie-
ben für Nahrung, Landschaften und Partner nehmen alle nur eine limitierte Teilmenge
von Informationen aus der unendlichen Ansammlung potentieller Eingaben wahr. Die
limitierten Hinweise, die jeden Mechanismus aktivieren, sind diejenigen, die sich
während des EEA (Environment of Evolutionary Adaptedness) wiederholten, oder die-
jenigen in der modernen Umwelt, die in etwa den Hinweisen unserer Vorfahren ähneln.
3. Der Input eines evolutionsbedingten psychologischen Mechanismus informiert den
Organismus über das adaptive Problem, mit dem er konfrontiert ist. Der Input, eine
gleitende Schlange zu sehen, sagt einem, dass man mit einem bestimmten Über-
lebensproblem konfrontiert ist und zwar körperlicher Verletzung und vielleicht Tod,
sollte man gebissen werden. Der unterschiedliche Geruch potentiell essbarer Dinge –
ranzig und verdorben versus süß und duftend, sagt einem, dass man mit einem adapti-
ven Überlebensproblem der Nahrungswahl konfrontiert ist. Kurz gesagt, informiert
der Input den Organismus darüber, mit welchem adaptiven Problem er zu tun hat. Dies
geschieht unbewusst. Menschen riechen nicht den Duft einer frisch gebackenen Pizza
und denken, „Aha, ich stehe vor einem adaptiven Problem der Nahrungswahl!“ Statt-
dessen löst der Duft unbewusst Mechanismen für die Auswahl von Nahrung aus und
ein bewusstes Wahrnehmen des adaptiven Problems ist nicht erforderlich.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 85
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86 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Ein wichtiger Punkt, den man bedenken sollte, ist, dass ein Mechanismus, der in der evo-
lutionären Vergangenheit zu einer erfolgreichen Lösung führte, heute nicht unbedingt
auch dazu führt. Unsere Geschmacksvorliebe für Fett beispielsweise war früher eine sinn-
volle Adaptation, da Fett wertvoll und eine seltene Kalorienquelle war. Heute jedoch, mit
Dönerbuden und Pizzerias an jeder Straßenecke, ist Fett nicht länger eine knappe Res-
source. Daher verursacht unsere Vorliebe für Fette, dass wir zu viele von ihnen konsumie-
ren, was zu verstopften Arterien und Herzinfarkt führen kann und so unser Überleben
gefährdet. Der zentrale Punkt ist, dass die Mechanismen existieren, weil sie im Durch-
schnitt während der Periode, in der sie sich entwickelten, zum Erfolg führten. Ob sie
heute noch adaptiv sind, d.h. ob sie zum besseren Überleben und einer besseren Repro-
duktion führen, ist eine empirische Frage, die von Fall zu Fall festgestellt werden muss.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es sich bei einem evolutionsbedingten psycholo-
gischen Mechanismus um eine Reihe von Vorgängen innerhalb des Organismus handelt,
die entwickelt wurden, um bestimmte Informationsmengen aufzunehmen und diese über
Entscheidungsregeln in Output zu verwandeln, welcher, historisch gesehen, bei der
Lösung von adaptiven Problemen hilfreich war. Der psychologische Mechanismus exis-
tiert in gegenwärtigen Organismen, weil er die Vorfahren des Organismus im Durch-
schnitt zur erfolgreichen Lösung spezifischer adaptiver Probleme führte.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 87
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88 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Um diese Probleme auf vernünftige Art und Weise zu lösen, benötigt man eine genauere
Orientierung hinsichtlich der wichtigen Eigenschaften von Nahrungsmitteln und Partnern.
Früchte, die frisch und reif aussehen, signalisieren bessere Nährstoffe als verfaulte. Men-
schen, die jung und gesund aussehen, sind im Durchschnitt fruchtbarer als Menschen, die
alt und krank aussehen. Wir benötigen spezifische Selektionskriterien um diese Probleme
erfolgreich zu lösen – Qualitäten, die Teil unseres Selektionsmechanismuses sind.
Darüber hinaus wird die Spezifizierung der Mechanismen durch Fehler illustriert. Wenn
man einen Fehler bei der Auswahl von Nahrung macht, gibt es verschiedene Mechanismen,
die helfen, diesen Fehler zu korrigieren. Beißt man in ein Stück ungenießbarer Nahrung,
kann sie schrecklich schmecken und in diesem Fall wird man sie sofort ausspucken. Man
würgt, wenn die Geschmacksnerven erreicht sind und wenn sie schon im Magen ist, über-
gibt man sich – ein spezifischer Mechanismus, der entwickelt wurde, um giftige oder schäd-
liche Substanzen loszuwerden. Wenn man aber einen Fehler in der Partnerwahl macht,
spuckt man nicht aus, würgt oder übergibt sich (zumindest normalerweise nicht). Man kor-
rigiert seinen Fehler auf andere Art und Weise: indem man ihn verlässt, indem man einen
anderen Partner wählt oder indem man der Person sagt, dass man sie nicht mehr sehen will.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Problemspezifizierung von Adaptations-
mechanismen gegenüber Allgemeingültigem vorgezogen wird, weil (1) allgemeine
Lösungen den Organismus nicht zu den richtigen adaptiven Lösungen führen, (2) selbst
wenn sie funktionieren, führen allgemeine Lösungen zu vielen Fehlern und sind daher für
den Organismus zu aufwändig und (3) was eine „erfolgreiche Lösung“ ausmacht, unter-
scheidet sich von Problem zu Problem (die Kriterien für erfolgreiche Nahrungsauswahl
unterscheiden sich von den Kriterien für die erfolgreiche Partnerwahl). Kurz gesagt ver-
fügen die adaptiven Lösungen über dezidierte Vorgehensweisen und inhaltsbezogene Ele-
mente, um adaptive Probleme erfolgreich zu lösen.
Menschen verfügen über viele evolutionsbedingte psychologische Mechanismen.
Wie die meisten Organismen sehen sich auch Menschen einer großen Anzahl von adapti-
ven Problemen gegenüber. Allein die Überlebensprobleme gehen in die Dutzende oder
hunderte – Probleme der thermischen Regulierung (zu heiß oder zu kalt), Raubtiere und
Parasiten zu meiden, nahrhafte Nahrung zu sich zu nehmen und so weiter. Dann gibt es
noch die Partnerprobleme, einen guten Partner auszuwählen, anzuziehen und zu halten
und einen schlechten Partner loszuwerden. Zudem gibt es Probleme der Elternschaft wie
Stillen, Abstillen, Sozialisierung, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht
zu werden und so weiter; dann soziale Aufgaben wie die Investition in die Verwandt-
schaft (Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen), mit sozialen Konflikten umzugehen,
sich gegen aggressive Gruppen zu wehren und Probleme der sozialen Hierarchie.
Da spezifische Probleme spezifische Lösungen erfordern, erfordern zahlreiche spezifi-
sche Probleme zahlreiche spezifische Lösungen. Genauso wie unser Körper Tausende
spezifischer Mechanismen enthält, ein Herz, um Blut zu pumpen, Lungen, um Sauerstoff
aufzunehmen, eine Leber, um Giftstoffe auszufiltern, enthält auch der Geist, entsprechend
dieser Analyse, hunderte oder tausende spezifischer Mechanismen. Da die große Anzahl
unterschiedlicher adaptiver Probleme nicht mit einigen wenigen Mechanismen gelöst
werden können, besteht der menschliche Geist aus einer großen Anzahl psychologischer
Mechanismen.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 89
Cerebraler
Aquaeduct
Hypophyse
So wie der Körper viele spezialisierte und komplexe physiologische und anatomische Mechanismen
enthält, glauben viele evolutionäre Psychologen, dass der Geist, der sich auf Hirnfunktionen stützt,
viele spezielle und komplexe Mechanismen enthält.
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92 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 93
Der vergleichende Beleg führt zu folgendem Ergebnis. Die Hoden männlicher Gorillas
machen 0,02% des Körpergewichts aus; die männlicher Orang-Utans 0,05%; die von
Männern 0,08% und die der hoch promiskuitiven Schimpansen 0,27% des Körper-
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94 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
gewichts (Short, 1979; Smith 1984). Zusammengenommen weisen Männchen der Arten
mit dem intensivsten Sperma-Wettbewerb ein größeres testikulares Volumen auf als
Männchen in Arten mit geringem Wettbewerb. Die vergleichende Methode unterstützt
somit die Hypothese des Sperma-Wettbewerbs.
Die Methode, verschiedene Arten zu vergleichen, ist natürlich nicht auf den Sperma-
Wettbewerb oder das Hodenvolumen begrenzt. Man kann auch Arten vergleichen, bei
denen die eine einem bestimmten adaptiven Problem ausgesetzt ist, das die andere nicht
kennt. Man kann auf Klippen lebende Ziegen mit anderen Ziegen vergleichen, um die
Hypothese zu testen, dass Ziegen, die auf Klippen grasen, spezielle Adaptationen aufwei-
sen, um nicht zu fallen, wie beispielsweise ein besseres räumliches Orientierungsvermö-
gen. Man kann Arten mit bekannten Feinden mit solchen vergleichen, die diese Feinde
nicht haben, um die Hypothese zu testen, dass es spezifische Adaptationen gibt, diese
Feinde zu bekämpfen (z.B. spezifische Alarmrufe, die ertönen, wenn man auf einen sol-
chen Feind trifft). Der Vergleich unterschiedlicher Arten ist somit eine wertvolle
Methode, um Hypothesen über adaptive Funktionen zu untersuchen.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 95
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96 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
werden und darüber, welcher psychologische Mechanismus jeweils aktiviert wird. Im Fall
des Siriono-Mannes, der dank der Veränderung seiner Jagdfähigkeiten seinen Sozialstatus
wieder erhöhen konnte, verursachte der veränderte Status, dass er auch selbstbewusster
wurde. Aber auch die psychologischen Mechanismen der anderen Siriono-Männer verän-
derten sich, da sie ihn nicht mehr beleidigten, sondern respektvoll behandelten.
Leider ist es für Forscher manchmal schwierig zu warten, bis sich eine Person von einem
Zusammenhang zum nächsten bewegt. Menschen finden oft eine Nische und bleiben dort.
Verändern Menschen Situationen, verändern sich zudem viele Dinge auf einmal, was es
für Forscher schwierig macht, den spezifischen kausalen Faktor, der für die Veränderung
verantwortlich war, herauszufinden. Im Fall des Siriono-Mannes beispielsweise trat die
Änderung des Verhaltens der anderen Männer ihm gegenüber ein, weil er Fleisch mit-
brachte, weil er Frauen anzog oder weil er ein Gewehr trug? Aufgrund der Probleme, die
spezifischen kausalen Faktoren zu trennen, versuchen Wissenschaftler daher, die Situa-
tion in psychologischen Experimenten zu „kontrollieren“.
Experimentelle Methoden
In Experimenten wird eine Gruppe einer „Manipulation“ ausgesetzt und eine zweite
Gruppe dient als „Kontrollgruppe“. Sagen wir, wir stellen z.B. eine Hypothese über die
Auswirkung von Bedrohungen auf den Zusammenhalt einer Gruppe auf. Die Hypothese
geht davon aus, dass Menschen einen spezifischen psychologischen Mechanismus entwi-
ckelt haben, der adaptiv auf Bedrohungen von außen reagiert, z.B. auf einen Angriff durch
eine feindliche Gruppe. Unter bedrohlichen Bedingungen sollte sich der Zusammenhalt
innerhalb der Gruppe verstärken. Dies zeigt sich durch Tendenzen wie der Vetternwirt-
schaft unter Gruppenmitgliedern und erhöhten Vorurteilen gegenüber Außenstehenden.
Im Labor wählten Experimentatoren wahllos eine Gruppe aus und sagten ihnen, sie soll-
ten in einen kleineren Raum gehen, da eine andere Gruppe Vorrang auf den Raum habe,
in dem sie sich befänden. Bevor sie den Raum verlassen, händigen ihnen die Experimen-
tatoren $100 als Entlohnung für die Teilnahme an der Studie aus mit der Anweisung, das
Geld unter den Teilnehmern der beiden Gruppen nach ihrem Gutdünken zu verteilen. Die
Kontrollgruppe wird ebenfalls aufgefordert, das Geld zwischen ihrer und der anderen
Gruppe zu verteilen; allerdings wird ihnen nicht gesagt, dass die andere Gruppe Anspruch
auf ihren Raum erhebt. Man kann nun beobachten, wie die Kontrollgruppe und die Ver-
suchsgruppe entscheiden, das Geld zu verteilen. Gibt es zwischen der Kontroll- und der
Versuchsgruppe keinen Unterschied, kann daraus gefolgert werden, dass die Vorhersage
fehlgeschlagen ist. Sollte die Versuchsgruppe dagegen der eigenen Gruppe mehr und der
Kontrollgruppe weniger Geld zuteilen, während die Kontrollgruppe das Geld gleichmä-
ßig verteilte, wären unsere Vorhersagen bestätigt, dass durch Bedrohungen von außen die
Vetternwirtschaft in Gruppen erhöht wird.
Mit der experimentellen Methode, verschiedene Gruppen verschiedenen Bedingungen
auszusetzen (manchmal auch Manipulation genannt), können Hypothesen über Adapta-
tionen untersucht werden.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 97
Archäologische Aufzeichnungen
Knochenfragmente, die auf der ganzen Welt sichergestellt wurden, geben paläontologische
Aufzeichnungen von interessanten Artefakten preis. Mithilfe der Radiokarbonmethode
kann man Schätzungen über das Alter von Schädeln und Skeletten erhalten und die Evolu-
tion der Gehirngröße durch die Jahrtausende verfolgen. Knochen großer Beutetiere, die an
den Lagerplätzen unserer Vorfahren gefunden wurden, können aufzeigen, wie diese das
adaptive Problem der Nahrungssicherung lösten. Versteinerte Ausscheidungen können
Informationen über weitere Merkmale der Ernährungsweise unserer Vorfahren liefern. Ana-
lysen der Knochenfragmente können etwas über Verletzungen, Krankheiten und Todesursa-
chen aussagen. Die archäologischen Aufzeichnungen liefern Hinweise darüber, wie unsere
Vorfahren lebten und sich entwickelten und über die Natur ihrer adaptiven Probleme.
Beobachtungen
Systematische Beobachtungen dienen als dritte Methode der Überprüfung von evolutio-
nären Hypothesen. Der Anthropologe Mark Flinn entwickelte eine Verhaltensbeobach-
tungstechnik, um systematisch Beobachtungen in Trinidad zu sammeln (Flinn, 1988a). Er
ging jeden Tag in ein bestimmtes Dorf, besuchte jeden Haushalt und hielt jede Beobach-
tung auf einem Bewertungsbogen fest. Auf diese Weise konnte er beispielsweise die
Hypothese bestätigen, dass Männer fruchtbarer Frauen diese mehr bewachen als Männer,
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98 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
deren Frauen weniger fruchtbar waren (die z.B. schwanger oder alt waren). Dies wurde
anhand von Verhaltensbeobachtungen ermittelt, die zeigen, dass sich Männer mehr in
Kämpfe mit anderen Männern verwickelten, wenn ihre Frauen fruchtbar waren, und
weniger in Kämpfe verwickelten, wenn ihre Frauen nicht fruchtbar waren. Beobachtungs-
daten können aus einer Vielzahl von Quellen gesammelt werden – ausgebildeten Beob-
achtern wie Flinn, Ehemännern oder den Frauen der Zielgruppe, Freunden und Verwand-
ten und sogar Bekannten. Daten aus Beobachtungen wie aus allen Datenquellen können
potentielle Fehler und Tendenzen enthalten. Ein Beobachter kann eine vorgefasste Mei-
nung darüber haben, was er zu beobachten erwartet, was die Beobachtungen beeinflussen
kann. Beobachter können in wichtige Verhaltensbereiche wie das Sexualverhalten nicht
eingeweiht sein, da Menschen es vorziehen, ihr Privatleben zu schützen. Forscher müssen
diese einseitigen Quellen daher mit Vorsicht genießen und ihre Beobachtungen durch
andere Datenquellen ergänzen.
Selbstbeobachtungen
Aufzeichnungen der Testpersonen selbst liefern eine ausgezeichnete Datenquelle. Selbstbe-
obachtungen können durch Interviews oder Fragebögen gewonnen werden. Es gibt psycho-
logische Phänomene, die nur durch Selbstbeobachtung untersucht werden können. Denken
wir an sexuelle Fantasien. Sie sind private Erfahrungen, die keine Versteinerungen hinter-
lassen und durch Außenstehende nicht beobachtet werden können. In einer Studie unter-
suchten die evolutionären Psychologen Bruce Ellis und Donald Symons Hypothesen über
geschlechtliche Unterschiede bei sexuellen Fantasien (Ellis & Symons, 1990). Sie fanden
heraus, dass die sexuellen Fantasien von Männern mehrere Sexualpartner und Partnerwech-
sel beinhalteten und mehr visuell orientiert waren. Die sexuellen Fantasien von Frauen ten-
dierten zu Geheimnissen, Romantik, emotionalen Äußerungen und dem Kontext. Ohne
Selbstbeobachtung könnte diese Art der Untersuchung nicht durchgeführt werden.
Auf der Grundlage von Selbstbeobachtungen wurde eine Vielzahl evolutionspsychologi-
scher Hypothesen getestet: über Partnerpräferenzen (Buss, 1989a), Gewalt gegen Ehe-
frauen (Daly & Wilson, 1988), Taktiken der Täuschung (Tooke & Camire, 1991), Takti-
ken über den Aufstieg in sozialen Hierarchien (Kyl-Heku & Buss, 1996) und Muster der
Kooperation und Hilfe (McGuire, 1994).
Wie alle Datenquellen sind auch Selbstbeobachtungen einseitig und nur eingeschränkt
verwendbar. Menschen könnten abgeneigt sein, Verhalten oder Gedanken preiszugeben,
von denen sie befürchten, sie könnten als unerwünscht angesehen werden, z.B. außerehe-
liche Affären oder ungewöhnliche sexuelle Fantasien. Menschen könnten einen anlügen
oder wenn sie nicht lügen, könnte ihnen nicht bewusst sein, welche Informationen rele-
vant sind. Menschen können Dinge sagen, um demjenigen, der die Studie durchführt, zu
gefallen oder um die Studie zu untergraben. Aus diesen Gründen versuchen evolutionäre
Psychologen, sich nicht ausschließlich auf Selbstbeobachtungen zu verlassen. Schlussfol-
gerungen, die aus mehreren Datenquellen abgeleitet werden, sind immer überzeugender.
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Menschliche Erzeugnisse
Von Menschen hergestellte Gegenstände stellen Produkte ihres entwickelten Verstandes
dar. Moderne Fast-Food-Restaurants beispielsweise sind das Ergebnis unserer
geschmacklichen Vorlieben. Hamburger, Pommes Frites, Milchshakes und Pizza enthal-
ten viel Fett, Zucker, Salz und Protein. Sie verkaufen sich deshalb gut, weil sie den entwi-
ckelten Vorlieben für diese Substanzen entsprechen und diese ausnutzen. Somit geben die
von Menschen geschaffenen Nahrungsmittel Hinweise auf im Lauf der Evolution entstan-
dene Geschmacksvorlieben.
Andere Erzeugnisse sagen etwas über unseren Verstand aus. Pornografie und Liebes-
romane sind Erzeugnisse unserer Fantasie. Die Tatsache, dass pornografische Hefte vor
allem von Männern und Liebesromane vor allem von Frauen gelesen werden, verraten
etwas über die sexuelle Natur von Männern und Frauen (Ellis & Symons, 1990; Symons,
1979). Die Themen, die in Theaterstücken, Gemälden, Filmen, in Musik, Opern, Roma-
nen, Seifenopern und Liedern angesprochen werden, sagen etwas über unsere Psyche aus
(Carroll, 1995). Menschliche Erzeugnisse können daher als zusätzliche Datenquelle zur
Überprüfung von evolutionären Hypothesen dienen.
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100 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 101
Vergangenheit konfrontiert waren. Zum zweiten führt jede neue Adaptation zu neuen
Problemen, wie beispielsweise mit anderen Adaptationsmechanismen koordiniert zu wer-
den. Alle menschlichen Probleme zu identifizieren ist eine Aufgabe, die Wissenschaftler
viele weitere Jahrhunderte beschäftigen wird. Nichtsdestotrotz geben uns verschiedene
Richtlinien einen Ausgangspunkt.
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102 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
tere Klassifikation von adaptiven Problemen nahe (siehe Kapitel 12). Diese beinhalten
die Probleme des sozialen Aufstiegs (da Ressourcenmengen zunehmen, wenn man in der
Hierarchie aufsteigt); das Problem, einen gesellschaftlichen Abstieg zu vermeiden; das
Problem auftauchender Konkurrenten im Kampf um die eigene Position; das Problem,
jemandes Zorn auf sich zu ziehen, der höher steht und der sich durch den eigenen Auf-
stieg bedroht sieht. Zusammengefasst liefert die Identifizierung universeller Kennzeichen
der menschlichen sozialen Interaktion, wie etwa das Leben in Gruppen und soziale Hier-
archien, eine Anleitung zur Identifizierung menschlicher adaptiver Probleme.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 103
ihren Partnern waren. Wären sie immer treu gewesen, hätten Männer nicht den psychologi-
schen Mechanismus der sexuellen Eifersucht entwickelt, von dem bekannt ist, dass er die
Hauptursache für die Misshandlung und die Tötung von Ehefrauen ist (Daly & Wilson,
1988). Kurz gesagt liefern unsere gegenwärtigen psychologischen Mechanismen Fenster, um
die Natur der adaptiven Probleme zu erkennen, denen sich unsere Vorfahren stellen mussten.
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104 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
und so widmet sich dieser Abschnitt des Buches der elterlichen Investitionen. All dies
geschieht innerhalb einer größeren Verwandtschaftsgruppe: der DNA, die Menschen mit
ihren genetischen Verwandten teilen.
Das Buch wendet sich dann den sozialen Gemeinschaften zu, in denen wir leben. Die
Kapitel über Kooperation, Aggression, die Konflikte zwischen den Geschlechtern und
den sozialen Status bilden den Kern dieses Abschnitts.
Das letzte Kapitel konzentriert sich auf die Umformulierung der wichtigsten Zweige der
Psychologie aus einer evolutionären Perspektive und betrachtet Themen wie logisches
Denken (kognitive Psychologie), Dominanz (Persönlichkeitspsychologie), Psychopatho-
logie (klinische Psychologie) und soziale Beziehungen (Sozialpsychologie).
Zusammenfassung
Dieses Kapitel behandelte vier Themen: (1) die Logik der Aufstellung von Hypothe-
sen über evolutionsbedingte psychologische Mechanismen, (2) die Produkte des evo-
lutionären Prozesses, (3) die Natur evolutionsbedingter psychologischer Mechanis-
men und (4) die wissenschaftlichen Verfahren, mit denen diese Hypothesen überprüft
werden können.
Die Logik evolutionärer Hypothesen beginnt mit der Untersuchung der vier Analyse-
Ebenen, von der allgemeinen bis zur spezifischen – allgemeine Evolutionstheorie,
Evolutionstheorien der mittleren Ebene, spezifische evolutionäre Hypothesen und
spezifische Vorhersagen über empirische Phänomene, die von diesen Hypothesen
abgeleitet werden. Eine Methode der Hypothesen-Bildung ist es, auf der höchsten
Ebene zu beginnen und sich nach unten zu arbeiten. Eine Theorie der mittleren Ebene
kann mehrere Hypothesen liefern, von denen wiederum eine jede mehrere nachprüf-
bare Vorhersagen hervorbringt. Dies wird als „top-down“-Strategie der Formulierung
von Hypothesen und Vorhersagen beschrieben.
Eine zweite Methode besteht darin, mit einem Phänomen zu beginnen, das bekannt ist
oder beobachtet wurde, wie die Bedeutung, die Männer dem Erscheinungsbild von
Frauen zuschreiben. Von diesem Phänomen kann man Hypothesen über die mögli-
chen Funktionen, für die sie entwickelt wurden, ableiten. Diese „bottom-up“-
Methode wird „reverse engineering“ genannt und ist eine hilfreiche Ergänzung zu
dieser Methode, da wir, oft lange bevor wir wissenschaftliche Erklärungen dafür
haben, von der Existenz menschlicher Phänomene wissen.
Der evolutionäre Prozess liefert drei Produkte: Adaptationen, Nebenprodukte der
Adaptationen und Zufallsrauschen. Obwohl alle drei Produkte wichtig und Evolu-
tionswissenschaftler in der Einschätzung ihrer Häufigkeit unterschiedlicher Meinung
sind, tendieren evolutionäre Psychologen dazu, sich auf die Adaptationen zu konzent-
rieren. Genauer gesagt konzentrieren sie sich auf eine spezielle Unterklasse der
Adaptationen, die die menschliche Art ausmachen: psychologische Mechanismen.
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Kapitel 2 Die neue Wissenschaft der evolutionären Psychologie 105
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106 Teil 1 Grundlagen der evolutionären Psychologie
Weiterführende Literatur
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Teil 2
Überlebensprobleme
Dieser Teil besteht aus einem einzigen Kapitel und ist den Adaptationen zur Lösung über-
lebensrelevanter Probleme gewidmet. Darwin prägte den Ausdruck „die feindlichen
Kräfte der Natur“, um die das Überleben erschwerenden Kräfte zu beschreiben. Die
modernen Menschen sind die Nachkommen der Vorfahren, die im Kampf gegen diese
feindlichen Kräfte erfolgreich waren. Der Anfang von Kapitel 3 widmet sich dem Prob-
lem der Beschaffung und Auswahl von Nahrungsmitteln und untersucht Hypothesen
darüber, wie unsere Vorfahren für Nahrung sorgten – die Jagd-Hypothese, die Sammler-
Hypothese und die Aasfresser-Hypothese. Als Nächstes werden Adaptationen hinsicht-
lich der Auswahl des Lebensraumes untersucht d.h. unsere Vorlieben bezüglich der
Frage, wo wir leben wollen. Dann geht es um Ängste, Phobien, Sorgen und andere Adap-
tationen, die sich herausgebildet haben, um auf verschiedene Gefahren der Umwelt, von
Schlangen bis Krankheiten, zu reagieren. Schließlich wird die faszinierende Frage an-
gesprochen, ob Menschen zu sterben programmiert sind. Das Kapitel endet mit der pro-
vokativen Analyse eines ernsthaften evolutionären Rätsels: Warum begehen manche
Menschen Selbstmord?
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Kapitel
Im Endeffekt geht es beim Evolutionsprozess, dem Motor, der die natürliche Selektion am
Laufen hält, um die differentielle Reproduktion. Um reproduzieren zu können, müssen
Organismen, zumindest eine Zeitlang, überleben. Charles Darwin fasste es folgenderma-
ßen zusammen: „Da mehr Individuen produziert werden als überleben können, gibt es in
jedem Fall einen Existenzkampf, entweder ein Individuum gegen ein anderes der gleichen
Spezies oder gegen Individuen unterschiedlicher Arten oder gegen die physischen Lebens-
bedingungen.“ (1959, S. 53) Daher ist eine Untersuchung der adaptiven Überlebensprob-
leme ein logischer Ausgangspunkt der evolutionären Psychologie des Menschen.
Zu leben ist mit einem Problem verbunden – oder besser gesagt einer Reihe von Proble-
men. Auch wenn uns unser gegenwärtiger Lebensstil zu einem großen Teil keinen großen
Gefahren aussetzt, ist jeder von uns irgendwann in Situationen geraten, in denen das
Überleben bedroht war. Darwin prägte den Begriff der „feindlichen Kräfte der Natur“ und
zu ihnen gehören Klima, Wetter, Nahrungsknappheit, Giftstoffe, Krankheiten, Parasiten,
Raubtiere und feindliche Artgenossen.
Jede dieser feindlichen Kräfte hat den Menschen vor adaptive Probleme gestellt – Prob-
leme, die über einen langen Zeitraum der Evolutionsgeschichte in jeder Generation immer
wieder aufgetreten sind. Diese adaptiven Probleme waren für die Herausbildung erfolgrei-
cher Lösungen wichtig. Sie bildeten einen Filter, durch den diejenigen ausgesiebt wurden,
die Krankheiten, Parasiten, Raubtieren, harten Wintern und langen, trockenen Sommern
nicht standhielten. Darwin schrieb: „im großen Lebenskampf ... ist die Struktur jedes orga-
nischen Wesens auf essentielle, jedoch oft versteckte Weise mit der aller anderer organi-
scher Wesen verbunden, mit denen es im Wettbewerb um Nahrung und Lebensraum steht
oder vor dem es versucht zu fliehen oder welches seine Beute darstellt.“ (1859, S. 61).
Dies suggeriert, dass die Menschen mit der biologischen Welt schon immer auf hoch spe-
zialisierte Art und Weise interagiert haben. Wir müssen wissen, was wir essen können,
was uns vergiften würde, was wir fangen können und was uns erbeuten kann. Die wissen-
schaftlichen Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Menschen über
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110 Teil 2 Überlebensprobleme
eine recht differenzierte „Volksbiologie“ verfügen (Atran, 1998; Berlin, 1992; Keil,
1995). Der Kern dieser Volksbiologie ist die Intuition, dass Lebewesen in abgeschlosse-
nen Einheiten existieren, die verschiedenen Arten entsprechen. Jede Art verfügt über eine
innere „Essenz“, die Wachstum, Körperfunktionen, äußere Form und spezielle Fähigkei-
ten bestimmt. Brennnesseln verfügen über eine innere Essenz, die sie mit Brennhaaren
ausstattet. Löwen verfügen über eine innere Essenz, die sie mit tödlichen Eckzähnen und
Pranken rüstet.
Diese Volksbiologie taucht schon früh im Leben auf und ist kulturübergreifend. Weltweit
werden alle Arten spontan in Pflanzen und Tiere aufgeteilt (Atran, 1998). Kinder im Vor-
schulalter haben recht hoch entwickelte Ansichten über die innere Essenz der Arten. Sie
glauben beispielsweise, dass ein Hund, dem sein Inneres entfernt wird, sein „Wesen“ ver-
liert und nicht länger ein Hund ist, da er nicht mehr bellen oder beißen kann. Entfernt man
aber Äußerlichkeiten oder verändert man sein äußeres Erscheinungsbild, so dass er nicht
länger wie in Hund aussieht, glauben Kinder immer noch, dass er seine „Hundheit“ bei-
behält. Sie sind der Meinung, dass ein Ferkel, das von Kühen aufgezogen wird, trotzdem
quieken und nicht muhen wird. Die Volksbiologie von Kindern scheint sogar eine Art
Funktion zu enthalten. Kinder im Alter von nur drei Jahren glauben beispielsweise, dass
Dornen der Rose auf irgendeine Art helfen, nehmen andererseits aber nicht an, dass die
Stacheln dem Stacheldraht helfen.
Es ist wahrscheinlich, dass die universelle Volksbiologie mit ihrer Kernannahme, dass
verschiedene Angehörige der gleichen Art versteckte kausale Essenzen teilen, eine kogni-
tive Adaptation darstellt (Atran, 1998). Sie ist bereits in frühen Lebensabschnitten ohne
ersichtliche Instruktionen der Eltern feststellbar (Gelman, Coley & Gottfried, 1994) und
sie scheint kulturübergreifend auf der ganzen Welt zu existieren (Atran, 1998). Sie ist zur
Lösung vieler Überlebensprobleme wichtig, die in diesem Kapitel diskutiert werden: die
Fähigkeit, zwischen Dingen, die nahrhaft sind und solchen, die giftig sind, zwischen Tie-
ren, die wir jagen und solchen, die uns jagen, zu unterscheiden.
Betrachten wir nun also die faszinierende Sammlung von Adaptationen, aus denen die
menschliche Überlebensmaschine zusammengesetzt ist – die Mechanismen von Körper
und Verstand, die entwickelt wurden, um die feindlichen Kräfte der Natur zu bekämpfen.
Das erste Problem stellt die Suche nach Nahrung dar.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 111
am Morgen und dem Einschlafen am Abend mit einem vollen Bauch mussten sie viele
Hindernisse überwinden.
Das dringendste Problem in der Nahrungsauswahl besteht darin, wie man ausreichende
Mengen an Kalorien und spezifische Nährstoffe wie Natrium, Kalzium und Zink aufneh-
men kann, ohne gleichzeitig gefährliche Giftstoffe zu konsumieren, die schnell zum Tod
führen können (Rozin & Schull, 1988). Dies bedeutet Nahrung zu suchen, zu erkennen,
zu fangen, zu verarbeiten, zu verzehren und zu verdauen, um die Nährstoffe aufzuneh-
men. Diese Aktivitäten müssen mit dem inneren metabolischen Zustand koordiniert wer-
den, zum Beispiel einem möglichen Leiden einer negativen Energiebalance (Verbrennung
von mehr Kalorien als aufgenommen werden) oder an einer spezifischen, ernährungsbe-
dingten Mangelerscheinung (Rozin & Schull, 1988).
Insbesondere für Allesfresser – Arten wie beispielsweise Ratten und Menschen, die regel-
mäßig sowohl Pflanzen als auch Tiere konsumieren – ist die Nahrungsauswahl äußerst
wichtig. Durch den Verzehr einer großen Nahrungspalette, z. B. Pflanzen, Nüsse, Samen,
Früchte und Fleisch, steigt die Vergiftungsgefahr, da Giftstoffe in der Pflanzenwelt weit
verbreitet sind. Nach einem profunden evolutionären Verständnis stellen die Pflanzen-
gifte eine Adaptation dar, die die Pflanze davor schützen, gegessen zu werden. Giftstoffe
helfen Pflanzen also, sich vor Feinden zu schützen, aber sie schaden auch Menschen und
anderen Tieren, die Pflanzen für ihr Überleben benötigen. So gesehen gab es zwischen
unseren Vorfahren und den Pflanzen einen echten Konflikt.
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112 Teil 2 Überlebensprobleme
können sie lernen, was sie krank macht und so eine potentiell tödliche Dosis von Giftstof-
fen vermeiden. Frisst eine Ratte sowohl bekannte wie auch neue Nahrung und wird dar-
aufhin krank, so meidet sie später nur die neue Nahrung. Sie scheint „anzunehmen“, dass
die bekannte Nahrung sicher ist und die unbekannte die Krankheit verursacht hat.
Ratten verfügen also über komplizierte Mechanismen, um die Adaptationsprobleme der
Nahrungsauswahl zu lösen. Die adaptiven Lösungen eines anderen Allesfressers, des
Menschen, sind nicht weniger umfangreich.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 113
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114 Teil 2 Überlebensprobleme
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 115
Hash, 2001). Dies liegt vermutlich daran, dass gefährliche Mikroorganismen sich auf
ungekühltem Fleisch vermehren; hingegen verfügen Pflanzen über eigene physikalische
und chemische Verteidigungsmechanismen und sind so besser gegen Bakterien geschützt.
Lebensmittelvergiftung bakteriellen Ursprungs tritt häufiger in Japan auf (29 von
100.000), einem Land, in dem wenig Gewürze verwendet werden, als in Korea (3 von
100.000), wo viele und mehr antimikrobielle Gewürze verwendet werden. Die traditio-
nellen japanischen Rezepte stammen wahrscheinlich aus einer Zeit, als frische Meeres-
früchte aus dem Meer zur Verfügung standen; heute werden diese importiert und die Bak-
terien haben mehr Zeit sich zu vermehren. Die Verwendung von Gewürzen ist eine
Möglichkeit, uns gegen die in der Nahrung enthaltenen Gefahren zu wehren.
Die Vertreter der antimikrobiellen Hypothese nehmen nicht an, dass Menschen über eine
speziell entwickelte Adaptation für die Verwendung von Gewürzen verfügen, auch wenn
sie diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Ver-
wendung von Gewürzen zufällig entdeckt wurde. Menschen stellten fest, dass sie seltener
krank wurden, wenn sie mit aromatischen Gewürzen kochten. Die Verwendung antimi-
krobieller Gewürze verbreitete sich durch kulturelle Übertragung wie Nachahmung oder
verbale Unterweisung. Die kulturelle Verbreitung der gesunden Verwendung von Gewür-
zen könnte „horizontal“, durch die Kommunikation mit Freunden und Nachbarn, oder
„vertikal“, durch die Kommunikation mit den gesünderen Kindern derjenigen, die
Gewürze verwendeten, stattgefunden haben.
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116 Teil 2 Überlebensprobleme
des übermäßigen Genusses von Früchten sein. Wenn Sie also das nächste Mal nach einem
alkoholischen Getränk greifen, denken Sie an Ihre Primaten-Vorfahren und deren Version
einer Party – unter einem Baum zu sitzen und reife, leckere Früchte zu essen.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 117
(79) und Gemüse (44). Im Gegensatz dazu berichteten nur drei Frauen von Aversionen
gegen Brot und keine gegen Getreide (Tierson et al., 1985). Eine weitere Studie mit ein-
hundert Frauen, die ihre erste Schwangerschaft erlebten, kam zu ähnlichen Ergebnissen
(Dickens & Threthowan, 1971). Von diesen beschrieben 32 Probanden Abneigungen
gegen Kaffee, Tee und Kakao; 18 gegen Gemüse und 16 nannten Fleisch und Eier. Vielen
wurde vom Geruch frittierter oder gegrillter, Karzinogene enthaltender Speisen übel und
einige wurden vom Geruch verdorbenen Fleisches fast ohnmächtig. Schwangere Frauen
die diese Nahrungsmittel konsumieren, gegen die sie Abneigungen verspüren, erbrechen
häufiger. Erbrechen hindert die Giftstoffe daran, in den Blutkreislauf der Mutter und so
über die Plazenta zum Fötus zu gelangen (Profet, 1992).
Verschiedene Belege stützen Profets Hypothese, dass Schwangerschaftsübelkeit eine
Adaptation ist, um die Aufnahme von Teratogenen zu vermeiden. Erstens korrespondie-
ren die Nahrungsmittel, die Frauen Ekel erregend finden, mit denen, die die höchsten
Giftmengen enthalten. Fleisch beispielsweise enthält aufgrund des Zersetzungsprozesses
oft Pilze und Bakterien und schwangere Frauen scheinen im ersten Trimester der
Schwangerschaft einen speziellen Fleischvermeidungsmechanismus entwickelt zu haben
(Fessler, 2002). Gemüse wie Kohl, Blumenkohl und Rosenkohl enthält karzinogene Ally-
lisothiocyanate (Buttery, Guadagni, Ling, Seifert & Lipton, 1976). Zweitens findet die
Schwangerschaftsübelkeit genau zu der Zeit statt, in der der Fötus am anfälligsten für
Giftstoffe ist, nämlich etwa zwei bis vier Wochen nach der Empfängnis, eine Zeit, in der
sich viele Organe ausbilden. Drittens nimmt die Schwangerschaftsübelkeit um die achte
Woche wieder ab und verschwindet normalerweise bis zur vierzehnten Woche, was mit
dem Ende der Zeitspanne zusammenfällt, in der sich die Organe entwickeln.
Vielleicht das aussagekräftigste Argument ist der Erfolg der Schwangerschaft selbst.
Frauen, die während des ersten Trimesters nicht unter Übelkeit leiden, haben etwa drei-
mal so häufig eine plötzliche Fehlgeburt wie Frauen, die an Übelkeit leiden (Profet,
1992). In einer Studie, an der 3.853 schwangere Frauen teilnahmen, hatten nur 3,8 Pro-
zent der Frauen, die an Übelkeit litten, eine plötzliche Fehlgeburt, während 10,4 Prozent
der Frauen, die nicht an Übelkeit litten, eine plötzliche Fehlgeburt hatten (Yerushalmy &
Milkovich, 1965). Frauen, die an Übelkeit leiden, scheinen eher erfolgreiche Schwanger-
schaften zu haben und bis zum Ende auszutragen. Somit scheint es eine Adaptation zu
sein, die Frauen davon abhält Nahrung zu sich zu nehmen, die den Fötus schädigen
könnte.
Von Adaptationen wird erwartet, dass sie universal sind, daher sind kulturübergreifende
Daten entscheidend. Auch wenn die Schwangerschaftsübelkeit in anderen Kulturen noch
nicht untersucht wurde, finden sich in ethnografischen Aufzeichnungen Belege ihrer
Existenz bei den !Kung in Botswana, den Efe-Pygmäen in Zaire und den australischen
Aboriginies. Die Mutter einer !Kung-Frau, Nisa, berichtete, warum sie annehme, dass
Nisa schwanger sei: „Wenn du dich so übergibst, bedeutet das, dass du etwas Kleines in
deinem Bauch trägst.“ (Shostak, 1981, S. 187). In einer neueren Studie, die 27 traditio-
nelle Gesellschaften umfasste, wurde Übelkeit während der Schwangerschaft in 20
Gesellschaften beobachtet und in sieben nicht beobachtet. In den 20 Gesellschaften, in
denen Morgenübelkeit beobachtet wurde, wurde mehr Fleisch oder andere Tierprodukte
konsumiert, die normalerweise einen höheren Anteil an Krankheitserregern und Parasiten
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118 Teil 2 Überlebensprobleme
als Pflanzen enthalten (Fessler, 2002; Flaxman & Sherman, 2000). Um die Embryonen-
schutz-Hypothese zu testen, ist es notwendig, umfangreichere kulturübergreifende For-
schungen durchzuführen (siehe Pike, 2000, der diese Hypothese bei einer Stichprobe an
68 schwangeren Turkana-Frauen in Kenia nicht stützen konnte).
Profets Analyse über Übelkeit in der Schwangerschaft hebt einen der Vorteile der For-
schung über Adaptationen hervor. Ein Phänomen, das bisher als Krankheit gesehen und
in der eine Funktionsstörung gesehen wurde, die es zu vermieden galt, scheint ein Mecha-
nismus zu sein, der entwickelt wurde, um die feindlichen Kräfte der Natur zu bekämpfen
– in diesem Fall solche, die das Überleben des noch ungeborenen Kindes gefährden.
Die Jagd-Hypothese
Nicht nur, dass es an sich aufschlussreich ist, die Geschmacksvorlieben des Menschen zu
kennen – ein weiterer Grund, weshalb die Nahrungsmittelbeschaffung aus evolutionärer
Sicht wichtig ist, besteht darin, dass die Methoden, die unsere Vorfahren dafür verwende-
ten, mit dem schnellen Auftauchen des modernen Menschen in Verbindung gebracht wer-
den. Die Bedeutung der Jagd in der menschlichen Evolution ist eine der Hauptkontrover-
sen in der Anthropologie und der Evolutionspsychologie. Eine weit verbreitete Ansicht
ist das Modell vom „Mann als Jäger“ (Tooby & DeVore, 1987). Danach lieferte der Über-
gang vom Suchen nach Nahrung zur Jagd auf Großwild einen wichtigen Impuls für die
menschliche Evolution, der mit weit reichenden Konsequenzen verbunden war. Dazu
gehören die Verbreitung der Herstellung von Werkzeugen, ihre Verwendung, die Ent-
wicklung eines großen Gehirns und komplexer Sprachfertigkeit, die für die Kommunika-
tion auf gemeinsamen Jagden notwendig war.
Alle bekannten menschlichen Gruppen konsumieren weit mehr Fleisch als andere Prima-
tenarten. Bei Schimpansen beispielsweise macht Fleisch nur vier Prozent ihrer Nahrung
aus. Beim Menschen beläuft sich der Anteil von Fleisch in der Ernährung auf 20 bis 40
Prozent und steigt in der kalten Jahreszeit und während der Jagdsaison auf bis zu 90 Pro-
zent. Selbst die niedrigsten Einschätzungen der Fleischmenge in der menschlichen Ernäh-
rung sind bei weitem höher als die höchste Schätzung für eine der 247 Primatenarten.
Zudem ist es für Menschen außerordentlich schwierig, alle notwendigen Nährstoffe wie
Cyanocobalamin (Vitamin B12) aus einer rein vegetarischen Diät zu erhalten (Tooby &
DeVore, 1987). Daher wird angenommen, dass Fleisch seit tausenden von Generationen
ein Hauptbestandteil der menschlichen Ernährung ist.
In Stammesgesellschaften unserer Zeit stellt die Jagd oftmals die wichtigste Art der Nah-
rungsbeschaffung dar. Die Aka-Pygmäen beispielsweise, die in den tropischen Regenwäl-
dern der Zentralafrikanischen Republik beheimatet sind, verbringen etwa 56 Prozent
ihres Lebens mit der Jagd, 27 Prozent mit Sammeln und 17 Prozent mit der Zubereitung
von Nahrung (siehe Hewlett, 1991). Die !Kung in Botswana sind ausgezeichnete Jäger
und widmen der Jagd und Gesprächen über die Jagd viel Zeit. Im Durchschnitt deckt die
Jagd 40 Prozent der Kalorien der !Kung, aber dieser Anteil kann in einer schlechten Sai-
son auf unter 20 Prozent fallen und während einer erfolgreichen Jagdsaison auf über 90
Prozent steigen (Lee, 1979).
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 119
Die Männer der !Kung sind unterschiedlich stark in ihren Jagdfähigkeiten, aber Prahlerei
ist verpönt. Sie verfügen über eine interessante Strategie, um das Teilen und die Koopera-
tion zu fördern: Sie sagen, „der Besitzer des Pfeils ist der Besitzer des Fleisches“ (Lee,
1979, S. 247), selbst wenn der Besitzer des Pfeils nicht derjenige ist, der das Tier
geschossen hat. Die Pfeile werden oft untereinander ausgetauscht, was die Kooperation
verstärkt und die Verantwortung für die Beute verteilt. Der Besitzer des Pfeils ist für die
Aufteilung des Fleisches verantwortlich, das gemeinsam – oft mit der Familie und Freun-
den des Mannes – geteilt wird. Geiz bei der Verteilung der Beute führt zu einem schnellen
Abstieg in Prestige und Status.
Unsere Körper sind Archive, in denen die lange Geschichte des Fleischverzehrs gespei-
chert ist (Milton, 1999). Vergleichen wir den Darm eines Affen mit dem eines Menschen.
Der Darm eines Affen besteht hauptsächlich aus dem Dickdarm, einer großen, sich win-
denden Röhre, die sich zur Verdauung einer vegetarischen, von groben Fasern durchsetz-
ten Diät eignet. Der menschliche Darm dagegen wird durch den Dünndarm dominiert, der
uns von anderen Primaten unterscheidet. In diesem werden Proteine aufgebrochen und
Nährstoffe absorbiert, was nahe legt, dass Menschen auf eine lange Evolutionsgeschichte
zurückblicken, in der sie proteinreiche Nahrung wie Fleisch zu sich genommen haben.
Die fossilen Funde der Zähne unserer Vorfahren liefern einen weiteren Hinweis auf deren
Ernährungsgewohnheiten. Die dünne Zahnschmelzschicht auf den Fossilien zeigt nicht
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120 Teil 2 Überlebensprobleme
die Abnutzungserscheinungen, die bei einer hauptsächlich aus faserigen Pflanzen beste-
henden Ernährung vorkommen.
Hinweise auf Vitamine liefern einen dritten Hinweis. Der menschliche Körper kann kein
Vitamin A und B12 produzieren, obwohl diese für das Überleben absolut notwendig sind.
Genau diese zwei Vitamine sind in Fleisch vorhanden.
Ein vierter Hinweis liegt in Knochen, die von Richard Potts, Pat Shipman und Henry
Bunn im Sommer 1979 unabhängig voneinander in der Olduvai-Schlucht in Tansania,
Afrika, gefunden wurden (Leaky & Lewin, 1992). Viele der schätzungsweise fast zwei
Millionen Jahre alten Knochen wiesen Schnittmarkierungen auf, Belege dafür, dass
unsere Vorfahren Metzger waren. All diese Hinweise deuten auf eine lange evolutionäre
Geschichte hin, in der Fleisch einen wichtigen Bestandteil in den Ernährungsgewohnhei-
ten unserer Vorfahren bildete.
Die Versorgungs-Hypothese. Befürworter der Jagd-Hypothese argumentieren, dass sie
viele ungewöhnliche Eigenheiten der menschlichen Evolution erklären kann (Tobby &
DeVore, 1987). Am wichtigsten ist vielleicht, dass sie die Tatsache erklären kann, dass im
Vergleich zu anderen Primaten beim Menschen die Männer außergewöhnlich viel in ihre
Kinder investieren. Dies wurde als die Versorgungs-Hypothese bezeichnet. Da Fleisch ein
effzientes und konzentriertes Nahrungsmittel ist, kann es einfach nach Hause transportiert
werden, um dort die Nachkommen zu versorgen. Dagegen ist es weniger effizient, kalo-
rienarme Nahrung über lange Entfernungen zu transportieren. Die Jagd liefert daher eine
plausible Erklärung für das Aufkommen der starken Investition und Versorgung, die
Männer ihren Kindern zukommen lassen. Tatsächlich kommt die starke männliche Inves-
tition bei nicht fleischfressenden Säugetieren sehr selten vor (Tooby & DeVore, 1987).
Obwohl die Versorgung oft als adaptive Erklärung für die Entwicklung der Jagd genannt
wird, kann die Jagd-Hypothese auch andere Aspekte erklären, die den Menschen charak-
terisieren. Eine ist das Auftreten starker männlicher Koalitionen, die weltweit zu beob-
achten sind (Tooby & DeVore, 1987). Die Tatsache, dass Männer Koalitionen bilden, die
durch langfristige Kooperationen charakterisiert sind, ist erklärungsbedürftig, und Jagen
liefert eine mögliche Erklärung (Schimpansen bilden ebenfalls männliche Koalitionen,
aber diese tendieren dazu eher kurzlebig und opportunistisch zu sein; siehe de Waal,
1982). Die Großwildjagd erfordert die koordinierte Zusammenarbeit von Individuen.
Einzelne Individuen sind selten erfolgreich darin, ein großes Tier zu erlegen. Die plausi-
belsten Alternativen zur Jagd als Hypothese für das Auftreten männlicher Koalitionen
sind Aggression und Verteidigung gegenüber anderen Gruppen sowie politische Allian-
zen innerhalb der Gruppe – Aktivitäten, die ebenfalls starker Koalitionen bedürfen
(Tooby & DeVore, 1987).
Die Jagd erklärt auch das Entstehen starker reziproker Altruismen und des sozialen Aus-
tausches. Menschen scheinen unter den Primaten die einzigen zu sein, die reziproke Part-
nerschaften eingehen, die viele Jahre, Jahrzehnte oder gar ein Leben lang anhalten (Tooby
& DeVore, 1987). Ein großes Beutetier liefert normalerweise mehr Fleisch als ein einzi-
ger Jäger verzehren kann. Zudem ist der Jagderfolg sehr unterschiedlich. Ein Jäger, der in
einer Woche erfolgreich ist, kann in der nächsten Woche erfolglos sein (Hill & Hurtado,
1996). Dies fördert das Teilen der Beute. Der Jäger zahlt einen niedrigen Preis dafür, das
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 121
Fleisch, das er nicht sofort essen kann, anderen zu geben, da er nicht alles selbst konsu-
mieren kann und die Reste schon bald verderben. Die Vorteile dagegen können sehr groß
sein, wenn die Empfänger des Fleisches diese Gunst zu einem späteren Zeitpunkt erwi-
dern. Auf diese Weise können Jäger das überschüssige Fleisch in den Körpern ihrer
Freunde und Nachbarn „lagern“ (Pinker, 1997). Die Jagd kann daher helfen, den sozialen
Austausch, der den modernen Menschen auszeichnet, zu erklären.
Jagen liefert auch eine schlüssige Erklärung für die sexuelle Arbeitsteilung. Durch die
Größe, die Stärke ihrer Oberkörper und die Fähigkeit, Projektile zielgerichtet über lange
Entfernungen zu werfen sind Männer gut zum Jagen geeignet (Watson, 2001). Unsere
weiblichen Vorfahren, die meist mit Schwangerschaft und Kindern beschäftigt waren,
eigneten sich für die Jagd weit weniger. Bei den modernen Jägern und Sammlern ist die
Arbeitsteilung streng geregelt: Die Männer jagen und die Frauen sammeln und nehmen
dabei oft ihre Kinder mit. Die Geschlechter können die Nahrung untereinander austau-
schen: Fleisch, das die Männer von der Jagd mitbringen, und Pflanzen, die von Frauen
gesammelt wurden. Somit liefert die Jagd auch eine plausible Erklärung für die den
modernen Menschen charakterisierende Arbeitsteilung (Tooby & DeVore, 1987).
Schließlich liefert die Jagd auch eine Erklärung für das Auftauchen von Steinwerkzeu-
gen. Diese werden regelmäßig an den gleichen Orten gefunden wie die Knochen großer
Tiere – an Fundstätten, die bis zu zwei Millionen Jahre zurückdatiert werden können
(Klein, 2000). Die Hauptfunktion von Steinwerkzeugen war wohl das Töten der Beute
und das Trennen des wertvollen Fleisches von den Knochen und Knorpeln. Das Jagen lie-
fert somit eine Erklärung für das Auftauchen und die Verbesserung der Steinwerkzeuge,
die unsere Vorfahren charakterisieren.
Während oft angenommen wird, dass die Versorgung von Frauen und Kindern die wich-
tigste Erklärung für die Ursprünge der Jagd sei, kann die Jagd-Hypothese viele weitere
Phänomene erklären. Zusätzlich zur starken männlichen Investition in die Kinder kann
sie zumindest ansatzweise das Auftauchen starker Koalitionen unter Männern, wechsel-
seitige Allianzen und sozialen Austausch unter Freunden, die sexuelle Arbeitsteilung und
die Entwicklung von Steinwerkzeugen erklären.
Die „Showoff-Hypothese“: Der Statuswettstreit unter Männern. Jagen liefert Res-
sourcen, die auf zwei Arten einzigartig sind. Erstens kommt das Fleisch in großen Men-
gen vor, manchmal mehr als der Jäger und seine Familie konsumieren können. Zweitens
sind diese Mengen nicht vorhersehbar. Der erfolgreichen Erbeutung von zwei Tieren in
einer Woche kann eine lange Zeit erfolglosen Jagens folgen (Hawkes, O’Connell & Blur-
ton Jones, 2001 a, b). Aus diesen Gründen war es sinnvoll, die Beute über die eigene
Familie hinaus zu verteilen und diese periodischen „Festessen“ waren jedem in der
Gemeinschaft bekannt (Hawkes, 1991).
Diese Überlegungen führten die Anthropologin Kristen Hawkes zur Showoff-Hypothese
(Hawkes, 1991). Hawkes argumentiert, dass Frauen Nachbarn bevorzugten, die gerne
protzten – Männer, die auf seltene, aber wertvolle Fleischbeute aus waren – da sie eben-
falls davon profitierten und einen Teil abbekamen. Wenn Frauen, besonders in Zeiten der
Knappheit, von diesen Geschenken profitierten, war es zu ihrem Vorteil, die Männer zu
belohnen, die die Showoff-Strategie verfolgten. Sie könnten diesen Jägern eine bevor-
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122 Teil 2 Überlebensprobleme
zugte Behandlung zukommen lassen, z.B. sich bei Streitigkeiten auf ihre Seite schlagen,
Gesundheitsfürsorge für deren Kinder übernehmen und, vielleicht am wichtigsten, ihnen
sexuelle Gefälligkeiten anbieten.
Männer, die die riskante Jagdstrategie verfolgten, würden daher auf unterschiedliche
Weise profitieren. Indem sie einen erhöhten sexuellen Zugang zu Frauen erhielten, ver-
größerten sich ihre Chancen, mehr Kinder zu zeugen. Die bevorzugte Behandlung ihrer
Kinder durch Nachbarn verbesserte deren Überlebenschancen und deren reproduktive
Möglichkeiten. Somit wären die Nachteile für Männer, die diese Strategie verfolgten,
nicht sehr hoch. Obwohl die Großwildjagd Risiken beinhaltet, die nicht zu vernachlässi-
gen sind, ist die Beute größer, als der Jäger und seine Familie konsumieren können und
somit leiden sie nicht, wenn sie das Fleisch großzügig mit anderen teilen.
Die Showoff-Hypothese wird durch verschiedene Belege unterstützt, die vor allem von
Studien über die Ache, einer eingeborenen Bevölkerung im Osten Paraguays, stammen
(Hill & Hurtado, 1996; Hill & Kaplan, 1988). Historisch gesehen sind die Ache Nomaden
und haben zur Sicherstellung von Nahrung sowohl gejagt als auch gesammelt. Die
Anthropologen Kim Hill und Hillard Kaplan lebten mehrere Jahre lang mit den Ache und
verwendeten Daten, die zwischen 1980 und 1985 bei der Nahrungssuche im Wald erho-
ben wurden. Auf der Suche nach Nahrung bewegen sich die Ache in kleinen Gruppen und
ziehen fast täglich zu einem neuen Lagerplatz. An einem typischen Tag verlassen die
Ache den Lagerplatz früh am Morgen in Reih und Glied, schwärmen aber schon bald sys-
tematisch aus. Die Männer jagen Wild oder suchen Honig. Bei der Jagd lassen sie einen
Abstand zwischen sich, so dass sie sich nicht gegenseitig in den Weg kommen, bleiben
aber nahe genug zusammen, damit sie sich rufen können, wenn sie Hilfe benötigen.
Während die gesammelte Nahrung bei den Ache vor allem durch den Sammler und seine
eigene Familie konsumiert wird, wird die Jagdbeute innerhalb der Gruppe verteilt. Der
Jäger selbst erhält dabei manchmal weniger Fleisch als andere außerhalb der Kernfamilie
(Kaplan, Hill & Hurtado, 1984). Hawkes (1991) fand heraus, dass 84 Prozent der
Ressourcen, die von Männern herbeigeschafft wurden, außerhalb der Familie aufgeteilt
wurden. Im Gegensatz dazu wurden nur 58 Prozent der von den Frauen gesammelten
Nahrung außerhalb der eigenen Familie aufgeteilt. Dies bezieht sich auch auf die ange-
sammelte Nahrung. Im Vergleich zu den Frauen suchen die Männer der Ache eher nach in
großen Mengen vorkommender Nahrung wie Honig, die aufgeteilt werden kann, als nach
Palmstärke oder Virella (Hawkes, 1991).
Neuere Belege zugunsten der Showoff-Hypothese kommen von den Hazda, die in der
Savanne Tansanias in Afrika leben (Hawkes et al., 2001a, 2001b). Bei den Hazda ist die
Jagd Aufgabe der Männer und sie verbringen jeden Tag etwa vier Stunden auf der Jagd
nach Wild. Wie bei den Ache wird die Beute verteilt. Weder die Jäger noch ihre Familien
erhalten mehr Fleisch als andere in der Gruppe. Das ist ein Ergebnis, das die reine Form
der Versorgungs-Hypothese in Frage stellt. Erfolgreiche Jäger der Hazda gewinnen
jedoch an sozialem Status – Prestige, das sich in starken sozialen Allianzen niederschlägt
– sowie dem Respekt anderer Männer und einem größeren Erfolg bei der Paarung.
Die Showoff-Hypothese kann zumindest in ihrer reinen Form als Konkurrenz zur Versor-
gungs-Hypothese angesehen werden. Hawkes argumentiert, dass Männer nicht zur Jagd
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 123
gingen um für ihre Familien zu sorgen, sondern eher um Statusvorteile zu erhalten, wenn
sie die Beute mit ihren Nachbarn teilten. Die Tatsache, dass erfolgreiche Jäger der Ache
durch erhöhten sexuellen Zugang und bessere Überlebenschancen ihrer Kinder belohnt
wurden, unterstützt die Showoff-Hypothese. Kristen Hawkes fasst es folgendermaßen
zusammen: „Männer wählen riskante Bemühungen nicht trotz, sondern weil das Glücks-
spiel ihnen die Möglichkeit gibt, durch ihr Aufschneiden Gefälligkeiten zu erhalten.“
(1991, S. 51). Nichtsdestoweniger sind die beiden Hypothesen nicht unvereinbar. Männer
gingen zur Jagd, um für ihre Familien zu sorgen und um von Status, Sex und Allianzen
außerhalb ihrer Familien zu profitieren. Neue Erkenntnisse von den Kung-Buschmännern
in Botswana und Namibia unterstützen die Vermutung, dass für erfolgreiche Jäger all
diese Vorteile zusammenkommen (Weissner, 2002).
Zusammenfasssend liefert die Jagd-Hypothese eine Erklärung für eine große Bandbreite
von Phänomenen, die den Menschen, nicht aber die anderen Primaten kennzeichnen. Sie
liefert eine plausible Erklärung für die starke väterliche Investition, die Bildung männli-
cher Koalitionen, das ausgedehnte Niveau der Reziprozität und des sozialen Austausches,
die sexuelle Arbeitsteilung unter den Geschlechtern und die Verwendung von Steinwerk-
zeugen. Trotz dieser Argumente wurde die Jagd-Hypothese aus verschiedenen Gründen
angegriffen. Es stellte sich beispielsweise heraus, dass selbst in Jäger-und-Sammler-
Gesellschaften die meisten Kalorien durch Sammeln zusammenkommen. In diesen
Gesellschaften stellen die durch die Jagd erhaltenen Kalorien nur 20 bis 40 Prozent (Lee,
1979; Tooby & DeVore 1987). Dies führt zu der alternativen Erkenntnis, dass in der
menschlichen Evolution das Sammeln am wichtigsten und das Jagen belanglos war.
Die Sammler-Hypothese
Im Gegensatz zu der Ansicht, dass Männer durch die Jagd den evolutionären Impuls für
die Entstehung des modernen Menschen gegeben haben, existiert die andere Meinung,
dass Frauen durch Sammeln diesen Impuls geliefert haben (Tanner, 1983; Tanner & Zihl-
mann, 1976; Zihlmann, 1981). Nach dieser Hypothese wurden Steinwerkzeuge nicht für
die Jagd entwickelt und benutzt, sondern um verschiedene Pflanzen auszugraben und zu
sammeln. Die Sammler-Hypothese würde den Übergang von Wäldern zu Savannen, von
Waldland zu Grasland erklären, da die Verwendung von Werkzeugen die Sicherung der
gesammelten Nahrung möglich und wirtschaftlicher machte (Tanner, 1983). Nach der
Erfindung von Steinwerkzeugen, die dem Sammeln dienten, kam die Erfindung von
Behältnissen, um die Nahrung aufzunehmen, und die Verbesserung der Werkzeuge für die
Jagd, das Abhäuten und das Schlachten von Tieren. Nach der Sammler-Hypothese war es
die Sicherung der Pflanzennahrung durch die Verwendung von Steinwerkzeugen, die den
evolutionären Impuls für die Entwicklung des modernen Menschen gab. Nach dieser
Ansicht kam die Jagd viel später auf und spielte bei der Entwicklung des modernen Men-
schen keine Rolle.
Die Sammler-Hypothese liefert ein nützliches Korrektiv zu der ausschließlichen Konzen-
tration auf die männliche Jagd in der Evolution des Menschen und erklärt, warum sich die
Nahrung unserer Primaten-Verwandten und somit unserer prähominiden Vorfahren haupt-
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124 Teil 2 Überlebensprobleme
sächlich aus Pflanzen zusammensetzte. Sie würde auch erklären, warum etwa 50 bis 80
Prozent der Nahrung moderner Jäger-und-Sammler-Gesellschaften aus gesammelten
Pflanzen besteht. Schließlich wirft sie ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass alle Mitglie-
der einer Population – Männer wie Frauen – ihren Beitrag zur Evolution leisten und die
Frauen als wichtige Akteure in der Evolution oft übersehen wurden (Hrdy, 1999).
Weltweit verbringen Frauen viel Zeit damit, sich um die Zubereitung des Essens und die
Kinder zu kümmern (z.B. Hrdy, 1999; Hurtado, Hill, Kaplan & Hurtado, 1992; Shjostak,
1981). Diese zwei Aktivitäten stehen oftmals im Konflikt miteinander. Das Sammeln in
subtropischen Wäldern beispielsweise stellt für Kinder und Säuglinge oft ein Risiko dar.
Die Kinder der Ache riskieren, von Ameisen, Bienen, Wespen, Schlangen, Spinnen, gifti-
gen Käfern, Stechfliegen und Zecken gebissen und gestochen zu werden (Hurtado et al.,
1992). Die Kinder werden von Dornen und Brennnesseln verletzt, während die Mütter
durch die Sträucher streifen. Es ist daher nicht überraschend, dass Mütter mit kleineren
und mit vielen Kindern weniger Zeit mit dem Sammeln verbringen als Frauen mit älteren
Kindern oder Frauen, die nicht mehr im gebärfähigen Alter sind (Hurtado et al., 1992;
Lee, 1979). Indem sie weniger sammeln, verzichten Frauen mit kleinen Kindern für die
bessere Versorgung ihrer Kinder auf einige Kalorien.
Wie viel Zeit eine Frau mit der Nahrungssuche verbringt, ist davon abhängig, wie groß
der Jagderfolg ihres Mannes ist. Frauen mit Männern, die sie gut versorgen, verbringen
weniger Zeit auf der Suche nach Nahrung als Frauen, die weniger gut versorgt werden
(Hurtado et al., 1992). Frauen scheinen ihr Verhalten den sich ändernden Bedingungen
anzupassen und sammeln mehr, um den durch einen schlechten Versorger hervorgerufe-
nen Mangel auszugleichen, und weniger, um zu vermeiden, dass ihre Kinder den Gefah-
ren der Umwelt ausgesetzt werden.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 125
Ein weiteres Problem der Sammler-Hypothese besteht darin, dass das Sammeln von
Pflanzen auch bei den großen Affen bekannt ist. Werkzeuge würden das Sammeln natür-
lich effektiver machen, aber die Steigerung scheint nicht stark genug zu sein, um die mas-
siven Veränderungen zu erklären, die sich beim Übergang zum modernen Menschen
ereigneten. Ebenso wenig kann die Sammler-Hypothese die starke väterliche Investition
erklären. Sie erklärt auch nicht das Entstehen starker Männerkoalitionen und sie erläutert
nicht, warum Menschen Landstriche besiedelten, die keine Pflanzenressourcen aufwie-
sen. Die Eskimos leben fast ausschließlich von Tierfleisch und Fett. Die Sammler-Hypo-
these kann auch nicht erklären, warum die menschliche Struktur des Darmes mit seinem
großen Dünndarm im Gegensatz zu dem der Pflanzen fressenden Primaten auf die Ver-
dauung von Fleisch spezialisiert zu sein scheint (Milton, 1999).
Die Sammler-Hypothese kann auch nicht erklären, warum Menschen starke, ausge-
dehnte, wechselseitige Allianzen eingehen, die Jahrzehnte andauern können. Sie hat wei-
ter Schwierigkeiten zu erklären, warum Frauen ihre Nahrung mit Männern teilen sollten,
die Schmarotzer wären und von der Arbeit der Frauen leben würden, es sei denn, sie wür-
den ihnen ihrerseits etwas geben wie beispielsweise Fleisch (siehe Wrangham et al.,
1999, die argumentieren, dass die Männer die von den Frauen gesammelte Nahrung stah-
len). Ein Austausch der gesammelten Früchte und Wurzeln gegen Fleisch wiederum
würde erklären, warum Frauen bereit waren, mit den Männern das von ihnen gesammelte
und verarbeitete Essen zu teilen.
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126 Teil 2 Überlebensprobleme
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass über viele Millionen Jahre in der Geschichte der
Primaten und der Menschen die Frauen Pflanzen gesammelt haben. Steinwerkzeuge
machten das Sammeln ohne Frage effizienter und das Sammeln spielte im gegenseitigen
Wechselspiel der Geschlechter fraglos eine Schlüsselrolle. Aber die Sammler-Hypothese
ist nicht in der Lage verschiedene Tatsachen zu erklären: die Arbeitsteilung zwischen den
Geschlechtern, das Auftauchen der väterlichen Investition und die Unterschiede zwischen
Menschen und Affen.
Fleisch war für die menschliche Evolution sicher von Bedeutung. Aber vielleicht haben wir
nicht immer gejagt. Vielleicht haben wir die Beute anderer Raubtiere genutzt. Dies ist die
Basis einer dritten Hypothese, wie Nahrung beschafft wurde: die Aasfresser-Hypothese.
Die Aasfresser-Hypothese
Die Aasfresser-Hypothese argumentiert, dass zumindest ein Teil des Fleisches, das unsere
Vorfahren verzehrten, von Kadavern stammte, die von anderen Tieren getötet wurden
(Isaac, 1978; Shipman,1985). Vielleicht waren die Steinwerkzeuge, die man bei Tierkno-
chen fand, dazu bestimmt, die Überreste der Kadaver zu bearbeiten und nicht frisch
erlegte Beute.
Untersuchen wir, was für diese Hypothese spricht. Zusätzlich zu den Schnittmarkierun-
gen zeigten viele der Knochen, die im „Knochenlager“ der Olduvai-Schlucht in Afrika
gefunden wurden, Nage- und Bissmarkierungen, die nahe legen, dass andere Tiere sich an
den Knochen (und dem daran hängenden Fleisch) gütlich taten. Stammten die Knochen
also von Tieren, die von unseren Vorfahren erlegt wurden oder lebten unsere Vorfahren
von den Beuteresten anderer Raubtiere?
Leider sind die Befunde nicht eindeutig. Manchmal fanden sich die Bissstellen über den
Schnittstellen, was vermuten lässt, dass Menschen das Tier erlegten und die Überreste
anderen Tieren überließen. Aber manchmal befanden sich die Schnitte auch über den
Nagemarkierungen, woraus geschlossen werden kann, dass unsere Vorfahren aus der
Beute anderer Fleischfresser Kapital schlugen. Von allen Knochen, die beide Arten von
Markierungen aufwiesen, hatten etwa die Hälfte die Schnittmarkierungen über den Nage-
markierungen, die andere Hälfte die Nagemarkierungen über den Schnitten (Leakey &
Lewin, 1992).
Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Menschen sowohl Aasfresser als auch Jäger
waren. Tatsächlich finden wir in der Natur nur wenige reine Raubtiere (Geparden sind
eine Ausnahme) und wenige reine Aasfresser (Geier sind eine Ausnahme). Die meisten
Fleisch fressenden Tiere sind sowohl Aasfresser als auch Jäger. Vielleicht waren auch
unsere Vorfahren beides.
Nichtsdestotrotz lässt auch die Aasfresser-Hypothese viele Fragen offen, zumindest in
ihrer Annahme, dass Aas für unsere Vorfahren die wichtigste Fleischquelle darstellte
(Tooby & DeVore, 1987). Zum ersten sind Erbeutungen innerhalb geografischer Reich-
weiten durch große Raubtiere selten. Die Menschen hätten große Entfernungen zurück-
legen müssen, um genug Aas für sich und ihre Familien zu finden. Zum zweiten hing das
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 127
Ergattern von Aas davon ab, was das tötende Raubtier übrig ließ. Dies hätte bedeutet,
dass unsere Vorfahren noch größere Strecken zurücklegen mussten, um genug Fleisch zu
finden.
Ein drittes Problem ist die Tatsache, dass die Menschen mit Dutzenden anderer Lebewe-
sen um die wenigen Überreste kämpfen mussten: Insekten, Geiern, Mikroorganismen,
anderen Fleisch fressenden Säugetieren und vielleicht sogar dem zur Beute zurückkeh-
renden Raubtier (Tooby & DeVore, 1987, S. 221). Die meisten Aas fressenden Säugetiere
sind auch Raubtiere und somit hätten unsere Vorfahren auch mit ihnen konkurrieren müs-
sen. Dieser Wettbewerb um die Überreste hätte die Erbeutung von Kadavern für unsere
Vorfahren recht gefährlich gemacht.
Viertens verdirbt Fleisch sehr schnell, Mikroorganismen und Maden vermehren sich
schnell und machen das Fleisch für den menschlichen Verzehr gefährlich. Primaten fres-
sen nur selten Kadaver, die sie nicht selbst erlegt haben (DeVore & Hall, 1965; Strum,
1981). Zudem leben auch moderne Stammesgesellschaften nur selten von Aas, obwohl
viele der Parasiten durch Kochen neutralisiert werden können (Tooby & DeVore, 1987).
Kurz gesagt weist die Aasfresser-Hypothese schwer wiegende Ungereimtheiten auf.
Gelegentlich haben unsere Vorfahren sich sicher von Aas ernährt, aber diese Ernährungs-
form reicht nicht an die Bedeutung der Jagd als wichtigste Art der Nahrungsbeschaffung
heran.
Die Kontroverse geht weiter und eine Argumentationslinie führt dahin, dass es bei unse-
ren Vorfahren kein einzelnes Muster der Nahrungsbeschaffung gab. Vielmehr läuft die
Vielfalt der Möglichkeiten, Nahrung zu beschaffen - wie Sammeln, der Verzehr von Aas,
Jagen und Fischen - jeder singulären Darstellung unserer Vorfahren zuwider.
Diese Debatten werden oft von Ideologien geprägt und ideologisch gefärbte Anschuldi-
gungen richten sich oft gegen alle konkurrierenden Theorien. Einige argumentieren, die
Ansicht vom „Mann als Jäger“ glorifiziere den Mann zu sehr und erfüllt diese von Män-
nern dominierte Aktivität mit mehr Bedeutung als das von Frauen dominierte Sammeln –
und würde somit das Patriarchat unterstützen oder die Ansicht der männlichen Dominanz
und Überlegenheit untermauern. Andere argumentieren, dass diejenigen, die für die
Sammler-Hypothese eintreten, ebenfalls voreingenommen sind und versuchen, den Bei-
trag der Frauen in Bezug auf die für das Überleben notwendige Nahrung zu glorifizieren.
Man muss die Ideologie aus vielen der Aussagen aussieben, um ein vernünftiges Gespür
für die Bedeutung, die Jagen und Sammeln (und gelegentlicher Verzehr von Aas) in der
Evolutionsgeschichte der Menschen hatte, zu bekommen.
Auch wenn die Kontroverse fortgeführt wird, lässt sich zusammenfassend sagen, dass
eine Einigung darüber besteht, dass unsere Vorfahren Allesfresser waren und sowohl
Fleisch als auch Pflanzen wichtige Bestandteile ihrer Ernährung waren. Das Vorherrschen
von männlichen Jägern und weiblichen Sammlern in traditionellen Gesellschaften liefert,
auch wenn es keine definitiven Beweise gibt, einen weiteren Hinweis dafür, dass beide
Arten der Nahrungsbeschaffung für den Menschen typisch sind.
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128 Teil 2 Überlebensprobleme
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 129
Orten anzuhalten und auf den Ausgangspunkt zu deuten. Sie wurden dann gebeten, den
Untersuchungsleiter auf dem schnellsten Weg zurückzuführen. Männer schnitten bei die-
ser Aufgabe besser ab als Frauen. Männer übertrafen Frauen auch in Aufgaben zu menta-
ler Rotation, beispielsweise sich vorzustellen, wie ein Gegenstand aus einem anderen
Blickwinkel aussehen würde. Schließlich tendieren Frauen dazu, sich bei Richtungsanga-
ben mehr auf markante Punkte wie Bäume und spezifische Gegenstände zu beziehen,
während Männer abstraktere und euklidische Richtungsangaben wie „Norden“ und
„Süden“ verwenden (Dabbs, Chang, Strong & Milun, 1998).
Zusammengenommen unterstützen all diese Befunde die Schlussfolgerung, dass Männer
und Frauen unterschiedliche räumliche Spezialisierungen entwickelt haben: eine, die das
effektive Sammeln vereinfacht, und eine, die effektives Jagen begünstigt. Die Ergebnisse
legen auch die Schlussfolgerung nahe, dass das kognitive System eine Anzahl speziali-
sierter informationsverarbeitender Mechanismen enthält, die zur Lösung verschiedener
Adaptationsprobleme entwickelt wurden.
Abbildung 3.1: Die Stimulus-Anordnung für Tests des Gedächtnisses bezüglich Objek-
ten und Standorten
Frauen tendieren dazu, in Tests zum Gedächtnis von Standorten besser abzuschneiden als Männer –
ein Geschlechtsunterschied, von dem angenommen wird, dass er eine Adaptation an das Sammeln
darstellt.
Quelle: The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, herausgegeben von
Jerome H. Barkow, Lea Cosmides, and John Tooby. Copyright ¤ 1992 by Oxford University Press, Inc.
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130 Teil 2 Überlebensprobleme
Die Savannen-Hypothese
Der Biologe Orians (1980, 1986) ist ein Verfechter der Savannen-Hypothese. Nach dieser
Hypothese hat uns die Selektion bei der Entdeckung und Besiedelung von Landstrichen
mit Vorlieben, Motivationen und Entscheidungsregeln ausgestattet, nach denen solche
bevorzugt werden, die reich an Ressourcen sind, und solche gemieden werden, denen es
an Ressourcen mangelt und die Risiken darstellen. Die Savanne Afrikas, von der allge-
mein angenommen wird, dass hier der Ursprung der Menschen liegt, erfüllt all diese
Erfordernisse.
Die Savanne beherbergt große Tiere, zu denen auch viele Primaten wie die Paviane und
Schimpansen gehören. Sie bietet mehr Wild als tropische Wälder, mehr Vegetation für
Weideland und weite Ausblicke, die dem nomadischen Lebensstil dienlich sind (Orians &
Heerwagen, 1992). Bäume schützen die sensible Haut der Menschen vor der starken
Sonne und bieten Schutz bei Gefahr.
Untersuchungen über Landschaftsvorlieben unterstützen die Savannen-Hypothese. In
einer Studie werteten Teilnehmer aus Australien, Argentinien und den Vereinigten Staa-
ten Fotografien von Bäumen in Kenia aus, die von dem Biologen Gordon Orians auf-
genommen wurden. Jede Fotografie konzentrierte sich auf einen einzigen Baum und die
Bilder wurden unter gleichen Bedingungen wie ähnlichem Tageslicht und gleichen
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 131
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132 Teil 2 Überlebensprobleme
Phase 3 ist die Nutzung und beinhaltet die Entscheidung, ob man lange genug in einem
Lebensraum bleibt, um von den Ressourcen profitieren zu können. Diese Entscheidung
erfordert Abwägungen – ein Standort, der Nahrung bietet, kann von Raubtieren bevölkert
sein (Orians & Heerwagen, 1992). Eine steile Klippe, die gute Möglichkeiten der Beob-
achtung bietet, kann das Risiko beinhalten, tief zu fallen. Daher erfordert die endgültige
Entscheidung, ob man lange genug bleiben kann, um die Vorteile des Lebensraumes zu
nutzen, komplexe kognitive Überlegungen.
Eine weitere Überlegung betrifft den Zeitrahmen der Entscheidungen (Orians & Heer-
wagen, 1992). Diese zeitliche Dimension bedeutet sofortige, vorübergehende Zustände so
einzuschätzen, dass sie zur Vorhersage von Ereignissen über mehrere Jahre führen. Wet-
tervoraussagen sind dafür entscheidend. Donner und Blitz signalisieren die Notwendig-
keit sofort Schutz zu suchen. Menschen haben ein schlechtes Sehvermögen bei Nacht und
müssen daher bei Einbruch der Dunkelheit Schutz finden. Die länger werdenden Schatten
und die sich rot färbende Sonne, die sich dem Horizont nähert, können zur Wahl eines
kurzfristigen Lagerplatzes führen.
Der Wechsel der Jahreszeiten vom Winter zum Frühjahr oder vom Herbst zum Winter
betrifft längere Zeiträume. Jahreszeitlich bedingte Veränderungen bringen neue Informa-
tionen mit sich, die neu eingeschätzt werden müssen. Das Frühjahr bringt knospende
Vegetation und verspricht reife Früchte. Der Herbst färbt die Vegetation braun und signa-
lisiert den bevorstehenden Winter. Nach der Savannen-Hypothese zeigen Menschen
starke Präferenzen für Anzeichen der Ernte, das Grün des Grases, die knospenden
Bäume, das Reifen von Früchten auf Sträuchern. Kahle Äste und braunes Gras sind weni-
ger angenehm. Orians und Heerwagen bemerkten „Es mag für viele von uns, die wir das
ganze Jahr eine große Auswahl an Früchten und Gemüse in unseren Supermärkten vor-
finden, unvorstellbar sein, die Bedeutung zu verstehen, die die ersten Salatblätter der Sai-
son für die Menschen im Verlauf der Menschheitsgeschichte hatten.“ (1992, S. 569).
Obwohl Blumen normalerweise nicht gegessen werden, werden sie universell geliebt. Sie
signalisieren das Wachsen von Grüngemüse und Früchten, die es während des Winters
nicht gab. Das Mitbringen von Blumen bei Krankenbesuchen hat eine Funktion: Studien
zeigen, dass die bloße Anwesenheit von Blumen in einem Krankenzimmer die Genesung
verbessert und die Kranken in einen positiveren psychischen Zustand versetzt (Watson &
Burlingame, 1960).
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 133
Obwohl die Untersuchungen der Savannen-Hypothese erst begonnen haben und viele der
Kernaussagen und Vorhersagen noch empirisch überprüft werden müssen, sind die bishe-
rigen Ergebnisse recht viel versprechend. Bedenkt man die große Bedeutung für das
Überleben, die mit der Auswahl eines Ortes verbunden ist – von provisorischen Lager-
plätzen bis zu dauerhaften Häusern – wäre es erstaunlich, wenn die Evolution unsere
umgebungsbedingten Vorlieben unberührt gelassen hätte.
Die Selektion hat unsere Vorlieben für bestimmte Landschaften geprägt. Obwohl wir in
einer modernen Welt leben, weit entfernt von der Ebene der Savanne, verändern wir
unsere Umgebungen, so dass sie dem Lebensraum unserer Vorfahren entsprechen. Men-
schen entwerfen Baustile, die das Leben unter einer Baumkrone imitieren. Wir lieben
Aussichten und hassen es, im Keller zu leben. Wir erholen uns schneller von Kranken-
hausaufenthalten, wenn wir außerhalb des Fensters Bäume sehen können (Ulrich, 1984).
Wir malen Bilder und schießen Fotos, die den freien Blick und die Geheimnisse der
Savanne, in der wir einst lebten, wiederherstellen (Appleton, 1975).
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134 Teil 2 Überlebensprobleme
Angst kann als „unangenehmes Gefühl, das als normale Reaktion auf reale Gefahr ent-
steht“ definiert werden (Marks, 1987, S. 5). Ängste unterscheiden sich von Phobien, die
in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr stehen, die außerhalb der willkürlichen
Kontrolle sind und die zur Vermeidung der gefürchteten Situation führen. Vor kurzem
haben Evolutionspsychologen begonnen, ausführliche Theorien über die Evolution von
Ängsten und Phobien zu entwickeln.
Marks (1987) skizziert vier Reaktionen, die durch Angst ausgelöst werden und Schutz
bieten können:
1. Erstarren oder unbeweglich werden: Diese Reaktion hilft bei der wachsamen Ein-
schätzung einer Situation, sich vor einem Raubtier zu verbergen und verhindert
manchmal einen aggressiven Angriff. Wenn man nicht sicher ist, ob man schon gese-
hen wurde, oder nicht feststellen kann, wo das Raubtier lauert, kann Erstarren besser
sein als wild um sich zu schlagen oder wegzulaufen.
2. Flucht oder Vermeidung: Diese Reaktion distanziert den Organismus von bestimmten
Gefahren. Wenn man beispielsweise auf eine Schlange trifft, kann Weglaufen die
leichteste und sicherste Art sein, einen Biss zu vermeiden.
3. Aggressive Verteidigung: Einen bedrohlichen Feind anzugreifen oder zu schlagen,
kann die Gefahr neutralisieren und den Feind vernichten oder in die Flucht schlagen.
Diese Art des Schutzes erfordert eine Einschätzung, ob der Angreifer erfolgreich be-
zwungen oder abgewehrt werden kann. Eine Spinne kann leichter zerquetscht werden
als ein hungriger Bär.
4. Unterwerfung oder Beschwichtigung: Diese Reaktion funktioniert vor allem, wenn
die Gefahr von einem Mitglied der eigenen Art ausgeht. Unter Schimpansen verhin-
dert die unterwürfige Begrüßung des Alpha-Männchens einen physischen Angriff.
Das Gleiche kann auch für Menschen zutreffen.
Zusätzlich zu diesen Verhaltensmustern verursacht Angst auch eine vorhersagbare Reihe
evolutionsbedingter physiologischer Reaktionen (Marks & Nesse, 1994). Durch Angst
wird beispielsweise Adrenalin freigesetzt, das auf bestimmte Rezeptoren im Blut wirkt,
die die Blutgerinnung unterstützen, sollte man sich eine Wunde zuziehen. Adrenalin
bewirkt eine Glukosefreisetzung in der Leber, um Energie in den Muskeln für den Kampf
oder die Flucht freizusetzen. Die Herzfrequenz erhöht sich, wodurch der Blutfluss und
die Blutzirkulation erhöht werden. Der Fluss des Blutes wird vom Magen zu den Muskeln
umgeleitet. Wenn Sie einem hungrigen Löwen gegenüberstehen kann die Verdauung
warten! Man beginnt schneller zu atmen, gar zu hyperventilieren, was wiederum die Sau-
erstoffversorgung der Muskeln erhöht und das Ausatmen von Kohlendioxid beschleunigt.
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 135
Jahrhundert später auch tatsächlich auftauchte, als er erklärte: „Können wir nicht anneh-
men, dass die ... Ängste von Kindern, die noch recht unabhängig von Erfahrungen sind,
die vererbten Auswirkungen tatsächlicher Gefahren ... während der wilden Zeit unserer
Vorfahren sind?“ (Darwin, 1877, S. 285-294). Eine große Reihe von Befunden deutet dar-
auf hin, dass es für Menschen wahrscheinlicher ist, Ängste vor Gefahren zu entwickeln,
die in den Lebensräumen unserer Vorfahren gegenwärtig waren, es aber weniger wahr-
scheinlich ist, Ängste vor Gefahren unseres gegenwärtigen Lebens zu entwickeln.
Schlangen beispielsweise stellen in Großstädten kaum ein Problem dar, wohl aber Fahr-
zeuge. Ängste vor Autos, Steckdosen und Zigaretten sind praktisch unbekannt, da dies
neuartige Gefahren sind und die Selektion für diese noch keine Ängste entwickeln
konnte. Die Tatsache, dass mehr Stadtbewohner Psychiater wegen Angst vor Schlangen
und Fremden aufsuchen als aufgrund von Ängsten vor Autos und Steckdosen, gewährt
einen Einblick in die Gefahren, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren.
Die spezifischen Ängste der Menschen tauchen in der Entwicklung genau zu dem Zeit-
punkt auf, da diese real werden könnten (Marks, 1987). Angst vor Höhe und Fremden bei-
spielsweise taucht bei Säuglingen im Alter von etwa sechs Monaten auf, was mit dem
Zeitpunkt zusammenfällt, zu dem sie anfangen, von ihren Müttern wegzukrabbeln (Scarr
& Salapatek, 1970). In einer Studie vermieden 80 Prozent der Säuglinge, die seit mehr als
41 Tagen krabbelten, über eine „visuelle Klippe“ (ein offensichtlicher Höhenunterschied,
der aber mit Glas abgedeckt war) zu krabbeln, um zu ihren Müttern zu gelangen (Berent-
hal, Campos & Caplovitz, 1983). Krabbeln erhöht das Risiko gefährlicher Stürze und das
Risiko von Begegnungen mit Fremden ohne die schützende Mutter in der Nähe und so fällt
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136 Teil 2 Überlebensprobleme
das Auftauchen der Angst vor Höhe und vor Fremden mit dem Auftauchen der entspre-
chenden adaptiven Probleme zusammen. Die Angst von Säuglingen vor Fremden wurde in
vielen unterschiedlichen Kulturen dokumentiert, u.a. bei Guatemalteken, Sambiern,
!Kung-Buschmännern und Hopi-Indianern (Smith, 1979). Tatsächlich scheint das Risiko
eines Säuglings, durch Fremde getötet zu werden, bei nicht menschlichen Primaten (Hrdy,
1977; Wrangham & Peterson, 1996) sowie bei Menschen eine häufige „feindliche Kraft
der Natur“ zu sein (Daly & Wilson, 1988). Interessanterweise haben Kinder vor fremden
Männern mehr Angst als vor fremden Frauen – was berechtigt ist, da fremde Männer his-
torisch gesehen gefährlicher waren als fremde Frauen (Heerwagen & Orians, 2002).
Trennungsangst ist eine weitere Angst, für die kulturübergreifende Dokumentationen vor-
liegen und die bei einem Alter zwischen dem neunten und dem dreizehnten Monat ihren
Höhepunkt erreicht (Kagan, Kearsley & Zelazo, 1978). In einer kulturübergreifenden Stu-
die protokollierten Wissenschaftler den Prozentsatz von Säuglingen, die zu schreien
anfingen, nachdem ihre Mütter den Raum verlassen hatten. Auf dem Höhepunkt der
Trennungsangst zeigten 62 Prozent der Indios von Guatemala, 60 Prozent der Israeli, 82
Prozent der Guatemalteken von Antigua und 100 Prozent der Säuglinge aus dem afrikani-
schen Busch diese offen gezeigte Trennungsangst.
Ängste vor Tieren tauchen etwa im Alter von zwei Jahren auf, wenn Kinder beginnen,
ihre Umgebung zu erforschen. Agoraphobie, die Angst vor öffentlichen Plätzen oder
Orten, die keine Fluchtmöglichkeiten bieten, taucht erst später auf, wenn die Heimatbasis
verlassen wird (Marks & Nesse, 1994). Die Entwicklungszeit von Ängsten scheint genau
dem Beginn des Adaptationsproblems, in diesem Fall einer Bedrohung, zu entsprechen.
Dies veranschaulicht, dass psychische Mechanismen nicht „bei der Geburt“ auftauchen
müssen um sich als Adaptation zu qualifizieren. Der Beginn bestimmter Ängste ist,
ebenso wie der Beginn der Pubertät, ein entwicklungsgesteuertes psychologisches Auf-
treten.
Die evolutionäre psychologische Basis spezifischer Ängste betrifft nicht nur emotionale
Reaktionen, sondern erstreckt sich auch darauf, wie viel Aufmerksamkeit wir der Welt
um uns herum schenken und wie wir sie wahrnehmen. In einer Reihe faszinierender Stu-
dien wurden Teilnehmer gebeten, zwischen Bildern mit keine Angst auslösenden Stimuli
wie Blumen und Pilzen solche Bilder mit Spinnen, Schlangen u.Ä. zu suchen (Öhmann,
Flykt & Esteves, 2001). In einer anderen Bedingung wurde das Vorgehen umgekehrt und
die Teilnehmer wurden gebeten, unter den Angst auslösenden Stimuli nach keine Angst
auslösenden Stimuli zu suchen. Die Schlangen und Spinnen wurden bedeutend schneller
gefunden als die harmlosen Objekte. Die Angst auslösenden Bilder wurden, unabhängig
davon, wie durcheinander die Bilder angeordnet und wie viele Ablenkungen vorhanden
waren, stets schneller gefunden. Es war, als ob die Schlangen und Spinnen aus der Reihe
der Bilder „herausspringen“ würden und automatisch wahrgenommen würden. Wenn wir
über ein offenes Feld schauen, führt uns unser informationsverarbeitender Mechanismus
dazu, die Schlange im Gras zu entdecken.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 137
Die menschliche Aufmerksamkeit in Bezug auf Dinge, die für unsere Vorfahren gefähr-
lich waren, kommt auch in einem anderen faszinierenden Phänomen vor: unserer Wahr-
nehmung von Geräuschen. Der Evolutionspsychologe John Neuhoff hat „eine adaptive
Tendenz bei der Wahrnehmung sich auditiv ankündigender Bewegungen“ dokumentiert
(Neuhoff, 2001). Er fand heraus, dass es eine auffallende Asymmetrie in der Wahrneh-
mung „näher kommender“ gegenüber sich „entfernender“ Geräusche gibt. Veränderun-
gen bei näher kommender Geräuschen wurden stärker als entsprechende Veränderungen
bei sich entfernenden Geräuschen wahrgenommen. Zusätzlich wurden näher kommende
Geräusche als näher bei uns beginnend und näher bei uns anhaltend wahrgenommen als
die sich entfernenden Geräusche. Diese „auditive Tendenz“, so Neuhoff, ist eine Wahr-
nehmungsadaptation, die dazu dient, uns einen Sicherheitsspielraum zur Vermeidung sich
nähernder Gefahren wie z.B. Feinden zu verleihen. Was wir hören, ist adaptiv darauf aus-
gerichtet, Gefahren in unserer Umwelt zu vermeiden. Unsere Überlebensadaptationen,
z. B. unsere schnelle visuelle Wahrnehmung von Gefahren und die auditive Wahrneh-
mungstendenz, beeinflussen was wir sehen und wie wir die Welt um uns herum hören
(Siehe Kasten 3.1 für weitere Ausführungen über Ängste).
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138 Teil 2 Überlebensprobleme
Obwohl die im vorangegangenen Abschnitt diskutierte Angst bei Kindern vor Tieren
wahrscheinlich ein Teil des Verteidigungssystems ist, haben sich neuere Forschungen auf
den informationsverarbeitenden Mechanismus konzentriert, der zur Vermeidung von
Raubtier-Angriffen notwendig ist (Barrett, 2002). Barrett und seine Kollegen argumentie-
ren, dass Kinder zumindest drei kognitive Fähigkeiten benötigen: (1) eine Kategorie von
„Raubtier“ oder „gefährlichem Tier“, das den Baustein einer Raubtier-Vermeidungs-
Adaptation darstellt; (2) die Schlussfolgerung, dass Raubtiere die Motivation oder den
„Wunsch“ haben, Beute zu fressen, was zu Voraussagen über das Verhalten des Raubtie-
res führt (z.B. wenn das Raubtier hungrig ist und Beute sieht, wird es diese jagen und zu
töten versuchen); und (3) das Verständnis, dass der Tod ein mögliches Resultat der Inter-
aktion mit einem Raubtier sein kann. Das Verständnis von Tod ist verbunden mit dem
Wissen, dass die tote Beute die Fähigkeit zu handeln verliert und dass der Verlust dieser
Fähigkeit dauerhaft und irreversibel ist.
In einer faszinierenden Studie demonstrierte Barrett (1999), dass Kinder bereits im Alter
von drei Jahren über ein voll entwickeltes kognitives Wissen über die Raubtier-Beute-
Begegnung verfügen. Sowohl Kinder aus einer industrialisierten Kultur als auch einer tra-
ditionellen Jäger-Gärtner-Kultur waren in der Lage, spontan den genauen Ablauf einer
Raubtier-Beute-Begegnung auf ökologisch akkurate Weise mit nur sehr wenigen „fantas-
tischen“ oder „märchenhaften“ Ausschmückungen zu beschreiben. Zudem verstanden
sie, dass, wenn ein Löwe seine Beute tötet, diese nicht mehr lebendig ist, nicht mehr fres-
sen und nicht mehr laufen kann und dass dieser Zustand dauerhaft ist. Interessanterweise
scheint dieses anspruchsvolle Verständnis über den Tod in Bezug auf Begegnungen mit
Raubtieren bereits im Alter von drei bis vier Jahren entwickelt zu sein.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 139
dass Objekte gefährlich sind, auch wenn sie es nicht sind. Somit kann Verallgemeine-
rung adaptiv sein, selbst wenn sie dazu führt, Dinge zu meiden, die in Wirklichkeit
harmlos sind.
Mehrere Studien unterstützen die adaptive Konservatismus-Hypothese. In einer Stu-
die wurden Frauen Dias von Dingen gezeigt, vor denen sie Angst hatten (wie Schlan-
gen oder Spinnen) und Dias mit neutralen Objekten wie einer Blume oder einem Pilz
(Tomarken, Mineka & Cook, 1989). Nach jedem Dia erhielten die Teilnehmerinnen
entweder einen Schmerzen verursachenden Elektroschock, hörten einen Ton oder es
passierte nichts. Diese Ereignisse traten zufällig auf, so dass die Wahrscheinlichkeit
eines Elektroschocks, nachdem man eine Schlange sah, einen Ton hörte oder nichts
passierte, jeweils ein Drittel betrug.
Als die Frauen hinterher gefragt wurden, wie oft sie einen Elektroschock erhalten hat-
ten, nachdem sie eine Schlange gesehen hatten, überschätzten die Frauen diese
bedingte Wahrscheinlichkeit durchweg. Genau genommen schätzten sie, dass in 42
bis 52 Prozent der Darbietungen einer Schlange auch ein Elektroschock folgte, wäh-
rend es tatsächlich nur 33 Prozent waren. Diese Voreingenommenheit war besonders
bei den Frauen stark ausgeprägt, die von Anfang an eine große Angst vor Schlangen
zeigten.
Als das Experiment mit einer evolutionär neuen Gefahr, nämlich beschädigten Steck-
dosen, durchgeführt wurde, trat diese Überschätzung nicht auf. Die Teilnehmer nah-
men bei 34 Prozent wahr, dass dem Bild einer beschädigten Steckdose ein Elektro-
schock folgte, was den tatsächlichen 33 Prozent erstaunlich nahe kommt. Diese
Ergebnisse legen nahe, dass Angst mit systematischen Voreingenommenheiten ver-
bunden ist, die Menschen dazu bringen, die Häufigkeit, mit der das gefürchtete
Objekt eine negative Konsequenz nach sich zieht, zu überschätzen.
Obwohl weitere Forschung notwendig ist, bestätigen die bisherigen Ergebnisse die
adaptive Konservatismus-Hypothese. Die Menschen scheinen darauf gepolt zu sein,
negative Auswirkungen solcher Objekte zu verallgemeinern, die sich in historischem
Ausmaß als gefährlich erwiesen haben, nicht jedoch die von evolutionär „neuen“
gefährlichen Objekten. Ängste scheinen die Informationsverarbeitung auf eine Weise
zu beeinflussen, die die Angst vor dem gefürchteten Objekt bestätigt, wodurch diese
erhalten oder erhöht wird. Diese Verallgemeinerung bringt Menschen dazu, sich
adaptiv konservativ zu verhalten und sich zu irren, um Objekte, die unseren Vorfahren
gefährlich waren, zu vermeiden – selbst um den Preis, dabei Fehler zu begehen.
Zusammenfassend suggeriert diese Forschung in Bezug auf das Verständnis, das Kinder
vom Tod haben, verbunden mit der Angstforschung, der selektiven visuellen Aufmerk-
samkeit gegenüber Schlangen und Spinnen und den Tendenzen bei der Lokation sich
bewegender Geräusche, dass Menschen eine Reihe von Adaptationen entwickelt haben,
um mit den vielen Problemen zurechtzukommen, die das Leben unserer Vorfahren
gefährdeten.
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140 Teil 2 Überlebensprobleme
Krankheitsbekämpfung
Im Laufe ihres Lebens stecken sich Menschen oftmals mit Krankheiten an. Sie haben
Adaptationen entwickelt, um diese Krankheiten zu bekämpfen, aber nicht alle davon sind
intuitiv offensichtlich. Das Aufkommen der darwinistischen Medizin als Wissenschaft
kippt die herkömmliche Überzeugung, wie wir auf bekannte Dinge wie Fieber reagieren,
das uns schwitzen lässt und den Eisengehalt des Blutes reduziert, was beides als Reaktion
auf eine Infektionskrankheit auftritt (William & Nesse, 1991).
Fieber. Wenn man wegen Fieber zum Hausarzt geht, bekommt man die abgedroschene
Empfehlung, zwei Aspirin zu nehmen und am nächsten Morgen nochmal vorbeizukom-
men. Millionen von Amerikanern nehmen jedes Jahr zur Fiebersenkung Aspirin und
andere Medikamente ein. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass Fieber senkende
Medikamente Krankheiten verlängern können. Fieber kann eine natürliche und nützliche
Abwehr gegen Krankheiten sein.
Wenn kaltblütige Echsen erkranken, suchen sie einen heißen Stein, auf dem sie sich son-
nen können. Dadurch wird ihre Körpertemperatur erhöht und die Krankheit bekämpft.
Echsen, die keinen warmen Platz finden, auf dem sie sich niederlassen können, sterben
häufiger. Eine ähnliche Beziehung zwischen Körpertemperatur und Krankheit wurde
auch bei Kaninchen beobachtet. Erkrankte Kaninchen, die ein Fieber senkendes Medika-
ment erhalten, sterben häufiger (Kluger, 1990).
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beobachtete der Arzt Julian Wagner-Jauregg,
dass Syphilis an Orten, an denen Malaria häufig auftrat, nur selten vorkam. Zu dieser Zeit
starben 99 Prozent der an Syphilis Erkrankten. Wagner-Jauregg infizierte daraufhin
Syphilispatienten absichtlich mit Malaria, die ein Fieber auslöst, und er fand heraus, dass
30 Prozent dieser Patienten überlebten – eine beachtliche Überlebenssteigerung gegen-
über den Patienten, die nicht mit Malaria infiziert waren. Das Fieber der Malaria half
offensichtlich, die tödlichen Auswirkungen der Syphilis zu heilen.
Eine neuere Studie ergab, dass an Windpocken erkrankte Kinder, deren Fieber mit Aceta-
minophen (Paracetamol) gesenkt wird, fast einen Tag länger benötigen, um zu genesen,
als Kinder, deren Fieber nicht gesenkt wurde (Doran et al., 1989). Ein anderer Wissen-
schaftler infizierte die Teilnehmer an der Studie zunächst mit einem Erkältungsvirus.
Anschließend gab er einer Hälfte der Probanden ein Fieber senkendes Medikament und
der anderen Hälfte ein Plazebo (eine Pille, die keine aktiven Substanzen enthält). Diejeni-
gen, die das Fieber senkende Medikament einnahmen, litten stärker unter nasaler Ver-
stopfung, einer schlechteren Antikörperreaktion und bei ihnen hielt die Erkältung auch
etwas länger an (Graham et al., 1990).
Eisenmangel im Blut. Eisen ist Nahrung für Bakterien, die sich mit ihm prächtig entwi-
ckeln. Menschen haben eine Methode entwickelt, die Bakterien auszuhungern. Erkrankt
eine Person an einer Infektion, so produziert der Körper eine Chemikalie (Leukozyten
endogener Mediatoren), die den Eisenwert im Blut reduziert. Gleichzeitig wird der Appe-
tit auf eisenhaltige Nahrungsmittel wie Schinken und Eier reduziert und der Körper
verringert somit die Aufnahme des Eisens (Nesse & Williams, 1994). Diese natürlichen
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 141
Körperreaktionen hungern die Bakterien aus und ebnen so den Weg zur Bekämpfung der
Infektion und für eine schnelle Genesung.
Obwohl diese Informationen seit den 1970er Jahren bekannt sind, wissen anscheinend
nur wenige Ärzte und Apotheker davon (Kluger, 1991). Sie empfehlen weiterhin zusätz-
lich Eisen, das unsere entwickelten Methoden, die feindlichen Kräfte der Infektionen zu
bekämpfen, beeinträchtigt.
Unter den Massai litten weniger als zehn Prozent an durch Amöben ausgelösten Infektio-
nen. Als eine Untergruppe ergänzend Eisen zu sich nahm, entwickelten 88 Prozent von
ihnen Infektionen (Weinberg, 1984). Die Ernährungsgewohnheiten somalischer Noma-
den weisen von Natur aus niedrige Eisenwerte auf. Als Forscher versuchten, dies durch
ergänzende Eisengaben zu korrigieren, resultierte dies in einem sprunghaften Anstieg der
Infektionen um 30 Prozent innerhalb eines Monats (Weinberg, 1984). Alte Menschen und
Frauen in Amerika erhalten routinemäßig ergänzende Eisengaben, um „eisenarmes Blut“
zu bekämpfen, was paradoxerweise ihre Infektionsrate erhöht.
Zusammenfassend gesagt, haben Menschen natürliche Abwehrmechanismen wie Fieber
und Eisenmangel entwickelt, die bei der Bekämpfung von Krankheiten helfen. Sich in
diese Adaptationen einzumischen, indem man Fieber künstlich senkt oder den Eisen-
gehalt im Blut erhöht, scheint eher zu schaden als zu heilen.
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142 Teil 2 Überlebensprobleme
tisch keine Auswirkungen auf ihre Reproduktionskapazität. Die Selektion wirkt sich bei
der älteren Frau nur schwach aus, da die Zeit ihrer Reproduktion schon vorüber ist (Nesse
& Williams, 1994).
Williams (1957) nahm diese Beobachtung als Ausgangspunkt und entwickelte die pleio-
trope Theorie der Seneszenz. Pleiotropie ist ein Phänomen, nach dem ein Gen zwei oder
mehr unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Sagen wir, es gibt ein Gen, das Testos-
teron in Männern verstärkt und dazu führt, dass sie früh im Leben, z.B. in ihren Zwanzi-
gern und Dreißigern erfolgreicher mit anderen Männern um ihren Status konkurrieren
können. Aber der erhöhte Testosteronwert hat später im Leben auch negative Auswirkun-
gen, da er das Risiko von Prostatakrebs erhöht. Mittels dieses pleiotropen Prozesses
haben wir eine Anzahl von Genen entwickelt, die uns zu Beginn unseres Lebens helfen,
aber später im Leben pleiotrope Auswirkungen haben, wenn die Selektion schwach oder
abwesend ist.
Die pleiotrope Theorie der Seneszenz erklärt nicht nur, warum unsere Organe alle etwa
zur gleichen Zeit im Leben erschöpft sind, sondern auch, warum Männer durchschnittlich
sieben Jahre früher als Frauen sterben (Williams & Nesse, 1991). Die Selektion wirkt
sich auf Männer stärker aus als auf Frauen, da der Reproduktionsunterschied von Män-
nern höher als der von Frauen ist. Anders ausgedrückt, die meisten fruchtbaren Frauen
pflanzen sich fort und die maximale Anzahl an Kindern, die sie haben können, ist aus
praktischen Gründen auf etwa zwölf beschränkt. Männer dagegen können Dutzende von
Kindern zeugen oder ganz aus der Reproduktion ausgeschlossen werden. Da Männer über
eine größere Variabilität in der Reproduktion verfügen, wirkt die Selektion auf Männer
stärker als auf Frauen. Sie bevorzugt Gene, die es einem Mann ermöglichen, früh im
Leben erfolgreich um Partnerinnen zu konkurrieren, um einer der wenigen zu sein, die
sich fortpflanzen, bzw. um zu vermeiden, dass man von der Fortpflanzung ausgeschlos-
sen wird.
Die Selektion bevorzugt diesen Erfolg von Männern bei der Partnerwahl selbst dann,
wenn dies bedeutet, dass diese Gene später im Leben schädliche Auswirkungen auf das
Überleben haben. Obwohl Männer sich über einen längeren Zeitraum im Leben fortpflan-
zen können und dies manchmal auch tun, erklärt die Theorie der Seneszenz, warum diese
späteren reproduktiven Ereignisse einen geringeren Einfluss haben als Ereignisse, die
früher stattfanden. Diese starke Selektion für einen frühen Vorteil produziert einen höhe-
ren Anteil an pleiotropen Genen, die einen frühen Tod verursachen. Ein Forscher
bemerkte, „es erscheint wahrscheinlich, dass Männer eine höhere Mortalität als Frauen
aufweisen, weil sie in der Vergangenheit einen größeren potentiellen Reproduktionserfolg
genossen, und dies führte zu Eigenschaften, die zwar mit einem höheren Reproduktions-
erfolg assoziiert werden können, aber zum Preis eines verringerten Überlebens“ (Trivers,
1985, S. 314). Kurz gesagt, sind Männer programmiert, früher zu sterben als Frauen. Die
Theorie der Seneszenz liefert einen Beitrag zu der Erklärung, weshalb dies so ist.
Allgemein betrachtet wirkt die Selektion zu Beginn des Lebens am stärksten, da jedes
frühe Ereignis im Leben die gesamte Zeitspanne der reproduktiven Jahre einer Person
beeinflussen kann. Während man älter wird, lässt die Kraft der Selektion jedoch nach. Im
extremen Fall bedeutet das: Was einem im Alter passiert, kurz bevor man stirbt, hat keine
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 143
Auswirkungen auf die Reproduktionskapazität. Dies bedeutet, dass die Selektion Adapta-
tionen bevorzugt, die früh im Leben günstige Auswirkungen haben, selbst wenn sie spä-
ter mit einem hohen Preis verbunden sind. Diese Nachteile häufen sich im Alter und
resultieren in der Verschlechterung des Zustands aller Teile des Körpers zur etwa gleichen
Zeit. In diesem Sinne kann man sagen, dass Organismen zu sterben programmiert sind.
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144 Teil 2 Überlebensprobleme
Klinik, eine Stichprobe von Insassen eines Hochsicherheitstraktes, in dem Menschen ein-
saßen, die Verbrechen an der Gesellschaft begangen hatten, und zwei Stichproben von
Homosexuellen.
Das Ergebnis unterstützte de Catanzaros evolutionäre Theorie über den Suizid. Wenn die
abhängige Variable, also das Vorhandensein suizidaler Vorstellungen mit den anderen
Punkten auf dem Fragebogen korreliert wurde, ergab dies die folgenden Ergebnisse: Quer
durch alle Stichproben korrelierten suizidale Vorstellungen am stärksten mit der Belas-
tung für die Familie und bei Männern mit mangelndem Erfolg in heterosexuellen Aktivi-
täten. Bei Männern in der öffentlichen Stichprobe im Alter zwischen 18 und 30 ergaben
sich die folgenden Korrelationen: Belastung für die Familie (+.56), Sex im letzten Monat
(-.67), Erfolg in heterosexuellen Beziehungen (-.59), Sex jemals (-.45), Stabilität hetero-
sexueller Beziehungen (-.45), Sex im letzten Jahr (-.40), Anzahl der Kinder (-.36). Bei
jüngeren Frauen in den öffentlichen Stichproben zwischen 18 und 30 stieß man auf ähnli-
che Ergebnisse, auch wenn diese nicht so auffällig waren: Belastung für die Familie
(+.44), Sex jemals (-.37) und Beitrag zur Familie (-.36).
Bei den Stichproben älterer Teilnehmer nahm die gesundheitliche Belastung einen höheren
Stellenwert ein und zeigte eine starke Korrelation mit suizidalen Vorstellungen. Bei den
öffentlichen Stichproben von Männern über 50 wurden beispielsweise die folgenden Kor-
relationen gefunden: Gesundheit (-.48), künftige finanzielle Probleme (+.46), Belastung
für die Familie (+.38), Homosexualität (+.38) und Anzahl von Freunden (-.36). Frauen
über fünfzig in den öffentlichen Stichproben wiesen ähnliche Ergebnisse auf: Einsamkeit
(+.62), Belastung für die Familie (+.47), künftige finanzielle Probleme (+.45) und Gesund-
heit (-.42). Ähnliche Ergebnisse wurden bei allen anderen Stichproben gefunden.
Ergebnisse wie diese wurden inzwischen auch von anderen Forschern berichtet. In einer
Studie, die 175 amerikanische Studenten umfasste, testeten Michael Brown und seine
Kollegen de Catanzaros Theorie des Suizids mithilfe eines 164 Punkte umfassenden Fra-
gebogens (Brown, Dahlen, Mills, Rick & Biblarz, 1999). Sie fanden heraus, dass Indivi-
duen mit einem niedrigen Reproduktionspotential (die beispielsweise annehmen, dass sie
für Angehörige des anderen Geschlechts nicht attraktiv sind) und einer hohen Belastung
für ihre Familie, über mehr suizidale Vorstellungen sowie über mehr Depressionen und
Hoffnungslosigkeit berichteten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass verschiedene Forscher unabhängig voneinander
Unterstützung für de Catanzaros Evolutionstheorie über den Suizid geliefert haben.
Zusätzliche Untersuchungen sind notwendig, so könnte der nächste Schritt eine Studie
über Menschen sein, die tatsächlich Selbstmord verübten. Bis dahin ist festzuhalten, dass
es - theoretisch - Voraussetzungen geben könnte die zu psychologischen Mechanismen
führen, die eine Person dazu bringen würden Selbstmord zu begehen. Diese Voraus-
setzungen konzentrieren sich auf ein Scheitern in der heterosexuellen Gemeinschaft und
darauf, eine Belastung für enge Angehörige zu sein. Selbstmordgedanken tauchen am
ehesten dann auf, wenn Menschen mit diesen ihre Fitness bedrohenden sozialen Zusam-
menhängen konfrontiert werden.
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 145
Zusammenfassung
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146 Teil 2 Überlebensprobleme
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Kapitel 3 Kampf gegen die feindlichen Kräfte der Natur 147
weisen gegenwärtige Befunde auf die Möglichkeit hin, dass Menschen kontextsensitive
psychische Mechanismen entwickelt haben, um ihr künftiges Reproduktionspotential
und ihren Nettoaufwand für die genetische Verwandtschaft einzuschätzen.
All diese entwickelten Mechanismen helfen Menschen dabei, lange genug zu überle-
ben, um das Erwachsenenalter zu erreichen. Haben sie dieses erreicht, treffen sie
noch immer auf feindliche Kräfte, die das Überleben gefährden. Aber sie stehen auch
neuen Herausforderungen gegenüber, wie der Partnerwahl, der wir uns nun widmen
werden.
Weiterführende Literatur
Hawkes, K., O’Connell, J. F. & Blurton Jones, N. G. (2001a). Hunting and nuclear
families. Current Anthropology, 42, 681-709.
Heerwagen, J.H. & Orians, G. H. (2002). The ecological world of children. In P. H.
Kahn, Jr. & S. R. Kellert (Eds.), Children and nature: Psychological, sociocultural
and evolutionary investigations (29-64). Cambridge, MA: MIT Press.
Krebs, J. R., & Davies, N. B. (1996). Einführung in die Verhaltensökologie, 3. Aufl.
Berlin: Blackwell (Orig.: An introduction to behavioural ecology. Oxford, UK:
Blackwell Science, 1981).
Nesse, R. M. & Williams, G. C. (1997). Warum wir krank werden: Die Antworten der
Evolutionsmedizin. München: C. H. Beck (Orig.: Why we get sick: The new science of
Darwinian medicine. New York: Vintage Books, 1996).
Öhmann, A., Flykt, A. & Esteves, F. (2001). Emotion drives attention: Detecting the
snake in the grass. Journal of Experimental Psychology: General, 130, 466-478.
Sherman, P. W., & Flaxman, S. M. (2001). Protecting ourselves from food. American
Scientist, 89, 142-151.
Tooby, J. & DeVore, I. (1987). The reconstruction of hominid behavioral evolution
through strategic modeling. In W. G. Kinzey (Ed.), The Evolution of human behavior
(183-237). New York: State University of New York Press.
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Teil 3
Herausforderungen von
Sexualität und
Partnerwahl
Da die Unterschiede beim Fortpflanzungserfolg die Triebkraft des Evolutionsprozesses
sind, sollten die psychologischen Mechanismen rund um die Fortpflanzung im besonde-
ren Maße der Selektion unterworfen sein. Wenn die Selektion die psychologischen
Mechanismen nicht so geformt hätte, dass sie die adaptiven Probleme lösen können, die
sich aufgrund von Sexualität und Paarung ergeben, dann wäre die evolutionäre Psycholo-
gie schon von vornherein „arbeitslos“. In diesem Teil betrachten wir die Probleme der
Partnerwahl und untersuchen die breite empirische Grundlage, die die evolutionäre Psy-
chologie in diesem Bereich geschaffen hat.
Teil 3 ist in drei Kapitel aufgeteilt. Kapitel 4 beschreibt, wie Frauen ihre Partner auswählen.
Es legt Material aus groß angelegten kulturübergreifenden Studien vor, die die evolutionspsy-
chologischen Hypothesen überprüfen sollten. Die Präferenzen der Frauen bei der Partnerwahl
sind komplex und differenziert, da sie im Laufe der langen Evolutionsgeschichte eine Reihe
komplexer Adaptationsprobleme zu lösen hatten. Am Ende des Kapitels wird untersucht, wie
die Wünsche der Frauen ihr tatsächliches Verhalten bei der Partnerwahl beeinflussen.
Kapitel 5 beschäftigt sich mit der Partnerwahl des Mannes und zeigt, wie er die für ihn
ganz anders gelagerten adaptiven Probleme löst. Nach der Metatheorie der evolutionären
Psychologie werden sich Männer und Frauen nur in solchen Bereichen voneinander
unterscheiden, in denen sie im Laufe der Evolutionsgeschichte wiederholt auf unter-
schiedliche Probleme der Adaptation gestoßen sind. In allen anderen Bereichen werden
sich die Geschlechter ähneln. Dieses Kapitel hebt die Bereiche hervor, in denen der Mann
auf bestimmte Adaptationsprobleme trifft – wie die Wahl einer fruchtbaren Partnerin und
die Sicherstellung der Vaterschaft bei einer Investition in eine langfristige Partnerschaft.
Kapitel 6 beschäftigt sich mit einer eher versteckten Seite der menschlichen Partnerwahl –
kurzfristige sexuelle Strategien. Es befasst sich mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen
über Sperma-Konkurrenz und den weiblichen Orgasmus – physiologische Hinweise, die auf
eine lange Geschichte nicht monogamer Vorfahren hindeuten. Da Menschen sowohl langfris-
tige als auch kurzfristige sexuelle Beziehungen führen, zeigen sie eine Flexibilität, die man bei
anderen Arten kaum beobachtet. Die Strategie eines Einzelnen hängt dabei oft vom Kontext
ab. Das Kapitel endet mit einem Überblick über alle wichtigen begrifflichen Variablen, die be-
stimmen, ob eine kurzfristige oder eine langfristige Beziehungsstrategie verfolgt wird, wie
etwa dem individuellen Partnerwert und dem Verhältnis von Männern zu Frauen insgesamt.
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Kapitel
4 Langfristige Partnerwahl-
Strategien der Frau
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152 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Wie die Webervögel ziehen auch Frauen diejenigen Männer vor, die verschiedene „Nes-
ter“ gebaut haben. Betrachten wir ein Problem, dem sich Frauen innerhalb der Evolu-
tionsgeschichte stellen mussten: die Auswahl eines Mannes, der zu einer langfristigen
Beziehung bereit war. Wenn sich eine Frau in unserer evolutionären Vergangenheit für
einen Mann entschied, der unbeständig, impulsiv, untreu und beziehungsunfähig war, sah
sie sich oft gezwungen, ihre Kinder allein und ohne die Ressourcen, die Unterstützung
und den Schutz aufzuziehen, die ein zuverlässigerer Mann ihr geboten hätte. Eine Frau,
die einen verlässlichen Partner vorzog, der ihr treu war und sie unterstützte, konnte Kin-
der zur Welt bringen, die überlebten, aufblühten und sich wiederum fortpflanzten. Im
Laufe tausender Generationen entwickelte sich bei Frauen eine Vorliebe für Männer, die
zeigten, dass sie treu und beständig waren, ebenso wie sich bei den Webervögeln eine
Vorliebe für Männchen herausbildete, die gute Nester bauen konnten. Diese Vorlieben
lösten wichtige Probleme der Fortpflanzung, genau wie Vorlieben bei der Ernährung
wichtige Überlebensprobleme lösten.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 153
Warum hat sich angesichts dieses großen Aufwands die sexuelle Fortpflanzung also über-
haupt entwickelt? Dies war und ist eines der größten Rätsel in der Evolutionsbiologie,
über das schon zahlreiche Theorien veröffentlicht wurden. Einfach ausgedrückt lautet die
Frage, welche Reproduktionsvorteile die sexuelle Fortpflanzung bieten kann, die so
enorm sind, dass sie den entstehenden Aufwand überwiegen.
Eine der bekanntesten und wichtigsten Konsequenzen der sexuellen Fortpflanzung ist die
Erzeugung genetisch verschiedenartiger Nachkommen. Verglichen mit asexuellen Arten,
bei denen alle Nachkommen mit den Eltern identisch sind (außer Mutationen), unter-
scheidet sich der Nachwuchs von sich sexuell fortpflanzenden Eltern genetisch von den
Eltern. Die Nachkommen unterscheiden sich genetisch auch voneinander. So sind
Geschwister nur zu durchschnittlich 50% genetisch verwandt.
Die meisten Theorien über den Ursprung der Sexualität beschäftigen sich mit den mögli-
chen Vorteilen, genetisch verschiedenartige Nachkommen zu haben. Eine Theorie besagt,
dass sich mit solchen Nachkommen die Anzahl der Nischen erhöht, die gleichzeitig
besetzt werden können. Dabei kommt es darauf an, dass genetisch identische Individuen
die exakt gleichen Bedürfnisse bezüglich Nahrung, Schutz etc. haben. Bei genetisch
unterschiedlichen Individuen unterscheiden sich dagegen auch die Überlebensbedürf-
nisse, so dass diese eine größere Bandbreite verschiedener Nischen bevölkern können
(Trivers, 1985; Williams, 1975). Das bedeutet auch, dass Geschwister bei der Suche nach
eigenen Nischen weniger oft die Mühen direkter Konkurrenz in Kauf nehmen müssen.
Die führende Theorie – die Parasiten-Theorie des Ursprungs der Sexualität – ist nicht
intuitiv eingängig (Hamilton, 1980; Tooby, 1982). Die meisten Menschen glauben, dass
Geschlechtsverkehr zu Parasiten in Form sexuell übertragbarer Krankheiten führen kann.
Doch wie es aussieht, könnten Parasiten sogar für die Entstehung der Sexualität verant-
wortlich sein! Parasiten stellen für viele langlebige Organismen ein großes Adaptations-
problem dar. Denn sie können im Laufe eines einzigen Lebens eines solchen Organismus
hunderte, tausende oder sogar Millionen von Generationen hervorbringen und sich unge-
hindert auf andere Wirtstiere übertragen, vor allem wenn diese in etwa die gleichen
Lebensbedingungen bieten. Da sich die verschiedenen Gruppen asexueller Organismen
alle gleichen, können sich Parasiten leicht vermehren, denn sie können ohne Probleme
alle Wirtstiere befallen. Das ist für das Wirtstier jedoch alles andere als gut, denn die
Parasiten können sich so stark vermehren, dass sie irgendwann die Abwehrmechanismen
ihres Wirtes überwinden und es töten können.
Hier liegt nach der Parasiten-Theorie der entscheidende Vorteil der sexuellen Fortpflan-
zung. Denn sie schafft durch die Produktion genetisch unterschiedlicher Nachkommen
eine große Zahl an unterschiedlichen Wirtstieren für die Parasiten. Diese werden nun
gebremst, denn sie müssen sich an die neue Umgebung anpassen. Das nächste Wirtstier
ist dann wiederum genetisch verschieden, so dass der Anpassungsprozess von neuem
beginnen muss.
Im ständigen Evolutionskampf zwischen Parasiten und Wirten kam es zu einem Wettrüs-
ten – einer Folge wechselseitiger Gegenadaptationen – das sich im Laufe der Zeit fort-
setzt (Dawkins, 1982). Die sexuelle Fortpflanzung könnte hier eine entscheidende Adap-
tation der Wirtstiere darstellen, mithilfe derer sie sich und ihre Nachkommen vor
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154 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Parasiten schützen können. Dadurch könnte der Nutzen der sexuellen Fortpflanzung so
hoch sein, dass er jeden Aufwand überwiegt.
Jede Adaptation bringt neue Herausforderungen mit sich. Eine der schwierigsten adaptiven
Herausforderungen der sexuellen Fortpflanzung ist die Suche nach dem richtigen Partner.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 155
lernen wir, dass niemand, der wertvolle Ressourcen besitzt, diese nach dem Zufallsprin-
zip verteilt. Da die Frauen in unserer evolutionären Vergangenheit eine extrem hohe
Investition als Folge eines Geschlechtsaktes riskierten, begünstigte die Evolution die
Frauen, die ihre Partner sehr sorgfältig auswählten. Unsere weiblichen Vorfahren mussten
extrem hohe Kosten tragen, wenn sie nicht wählerisch genug waren: Sie hatten geringeren
Fortpflanzungserfolg und nur wenige ihrer Kinder überlebten lange genug, um sich selbst
fortzupflanzen. Ein Mann konnte sich in der Evolutionsgeschichte nach einem flüchtigen
Fortpflanzungsakt einfach abwenden, denn er hatte ja nur einige Stunden oder gar Minu-
ten verloren. Sein Fortpflanzungserfolg war dadurch nicht ernsthaft beeinträchtigt. Eine
Frau in der Evolutionsgeschichte riskierte dagegen eine Schwangerschaft und die damit
verbundenen Risiken und jahrelangen Kosten.
Die modernen Methoden der Geburtenkontrolle haben dies verändert. In den heutigen
Industrieländern können Frauen kurzfristige sexuelle Beziehungen eingehen, ohne eine
Schwangerschaft fürchten zu müssen. Die menschliche Psychologie der Sexualität hat
sich jedoch über Millionen Jahre hinweg dazu entwickelt, mit den Adaptationsproblemen
der Vorfahren umgehen zu können, bevor es die modernen Verhütungsmethoden gab.
Also besitzen die Menschen immer noch diese grundlegende Sexualpsychologie, obwohl
sich die moderne Umwelt verändert hat.
Zusammenfassend trifft Trivers’ (1972) Theorie der elterlichen Investitionen und der
sexuellen Selektion zwei grundlegende Vorhersagen: (1) das Geschlecht, das mehr in den
Nachwuchs investiert (in der Regel, doch nicht immer das weibliche Geschlecht), wird
bei der Partnerwahl wählerischer sein; und (2) das Geschlecht, das weniger in den Nach-
wuchs investiert, wird um das andere Geschlecht stärker konkurrieren. Beim Menschen
bringt offensichtlich die Frau die größere obligatorische elterliche Investition ein. Um ein
einziges Kind auf die Welt zu bringen, muss die Frau eine neunmonatige Schwanger-
schaft auf sich nehmen, während der Mann dieses Kind mit einer Investition von nur
wenigen Minuten zeugen kann. Wenn es zur langfristigen Partnerwahl oder zur Heirat
kommt, ist auch klar, dass sowohl Frauen als auch Männer verstärkt in die Kinder inves-
tieren, weshalb die Theorie der elterlichen Investitionen besagt, dass beide Geschlechter
bei der Partnerwahl sehr wählerisch sein sollten.
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156 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Dies hätte natürlich bei Männern den Selektionsdruck erzeugt, Großzügigkeit zu entwi-
ckeln; es gibt jedoch mindestens zwei Faktoren, die zur Erhaltung individueller Unter-
schiede auf der Ebene zwischen Geiz und Großzügigkeit führen könnten. Zum einen
könnte die Großzügigkeit mit der vorhandenen Ressourcenmenge korrelieren. Für einen
Millionär ist es leichter, viele Gäste einzuladen, als für einen armen Mann. Da Männer
unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung haben, könnte unterschiedliche Großzügig-
keit darauf zurückzuführen sein. Zum anderen können Männer sehr wählerisch darin sein,
welcher Frau sie ihre Ressourcen zuteil werden lassen. So kann ein Mann seine Ressour-
cen einer Frau vorenthalten und sie gleichzeitig einer anderen zugute kommen lassen.
Alle Männer können unter bestimmten Bedingungen großzügig oder eben geizig sein.
Deshalb achten Frauen vielleicht besonders darauf, ob sich ein Mann ihnen persönlich
gegenüber als großzügig erweist.
Betrachten wir nun eine kompliziertere aber auch realistischere Situation, in der sich die
Männer nicht nur in ihrer Großzügigkeit unterscheiden, sondern auch auf verwirrend
viele andere Arten, die bei der Partnerwahl eine Rolle spielen. Männer unterscheiden sich
in ihrer körperlichen Stärke, ihren athletischen Fähigkeiten, ihrem Ehrgeiz und Fleiß,
ihrer Freundlichkeit und ihrem Einfühlungsvermögen, ihrer emotionalen Ausgeglichen-
heit, ihrer Intelligenz, ihren sozialen Fähigkeiten, ihrem Sinn für Humor, ihrem Familien-
sinn und ihrer Position in der gesellschaftlichen Hierarchie. Männer bringen auch unter-
schiedliche „Altlasten“ mit in eine Beziehung: einige haben Kinder, Schulden, sind oft
übellaunig, egoistisch oder wechseln häufig die Partnerin. Außerdem unterscheiden sich
Männer noch auf hunderte andere Arten und Weisen, die aber für Frauen irrelevant sind.
Die Selektion hat über hunderttausende von Jahren hinweg die Frauen dazu gebracht, ihre
Vorlieben punktgenau auf die männlichen Eigenschaften auszurichten, die den größten
Adaptationsvorteil bringen. Frauen, die diese besonderen adaptiven Vorlieben nicht ent-
wickelt haben, sind nicht in unserer Ahnenreihe zu finden, denn ihre Gene wurden von-
den Genen der Frauen verdrängt, die besser gewählt hatten.
Welche Eigenschaften der Mensch bevorzugt, ist jedoch keine statische Angelegenheit.
Da sich die Menschen im Laufe der Zeit verändern, müssen sie bei der Partnerwahl das
zukünftige Potential möglicher Partner genau abwägen. Vielleicht fehlen einem Mann
heute noch die notwendigen Ressourcen, als Medizinstudent hat er aber sehr gute
Zukunftsaussichten; oder ein Mann ist zwar sehr ehrgeizig, hat aber seinen beruflichen
Höhepunkt bereits erreicht. Vielleicht hat er auch Kinder mit einer anderen Frau, die aber
schon aus dem elterlichen Haus ausziehen und ihn so nicht mehr finanziell belasten. Um
den Wert eines Mannes als Partner genau zu beurteilen, muss die Frau über seine gegen-
wärtige Situation hinaus auch sein zukünftiges Potential mit einbeziehen.
Kurz gesagt haben sich in der Evolution diejenigen Frauen durchgesetzt, die Männer
bevorzugen, deren Eigenschaften ihnen Vorteile bringen, und Männer ablehnen, die ihnen
Kosten verursachen. Jede einzelne Eigenschaft stellt ein Kriterium bei der Bestimmung
des Wertes des Mannes als Partner der Frau dar. Jede ihrer Vorlieben zielt auf eines dieser
Kriterien ab.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 157
Präferenzen, die bestimmten Kriterien Priorität einräumen, lösen jedoch das Problem der
Partnerwahl nicht voll und ganz. Hierbei muss eine Frau sich damit auseinandersetzen, die
Hinweise, ob ein Mann tatsächlich bestimmte Ressourcen besitzt, zu entdecken und richtig
zu bewerten. Dieses Beurteilungsproblem wird dort besonders akut, wo Männer die Frauen
erfolgreich täuschen können, indem sie z.B. vorgeben, einen höheren Status zu haben, oder
ein größeres Engagement vortäuschen, als sie tatsächlich einzugehen bereit sind.
Schließlich müssen Frauen es schaffen, all ihr Wissen über einen möglichen Partner zu
bündeln. Nehmen wir an, ein Mann ist zwar großzügig aber emotional instabil. Ein ande-
rer ist zwar stabil, aber auch geizig. Welchen Mann soll die Frau wählen? Für die Partner-
wahl sind psychologische Mechanismen notwendig, die es der Frau ermöglichen, alle
Eigenschaften aufzusummieren und jede angemessen zu gewichten. Dabei sind einige
Eigenschaften natürlich für die endgültige Entscheidung, ob ein Mann ausgewählt oder
abgelehnt wird, wichtiger als andere. Eine dieser Eigenschaften, die ein starkes Gewicht
haben, ist der Erwerb von Ressourcen.
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158 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 159
polisiert und kontrolliert. Es gibt große Unterschiede, wie viele Ressourcen jeder Mann –
vom Obdachlosen bis zum Jetsetter – zur Verfügung hat. Männer unterscheiden sich auch
sehr stark in ihrer Bereitschaft, ihre Zeit und ihre Ressourcen in langfristige Partnerschaften
zu investieren. Einige Männer ziehen es vor, viele verschiedene Partnerinnen zu haben und
so nur wenig in jede einzelne zu investieren. Andere Männer lassen ihre Ressourcen nur
einer Frau und deren Kindern zugute kommen (Belsky, Steinberg & Draper, 1991).
Im Laufe der menschlichen Evolutionsgeschichte konnten Frauen oft mit einem einzigen
Ehepartner sehr viel mehr Ressourcen für ihre Kinder sichern als mit mehreren vorüber-
gehenden Beziehungspartnern. Männer investieren in ihre Ehefrauen und Kinder und ver-
sorgen diese in einem Maße, das es bisher bei Primaten nicht gab. Bei allen anderen Pri-
maten müssen sich die Weibchen ausschließlich auf ihre eigenen Anstrengungen zur
Nahrungsbeschaffung verlassen, denn die männlichen Vertreter teilen ihre Beute niemals
mit ihren Partnerinnen (Smuts, 1995). Die Männer der Menschen dagegen ernähren und
beschützen ihre Kinder und verteidigen ihr Territorium. Sie trainieren ihre Kinder im
Sport, bringen ihnen Jagen, Kämpfen und Hierarchieverhandlungen bei und zeigen ihnen,
was Freundschaft und soziales Verhalten bedeutet. Sie übertragen ihren Status auf die
Kinder und unterstützen sie so darin, später im Leben wechselseitig nützliche Beziehun-
gen aufzubauen. Eine Frau, die einen vorübergehenden Sexualpartner wählt, kann diese
Vorteile wohl kaum für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Zwar können nicht alle poten-
tiellen Ehemänner alle diese Vorteile bieten, doch war es für Frauen zu allen Zeiten nütz-
lich, sich für Partner zu entscheiden, die ihnen einige dieser Vorteile bieten konnten.
Dies schuf die evolutionäre Voraussetzung der Präferenz der Frauen für Männer mit Res-
sourcen. Sie brauchten jedoch Hinweise, die ihnen zeigen konnten, ob ein Mann Ressour-
cen besaß. Diese Hinweise können indirekter Natur sein wie etwa bestimmte Charakter-
züge, die eine Mobilität nach oben andeuten; sie können physischer Natur sein wie etwa
die körperliche Fitness und Gesundheit eines Mannes. Sie können auch seinen Ruf mit
einbeziehen und wie sehr ihn seine Umwelt schätzt. Der tatsächliche Besitz wirtschaft-
licher Ressourcen ist jedoch immer noch der deutlichste Hinweis.
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160 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Auch die sexuelle Revolution der späten 1960er und frühen 1970er Jahre änderte an diesen
Unterschieden zwischen den Geschlechtern nichts. Mitte der 1980er Jahre wollte man diese
früheren Studienergebnisse nochmals auffrischen und befragte 1.491 Amerikanerinnen und
Amerikaner nach dem gleichen Schema (Buss, 1989a). Männer und Frauen aus Massachu-
setts, Michigan, Texas und Kalifornien beurteilten 18 Eigenschaften gemäß ihres Werts bei
einem Ehepartner. Wie in früheren Jahrzehnten schätzten Frauen gute finanzielle Aussich-
ten ihres Partners als etwa doppelt so wichtig ein wie dies bei Männern der Fall war. 1939
bewerteten die Frauen „gute finanzielle Aussichten“ mit 1,80 auf einer Skala von 0 (irrele-
vant) bis 3 (unerlässlich); Männer dagegen bewerteten „gute finanzielle Aussichten“ 1939
lediglich mit 0,90. 1985 bewerteten Frauen diese Eigenschaft mit 1,90, während Männer ihr
einen Wert von 1,02 gaben – die Bewertung der Frauen lag also immer noch etwa doppelt so
hoch wie die der Männer (Buss, Shackelford, Kirkpatrick, & Larsen, 2001).
Die Tatsache, dass Frauen hauptsächlich auf wirtschaftliche Ressourcen achten, zeigt sich
in einer Reihe verschiedener Zusammenhänge. Douglas Kenrick und seine Kollegen entwi-
ckelten eine aufschlussreiche Methode um festzustellen, wie wichtig die Personen verschie-
dene Eigenschaften eines Ehepartners einschätzen. Sie baten darum, jede Eigenschaft, die
als akzeptabel angesehen wurde, mit „Mindestperzentil“ zu versehen (Kenrick, Sadalla,
Groth, & Trost, 1990). Der Perzentil-Begriff wurde folgendermaßen erklärt: „Eine Person
im 50. Perzentil läge bei der Verdienstfähigkeit über 50% der anderen Personen und unter
49% der Personen in dieser Dimension.“ (S. 103) Amerikanische College-Studentinnen
gaben an, dass bei der Verdienstfähigkeit das Mindestperzentil eines Mannes das 70. Per-
zentil oder oberhalb 70% aller anderen Männer sei. Bei Männern ist das akzeptable Min-
destperzentil ihrer Ehefrau, wenn es um ihre Verdienstfähigkeit geht, lediglich das vier-
zigste. Auch bei Partnern für eine sexuelle Beziehung oder eine feste Beziehung bewerten
Frauen die wirtschaftlichen Fähigkeiten der Männer höher, wie Abbildung 4.1 zeigt.
Kontaktanzeigen in Zeitungen und Zeitschriften belegen, dass Frauen, die tatsächlich auf
der Suche nach einem Lebenspartner sind, finanzielle Ressourcen als sehr wichtig ein-
schätzen. Eine Studie, die 1.111 Kontaktanzeigen untersuchte, ergab, dass Frauen im Ver-
gleich zu Männern elfmal häufiger nach finanziellen Ressourcen suchen (Wiederman,
1993). Kurz gesagt gibt es nicht nur bei Studenten geschlechtsbezogene Unterschiede,
was die Präferenz für finanzielle Ressourcen angeht. Auch scheuen sich Frauen nicht
davor, direkt danach zu fragen.
Diese weiblichen Präferenzen sind im Übrigen keineswegs auf Amerika, die westliche
Welt oder die kapitalistischen Länder beschränkt. Eine groß angelegte, kulturübergrei-
fende Studie untersuchte 37 Kulturen auf sechs Kontinenten und fünf Inseln, darunter aus-
tralische Küstenbewohner, brasilianische Großstadtbewohner und Zulus aus den Slums
Südafrikas (Buss, Abbott, Angleitner, et al., 1990). Einige Teilnehmer kamen aus Natio-
nen, die Polygamie praktizieren (ein Mann hat mehrere Partnerinnen oder Ehefrauen), wie
etwa Nigeria oder Sambia. Andere Teilnehmer kamen aus Nationen, die monogam leben
(ein Mann hat nur eine Partnerin), etwa Kanada oder Spanien. In manchen Ländern ist das
Zusammenleben von Mann und Frau ohne Trauschein gang und gäbe, z.B. in Schweden
oder Finnland, während es in anderen Ländern gesellschaftlich nicht akzeptiert wird, z.B.
in Bulgarien oder Griechenland. Die Studie untersuchte insgesamt 10.047 Einzelpersonen
aus 37 Kulturen, wie in Abbildung 4.2 dargestellt (Buss, 1989a).
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 161
70
Männer
Frauen
Gerade noch akzeptierte Verdienstfähigkeit
60
(in Perzentilen ausgedrückt)
50
e
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162 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Unerlässlich 3.0
Männer
Frauen
2.5
2.0
1.5
1.0
.5
Unwichtig 0
Japan Sambia Jugoslawien Australien USA
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 163
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164 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
zusuchen. Eine Studie, in der 186 Gesellschaften von den Mbuti-Pygmäen in Afrika bis
zu den Aleuten-Eskimos untersucht wurden, ergab, dass Männer von höherem gesell-
schaftlichen Stand immer wohlhabender waren, mehr Ehefrauen hatten und ihre Kinder
besser versorgten (Betzig, 1986).
Eine weitere Studie untersuchte die kurzfristige und die langfristige Partnerwahl, um fest-
zustellen, welche Eigenschaften die Menschen an potentiellen Ehepartnern und im Ver-
gleich dazu an vorübergehenden Sexualpartnern schätzen (Buss & Schmitt, 1993). Die
Teilnehmer waren männliche und weibliche Studenten der Universität Michigan, eine
Gruppe, bei der die Partnerwahl sowohl als kurzfristige Entscheidung als auch als Ent-
scheidung für einen potentiellen Ehepartner eine Rolle spielte (Little, 1989). Einige hun-
dert Einzelpersonen bewerteten 67 Eigenschaften, indem sie angaben, wie erwünscht oder
unerwünscht diese bei kurzfristigen oder langfristigen Beziehungen seien, auf einer Skala
von –3 (extrem unerwünscht) bis +3 (extrem erwünscht). Frauen schätzten die Erfolgs-
wahrscheinlichkeit im Beruf und eine viel versprechende Karriere ihres potentiellen Ehe-
partners als sehr wünschenswert ein und bewerteten diese Merkmale mit jeweils +2,60 und
+2,70. Auffällig ist, dass Frauen diese Hinweise auf den zukünftigen sozialen Status des
Ehepartners als wünschenswerter einstuften als bei flüchtigen Sexualpartnern, die bei die-
sen Eigenschaften eine Bewertung von lediglich +1,10 bzw. +0,40 erhielten. Amerikani-
sche Frauen legen auch großen Wert auf Bildung und Berufsabschlüsse ihrer Partner –
Eigenschaften, die in engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Status stehen.
2.0
1.5
1.0
.5
Unwichtig 0
Brasilien West- Estland Taiwan USA
deutschland
N = 630 N = 1,083 N = 303 N = 566 N = 1,491
p < .0001 p < .0001 NS p < .0001 p < .0001
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 165
Nicht nur in Amerika oder in kapitalistischen Ländern legen Frauen großen Wert auf den
gesellschaftlichen Status ihrer Partner. In den allermeisten der 37 Kulturen, die die interna-
tionale Studie über die Partnerwahl untersuchte, bewerteten Frauen den sozialen Status
eines potentiellen Partners höher als Männer. Dies galt gleichermaßen für kommunistische
wie für sozialistische Länder, für Afrikaner und Asiaten, Katholiken und Juden, in den
südlichen Tropen und in nördlichen Breitengraden (Buss, 1989a). In Taiwan bewerteten
Frauen sozialen Status 63% höher als Männer, in Sambia lag der Wert bei Frauen um 30%
höher, in Westdeutschland waren es 38% und in Brasilien 40% (siehe Abbildung 4.4).
Hierarchien kommen in allen menschlichen Gemeinschaften vor und diejenigen, die in
der Hierarchie aufsteigen, neigen dazu, mehr Ressourcen anzuhäufen. Historisch gesehen
scheinen Frauen das Adaptationsproblem der Ressourcenbeschaffung teilweise dadurch
gelöst zu haben, dass sie Männer mit höherem Status bevorzugen. Die heute lebenden
Frauen stammen von diesen erfolgreichen Vorfahren ab und haben diese Partner-Präfe-
renz geerbt.
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166 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
+6
Männer
+5
Frauen
+4
Älter als
man selbst +3
+2
+1
0
–1
–2
–3
Jünger als
man selbst –4
–5
–6
–7
–8
Sambia Kolumbien Polen Italien USA
Um zu verstehen, warum Frauen ältere Partner vorziehen, müssen wir bedenken, welche
Dinge sich mit zunehmendem Alter verändern. Eine der zuverlässigsten Veränderungen
bezieht sich auf den Zugang zu Ressourcen. In unserer heutigen westlichen Gesellschaft
steigt das Einkommen normalerweise mit dem Alter an (Jencks, 1979). Doch diese Sta-
tustrends sind nicht nur in der westlichen Welt zu beobachten. Bei den Tiwi, einem poly-
gynen Stamm, haben die meisten Männer erst mit etwa 30 Jahren einen ausreichend
hohen sozialen Status erreicht, um ihre erste Frau heiraten zu können (Hart & Pilling,
1960). Selten hat ein Tiwi-Mann unter 40 einen so hohen sozialen Status erreicht, dass er
sich mehr als eine Frau „leisten“ kann. Über alle Kulturen hinweg hängt das Alter stark
mit Ressourcen und Status zusammen.
In traditionellen Gesellschaften beruht dieser Zusammenhang zum Teil auf körperlicher
Kraft und Jagdgeschick. Je älter ein junger Mann wird, desto mehr wächst seine körper-
liche Kraft, wobei diese mit Ende 20 bzw. Anfang 30 ihren Höhepunkt erreicht. Zwar gibt
es noch keine systematischen Studien über den Zusammenhang zwischen Alter und Jagd-
geschick, Anthropologen glauben jedoch, dass dieses bei einem Mann im Alter von etwa
35 Jahren seinen Höhepunkt erreicht, denn dann wird seine leicht abfallende körperliche
Kraft durch sein gesteigertes Wissen, seine größere Geduld, Weisheit und seine ausgereif-
ten Fähigkeiten mehr als kompensiert (Kim Hill, persönliches Gespräch, 1991). Also
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 167
könnte die weibliche Vorliebe für ältere Männer auf unsere Vorfahren, die Jäger und
Sammler, zurückgehen, für die ihre durch Jagen erworbenen Ressourcen überlebenswich-
tig waren.
In allen 37 untersuchten Kulturen zogen Frauen im Alter von 20 Jahren in der Regel Män-
ner als Ehepartner vor, die nur wenige Jahre älter waren als sie selbst, obwohl Männer den
Höhepunkt ihrer finanziellen Ressourcen erst mit über 40 oder 50 erreichen. Ein Grund
warum junge Frauen sich nicht bevorzugt sehr viel älteren Männer zuwenden, könnte
darin liegen, dass diese einem höheren Sterberisiko ausgesetzt sind und somit eventuell
nicht mehr zur Verfügung stehen, um für ihre Kinder zu sorgen und sie zu beschützen.
Außerdem könnte ein zu großer Altersunterschied zu Diskrepanzen und Streitigkeiten
führen und so die Gefahr einer Scheidung erhöhen. Aus diesen Gründen könnten junge
Frauen eher Männer bevorzugen, die nur wenige Jahre älter sind und eine viel verspre-
chende Zukunft haben, als wesentlich ältere Männer zu wählen, die zwar schon einen
höheren Status erreicht haben, deren Zukunft aber erheblich unsicherer ist.
All diese Hinweise – wirtschaftliche Ressourcen, gesellschaftlicher Status und Alter –
zielen auf ein und dasselbe ab: die Fähigkeit eines Mannes, Ressourcen anzuhäufen und
zu kontrollieren, die die Frauen unserer Vorfahren für sich und ihre Kinder nutzen konn-
ten. Der Besitz von Ressourcen allein reicht aber nicht aus. Frauen brauchen auch Män-
ner, deren Charaktereigenschaften sie dazu bringen, im Laufe der Zeit erhebliche Res-
sourcen anzuhäufen. Der Ehrgeiz eines Mannes ist eine dieser Eigenschaften.
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168 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Doch nicht nur in den Vereinigten Staaten oder der westlichen Welt zeigen Frauen Vorlie-
ben für ehrgeizige und fleißige Männer. In fast allen Kulturen schätzen Frauen im Ver-
gleich zu Männern den Wert von Ehrgeiz und Fleiß höher ein und bewerten ihn normaler-
weise als wichtig oder unerlässlich. In Taiwan beispielsweise bewerten Frauen Fleiß und
Ehrgeiz um 26% höher als Männer, in Bulgarien sind es 29% und in Brasilien gar 30%.
Dieses kulturübergreifende und geschichtlich überlieferte Material stützt die wichtige
evolutionstheoretisch motivierte These, dass Frauen eine Vorliebe für Männer entwickelt
haben, die alle Voraussetzungen aufweisen, um Ressourcen anzuhäufen, und dass sie
Männer meiden, denen der Ehrgeiz fehlt, der zur Ressourcenanhäufung oftmals notwen-
dig ist. Aufgrund dieser Vorliebe konnten die Frauen unserer Vorfahren das entscheidende
Adaptationsproblem der Ressourcensicherung lösen und außerdem die Wahrscheinlich-
keit zukünftiger Ressourcen einschätzen, wenn es keine direkten und offensichtlichen
Anzeichen für diese gab. Selbst wenn Ressourcen direkt und offensichtlich vorhanden
waren, so war der Fleiß und der Ehrgeiz eines Mannes ebenfalls ein guter Indikator dafür,
ob die Ressourcen in diesem Maße weiterhin zur Verfügung stehen würden. Die Befunde
weisen darauf hin, dass die heutigen Frauen von den Frauen abstammen, die gemäß eben
dieser Vorliebe handelten.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 169
wenn ihre Ehefrauen nur mit einem anderen Mann sprechen. Sie sind unselbständig und
bestehen darauf, sich all ihre Bedürfnisse von ihren Frauen erfüllen zu lassen. Sie neigen
zu verbalem und körperlichem Missbrauch. Sie lassen es an Aufmerksamkeit fehlen, sind
unpünktlich und auch launiger als ihre beständigeren Geschlechtsgenossen. Oft werden
sie ohne erkennbaren Grund laut. Sie haben überdurchschnittlich viele Affären, d.h. ihre
Zeit und Ressourcen werden noch zusätzlich in andere Kanäle gelenkt (Buss & Shackel-
ford, 1997). All dies zeigt, dass diese Männer die Zeit und Ressourcen ihrer Partner auf-
brauchen, ihre eigene Zeit und Ressourcen anderweitig einsetzen und eine beständige
Einteilung derselben vermissen lassen werden. Zuverlässigkeit und Stabilität sind persön-
liche Eigenschaften, die darauf schließen lassen, dass die von der Frau benötigten Res-
sourcen nicht vollends durch den Mann aufgebraucht werden.
Die Unberechenbarkeit emotional instabiler Männer ist aufwandsintensiv, denn sie blo-
ckiert Lösungen für entscheidende Adaptationsprobleme. Eine unzuverlässige Versor-
gung mit Ressourcen kann die Erreichung der notwendigen Ziele für Überleben und
Reproduktion ernsthaft gefährden. Gibt es plötzlich kein Fleisch, weil ein unberechenba-
rer, sprunghafter oder unbeständiger Mann sich in letzter Minute dazu entschließt, ein
Nickerchen zu machen, anstatt auf die Jagd zu gehen, bedeutet das für die Frau, dass Nah-
rung, auf die sie sich verlassen hatte, nicht zur Verfügung steht. Dadurch entstehen Prob-
leme. Ressourcen erweisen sich als am wertvollsten, wenn sie vorhersagbar sind. Unre-
gelmäßig zur Verfügung gestellte Ressourcen können verderben, wenn die Bedürfnisse,
für die sie bestimmt waren, bereits durch andere, kostspieligere Mittel gedeckt werden
mussten. Regelmäßig und vorhersagbar gelieferte Ressourcen können effektiver eingeteilt
und eingesetzt werden, um die vielen adaptiven Hürden zu meistern, die im täglichen
Leben auftauchen.
Frauen legen besonders großen Wert auf Zuverlässigkeit und emotionale Stabilität, damit
sie die Vorteile, die ihnen ein Partner bietet, langfristig und dauerhaft nutzen können. Zur
Zeit unserer Vorfahren hatten Frauen, die sich für stabile, zuverlässige Partner entschie-
den, größere Chancen, von diesem Partner dauerhaft brauchbare Ressourcen zu erhalten,
die sie für sich und ihre Kinder einsetzen konnten. Frauen, die diese kluge Entscheidung
trafen, vermieden einen Großteil des zusätzlichen Aufwandes, der von unzuverlässigen
und instabilen Männern verursacht wurde.
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170 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Schläge helfen dem Weibchen, zu beurteilen, wie erfolgreich das Männchen ihre Brut
verteidigen wird. Der Schlagtest offenbart die körperliche Fähigkeit des Männchens zur
Verteidigung.
Frauen sehen sich oft der körperlichen Überlegenheit größerer, stärkerer Männer ausge-
setzt, was zu Verletzungen und sexueller Dominanz führen kann. Auch zur Zeit unserer
Vorfahren sind solche Konstellationen mit gewisser Regelmäßigkeit aufgetreten. Einige
Studien über nicht menschliche Primatengruppen zeigen sogar, dass die körperliche und
sexuelle Dominanz der männlichen über die weiblichen Gruppenmitglieder bei unseren
Vorfahren immer wieder auftauchte. Die Primatologin Barbara Smuts lebte eine Zeit lang
bei den Pavianen der afrikanischen Savanne und untersuchte dabei auch ihr Paarungsver-
halten (Smuts, 1985). Sie fand heraus, dass viele Weibchen dauerhafte „spezielle Freund-
schaften“ zu Männchen aufbauten, die sie und ihre Kinder beschützten. Dafür gewährten
die Weibchen ihren „Freunden“ während ihrer Paarungsbereitschaft bevorzugten sexuel-
len Zugang. Im Grunde tauschten die Weibchen also Sex gegen Schutz.
Analog dazu ist der körperliche Schutz einer der Vorteile, den eine Frau aus einer lang-
fristigen Partnerschaft mit einem Mann ziehen kann. Die Größe, Stärke, körperliche
Beschaffenheit und athletische Fähigkeit eines Mannes sind Hinweise auf seine Fähigkei-
ten, die Partnerin und die Kinder zu beschützen. Es zeigt sich, dass die weiblichen Präfe-
renzen bei der Partnerwahl eben diese Hinweise widerspiegeln. In der Studie über vor-
übergehende und langfristige Partnerschaften bewerteten amerikanische Frauen eine
Reihe körperlicher Eigenschaften. So waren kleine Männer für sie weder lang- noch kurz-
fristig wünschenswerte Partner (Buss & Schmitt, 1993). Im Gegensatz dazu war es den
Frauen sehr wichtig, dass ein potentieller Ehepartner groß, körperlich stark und athletisch
war. Auf einer Bewertungsskala von –3 (extrem unerwünscht) bis +3 (extrem erwünscht)
bewerteten sie die Eigenschaft „körperlich stark“ mit 1,50 (zwischen „ziemlich
erwünscht“ und „sehr erwünscht“), Männer dagegen bewerteten diese Eigenschaft nur
mit 0,87 – ein deutlicher Unterschied.
Eine andere Gruppe amerikanischer Frauen zeigte eine beständige Präferenz für Männer
von durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Größe, etwa 1,80 m, als ideale Ehepart-
ner. Große Männer werden in der Regel kleinen und durchschnittlich großen Männern
vorgezogen – sowohl als kurzfristige wie auch als langfristige Partner (Ellis, 1992). Die
zwei bereits erwähnten Studien über Kontaktanzeigen zeigten außerdem, dass sich 80%
der Frauen, die die Körpergröße in ihren Anzeigen erwähnt hatten, einen Partner wünsch-
ten, der mindestens 1,80 m groß sein sollte (Cameron, Oskamp & Sparks, 1978). Noch
aufschlussreicher ist hier die Erkenntnis, dass die Anzeigen, die von großen Männern
geschaltet wurden, mehr Beachtung fanden, als Anzeigen von kleineren Männern (Lynn
& Shurgot, 1984). Große Männer gehen häufiger aus als kleinere Männer und haben
somit auch eine größere „Auswahl“ möglicher Partnerinnen. Frauen lösen das Problem,
sich vor aggressiven Männern schützen zu müssen, zumindest teilweise dadurch, dass sie
einen Partner vorziehen, der sie aufgrund seiner Größe, Stärke und körperlichen Fähig-
keiten beschützen kann.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 171
Diese Vorlieben finden sich nicht nur in westlichen Kulturen. Der Anthropologe Thomas
Gregor (1985) fand heraus, dass beim Stamm der Mehinaku im brasilianischen Amazo-
nasgebiet die kämpferischen Fähigkeiten der Männer ein ausschlaggebendes Kriterium
sind:
Ein muskulöser, gut gebauter Mann wird wahrscheinlich viele Freundinnen haben,
während es für einen kleinen Mann, der abwertend peristsi genannt wird, in dieser
Hinsicht schlecht aussieht. Allein die Körpergröße stellt schon einen messbaren
Vorteil dar. … Ein mächtiger Kämpfer, so die Dorfbewohner, ist furchterregend. …
Er flößt Angst und Respekt ein. Für die Frauen ist er als Liebhaber und Ehemann
„wunderschön“ (awitsiri). Der beste Kämpfer triumphiert sowohl in der Politik
als auch in der Liebe und verkörpert die besten Eigenschaften der Männlichkeit.
Den Besiegten ergeht es dagegen schlecht. Verliert ein Mann mehrmals hinterein-
ander einen Kampf, betrachtet man ihn als Dummkopf, gleichgültig welche ande-
ren Tugenden er besitzen mag. Wenn er kämpft, rufen ihm die anderen Männer
spöttisch Ratschläge zu. … Die Frauen sind weniger zu hören, denn sie beobach-
ten die Kämpfe von ihrer Türschwelle aus. Doch auch sie tauschen sarkastische
Bemerkungen aus. Keine ist stolz darauf, einen Verlierer zum Ehemann oder
Geliebten zu haben (S. 35, 96).
Barbara Smuts glaubt, dass im Laufe der evolutionären Geschichte der körperliche Schutz
zu den wichtigsten Dingen gehört hat, die ein Mann einer Frau bieten konnte. Aggressive
Männer, die die Frauen körperlich beherrschen und ihnen ihre sexuelle Entscheidungs-
freiheit nehmen wollten, werden zur Zeit unserer Vorfahren einen starken Selektions-
druck auf die Frauen ausgeübt haben. Angesichts der alarmierenden Häufigkeit von sexu-
eller Nötigung und Vergewaltigung in manchen Kulturen könnte die Schutzfunktion des
Partners auch in der modernen Umwelt noch eine bestimmende evolutionäre Kraft blei-
ben. Viele Frauen fühlen sich alleine auf der Straße nicht sicher und ein großer, starker,
athletisch gebauter Partner schreckt andere sexuell aggressive Männer ab. Der Evolu-
tionspsychologe Nigal Barber fasst die Hinweise auf die weiblichen Präferenzen wie folgt
zusammen: „Merkmale des männlichen Körperbaus wie etwa Körpergröße, breite Schul-
tern und ein muskulöser Oberkörper wirken auf Frauen sexuell anziehend und auf andere
Männer einschüchternd.“ (Barber, 1995, S. 406).
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172 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
gefährdet wären. Viertens könnte ein kranker Partner gemeinsame Kinder anstecken, und
so ihre Chancen auf Überleben und Reproduktion mindern. Wenn Gesundheit fünftens
teilweise vererbbar ist, kann eine Person, die sich einen nicht gesunden Partner aussucht,
Gefahr laufen, dass bestimmte Gene, die die Gesundheit beeinträchtigen, an ihre Kinder
weitergegeben werden. Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, dass sowohl
Frauen als auch Männer die Gesundheit eines potentiellen Partners als extrem wichtig
einschätzen.
In der Studie der 37 Kulturen schätzten Frauen und Männer gleichermaßen einen „guten
Gesundheitszustand“ als sehr wichtig ein. Auf der Skala von 0 (irrelevant) bis +3 (uner-
lässlich) gaben Frauen diesem Kriterium durchschnittlich eine 2,28 und Männer eine 2,31
(Buss et al., 1990). Im Rahmen weiterer Auswertungen wurden die Teilnehmer gebeten,
13 Eigenschaften von der wichtigsten (1) bis zur unwichtigsten (13) zu bewerten. Dabei
setzten Männer und Frauen „gesund“ durchschnittlich auf den vierten Rang. Diese Eigen-
schaft wurde nur noch von „freundlich und verständnisvoll“ (1), „intelligent“ (2) und
„interessante Persönlichkeit“ (3) übertroffen.
Auch in der Tierwelt wird sehr viel Wert auf eine gute Gesundheit gelegt. Manche Arten
stellen große, laute und auffällige Verhaltensweisen zur Schau, die zwar kraftraubend
sind, aber gleichzeitig Gesundheit und Vitalität signalisieren. Betrachten wir das schil-
lernd bunte Federkleid des Pfaus. Man ist heute nahe daran, das Geheimnis des Pfauen-
schwanzes, der eigentlich das Überleben zu behindern scheint, zu lösen. Einige Forscher
meinen, dass die bunten Federn von Pfauen und anderen Vögeln darauf hindeuten, dass
ihr Parasitenbefall gering ist (Hamilton & Zuk, 1982). In der Tat zeigt es sich, dass Pfaue
mit blasseren Schwanzfedern tatsächlich stärker von Parasiten befallen sind. Weibliche
Pfaue scheinen also ein leuchtenderes Federkleid zu bevorzugen, da es ein zuverlässiger
Hinweis auf einen gesunden Partner ist.
Randy Thornhill, Steve Gangestad, Karl Grammer, Todd Shackelford, Randy Larsen und
andere Wissenschaftler haben einen wichtigen körperlichen Hinweis auf stabile Gesund-
heit entdeckt: die Symmetrie des Gesichts und des Körpers (Gangestad & Thornhill,
1997; Grammer & Thornhill, 1994; Shackelford & Larsen, 1997; Thornhill & Moeller,
1997). Ihrer evolutionären Argumentation gemäß verursachten verschiedene äußerliche
Einflüsse und genetische Stressfaktoren Abweichungen in der bilateralen Symmetrie, so
dass ungleichmäßige Gesichter und Körper entstanden. Einige Individuen halten diesen
Einflüssen und Stressfaktoren besser stand als andere – sie zeigen also Entwicklungssta-
bilität. Sind Gesicht und Körper also symmetrisch, so ist dies ein wichtiger Hinweis auf
die Gesundheit eines Menschen, denn dies reflektiert seine Fähigkeit, äußeren Einflüssen
und genetischen Stressfaktoren standzuhalten. Dieser Hypothese zufolge entwickelten
Frauen deshalb eine Vorliebe für Männer, die körperliche Symmetrie aufweisen. Eine sol-
che Symmetrie würde zum einen die Chancen erhöhen, dass der Mann dauerhaft zur Ver-
fügung stünde und investierte und außerdem keine Krankheiten an seine Kinder weiter-
gäbe. Zum andern könnte sie auch direkte positive Auswirkungen genetischer Natur
haben. Indem sie sich einen Mann mit symmetrischem Körperbau aussucht, könnte die
Frau höherwertiges Genmaterial wählen, das dann an ihre Kinder weitergegeben wird.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 173
Die meisten Frauen finden Männer mit symmetrischen Gesichtszügen wie die des Schauspielers
Denzel Washington (links) attraktiver als Männer mit asymmetrischen Gesichtern wie das des Musi-
kers und Schauspielers Lyle Lovett (rechts). Einer Hypothese zufolge ist Symmetrie ein Hinweis auf
geringen Parasitenbefall, genetische Resistenz gegen diese oder auf relativ geringe äußere Einflüsse
während der Entwicklung.
Ein weiterer Hinweis auf gute Gesundheit könnte in den männlichen Gesichtszügen lie-
gen. Durchschnittsgesichter von erwachsenen Männern und Frauen unterscheiden sich in
einigen grundlegenden Punkten voneinander. Männer haben meist einen längeren, kräfti-
geren Unterkiefer, stärker geschwungene Augenbrauen und ausgeprägtere Wangenkno-
chen, was in der Hauptsache auf männliche Hormone wie etwa Testosteron zurückzufüh-
ren ist. Victor Johnston entwickelte mit seinen Kollegen ein ausgefeiltes experimentelles
Instrument, mit dem er diese Merkmale in einem QuickTime-Film bestehend aus 1.200
Einzelbildern manipulieren konnte (Johnston, Hagel, Franklin, Fink & Grammer, 2001).
Mithilfe dieses Computerprogramms ist es möglich, einen multidimensionalen Raum mit
hunderten von Gesichtern zu durchsuchen, die sich in ihrer Männlichkeit, Weiblichkeit
oder in anderen Merkmalen unterscheiden. Die Teilnehmer bewegen sich mit Schiebereg-
ler und Knöpfen durch die 1.200 Bilder des Films auf der Suche nach dem Bild, das der
gewünschten Zielvorgabe entspricht, z.B. „attraktivstes Gesicht für einen langfristigen
Partner“. Untersucht wurden 42 Frauen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, die keine
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174 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
oralen Verhütungsmittel nahmen – wobei die Forscher auch erhoben, an welchem Zeit-
punkt in ihrem Menstruationszyklus sich die Frauen befanden.
Johnston und seine Kollegen machten eine wichtige Entdeckung: Alle Frauen, gleichgül-
tig an welchem Punkt ihres Menstruationszyklus sie sich befanden, bevorzugten sehr
männlich wirkende gegenüber eher durchschnittlichen Gesichtern. Warum aber wirken
maskulin aussehende Männer auf Frauen so attraktiv? Johnston argumentiert, dass männ-
liche Gesichtszüge ein Zeichen für gute Gesundheit sind. Es ist bekannt, dass eine hohe
Testosteronproduktion das menschliche Immunsystem belastet. Johnston zufolge können
sich nur gesunde Männer solch hohe Testosteronwerte während ihrer Entwicklung „leis-
ten“. Weniger gesunde Männer müssen die Testosteronproduktion unterdrücken, wenn sie
ihr bereits geschwächtes Immunsystem nicht zusätzlich gefährden wollen. Folglich pro-
duzieren gesunde Männer mehr Testosteron, was sie markiger und männlicher aussehen
lässt. Trifft Johnstons Hypothese zu, so ist die weibliche Präferenz für maskuline Gesich-
ter nichts anderes als eine Präferenz für gesunde Männer.
Einen Beleg für diese Aussage fand Johnston selbst, als er den QuickTime-Film nochmals
ablaufen ließ und die Frauen bat, dieses Mal das Gesicht herauszusuchen, das ihnen am
„gesündesten“ erschien. Die Gesichter, die sie aussuchten, waren nicht von denen zu
unterscheiden, die sie zuvor bei der Wahl des „attraktivsten Gesichts“ angaben. Dies
spricht dafür, dass Frauen deshalb eine maskuline Erscheinung vorziehen, weil diese
Gesundheit signalisiert.
Zusammenfassend gibt es mehrere Hinweise, die belegen, wie wichtig die Gesundheit bei
der Partnerwahl der Frau ist. In allen 37 Kulturen drückten die Frauen ihren Wunsch nach
einem gesunden langfristigen Partner aus; Frauen empfinden bei Männern symmetrische
Gesichtszüge, die erwiesenermaßen auf Gesundheit hindeuten, als attraktiv; Frauen
bevorzugen Männer mit maskulinen Gesichtszügen, welche ebenfalls als gesund empfun-
den werden. Gesundheit ist zweifellos deshalb ein so wichtiger Faktor, weil er bei der
Partnerwahl sowohl auf die Umwelt bezogen als auch genetisch gesehen viele Vorteile
bringt: längeres Leben, zuverlässigere Versorgung, geringere Wahrscheinlichkeit anste-
ckender Krankheiten und bessere Gene, die an die Kinder weitergegeben werden können.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 175
In den Sozialwissenschaften gilt „Liebe“ im Allgemeinen als relativ neue Erfindung, die
erst vor einigen hundert Jahren von romantischen Europäern eingeführt wurde (Janko-
viak, 1995). Das bedeutet, dass die Liebe ein lokal entstandenes Produkt der westlichen
Kultur ist und in anderen Kulturen weit weg vom europäischen Einfluss nicht zu finden
sein wird. Neuere Studien belegen allerdings, dass diese konventionelle Sichtweise
grundlegend falsch ist. Forschungsergebnisse belegen, dass Menschen aller Kulturen
weltweit Gedanken, Gefühle und Taten der Liebe erfahren – von den Zulu an der Süd-
spitze Afrikas bis zu den Eskimos in der Eiswüste Alaskas. In einer Studie über 168
unterschiedliche Kulturen rund um die Welt untersuchten die Anthropologen William
Jankowiak und Edward Fisher vier Quellen für die Existenz von Liebe: das Singen von
Liebesliedern, Liebende, die gegen den Willen ihrer Eltern durchbrennen, kulturelle
Informationsträger, die von persönlichem Schmerz und der Sehnsucht nach einem gelieb-
ten Menschen berichten und volkskundliche Hinweise auf romantische Verbindungen.
Anhand dieser Phänomene konnten die Wissenschaftler die Existenz von Liebe in 88,5%
der untersuchten Kulturen nachweisen (Jankowiak, 1995; Jankowiak & Fischer, 1992).
Die Soziologin Sue Sprecher befragte zusammen mit ihren Kollegen 1.667 Männer und
Frauen aus Russland, Japan und den USA und ermittelte, dass zu diesem Zeitpunkt 61%
der russischen Männer und 73% der russischen Frauen verliebt waren (Sprecher, Aron,
Hatfield, Cortese, Potapova & Levitskya, 1994). Bei den Japanern lagen die Vergleichs-
zahlen bei 41% der Männer und 63% der Frauen. In dem USA gaben 53% der Männer
und 63% der Frauen an, zurzeit verliebt zu sein. Das Phänomen der Liebe gibt es also
offensichtlich nicht nur in Amerika oder der westlichen Welt.
Um genau zu bestimmen, was Liebe ist und wie sie mit der Bindungsbereitschaft zusam-
menhängt, untersuchte eine Studie bestimmte Liebeshandlungen (Buss, 1988a). Handlun-
gen, die einen Bindungswillen ausdrücken, stehen sowohl bei Männern als auch bei
Frauen ganz oben auf der Liste der Dinge, die Liebe ausmachen. Beispiele für solche
Handlungen sind das Aufgeben romantischer Beziehungen zu anderen, Gespräche über
Heirat und der ausdrückliche Wunsch, mit dem Partner Kinder zu haben. Macht ein Mann
all diese Dinge, so zeigt das seine Bereitschaft, seine Ressourcen einer Frau und ihren
zukünftigen Kindern zukommen zu lassen.
Der Wille, eine feste Bindung einzugehen, hat allerdings viele Facetten, die darauf hin-
deuten, dass Ressourcen auf unterschiedliche Weise geteilt werden können. Ein wichtiger
Gesichtspunkt einer langfristigen Bindung ist die Treue, die darin besteht, dass man
einem Partner auch dann treu bleibt, wenn man nicht physisch mit ihm zusammen ist.
Treue signalisiert die exklusive Bindung aller sexuellen Ressourcen an einen einzigen
Partner. Ein weiterer Aspekt des Bindungswillens ist die Aufwendung von Ressourcen
für den geliebten Partner, z.B. in Form eines teuren Geschenks. Handlungen wie diese
signalisieren die ernsthafte Absicht, sich langfristig an einen Partner zu binden. Emotio-
nale Unterstützung ist ein weiterer Gesichtspunkt, der für den Bindungswillen entschei-
dend ist. Sie zeigt sich, wenn man seinem Partner in schwierigen Zeiten zur Seite steht
und seine Probleme mit ihm teilt. Hier bedeutet Bindung, dass man den Bedürfnissen des
Partners Zeit, Energie und Anstrengungen widmet, die man folglich für die Verfolgung
eigener Ziele nicht mehr zur Verfügung hat. Reproduktionshandlungen stellen ebenfalls
ein direktes Engagement für die Reproduktion des Partners dar. All diese Aktivitäten, die
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176 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
als grundlegende Bestandteile der Liebe angesehen werden, signalisieren die Bindung
sexueller, wirtschaftlicher, emotionaler und genetischer Ressourcen an einen Partner.
Da Liebe ein weltweites Phänomen ist und eine Hauptfunktion von Liebeshandlungen
darin besteht, Bindungsbereitschaft zu signalisieren, ist zu erwarten, dass Frauen bei der
langfristigen Partnerwahl sehr großen Wert auf die Liebe legen. Um herauszufinden, ob
dies auch zutrifft, befragten Sue Sprecher und ihre Kollegen amerikanische, russische und
japanische Studenten, ob sie jemanden heiraten würden, der alle Qualitäten besaß, die sie
sich bei einem Partner wünschten, auch wenn sie in diese Person nicht verliebt wären
(Sprecher et al., 1994). Ganze 89% der Amerikanerinnen und 82% der Japanerinnen
gaben an, dass eine Ehe ohne Liebe für sie nicht möglich sei, auch wenn alle anderen Kri-
terien erfüllt seien. In Russland würden 59% aller Frauen einen Mann, den sie nicht lie-
ben, nicht heiraten, gleichgültig ob er allen anderen Wunschvorstellungen entspräche.
Also ist für die Mehrzahl aller Frauen in diesen drei Kulturen die Liebe eine unerlässliche
Voraussetzung für eine Heiratsentscheidung.
Die internationale Studie über die Partnerwahl bestätigte die zentrale Bedeutung der
Liebe in allen Kulturen. Es stellte sich heraus, dass von 18 Eigenschaften gegenseitige
Anziehung oder Liebe bei einem potentiellen Partner von beiden Geschlechtern als am
wichtigsten eingestuft wurde, wobei Frauen dieses Kriterium mit 2,87 und Männer mit
2,81 bewerteten (Buss et al., 1990). Fast alle Frauen und Männer, von den abgeschieden
lebenden Stämmen Südafrikas bis hin zu den lebendigsten Städten Brasiliens, gaben der
Liebe die höchste Wertung, was zeigt, dass sie ein unerlässlicher Bestandteil der Ehe ist.
Da die Frau wesentlich mehr in das Gebären und Aufziehen von Kindern investiert, hat
sie bei unüberlegtem Geschlechtsverkehr auch mehr zu verlieren. Indem sie bei einer
Beziehung die Liebe unbedingt voraussetzt, sichert sie sich auch eine langfristige Res-
sourcenversorgung, die dem Wert der von der Frau investierten Ressourcen entspricht.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 177
Bilder zusammen, die Männer in verschiedenen Situationen zeigten: (1) ein Mann, der
alleine steht; (2) ein Mann, der sich mit einem 18 Monate alten Kind befasst, es anlächelt,
ansieht und es berührt; (3) ein Mann, der das weinende Kind ignoriert; (4) ein Mann und
ein Kind blicken geradeaus (neutrale Situation); und (5) ein Mann, der im Wohnzimmer
Staub saugt. In allen Situationen waren dieselben Personen zu sehen.
240 Frauen betrachteten diese Bilder und gaben anschließend an, als wie attraktiv sie den
Mann auf jedem Bild als potentiellen Begleiter für eine Verabredung, als Sexualpartner,
als Ehepartner, als Freund und als Nachbarn empfanden. Die Bewertungsskala reichte
von –5 (sehr unattraktiv) bis +5 (sehr attraktiv). Die Bewertung der Männer als potentielle
Partner lieferte einige überraschende Ergebnisse. Zum einen empfanden die Frauen den
Mann, der sich mit dem Kind beschäftigte, als eindeutig attraktiver als Ehepartner
(Durchschnittsbewertung 2,75) als den Mann, der allein auf dem Bild zu sehen ist (2,0)
oder neutral neben dem Kind steht (2,0). Zum zweiten empfanden die Frauen den Mann,
der das weinende Kind ignorierte, eher unattraktiv als Ehepartner (1,25), gaben ihm sogar
die schlechteste Bewertung überhaupt. Zum dritten löste das Bild des Mannes, der eine
Vorliebe für Hausarbeit zeigte, nicht die gleichen positiven Empfindungen aus wie das
Bild des Mannes, der sich positiv mit dem Kind beschäftigte. Die Frauen fanden den
Staub saugenden Mann z.B. weniger attraktiv (1,3) als den Mann, der einfach nur alleine
dastand und nichts tat (2,0). La Cerra schloss aus dieser Studie, dass „die weibliche
Bewertung der Attraktivität eines Mannes als potentiellem Partner durch Hinweise auf
Zuneigung zu Kindern gesteigert und durch Hinweise auf Gleichgültigkeit gegenüber lei-
denden Kindern verringert wird“ (La Cerra, 1994, S. 67).
La Cerra fand heraus, dass Frauen einen Mann als sehr viel attraktiver empfanden, der sich auf positive
Weise mit einem Kind befasste, wodurch sie ihre Präferenz für Männer zeigten, die bereit sind, in
Kinder zu investieren. Vergleichbare Fotos, die Frauen zeigten, die ein Baby entweder ignorierten oder
sich positiv mit ihm befassten, beeinflussten die Bewertungen der Männer bezüglich der Attraktivität
der Frauen dagegen nicht.
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178 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Diese Studie legt nahe, dass sich Frauen bevorzugt für Ehepartner entscheiden, die bereit
sind, in Kinder zu investieren. Zeigen aber nun alle Menschen generell eine Vorliebe für
Ehepartner, die ihre Bereitschaft signalisieren, in Kinder zu investieren, oder haben nur
Frauen diese Präferenz? La Cerra befasste sich mit diesem Thema in einer weiteren Stu-
die, indem sie nun Fotos von Frauen zeigte, die von Männern bewertet werden sollten.
Diesmal wurden Frauen in ähnlichen Situationen gezeigt wie zuvor die Männer – alleine,
in einer positiven Interaktion mit einem Kind, ein weinendes Kind ignorierend, neutral
und Staub saugend. Parallel zur ersten Studie bewerteten nun 240 männliche Studenten
die Attraktivität einer jeden Frau als Ehepartnerin, Sexualpartnerin, als Partnerin für eine
Verabredung etc.
Die Bewertungen der Männer unterschieden sich grundlegend von den Bewertungen der
Frauen. Männer empfanden die alleine stehende Frau als ebenso attraktiv (Durchschnitts-
bewertung 2,70) wie die Frau, die sich positiv mit dem Kind beschäftigte (2,70). Tatsäch-
lich führten die unterschiedlichen Situationen nicht zu unterschiedlichen Bewertungen
der Attraktivität der Frauen als potentielle Partnerinnen. Es spielte keine Rolle, ob die
Frauen das Kind ignorierten, neben ihm standen, den Teppich saugten oder sich positiv
mit dem Kind auseinandersetzten. In allen Situationen beurteilten die Männer die Frauen
als gleich attraktiv.
Kurz gesagt scheinen Frauen eine spezielle Präferenz für Männer zu besitzen, die die
Bereitschaft zeigen, in Kinder zu investieren, was aber umgekehrt so nicht zutrifft. Per-
sönlich machte La Cerra die Beobachtung, dass ein Katalysator ihrer Forschungsarbeit
die Reaktion auf ein Poster eines attraktiven Mannes war, der ein Baby im Arm hielt –
dieses Poster weckte ihr Interesse und erwies sich auch als erfolgreiche Marketingstrate-
gie für weibliche Zielgruppen (La Cerra, 1994, S. 87). Zur Zeit unserer Vorfahren waren
Frauen, die sich nicht an der Bereitschaft eines Mannes orientierten, in Kinder zu inves-
tieren, den Frauen gegenüber im Nachteil, die entsprechende Hinweise bemerkten und
danach handelten.
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180 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
lichen Status hat, intelligent, groß, unabhängig und selbstbewusst ist. Das eigene Einkom-
men der Frauen wies eine positive Korrelation mit dem Einkommen eines für sie idealen
Partners (+.31), mit dem Wunsch nach einem Partner mit Universitätsabschluss (+.29)
und mit dem Wunsch nach einem Partner mit einem angesehenem Beruf (+.35) auf,
wobei alle Ergebnisse statistisch signifikant waren. Im Gegensatz zur Hypothese der
struktureller Machtlosigkeit zeigten diese Frauen sogar eine noch stärkere Präferenz für
gut verdienende Männer als Frauen, die finanziell weniger erfolgreich waren.
Die Psychologen Michael Wiederman und Elizabeth Allgeier ermittelten in einer weite-
ren Studie, dass Hochschulstudentinnen, die davon ausgehen, nach dem Studium sehr viel
zu verdienen, größeren Wert auf eine viel versprechende finanzielle Zukunft eines mögli-
chen Ehemannes legen als Frauen, die damit rechnen, weniger zu verdienen. Frauen, die
karriereorientierte Berufe wählen, z.B. Medizin- oder Jurastudentinnen, legen auch größ-
ten Wert auf die Fähigkeit ihres Partners, ein hohes Einkommen zu erzielen (Wiederman
& Allgeier, 1992). Außerdem schätzen Männer, die über geringe finanzielle Ressourcen
und geringen Status verfügen, die wirtschaftlichen Ressourcen eines Partners nicht höher
ein als finanziell erfolgreiche Männer (Townsend, 1989). All diese Ergebnisse zusam-
mengenommen liefern nicht nur kaum Belege für die Hypothese der strukturellen Macht-
losigkeit, sie widerlegen sie geradezu.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 181
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182 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Beide Forscherteams werten diese Effekte als eine Untermauerung der Hypothese der
„guten Gene“. Wenn bei einer Frau die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass sie
schwanger wird, fühlt sie sich besonders zu Männern hingezogen, deren Gesichter vom
Testosteron „gezeichnet“ sind, denn dies kann auf ein gesundes Immunsystem hindeuten.
Eine weitere Verlagerung im Laufe des weiblichen Zyklus bezieht sich auf den Geruchs-
sinn der Frau. Frauen können nicht nur generell besser riechen als Männer, ihr Geruchs-
sinn ist kurz vor oder während des Eisprungs am schärfsten. Könnte dahinter eine evolu-
tionsbedingte Funktion stecken? Steve Gangestad und Randy Thornhill baten Männer, die
unterschiedlich symmetrische Gesichtszüge aufwiesen, dasselbe T-Shirt zwei Nächte lang
zu tragen, ohne sich zu duschen oder Deodorant zu benutzen (Thornhill & Gangestad,
1999). Sie wiesen die Männer außerdem an, keine scharfen Speisen – z.B. Peperoni,
Knoblauch, Zwiebeln etc. – zu essen. Zwei Tage später holten sie die T-Shirts ab und leg-
ten sie im Labor Frauen vor, die daran riechen sollten. Diese bewerteten jedes T-Shirt
nach seinem Geruch. Die Frauen kannten weder den Zweck der Studie, noch die Männer,
die die T-Shirts getragen hatten. Das faszinierende Ergebnis war, dass die Frauen den
Geruch der T-Shirts von Männern mit symmetrischen Gesichtszügen als angenehmer
(oder für manche weniger unangenehm!) empfanden. Dies war jedoch nur der Fall, wenn
die Frauen sich gerade in der Eisprung-Phase ihres Zyklus befanden. Für empfängnis-
bereite Frauen riechen also Männer mit symmetrischen Gesichtszügen sexy – zumindest
eher als diejenigen Männer mit weniger symmetrischen Gesichtern. Diese Ergebnisse
werden unabhängig voneinander von Forschern anderer Kulturen bestätigt (Rikowski &
Grammer, 1999). Zukünftige Forschungsprojekte werden wohl weitere wichtige Funktio-
nen des Körpergeruchs in Bezug auf die menschliche Partnerwahl aufdecken, auch wenn
diese Auswirkungen in unserer modernen Gesellschaft sehr abgeschwächt auftreten, wo
man täglich badet und den eigenen Körpergeruch mit Deodorants überdeckt.
Zusammenfassend konnte man also zwei wichtige Kontexteffekte im Zusammenhang mit
dem Menstruationszyklus der Frau feststellen. Sind Frauen empfängnisbereit, verlagert
sich ihre Präferenz auf maskuliner aussehende Gesichter und sie empfinden den Geruch
von Männern attraktiver, die symmetrische Gesichtszüge aufweisen. Beide Verschiebun-
gen könnten auf Adaptationen hinweisen, die bewirken sollen, dass Frauen von gesünde-
ren Männern geschwängert werden.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 183
Penton-Voak, Burt & Perrett, 2002). Die eigene Bewertung ihrer Attraktivität hing eng
mit der Vorliebe für maskuline Gesichter zusammen: Beide Variablen wiesen eine Korre-
lation von +0,32 auf. In einer separaten Studie, bei der 900 Frauen untersucht wurden,
fanden dieselben Forscher heraus, dass Frauen, die sich selbst als attraktiv empfanden,
gleichzeitig eine ausgeprägte Vorliebe für symmetrische männliche Gesichter zeigten.
Bei einer wichtigen Gegenprobe konnten die Forscher eine solche Verbindung zwischen
der selbst empfundenen Attraktivität und einer Vorliebe für symmetrische weibliche
Gesichter nicht feststellen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Präferenzverlagerung in
Bezug auf männliche Gesichter nicht auf die Bewertung der Attraktivität allgemein
zurückgeführt werden kann, sie scheint nur für die Partnerwahl spezifisch zu sein.
Kürzlich durchgeführte Untersuchungen von Kontaktanzeigen in Kanada, Amerika und
Polen zeigten, dass Frauen, die einen höheren Partnerwert hatten – die also jung und kör-
perlich attraktiv waren – auch eine längere Liste von Charakterzügen angaben, die sie bei
einem potentiellen Partner bevorzugten oder erwarteten. Bei Frauen mit geringerem Part-
nerwert war auch diese Liste kürzer (Pawlowski & Dunbar, 1999a; Waynforth & Dunbar,
1995). Zu fast identischen Ergebnissen kam man in Brasilien (Campos, Otta & Siqueira,
2002) und Japan (Oda, 2001). Darüber hinaus zeigten mehrere Studien, bei denen Frage-
bögen zum Einsatz kamen, dass Frauen, die ihren eigenen Partnerwert höher einschätz-
ten, auch bei ihren Erwartungen an einen langfristigen Partner höhere Mindeststandards
ansetzten, insbesondere was bestimmte Eigenschaften wie gesellschaftlichen Status,
Intelligenz und Familiensinn betraf (Regan, 1998).
Betrachtet man all diese Studien zusammen, so laufen sie alle auf die gleiche Schlussfol-
gerung hinaus: Frauen mit höherem Partnerwert bevorzugen und suchen Männer, die
ebenfalls einen höheren Partnerwert haben, welcher sich in ihrer Maskulinität, ihren sym-
metrischen Gesichtszügen sowie all den anderen Kriterien ausdrückt, die einen Mann
attraktiv machen.
Zusammenfassend wurden also vier spezielle Situationen untersucht, die sich auf die
weiblichen Präferenzen auswirken. Dabei geht es zunächst um den Zugang der Frau zu
monetären Ressourcen. Im Gegensatz zur Hypothese struktureller Machtlosigkeit schei-
nen Frauen, die selbst über mehr Ressourcen verfügen, hohes Einkommen und eine gute
Ausbildung bei einem potentiellen Ehemann höher – nicht geringer – zu bewerten. Der
zweite Kontext bezieht sich auf die zeitliche Dimension einer Beziehung. Mehrere Stu-
dien zeigen, dass Frauen bei der Wahl eines möglichen Ehemannes charakterliche Stär-
ken höher bewerten als gutes Aussehen. Eigenschaften wie Loyalität, Zuverlässigkeit und
Freundlichkeit sind ihnen wichtiger als Attraktivität.
Der dritte Faktor, der die weiblichen Partnervorlieben beeinflusst, ist der Menstruations-
zyklus. Sind Frauen empfängnisbereit, so bevorzugen sie Bilder von maskuliner aus-
sehenden Männern und Gerüche von Männern, die symmetrische Gesichtszüge haben –
beides Hinweise auf eine gute Gesundheit. Ein vierter Faktor ist der Partnerwert der Frau
selbst. Frauen mit einem höherem Partnerwert bevorzugen eher als andere Frauen masku-
lin und symmetrisch aussehende Männer und suchen in Kontaktanzeigen nach einer Viel-
zahl unterschiedlicher Charakterzüge bei einem potentiellen Partner.
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184 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Ein fünfter Faktor, der kürzlich erforscht wurde, ist die geografische Position. Frauen, die
in dicht besiedelten Städten leben oder in Städten mit hohen Lebenshaltungskosten, stel-
len in ihren Kontaktanzeigen höhere Ressourcen-Anforderungen an einen potentiellen
Partner (McGraw, 2002). All diese situationsbedingten Auswirkungen zeigen, dass die
Partnerpräferenzen der Frau von Adaptationen geprägt sind, denn sie zielen speziell dar-
auf, die komplexen adaptiven Probleme bei der Partnerwahl zu lösen.
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 185
Einige Variablen sagten eindeutig vorher, wie groß die Resonanz auf die Kontaktanzeigen
der Männer sein würde. Zunächst war das Alter ausschlaggebend, denn ältere Männer
erhielten mehr Zuschriften als jüngere (r=+.43). Wichtige Faktoren waren auch das Ein-
kommen und die Ausbildung; hier erhielten diejenigen Männer mehr Antworten, die
angegeben hatten, ein höheres Einkommen (r=+.30) und eine längere Ausbildung
(r=+.37) gehabt zu haben. Baize und Schroeder schlossen ihren Artikel mit Humor, denn
ihre letzte Frage übernahmen sie von Tim Hardin und seinem berühmten Lied: „If I were
a carpenter and you were a lady, would you marry me anyway, would you have my
baby?“ Betrachtet man die kumulierten Auswertungsergebnisse der Studie, muss man lei-
der antworten: wahrscheinlich nicht.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam kürzlich ein Forscherteam aus Polen, das die Resonanz
auf die Kontaktanzeigen von 551 Männern untersuchte (Pawlowski & Koziel, 2002).
Immer waren es Männer mit besserer Ausbildung und mehr Ressourcen, ältere und grö-
ßere Männer, die von den Frauen häufiger Antwort bekamen als diejenigen Männer, die
all diese Eigenschaften nicht besaßen.
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186 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Zwar gibt es einige Studien, die eine Erklärung für die homosexuellen Neigungen von
Männern suchen (siehe Kapitel 5), das Rätsel der primär oder ausschließlich lesbi-
schen Orientierung, wie sie bei 1 bis 2% aller Frauen auftritt, war jedoch noch nie
Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen (Bailey et al., 1997). Viele Wissen-
schaftler wie etwa Mike Bailey, Frank Muscarella und James Dabbs haben bereits
darauf hingewiesen, dass Homosexualität keinesfalls ein einziges, immer gleiches
Phänomen ist. So scheint die Homosexualität von Männern und Frauen große Unter-
schiede aufzuweisen. Bei Männern tritt die sexuelle Orientierung in einer frühen Ent-
wicklungsphase in Erscheinung, während bei Frauen die Sexualität im Laufe ihres
Lebens sehr viel flexibler zu sein scheint (Baumeister, 2000). Zukünftige Theorien
könnten sich auch mit den großen individuellen Unterschieden der gegenwärtig als
„lesbisch“ oder „schwul“ bezeichneten Menschen befassen. So liegen die Partnerprä-
ferenzen von lesbischen Frauen, die sich eher als maskulin sehen, ganz anders als bei
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 187
denjenigen, die sich selbst eher als feminin bezeichnen (Bailey, Kim, Hills & Linsen-
meier, 1997; Bassett, Pearcey, Dabbs, 2001). Maskuline lesbische Frauen sind in der
Regel dominanter und selbstsicherer, während feminine lesbische Frauen eher sensi-
bel und fröhlich sind. Diese Unterschiede sind nicht nur psychologischer Natur: Les-
bische Frauen, die maskuliner sind, haben einen höheren Testosteronspiegel, ein
männlicheres Taille-Hüfte-Verhältnis, stehen flüchtigen Sexualkontakten offener
gegenüber und haben seltener den Wunsch nach Kindern (Singh, Vidaurri, Zamba-
rano & Dabbs, 1999). Für lesbische Frauen, die femininer sind, sind finanzielle Res-
sourcen bei einer potentiellen Partnerin wichtiger, sie sind auf Rivalinnen, die attrak-
tiver sind, oft sexuell eifersüchtig. Maskuline lesbische Frauen messen finanziellen
Ressourcen der Partnerin einen geringeren Wert bei, sie sind aber häufiger eifersüch-
tig auf Mitbewerberinnen, die finanziell erfolgreicher sind als sie. Die psychologi-
schen, morphologischen und hormonellen Korrelationen legen nahe, dass hier „mas-
kulin“ und „feminin“ keine bloßen willkürlichen Bezeichnungen sind, sondern echte
Unterschiede beinhalten.
Obwohl man sich in jüngster Zeit theoretisch und empirisch verstärkt mit dem Ver-
ständnis und einer möglichen Erklärung homosexueller Neigungen und gleichge-
schlechtlichen Verhaltens auseinandergesetzt hat, bleiben die Ursprünge wissen-
schaftlich im Dunkeln. Vielleicht bringt die Erkenntnis einen größeren Fortschritt,
dass es möglicherweise nicht nur eine einzige Theorie gibt, die sowohl männliche als
auch weibliche Homosexualität erklären könnte. Genauso wenig gibt es eine einzige
Theorie, die die weit reichenden individuellen Unterschiede zwischen den Menschen
erklären kann, deren sexuelle Orientierung sich auf das eigene Geschlecht richtet.
Zusammenfassung
Nun sind wir der Lösung des Rätsels um die langfristigen Partnerpräferenzen der
Frau ein ganzes Stück näher gekommen. Die moderne Frau hat von ihren erfolgrei-
chen Vorfahren die Weisheit und die Umsicht geerbt, mit der sie einen Mann für eine
Partnerschaft aussucht. Zur Zeit unserer Vorfahren liefen Frauen, die sich wahllos auf
eine Männerpartnerschaft einließen, eher Gefahr, geringere Reproduktionserfolge zu
erzielen als diejenigen, die klug auswählten. Langfristige Partner besitzen meist eine
ganze Schatztruhe voller Vorteile und positiver Eigenschaften. Sich aber für den
Mann zu entscheiden, der als langfristiger Partner genau die richtigen Eigenschaften
mitbringt, ist ganz klar eine außerordentlich schwierige Aufgabe. Dazu bedarf es
einer Reihe klar umrissener Präferenzen, die alle auf eine Ressource abzielen, mit-
hilfe derer die Frauen entscheidende adaptive Probleme lösen können.
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188 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Es scheint offensichtlich, dass sich Frauen einen Ehepartner aussuchen, der über Res-
sourcen verfügt. Da diese Ressourcen nicht immer direkt auszumachen sind, richten
sich die Partnerpräferenzen der Frau auf andere Eigenschaften, die auf den Besitz
oder den zukünftigen Erwerb von Ressourcen hinweisen. Wahrscheinlich lassen sich
Frauen sogar weniger vom Geld als vielmehr von den Eigenschaften beeinflussen, die
künftige Ressourcen versprechen wie etwa Ehrgeiz, Intelligenz und ein höheres Alter.
Frauen untersuchen diese persönlichen Eigenschaften sehr genau, denn sie geben
Auskunft über das Potential des Mannes.
Potential allein reicht jedoch nicht aus. Da viele Männer mit einem großen Ressour-
cenpotential selbst sehr wählerisch sind und zuweilen flüchtige sexuelle Beziehungen
vorziehen, sehen sich Frauen mit dem Problem des Bindungswillens seitens der Män-
ner konfrontiert. Die Suche nach Liebe ist eine Lösung für dieses Problem. Handelt
ein Mann aus Liebe, so zeigt das seinen Bindungswillen mit der betreffenden Frau.
Für die Frauen unserer Vorfahren wäre es allerdings problematisch gewesen, wenn sie
einen Mann gehabt hätten, der sie zwar liebte und ihnen treu war, sich anderen Män-
nern aber körperlich schnell geschlagen geben musste. Frauen, die sich mit kleinen,
schwachen Männern einließen, denen Mut und Kraft fehlten, wären das Risiko einge-
gangen, von anderen Männern geschädigt zu werden und ihre gemeinsamen Ressour-
cen zu verlieren. Große, starke, athletische Männer dagegen konnten die Frauen
beschützen. So konnte ihre persönliche Sicherheit und die Sicherheit ihrer Kinder vor
Übergriffen geschützt werden. Die modernen Frauen sind die Nachfahren dieser
damals erfolgreichen Frauen, die ihre Männer zum Teil auch nach Stärke und Körper-
bau auswählten.
Dennoch sind Ressourcen, Bindungswille und Schutz für die Frau völlig nutzlos,
wenn ihr Ehemann krank wird oder stirbt oder wenn das Paar zu verschieden ist, um
als Elternpaar und gutes Team zu funktionieren. Daher legen Frauen auch großen
Wert auf die Gesundheit eines Ehemanns, denn dadurch wird er in der Lage sein, all
diese Vorteile auch auf lange Sicht zu gewähren. Außerdem legen sie großen Wert auf
ähnliche gemeinsame Interessen und Eigenschaften, denn das fördert Stabilität und
Treue. Diese unterschiedlichen Facetten der aktuellen weiblichen Partnerpräferenzen
stimmen also voll und ganz mit den vielen adaptiven Problemen überein, denen sich
unsere weiblichen Vorfahren vor tausenden von Jahren gegenüber sahen.
Die weiblichen Präferenzen sind aber weder unumstößlich noch unveränderbar; im
Gegenteil gibt es mindestens fünf verschiedene Faktoren, die dafür sorgen, dass sie
sich auf wichtige und adaptive Weise verändern: der eigene Zugang zu Ressourcen,
die zeitliche Dimension, der Menstruationszyklus, der persönliche Partnerwert sowie
die Ressourcenanforderungen der Stadt, in der sie leben. Die Präferenzen können sich
auch in Abhängigkeit von der sexuellen Orientierung verschieben (siehe Box 4.1).
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Kapitel 4 Langfristige Partnerwahl-Strategien der Frau 189
Der Hypothese der strukturellen Machtlosigkeit zufolge schätzen Frauen, die selbst
viele Ressourcen zur Verfügung haben, den Wert eines Mannes mit Ressourcen weni-
ger hoch ein als Frauen, die selbst keine Ressourcen besitzen. Diese Hypothese kann
durch empirische Daten jedoch nicht gestützt werden. Tatsächlich sind für Frauen mit
einem hohen Einkommen dieses und die Ausbildung eines potentiellen Partners sehr
viel wichtiger als für Frauen mit geringerem Einkommen. Frauen zeigen auch unter-
schiedliche Präferenzen, je nachdem ob es sich um eine kurzfristige oder eine lang-
fristige Beziehung handelt. Handelt es sich um eine langfristige Beziehung, so bevor-
zugen Frauen Eigenschaften, die darauf hindeuten, dass der Mann ein guter Versorger
und ein guter Vater sein wird. Geht es um einen kurzfristigen Partner, sind den Frauen
diese Kriterien weniger wichtig. Auch der Menstruationszyklus der Frau beeinflusst
ihre Partnerpräferenzen. Ist bei einer Frau die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu wer-
den am höchsten, bevorzugt sie Männer, die maskuliner sind und symmetrischere
Gesichtszüge haben als jene, die sie in Zeiten bevorzugt, in denen sie nicht empfäng-
nisbereit ist. Schließlich haben Frauen, die selbst einen höheren Partnerwert haben,
auch eine größere Vorliebe für maskuline Männer mit symmetrischen Gesichtszügen
und sind in ihren Kontaktanzeigen anspruchsvoller, was die gewünschten Eigenschaf-
ten des langfristigen Partners betrifft.
Damit sich Präferenzen entwickeln konnten, mussten sich diese wiederholt auf die
tatsächlichen Partnerentscheidungen ausgewirkt haben. Aus verschiedenen Gründen
können wir nicht davon ausgehen, dass sich die Präferenzen der Frau vollkommen
mit den Partnerentscheidungen decken. Niemand bekommt immer genau das, was er
will. Dennoch weisen mehrere Forschungsergebnisse darauf hin, dass die weiblichen
Präferenzen die Partnerwahl tatsächlich beeinflussen. Frauen reagieren verstärkt auf
Kontaktanzeigen, in denen die Männer angeben, sie seien finanziell gut situiert.
Frauen, die das verkörpern, was sich Männer wünschen (die z.B. äußerlich attraktiv
sind), haben die größten Chancen, das zu bekommen, was sie sich wünschen; deshalb
sind auch ihre Partnerentscheidungen aufschlussreich. Einige Studien zeigen, dass
physisch attraktive Frauen tatsächlich häufiger Männer heiraten, die über ein hohes
Einkommen und einen hohen beruflichen Status verfügen. Demografische Studien
ergaben außerdem, dass Frauen weltweit eher dazu neigen, ältere Männer zu heiraten,
was also den von ihnen angegebenen Präferenzen für ältere Männer direkt entspricht.
Geht man von diesen kumulierten Studienergebnissen aus, kann man mit Recht
schließen, dass die Partnerpräferenzen der Frau einen entscheidenden Einfluss auf
ihre tatsächlichen Partnerentscheidungen haben.
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190 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Weiterführende Literatur
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Kapitel
5 Langfristige Partnerwahl-
Strategien des Mannes
Warum stellt ein hübsches Mädchen unseren Verstand so auf den Kopf?
Warum hat die Selektion bei Männern psychologische Mechanismen entwickelt, die sie
veranlassen zu heiraten und sich Jahre oder Jahrzehnte an eine Frau zu binden? Es ist
nahe liegend, dass zumindest unter gewissen Umständen adaptive Vorteile für eine lang-
fristige Partnerwahl sprachen. Dieses Kapitel untersucht Logik und Befunde bezüglich
langfristiger Strategien der Partnerwahl bei Männern. Wir beginnen mit dem theore-
tischen Hintergrund der Evolution von Partnerpräferenzen bei Männern. Als Nächstes
beschäftigen wir uns mit dem Inhalt dieser Vorlieben. Der letzte Abschnitt erkundet die
Kontexteffekte der langfristigen Strategien der Partnerwahl.
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192 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Ein weiterer Vorteil der Heirat liegt in der Qualität der Frauen begründet, die ein Mann
anziehen konnte. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, suchen Frauen solche Männer, die
bereit sind, langfristige Ressourcen, Schutz und Investitionen in Kinder zu versprechen.
Daher haben Männer, die bereit sind, sich langfristig zu binden, eine größere Auswahl.
Diese Männer ziehen begehrenswerte Frauen an, da diese, wie wir gerade festgestellt
haben, langfristige Beziehungen wünschen. Äußerst begehrenswerte Frauen sind in der
besten Position, das zu bekommen, was sie wollen.
Ein dritter potentieller Vorteil ist eine Erhöhung der Chancen, dass der Mann der Vater
der Kinder ist, die die Frau zur Welt bringt. Durch Heirat erhält ein Mann wiederholten
und im Regelfall exklusiven sexuellen Zugang. Ohne diesen wäre seine Gewissheit der
Vaterschaft gefährdet. Daher haben Männer, die heiraten, einen reproduktiven Vorteil in
Bezug auf die Gewissheit der Vaterschaft.
Ein vierter Vorteil liegt in der Steigerung der Überlebenschancen seiner Kinder. In der
Umwelt unserer Vorfahren hatten Säuglinge und Kleinkinder, die ohne die Fürsorge
zweier Elternteile oder Verwandter auskommen mussten, eine geringere Überleben-
schance (Hill & Hurtado, 1996). Unter den Ache-Indianern in Paraguay ist es noch heute
Brauch, dass die Dorfbewohner nach dem Tode eines Mannes in einer gemeinsamen Ent-
scheidung beschließen, unter Umständen einige seiner Kinder zu töten, selbst wenn deren
Mutter noch lebt. Angehörige der Ache bestehen darauf, da viele der Kinder sonst nicht
ausreichend versorgt würden. Sie sagen, ein Kind ohne Vater „würde ständig um Nahrung
betteln“ (Hill & Hurtado, 1996, S. 68) und somit die Ressourcen der Gruppe auslaugen.
Insgesamt zeigten Kinder der Ache, deren Väter starben, eine zehn Prozent höhere Sterb-
lichkeitsrate als Kinder mit noch lebenden Vätern. Die Ache sind nur eine Gruppe und
man darf von einer solchen keine Verallgemeinerungen ableiten. Der springende Punkt
ist, dass eine Steigerung der Überlebenschancen für die Kinder eines Mannes ein adapti-
ver Vorteil für unsere männlichen Vorfahren gewesen sein könnte, der aus einer langfristi-
gen ehelichen Beziehung resultierte.
Im Lauf der menschlichen Evolutionsgeschichte litten Kinder, die ohne Vater aufwuch-
sen, unter dem Fehlen seiner Ratschläge und seinen politischen Allianzen, da diese später
im Leben hilfreich sein konnten. In vielen vergangenen und gegenwärtigen Kulturen
haben Väter ein starkes Interesse daran, für ihre Töchter und Söhne vorteilhafte Heiraten
zu arrangieren. Das Fehlen dieser Vorteile kann sich für vaterlose Kinder nachteilig aus-
wirken. Diese Evolutionszwänge, die seit tausenden von Generationen bestehen, hätten
verheirateten Männern einen Vorteil verschafft.
Zusammengenommen gibt es fünf potentiell überzeugende adaptive Vorteile für Männer,
eine Ehe einzugehen: (1) bessere Chancen, eine Partnerin anzuziehen, (2) erhöhte Mög-
lichkeit, eine begehrenswerte Partnerin anzuziehen, (3) erhöhte Gewissheit der Vater-
schaft, (4) erhöhte Überlebenschancen seiner Kinder und (5) erhöhter reproduktiver
Erfolg der Kinder aufgrund der elterlichen Investitionen.
Vorausgesetzt, dass es überzeugende Vorteile für Männer gab, eine Bindung einzugehen,
lautet die nächste Frage: Welche Qualitäten suchen sie in einer Frau?
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 193
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194 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
ten lebensfähigen Kinder und somit erreicht die Fruchtbarkeit bei Frauen ihren Höhe-
punkt auch Mitte Zwanzig.
Der Unterschied zwischen Fruchtbarkeit und reproduktivem Wert kann durch den Ver-
gleich von zwei Frauen im Alter von 15 und 25 illustriert werden. Die jüngere Frau hat
einen höheren reproduktiven Wert, da ihre künftige Reproduktion als höher angesehen
wird. Die ältere Frau dagegen wäre fruchtbarer, da Frauen Mitte Zwanzig im Durch-
schnitt mehr Kinder gebären als Teenager.
Die Fruchtbarkeit oder den reproduktiven Wert einer Frau festzustellen, ist jedoch
schwieriger als es auf den ersten Blick erscheint. Es steht einer Frau nicht auf die Stirn
geschrieben, wie viele Kinder sie im Lauf ihres Lebens gebären wird. Es ist auch nicht
ihrem gesellschaftlichen Ruf zu entnehmen. Sogar die Frauen selbst kennen ihren repro-
duktiven Wert nicht.
Unsere Vorfahren könnten jedoch Mechanismen entwickelt haben, um zu erkennen, wel-
che beobachtbaren Qualitäten einer Frau auf ihren reproduktiven Wert hinweisen. Zwei
dieser potentiell beobachtbaren Hinweise sind Jugend und Gesundheit (Symons, 1979;
Williams, 1975). Alte oder kranke Frauen sind offensichtlich nicht so reproduktiv wie
junge, gesunde Frauen. Aber welche beobachtbaren Qualitäten einer Frau signalisieren
Jugend und Gesundheit? Wie stark konzentrieren sich die Wünsche des Mannes bei einer
Partnerin auf ihre reproduktive Kapazität?
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 195
überstanden als unsere weiblichen Vorfahren, verfügen auch die modernen Männer – ihre
Nachkommen – über ein unterschiedliches Schema von Partnerpräferenzen. Diese beginnen
mit einem der wichtigsten Hinweise auf den reproduktiven Status einer Frau – ihr Alter.
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196 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
bevorzugtes Mindestalter
bevorzugtes Höchstalter
20 20
Unterschied zum Alter der Zielperson
10 10
0 0
–10 –10
–20 –20
20s 30s 40s 50s 60s 20s 30s 40s 50s 60s
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 197
Befragten] ist“? gefolgt von „Und mit jemandem, der [das Alter des Befragten minus eins]
ist“. Bei bejahenden Antworten wurde die Befragung solange fortgesetzt, bis der Teilneh-
mer ein bestimmtes Alter zu jung fand. Die Teilnehmer wurden anschließend gefragt, wel-
ches maximale Alter eines Partners sie noch akzeptieren würden. Der Leiter fragte dann
nach dem idealen Alter und schließlich „der attraktivsten Person, die du dir vorstellen
kannst“ (S. 1505). Die Ergebnisse brachten drei Variablen hervor: das ideale Alter, das Min-
destalter und das maximale Alter des gewünschten Partners. Die Ergebnisse sind in Abbil-
dung 5.3 abgebildet.
Obwohl die männlichen Teenager bereit waren, Verabredungen mit Frauen zu treffen, die
etwas jünger als sie selbst waren, waren sie eher an Verabredungen mit Frauen interes-
siert, die älter als sie selbst waren. Das „interessanteste“ Alter spiegelt das Ergebnis wie-
der, in dem männliche Jugendliche aussagten, eine Verabredung mit einer Frau zu wün-
schen, die im Durchschnitt mehrere Jahre älter war. Interessanterweise kommen diese
Ergebnisse zustande, obwohl die älteren Frauen nur wenig Interesse daran zeigen, sich
mit jüngeren Männern zu verabreden (zweite Grafik in Abbildung 5.3).
20 20
Unterschied zum Alter der Zielperson
10 10
0 0
–10 –10
–20 –20
12 13 14 15 16 17 18 12 13 14 15 16 17 18
Alter des Mannes Alter der Fau
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198 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Um einen Überblick über das Muster der Alterspräferenzen von Männern zu erhalten, wur-
den die Daten aller Altersgruppen in einer Grafik zusammengefasst (Abbildung 5.4). Diese
zeigt deutlich, dass die jüngsten Teenager Frauen bevorzugen, die einige Jahre älter sind als
sie selbst. Aber mit zunehmendem Alter bevorzugen Männer deutlich jüngere Frauen.
Diese die Teenager betreffenden Daten sind wichtig, da sie alternative Erklärungen weni-
ger plausibel erscheinen lassen. Eine Erklärung für den Wunsch der Männer nach jungen
Frauen ist beispielsweise, dass junge Frauen leichter kontrolliert werden können und
weniger dominant sind und dass Männer sich Frauen wünschen, die sie kontrollieren kön-
nen (Wolf, 1992). Wenn dies jedoch der einzige Grund für die Präferenz junger Frauen
wäre, müssten auch Teenager jüngere Frauen bevorzugen, aber dies ist nicht der Fall. Nur
wenn Teenager annahmen, dass ältere Frauen einfacher zu dominieren sind, könnte die
„Kontroll“-Erklärung funktionieren!
Eine weitere Erklärung für die Präferenz jüngerer Frauen basiert auf der klassischen
Lerntheorie. Da Frauen Männer bevorzugen, die etwas älter sind, könnten Männer durch
die Verabredung mit jüngeren Frauen mehr Bestätigung erhalten haben. Diese „Verstär-
kungs”- Erklärung berücksichtigt jedoch nicht die Präferenzen männlicher Teenager, die
ältere Frauen bevorzugen, obwohl dieses Interesse nur selten gegenseitig ist.
20 20
Alter der Zielperson
10 10
0 0
–10 –10
–20 –20
10s 20s 30s 40s 50s 60s 10s 20s 30s 40s 50s 60s
Abbildung 5.4: Vergleich der Präferenzen von Teenagern mit denen, die in Bekannt-
schaftsanzeigen von Erwachsenen ausgedrückt werden.
Die Grafik zeigt, dass Teenager Partner bevorzugen, die etwa im gleichen Alter sind. Mit zunehmen-
dem Alter bevorzugen Männer immer jüngere Partnerinnen, während Frauen konstant Männer
bevorzugen, die einige Jahre älter sind.
Quelle: Kenrick, D. T., Keefe, R. C., Gabrielidis, C. & Cornelius, J. S. (1996). Adolescent’s age preferences for
dating partners: Support for an eovlutionary model of life-history strategies. Child Development, 67,
1499-1511.
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 199
Zusammen mit den kulturübergreifenden Daten unterstützen diese Ergebnisse eine evolu-
tionspsychologische Erklärung: Männer bevorzugen jüngere Frauen, da im Lauf der Evo-
lution Jugend mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurde. Diese Erklärung berück-
sichtigt zwei Faktoren, die alle anderen Theorien nur schwer erklären können: erstens,
dass Männer mit zunehmendem Alter deutlich jüngere Frauen bevorzugen, und zweitens,
dass Teenager Frauen bevorzugen, die einige Jahre älter als sie sind, obwohl diese Frauen
sie selten für dieses Interesse belohnen.
Physischer Schönheitsstandard
Jugend ist die offensichtlichste männliche Präferenz, die mit der reproduktiven Kapazität
von Frauen verbunden ist. So wie unsere Maßstäbe attraktiver Landschaften Hinweise auf
Wasser, Wild und Schutz enthalten und den Lebensraum der Savanne nachahmen (Orians
& Heerwagen, 1992), so enthalten die Maßstäbe weiblicher Schönheit Hinweise auf ihren
reproduktiven Wert. Nach herkömmlicher Überzeugung liegt die Schönheit im Auge des
Betrachters, aber diese Augen und der Verstand dahinter wurden durch Jahrmillionen
menschlicher Evolution geprägt. Was als schön gilt, bestimmen die Adaptationen des
Betrachters (Symons, 1995).
Unsere Vorfahren kannten zwei beobachtbare Hinweise auf den reproduktiven Wert von
Frauen: (1) Merkmale des physischen Erscheinungsbildes wie volle Lippen, glatte, straffe
Haut, klare Augen, glänzendes Haar, guter Muskeltonus und günstige Körperfettvertei-
lung und (2) Merkmale des Verhaltens wie federnder, jugendlicher Gang, bewegter
Gesichtsausdruck und ein hohes Energieniveau. Von diesen Hinweisen auf Jugend und
Gesundheit - und somit auf die Fruchtbarkeit und den reproduktiven Wert - wird ange-
nommen, dass sie einige der Hauptbestandteile des männlichen Maßstabs weiblicher
Schönheit darstellen (Symons, 1979, 1995).
Körperliche und verhaltensbezogene Hinweise auf den reproduktiven Wert einer Frau
sind leicht erkennbar. Daher haben unsere Vorfahren eine Präferenz für Frauen entwi-
ckelt, die diese zur Schau stellten. Männer, die diese Qualitäten, die Fruchtbarkeit und
einen hohen reproduktiven Wert signalisierten, nicht bevorzugten und grauhaarige Frauen
mit rauher Haut und schlechtem Muskeltonus heirateten, hätten weniger Nachkommen
und ihre Linie würde irgendwann aussterben.
Die Psychologen Clelland Ford und Frank Beach fanden mehrere universelle Hinweise,
die mit der evolutionären Schönheitstheorie übereinstimmen (1951). Anzeichen für
Jugend wie glatte, straffe Haut und Anzeichen für Gesundheit wie das Fehlen von wun-
den Stellen und Verletzungen werden universell als attraktiv angesehen. Hinweise auf
schlechte Gesundheit oder Alter gelten als wenig attraktiv. Schlechte Haut wird als sexu-
ell unattraktiv angesehen. Flechte, Entstellungen im Gesicht und ein ungepflegtes Äuße-
res gelten weltweit als unerwünscht, Sauberkeit und Gesundheit als attraktiv.
Von den Bewohnern der Trobriand-Inseln im Nordwesten von Melanesien berichtet der
Anthropologe Bronislaw Malinowski, dass „wunde Stellen, Geschwüre und Hautaus-
schläge vom Blickwinkel des erotischen Kontaktes aus betrachtet als besonders abstoßend
angesehen werden” (Malinowski, 1929, S. 244). „Wesentliche Voraussetzungen“ für
www.Ebook777.com
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200 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Schönheit sind dagegen „Gesundheit, starkes Haarwachstum, gesunde Zähne und weiche
Haut.“ Merkmale wie strahlende, glänzende Augen und volle, wohlgeformte statt schmaler
oder zusammengekniffener Lippen sind für die Inselbewohner besonders wichtig.
Hinweise auf Jugend haben auch ästhetische Priorität. Bei Männern und Frauen, die Foto-
grafien von Frauen verschiedenen Alters beurteilen sollten, nahm die Attraktivität des
Gesichts mit zunehmendem Alter der Frau ab (Henss, 1992; Jackson, 1992). Die
Abnahme der Bewertung erfolgte dabei unabhängig von Alter und Geschlecht der Pro-
banden. Mit zunehmendem Alter der Frau auf den Fotografien nahm der Wert, den Män-
ner dem Gesicht der Frau zuordneten, schneller ab als der Wert, den Frauen dem Gesicht
gaben, was die Bedeutung des Alters als Hinweis auf die reproduktive Kapazität für die
Männer unterstreicht.
Andere potentielle Hinweise auf Jugend und Gesundheit geben Länge und Qualität der
Haare. In einer Studie wurden 230 Frauen an öffentlichen Plätzen über ihr Alter, subjek-
tiven Gesundheitszustand, Beziehungen und andere Variablen interviewt. Beobachter
bewerteten ihre Haarlänge und deren Qualität (Hinsz, Matz & Patience, 2001). Man fand
heraus, dass Haarlänge und -qualität starke Hinweise auf Jugend sind: Jüngere Frauen
hatten längeres Haar, das höher bewertetet wurde als das älterer Frauen. Zudem stimmten
die Beurteilungen der Beobachter in Bezug auf die Haarqualität mit den subjektiven
Beurteilungen der Frauen bezüglich ihres Gesundheitszustandes überein. Künftige For-
schungen werden zweifellos weitere physische Zeichen für Jugend und Gesundheit und
somit für den Partnerwert von Frauen entdecken.
Schönheitsmaßstäbe entwickeln sich schon früh im Leben. Die meisten psychologi-
schen Theorien über die Anziehungskraft gehen davon aus, dass diese nach und nach
durch kulturelle Übermittlungen erlernt wird und erst im Alter von drei oder vier Jahren
oder sogar noch später deutlich auftritt (Berscheid & Walster, 1974; Langlois, Roggman,
Casey, Ritter, Rieser-Danner & Jenkins, 1987). Die Psychologin Judith Langlois und ihre
Kollegen haben diese herkömmliche Überzeugung jedoch widerlegt, als sie die Reaktio-
nen von Säuglingen auf Gesichter untersuchten (Langlois, Roggman, & Reiser-Danner,
1990).
Erwachsene bewerteten Farbdias weißer und schwarzer Frauengesichter hinsichtlich ihrer
Attraktivität. Diese wurden zwei bis drei Monate alten und sechs Monate alten Säuglin-
gen gezeigt. Sowohl die jüngeren als auch die älteren Säuglinge betrachteten die attrakti-
veren Gesichter über einen längeren Zeitraum, was darauf hinweist, dass Schönheitsmaß-
stäbe schon früh im Leben auftauchen. In einer zweiten Studie wurde herausgefunden,
dass einjährige Kinder bedeutend länger mit Puppen spielten, die ein attraktives Gesicht
hatten, als mit unattraktiven Puppen. Diese Ergebnisse widerlegen die herkömmliche
Ansicht, dass Attraktivitätsmaßstäbe nach und nach aufgrund gegenwärtiger kultureller
Modelle erlernt werden. Diese Maßstäbe scheinen ohne jedes Lernen aufzutauchen.
Schönheitsmaßstäbe sind kulturübergreifend. Schönheit ist weder arbiträr noch kultur-
gebunden. Als der Psychologe Michael Cunningham Menschen verschiedener Rassen
bat, die Attraktivität von asiatischen, hispanischen, schwarzen und weißen Frauengesich-
tern auf Fotografien zu beurteilen, gab es eine starke Übereinstimmung darüber, wer als
gut aussehend gilt (Cunningham, Roberts, Wu, Barbee & Druen, 1995). Die durchschnitt-
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 201
liche Korrelation zwischen den Rassen in ihren Bewertungen über die Attraktivität der
Fotografien betrug +.93. In einer zweiten Studie derselben Forscher stimmten Taiwane-
sen mit den anderen Gruppen in den Bewertungen der Attraktivität überein (r = +.91). Die
westlichen Medien beeinflussten die Bewertungen der Attraktivität in keiner der Studien.
In einer dritten Studie bestand zwischen Schwarzen und Weißen eine starke Übereinstim-
mung darüber, welche Gesichter am attraktivsten und am wenigsten attraktiv waren (r =
+.94). Übereinstimmung bestand auch zwischen Südafrikanern und Nordamerikanern,
zwischen schwarzen und weißen Amerikanern und zwischen Russen, Ache-Indianern
und Amerikanern (Cross & Cross, 1971; Jackson, 1992; Jones, 1996; Morse, Gruzen, &
Reis, 1976; Thakerar & Iwawaki, 1979).
„Durchschnittliche“ und symmetrische Gesichter sind attraktiver. Um herauszufinden,
was ein Gesicht attraktiv macht, generierten Wissenschaftler am Computer Fotomontagen
von Gesichtern (Langlois & Roggman, 1990). Diese Gesichter wurden dann aufeinander-
gelegt und so neue Gesichter entworfen. Diese neuen Gesichter unterschieden sich in der
Anzahl der individuellen Gesichter, aus denen sie zusammengesetzt waren, nämlich aus
vier, acht, 16 oder 32 Gesichtern. Die Probanden wurden dann gebeten, die Attraktivität
jeder Fotomontage sowie die Attraktivität der realen Gesichter, aus denen die Fotomonta-
gen zusammengesetzt waren, zu beurteilen. Das Ergebnis war sensationell: Die Fotomon-
tagen wurden einheitlich als physisch attraktiver als jedes der wirklichen Gesichter beur-
teilt. Die Fotomontage aus 16 Gesichtern wurde als attraktiver als die Fotomontagen aus
vier oder acht Gesichtern und die aus 32 Gesichtern als attraktivste bewertet. Durch das
Übereinanderlegen der individuellen Gesichter werden Unregelmäßigkeiten eliminiert,
weshalb sie symmetrischer erschienen. Das durchschnittliche oder symmetrische Gesicht
scheint attraktiver zu sein als von der Norm abweichende Gesichter.
Ein Forschungsgebiet zeigte, dass symmetrische Gesichter als attraktiver angesehen wer-
den und vielleicht entstehen durch den Prozess der am Computer generierten Gesichter
symmetrischere Fotomontagen. Eine Studie untersuchte die Beziehung zwischen Asym-
metrien des Gesichts und des Körpers und Bewertungen der Attraktivität (Gangestad,
Thornhill & Yeo, 1994) und stellte fest, dass eine Anzahl von umweltbedingten Einflüsse
Asymmetrien während der Entwicklung verursachen. Zu diesen gehören nicht nur Verlet-
zungen und andere physische Einflüsse, die Hinweise auf einen schlechten Gesundheits-
zustand geben können, sondern auch das Vorhandensein von Parasiten im Körper. Da
physische Asymmetrien durch Parasiten verursacht werden können, kann das Ausmaß
derselben Hinweise auf den Gesundheitszustand eines Individuums geben und dient
somit als Index, in welchem Ausmaß die Entwicklung eines Individuums durch verschie-
dene Stressfaktoren beeinflusst wurde. Bei den Skorpionfliegen und Schwalben beispiels-
weise paaren sich Männchen bevorzugt mit Weibchen, die die gleiche Schwingenlänge
aufweisen und vermeiden solche, deren Schwingen nicht gleichlang sind.
Als Gangestad und seine Kollegen die tatsächliche Asymmetrie in Fuß- und Handbreite,
Ohrlänge und Ohrbreite maßen und die Personen nach ihrer Attraktivität bewerten ließ,
fanden sie heraus, dass die weniger symmetrischen Personen als unattraktiver eingestuft
wurden. Zudem sind die Gesichter älterer asymmetrischer als die junger Menschen und
somit liefert Symmetrie einen weiteren Hinweis auf Jugend. In einem weiteren For-
schungsprojekt wurde festgestellt, dass die Symmetrie des Gesichts mit psychologischen
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202 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 203
Victor Johnston und Melissa Franklin (1993) entwickelten eine raffinierte Methode,
um Schönheitsmaßstäbe mithilfe vom Computer erzeugter Grafiken zu untersuchen.
Zwanzig männliche und 20 weibliche Teilnehmer konnten auf dem Computerbild-
schirm Bilder von Frauengesichtern entwerfen, bis die Gesichter die idealen Schön-
heitsstandards der Teilnehmer widerspiegelten. Die Wissenschaftler erstellten dann
aus diesen 40 Gesichtern die „schöne Fotomontage“. Als Nächstes erstellten sie eine
analoge Fotomontage der 20 Teilnehmerinnen, die im Durchschnitt 20 Jahre alt
waren, die „Teilnehmer-Fotomontage“. Als die schöne Fotomontage (links) und die
Fotomontage der Teilnehmerinnen verglichen wurden, unterschieden sie sich bis auf
zwei Ausnahmen kaum: zum einen hatte die schöne Fotomontage eine relativ kurze
untere Gesichtshälfte, in dem die Lippen und das Kinn nahe beieinander lagen. Zum
anderen wies sie in der vertikalen Dimension einen etwas kleineren Mund und vollere
Lippen auf als die Fotomontage der Teilnehmer. All diese Merkmale sind mit Jugend
verbunden. In westlichen Gesellschaften beispielsweise sind Lippen im Alter von
vierzehn am vollsten (Farkas, 1981). Ähnliche Ergebnisse wurden auch von anderen
beobachtet (Perrett, May & Yoshikawa, 1994). Mit Hilfe japanischer und englischer
Teilnehmer fanden sie heraus, dass die attraktivsten Fotomontagen in Relation zur
Gesichtsgröße größere Augen, schmale Kieferknochen und einen kürzeren Abstand
zwischen Mund und Kinn aufwiesen.
Der Evolutionsanthropologe Doug Jones (1996) dokumentierte ähnliche Ergebnisse
in einer kulturübergreifenden Studie, die Brasilianer, Amerikaner, Russen, die Ache
in Paraguay und die Hiwi (ein Indianer-Stamm von Jägern und Sammlern in Venezu-
ela) umfasste. Jones fotografierte Gesichter aus jeder dieser Populationen. Er präsen-
tierte diese Fotos dann verschiedenen Gruppen aus jedem Land und bat sie, die
Attraktivität, das geschätzte Alter und andere Qualitäten zu bewerten. Er maß die
Gesichtsproportionen und korrelierte sie mit dem Alter. Jones entdeckte, dass Frauen
mit Gesichtsproportionen wie einem schmalen Kiefer und relativ großen Augen, die
ein jüngeres Alter zeigten als sie tatsächlich hatten, von männlichen Teilnehmern aus
allen fünf Kulturen als attraktiver wahrgenommen wurden als die Frauen, deren
Gesichtsproportionen mit ihrem Alter übereinstimmte, oder die älter wirkten. Diese
Ergebnisse liefern einen weiteren empirischen Beleg dafür, dass Erkennungsmerk-
male der Jugend mit Bewertungen der Attraktivität verbunden sind.
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204 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Die am attraktivsten bewertete Fotomontage (links) und eine Fotomontage mit den gleichen Merk-
malen, aber den Proportionen eines durchschnittlichen Gesichts in der Bevölkerung (rechts).
Freundlicherweise von Victor Johnston zur Verfügung gestellt.
Eine Studie brachte einen beunruhigenden Aspekt über die Wahrnehmung molliger und
schlanker Körper bei amerikanischen Männern und Frauen zum Vorschein (Rozin &
Fallon, 1988). Amerikanische Männer und Frauen betrachteten neun weibliche Figuren,
die von sehr schlank bis sehr dick reichten. Die Frauen sollten die Idealfigur für sich
selbst und ihre Wahrnehmung über die Idealfigur der Männer angeben. In beiden Fällen
wählten die Frauen eine Figur, die schlanker als der Durchschnitt war. Als die Männer
befragt wurden, welche Figur sie bevorzugen, wählten sie die Figur mit den durchschnitt-
lichen Körpermaßen. Amerikanische Frauen sind somit der Ansicht, dass die Männer
schlankere Frauen bevorzugen als dies tatsächlich der Fall ist.
Da die Präferenzen für eine bestimmte Körpergröße zwischen den Kulturen variieren, hat
die Psychologin Devendra Singh eine Präferenz gesucht und gefunden, die universell zu
sein scheint: die Präferenz für ein bestimmtes Verhältnis zwischen Taille und Hüfte einer
Frau (Singh, 1993; Singh & Young, 1995) Vor der Pubertät zeigen Jungen und Mädchen
ähnliche Fettverteilungen. Mit der Pubertät setzt jedoch eine auffallende Veränderung ein.
Männer verlieren Fett am Gesäß und an ihren Oberschenkeln, während durch die Freiset-
zung von Östrogenen bei pubertierenden Mädchen Fett am unteren Rumpf und vor allem
auf Hüften und Oberschenkeln abgelagert wird. Tatsächlich ist das Volumen an Körper-
fett in diesem Bereich bei Frauen 40 Prozent höher als bei Männern.
Das Verhältnis der Taille zur Hüfte (waist-to-hip ratio, WHR) ist vor der Pubertät mit
einer Bandbreite von 0.85 bis 0.95 für beide Geschlechter gleich. Nach der Pubertät
jedoch, verursacht durch die Fettablagerungen auf der Hüfte ist der WHR von Frauen
wesentlich niedriger als der von Männern. Gesunde, fortpflanzungsfähige Frauen weisen
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 205
einen WHR zwischen 0.67 und 0.80 auf während gesunde Männer einen WHR zwischen
0.85 und 0.95 haben. Befunde deuten darauf hin, dass der WHR ein genaues Anzeichen
des reproduktiven Status von Frauen ist. Frauen mit einem niedrigen WHR zeigen eine
frühe pubertäre endokrine Aktivität. Verheiratete Frauen mit einem höheren WHR haben
mehr Schwierigkeiten schwanger zu werden, und diejenigen, die schwanger werden, wer-
den später schwanger als Frauen mit einem niedrigen WHR. Der WHR ist auch ein Indi-
kator langfristiger Gesundheit. Krankheiten wie Diabetes, Hyptertonie, Herzinfarkt,
Schlaganfall und Funktionsstörungen der Gallenblase stehen mit der Verteilung von Fett,
wie durch den WHR reflektiert, in Verbindung und nicht mit dem totalen Körperfett per
se. Die Verbindung des WHR zur Gesundheit sowie zum reproduktiven Status machen
ihn zu einem verlässlichen Hinweis auf die Partnerpräferenzen unserer männlichen Vor-
fahren.
Singh entdeckte, dass der WHR einen wichtigen Anteil an der Attraktivität von Frauen
einnimmt. In einem Dutzend Studien bewerteten Männer die Attraktivität weiblicher
Figuren, deren WHR und Körperfett variierten. Sie fanden die durchschnittliche Figur
attraktiver als die schlanke oder sehr dicke Figur. Unabhängig vom Körperfett finden
Männer Frauen mit einem niedrigen WHR am attraktivsten. Frauen mit einem WHR von
0.70 werden als attraktiver angesehen als Frauen mit einem WHR von 0.80, die wiederum
als attraktiver angesehen werden als Frauen mit einem WHR von 0.90. Studien mit Zeich-
nungen und Fotomontagen führten zu den gleichen Ergebnissen. Singhs Analyse von
weiblichen Aktmodellen, deren Fotos auf den Mittelseiten des Playboys abgedruckt
waren, und von amerikanischen Schönheitsköniginnen der letzten dreißig Jahre bestätig-
ten diese Konstante. Obwohl die Aktmodelle wie auch die Schönheitsköniginnen im Lauf
der Jahre etwas schlanker wurden, blieb ihr WHR mit 0.70 ungefähr gleich.
Gibt es Hinweise darauf, dass ein niedriger WHR in verschiedenen ethnischen Gruppen
bevorzugt wird? In Studien präsentierten Singh und Luis (1995) jungen Indonesiern und
Schwarzen Zeichnungen von Frauen mit unterschiedlichen WHR und verschiedenen
Körpergrößen und baten sie, deren Attraktivität zu beurteilen. Die Ergebnisse waren mit
den ursprünglichen Studien fast identisch. Männer fanden Frauen mit normalem Körper-
gewicht und einem niedrigen WHR (0.70) am attraktivsten. Eine Vorliebe für einen rela-
tiv niedrigen WHR wurde auch in Großbritannien, Australien, Deutschland, Indien und
Guinea-Bissau (Afrika) und den Azoren nachgewiesen (Connolly, Mealey & Slaughter,
2000; Furnham, Tan & McManus, 1997; Singh 2000). Zwei Studien konnten diese Ergeb-
nisse jedoch nicht wiederholen; eine in Peru (Yu & Shepard, 1998) und eine unter den
Hadza in Tansania (Marlow & Wetsman, 2001). Die Männer der Hazda bevorzugten
etwas schwerere Frauen mit höherem WHR. Die Autoren der Hazda-Studie sind der
Ansicht, dass die WHR-Präferenz ökologisch kontingent ist, d.h. dass sie entsprechend
der Umweltbedingungen variiert. Unter Wildbeutern, bei denen die energetischen Bean-
spruchungen von Frauen hoch sind, finden Männer dickere Frauen mit höherem WHR
attraktiver, während in Gesellschaften mit üppigem Nahrungsangebot, in denen eine der-
artige Inanspruchnahme von Frauen geringer ist, Männer schlankere Frauen mit einem
niedrigen WHR bevorzugen (Marlow & Wetsman, 2001). Diese Hypothese muss durch
systematische Untersuchungen und kulturübergreifende Studien weiterverfolgt werden.
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206 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 207
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208 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Bei den Menschen ist die Ovulation jedoch „verborgen“ oder „verschlüsselt“ und die her-
kömmliche wissenschaftliche Überzeugung geht davon aus, dass Männer nicht feststellen
können, wann Frauen ovulieren (Symons, 1992, S. 144). Trotz der enormen reproduk-
tiven Vorteile scheint die Selektion bei Männern keine diesbezüglichen Adaptationen ent-
wickelt zu haben. Aber vielleicht ist diese Schlussfolgerung zu vorschnell.
Es liegen verschiedene Befunde vor, die nahe legen, dass Männer sehr wohl feststellen
können, wann Frauen ovulieren (Symons, 1995). Erstens ist während des Eisprungs die
Haut einer Frau vaskulär, d.h. sie wird besser durchblutet. Dies entspricht dem „Glühen“,
einer gesunden Rötung der Wangen. Zum zweiten wird die Haut einer Frau während der
Ovulation etwas heller als zu anderen Zeiten des Menstruationszyklus – eine Erschei-
nung, die universell als anziehend bewertet wird (van den Berghe & Frost, 1986). Eine
kulturübergreifende Umfrage fand heraus, dass „von den 51 Gesellschaften, in denen Prä-
ferenzen über die Hautfarbe erwähnt werden ... 47 eine Vorliebe für das hellere Ende des
örtlich repräsentativen Spektrums aufweisen, wenn auch nicht notwendigerweise für die
hellste mögliche Hautfarbe” (van den Berghe & Frost, 1986, S. 92).
Zum dritten steigt während der Ovulation der Östrogengehalt an, was zu einer entspre-
chenden Abnahme des WHR führt (Profet, Persönliche Kommunikation, zitiert in Sym-
ons, 1995, S. 93). Ein niedriger WHR wirkt auf Männer sexuell anziehend (Singh, 1993).
Viertens wurden ovulierende Frauen, wie in Kapitel 2 beschrieben, in Single-Bars häufi-
ger berührt (Grammer, 1996).
Somit liegen uns vier Indizien vor, die auf die Möglichkeit hinweisen, dass Männer fest-
stellen können, wann Frauen ovulieren: Vaskularisation der Haut, heller werdende Haut,
Verminderung des WHR und vermehrte Berührung in Single-Bars. Da ovulierende
Frauen jedoch auch mehr sexuelle Signale an Männer aussenden, könnte es auch sein,
dass Männer nicht feststellen können, wann Frauen ovulieren, sondern auf das von den
Frauen ausgedrückte sexuelle Interesse reagieren.
Eine andere Studie unterstützt die Hypothese des von Frauen initiierten Kontakts. For-
scher beobachteten verheiratete Frauen über einen Zeitraum von 24 Monaten (Stanislaw
& Rice, 1988). Die Ovulation wurde bestimmt, indem die Basaltemperatur gemessen
wurde, die kurz vor der Ovulation ansteigt. In den 24 Monaten markierten die Frauen die
Tage mit einem X, an denen sie sexuelles Verlangen verspürten. Wie aus Abbildung 5.6
ersichtlich ist, nahm das sexuelle Verlangen der Frauen kurz vor der Ovulation zu, hatte
mit oder kurz nach der Ovulation ihren Höhepunkt und nahm dann wieder konstant ab.
Somit kann die Tatsache, dass ovulierende Frauen in Single-Bars häufiger berührt wer-
den, auch auf ihr erhöhtes sexuelles Verlangen, ihre vermehrte Zurschaustellung nackter
Haut und andere sexuelle Signale, die die Forscher nicht untersuchten, zurückgeführt
werden.
Erkenntnisse über die Frage, ob Männer die Ovulation bei Frauen bemerken, müssen erst
noch gewonnen werden. Das vorliegende Material reicht für die These aus, dass es wäh-
rend der Ovulation potentiell sichtbare physische Veränderungen der Haut und des Kör-
pers gibt und dass diese Veränderungen auf Männer sexuell anziehend wirken. In den fol-
genden Jahren wird man feststellen können, ob die herkömmliche Überzeugung, dass
Männer nicht feststellen können, wann Frauen ovulieren, falsch oder richtig ist.
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 209
Abbildung 5.6: Das sexuelle Verlangen von Frauen während ihres Zyklus
Das sexuelle Verlangen von Frauen erreicht rund um die Ovulation seinen Höhepunkt, was durch Ver-
änderungen der Basaltemperatur festgestellt wurde.
Quelle: Stanislaw, H. & Rice, F. J. (1988). Correlation between sexual desire and menstrual cycle characte-
ristics. Archives of Sexual Behaviour, 17, 1988 (New York: Plenum Publishing), 499-508.
Unsere Vorfahren verfügten nicht über diesen Luxus. Da Paarung nicht die einzige Akti-
vität ist, derer es bedarf, um zu überleben und sich fortzupflanzen, konnten die Frauen
nicht rund um die Uhr bewacht werden. Je mehr Zeit ein Mann damit verbrachte, eine
Frau zu bewachen, desto weniger Zeit hatte er, sich um entscheidende adaptive Probleme
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210 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
zu kümmern. Unsere männlichen Vorfahren waren daher mit einem einzigartigen Vater-
schaftsproblem konfrontiert, dem sich andere männliche Primaten nicht ausgesetzt sahen:
wie konnte man seiner Vaterschaft sicher sein, wenn die Ovulation verborgen war?
Heirat stellte eine potentielle Lösung dar (Alexander & Noonan, 1979; Strassman, 1981).
Verheiratete Männer profitierten im Vergleich zu anderen Männern von der erhöhten
Sicherheit ihrer Vaterschaft. Wiederholter sexueller Kontakt während des Zyklus erhöhte
die Chancen, dass eine Frau das Kind eines bestimmten Mannes zur Welt brachte. Die
sozialen Traditionen der Heirat dienen als öffentliche Verbindung des Paares und geben
ein klares Signal darüber, wer mit wem zusammen ist und reduzieren somit potentielle
Konflikte innerhalb männlicher Koalitionen. Durch Heirat hat der Mann auch die Mög-
lichkeit, etwas über die Persönlichkeit der Partnerin zu lernen, wodurch es schwierig für
sie wird, Zeichen der Untreue zu verheimlichen. So hätten die Vorteile der Heirat die der
vorübergehenden sexuellen Möglichkeiten, die einem Junggesellen unter unseren Vorfah-
ren zumindest unter gewissen Umständen zur Verfügung standen, überwogen.
Damit unsere männlichen Vorfahren die reproduktiven Vorteile einer Ehe genießen konn-
ten, mussten sie sicher sein, dass die Frau sexuell treu sein würde. Wenn Männer die Hin-
weise auf Untreue nicht erkannten, so erlitten sie reproduktive Nachteile, da sie Zeit und
Ressourcen verloren, die für die Suche, das Werben und den Wettbewerb bestimmt
waren. Erkannte ein Mann diese Hinweise nicht, riskierte er, die Vorteile der elterlichen
Investitionen in seine Kinder zu verlieren, die stattdessen auf die Kinder eines anderen
Mannes gelenkt wurden. Außerdem bedeutete sexuelle Untreue, dass er selbst seine
Bemühungen auf die Nachkommen eines anderen Mannes kanalisieren würde.
Unsere männlichen Vorfahren könnten dieses adaptive Problem dadurch gelöst haben,
dass sie Qualitäten in einem Partner suchten, welche die Chancen der Gewissheit ihrer
Vaterschaft erhöhten. Zumindest zwei Präferenzen konnten das Problem lösen: (1) der
Wunsch nach vorehelicher Keuschheit und (2) das Streben nach ehelicher sexueller
Treue. Vor der Verwendung moderner Verhütungsmittel war Keuschheit ein Hinweis auf
die künftige Gewissheit der Vaterschaft. In der Annahme, dass die Vorliebe keuschen Ver-
haltens stabil bleiben würde, signalisierte voreheliche Keuschheit die wahrscheinliche
künftige Treue einer Frau. Ein Mann, der keine keusche Partnerin wählte, riskierte, sich
mit einer Frau einzulassen, die in betrügen würde.
Heutzutage scheinen Männer mehr Wert auf jungfräuliche Frauen als Frauen auf jung-
fräuliche Männer zu legen. Dies trifft laut einer generationsübergreifenden Studie zumin-
dest für die Vereinigten Staaten zu. Aber insgesamt nahm der Wert, den Männer der Jung-
fräulichkeit beimessen, in den letzten 50 Jahren ab, was sich mit der zunehmenden
Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln deckt (Buss et al., 2001). Noch in den 1930er Jah-
ren betrachteten Männer Keuschheit als unentbehrlich, in den letzten zwanzig Jahren
wurde sie lediglich noch als wünschenswert bewertet, aber nicht als entscheidend. Von
den 18 in der Studie bewerteten Charakteristika fiel die Keuschheit vom 10. Platz im Jahr
1939 auf den 17. Platz in den 1990er Jahren. Zudem bewerten nicht alle amerikanischen
Männer Keuschheit gleich. College-Studenten in Texas beispielsweise bevorzugen eher
einen keuschen Partner als solche in Kalifornien und bewerten sie auf einer Skala bis 3.0
mit 1.13 verglichen mit 0.73. Trotz eines Rückgangs der Bedeutung der Keuschheit im
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 211
20. Jahrhundert und trotz regionaler Unterschiede bleibt ein bedeutender Geschlechtsun-
terschied, da Männer mehr Wert auf Keuschheit legen als Frauen.
Der Trend zu mehr Keuschheit bei Männern im Gegensatz zu Frauen hält sich weltweit,
variiert aber sehr zwischen den Kulturen. Menschen in China, Indien, Indonesien, Iran, Tai-
wan und den palästinensischen Gebieten legen einen hohen Wert auf Keuschheit bei einem
potentiellen Partner, während Menschen in Schweden, Norwegen, Finnland, den Niederlan-
den, Deutschland und Frankreich der Ansicht sind, dass Jungfräulichkeit bei einem poten-
tiellen Partner nebensächlich oder unwichtig ist (Buss, 1989a) (siehe Abbildung 5.7).
Im Gegensatz zu der weltweiten Übereinstimmung bei den unterschiedlichen Präferenzen
der Geschlechter für Jugend und physische Attraktivität, legten nur 62 Prozent der Kultu-
ren in der internationalen Studie über Partnerwahl einen je nach Geschlecht wesentlich
unterschiedlichen Wert auf Keuschheit in einer festen Verbindung. Wo Geschlechtsunter-
schiede in der Bewertung von Jungfräulichkeit vorkommen, legen Männer grundsätzlich
einen höheren Wert darauf als Frauen. Es gab keinen Fall, in dem Frauen Keuschheit
höher bewerteten als Männer.
Die kulturelle Variabilität in den Präferenzen der Geschlechter für Keuschheit liegt an ver-
schiedenen Faktoren: der Häufigkeit von vorehelichem Sex, dem Maß, in dem Keuschheit
von einem Partner verlangt werden kann, der ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen
oder der Zuverlässigkeit, mit der sie beurteilt werden kann. Keuschheit unterscheidet sich
von anderen Attributen wie der physischen Attraktivität einer Frau dadurch, dass sie nicht
sichtbar ist. Selbst physische Tests der Jungfräulichkeit sind aufgrund der Variationen in der
Struktur des Jungfernhäutchens, seinem Zerreißen aufgrund nicht sexueller Ursachen oder
einer absichtlichen Verletzung unzuverlässig (Dickemann, 1981).
Variationen in der Bewertung der Keuschheit können teilweise auf eine Veränderung der
ökonomischen Unabhängigkeit und der selbst bestimmten Sexualität von Frauen zurück-
geführt werden. In Schweden wird von vorehelichem Geschlechtsverkehr nicht abgeraten
und kaum jemand ist bei der Heirat noch Jungfrau (Posner, 1992). Ein Grund mag sein,
dass Frauen in Schweden ökonomisch weniger von Männern abhängig sind als in den
meisten anderen Kulturen. Der Jurist Richard Posner berichtet, dass Heirat den schwedi-
schen Frauen, verglichen mit Frauen in den meisten anderen Kulturen, wenig Vorteile
bringt (Posner, 1992). Das schwedische Wohlfahrtssystem sorgt für Kinderkrippen,
bezahlten Mutterschaftsurlaub und viele andere materielle Vorteile. Die schwedischen
Steuerzahler kommen für das auf, wofür früher Ehemänner sorgten und befreien Frauen
von ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Männern. Diese Unabhängigkeit ermöglicht
einer Frau ein freies und aktives Sexualleben vor der Ehe oder als Alternative zur Ehe.
Daher ist kaum eine Schwedin bei ihrer Hochzeit noch Jungfrau und somit reduziert sich
auch die Bedeutung, die Männer Keuschheit beimessen auf einer Skala von 0 bis 3 auf ein
weltweites Tief von 0.25 (Buss, 1989a).
Ein wichtigerer Faktor für die Gewissheit der Vaterschaft als Jungfräulichkeit ist aus der
männlichen Perspektive daher ein verlässliches Signal künftiger Treue. Wenn Männer
von Frauen auch nicht verlangen können, dass sie jungfräulich sind, so legen sie großen
Wert auf sexuelle Loyalität. Eine Studie über die kurz- und langfristigen Partnerwünsche
fand heraus, dass amerikanische Männer einen Mangel an sexueller Erfahrung als wün-
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212 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
schenswert erachten (Buss & Schmitt, 1993). Zudem sehen Männer Promiskuität bei
einem Partner als absolut unerwünscht an und bewerten diese mit –2.07 auf einer Skala
von –3 bis +3. Die tatsächliche bisherige sexuelle Aktivität eines potentiellen Partners
hätte unseren männlichen Vorfahren einen Hinweis zur Problemlösung der Ungewissheit
der Vaterschaft geben können. In Studien wurde festgestellt, dass das sicherste Anzeichen
für außerehelichen Sex die voreheliche Freizügigkeit ist – Menschen, die vor ihrer Heirat
viele Sexualpartner hatten, sind häufiger untreu als die, die vor ihrer Hochzeit nur wenige
Sexualkontakte hatten (Thompson, 1983; Weiss & Slosnerick, 1981).
Moderne Männer legen großen Wert auf Treue. Als amerikanische Männer nach 67 wün-
schenswerten möglichen Charakteristika in einer festen Partnerschaft befragt wurden,
wurden Treue und sexuelle Loyalität als die wichtigsten Eigenschaften genannt (Buss &
Schmitt, 1993). Fast alle Männer gaben diesen Eigenschaften mit durchschnittlich +2.85
die höchsten Bewertungen auf einer Skala von –3 bis +3. Kulturübergreifende Untersu-
chungen diesbezüglich stehen noch aus.
Männer betrachten Untreue als die am wenigsten wünschenswerte Eigenschaft einer Frau
und bewerten sie mit –2,93, was den hohen Wert, den Männer auf Treue legen, reflektiert.
Untreue ist für Männer das Schlimmste – ein Ergebnis, für das ausgezeichnete kultur-
übergreifende Befunde vorliegen (Betzig, 1989; Buss, 1989b; Daly & Wilson, 1988).
Frauen werden durch einen untreuen Partner ebenfalls sehr verletzt, aber verschiedene
andere Faktoren wie sexuelle Aggression wiegen schwerer.
Somit kennen wir nun die Umrisse einiger der Qualitäten, die Männer in einer langfristi-
gen Partnerschaft wünschen (siehe Kasten 5.2 für ein Rätsel der Partnersuche von Män-
nern). Zusätzlich zu den Persönlichkeitscharakteristika wie Freundlichkeit, Zuverlässig-
keit und Verträglichkeit legen Männer großen Wert auf physische Attraktivität.
Attraktivitätsmaßstäbe korrelieren in hohem Maß mit der Fruchtbarkeit von Frauen. Im
Wesentlichen löst der Wunsch nach physischer Attraktivität das Problem der Suche nach
Frauen, die fortpflanzungsfähig sind. Reproduktionskapazität ist jedoch nicht alles. Die
weibliche Befruchtung stellte ein zweites adaptives Problem für Männer dar, so dass
sexuelle Treue in einer langfristigen Partnerschaft als Teil der Problemlösung der Unge-
wissheit der Vaterschaft bewertet wird.
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 213
Zweitens gibt es eine auffällige Diskrepanz zwischen der modernen Welt und der Umwelt
unserer Vorfahren. Im Lauf der Evolutionsgeschichte haben sich Menschen wahrschein-
lich meist in kleinen Gruppen von vielleicht fünfzig bis hundert Individuen entwickelt
(Dunbar, 1993). In diesen kleinen Gruppen wäre ein Mann auf höchstens ein bis zwei
Dutzend attraktive Frauen getroffen. In der modernen Welt aber werden wir mit Tausen-
den von Bildern attraktiver Models auf Reklametafeln, in Zeitschriften, im Fernsehen und
in Filmen bombardiert. Dieser Abschnitt behandelt die möglichen Auswirkungen der
modernen Welt auf die Partnermechanismen.
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214 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
alten Griechenland oder bei bestimmten Stämmen in Neuguinea erklären kann, liegen
keine Belege vor, dass die Mehrheit junger Männer homoerotisches Verhalten zur
Bildung von Allianzen anwendet. Tatsächlich sind nicht sexuelle, gleichgeschlechtli-
che Allianzen die Norm und diese können eingegangen werden ohne die potenziellen
Kosten der sexuellen Aktivität nach sich zu ziehen. Zudem gibt es keine Belege
dafür, dass Männer, die sich auf homoerotisches Verhalten einlassen, erfolgreicher bei
der Bildung von Allianzen sind als solche, die dies nicht tun. Weitere Forschung ist
hier noch erforderlich.
Trotz der gegenwärtigen theoretischen und empirischen Aufmerksamkeit, die homo-
sexuelle Orientierung und gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten genießen, blei-
ben ihre Ursprünge wissenschaftliche Mysterien. Mit der Realisierung der Möglich-
keit, dass es vielleicht nicht nur eine Theorie gibt, die sowohl Schwule als auch
Lesben erklären kann und auch dass mehr als eine Erklärung erforderlich ist, um die
profunden individuellen Unterschiede von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Ori-
entierung zu erklären, wären wir vielleicht schon einen Schritt weiter.
Männer in Machtpositionen
Auch wenn viele Männer einen hohen Stellenwert auf Jugend und Schönheit bei einer
Partnerin legen, können nicht alle Männer ihre Wunschvorstellungen erfolgreich realisie-
ren. Männer, denen es an Status und Ressourcen mangelt, haben oftmals Schwierigkeiten,
solche Frauen anzuziehen und müssen sich vielleicht mit weniger als ihrem Ideal begnü-
gen. Belege dafür liefern Männer, die historisch in herausragenden Positionen waren, wie
z.B. Könige und andere Männer mit ungewöhnlich hohem Status. Im 18. und 19. Jahr-
hundert heirateten die reicheren Männer der Krummerhörn-Population in Deutschland
jüngere Frauen im Gegensatz zu Männern, denen es an Reichtum mangelte (Voland &
Engel, 1990). Ebenso heirateten zwischen 1700 bis 1900 norwegische Farmer mit hohem
Ansehen und die Kipsigis im zeitgenössischen Kenia jüngere Frauen als ihre Pendants
mit niedrigerem Status (Borgerhoff Mulder, 1988; Røskaft, Wara & Viken, 1992).
Könige und Despoten füllten ihren Harem regelmäßig mit jungen, attraktiven Frauen auf
und hatten regelmäßig Sex mit ihnen (Betzig, 1992). Der marokkanische Kaiser Moulay
Ismail der Blutrünstige beispielsweise gab an, 888 Kinder gezeugt zu haben. Sein Harem
umfasste fünfhundert Frauen. Aber sobald eine Frau dreißig war, wurde sie aus dem
Harem verbannt, in den eines untergeordneten Führers gesandt und durch eine jüngere
Frau ersetzt. Römische, babylonische, ägyptische, inkaische, indische und chinesische
Kaiser teilten den Geschmack von Kaiser Ismail und beauftragten ihre Vertrauten, das
Land auf der Suche nach jungen hübschen Frauen zu durchkämmen.
Ehen im heutigen Amerika bestätigen die Tatsache, dass Männer mit Ressourcen am
ehesten ihre Präferenzen umsetzen können. Die Frauen älterer Männer mit hohem Status
wie den Rockstars Rod Stewart und Mick Jagger sowie der Filmschauspieler Warren
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 215
Beatty und Jack Nickolson sind oft zwei oder drei Jahrzehnte jünger als sie selbst. Meh-
rere soziologische Studien haben den Einfluss des beruflichen Status des Mannes auf die
physische Attraktivität der Ehefrau untersucht (Elder, 1969; Taylor & Glenn, 1976; Udry
& Eckland, 1984). Verglichen mit Männern mit niedrigem beruflichen Status heiraten
Männer mit hohem beruflichen Status oft äußerst begehrenswerte Frauen. Tatsächlich
scheint der berufliche Status eines Mannes der beste Prädikator für die Attraktivität der
Frau zu sein. Männer, die in der Position sind, jüngere attraktive Frauen zu heiraten, tun
dies auch oftmals.
Männer mit hohem Ansehen und Einkommen sind sich offensichtlich ihrer Möglichkei-
ten bewusst, begehrenswerte Frauen anzuziehen. In der Studie einer Internet-Partneragen-
tur, die 1.048 deutsche Männer und 1.590 Frauen umfasste, fand der Verhaltensforscher
Karl Grammer heraus, dass Männer mit höherem Einkommen jüngere Frauen suchen
(Grammer, 1992). Männer, die beispielsweise über ein Einkommen von über 10.000 DM
verfügten, suchten Frauen, die zwischen fünf und fünfzehn Jahre jünger waren, während
Männer, die weniger als 10.000 DM verdienten, Partner suchten, die gleich alt oder bis zu
fünf Jahre jünger waren. Jede Einkommenssteigerung wurde von einer Reduzierung des
gewünschten Alters der Frau begleitet.
Nicht alle Männer verfügen jedoch über den Status, die Position oder die Ressourcen, um
attraktive jüngere Frauen anzuziehen, und einige gehen daher eine Beziehung mit älteren
Frauen ein. Die Partnervorlieben können nicht direkt in die tatsächlichen Partnerentschei-
dungen aller Menschen zu allen Zeiten übertragen werden, so wenig wie die Nahrungs-
vorlieben nicht direkt in die tatsächlichen Entscheidungen über das tägliche Essen über-
tragen werden können. Aber Männer, die in einer mächtigen Position sind, heiraten oft
junge, attraktive Frauen. Unsere männlichen Vorfahren, die diese Präferenzen verwirk-
lichten, genossen einen größeren reproduktiven Erfolg als diejenigen, die dies nicht taten.
Moderne Männer tragen die Gene der Männer in sich, die reproduktiv erfolgreich waren.
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216 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Fotografien von entweder sehr attraktiven Frauen oder von durchschnittlich attraktiven
Frauen gesehen hatten, ihre Bindung zu ihren derzeitigen Partnern zu bewerten (Kenrick,
Neuberg, Zierk & Krones, 1994). Die Männer, die Fotografien von attraktiven Frauen
gesehen hatten, bewerteten ihre tatsächlichen Partnerinnen als weniger attraktiv als die
Männer, die Fotos von durchschnittlich attraktiven Frauen gesehen hatten. Zudem bewer-
teten die Männer, die Fotografien attraktiver Frauen gesehen hatten, sich selbst als weni-
ger gebunden, weniger zufrieden, weniger ernsthaft und weniger eng mit ihren tatsächli-
chen Partnerinnen verbunden. Vergleichbare Ergebnisse wurden in einer anderen Studie
erzielt, in der Männer physisch attraktive Aktmodelle betrachtet hatten. Auch sie bewer-
teten sich als weniger von ihren Partnerinnen angezogen (Kenrick, Gutierres & Goldberg,
1989).
Die Gründe für diese Veränderungen liegen in der unrealistischen Natur der Bilder und in
den psychologischen Mechanismen der Männer begründet. Die wenigen attraktiven
Frauen, die für die Werbung ausgesucht werden, werden aus tausenden ausgewählt. Vom
Playboy sagt man, dass für jedes monatlich erscheinende Magazin etwa 6.000 Fotogra-
fien gemacht werden. Von diesen tausenden von Fotografien werden nur einige wenige
zur Veröffentlichung ausgewählt. Was Männer sehen, sind daher die attraktivsten Frauen
in den attraktivsten Posen vor dem attraktivsten Hintergrund in einer Airbrush-Fotogra-
fie. Vergleichen wir diese Fotografien mit dem, was Männer, die vor 100.000 Jahren in
kleinen Gruppen mit wenigen Individuen lebten, gesehen haben. Es ist unwahrscheinlich,
dass die Männer damals auch nur ein Dutzend attraktive Frauen gesehen haben, die den
heutigen Maßstäben entsprachen. Die Präsenz eines relativ großen Angebots attraktiver
Frauen kann einen Mann jedoch veranlassen, über einen Partnerwechsel nachzudenken
und seine Bindung zu seiner Partnerin zu lockern.
Wir leben in einer modernen Welt, aber in uns tragen wir die gleichen Mechanismen, die
zur Zeit unserer Vorfahren entwickelt wurden. Heute werden diese Mechanismen jedoch
künstlich durch die vielen attraktiven Frauen ausgelöst, die wir täglich in unserer mit
Werbung gesättigten Welt in Zeitschriften, auf Reklametafeln, im Fernsehen und in Fil-
men sehen. Diese Bilder repräsentieren jedoch keine realen Frauen in unserer sozialen
Umwelt, sondern nutzen genau jene Mechanismen, die für eine andere Umwelt entwi-
ckelt wurden.
Als Folge werden Männer unzufrieden mit ihren Partnerinnen und fühlen sich weniger
gebunden. Der potentielle Schaden, der durch diese Bilder ausgelöst wird, betrifft auch
Frauen, da sie einen sich ständig verstärkenden und ungesunden Wettbewerb mit anderen
Frauen auslösen. Frauen sehen sich in Konkurrenz mit anderen Frauen, um die Bilder zu
verkörpern, die sie täglich sehen – Bilder, von denen sie annehmen, dass sie den Wunsch-
vorstellungen der Männer entsprechen. Die noch nie dagewesenen Raten von Anorexia
nervosa und Schönheitsoperationen mögen ihre Ursachen teilweise in diesen Bildern
haben. Die Bilder beuten die existierenden Schönheitsmaßstäbe der Männer und die kon-
kurrierenden Partnermechanismen der Frauen in einem noch nie dagewesenen und unge-
sunden Maße aus.
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218 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
belegen beispielsweise, dass die Frauen von Männern, die nach einer Scheidung noch-
mals heirateten, durchschnittlich 10,6 Jahre jünger als diese waren (Low, 1991). In allen
Ländern, in denen Informationen über das Alter von Eheleuten erhältlich sind, sind Män-
ner im Durchschnitt älter als ihre Frauen, wie in Kapitel 4 dokumentiert (Buss, 1989a).
Der Altersunterschied zwischen Ehepartnern wird in Abbildung 5.8 gezeigt. Diese Abbil-
dung zeigt den Altersunterschied am Beispiel der Insel Poro über einen Zeitraum von 25
Jahren (Kenrick & Keefe, 1992). Männer in ihren Zwanzigern tendierten dazu, Frauen zu
heiraten, die ein oder zwei Jahre jünger als sie selbst waren. Männer in ihren Dreißigern
heirateten Frauen, die drei oder vier Jahre jünger als sie selbst waren. Die Frauen von
Männern, die in ihren Vierzigern heirateten, waren jedoch dreizehn oder vierzehn Jahre
jünger. Diese Daten, auch wenn sie auf einen bestimmten Zeitraum und Ort beschränkt
sind, sind repräsentativ für den allgemeinen Trend, dass Männer Frauen heiraten, die
zunehmend jünger sind, je älter sie selbst sind (Kenrick & Keefe, 1992). Fast identische
Beobachtungen wurden in Brasilien gemacht, als 3.000 Ankündigungen von Eheschlie-
ßungen in Zeitungen analysiert wurden (Otta et al., 1999).
Die kulturübergreifenden Daten bestätigen die Altersunterschiede bei aktuellen Ehe-
schließungen. Diese reichen von zwei Jahren in Polen bis zu fünf Jahren in Griechenland.
Im Durchschnitt aller Länder, für die demografische Daten vorliegen, sind Männer drei
Jahre älter als ihre Frauen und dies entspricht etwa dem Altersunterschied, der von Män-
nern weltweit gewünscht wird (Buss, 1989a). In polygamen Kulturen ist der Altersunter-
schied sogar noch größer. Unter den Tiwi in Nordaustralien beispielsweise heiraten Män-
ner mit hohem Ansehen oft zwei oder drei Jahrzehnte jüngere Frauen (Hart & Pilling,
1960).
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ten mit den berichteten Taktiken überein. Jede Bemühung um Verbesserung des Aus-
sehens wirkte sich in der Anziehung von Frauen auf Männer stärker aus als umgekehrt.
In einer Serie zusammenhängender Studien untersuchten William Tooke und Lori Camire
(1991) die Anwendung und Effektivität von Taktiken der intersexuellen Täuschung oder
wie Männer Frauen und Frauen Männer bei der Partnersuche täuschen. Sie baten männ-
liche und weibliche Studenten, über ihre Täuschungstaktiken zu berichten und deren
Effektivität zu bewerten. Frauen benutzten Täuschungstaktiken, die ihr physisches Aus-
sehen betrafen, häufiger als Männer: „Ich zog meinen Bauch ein“, „Ich trug ein Haarteil“,
„Ich trug farbige Kontaktlinsen, um meine Augenfarbe zu ändern“, „Ich färbte meine
Haare“, „Ich trug falsche Fingernägel“, „Ich kleidete mich in dunklen Farben, um schlan-
ker zu wirken“, „Ich trug Schulterpolster“. Die von Frauen angewandten Taktiken wurden
als effektiver bewertet als die Taktiken der Männer. Eine weitere Studie stellte fest, dass
Frauen mit zunehmendem Alter bei der Platzierung von Bekanntschaftsanzeigen Infor-
mationen über ihr Alter verschweigen (Pawlowski & Dunbar, 1999b). Die Autoren inter-
pretieren dies als eine mögliche Täuschungstaktik, mit dem Ziel eine Tatsache zu ver-
schleiern, die für Männer einen hohen Stellenwert hat. Zusammengenommen kann man
sagen, dass das Verhalten von Frauen auf die von Männern ausgedrückten Präferenzen
einzugehen scheint, wenn es gilt, Männer anzuziehen.
Frauen scheinen auch in ihrer Interaktion mit Rivalen sensibel für die Partnerpräferenz
der Männer zu sein (Buss & Dedden, 1990). Eine Taktik beinhaltete, das Erscheinungs-
bild des Rivalen zu beeinträchtigen, indem man „über sein/ihr Erscheinungsbild Witze
machte“, „anderen sagte, dass die Rivalin/der Rivale fett und hässlich sei“, und „über die
Figur desselben/derselben Witze machte“. Die Beeinträchtigung des physischen Erschei-
nungsbildes wurde als effektiver bewertet, wenn Frauen diese Taktik anwandten als wenn
Männer dies taten.
Ein noch größerer Geschlechtsunterschied betraf die Schmälerung der sexuellen Treue
des Rivalen. Erinnern wir uns, dass Männer der sexuellen Treue eines langfristigen Part-
ners einen hohen Stellenwert zuschreiben. Die Taktik, „die Rivalin promiskuitiv zu nen-
nen“, verletzt den Wunsch des Mannes nach einer treuen Frau. Ebenso Aussagen wie „die
Rivalin ein Flittchen nennen“, „anderen sagen, dass die Rivalin mit vielen Männern
geschlafen hat“, „anderen sagen, dass die Rivalin einen lockeren Lebenswandel hat und
mit fast jedem schlafen würde“. Eine Rivalin pomiskuitiv zu nennen, wurde von Frauen
als effektiver bewertet als von Männern. Auf der Grundlage dieser Studie kann man fest-
stellen, dass die Abwertungstaktiken der Frauen in Bezug auf die langfristigen Partner-
präferenzen der Männer sehr sensibel zu sein scheinen; insbesondere was die Dimension
des physischen Erscheinungsbildes und den Wunsch nach Treue betrifft.
Zusammengefasst unterstützten drei Quellen die Ansicht, dass die Präferenzen der Män-
ner das Verhalten in der Partnerarena beeinflussen. Zum ersten antworten Männer mehr
auf Bekanntschaftsanzeigen, die Qualitäten anpreisen, die auf die Präferenzen der Män-
ner zielen, wie den Wunsch nach physisch attraktiven und jungen Frauen. Zum zweiten
heiraten Männer jüngere Frauen und zwar mit einem Altersunterschied, der mit jeder wei-
teren Heirat zunimmt. Drittens sind die Taktiken der Frau, einen Partner anzuziehen, und
die Abwertung von Rivalen auf die Dimensionen zugeschnitten, die sich Männer bei
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220 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
einem langfristigen Partner wünschen. Frauen verwenden ihr Erscheinungsbild als eine
Taktik, um Männer anzuziehen, und werten ihre Rivalinnen in Bezug auf Erscheinungs-
bild und Promiskuität ab. Aus all diesen empirischen Belegen kann festgestellt werden,
dass die Präferenzen der Männer nicht nur ihr eigenes Partnerverhalten, sondern auch das
der Frauen in ihren Konkurrenztaktiken beeinflussen.
Zusammenfassung
Für unsere männlichen Vorfahren gab es viele Vorteile einer Heirat. Sie erhöhten ihre
Chancen, eine Partnerin und insbesondere eine begehrenswerte Partnerin anzuziehen.
Durch die Heirat verbesserten sie ihre Gewissheit der Vaterschaft, da sie kontinuierli-
chen, exklusiven oder überwiegenden sexuellen Zugang zu der Frau gewannen. In
Bezug auf Fitness hätten Männer ebenfalls durch die verbesserten Überlebenschan-
cen ihrer Kinder und deren reproduktiven Erfolg durch den elterlichen Schutz und die
elterlichen Investitionen profitiert.
Zwei adaptive Probleme sind bei der Entscheidung für einen langfristigen Partner
von großer Bedeutung. Das erste ist, Frauen von hoher Fruchtbarkeit oder reprodukti-
vem Wert zu identifizieren, die fähig sind, Kinder zu gebären. Es wurde beobachtet,
dass Männer Attraktivitätsmaßstäbe entwickelt haben, die Hinweise auf die repro-
duktive Kapazität einer Frau enthalten. Hinweise auf Jugend und Gesundheit sind
hierbei zentral: glatte Haut, volle Lippen, schmale Kieferknochen, symmetrische
Gesichtszüge, weiße Zähne, die Abwesenheit von Wunden und Verletzungen sowie
ein geringes Taille-Hüfte-Verhältnis.
Die große Bedeutung, die Männer auf das physische Erscheinungsbild einer Frau
legen, ist kein unveränderliches biologisches Gesetz der Tierwelt. Tatsächlich ist es
bei vielen Arten wie dem Pfau das Weibchen, das größeren Wert auf das Erschei-
nungsbild legt. Auch die Präferenz für Jugend ist in der Tierwelt kein biologisches
Universalgesetz. Einige Primaten, wie Orang-Utans, Schimpansen und japanische
Makaken ziehen ältere Weibchen vor, die ihre reproduktiven Fähigkeiten schon
bewiesen haben, indem sie Junge zur Welt brachten, und zeigen nur wenig sexuelles
Interesse an heranwachsenden Weibchen, da diese eine geringe Fruchtbarkeit aufwei-
sen (Symons,1987). Männer sahen sich einzigartigen adaptiven Problemen ausgesetzt
und haben daher ein entsprechendes Erleben und Verhalten im sexuellen Bereich ent-
wickelt. Sie ziehen Jugend wegen der zentralen Bedeutung der Ehe im Partnerverhal-
ten der Menschen vor. Ihre Wünsche zielen auf das künftige reproduktive Potential
und nicht nur auf das unmittelbare reproduktive Potenzial. Sie legen einen hohen
Wert auf das physische Erscheinungsbild, da es viele Hinweise auf die reproduktive
Kapazität einer potentiellen Partnerin enthält.
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Kapitel 5 Langfristige Partnerwahl-Strategien des Mannes 221
Das zweite große adaptive Problem ist die Ungewissheit der Vaterschaft. Im Lauf der
menschlichen Evolutionsgeschichte riskierten Männer, die diesem Problem gleich-
gültig gegenüberstanden, die Kinder eines anderen Mannes aufzuziehen, was für
ihren Reproduktionserfolg äußerst nachteilig gewesen wäre. Männer in vielen Län-
dern ziehen deshalb jungfräuliche Frauen vor, aber dies ist nicht überall der Fall. Eine
bessere allgemein verbreitete Lösung scheint zu sein, Hinweise auf die künftige
Treue einzuschätzen und sicher zu sein, dass die Frau nur mit ihrem Ehemann
Geschlechtsverkehr haben wird.
Männer wollen physisch attraktive, junge, sexuell loyale Frauen, die ihnen treu blei-
ben. Diese Präferenzen können weder der westlichen Kultur, dem Kapitalismus, wei-
ßer angelsächsischer Bigotterie, den Medien, noch der unaufhörlichen Gehirnwäsche
durch Werbung zugeschrieben werden, denn sie scheinen universell zu sein. Nicht
eine einzige kulturelle Ausnahme von diesem Trend wurde je dokumentiert. Die Part-
nerpräferenzen der Männer scheinen tief verwurzelte, psychologische Mechanismen
zu sein, die die Partnerwahl beeinflussen wie auch unsere Geschmacksvorlieben
unsere Entscheidungen über den Konsum von Nahrung bestimmen.
Vier Quellen bestätigen die Hypothese, dass die Partnerpräferenzen das tatsächliche
Partnerverhalten der Männer beeinflussen. Zum einen antworten Männer häufiger auf
Bekanntschaftsanzeigen, in denen Frauen behaupten, sie seien jung und attraktiv.
Zum zweiten heiraten Männer weltweit Frauen, die etwa drei Jahre jünger als sie
selbst sind. Männer, die sich scheiden lassen und wieder heiraten, heiraten beim zwei-
ten Mal Frauen, die fünf Jahre jünger sind und beim dritten Mal solche, die acht Jahre
jünger sind. Drittens widmen Frauen der Verschönerung ihres Erscheinungsbildes im
Zusammenhang mit der Anziehung von Männern viel Mühe, was zeigt, dass Frauen
auf die von Männern ausgedrückten Präferenzen reagieren. Viertens tendieren Frauen
dazu, ihre Rivalinnen abzuwerten, indem sie ihr physisches Erscheinungsbild herab-
setzen und sie promiskuitiv nennen. Das sind Taktiken, die effektiv sind, da sie Riva-
linnen für Männer weniger attraktiv machen, indem sie die Präferenzen der Männer
verletzen.
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222 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Weiterführende Literatur
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Kapitel
6 Kurzfristige sexuelle
Strategien
[Frauen] brennen nicht selten mit einem auserwählten Liebhaber durch …Wir se-
hen also … Frauen befinden sich nicht in einer so elenden Lage, was ihr Verhältnis
zur Heirat betriff, wie oftmals angenommen wurde. Sie sind in der Lage den Mann
zu verführen, den sie auserkoren haben und manchmal können sie jene, die sie ge-
ring schätzen, zurückweisen – sei es vor oder nach der Eheschließung.
– Charles Darwin, 1871
Die biologische Ironie dieses Paradoxes ist, dass Männer sich nicht zur Promisku-
ität hin entwickelt haben könnten, wenn ihnen im Lauf der Geschichte Frauen im-
mer die Gelegenheit verweigert hätten, diesen Wesenszug auszuleben.
– Robert Smith, 1984
Stellen Sie sich vor, eine attraktive Person des anderen Geschlechts kommt auf dem Uni-
versitätscampus eines Tages auf Sie zu und sagt: „Hallo, Du bist mir schon letztens in der
Stadt aufgefallen und ich finde Dich sehr attraktiv. Willst Du mit mir schlafen?“ Wie wür-
den Sie reagieren? Wenn Sie zu den 100% der in einer Studie befragten Frauen gehören
würden, wäre Ihre Antwort ein klares Nein. Diese Frage würde Sie beleidigen, verärgern
oder einfach nur verwirren. Wenn Sie aber einer der Männer wären, die in der Studie
befragt wurden, stünden die Chancen, dass Sie Ja sagen würden, nicht schlecht – denn
75% dieser Männer sagten tatsächlich Ja (Clarke & Hatfield, 1989). Als Mann würden
Sie sich von diesem Angebot wahrscheinlich geschmeichelt fühlen. Viele der übrigen
25% der Männer, die das Angebot ausschlugen, entschuldigten sich sogar und gaben an,
bereits etwas anderes vorzuhaben oder gebunden zu sein. Der Gedanke, dass Männer und
Frauen unterschiedlich reagieren, wenn es um flüchtigen Sex geht, mag vielleicht nicht
überraschen. Die Theorien der evolutionären Psychologie schaffen jedoch eine prinzi-
piengestützte Basis, aufgrund derer man diese Unterschiede vorhersagen und das Ausmaß
der Abweichung erklären kann.
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224 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
einen größeren Platz einnimmt als bei den Frauen. Zum zweiten untersuchen wir den
möglichen Preis, den ein Mann in einer kurzfristigen Beziehung zahlen muss. Drittens
wenden wir uns den speziellen adaptiven Problemen zu, die Männer zu lösen haben,
wenn sie sich erfolgreich auf kurzfristige sexuelle Beziehungen einlassen wollen.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 225
von Gewalt durch eifersüchtige Ehemänner oder Partner zu werden, wenn die Frauen, mit
denen sie ihre Strategie vollzogen, verheiratet waren oder eine andere Beziehung führten,
(5) das Opfer von Gewalt durch Väter oder Brüder der Frauen zu werden und (6) dass
sich auch ihre Frauen auf Affären einließen und dass dadurch die hohen Kosten einer
Scheidung auf sie zukamen (Buss & Schmitt, 1993; Daly & Wilson, 1988; Freeman,
1983).
Angesichts der großen potentiellen adaptiven Vorteile einer kurzfristigen Partnerstrategie
für Männer könnte die Selektion die Verfolgung einer solchen Strategie begünstigt haben,
obwohl diese mit hohen Kosten verbunden ist. Wäre dies der Fall gewesen, so könnten
wir erwarten, dass die Selektion bei Männern psychologische Mechanismen begünstigte,
die auf diese Kosten empfindlich reagierten und sie wenn möglich zu reduzieren suchten
oder noch besser eine kurzfristige Partnerstrategie nur dann verfolgten, wenn dieser Auf-
wand gering war oder vermieden werden konnte. Bei der Verfolgung einer kurzfristigen
Partnerstrategie sind also eine Reihe spezifischer adaptiver Probleme zu lösen, denen wir
uns nun zuwenden wollen.
Kurzfristige Beziehungen können Vorteile haben, die von der ursprünglichen Funk-
tion abweichen. Sich als Schauspieler oder Schauspielerin eine Rolle in einem Kino-
film zu sichern, kann ein solcher Vorteil einer kurzfristigen Beziehung (z.B. zu einem
Produzenten) sein, ist aber wohl kaum eine der ursprünglichen Funktionen einer sol-
chen Partnerwahl. Kinofilme sind eine moderne Erfindung und gehören nicht zu der
selektiven Umwelt, in der sich der Mensch entwickelte. Das heißt jedoch nicht, dass
es den Tausch „Sex gegen eine bestimmte Position oder ein Privileg“ als abstraktere
Funktion der Wahl einer kurzfristigen Partnerin nicht schon immer gegeben hat.
Einige Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Vorteil auch gleichzeitig eine
Funktion der Wahl einer kurzfristigen Partnerin ist: (1) es muss in der menschlichen
Evolutionsgeschichte ein ständig wiederkehrender Selektionsdruck bestanden haben,
so dass (2) diejenigen wiederholt belohnt wurden, die unter bestimmten Bedingungen
eine kurzfristige Partnerstrategie verfolgten; (3) in Fitness-Währung ausgedrückt
musste der Aufwand dieser kurzfristigen Strategie geringer sein als der Nutzen inner-
halb des jeweiligen Kontexts und (4) die Evolution musste die Entwicklung mindes-
tens eines psychologischen Mechanismus begünstigt haben, der speziell darauf aus-
gerichtet war, die Wahl eines kurzfristigen Partners unter bestimmten Umständen zu
fördern.
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226 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Da wir nicht in die Vergangenheit reisen können, müssen wir verschiedene Kriterien
heranziehen, um die Evolution solcher psychologischer Mechanismen, die speziell
auf die Förderung der Wahl einer kurzfristigen Partnerin ausgerichtet waren, nachzu-
vollziehen. Diese Kriterien sind unter anderem: (1) Verfolgen Menschen in vielen
oder sogar allen Kulturen unter bestimmten Umständen eine kurzfristige Partnerstra-
tegie, wenn sie nicht physisch daran gehindert werden? (2) Gibt es bestimmte Situa-
tionen, in denen Männer und Frauen verstärkt eine kurzfristige Partnerstrategie ver-
folgen, so dass man auf die Existenz psychologischer Mechanismen, die auf eben
diese Situationen ansprechen, schließen könnte? (3) Ist es auf der Basis unserer
Kenntnisse über das Umfeld unserer Vorfahren nachvollziehbar, wenn wir ableiten,
dass diese spezifischen Situationen auch Frauen wiederholt Gelegenheit geboten
haben, sich auf kurzfristige Beziehungen einzulassen? (4) Konnten sich Männer und
Frauen, die sich innerhalb dieser Situationen auf kurzfristige Beziehungen konzent-
rierten, möglicherweise einen Vorteil verschaffen? (5) War dieser Vorteil groß genug,
um die potentiellen Kosten dieser Beziehungen aufzuwiegen? (6) Sind die Situatio-
nen, in denen sich Männer und Frauen heute auf kurzfristige Beziehungen einlassen
analog zu den Situationen zur Zeit unserer Vorfahren, wo der Aufwand meist mini-
miert, die Vorteile aber maximiert werden konnten?
Die bisher durchgeführten empirischen Studien können nicht auf alle diese Fragen
eine Antwort geben und können auch nicht eindeutig entscheiden, was nun tatsächli-
che Funktionen und was lediglich Nebeneffekte einer kurzfristigen Partnerstrategie
sind. Aber dennoch bieten die vorhandenen empirischen Belege einige Anhalts-
punkte, welche Vorteile nun keine oder weniger gute Kandidaten für die tatsächlichen
Funktionen sind. Angesichts der Tatsache, dass kurzfristige Partnerstrategien in allen
bekannten Kulturen existieren - darunter auch die Ache (Hill Hurtado, 1996), die
Tiwi (Hart & Pilling, 1960), die !Kung (Shostak, 1981), die Hiwi (Hill & Hurtado,
1989) und die Yanomamö (Chagnon, 1983)-, dass so viele, auch Jahrhunderte alte,
Romane und Bühnenstücke von Untreue handeln, angesichts des Nachweises
menschlicher Spermien-Konkurrenz (Baker & Bellis, 1995) und angesichts des Wun-
sches nach sexueller Vielfalt, ist es durchaus nachvollziehbar, dass Männer und
Frauen zur Zeit unserer Vorfahren wiederholt die Möglichkeit hatten, in manchen Fäl-
len von kurzfristigen Beziehungen zu profitieren.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 227
Das Problem der Partneranzahl und -vielfalt. Eine erfolgreiche kurzfristige Partnerstra-
tegie erfordert eine Adaptation, die motivierenden Charakter hat und die Männer nach
einer Vielzahl sexueller Partner streben lässt. Eine unmittelbare Lösung des Problems der
Partneranzahl könnte in der Ausbildung eines entsprechenden Begehrens seitens des
Mannes liegen. Männer könnten im Laufe der menschlichen Evolutionsgeschichte ein
starkes Verlangen nach sexuellem Zugang zu einer Vielzahl von Frauen entwickelt haben
(Symons, 1979). Eine zweite spezifische Adaptation, die man aufgrund theoretischer
Überlegungen vermuten könnte, wäre eine Lockerung der Ansprüche, die Männer an eine
kurzfristige Sexualpartnerin stellen. Hohe Ansprüche schließen naturgemäß von vornher-
ein viele Frauen aus. Diese Lockerung der Maßstäbe sollte sich auf viele verschiedene
Eigenschaften der Partnerin beziehen, darunter Alter, Intelligenz, persönliche Eigenschaf-
ten und Umstände wie z.B. die Frage, ob die Frau im Moment einen Partner hat oder
nicht. Eine dritte zu erwartende Adaptation ist die Auferlegung minimaler zeitlicher
Beschränkungen – d.h. vor dem eigentlichen Geschlechtsverkehr soll so wenig Zeit wie
möglich vergehen. Je weniger Zeit der Mann verstreichen lässt, um so größer ist die Zahl
seiner potentiellen Sexualpartnerinnen. Lange zeitliche Verzögerungen beeinträchtigen
ebenso wie hohe Ansprüche eine Lösung des adaptiven Problems der Partneranzahl.
Das Problem der sexuellen Zugänglichkeit. Da Männer weniger in eine Partnerschaft
investieren, sind sie bei der Wahl einer kurzfristigen Partnerin auch erwartungsgemäß
weniger wählerisch als Frauen. Trotzdem ergäben sich für einen Mann eindeutig mehr
Reproduktionsvorteile, wenn er sich bei der Partnersuche direkt auf Frauen konzentrieren
würde, die sexuell zugänglich sind. Verwendet er viel Zeit, Energie und Werbungsres-
sourcen an eine Frau, die dem Geschlechtsverkehr höchst wahrscheinlich nicht zustim-
men wird, so ist das für den Mann keine erfolgreiche kurzfristige Partnerstrategie.
Spezialisierte Adaptationen zur Lösung des Problems sexueller Zugänglichkeit zeigen
sich erwartungsgemäß in den Partnerpräferenzen des Mannes. Es sollten also Frauen, die
prüde, sexuell unerfahren oder konservativ sind oder kein großes sexuelles Verlangen
haben, gemieden werden. Signalisieren Kleidung und Verhalten einer Frau sexuelle
Offenheit und Bereitwilligkeit, so könnte das zwar bei der langfristigen Partnerwahl uner-
wünscht sein, für die Wahl einer kurzfristigen Partnerin aber genau den Wünschen der
Männer entsprechen, denn dies deutet auf sexuelle Zugänglichkeit hin.
Das Problem herauszufinden, welche Frauen fruchtbar sind. Man kann die klare evolu-
tionäre Vorhersage treffen, dass Männer, die eine kurzfristige Partnerin suchen, Frauen
bevorzugen, die Hinweise auf Fruchtbarkeit aussenden. Denn bei besonders fruchtbaren
Frauen ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem einzigen Sexualakt schwanger zu werden,
am größten. Männer, die langfristige Partnerinnen suchen, werden dagegen eher jüngere
Frauen mit hohem reproduktiven Wert bevorzugen, denn bei diesen ist die Wahrschein-
lichkeit einer zukünftigen Reproduktion größer (siehe Kapitel 5 für die Unterscheidung
zwischen Fruchtbarkeit und reproduktivem Wert).
Dieser Unterschied zwischen reproduktivem Wert und Fruchtbarkeit garantiert aber nicht,
dass die Selektion zwei verschiedene Attraktivitätsstandards für Männer herausgebildet
hat, je nachdem, ob sie eine kurzfristige Sexualpartnerin oder eine langfristige Ehepartne-
rin suchen. Am wichtigsten dabei ist, dass diese Unterscheidung herangezogen werden
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228 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
kann, um eine Hypothese über die Verschiebung der Alterspräferenzen aufzustellen, die
wir auch testen können. Männer, die auf der Suche nach kurzfristigen Partnerinnen sind,
bevorzugen höchst wahrscheinlich fruchtbare Frauen.
Das Problem der Vermeidung von Bindungen. Männer, die eine kurzfristige Partnerin
suchen, werden erwartungsgemäß Frauen meiden, die eine ernsthafte Bindung oder
Investition verlangen, bevor sie dem Geschlechtsverkehr zustimmen. Je größer die Inves-
tition in eine bestimmte Frau ist, desto geringer ist die Zahl der Sexualpartnerinnen, die
ein Mann für sich gewinnen kann. Frauen, die hohe Investitionen fordern, zwingen den
Mann, eine langfristige Partnerstrategie zu verfolgen, was ganz offensichtlich mit dem
Streben nach kurzfristigen, opportunistischen sexuellen Beziehungen im Konflikt steht.
Also werden Männer, die kurzfristige Beziehungen anstreben, Frauen meiden, die sich
eine langfristige Bindungsbereitschaft und aufwändige Investitionen wünschen, und die
dem Geschlechtsverkehr nur zustimmen, wenn bei einem Mann diese Bedingungen
erfüllt sind.
Zusammenfassend hätte das Streben des Mannes nach einer kurzfristigen Partnerstrategie
theoretisch einigen Aufwand sowie mehrere zu lösende adaptive Probleme mit sich
gebracht. Wenn Männer im Laufe der Evolutionsgeschichte dennoch solche kurzfristigen
Strategien verfolgt haben, können wir davon ausgehen, dass sie Lösungen für diese entwi-
ckelt haben. So sollten Männer, die nur auf flüchtigen Sex aus sind, besonders Frauen
bevorzugen, die signalisieren, dass sie selbst unmittelbar sexuell verfügbar und fruchtbar
sind und außerdem keinen langfristigen Bindungswillen voraussetzen. Wenden wir uns
nun empirischen Belegen für die zugrunde liegende Psychologie kurzfristiger Partnerstra-
tegien zu.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 229
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 231
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232 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Männer
Frauen
20
15
Anzahl der Partner
10
0
1 Mo 6 Mo 1J 2J 3J 4J 5J 10 J 20 J 30 J Leben
Zeit
Zeitspanne vor dem sexuellen Kontakt. Eine weitere psychologische Lösung für das
Problem des sexuellen Zugangs zu vielen verschiedenen Partnern ist es, möglichst wenig
Zeit zwischen dem Kennenlernen der Frau und dem ersten sexuellen Kontakt mit ihr ver-
streichen zu lassen. Je weniger Zeit ein Mann verstreichen lässt, desto größer ist die Zahl
der Frauen, mit denen er erfolgreiche sexuelle Kontakte haben kann. Ein großer Zeitauf-
wand bedeutet für den Mann eine große Investition in eine Partnerin und beeinträchtigt
somit die Lösung des Problems, viele verschiedene Sexualpartner zu haben.
Weibliche und männliche Studenten gaben an, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie einem
sexuellen Kontakt mit einer Person zustimmen würden, die sie als attraktiv empfanden,
wenn sie diese Person eine Stunde, einen Tag, eine Woche, einen Monat, sechs Monate,
ein Jahr, zwei Jahre oder fünf Jahre kannten (siehe Abbildung 6.2). Bei allen kürzeren
Zeiträumen lag bei Männern die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Kontakts höher als
bei Frauen.
Wenn sie eine potentielle Partnerin etwa eine Woche kennen, stehen die Männer möglichem
Geschlechtsverkehr mit ihr im Durchschnitt positiv gegenüber. Bei Frauen ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass sie nach einer Woche mit einem Partner Geschlechtsverkehr haben, sehr
gering. Kennen die Männer eine mögliche Partnerin erst eine Stunde, lehnen die meisten
sexuellen Kontakt eher ab, wobei die Ablehnung nicht sehr stark ist. Für die meisten Frauen
dagegen ist Sex nach nur einer Stunde Bekanntschaft so gut wie unmöglich.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 233
Ebenso wie ihre Wünsche stellt auch die Neigung der Männer, möglichst wenig Zeit bis
zum ersten sexuellen Kontakt verstreichen zu lassen, eine Teillösung des adaptiven Prob-
lems des sexuellen Zugangs zu einer Reihe von Partnerinnen dar. Die Tatsache, dass Män-
ner eher bereit sind, nach nur kurzer Zeit einem sexuellen Kontakt zuzustimmen, wurde
in mehreren Studien mit Testpersonen verschiedenen Alters und aus verschiedenen Regi-
onen der USA ausführlich belegt (Schmitt, Shackelford & Buss, 2001).
3
Männer
Wahrscheinlichkeit des Geschlechtsverkehrs
Frauen
2
–1
–2
–3
5J 2J 1J 6 Mo 3 Mo 1 Mo 1 Wo 1 Tag 1 Abd 1 Std
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234 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 235
Minimale Bindung nach dem Sex. Der Evolutionspsychologe Martie Haselton erbrachte
vor kurzem den Beleg für eine mögliche Adaptation beim Mann, die den Erfolg einer
kurzfristigen Partnerstrategie begünstigt: eine emotionale Verlagerung unmittelbar nach
dem Geschlechtsverkehr (Haselton & Buss, 2001). Männer, die mehrere Sexualpartnerin-
nen hatten, empfanden diese unmittelbar nach dem Geschlechtsverkehr als sehr viel
weniger sexuell attraktiv. Weder Frauen noch sexuell weniger erfahrene Männer machten
ähnliche Erfahrungen. Wenn weitere Studien diesen Effekt der verringerten Attraktivität
bestätigen, könnte dies die Hypothese stützen, dass Männer eine weitere psychologische
Adaptation entwickelt haben, die den Erfolg einer kurzfristigen Sexualstrategie begüns-
tigt. Diese Adaptation führt dazu, dass sie eine Beziehung nach dem Geschlechtsverkehr
hastig abbrechen, um ihre Investition in eine beliebige Frau zu minimieren, oder dass sie
auch innerhalb einer bestehenden langfristigen Beziehung einen Blick auf andere attrak-
tive Frauen riskieren.
Das Phänomen Sperrstunde. Ein verwandter psychologischer Hinweis auf die männli-
che Strategie der kurzfristigen Sexualbeziehungen lässt sich von Studien ableiten, die
untersuchten, wie sich die Beurteilung der Attraktivität im Laufe eines Abends in einer
Singlebar verändert (Gladue & Delaney, 1990; Nida & Koon, 1983; Pennebaker, Dyer,
Caulkins, Litowixz, Ackerman & Anderson, 1979). In einer Studie befragte man 137
Männer und 80 Frauen in einer Bar um 21 Uhr, um 22:30 Uhr und um Mitternacht und
bat sie, jeweils die Attraktivität der Vertreter des anderen Geschlechts auf einer Skala von
1 bis 10 zu bewerten (Gladue & Delaney, 1990). Je näher die „Sperrstunde“ rückte, um so
attraktiver empfanden die Männer die anwesenden Frauen. Lag die durchschnittliche
Bewertung um 21 Uhr noch bei 5,5, stieg sie bis Mitternacht auf 6,5. Zwar empfanden
auch die Frauen die anwesenden Männer mit der Zeit immer als attraktiver, insgesamt
bewerteten die Frauen die männlichen Barbesucher aber als weniger attraktiv als umge-
kehrt die Männer die Frauen. Frauen bewerteten die männlichen Barbesucher um 21 Uhr
knapp unterhalb des Durchschnittswerts von 5,0, zur „Sperrstunde“ um Mitternacht lag
der Wert immerhin bei 5,5 (siehe Abbildung 6.3).
Die Verlagerung des Attraktivitätsempfindens zur Sperrstunde bei Männern hängt nicht
davon ab, wie viel Alkohol sie getrunken haben. Bei der Bewertung spielte es keine
Rolle, ob ein Mann ein alkoholisches Getränk oder sechs zu sich genommen hatte. Das
oft zitierte Phänomen der „Bierseligkeit“, das besagt, dass Männer Frauen als immer
attraktiver empfinden, je betrunkener sie werden, könnte sich vielmehr auf einen psycho-
logischen Mechanismus beziehen, der auf im Laufe des Abends schwindende Gelegen-
heiten zu flüchtigem Sexualverkehr reagiert. Hat ein Mann zu später Stunde immer noch
nicht erfolgreich Kontakt zu einer Frau aufgenommen, empfindet er die übrigen Frauen in
der Bar als immer attraktiver und aufgrund dieser veränderten Betrachtungsweise wird er
wahrscheinlich verstärkt versuchen, mit einer dieser Frauen Sex zu haben. Das Phänomen
Sperrstunde scheint eine psychologische Lösung für das Problem zu sein, sexuellen
Zugang zu bekommen – eine kontextspezifische Minderung der Ansprüche als Reaktion
auf eine allmählich sinkende Wahrscheinlichkeit sexueller Zugänglichkeit.
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236 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Weibliche Barbesucher
Männliche Barbesucher
7
Attraktivität
6
4
21:00 Uhr 22:30 Uhr Mitternacht
Zeitspannen
Unterschiede bei sexuellen Fantasien. Sexuelle Fantasien sind ein weiterer psychologi-
scher Hinweis darauf, dass die Evolutionsgeschichte von der männlichen Neigung zu
kurzfristigen sexuellen Kontakten geprägt war. Fantasien sind natürlich keine tatsächli-
chen Handlungen, sie sagen aber etwas über die Wünsche aus, die das Verhalten von
Männern und Frauen motivieren. Studien dokumentieren große Unterschiede zwischen
den sexuellen Fantasien von Männern und Frauen. Forschungen in Japan, Großbritannien
und den USA ergaben, dass Männer etwa doppelt so viele sexuelle Fantasien haben wie
Frauen (Ellis & Symons, 1990; Wilson, 1987). Auch haben Männer häufiger sexuelle
Träume als Frauen. Sexuelle Fantasien von Männern drehen sich häufiger um fremde Per-
sonen, mehrere oder anonyme Sexualpartner. Die meisten Männer geben beispielsweise
an, dass sie während eines sexuellen Fantasie-Erlebnisses manchmal die Sexualpartner
wechseln, während Frauen meist angeben, den Partner nur selten zu wechseln. 43% der
Frauen, jedoch nur 12% der Männer geben an, den Sexualpartner während einer sexuellen
Fantasie nie zu wechseln; 32% der Männer, aber nur 8% der Frauen sagen, dass sie sich
im Laufe ihres Lebens sexuelle Kontakte bereits mit mehr als 1.000 verschiedenen Part-
nern vorgestellt hatten. Eine beispielhafte sexuelle Fantasie eines Mannes könnte darin
bestehen, der „Bürgermeister einer Kleinstadt voller nackter Mädchen zwischen 20 und
24 Jahren zu sein. Ich gehe gerne spazieren und suche mir die hübscheste aus, die dann
mit mir schläft. Alle Frauen schlafen mit mir, wenn ich will.“ (Barclay, 1973, S. 209).
Anzahl und Abwechslung spielen in den Fantasien der Männer eine große Rolle.
Männer konzentrieren sich auf Körperteile und sexuelle Stellungen ohne jeden emotiona-
len Kontext. Männliche Sexualfantasien sind sehr visuell und hauptsächlich auf weiche
Haut und sich bewegende Körperteile ausgerichtet. Während einer sexuellen Fantasie
konzentrieren sich 81% der Männer, aber nur 43% der Frauen auf visuelle Bilder anstelle
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 237
von Gefühlen. Attraktive Frauen, die viel nackte Haut zeigen und so leichte Zugänglich-
keit und keine erforderliche Bindung signalisieren, spielen in männlichen Fantasien oft
die Hauptrolle. Wie die Evolutionspsychologen Bruce Ellis und Donald Symons beob-
achteten, ist „das auffallendste Merkmal [männlicher Fantasien], dass der Sex reine Lust
und körperliche Befriedigung ist ohne belastende Beziehungen, emotionale Arbeit, kom-
plizierte Handlungsstränge, Flirts, Werbung oder ausgedehntes Vorspiel“ (Ellis & Sym-
ons, 1990, S. 544). Diese Fantasien zeigen, dass Männer psychologisch darauf program-
miert sind, sich Zugang zu einer Vielzahl von Frauen zu verschaffen.
Die Sexualfantasien der Frauen handeln dagegen oft von ihnen vertrauten Partnern. 59%
der amerikanischen Frauen, aber nur 28% der Männer geben an, dass ihre sexuellen Fan-
tasien sich normalerweise um eine Person drehen, mit der sie bereits eine romantische
oder sexuelle Beziehung führen. Emotionen und Persönlichkeit sind für Frauen aus-
schlaggebend. 41% der Frauen, doch nur 16% der Männer sagen, sie konzentrierten sich
am meisten auf die persönlichen und emotionalen Eigenschaften des Fantasiepartners und
57% der Frauen, doch nur 19% der Männer geben an, dass sie sich auf Gefühle und nicht
auf visuelle Bilder konzentrieren. Eine Frau gab an: „Meistens denke ich an meinen
Freund. Manchmal merke ich, dass meine Gefühle mich überwältigen, über mir zusam-
menschlagen und mich mitreißen.“ (Barclay, 1973, S. 211). Frauen legen in ihren Sexual-
fantasien Wert auf Zärtlichkeit, Romantik und eine persönliche Beziehung. Sie achten
eher darauf, wie ihr Partner auf sie reagiert als auf visuelle Bilder ihres Partners (Ellis &
Symons, 1990).
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238 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Der Anthropologe Thomas Gregor beschrieb die sexuellen Gefühle des Mehinaku-Stammes
im Amazonas so: „Die sexuelle Attraktivität der Frau reicht von ,neutral’ (mana) bis zu ,köst-
lich’ (awirintya) …“ (1985, S. 84). Außerdem stellt Gregor fest, dass „leider Sex mit dem
Ehepartner als mana gilt, während Sex mit einem/einer Geliebten fast immer awirintya ist“
(Gregor, 1985, S. 72). Kinsey brachte es am treffendsten auf den Punkt: „Es scheint außer
Frage zu stehen, dass der Mann im Laufe seines Lebens häufig seine Sexualpartnerinnen
wechseln würde, wenn es keine gesellschaftlichen Schranken gäbe. … Die Frau interessiert
sich weit weniger für eine Vielzahl an Partnern.“ (Kinsey, Pomeroy & Martin, 1948, S. 589).
Prostitution. Der relativ wahllose Austausch sexueller Dienste gegen wirtschaftlichen
Gewinn zeigt ebenso das größere Verlangen der Männer nach flüchtigem Sex (Symons,
1979). Prostitution gibt es in allen erforschten Kulturen, von den Azande in Afrika bis zu
den Zuni in Nordamerika (Burley & Symanski, 1981). In den USA gibt es Schätzungen
zufolge zwischen 100.000 und 500.000 aktive Prostituierte. Tokio hat über 130.000,
Polen etwa 230.000 und Addis Abeba in Äthiopien 80.000 Prostituierte. In Deutschland
gibt es 50.000 offiziell registrierte und dreimal so viele illegal arbeitende Prostituierte. In
allen Kulturen sind fast nur Männer ihre Kunden. Kinsey fand heraus, dass 69% der ame-
rikanischen Männer bereits einmal eine Prostituierte aufgesucht hatten, für 15% war ein
solcher Besuch ein regelmäßiges Vergnügen. Bei den Frauen waren die entsprechenden
Werte so gering, dass sie noch nicht einmal berichtet wurden (Kinsey, et al., 1948, 1953).
Die weite Verbreitung der Prostitution bedeutet nicht, dass sie eine Adaptation ist, also
ein Ziel evolutionärer Selektion war. Man kann sie vielmehr als Konsequenz zweier
gleichzeitig operierender Faktoren sehen: das Verlangen der Männer nach flüchtigem Sex
und die freiwillige oder unfreiwillige Entscheidung der Frauen, sexuelle Dienste aus wirt-
schaftlicher Not heraus gegen materielle Gegenleistung anzubieten.
Physiologische, psychologische und verhaltensbezogene Belege weisen allesamt auf eine
lange evolutionäre Geschichte hin, die durch kurzfristige Beziehungen als Teil des
menschlichen strategischen Repertoires geprägt war und ist (siehe Tabelle 6.1).
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 239
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240 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 241
Hypothese Autor
Ressourcen
Investition durch Verschleierung der Vaterschaft Hrdy (1981)
Unmittelbare wirtschaftliche Ressourcen Symons (1979)
Schutz durch „spezielle Freundschaften“ Smuts (1985)
Statussteigerung Smith (1984)
Genetik
Bessere oder „sexy son“-Gene Fisher (1958)
Verschiedene Gene Smith (1984)
Partnertausch
Partnervertreibung Greiling & Buss
Partnerersatz (2000)
Partnerversicherung [Backup] Symons (1979)
Smith (1984)
Tabelle 6.2: Hypothetische Vorteile für Frauen: Kurzfristige Partnerstrategie
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242 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Die Hypothese des genetischen Vorteils. Auch genetisch können sich mehrere Vorteile
ergeben. Der erste Vorteil ist offensichtlich – gesteigerte Fruchtbarkeit. Ist der reguläre
Partner einer Frau unfruchtbar oder impotent, so kann ein kurzfristiger fruchtbarer Part-
ner ihr zur Empfängnis verhelfen.
Zweitens kann ein temporärer Partner im Vergleich zum regulären Partner bessere Gene
anzubieten haben, besonders wenn die Frau eine Affäre mit einem gesellschaftlich höher
gestellten Mann hat. Mit diesen Genen könnten ihre Kinder bessere Chancen haben, zu
überleben und sich fortzupflanzen. Eine bekannte Version dieser Theorie ist die „sexy
son hypothesis“, die Hypothese des sexy Sohnes (Fisher, 1958). Geht eine Frau mit einem
besonders attraktiven Mann eine Beziehung ein, so stehen die Chancen gut, dass sie einen
attraktiven Sohn zur Welt bringt, der auf Frauen der nächsten Generation besonders
anziehend wirkt. Ihr Sohn hat also verstärkten sexuellen Zugang, zeugt mehr Kinder und
schenkt seiner Mutter so mehr Enkelkinder.
Drittens könnte ein kurzfristiger Partner einer Frau andere Gene liefern als ihr regelmäßi-
ger Partner und so die genetische Vielfalt ihrer Kinder erhöhen – dies wiederum könnte
einen Schutz gegen eine sich verändernde Umwelt bieten (Smith, 1984). Von allen hypo-
thetischen Vorteilen kurzfristiger Beziehungen für Frauen sind die genetischen Hypothe-
sen am schwierigsten zu testen.
Die Partnertausch-Hypothese. Weitere Vorteile bringt ein Partnertausch. Manchmal hört
ein Mann plötzlich auf, seine Familie mit Ressourcen zu versorgen, beginnt Frau und
Kinder zu missbrauchen oder verliert auf andere Weise an Wert für seine Partnerin (Bet-
zig, 1989; Fisher, 1992; Smith, 1984). Unsere weiblichen Vorfahren könnten durch kurz-
fristige Beziehungen nach einer Lösung für dieses adaptive Problem gesucht haben.
Diese Hypothese weist verschiedene Varianten auf. Nach der Partnervertreibungs-Hypo-
these würde eine kurzfristige Affäre der Frau helfen, ihren langfristigen Partner loszuwer-
den. Da sich in vielen Kulturen die Männer von ihren Frauen scheiden lassen, wenn diese
eine Affäre haben (Betzig, 1989), wäre dies ein wirkungsvolles Mittel für die Frau, um
ein Ende der Partnerschaft herbeizuführen.
Eine weitere Variante dieser Hypothese geht davon aus, dass eine Frau einfach einen
Mann finden könnte, der viel besser ist als ihr Ehemann, und deshalb eine kurzfristige
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 243
Affäre anstrebt, um einen Partnertausch einzuleiten. Helen Fisher schreibt dazu: „Durch
seltenen Kontakt zum anderen Geschlecht könnte eine Frau wenig Gelegenheit gehabt
haben, bei ihrer ersten Partnerwahl einen guten Partner zu bekommen, [so dass sie in der
Lage ist], … sich beim zweiten Versuch ,zu verbessern’. …. Der reproduktive Wert
[ihres] ersten Partners könnte sich aufgrund einer Verletzung drastisch verringern; also
hätte ihr zweiter Partner … einen höheren reproduktiven Wert als ihr erster.“ (Fisher,
1992, S. 337).
Die Hypothese über die Erlangung partnerschaftlicher Fähigkeiten. Weitere Vorteile
könnten sich für eine Frau dadurch ergeben, dass sie für Partnerschaften relevante Fähig-
keiten erlangt (Greiling & Buss, 2000). Indem sie kurzfristige Beziehungen wählt, könnte
eine Frau ihre Fähigkeiten in Bezug auf Attraktivität und Verführung verbessern. Sie
könnte auch genauer klären, welche Eigenschaften sie sich bei einem langfristigen Part-
ner wünscht.
Die Hypothese der Partnermanipulation. Auch durch die Manipulation ihres Partners
ergeben sich für eine Frau Vorteile. Indem sie sich auf eine Affäre einlässt, könnte die
Frau an ihrem Ehemann Rache für seine Untreue nehmen und ihn so von eventuellen
zukünftigen Affären abhalten (Symons, 1979). Alternativ könnte eine Frau den Bin-
dungswillen ihres regulären Partners steigern, wenn sie ihm überzeugende Hinweise dar-
auf liefert, dass andere Männer ernsthaft an ihr interessiert sind (Greiling & Buss, 2000).
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244 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Ist eine Frau unverheiratet und geht kurzfristige Beziehungen ein, so riskiert sie eine
Schwangerschaft ohne die Vorteile eines investierenden Mannes. Zur Zeit unserer Vorfah-
ren wären Kinder aus solchen Beziehungen sehr viel häufiger den Gefahren von Krank-
heit, Verletzung und Tod ausgesetzt gewesen. Einige Frauen begehen ohne einen investie-
renden Mann an ihrer Seite sogar einen Kindsmord. So wurden in Kanada nur 12% aller
zwischen 1977 und 1983 geborenen Kinder von allein stehenden Frauen zur Welt
gebracht, diese begingen aber über 50% der 64 angezeigten, durch die Mutter verübten
Kindsmorde (Daly & Wilson, 1988). Der Trend höherer Kindsmordraten bei allein ste-
henden Frauen zeigt sich in vielen Kulturen, so auch bei den Baganda in Afrika. Doch
selbst ein Kindsmord kann den erheblichen Aufwand einer neunmonatigen Schwanger-
schaft, einer Rufschädigung und vieler verlorener Partnerwahlmöglichkeiten nicht unge-
schehen machen.
Eine untreue Ehefrau riskiert außerdem, dass ihr Mann seine Ressourcen entzieht. Aus
reproduktiver Sicht könnte sie in einer außerehelichen Beziehung nur kostbare Zeit ver-
schwenden. Außerdem riskiert sie eine mögliche höhere Geschwister-Rivalität unter
ihren Kindern, die keine enge Bindung zueinander hätten, da sie von verschiedenen
Vätern gezeugt wurden. Schließlich laufen die Frauen auch Gefahr, sich bei kurzfristigen
Partnern mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken – ein Risiko, dem Frauen bei
jedem Geschlechtsakt stärker ausgesetzt sind als Männer (Symons, 1993).
Eine kurzfristige Partnerstrategie birgt also für beide Geschlechter Risiken. Da sie jedoch
auch erhebliche Vorteile bringen kann, könnten Männer und Frauen psychologische
Mechanismen entwickelt haben, um Situationen und Bedingungen zu ermöglichen, unter
denen die Kosten minimiert und die Vorteile maximiert werden.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 245
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246 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Auch zwei der Ressourcen-Hypothesen konnten durch die Ergebnisse von mindestens
zwei Studien gestützt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen im Austausch gegen
Sex Ressourcen erlangen könnten, z.B. Einladungen zum Abendessen, Geld, Schmuck
oder Kleidung, wurde sehr hoch eingeschätzt (zehnter Platz von 28 möglichen). Diese
Vorteile wurden allerdings im Vergleich zu anderen potentiellen Vorteilen aufgrund kurz-
fristiger Beziehungen als nur mäßig wichtig eingeschätzt. Zu den Umständen, die nach
Einschätzung der Frauen zur Aufnahme einer außerehelichen Affäre führen, gehören
unter anderem, dass der gegenwärtige Partner seinen Job nicht halten konnte und dass der
andere Mann bessere finanzielle Aussichten hatte. Diese Umstände legen nahe, dass der
Zugang zu Ressourcen, oder eben der fehlende Zugang, bei der Entscheidung der Frau für
oder gegen eine außereheliche Affäre eine große Rolle spielen könnte, und sie zeigen,
dass eine Frau langfristig eher an einem Partner mit Ressourcen interessiert ist als an
einem Austausch von Sex gegen unmittelbar zugängliche Ressourcen.
Viel versprechende Hypothesen: Gute Gene und „sexy Sohn-Gene“. Die Gesetze des
Partnerschaftsmarkts lassen es zu, dass sich eine Frau prinzipiell durch eine kurzfristige
Affäre die Gene eines besseren Partners sichern kann als die ihres eigenen Partners. Ein
begehrter Mann geht oft bereitwillig eine kurze Beziehung mit einer weniger begehrens-
werten Frau ein, solange sie ihm keine langfristige Bindung aufzwingt. Die Hypothese
der guten Gene wurde auf die Probe gestellt (Gangestad & Thornhill, 1997). Die Forscher
bewerteten die genetische Qualität mithilfe des Indikators physischer Symmetrie, wobei
sie einen Tastzirkel einsetzten. Erinnern wir uns aus Kapitel 4, dass symmetrische
Gesichtszüge vererbbare Hinweise auf Gesundheit und Fitness sein sollen, die signalisie-
ren, dass die vorhandenen Gene gegen Krankheiten und andere negative Umwelteinflüsse
stärker resistent sind. Die Forscher ermittelten, dass bei Männern mit symmetrischen
Gesichtszügen – im Vergleich zu ihren ungleichmäßiger aussehenden Geschlechtsgenos-
sen – die Wahrscheinlichkeit größer war, dass sie sich auf eine Beziehung mit Frauen ein-
ließen, die bereits gebunden waren. Frauen suchen sich also Männer mit symmetrischen
Gesichtszügen als Partner für ihre Affären aus, was als Beleg dafür gewertet werden
kann, dass sie bei kurzfristigen Beziehungen nach guten Genen suchen. Außerdem legen
Frauen bei einer kurzen Affäre großen Wert auf die physische Attraktivität und die
„Anziehungskraft auf andere Frauen“ (Buss & Schmitt, 1993; Gangestad & Thornhill,
1997). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Frauen möglicherweise auf Gene aus
sind, die den sexuellen Erfolg ihrer Kinder steigern können. Obwohl diese Studien noch
nicht völlig ausgewertet sind, stützen sie doch alle die Hypothese der guten Gene als eine
mögliche Erklärung dafür, warum sich Frauen auf kurzfristige, außereheliche Affären
einlassen.
Nicht oder kaum bestätigte Hypothesen: Statussteigerung und Steigerung des Bin-
dungswillens des Partners. Eine Hypothese, die diese Studien nicht bestätigen konnten,
war die Hypothese der Statussteigerung. Studie 1 (angenommene Wahrscheinlichkeit zu
erlangender Vorteile; Greiling & Buss, 2000) ergab, dass eine Frau durch eine kurze
Affäre ihren Status eher nicht erhöhen und auch nicht in eine höhere gesellschaftliche
Schicht aufsteigen würde. Studie 2 (angenommenes Ausmaß der Vorteile; Greiling &
Buss, 2000) ergab, dass, selbst wenn sich eine Frau diese Vorteile sichern könnte, diese
für sie nicht besonders ins Gewicht fallen würden. Diese Ergebnisse schließen jedoch die
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 247
Möglichkeit nicht aus, dass manche Frauen unter bestimmten Umständen nicht dennoch
erhebliche soziale Vorteile aus einer kurzfristigen Affäre mit einem hoch gestellten Part-
ner erlangen können. Sie besagen jedoch, dass diese Vorteile eher selten und deshalb
nicht stark und ausgeprägt genug sind, um als evolutionsbedingte Funktion der kurzfristi-
gen Partnerwahl zu gelten.
Eine zweite Hypothese, die kaum bestätigt werden konnte, war die Argumentation, dass
der Bindungswille eines langfristigen Partners durch eine außereheliche Affäre gesteigert
werden könnte. Obwohl dieser Effekt, wenn er tatsächlich eintreten sollte, positiv bewertet
wurde, schätzten ihn die Teilnehmer der Studie 1 als höchst unwahrscheinlich ein. Ange-
sichts der Tatsache, dass sexuelle Untreue seitens der Frau in vielen Kulturen einer der
Hauptgründe für eine Scheidung ist (Betzig, 1989), scheint es wahrscheinlicher, dass eine
Affäre sich genau gegenteilig auswirken und den Bindungswillen des regulären Partners
noch verringern könnte. Auch wenn im Einzelfall eine Affäre tatsächlich den allgemeinen
Trend widerlegen und sich positiv auf die Bindungsbereitschaft des Partners auswirken
sollte, so legen doch aktuelle Befunde nahe, dass dieser Effekt als evolutionsbedingter
Antrieb für die Suche der Frau nach kurzfristigen Partnern nicht ausgereicht hat.
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248 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Fähigkeiten stützt. Sie schätzen auch die Ressourcen aus einer kurzfristigen Beziehung
als vorteilhafter ein, darunter teure Designerkleidung (r = +.45), Karriereförderung
(r = +.40), Schmuck (r = +.37) und die Benutzung des Autos des Partners (r = +.35).
Frauen, die kurzfristige Beziehungen führen, schätzen auch die Umstände, die ein solches
Verhalten begünstigen, ganz anders ein. Einen langfristigen Partner zu haben, der entlas-
sen wird (r = +.29), der eine Gehaltskürzung hinnehmen muss (r = +.25) oder unheilbar
krank wird (r = +.23), ist in den Augen dieser Frauen ein Grund, sich auf kurzfristige
Beziehungen zu konzentrieren. Diese Ergebnisse bestätigen die Partnertausch-Hypothese
– bei Frauen, die ihren Angaben zufolge kurzfristige Partner gesucht haben, ist die Wahr-
scheinlichkeit größer, dass sie Probleme mit dem festen Partner als Begründung für eine
Affäre nennen. Nach Einschätzung dieser Frauen führt es eher zu einer außerehelichen
Affäre, wenn sie jemanden kennen lernen, der besser aussieht als ihr regulärer Partner
(r = +.25).
Eine weitere Studie, die anhand des SOI individuelle Unterschiede untersuchte, konzent-
rierte sich dabei auf Verschiebungen des „Wunsches nach einem langfristigen Bindungs-
willen“ des Partners (Townsend & Wasserman, 1998). Dieser Wunsch wurde mithilfe von
Aussagen gemessen wie: „Ich wüsste gerne, ob er/sie auch für eine festere Bindung zu
haben wäre (ob er/sie momentan keine andere feste Beziehung führt)“ (S. 183). Frauen,
die bevorzugt kurzfristige Beziehungen führen, waren im Vergleich zu ihren längerfristig
orientierten Geschlechtsgenossinnen sehr viel eher bereit, sich auch ohne Anzeichen
eines Bindungswillens auf sexuelle Kontakte mit einem Mann einzulassen. Außerdem
legten sie erheblich mehr Wert auf die Popularität und die physische Attraktivität des
Mannes – was als Unterstützung für die Hypothese des „sexy Sohnes“ gewertet werden
kann (siehe auch Townsend, 1998).
Frauen mit vornehmlich kurzfristigen Affären sehen zwei Kategorien der zu tragenden
Kosten als eher unwahrscheinlich an. Dies ist zunächst die Schädigung ihres Rufs. Diese
Frauen sehen die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Ruf bei Freunden, möglichen Partnern und
innerhalb gesellschaftlich höher gestellter Kreise geschädigt wird, als wesentlich gerin-
ger an als diejenigen Frauen, die sich nicht aktiv auf kurzfristige Beziehungen konzentrie-
ren (r = -.47). Vielleicht wählen diese Frauen auch Kontexte aus, in welchen diese Kosten
einfach seltener anfallen, z.B. in großen Städten oder dann, wenn der reguläre Partner
verreist ist. Insgesamt gesehen bestätigen diese Ergebnisse mehrere der hypothetischen
Vorteile der Strategie, kurzfristige Partner zu suchen, besonders die Ressourcen- und
Partnertausch-Hypothesen.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 249
unsere Vorlieben und Entscheidungen auch je nach Zeit und Kontext. Diese Variationen
der sexuellen Strategie hängen von einer Vielzahl von sozialen, kulturellen und ökologi-
schen Bedingungen ab.
Abwesenheit des Vaters – Präsenz des Stiefvaters. Man konnte eindeutig nachweisen,
dass Kinder, die ohne Vater aufwachsen, im Erwachsenenalter eher zu kurzfristigen
Beziehungen neigen. Bei den Mayan in Belize und den Ache in Paraguay beispielsweise
besteht eine Korrelation zwischen der Abwesenheit des Vaters und entsprechenden Anga-
ben der Männer, dass sie nicht bereit seien, notwendige Zeit, Energie und Ressourcen zu
investieren, um eine langfristige Partnerschaft aufrechtzuerhalten (Waynforth, Hurtado &
Hill, 1998). Andere Studien, die sowohl Männer als auch Frauen ins Visier nahmen, erga-
ben, dass Kinder, die ohne Vater aufwachsen, meist früher in die Pubertät kommen, früher
sexuell aktiv werden und sich eher auf kurzfristige Beziehungen konzentrieren (z.B. Ellis,
McFadyen-Ketchum, Dodge, Pettis & Bates, 1999; Surbey, 1998). Besonders interessant
war hierbei ein Studienergebnis, demzufolge die Präsenz eines Stiefvaters mehr noch als
die Abwesenheit des biologischen Vaters dazu führte, dass Mädchen frühzeitig sexuell
aktiv werden – eine Tatsache, die meist einer kurzfristigen Partnerstrategie vorausgeht
(Ellis & Garber, 2000). Umgekehrt „überwachen“ leibliche Väter ihre Töchter vielleicht
in höherem Maße und verhindern so, dass sie früh sexuell aktiv werden (Surbey, 1998).
Schließlich konnte nachgewiesen werden, dass Frauen, die keinen engen Elternkontakt
hatten, eher pornografische Magazine lesen und ebenso wie Männer, die dieselben Erfah-
rungen machten, eher zu kurzfristigen Affären neigen (Walsh, 1995, 1999).
Phasen des Lebens. Flüchtige sexuelle Beziehungen hängen auch mit den jeweiligen
Entwicklungsphasen eines Menschen zusammen. In vielen Kulturen kommt es bei
Jugendlichen häufiger zu kurzfristigen Beziehungen, die dadurch ihren Wert auf dem
Partnerschaftsmarkt einschätzen, verschiedene Strategien ausprobieren, ihre attraktiven
Fähigkeiten üben und ihre eigenen Präferenzen klären wollen (Frayser, 1985). Ist diese
Phase vorüber, sind sie eher bereit für die Ehe. Die Tatsache, dass sexuelle Erfahrungen
vor der Ehe in einigen Kulturen toleriert oder sogar befürwortet werden, wie etwa bei den
Mehinaku im Amazonas-Gebiet (Gregor, 1985), zeigt, dass die Partnerwahlstrategie auch
von der jeweiligen Lebensphase abhängt.
Die Übergangsphase zwischen verschiedenen festen Beziehungen bietet weitere Mög-
lichkeiten für flüchtige Affären. So ist es nach einer Scheidung besonders wichtig, den
eigenen Wert auf dem Partnerschaftsmarkt neu zu bestimmen. Gibt es Kinder aus der ver-
gangenen Ehe, so senkt das den Wert des/der Geschiedenen, verglichen mit ihrem/seinem
hypothetischen Wert ohne Kinder. Der höhere Status, der mit einer fortgeschrittenen Kar-
riere einhergeht, könnte dagegen den Wert als Partner steigern, verglichen mit dem Wert,
den diese Person hatte, als sie das letzte Mal auf dem Partnerschaftsmarkt war.
Verhältnis der Geschlechter. Ein weiterer wichtiger Kontext, der die kurzfristige Partner-
wahl bestimmt, ist das Verhältnis der Anzahl der in Frage kommenden Männer und
Frauen. Viele Faktoren beeinflussen dieses Geschlechterverhältnis, etwa Kriege, in denen
immer mehr Männer als Frauen sterben, risikoreiche Aktivitäten wie Kämpfe, an denen
sich häufiger Männer beteiligen, Selbstmorde, die etwa siebenmal häufiger von Männern
als von Frauen begangen werden, und unterschiedliche Wiederverheiratungsraten je nach
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250 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Alter, wobei Frauen mit zunehmendem Alter weniger häufig wieder heiraten als Männer.
Viele Männer verlegen sich auf kurze Beziehungen, wenn zahlreiche Frauen zur Verfü-
gung stehen, denn dann steht das Geschlechterverhältnis für sie günstig, weshalb sie ihr
Bedürfnis nach Vielfalt leichter erfüllen können (Pedersen, 1991). Bei den Ache zum
Beispiel scheinen sich die Männer sehr häufig neue Partnerinnen zu suchen, denn es gibt
etwa 50% mehr Frauen als Männer (Hill & Hurtado, 1996). Gibt es jedoch mehr Männer,
so scheinen sich beide Geschlechter eher einer langfristigen Partnerstrategie zuzuwenden,
in der es stabile Ehen und wenige Scheidungen gibt (Pedersen, 1991).
Auswirkungen des selbst empfundenen Wertes als Partner und des Selbstbewusstseins
auf die kurzfristige Partnerstrategie. Ein letzter Kontext, der die kurzfristige Partnerstra-
tegie höchstwahrscheinlich beeinflusst, ist der Partnerwert, der aussagt, wie attraktiv und
wünschenswert man für Vertreter des anderen Geschlechts ist. Die selbst empfundene
Partner-Erfolgs-Skala (Lalumiere, Seto & Quinsey, 1995; Landoldt, Lalumiere & Quin-
sey, 1995) bestimmt diesen Wert. Beispielhafte Punkte auf der Skala sind: „Vertreter des
anderen Geschlechts bemerken mich,“ „Vertreter des anderen Geschlechts machen mir
viele Komplimente,“ „Vertreter des anderen Geschlechts finden mich attraktiv,“ „im Ver-
gleich mit meiner Peer Group kann ich mich leicht und oft verabreden“.
Die Bewertungen auf der Partnerwert-Skala wurden mit der angegebenen sexuellen Vor-
geschichte der Teilnehmer (Männer und Frauen) in Korrelation gebracht. Die Resultate
beider Geschlechter wichen dabei sehr stark voneinander ab. Männer mit höherem selbst
empfundenen Partnerwert neigten im Vergleich zu Männern mit geringerem Partnerwert
dazu, früher sexuell aktiv zu sein, sie hatten in der Regel seit der Pubertät wie auch im
vergangenen Jahr mehr Sexualpartner gehabt. Sie hatten im Laufe der letzten drei Jahre
mehr sexuelle Angebote bekommen, häufiger Geschlechtsverkehr gehabt und sahen auch
meist keine Notwendigkeit, mit der Frau, mit der sie Geschlechtsverkehr hatten, vorher
eine intensive Beziehung einzugehen. Außerdem erreichten Männer mit hohem Partner-
wert bei der SOI-Befragung meist höhere Werte, was darauf hindeutet, dass sie eher eine
kurzfristige Partnerstrategie verfolgen.
Im Gegensatz dazu konnte bei Frauen keinerlei Verbindung zwischen dem selbst empfun-
denen Wert als Partner und der Wahl einer kurzfristigen Partnerstrategie festgestellt wer-
den – ein Ergebnis, zu dem auch andere Forscher kamen (Mikach & Bailey, 1999). Es
zeigte sich jedoch, dass für Frauen das Selbstbewusstsein eng mit der Entscheidung für
oder gegen eine kurzfristige Partnerstrategie zusammenhing. Frauen mit geringem Selbst-
wertgefühl hatten seit der Pubertät und auch im vergangenen Jahr verglichen mit ihren
selbstbewussteren Geschlechtsgenossinnen meist mehr Sexualpartner gehabt. Sie hatten
auch häufiger One-Night-Stands und bevorzugten kurze sexuelle Beziehungen. Ihre
Werte bei der SOI-Befragung ergaben eine Neigung zu kurzfristiger Partnerstrategie.
Insgesamt scheinen sich individuelle Unterschiede beim selbst empfundenen Partnerwert
sowie beim Selbstwertgefühl stark auf eine Entscheidung für oder gegen eine Wahl kurz-
fristiger Partner auszuwirken. Doch diese persönlichen Faktoren zeigen bei Männern und
Frauen unterschiedliche Wirkung. Männer mit hohem Partnerwert scheinen kurzfristige
Beziehungen vorzuziehen, während sich der Partnerwert bei Frauen nicht auf ihre Part-
ner-Wahl auswirkt. Andererseits scheinen sich Frauen mit geringem Selbstbewusstsein
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 251
Zusammenfassung
Wissenschaftliche Studien über die Partnerwahl im Laufe des 20. Jahrhunderts haben
sich fast ausschließlich mit der Ehe befasst. Die menschliche Anatomie, Physiologie
und Psychologie lässt jedoch eindeutig darauf schließen, dass unsere Vorfahren viele
Affären hatten. Die offensichtlichen reproduktiven Vorteile, die solche Affären für
den Mann haben, könnten den Blick der Wissenschaftler dafür getrübt haben, dass
auch Frauen durchaus von kurzfristigen Beziehungen profitieren können. Eine Frau
muss einer kurzen Affäre zustimmen und damit sie dies tut, muss sie daraus Vorteile
ziehen können.
In diesem Kapitel befassten wir uns zunächst mit der kurzfristigen Partnerstrategie
des Mannes. Nach Trivers’ Theorien der elterlichen Investitionen und der sexuellen
Selektion ist der reproduktive Vorteil aufgrund kurzfristiger Beziehungen für unsere
männlichen Vorfahren direkt ersichtlich – eine gesteigerte Anzahl an Nachkommen in
Abhängigkeit von der Anzahl der erfolgreich inseminierten Frauen. Es gibt überzeu-
gende empirische Belege dafür, dass Männer ein größeres Bedürfnis nach kurzfristi-
gen sexuellen Beziehungen haben als Frauen. Im Vergleich zu Frauen äußern Männer
einen stärkeren Wunsch nach einer Vielzahl von Sexualpartnern, sie lassen weniger
Zeit verstreichen, bis sie Geschlechtsverkehr haben, sie senken ihre Anforderungen
an kurzfristige Partnerinnen drastisch, haben häufiger sexuelle Fantasien, in denen es
meist um eine Vielzahl von Sexualpartnern geht, sie haben mehr außereheliche Affä-
ren und suchen häufiger Prostituierte auf. Auch wenn eine kleine Minderheit von
Psychologen diese grundsätzlichen geschlechtlichen Unterschiede weiterhin leugnet
(z.B. Miller & Fishkin, 1997), ist dennoch der Unterschied zwischen Männern und
Frauen, was den Wunsch nach sexueller Abwechslung betrifft, einer der größten und
auch kulturübergreifend sichtbarsten psychologischen geschlechtsbezogenen Unter-
schiede, die je dokumentiert wurden (Schmitt, 2001; Schmitt et al., 2001).
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252 Teil 3 Herausforderungen von Sexualität und Partnerwahl
Rechnerisch gesehen erfordert eine kurze Affäre jedoch immer noch zwei Partner.
Der Wunsch des Mannes nach flüchtigem Sex könnte sich nicht entwickelt haben,
wenn es nicht auch Frauen gegeben hätte, die dazu bereit waren – eine Ausnahme ist
dabei der erzwungene Geschlechtsverkehr. Wir betrachteten Fälle, in denen sich auch
Frauen von Zeit zu Zeit im Laufe der Evolutionsgeschichte auf kurzfristige Beziehun-
gen eingelassen haben. Die Existenz physiologischer Hinweise beim Mann wie etwa
die Größe der Hoden und Variationen bei der Spermien-Insemination deuten auf eine
lange Evolutionsgeschichte der Spermien-Konkurrenz hin – die sich dadurch ergab,
dass die Spermien von zwei verschiedenen Männer gleichzeitig den Reproduktions-
pfad einer Frau besetzten. Aus evolutionärer Sicht ist es unwahrscheinlich, dass
Frauen sich wiederholt auf kurzfristige Beziehungen eingelassen hätten, wenn sie
nicht selbst dadurch adaptive Vorteile erlangt hätten.
Für Frauen gibt es fünf Bereiche potentieller adaptiver Vorteile: wirtschaftliche bzw.
materielle Ressourcen, genetische Vorteile, Vorteile durch Partnertausch, Vorteile
durch den Erwerb partnerschaftlicher Fähigkeiten und Vorteile durch Partnermanipu-
lation. Basierend auf den wenigen durchgeführten Studien stellen sich die Vorteile
aufgrund von Partnertausch und Ressourcenerwerb als besonders wichtig und die
Vorteile aufgrund eines verbesserten Status und der Partnermanipulation als wissen-
schaftlich nicht nachweisbar heraus. Weitere Forschungsarbeit ist nötig, um die adap-
tiven Vorteile, die sich für Frauen aus kurzfristigen Affären ergeben, zu überprüfen
und diese klar von den nicht adaptiven Auswirkungen derartiger Beziehungen zu
trennen.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels befassten wir uns mit verschiedenen Kontextef-
fekten, die sich auf die kurzfristige Partnerwahl auswirken. Das Geschlechterverhält-
nis ist einer dieser Kontexte – ein Frauenüberhang führt bei beiden Geschlechtern
verstärkt zu einer kurzfristigen Partnerstrategie. Ein weiterer wichtiger Kontext ist der
Partnerwert, der besagt, wie attraktiv man für das andere Geschlecht ist. Männer, die
einen hohen selbst empfundenen Wert als Partner haben, bevorzugen eher kurze
Beziehungen, dies zeigt sich unter anderem daran, dass sie bereits in jungen Jahren
sexuell aktiv sind und mehr Sexualpartner haben. Der selbst empfundene Partnerwert
der Frauen hat auf ihre Partnerstrategie jedoch keinen Einfluss. Frauen mit geringem
Selbstbewusstsein scheinen aber eher eine kurzfristige Strategie zu verfolgen als
selbstbewusste Frauen, was sich an der Anzahl der Sexualpartner und einer ausdrück-
lichen Präferenz für Sex mit Partnern ohne jeden Bindungswillen zeigt.
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Kapitel 6 Kurzfristige sexuelle Strategien 253
Weiterführende Literatur
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Teil 4
Herausforderungen der
Elternschaft und
Verwandtschaft
Dieser Teil enthält zwei Kapitel, von denen sich eines den Problemen im Kontext der
Elternschaft und das andere den Problemen im Kontext der Verwandtschaft widmet. Hat
ein Organismus erfolgreich die ersten Überlebensbarrieren überwunden und die Probleme
der Partnersuche und der Reproduktion gelöst, stellt sich die nächste Herausforderung in
Form der Reproduktion. Die Kinder dienen dabei als „Mittler“ für die Gene der Eltern
(Kapitel 7). Dieses Kapitel beginnt mit der Frage, warum Mütter ihren Kindern in der
Regel mehr elterliche Fürsorge zukommen lassen als Väter. Dies trifft für fast alle Arten
zu, die überhaupt elterliche Fürsorge betreiben. Es geht weiter mit den Mustern der elter-
lichen Fürsorge und drei entscheidenden Themen: dem Grad der genetischen Verwandt-
schaft des Kindes zu den Eltern, der Fähigkeit des Kindes, die elterliche Fürsorge in Fit-
ness umzuwandeln und den Abwägungen der Eltern, in ihre Kinder zu investieren oder
ihre Ressourcen für die Lösung anderer adaptiver Probleme zukommen zu lassen. Der
letzte Abschnitt liefert eine evolutionäre Erklärung für ein Phänomen, das jeder schon er-
lebt hat: Konflikte zwischen Eltern und Kindern.
Kapitel 8 weitet die Analyse um Verwandte wie Großeltern, Enkel, Nichten, Neffen,
Tanten und Onkel aus. Die Theorie der inklusiven Fitness liefert eine Reihe von Implika-
tionen, um Beziehungen zwischen genetischen Verwandten zu verstehen. Dazu gehören
Phänomene wie genetischen Verwandten in Situationen auf Leben und Tod zu helfen, im
Testament Ressourcen für genetische Verwandte zu hinterlassen, Investitionen von Groß-
eltern in ihre Enkel und Geschlechtsunterschiede in der Bedeutung der Verwandtschafts-
verhältnisse. Das Kapitel endet mit einer Perspektive der Evolution ausgedehnter Familien.
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Kapitel
Meine Mutter sagt, dass er mein Vater sei. Aber ich selbst weiß es nicht. Denn kein
Mensch weiß, wer ihn gezeugt hat.
– Telemachus, Sohn des Odysseus, aus Homers Odyssee.
Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der alle Männer und Frauen das gleiche Einkom-
men erhalten. Jeder kräftige Erwachsene wird arbeiten. Alle Entscheidungen werden
gemeinsam getroffen und alle Kinder kollektiv durch die Gruppe aufgezogen. Wie reagie-
ren Menschen, wenn sie tatsächlich mit diesem sozialen Arrangement konfrontiert wer-
den? Ein solches Experiment wurde in einem Kibbutz in Israel durchgeführt. Zwei
Anthropologen, Joseph Shepher und Lionel Tiger, studierten dort insgesamt 34.040 Men-
schen über drei Generationen. In ihrem Klassiker von 1975 „Women in the Kibbuz“
berichten Shepher und Tiger, dass die Arbeitsteilung der Geschlechter im Kibbuz größer
war als im übrigen Israel (Tiger, 1996). Am auffälligsten waren jedoch die starken Präfe-
renzen der Frauen. Mit der Zeit bestanden sie darauf, dass ihre eigenen Kinder bei ihnen
leben sollten, statt kollektiv von anderen Frauen aufgezogen zu werden. Die Männer ver-
suchten, ein Veto einzulegen. Sie betrachteten dies als Schritt rückwärts, als ein Nachge-
ben vor bürgerlichen Werten zum Preis des ursprünglichen, utopischen Traumes. Die
Mütter und deren Mütter aber blieben standhaft und überstimmten die Männer der
Gemeinschaft. So kehrte das utopische Experiment der gemeinschaftlichen Elternschaft
zur bekannten Mutter-Kind-Beziehung zurück, wie sie in jeder Gemeinschaft existiert.
Aus der evolutionären Perspektive stellen Nachkommen eine Art Mittler für ihre Eltern
dar. Durch sie werden die Gene der Eltern an nachfolgende Generationen weitergegeben.
Ohne Kinder würden die Gene eines Individuums aussterben. Angesichts der Bedeutung
der Nachkommen als genetische Mittler ist daher anzunehmen, dass die natürliche Selek-
tion Mechanismen in Eltern begünstigt, die das Überleben und den reproduktiven Erfolg
ihrer Kinder sicherstellen. Abgesehen von der Partnerwahl gibt es kaum adaptive Prob-
leme von so hoher Priorität wie das Überleben und die Entwicklung der Nachkommen.
Denn ohne den Erfolg der Nachkommen wären alle Bemühungen, die ein Organismus in
die Paarung investiert, im reproduktiven Sinne sinnlos. Die Evolution sollte daher ein
reichhaltiges Repertoire elterlicher Mechanismen hervorbringen, die darauf ausgerichtet
sind, sich um den Nachwuchs zu sorgen.
Berücksichtigt man die Bedeutung von Nachkommenschaft, so ist es überraschend, dass
elterliche Fürsorge bei vielen Arten unbekannt ist (Alcock, 1993). Austern beispielsweise
entlassen ihre Samenfäden und Eier in den Ozean und lassen ihre Nachkommen ohne jeg-
liche elterliche Fürsorge dahintreiben. Für jede Auster, die unter diesen Bedingungen
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258 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
überlebt, sterben tausend andere. Ein Grund für die mangelnde universelle elterliche Für-
sorge ist der hohe Preis, den die Eltern zahlen. Durch Investition in ihre Nachkommen
ziehen Eltern in Bezug auf Ressourcen, die sie für sich selbst nutzen könnten, den Kürze-
ren. Mit diesen Ressourcen könnten ein größeres Territorium gesichert, zusätzliche Part-
ner gefunden oder der reproduktive Output vergrößert werden. Eltern, die ihre Jungen
beschützen, setzen ihr eigenes Überleben aufs Spiel. Einige werden verletzt oder sterben
bei der Abwehr von Raubtieren, die ihre Nachkommen bedrohen. Berücksichtigt man den
Aufwand elterlicher Fürsorge, kann man davon ausgehen, dass wann immer elterliche
Fürsorge in der Natur beobachtet werden kann, die reproduktiven Vorteile die Nachteile
überwiegen.
Die Evolution elterlicher Fürsorge wurde bei vielen Tierarten untersucht (Clutton-Brock,
1991). Mexikanische Fledermäuse liefern ein faszinierendes Beispiel dafür. Die Fleder-
mäuse leben in großen Kolonien, die hunderttausende und manchmal Millionen Tiere in
dunklen Höhlen umfassen. Nachdem ein Weibchen ein Junges zur Welt gebracht hat, ver-
lässt es die Sicherheit der Kolonie, um nach Nahrung zu suchen. Bei der Rückkehr steht
es vor dem Problem, ihr Jungtier unter den vielen anderen in der Höhle wiederzufinden.
Auf einem Quadratmeter der Höhle leben oft mehrere tausend Junge, so dass das Problem
nicht gerade klein ist. Würde die Selektion für „das Wohl der Art“ operieren, so wäre es
egal, welches Jungtier die Fledermaus fütterte und es gäbe auch keinen Selektionsdruck,
ihr eigenes zu erkennen und zu füttern. Aber so verhalten sich die Fledermäuse nicht. 83
Prozent der Mütter finden und füttern ihren eigenen Nachwuchs und geben ihnen jeden
Tag 16 Prozent ihres Körpergewichts in Milch (McCracken, 1984). Die weiblichen Fle-
dermäuse haben offensichtlich Mechanismen entwickelt, mit denen sie ihre Nachkommen
herausfinden. Sie nehmen große Opfer auf sich, um sie zu füttern und so deren Überleben
zu sichern. Die elterlichen Mechanismen wurden entwickelt, um ihrem eigenen geneti-
schen Nachwuchs und nicht den Nachkommen der anderen Fledermäuse zu helfen.
Ein weiteres Beispiel der Adaptationen elterlicher Fürsorge geben nistende Vögel. Tin-
bergen (1963) untersuchte das Rätsel, warum nistende Vögel die Eierschalen ihrer frisch
geschlüpften Küken entfernen und sie Stück für Stück vom Nest wegbringen. Er stellte
drei Hypothesen auf: (1) Die Entfernung der Eierschalen dient einer sanitären Funktion,
da so das Nest frei von Bakterien und Krankheiten gehalten werden kann, die die Eier-
schalen als Brutstätte nutzen könnten; (2) die Entfernung der Eierschalen schützt die
frisch geschlüpften Küken vor den scharfen Kanten der Eierschalen und (3) macht das
Nest für Raubtiere, die die Küken angreifen könnten, weniger interessant. Anhand mehre-
rer Experimente fand Tinbergen heraus, dass nur die Hypothese des Schutzes vor Raub-
tieren unterstützt wurde. Der Aufwand der elterlichen Fürsorge werden durch die Vorteile
der besseren Überlebenschancen der Küken kompensiert.
Trotz der Bedeutung der elterlichen Fürsorge aus evolutionärer Perspektive war diese in der
Psychologie bisher ein vernachlässigtes Thema. Als die evolutionäre Psychologen Martin
Daly und Margo Wilson 1987 für das „Nebraska Symposium on Motivation“ ein Kapitel
über dieses Thema vorbereiteten, suchten sie in den vorhergehenden 34 Bänden der Reihe
nach psychologischen Forschungsberichten und Theorien elterlicher Motivation. Nicht
einer der Bände enthielt auch nur einen Abschnitt über elterliche Motivation (Daly & Wil-
son, 1995). Trotz des weit verbreiteten Wissens, dass Mütter ihre Kinder lieben, schien das
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 259
Phänomen der elterlichen Liebe Psychologen auf der theoretischen Ebene vor ein Rätsel
gestellt zu haben. Ein bekannter Psychologe, der mehrere Bücher über die Liebe geschrie-
ben hat, schrieb: „Das Bedürfnis, das viele von uns dazu bringt, unsere Kinder bedingungs-
los zu lieben, scheint auffallend beharrlich zu sein, auch wenn die Gründe hierfür momen-
tan noch nicht vollständig geklärt sind.“ (Sternberg, 1986, S. 133). Aus einer evolutionären
Perspektive sind die Gründe für tiefe elterliche Liebe jedoch klar oder zumindest verständ-
lich. Die Selektion hat psychologische Mechanismen wie elterliche Mechanismen der Moti-
vation entwickelt, um das Überleben und den reproduktiven Erfolg der Mittler sicherzustel-
len, die die Gene eines Individuums an die nächste Generation weitergeben. Wie wir weiter
unten sehen werden, ist die Liebe der Eltern allerdings alles andere als bedingungslos.
Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun dem faszinierenden Thema der elterlichen
Fürsorge zu und stellen eine Frage, die uns zwingt, neben den Menschen auch die Tierwelt
zu berücksichtigen: Warum kümmern sich bei so vielen Arten, unter anderem bei den
Menschen, die Mütter so viel mehr um den Nachwuchs als dies bei Vätern der Fall ist?
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260 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 261
ein Teil der väterlichen Investitionen an Nachkommen verschwendet wird, die nicht die
eigenen sind. Dagegen gehen 100 Prozent der mütterlichen Investitionen direkt an ihre
Nachkommen. Obwohl die Ungewissheit der Vaterschaft die Evolution der väterlichen
Fürsorge nicht verhindern kann, dient sie als brauchbare Begründung der weit verbreite-
ten Tendenz, dass Weibchen mehr in ihre Nachkommen investieren als Männchen.
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262 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Zeit entlassen. Sollte die Hypothese des Verlassen-Könnens zutreffen, gäbe es für jedes
Geschlecht eine Chance von 50:50, elterliche Fürsorge zu entwickeln. In einer Studie
über 46 Arten, die ihre Keimzellen zur gleichen Zeit freigeben, zeigten 78 Prozent (36
von 46 Arten) väterliche Fürsorge (Alcock, 1993). Dies ist substantiell mehr als die
50 Prozent, die durch die Hypothese des Verlassen-Könnens vorhergesagt werden. Aus
zwei Gründen – dem Zusammenhang mit der Ungewissheit der Vaterschaft und dem
empirisch festzustellenden Scheitern bei Arten mit simultaner Keimzellenfreigabe – kann
die Hypothese des Verlassen-Könnens für sich allein genommen nicht die weit verbreitete
Tendenz erklären, dass Weibchen mehr elterliche Fürsorge zeigen als Männchen.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 263
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264 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Lassen Sie uns die drei Faktoren detaillierter betrachten und untersuchen wir die empiri-
schen Belege dafür, dass sich elterliche Mechanismen entwickelt haben, die sensitiv
gegenüber diese Faktoren sind.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 265
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266 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
zent) wie über die Ähnlichkeit des Babys zu ihr selbst (20 Prozent). Zu Bemerkungen der
Mütter gehörte: „Er/sie sieht aus wie du“ (eine Frau sagte dies dreimal zu ihrem Ehemann),
„fühlt sich an wie du“, „genau wie Daddy“, „er sieht aus wie du, hat einen Haarschopf wie
du“ und „er sieht aus wie du, ehrlich, genau wie du“ (Daly & Wilson, 1982, S. 70).
In einer zweiten Studie versandten Daly und Wilson (1982) 526 Fragebögen an Eltern,
deren Namen Geburtsanzeigen kanadischer Zeitungen entnommen wurden. Etwa 25 Pro-
zent der Eltern beantworteten die Fragebögen, in denen sie gebeten wurden, ihre Ver-
wandten zu animieren, ebenfalls an der Studie teilzunehmen. Zu den Fragen gehörte:
„Wem sieht das Baby ihrer Meinung nach am ähnlichsten?“
Die Ergebnisse dieser zweiten Studie bestätigten und präzisierten die der erste Studie. Von
den Müttern, die die Ähnlichkeit des Babys zu einem Elternteil kommentierten, wiesen 81
Prozent darauf hin, dass das Baby dem Vater ähnlicher sehe, während nur 19 Prozent eine
größere Ähnlichkeit zu ihnen selbst zum Ausdruck brachten. Auch die Verwandten der
Mutter zeigten diese einseitige Ausrichtung. Von denen, die auf eine Ähnlichkeit zu einem
der Elternteile hinwiesen, wiesen 66 Prozent darauf hin, dass das Baby dem Vater am ähn-
lichsten sehe, während nur 34 Prozent Ähnlichkeiten zur Mutter bemerkten.
Das grundlegende Muster – d.h., dass die Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit auf die
Ähnlichkeit zum mutmaßlichen Vater insistiert – wurde durch eine Studie bei Mexikanern
in Yucatan repliziert (Regalski & Gaulin, 1993). In dieser Studie wurden 198 Interviews
mit den Verwandten von 49 mexikanischen Säuglingen durchgeführt. Wie in der kanadi-
schen Studie behaupteten die Verwandten, dass der Säugling dem mutmaßlichen Vater
stärker ähneln würde als der Mutter. Die Mutter und ihre Verwandten gaben häufiger als
der Vater und seine Verwandten Feststellungen über die Ähnlichkeit zum Vater ab.
Behauptungen der Ähnlichkeit zum Vater gab es vor allem bei erstgeborenen Kindern
und wenn die Eltern erst kurze Zeit zusammen waren. Diese kulturübergreifende Wieder-
holung stimmt mit der Hypothese überein, dass Mütter und ihre Verwandten den mutmaß-
lichen Vater hinsichtlich seiner Vaterschaft beeinflussen, um väterliche Investitionen in
das Kind zu unterstützen.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 267
Eine neuere Studie replizierte diese Ergebnisse und ging der Frage nach, ob Neugeborene
tatsächlich ihrem Vater ähnlicher sehen (McLain, Setters, Mouton & Pratt, 2000). Mütter
wiesen häufiger auf mutmaßliche Ähnlichkeiten zwischen den Neugeborenen und ihren
Vätern hin als auf Ähnlichkeiten zu ihnen selbst. Außerdem wiesen sie auf diese Ähnlich-
keiten häufiger hin, wenn der Vater im Raum war. Als Begutachter gefragt wurden, welche
Fotografien von Neugeborenen mit welchen Müttern und Vätern zusammenpassen, fanden
sich mehr Übereinstimmungen mit den Müttern. Diese Ergebnisse lassen darauf schließen,
dass die Präferenz der Mütter, eine Ähnlichkeit zum Vater hervorzuheben, nicht wirklich
auf Ähnlichkeiten beruht. Bisherige systematische Studien belegen, dass im Gegensatz zu
ersten Indikationen (Christenfeld & Hill, 1995) Kinder im Alter von einem, drei und fünf
Jahren ihren Vätern nicht ähnlicher sehen als ihren Müttern (Bredart & French, 1999).
Eine faszinierende neue Studie behauptet, dass Wahrnehmungen der Ähnlichkeit die
Investitionen in das Kind beeinflussen. Unter Verwendung einer computerisierten „mor-
phing“-Methode entwickelten die Experimentatoren Fotografien von Kindern, in die ent-
weder die Gesichter der Eltern oder die anderer Menschen montiert wurden (Plateck,
Burch, Anyavin, Wasserman & Gallup, 2002). Nachdem sie alle Fotografien gesehen hat-
ten, wurden die Teilnehmer gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie gefragt
wurden, wie viel sie hypothetisch in jedes der Kinder investieren würden. Männer fanden
die Gesichter, in die ihr eigenes Foto montiert war, am attraktivsten und wiesen darauf
hin, dass sie mit diesem Kind mehr Zeit verbringen würden, mehr Geld in das Kind inves-
tieren würden und am wenigsten verärgert wären, wenn sie für dieses Kind Unterhalts-
zahlungen leisten müssten. Im Gegensatz dazu waren die Antworten von Frauen auf diese
Fragen viel weniger von der Ähnlichkeiten des Kindes zu ihnen beeinflusst.
Die Wahrnehmung der Männer hinsichtlich der Ähnlichkeit der Kinder zu ihnen könnte
auch Phänomene wie Gewalt in Familien beeinflussen. In einer Studie schätzten 55 Män-
ner, die an einem Programm über häusliche Gewalt teilnahmen, wie sehr ihre Kinder
ihnen ähnlich sahen (Burch & Gallup, 2000). Männer, die der Meinung waren, dass ihre
Kinder ihnen ähnlich sahen, berichteten über positivere Beziehungen zu ihnen. Aber das
überraschendste Ergebnis war die Korrelation zwischen Wahrnehmungen der Ähnlichkeit
und der Schwere der Misshandlungen, die sie ihren Ehefrauen zufügten. Männer, die der
Meinung waren, dass ihre Kinder ihnen nicht ähnlich sahen, fügten ihren Partnerinnen
häufiger schwere körperliche Verletzungen zu. Die Wahrnehmung der Ähnlichkeit des
Kindes zum Vater könnte somit ein entscheidender Hinweis auf den Grad der Investition
in die Kinder sowie auf die Misshandlungen sein, die der Ehefrau zufügt werden.
Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwortet: Sind die Versuche der Mütter, das Vertrauen
der Väter hinsichtlich der Vaterschaft zu beeinflussen, universell? Ist es Müttern bewusst,
dass sie die Wahrnehmung ihres Partner in Bezug auf seine Vaterschaft zu beeinflussen
versuchen oder funktionieren diese Tricks unbewusst? Haben Männer bestimmte Mecha-
nismen entwickelt um Informationen über die Ähnlichkeit des Babys unberücksichtigt zu
lassen und um sich gegen die Gefahr zu schützen, in die Kinder anderer Männer zu inves-
tieren? Antworten auf diese Fragen müssen noch gefunden werden.
Investitionen der Eltern in Kinder. Wir leben in einer Welt, die sich in vielerlei Hinsicht
von der unserer Vorfahren unterscheidet. Zum einen leben wir in monetären Wirtschafts-
systemen, die im Pleistozän unbekannt waren. Aus der Perspektive der Forschung liegt
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268 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
ein Vorteil dieser Wirtschaftssysteme darin, dass sie konkrete, quantitativ messbare Zah-
len liefern. Drei evolutionäre Anthropologen nutzten diese Möglichkeit, um die Auswir-
kungen der Ungewissheit der Vaterschaft von Männern hinsichtlich ihrer Investitionen in
die Ausbildung ihrer Kinder zu erforschen (Anderson, Kapplan & Lancaster, 1999).
Die Anthropologen formulierten drei Vorhersagen: (1) Männer stellen ihren genetischen
Kindern mehr Ressourcen zur Verfügung als ihren Stiefkindern; (2) Männer, die sich
unsicher sind, ob die Kinder genetisch ihre eigenen sind, investieren weniger als Männer,
die sich ihrer Vaterschaft gewiss sind und (3) Männer investieren mehr in Kinder, deren
Mutter ihre gegenwärtige Partnerin ist, als in Kinder aus früheren Partnerschaften. Diese
dritte Vorhersage gilt sowohl für genetische Kinder als auch für Stiefkinder. Die Vorher-
sagen 1 und 2 resultieren direkt aus der evolutionären Theorie der elterlichen Fürsorge
und vor allem aus den Bedingungen für genetische Verwandtschaft. Die dritte Vorhersage
basiert auf der Hypothese, dass Männer die elterliche Fürsorge als eine Form der Bemü-
hungen um ihre Partnerin ansehen. Das heißt mit der Investition eigener Ressourcen in
die Kinder kann die Partnerin möglicherweise angezogen und gehalten werden.
Die Daten für das Testen dieser Vorhersagen stammen aus einer Studie mit 615 Männern
in Albuquerque, New Mexico. Diese Männer waren Väter von 1.246 Kindern, von denen
1.158 genetische Nachkommen und 88 Stiefkinder waren. Die Forscher sammelten Daten
über drei voneinander abhängige Variablen: (1) ob das Kind für die College-Erziehung
Geld vom Befragten erhielt (69 Prozent erhielten Geld); (2) die Gesamtsumme, die jedes
Kind vom Befragten für das College erhielt, vereinheitlicht auf 1.990 Dollar (im Durch-
schnitt erhielt jedes Kind $ 13.180) und (3) den Prozentsatz der Kosten, die vom Befrag-
ten übernommen wurden (im Durchschnitt wurden 44 Prozent der Kosten übernommen).
Die Ergebnisse entsprachen damit allen drei Vorhersagen. Der Grad der genetischen Ver-
wandtschaft bewirkte große Unterschiede in der Behandlung der Kinder. Verglichen mit
Stiefkindern erhielten genetische Kinder 5,5-mal häufiger Geld für das College. Im Durch-
schnitt erhielten sie $15.500 mehr für ihre College-Ausbildung und es wurden 65 Prozent
ihrer Kosten für das College übernommen. Die erste Vorhersage, dass Männer mehr in ihre
genetischen Kinder als in ihre Stiefkinder investieren würden, wurde somit unterstützt.
Die zweite Vorhersage betraf die Frage, welche Auswirkungen es hat, ob ein Mann sich
seiner Vaterschaft sicher ist. In der Umfrage führten die Männer jede Schwangerschaft
auf, für die sie glaubten verantwortlich zu sein. Anschließend wurden sie gefragt, ob sie
ihrer Vaterschaft sicher waren. Ein Mann, der angab er sei sicher, dass er nicht der Vater
sei, oder er sei sich nicht sicher, ob er der Vater sei, wurde als Vater mit wenig Vertrauen
in die Vaterschaft eingestuft. Die Gewissheit der Vaterschaft wies einen statistisch signifi-
kanten Zusammenhang bei zwei von drei Variablen auf. Für Kinder von Vätern mit einer
niedrigen Gewissheit der Vaterschaft betrug die Chance, überhaupt Geld für das College
zu erhalten nur 13 Prozent von der Chance, die Kinder von Vätern mit einer hohen
Sicherheit hatten. Ferner erhielten diese Kinder $28.400 weniger als Kinder, deren Väter
ihrer Vaterschaft gewiss waren. Die Vorhersage 2 scheint somit bestätigt zu sein.
Die dritte Vorhersage, dass Männer mehr in Kinder ihrer gegenwärtigen Partnerin investie-
ren als in die Kinder früherer Partnerinnen – und zwar unabhängig davon, wer die geneti-
schen Eltern sind – wurde ebenfalls bestätigt. Wenn seine genetischen Eltern zusammen
waren, hatte es eine etwa dreimal so große Chance, Geld vom Befragten zu erhalten, wenn
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 269
die Mutter des Kindes zu der Zeit, in der das Kind in das College eintrat, die Partnerin des
Befragten war. Ceteris paribus erhielten Kinder $ 14.900 mehr, wenn ihre genetischen
Eltern noch zusammen waren; weitere 53 Prozent der Kosten fürs College wurden über-
nommen, wenn die Mütter noch mit den Befragten zusammen waren. Die Tatsache, dass
Männer mehr in Kinder investieren, selbst wenn die Kinder Stiefkinder sind, unterstützt
die Hypothese, dass die elterlichen Investitionen des Mannes eher als eine „Bemühung um
die Partnerin“ denn als „elterlicher Aufwand“ angesehen werden können.
Ähnliche Effekte wurden bei Studenten der Xhosa High School in Kapstadt, Südafrika fest-
gestellt (Anderson, Kaplan, Lam & Lancaster, 1999). Männer investierten mehr Geld, kauf-
ten mehr Kleidung, verbrachten mehr Zeit und halfen mehr bei den Hausaufgaben, wenn
der Student ihr genetische Kind war als wenn es sich um ein Stiefkind handelte. Xhosa-
Männer investierten auch in ihre Stiefkinder, was von den Forschern aber eher als Bemü-
hung um die Partnerschaft interpretiert wurde. Der Evolutionsanthropologe Frank Marlow
(1999) stellte fest, dass bei den Hazda in Tansania Stiefväter weniger als genetische Väter in
ihre Kinder investieren. Marlow fand auch heraus, dass kein einziger Stiefvater aus seiner
Studie mit seinem Stiefkind spielte. Über ihre Gefühle befragt, gaben sie zu, dass ihre posi-
tiven Gefühle für ihre Stiefkinder viel schwächer wären als für ihre genetischen Kinder.
Die genetische Verwandtschaft zu einem Kind stellt somit eine wichtige Voraussetzung für
finanzielle Investitionen eines Mannes dar. Männer investieren mehr in genetische Kinder als
in Stiefkinder. Sie investieren auch mehr, wenn sie sicher sind, der genetische Vater zu sein.
Kindesmisshandlungen und andere Risiken, wenn Kinder nicht mit beiden Eltern
leben. Elterliche Fürsorge kann als Kontinuum angesehen werden. An einem Ende steht
die extreme Selbstaufopferung, bei der die Eltern alle Ressourcen in das Kind investieren
und unter Umständen sogar Leib und Leben opfern, um das Leben des Kindes zu retten.
Am anderen Ende finden sich Extreme wie Kindesmisshandlungen. Im äußersten
Extremfall kann dies der Kindsmord sein; die Tötung eines Säuglings, die als das Gegen-
teil elterlicher Fürsorge angesehen werden kann. Die inklusive Fitness-Theorie lehrt uns,
dass die genetische Verwandtschaft zum Kind ein Indiz für die Wahrscheinlichkeit von
Kindsmord ist: je weniger der Erwachsene genetisch mit dem Kind verwandt ist, desto
höher ist die Wahrscheinlichkeit des Kindsmords. Diese Vorhersage wurde untersucht
(Daly & Wilson, 1988, 1995, 1996).
In der umfangreichsten Studie ihrer Art untersuchten Daly und Wilson 841 Haushalte mit
Kindern im Alter von 17 oder jünger und 99 misshandelte Kinder einer Hilfsorganisation
für Kinder in Hamilton, Ontario, Kanada (Daly & Wilson, 1985). Die meisten kleinen
Kinder leben bei beiden genetischen Eltern. Daher müssen die Kindesmisshandlungsraten
durch Stiefeltern und genetische Eltern auf Basis dieser Proportionen korrigiert werden,
so dass sich ein gemeinsamer Index wie „Opfer pro 1.000 Kinder in der Population“
ergibt. Die Ergebnisse werden in Abbildung 7.1 zusammengefasst.
Diese Daten zeigen, dass es für Kinder, die mit einem genetischen Elternteil und einem
Stiefelternteil leben, etwa vierzigmal so wahrscheinlich ist, körperlich misshandelt zu wer-
den als dies bei Kindern der Fall ist, die bei den genetischen Eltern leben. Diese höheren
Raten lassen sich auch dann feststellen, wenn andere Faktoren wie Armut oder sozioökono-
mischer Status berücksichtigt werden. In Familien mit niedrigem Einkommen gibt es zwar
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270 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
eine höhere Rate von Kindesmisshandlungen, aber es stellte sich heraus, dass der Anteil von
Stieffamilien auf den verschiedenen Ebenen des sozioökonomischen Status gleich bleibend
ist. Daly und Wilson kamen zu dem Schluss, dass „Stiefelternschaft“ per se den wichtigsten
Risikofaktor für Kindesmisshandlungen darstellt, der bisher identifiziert wurde (Daly &
Wilson, 1988, S. 87-88). Man kann natürlich behaupten, dass diese Ergebnisse für jeden
„offensichtlich“ sind oder „dass jeder sie hätte voraussehen können“. Aber Tatsache ist, dass
hunderte vorangegangener Studien über Kindesmisshandlungen daran scheiterten, Stiefel-
tern als Risikofaktor zu identifizieren, bis Daly und Wilson sich mit dieser Frage befassten.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 271
Über Ereignisse wie dieses wird jeden Tag in den Zeitungen der Vereinigten Staaten und
Kanadas berichtet. Leider wurde bisher das erhöhte Risiko, dem Kinder durch Stiefeltern
ausgesetzt sind, durch die Art verschleiert, wie das U.S. Census Bureau und das Federal
Bureau of Investigation (FBI) Daten sammeln. In den Datenbanken beider Institutionen
gibt es keinen Unterschied zwischen genetischen Eltern und Stiefeltern (Daly & Wilson,
1996). Auch wenn existierende umfangreiche nationale Erfassungen die Verbindung zwi-
schen genetischer Verwandtschaft und Kindstötung nicht belegen können, haben Daly
und Wilson diese Verbindung in mehreren Studien in anderen Populationen untersucht. In
einer Studie untersuchten sie 408 kanadische Kinder, die über einen Zeitraum von zehn
Jahren von ihren genetischen Eltern oder Stiefeltern getötet wurden. Sie berechneten
dann die Anzahl der Totschlagsopfer pro Million zusammenlebender Eltern-Kind-Dya-
den pro Jahr. Die Ergebnisse finden sich in Abbildung 7.2.
Abbildung 7.2: Das Risiko, von einem Stiefelternteil getötet zu werden versus von
einem natürlichen Elternteil, aufgeschlüsselt nach Alter des Kindes
Kanada 1974-1983.
Quelle: Nachdruck mit Genehmigung von: Martin Daly und Margo Wilson. Homicide, S. 90. (New York:
Aldine de Gruyter) Copyright © 1988 by Aldine de Gruyter.
Die Raten der Kindstötung durch Stiefeltern sind bei weitem höher als die durch leibliche
Eltern. Das Risiko ist für sehr kleine Kinder im Alter von zwei Jahren oder jünger am
höchsten. Indem sie verschiedene Daten dieser Art untersuchten, fanden Daly und Wilson
(1988) heraus, dass das Risiko von Kindern, im Vorschulalter getötet zu werden, für Stief-
kinder zwischen vierzig- und einhundertmal höher ist als für Kinder, die bei ihren geneti-
schen Eltern leben.
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272 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 273
meine Investition in mehr Genkopien umwandeln kann.“ Es ist eher so, dass der Selekti-
onsdruck psychologische Mechanismen entstehen lässt, die Form und Umfang der Inves-
tition verändern. Die entwickelten Mechanismen und gegenwärtige umweltbedingte
Ereignisse lösen deren Aktivierung aus und „verursachen“ moderne Muster der elterli-
chen Investitionen.
Der evolutionäre Psychologe David Geary hat Material über den substantiellen Unterschied
zusammengetragen, der durch elterliche (und väterliche) Investitionen in Kinder in Bezug
auf das körperliche und soziale Wohlergehen der Kinder entsteht (Geary, 2000). Unter den
Ache in Paraguay ist die Abwesenheit des Vaters vor der Vollendung des 15. Lebensjahres
des Kindes mit einer Sterblichkeitsrate von 45 Prozent verbunden, verglichen mit der
beträchtlich niedrigeren Sterblichkeitsrate von 20 Prozent bei Kindern, deren Väter durch-
gehend bei ihnen leben (Hill & Hurtado, 1996). Indonesische Kinder, deren Eltern geschie-
den sind, weisen eine 12 Prozent höhere Sterblichkeitsrate auf als Kinder, die bei beiden
Elternteilen leben. Ähnliche Ergebnisse wurden in Schweden, Deutschland und den Verei-
nigten Staaten dokumentiert (Geary, 2000). Je mehr Ressourcen die Eltern durch ihren
sozioökonomischen Status haben, desto niedriger ist die Sterblichkeitsrate ihrer Kinder.
Elterliche Investitionen beeinflussen das gesellschaftliche Wohlergehen, auch wenn es
schwierig ist, die kausalen Verbindungen eindeutig festzustellen (Geary, 2000). Höhere Ebe-
nen elterlicher Investitionen, angezeigt durch das Einkommen der Eltern und dadurch, ob oft
mit dem Kind gespielt wird, sind positiv mit akademischen und sozialen Fähigkeiten und
dem daraus folgenden sozioökonomischen Status verbunden. Die Investitionen des Vaters
scheinen einen besonders starken Effekt zu haben und zählen viermal so viel wie die Investi-
tionen der Mutter (dies könnte auch daran liegen, dass die Investition des Vaters unbeständi-
ger ist, während die der Mutter durchwegs hoch ist). Das Verhalten der Eltern macht somit
einen Unterschied bezüglich des Überlebens und des sozialen Wohlergehens ihrer Kinder.
Die nächste Frage lautet: In welche Kinder sollten Eltern am meisten investieren?
Wir können keine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen, um mit Gewissheit her-
auszufinden, welche Faktoren ein Kind befähigten, die elterliche Fürsorge bestmöglich zu
nutzen. Nichtsdestoweniger haben Daly und Wilson (1988, 1995) zwei mögliche Fakto-
ren identifiziert: (1) ob das Kind mit Abnormitäten geboren wurde und (2) das Alter des
Kindes. Behinderte Kinder sind reproduktiv weniger erfolgreich als gesunde Kinder. Jün-
gere Kinder haben einen niedrigeren reproduktiven Wert als ältere Kinder. Erinnern wir
uns, dass der reproduktive Wert sich auf die künftige Wahrscheinlichkeit bezieht, Nach-
kommen zu zeugen. Betrachten wir dazu die empirischen Daten.
Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern mit kongenialen Abnormitäten
durch die Eltern. Kinder mit angeborenen Krankheiten wie Wirbelsäulenspalte (Spina
bifida), Zystofibrose, Gaumenspalte oder Down-Syndrom weisen einen niedrigeren repro-
duktiven Wert auf als gesunde Kinder. Gibt es Hinweise darauf, dass Eltern diese Kinder
anders behandeln? Ein Index ist, ob die Kinder ganz oder teilweise verlassen werden. Stu-
dien zeigen, dass ein großer Teil dieser schwer kranken Kinder in Anstalten untergebracht
sind. In einer Erhebung in den Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1976 stellte sich heraus,
dass von den in Anstalten untergebrachten Kinder mehr als 16.000 Kinder niemals
besucht wurden (etwa 12 Prozent aller in Anstalten untergebrachten Kinder). Etwa 30.000
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274 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
(ungefähr 22 Prozent) wurden nur einmal im Jahr oder seltener besucht (U.S. Bureau of
the Census, 1978). Auch wenn diese Ergebnisse in engem Zusammenhang mit ihren Ursa-
chen stehen und keine Kausalität begründen können, so stimmen sie doch mit der Hypo-
these überein, dass Eltern weniger in Kinder mit Abnormitäten investieren.
Was ist mit Kindern mit Abnormitäten, die weder in einer Anstalt untergebracht noch zur
Adoption freigegeben wurden? Die Raten körperlicher Kindesmisshandlungen und Ver-
nachlässigung in der Population der Vereinigten Staaten werden auf etwa 1,5 Prozent
geschätzt (Daly & Wilson, 1981). Diese Rate stellt die Basis dar, anhand derer die Miss-
handlung von Kindern mit verschiedenen Charakteristika verglichen werden kann. Daly
und Wilson (1981) fassten verschiedene Studien zusammen, die alle suggerieren, dass
Kinder mit Abnormitäten beträchtlich häufiger Opfer von Misshandlungen sind. Der Pro-
zentsatz von Kindern mit angeborenen körperlichen Abnormitäten, die misshandelt wer-
den, reicht von 7,5 bis 60 Prozent. Das ist ein Vielfaches der Grundrate in der allgemei-
nen Bevölkerung. In einigen Fällen könnte die Behinderung eines Kindes auch eine Folge
der Misshandlungen sein und nicht der Grund für diese, aber dies wird bei Kindern ausge-
schlossen, bei denen die Behinderung angeboren ist, wie Kinder mit Wirbelsäulenspalte,
Zystofibrose, Klumpfuß, Gaumenspalte oder Down-Syndrom.
Mütterliche Fürsorge basiert auf der Gesundheit des Kindes. Ein direkter Test der
Hypothese, dass Eltern eine Präferenz aufweisen, in Kinder gemäß ihres reproduktiven
Werts zu investieren, wird durch eine Studie über Zwillinge ermöglicht, von denen bei
jedem Paar einer gesünder war. Die evolutionäre Psychologin Janet Mann führte eine Stu-
die mit 14 Säuglingen durch: sieben Zwillingspaare, die alle vorzeitig geboren wurden.
Als die Säuglinge vier Monate alt waren, führte die Psychologin detaillierte Verhaltens-
beobachtungen über die Interaktionen zwischen den Müttern und ihren Säuglingen durch
(Mann, 1992). Die Interaktionen wurden beobachtet, wenn der Vater nicht anwesend war
und beide Zwillinge wach waren. Die Beobachter wurden in über hundert Stunden in
Verhaltensbeobachtungen unterrichtet, zu denen Übungen mit Mutter-Säugling-Dyaden
gehörten. Zu den Verhaltensaufzeichnungen gehörten Einschätzungen des positiven
mütterlichen Verhaltens, zu dem Küssen, Halten, Beruhigen, Sprechen, Spielen und das
Anschauen des Säuglings gehörte.
Unabhängig davon wurde der Gesundheitsstatus eines jeden Säuglings bei der Geburt, bei
der Entlassung aus dem Krankenhaus, im Alter von vier Monaten und im Alter von acht
Monaten untersucht. Dies umfasste medizinische, neurologische, physische und kognitive
Untersuchungen und Beurteilungen über dessen Entwicklung.
Janet Mann untersuchte dann die Gesunde-Baby-Hypothese, nach welcher der Gesund-
heitsstatus des Kindes den Grad des positiven mütterlichen Verhaltens beeinflusst. Als die
Säuglinge vier Monate alt waren, richtete etwa die Hälfte der Mütter mehr positives müt-
terliches Verhalten auf den gesunden Säugling; die andere Hälfte zeigte keine Präferen-
zen. Als die Säuglinge acht Monate alt waren, richteten jedoch alle Mütter mehr positives
mütterliches Verhalten auf den gesünderen Säugling. Das Ergebnis dieser Zwillings-Stu-
die unterstützt somit die Gesunde-Baby-Hypothese und legt nahe, dass die Mütter mehr
Investitionen auf Säuglinge mit höherem reproduktiven Wert richten. Es bedarf weiterer
ausführlicher Tests in größerem Umfang, um diese Hypothese zu unterstützen.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 275
Alter des Kindes. Der reproduktive Wert, d.h. die erwartete Wahrscheinlichkeit künftiger
Reproduktion, nimmt von der Geburt zur Pubertät zu. Dies ist vor allem darauf zurückzu-
führen, dass ein bestimmter Prozentsatz der Kinder, vor allem Säuglinge, sterben, und so
der durchschnittliche reproduktive Wert dieser Altersklasse nach unten gezogen wird. Ein
Vierzehnjähriger hat einen höheren reproduktiven Wert als ein Säugling, da einige Säug-
linge sterben, bevor sie Vierzehn werden. Das Erreichen der Pubertät war früher, als die
Säuglingssterblichkeit höher war, durchaus nicht so selbstverständlich wie heutzutage.
Auf dieser Basis kamen Daly und Wilson zu folgender Vorhersage: je jünger das Kind,
desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern es töten. Dieses altersabhängige
Muster der Kindstötung sollte jedoch bei Nicht-Verwandten nicht vorkommen, da diese
nicht das gleiche Interesse am reproduktiven Wert des Kindes haben.
Wie bei den meisten Themen liegen auch hier nur wenige kulturübergreifende Daten vor.
In den HRAF-Akten berichten elf Ethnografien verschiedener Kulturen, dass ein Kind
getötet wird, wenn das Geburtsintervall zu kurz oder die Familie zu groß ist (Daly & Wil-
son, 1988, S. 75). In jedem dieser elf Fälle werden die Neugeborenen getötet und in kei-
nem Fall das ältere Kind.
Abbildung 7.3: Das Risiko des Totschlags durch natürliche Eltern in Abhängigkeit vom
Alter des Kindes
Kanada 1974-1983.
Quelle: Martin Daly und Margo Wilson. Homicide, S. 76. (New York: Aldine de Gruyter) Copyright © 1988
by Aldine de Gruyter.
Eine gründlichere Überprüfung der Vorhersage über das Risiko eines Kindes, abhängig
vom Alter von seinen genetischen Eltern getötet zu werden, wurde mit kanadischen
Daten durchgeführt. Die Ergebnisse (Abbildung 7.3) zeigen, dass Säuglinge einem sehr
viel höheren Risiko ausgesetzt sind, durch ihre genetischen Eltern getötet zu werden, als
jede andere Altersgruppe. Danach nehmen die Raten der Kindstötung progressiv ab, bis
sie im Alter von 17 bei Null liegen.
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276 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Eine mögliche Erklärung für diese Abnahme liegt darin begründet, dass Kinder sich mit
zunehmendem Alter besser verteidigen können. Aber dies erklärt nicht die Daten, denn
das Risiko eines Kindes, durch Nicht-Verwandte getötet zu werden, zeigt ein deutlich
anderes Muster (siehe Abbildung 7.4). Im Gegensatz zu genetischen Eltern ist es für
Nicht-Verwandte wahrscheinlicher, einjährige Kinder zu töten als Säuglinge. Im Gegen-
satz zu genetischen Eltern, die fast niemals ihre Kinder im Teenager-Alter töten, töten
Nicht-Verwandte Teenager mehr als Kinder anderer Alterskategorien. Somit scheint nicht
die größere körperliche Stärke, sondern der zunehmende reproduktive Wert älterer Kinder
der Grund dafür zu sein, dass genetische Eltern diese seltener töten.
Abbildung 7.4: Risiko, dass ein Kind durch einen Nicht-Verwandten getötet wird
Kanada 1974-1983.
Quelle: Martin Daly und Margo Wilson. Homicide. (New York: Aldine de Gruyter) Copyright © 1988 by
Aldine de Gruyter.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwei negative Indikatoren der Fähigkeit
eines Kindes, den reproduktiven Erfolg der Eltern zu fördern – nämlich Geburtsfehler und
Jugend – Totschlag durch die genetischen Eltern vorhersagen. Daly und Wilson (1988)
weisen darauf hin, dass sie nicht annehmen, dass „Kindesmisshandlung“ oder „Kinds-
tötung“ per se Adaptationen sind; sie betrachten Kindstötungen als extremes Ergebnis
einer Prüfung bzw. eines Tests der elterlichen Gefühle. Sie vertreten die Meinung, dass
Eltern die Kinder bevorzugen, die am besten geeignet sind, die elterlichen Investitionen
in reproduktiven Erfolg umzuwandeln und weniger wohlwollend Kindern gegenüber
sind, die diese Fähigkeiten nicht haben. Sie erfassen diese Form elterlicher Gefühle mit
der Phrase diskriminierende elterliche Besorgtheit. Nach Daly und Wilson repräsentiert
Kindstötung eine extreme und relativ ungewöhnliche Manifestation negativer elterlicher
Gefühle und nicht eine Form der Adaptation. Auf der anderen Seite gibt es Belege, dass
Eltern mehr in gesunde als in kranke Kinder investieren, was nahe legt, dass die Selektion
psychologische Mechanismen in Eltern auf den reproduktiven Wert ihrer Kinder hin ori-
entiert hat.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 277
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278 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
bleme lenken sollte. Aus der weiblichen Perspektive beeinflussen Alter und Familien-
stand diese Entscheidung. Aus der männlichen Perspektive ist ein wichtiger Faktor in
Bezug auf elterliche Bemühungen der sexuelle Erfolg bei Frauen. Männer mit hohem
potentiellen Zugang zu Frauen könnten ihre Bemühungen mehr auf die Paarung als auf
die Elternschaft konzentrieren. Wir werden auf diese Zusammenhänge näher eingehen.
Das Alter von Frauen und Kindsmord. Junge Frauen haben viele Jahre vor sich, in denen
sie Kinder gebären und in sie investieren können und so sind die Kosten gering, eine Chance
zu verpassen. Auf der anderen Seite könnten Frauen, die sich dem Ende ihrer reproduktiven
Kapazität nähern und eine Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, verpassen, keine weitere
Chance erhalten. Da die Aussichten auf Reproduktion abnehmen, steigen die reproduktiven
Kosten, die Geburt von Kindern aufzuschieben. Aus dieser Perspektive gesehen könnte man
erwarten, dass die Selektion eine Entscheidungsregel favorisieren würde, die ältere Frauen
dazu bringt, in Kinder zu investieren, statt dies weiter aufzuschieben.
Daly und Wilson (1988) untersuchten diese Hypothese, indem sie Kindstötung zur Über-
prüfung der mütterlichen Investition (oder Mangel derselben) verwendeten. Aus den oben
ausgeführten Überlegungen folgt eine bestimmte Vorhersage: Jüngere Frauen neigen eher
zur Kindstötung als ältere Frauen. Diese Hypothese erhält starke Unterstützung von Sta-
tistiken der Ayoreo-Indios (Burgos & McCarthy, 1984). Der zu Kindstötungen führende
Anteil der Geburten ist unter den jungen Frauen (zwischen 15 und 19) am höchsten und
unter den ältesten Frauen (über 39) am niedrigsten.
Allerdings weisen die Ayoreo-Indios eine ungewöhnlich hohe Kindstötungsrate auf, näm-
lich 38 Prozent aller Geburten, so dass dies ein atypisches Beispiel ist. Gibt es in anderen
Kulturen Belege, dass das Alter der Mütter Kindstötungen beeinflusst? Daly und Wilson
(1998) sammelten Daten über Kindstötungen in Kanada zwischen 1974 bis 1983 (siehe
Abbildung 7.5).
Wie bei den Ayoreo-Indios verüben auch junge kanadische Mütter häufiger Kindstötun-
gen als ältere. Teenager weisen die höchste Rate auf, nämlich dreimal so viel wie jede
andere Altersgruppe. Frauen in ihren Zwanzigern zeigen die nächst höhere Rate, gefolgt
von Frauen in ihren Dreißigern. Abbildung 7.5 zeigt einen leichten Zugang bei Kinds-
tötungen unter den ältesten Frauen, was der Hypothese zu widersprechen scheint, dass
ältere Frauen ihre Kinder seltener töten. Daly und Wilson merken jedoch an, dass dies
kein zuverlässiges Ergebnis ist, da diese Gruppe nur aus drei Frauen bestand: einer Frau
im Alter von 38 und zweien im Alter von 41.
Somit wird die Vorhersage, dass Kindstötungen unter jüngeren Frauen, die die meisten
Möglichkeiten für zukünftige Reproduktion aufweisen, am höchsten, und bei älteren
Frauen, die geringere Möglichkeiten künftiger Reproduktion haben, am niedrigsten ist,
von Daten aus zwei Kulturen unterstützt. Jüngere Frauen können ihre Ressourcen auch
für andere Zwecke wie die Ansammlung persönlicher Ressourcen verwenden oder für
Bemühungen, einen Partner anzuziehen. Die Entscheidungsregeln älterer Frauen dagegen
tendieren zur Investition in Kinder, selbst wenn sie die Möglichkeit haben, in die Lösung
anderer adaptiver Probleme zu investieren. Ein weiterer Kontext, der die Entscheidung
beeinflusst, in Kinder zu investieren, ist der Familienstand der Frauen.
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Alter der Mutter
Abbildung 7.5: Das Risiko von Kindstötungen (Totschlag durch die leibliche Mutter
innerhalb des ersten Lebensjahres) in Abhängigkeit vom Alter der Mutter
Kanada 1974-1983.
Quelle: Martin Daly und Margo Wilson. Homicide, S. 63. (New York: Aldine de Gruyter) Copyright © 1988
durch Aldine de Gruyter.
Der Familienstand von Frauen und Kindstötungen. Eine ledige Mutter, die ein Kind
bekommt, hat drei Möglichkeiten: Sie kann versuchen, das Kind ohne die Hilfe eines inves-
tierenden Vaters aufzuziehen, sie kann das Kind verlassen oder es zur Adoption freigeben
oder sie kann das Kind töten und ihre Ressourcen dazu verwenden, einen Ehemann an sich
zu binden und mit ihm Kinder haben. Daly und Wilson (1988) meinen, dass der Familien-
stand einer Frau Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit hat, dass sie ihr Kind tötet.
Sie untersuchten diese Vorhersage anhand von zwei Datenquellen. In der ersten untersuch-
ten sie HRAF-Akten – die umfangreichste aller derzeit existierenden ethnografischen
Datenbanken. Es gab sechs Kulturen, in denen Säuglinge getötet wurden, wenn kein Mann
zugab, der Vater zu sein oder sich verpflichtete, bei der Aufzucht des Kindes zu helfen. In
weiteren 14 Kulturen war der unverheiratete Familienstand der Frau ein zwingender
Grund, das Kind zu töten. Diese Daten sind aufschlussreich, aber weitere quantitative
Daten sind erforderlich.
Zwischen 1977 und 1983 wurde eine Studie unter ausgewählten kanadischen Frauen
durchgeführt. In diesem Zeitraum wurden zwei Millionen Kinder geboren (Daly &
Wilson, 1988). Nur zwölf Prozent der Mütter waren ledig. Trotz des relativ niedrigen
Prozentsatzes unverheirateter Frauen waren diese für mehr als die Hälfte der 64 Kinds-
tötungen verantwortlich, die der Polizei gemeldet oder durch diese aufgedeckt wurden.
Dem aufmerksamen Leser fällt sofort ein Problem bei diesem Ergebnis auf: vielleicht
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280 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
sind unverheiratete Mütter im Durchschnitt jünger als verheiratete Mütter und so könnten
die Kindstötungen eher auf das Alter als auf den Familienstand der Frauen zurückzufüh-
ren sein. Daly und Wilson (1988) untersuchten deshalb die getrennten Effekte von Alter
und Familienstand der Frauen (Abbildung 7.6).
Die Ergebnisse sind klar: Sowohl Alter als auch Familienstand haben einen Einfluss auf
die Häufigkeit von Kindstötungen. In jeder Altersgruppe außer der ältesten war die Wahr-
scheinlichkeit der Kindstötung für unverheiratete Mütter höher als für verheiratete Frauen.
Wertet man alle Untersuchungen aus, scheinen beträchtliche Hinweise dafür vorzuliegen,
dass die Variable Alter und die Variable Familienstand die Wahrscheinlichkeit beeinflus-
sen, dass eine Frau ihr Kind tötet. Vermutlich reflektieren die hier festzustellenden Trends
im Laufe der Evolution entstandene Entscheidungsregeln bei Frauen hinsichtlich der Art
und Weise, wie sie ihre Ressourcen verwenden. Ältere, verheiratete Frauen, deren repro-
duktive Jahre nachlassen, behalten das Kind eher und investieren in es. Jüngere und
unverheiratete Frauen begehen häufiger Kindstötungen, um ihre Anstrengungen auf
andere adaptive Probleme wie das Überleben oder auf die Anziehung investierender
Männer zu richten. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Daly und Wilson nicht
behaupten, dass Kindstötung per se eine Adaptation ist. Sie betrachten Kindstötung eher
als Kehrseite der elterlichen Fürsorge – der sprichwörtlichen Spitze des Eisbergs, der die
eigentlichen psychologischen Entscheidungsregeln über elterliche Investitionen aufdeckt.
Elterliche Bemühungen versus Partner-Bemühungen. Bemühungen, die auf die Eltern-
schaft gerichtet sind, können nicht zur Gewinnung zusätzlicher Partner verwendet werden.
Erinnern wir uns, dass es zwei evolutionäre Gründe für die Vorhersage gibt, dass Männer und
Frauen unterschiedliche Entscheidungsregeln hinsichtlich der Abwägungen zwischen Eltern-
schaft und Partnersuche entwickelt haben. Erstens profitieren Männer mehr als Frauen von
sexuellem Zugang zu zusätzlichen Partnerinnen. Männer können durch erhöhten sexuellen
Zugang mehr Kinder zeugen, was Frauen nicht möglich ist. Zum zweiten ist die Vaterschaft
normalerweise weniger als 100 Prozent sicher. Deshalb wird die Investition seitens eines
Mannes in ein Kind seinen reproduktiven Erfolg, durchschnittlich gesehen, nicht in dem glei-
chen Maße erhöhen, wie dies bei einer Frau der Fall ist. Diese zwei Überlegungen führen zu
folgender Vorhersage: Frauen werden wahrscheinlich eher als Männer ihre Energie und alle
Anstrengungen auf die Elternschaft konzentrieren als auf die Gewinnung zusätzlicher Partner.
Diese Vorhersage wird durch Belege in einer Vielfalt von Kulturen gestützt. Bei den
Ye’Kwana im Regenwald Venezuelas beispielsweise gibt es einen statistisch signifikan-
ten Geschlechtsunterschied, wie lange Säuglinge im Arm gehalten werden. Mütter halten
ihre Säuglinge im Durchschnitt 78 Prozent der Zeit, während Väter sie nur 1.4 Prozent
der Zeit halten (Hames, 1988). Die übrige Zeit halten andere Verwandte, vor allem
Frauen wie Schwestern, Tanten und Großmütter die Kinder im Arm.
Die Aka-Pygmäen in Zentralafrika sind ein weiteres Beispiel (Hewlett, 1991). Die Aka
sind bekannt für ihr ungewöhnlich hohes Niveau elterlicher Investitionen. Die Eltern
schlafen im gleichen Bett wie ihre Säuglinge. Wenn das Kind nicht durch die Mutter
gestillt wird, kümmert sich normalerweise der Vater um das Kind und singt oder tanzt mit
ihm. Der Vater entfernt den Nasenschleim, reinigt das Kind und entlaust es und wenn die
Mutter nicht da ist, bietet er ihm sogar die Brust, an der es nuckeln kann.
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 281
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Alter der Mutter
Abbildung 7.6: Das Risiko einer Kindstötung in Abhängigkeit vom Alter der Mutter
und ihrem Familienstand
Kanada 1974-1984.
Quelle: Martin Daly und Margo Wilson. Homicide, S. 65. (New York: Aldine de Gruyter) Copyright © 1988
Aldine de Gruyter.
An einem durchschnittlichen Tag halten die Väter der Aka ihre Säuglinge mehr als Väter in
jeder anderen bekannten Kultur, nämlich durchschnittlich 57 Minuten, im Arm. Dieses unge-
wöhnlich hohe Niveau elterlicher Investition verblasst jedoch im Vergleich zu den Aka-Müt-
tern, die ihre Säuglinge an einem durchschnittlichen Tag 490 Minuten im Arm halten. Selbst
bei den Aka, einer Kultur, die als Gesellschaft „mütterlicher Männer“ beschrieben wird, sind
es die Frauen, die den Löwenanteil an der Fürsorge für den Nachwuchs übernehmen.
Eine andere kulturübergreifende Studie untersuchte verschiedene ländliche und nicht
technologische Gesellschaften in Mexiko, Java, Yuechua, Nepal und den Philippinen
(berichtet bei Barash & Lipton, 1997). Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern
war bei den verschiedenen Völkern nahezu identisch. Väter kümmerten sich zwischen 5
und 18 Prozent ihrer Wachzeit um die Kinder, wobei der häufigste Wert acht Prozent
betrug. Mütter dagegen verbrachten zwischen 39 und 88 Prozent ihrer Wachzeit damit,
sich um ihre Kinder zu kümmern, wobei als häufigster Wert 85 Prozent genannt wurde.
Frauen verbrachten somit etwa zehnmal so viel Zeit mit ihren Kindern wie Männer. Der
Geschlechtsunterschied wird noch größer, wenn passive Formen der Fürsorge in die Ana-
lyse aufgenommen werden wie die Beaufsichtigung spielender Kinder. Werden diese
Daten hinzugefügt, so kümmern sich Frauen 15-mal so viel um Kinder wie die Männer.
Ähnliche Unterschiede sind aus Amerika bekannt, wo sich Väter durch Erfindungen wie
die Babyflasche und künstliche Muttermilch von Anfang an genauso um ihre Kinder
kümmern könnten. Aber selbst hier verbringen Frauen mehr als viermal so viel Zeit mit
ihren Kinder als Väter (Barah & Lipton, 1997). Die Statistik Alleinerziehender spricht für
sich: Etwa 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Trotz Ideologien über Gleich-
berechtigung sind Männer entweder unwillig, eine große Rolle in der Kinderziehung zu
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
282 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 283
können Frauen die Gesichtszüge von Säuglingen schneller und genauer erkennen als
Männer. All diese Ergebnisse führen zu einem Schluss: Frauen scheinen Entscheidungs-
regeln entwickelt zu haben, die sie dazu veranlassen, mehr Zeit in die Elternschaft zu
investieren. Sie verfügen über Mechanismen des emotionellen Gedankenlesens, die die
Elternschaft effektiver machen.
Wahrscheinlich nutzen Männer Ressourcen, die nicht der Elternschaft gewidmet sind, für
andere adaptive Aufgaben wie der Paarung. Es gibt direkte Belege für diese Aussage,
aber sie sind sehr schwach. Ein Befund kommt von den Aka-Pygmäen in Zentralafrika.
Obwohl die Aka, verglichen mit anderen Kulturen, starke elterliche Investitionen aufwei-
sen, gibt es große Unterschiede am Anteil der Elternschaft. Väter mit hohem Ansehen im
Stamm (kombeti) halten ihre Säuglinge weniger als halb so oft im Arm wie Männer mit
niedrigem Ansehen (Hewlett, 1991). Männer mit hohem Ansehen sind normalerweise
polygam und haben zwei oder mehr Frauen. Im Gegensatz dazu sind Männer mit niedri-
gem Ansehen froh, überhaupt eine Frau zu finden. Männer mit niedrigem Ansehen schei-
nen dies durch Anstrengungen in der Elternschaft zu kompensieren, während Männer mit
hohem Ansehen ihre Ressourcen auf die Anziehung zusätzlicher Partnerinnen verwenden
(Hewlett, 1991; Smuts & Gubernick, 1992).
Selbst wenn Männer sich der Elternschaft widmen, kann dies eher als Taktik zur Siche-
rung der Partnerin interpretiert werden, denn als Hilfe in Bezug auf die Lebensfähigkeit
des Kindes. Diese Hypothese wurde von den Primatologen Barbara Smuts und David
Gubernick (1992) aufgestellt. Mark Flinn (1992) untersuchte väterliche Investitionen in
einem Dorf auf Trinidad. Er fand heraus, dass sich Männer mehr um die Kinder einer
allein erziehenden Frau bemühen, bevor sie mit ihr verheiratet sind als danach. Dies lässt
vermuten, dass Männer die Bemühungen um Kinder als Teil der Strategien zur Anzie-
hung der Frau ansehen.
Zusammenfassung. Wir haben drei Faktoren untersucht, die die Evolution der Eltern-
schaft beeinflussen: genetische Verwandtschaft, die Fähigkeit des Kindes, die elterliche
Fürsorge in Überleben und reproduktiven Erfolg umzuwandeln und alternative Möglich-
keiten, wie Eltern Ressourcen nutzen könnten, die sie auf ihre Kinder konzentrieren. Die
Befunde legen nahe, dass alle drei Faktoren wichtig sind. Eltern investieren mehr in gene-
tische Kinder als in Stiefkinder; Väter, die sich ihrer Vaterschaft ungewiss sind, investie-
ren weniger in Kinder als Mütter, die ihrer genetischen Verwandtschaft zu 100 Prozent
sicher sind. Gesunde Kinder mit einem hohen reproduktiven Wert erhalten mehr positive
elterliche Aufmerksamkeit als Kinder, die krank sind oder Behinderungen aufweisen und
somit einen niedrigeren reproduktiven Wert haben. Männer, die mehr Möglichkeiten als
Frauen haben, um Partner anzuziehen, tendieren dazu, weniger Anstrengungen in die
elterliche Fürsorge zu investieren. Unter den Männern der Aka bündeln Männer mit
hohem Ansehen ihre Anstrengungen auf die Attraktion neuer Frauen und verbringen
daher weniger Zeit mit der elterlichen Fürsorge. Männer der Aka mit niedrigem Ansehen
dagegen verstärken ihre Investitionen in Kinder, wenn auch nicht auf dem Niveau, wie
dies die Frauen der Aka tun.
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
284 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 285
weise einen größeren Anteil der Ressourcen der Eltern will, als die Eltern zu geben bereit
sind. Auch wenn das obige Beispiel sehr vereinfacht dargestellt ist, trifft die allgemeine
Schlussfolgerung auch dann zu, wenn sich Geschwister in ihrer Bedeutung für die Eltern
unterscheiden oder wenn diese nur ein Kind haben. Wenn die Eltern der idealen Vertei-
lung der Ressourcen wie vom Kind gewünscht nachgäben, würde dies dazu führen, dass
das Kind andere Kanäle anzapft, durch die die Eltern reproduktiv erfolgreich sein könn-
ten. Interessanterweise ist der Eltern-Kind-Konflikt über die Ressourcen der Eltern nicht
nur zu bestimmten Zeiten wie der Jugend, sondern zu jeder Zeit im Leben präsent (Daly
& Wilson, 1988).
Zusammengefasst identifiziert Trivers’ Theorie einen wichtigen Bereich des genetischen
Interessenskonflikts zwischen Eltern und Kindern – das Schlachtfeld für die optimale Ver-
teilung der Ressourcen (Gofray, 1999). Im Lauf der Zeit wird daraus ein Wettrüsten zwi-
schen den Genen der Eltern und der Kinder. Die Selektion hat daher Adaptationen in
Kindern entwickelt, um die Eltern hinsichtlich der für das einzelne Kind optimalen Zutei-
lung der Ressourcen zu manipulieren, sowie entsprechende Gegenadaptationen in den
Eltern, um Ressourcen zu deren eigenem Vorteil zu verwenden. Wir werden sehen, wie
dieser Konflikt gelöst wird.
Die Theorie des Eltern-Nachkommen-Konflikts führt zu einer Anzahl von Vorhersagen,
die untersucht werden können: (1) Eltern und Kinder geraten etwa zu der Zeit in Konflikt,
in der das Kind abgestillt werden soll. Die Eltern wollen das Kind normalerweise früher
abstillen, während das Kind die Ressourcen weiterhin erhalten möchte, (2) Eltern unter-
stützen Kinder, ihre Geschwister mehr wertzuschätzen als sie es normalerweise würden
und (3) Eltern bestrafen Konflikte zwischen Geschwistern und belohnen Kooperation.
Mutter-Kind-Konflikt im Uterus
Von wenigen Beziehungen wird angenommen, dass sie so harmonisch sind wie die zwi-
schen Mutter und Kind. Die Mutter ist ihres genetischen Beitrags zu 100 Prozent sicher
und so sollten die genetischen Interessen von Mutter und Kind übereinstimmen. In einer
Reihe von Veröffentlichungen dehnte der Biologe David Haig die Theorie des Eltern-
Kind-Konflikts soweit aus, dass er Konflikte zwischen Mutter und Kind im Uterus mit
einbezog (Haig, 1993).
Die Logik des Mutter-Fötus-Konflikts folgt direkt aus der Theorie des Eltern-Kind-Konf-
likts. Eine Mutter gibt 50 Prozent ihrer Gene weiter, aber der Fötus erhält auch 50 Prozent
der Gene vom Vater. Mütter kanalisieren Ressourcen auf das Kind, das den größten repro-
duktiven Nutzen aufweist. Dieses Kind hat jedoch stärkeres Interesse an sich selbst als an
ein künftiges Kind derselben Mutter. Daher verfügt der Fötus über Mechanismen, um die
Mutter dahingehend zu manipulieren, mehr Nahrung zur Verfügung zu stellen, als es in
deren Interesse ist.
Der Konflikt beginnt, wenn ein spontaner Abort eintritt. Fast 78 Prozent aller befruchte-
ten Eier nisten sich entweder nicht ein oder werden zu Beginn der Schwangerschaft spon-
tan abgestoßen (Nesse & Williams, 1994). Die meisten dieser Aborte haben ihre Ursache
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
286 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 287
Der Ödipus-Komplex
Die Theorie des Eltern-Kind-Konflikts wurde im Verhältnis zu Freuds (1900/1953) The-
orie des Ödipus-Komplexes untersucht. Nach Freud stellt dieser eine zentrale Quelle des
Konflikts zwischen Kindern und ihrem gleichgeschlechtlichen Elternteil dar. Er besteht
aus zwei zentralen Komponenten. Es wird angenommen, dass der Sohn im Alter zwi-
schen zwei und fünf Jahren eine sexuelle Anziehung zur Mutter entwickelt. Da der Vater
tatsächlichen sexuellen Zugang zur Mutter hat, befindet sich der Sohn mit ihm in Kon-
flikt. Dies führt zur zweiten Komponente des Ödipus-Komplexes, zum unterbewussten
Wunsch des Sohnes, den Vater zu töten. Sohn und Vater werden somit sexuelle Konkur-
renten um die Mutter. Daraus folgt eine klare Vorhersage: Sollte die Theorie zutreffen,
gäbe es, besonders in der ödipalen Phase, d.h. im Alter zwischen zwei und fünf Jahren,
mehr gleichgeschlechtliche als gegengeschlechtliche Konflikte und Antagonismen zwi-
schen Eltern und Kind.
Die Theorie des Ödipus-Komplexes steht im Widerspruch zu Trivers’ (1974) Theorie des
Eltern-Kind-Konflikts. Nach dieser Theorie haben die Interessenskonflikte zwischen
Eltern und Kindern zumindest in den Vorschuljahren nichts oder nur wenig mit dem
Geschlecht des Kindes zu tun. Konflikte entstehen eher bei Unstimmigkeiten über die
Zuteilung elterlicher Investitionen. Söhne und Töchter wünschen mehr elterliche Investi-
tionen, als die Eltern ihnen geben wollen. Die Gründe hierfür wurden weiter oben bei der
Untersuchung des Eltern-Kind-Konflikts aufgeführt.
Beide Theorien sagen die Existenz eines Eltern-Kind-Konflikts vorher, aber sie unter-
scheiden sich in zwei wichtigen Punkten. Zum einen unterscheiden sie sich in der Ursa-
che des Konflikts zwischen Eltern und Kindern. In Freuds Theorie ist der Konflikt der
sexuelle Zugang zur Mutter, während es in Trivers’ Theorie das Ausmaß der elterlichen
Investitionen ist. Zweitens unterscheiden sich die Theorien in der Bedeutung des gleich-
geschlechtlichen Konflikts. Nach Freud sind gleichgeschlechtliche Konflikte zwischen
Eltern und Kind (z.B. Vater und Sohn) geläufiger als Konflikte mit dem anderen
Geschlecht (z.B. Mutter und Sohn), während nach Trivers’ Theorie gleichgeschlechtliche
Konflikte nicht überwiegen (Daly & Wilson, 1990).
Es gibt jedoch eine wichtige Einschränkung: wenn der Sohn alt genug ist, um ein sexuel-
ler Konkurrent des Vaters zu sein. Die Darwinsche Theorie der sexuellen Selektion (siehe
Kapitel 4) vorhersagt, dass Angehörige des gleichen Geschlechts zu Rivalen über den
sexuellen Zugang zu Angehörigen des anderen Geschlechts werden. Nichts an dieser
Theorie deutet jedoch darauf hin, dass die Mutter das Ziel der sexuellen Rivalität sein
könnte. Auf der Basis dessen, was wir über die Partnerpräferenzen der Männer für jün-
gere Frauen wissen (siehe Kapitel 5), würde man annehmen, dass Söhne nur selten sexu-
elles Interesse an ihren Müttern haben. Die zusätzlichen Komplikationen der Inzucht,
nach der Kinder, die das Produkt von Verbindungen genetischer Verwandter sind, einen
niedrigen Intelligenzquotienten und mehr genetische Krankheiten aufweisen, lassen ver-
muten, dass die Selektion stark gegen jegliche sexuelle Attraktion operieren würde, die
ein Sohn für seine Mutter empfinden könnte. Väter und Söhne könnten sexuelle Rivalen
sein, aber der Fokus ihrer Rivalität wäre der Zugang zu anderen Frauen und nicht der zur
Frau bzw. Mutter.
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288 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 289
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290 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Zusammenfassung
Aus einer evolutionären Perspektive sind die Nachkommen Mittler für die Gene der
Eltern und daher favorisiert die Selektion elterliche Mechanismen, die das Überleben
und die Reproduktion der Nachkommen sicherstellen. Mechanismen elterlicher Für-
sorge wurden bei vielen Tierarten dokumentiert. Eines der interessantesten Rätsel ist,
warum Mütter mehr in elterliche Fürsorge investieren als Väter. Drei Hypothesen wur-
den entwickelt, um dies zu erklären: (1) die Hypothese der Ungewissheit der Vater-
schaft. Männchen investieren weniger als Weibchen, da es eine geringere Wahrschein-
lichkeit gibt, dass sie Gene für ihre mutmaßlichen Nachkommen beigetragen haben
(die Gewissheit der Mutterschaft beträgt 100 Prozent, während die Gewissheit der
Vaterschaft weniger als 100 Prozent beträgt); (2) die Hypothese des Verlassen-Kön-
nens. Der erste, der den Nachwuchs verlassen kann, tut dies, und da die Befruchtung
bei vielen Arten im Körper stattfindet, sind die Männchen diejenigen, die gehen und
(3) die Hypothese der Opportunitätskosten durch verpasste Paarungsmöglichkeiten.
Die Opportunitätskosten der Männchen für eine Investition in die elterliche Fürsorge
sind höher als die der Weibchen, da eine solche Investition Männchen an zusätzlichen
Paarungsmöglichkeiten hindert. Obwohl alle drei Faktoren zum Unterschied der
Geschlechter in der elterlichen Fürsorge beitragen, unterstützen die neuesten Erkennt-
nisse die Ungewissheit der Vaterschaft und die Hypothese der Opportunitätskosten.
Im Lauf der Evolution entstandene Mechanismen elterlicher Fürsorge sollten sensitiv
sein gegenüber zumindest diesen drei Faktoren: (1) den genetischen Verwandtschafts-
grad der Nachkommen, (2) der Fähigkeit der Nachkommen, die elterliche Fürsorge in
Fitness umzuwandeln und (3) potentiellen Alternativen für die Verwendung der ver-
fügbaren Ressourcen. Empirische Befunde unterstützen die Hypothese, dass der gene-
tische Verwandtschaftsgrad mit den Nachkommen das Ausmaß der elterlichen Für-
sorge beeinflusst. Studien zeigen, dass Stiefeltern weniger positive elterliche Gefühle
haben als genetische Eltern. Interaktionen zwischen Stiefeltern und Stiefkindern ten-
dieren dazu, konfliktbeladener zu sein als die zwischen genetischen Eltern und Kin-
dern. Über Neugeborenen wird gesagt, dass sie ihren Vätern ähnlicher sehen als ihren
Müttern, was auf Mechanismen hindeutet, die Väter zur Investition in die Kinder zu
bewegen. Investitionen in den College-Besuch sind für genetische Kinder höher als für
Stiefkinder und noch höher, wenn die Gewissheit der Vaterschaft hoch eingeschätzt
wird. Kinder, die bei einem genetischen Elternteil und einem Stiefelternteil leben,
erleiden 40-mal so oft körperliche Misshandlungen und werden 40- bis 100-mal so
häufig getötet wie Kinder, die bei ihren genetischen Eltern leben. Die genetische Ver-
wandtschaft der Eltern zum Kind scheint ein ausschlaggebender Faktor in der Qualität
elterlicher Fürsorge zu sein.
Die Mechanismen der Eltern sind auch sensitiv hinsichtlich der Fähigkeiten der
Nachkommen, die elterliche Fürsorge in reproduktiven Erfolg umzuwandeln. Drei
Forschungsrichtungen unterstützen diese theoretische Erwartung. Erstens werden
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Kapitel 7 Probleme im Kontext von Elternschaft 291
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292 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Weiterführende Literatur
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Kapitel
Stellen wir uns eine Welt vor, in der jeder jeden gleichermaßen liebt. Es gäbe keine
Bevorzugung. Wir würden einem zufällig vorbeikommenden Fremden ebenso bereitwil-
lig zu Essen geben wie unseren Kindern. Unsere Eltern würden genauso bereitwillig für
die Ausbildung eines Nachbarn bezahlen wie für unsere eigene. Wenn das Schicksal uns
zwingen würde, das Leben eines einzigen Menschen zu retten, wenn zwei im Begriff sind
zu ertrinken, würden wir genauso bereitwillig einen Wildfremden retten wie unseren
eigenen Bruder oder unsere Schwester.
Es ist schwierig, sich eine solche Welt vorzustellen. Die evolutionäre Theorie der
Gesamtfitness erklärt uns, warum das so ist. Aus Sicht der Gesamtfitness-Theorie unter-
scheiden sich die Menschen in Bezug auf ihren genetischen Verwandtheits-Grad vonein-
ander. Grundsätzlich sind wir zu 50% mit unseren Eltern, Kindern und Geschwistern ver-
wandt. Zu 25% sind wir mit Großeltern, Enkeln, Halbgeschwistern, Onkeln, Tanten,
Nichten und Neffen verwandt. Genetisch gesehen sind wir zu 12,5% mit Cousins und
Cousinen ersten Grades und zu halb so viel mit Cousins und Cousinen zweiten Grades
verwandt. Mit Fremden sind wir normalerweise genetisch nicht verwandt.
Aus der Perspektive der Gesamtfitness-Theorie sind die Verwandten eines Einzelnen alle-
samt Fitness-Träger, die aber in ihrem Wert variieren. In Kapitel 7 sahen wir, dass Kinder
für ihre Eltern einen unterschiedlichen Wert haben können. In diesem Kapitel untersuchen
wir nun die Theorie und die dazugehörigen Belege, nach denen unsere Verwandten für uns
unterschiedlichen Wert haben. Die Selektion wird theoretisch – ceteris paribus – Adaptati-
onen zur Unterstützung unserer Familienmitglieder je nach ihrem Verwandtheits-Grad för-
dern. Die Selektion wird Mechanismen, die uns selbst nützen, doppelt so stark begünstigen
wie Mechanismen, mit denen wir beispielsweise unserem Bruder helfen werden. Ein Bru-
der ist aber wiederum doppelt so nah mit uns verwandt wie etwa ein Neffe und würde des-
halb auch doppelt so viel Hilfe bekommen wie dieser. Natürlich ist im wahren Leben so
manches anders. Hält man den genetischen Verwandtheits-Grad konstant, so würde etwa
ein Bruder, der versucht, als Liedermacher groß herauszukommen, doppelt so sehr von
unserer Hilfe profitieren als ein anderer Bruder, der zufällig wohlhabend ist. Außerdem
kann sich Altruismus auch unter gering Verwandten oder sogar unter gar nicht Verwandten
entwickeln, wie wir in Kapitel 9 sehen werden. Eine unmittelbare Aussage lässt sich
jedoch in jedem Fall von der Gesamtfitness-Theorie ableiten: Die Selektion wird häufig
die Evolution von Mechanismen begünstigen, die darauf ausgelegt sind, nahe Verwandte
stärker zu unterstützen als entfernte Verwandte und entfernte Verwandte mehr als Fremde.
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294 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Dieses Kapitel befasst sich mit der evolutionären Psychologie der Verwandtschaft. Es
weicht insofern von den vorherigen Kapiteln ab, als es sehr viele theoretische Informatio-
nen, jedoch wenig empirische Daten enthält und dafür gibt es einen Grund. Obwohl der
Verwandtschaftsaspekt aus evolutionärer Sicht so immens wichtig ist, haben sich Psycho-
logen damit bisher kaum befasst (Daly, Salmon & Wilson, 1997). Ein Grund liegt darin,
dass es sehr viel schwieriger ist, Verwandte zu untersuchen als völlig Fremde, die schon
in den einführenden Psychologiekursen zahlreich zur Verfügung stehen. Zweitens leben
wir in unserer modernen städtischen Umgebung oft sehr weit entfernt von unserer weit-
läufigen Verwandtschaft. Oft wachsen wir in relativ isolierten Kernfamilien auf und
ziehen dann zum Studium und darüber hinaus in eine andere Stadt, wo wir oft auch keine
näheren Verwandten haben. Zum dritten könnte die Bevorzugung von Familienmit-
gliedern ein so offensichtliches und weit verbreitetes Phänomen sein, dass kein Wissen-
schaftler darin ein Potential für bahnbrechend neue Entdeckungen sieht. Denn kein
Wissenschaftler könnte sich mit einer Veröffentlichung einen Namen machen, die wissen-
schaftlich belegt, dass wir unseren Familienmitgliedern eher helfen als Fremden. Ein
vierter und eher spekulativer Grund könnte darin bestehen, dass die Menschen in moder-
nen westlichen Kulturen Nepotismus (die Bevorzugung von Verwandten) als peinlich
empfinden (Hamilton, 1987), da er scheinbar den Idealen von Demokratie und Egalitaris-
mus widerspricht. Vielleicht sind all diese Gründe dafür verantwortlich, dass die Erfor-
schung psychologischer Mechanismen im Zusammenhang mit Verwandtschaft von rela-
tiv wenig empirischen Daten gestützt wird. Die vorhandenen Belege jedoch bieten
interessante Einblicke und deuten auf viel versprechende Forschungsmöglichkeiten für
die Zukunft hin.
Hamilton-Regel
Erinnern wir uns an den Fachbegriff der Gesamtfitness aus Kapitel 1:
Die Gesamtfitness ist nicht eine Eigenschaft eines Organismus selbst, sondern
eine Eigenschaft seiner Handlungen oder Wirkungen. Die Gesamtfitness errechnet
sich aus der Summe des eigenen Fortpflanzungserfolgs eines Individuums plus
den Effekten, die dieses Individuum auf den Fortpflanzungserfolg seiner Verwand-
ten hat, und zwar jeweils gewichtet mit dem passenden Verwandtschafts-Koeffizi-
enten (Dawkins, 1982, S. 186).
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 295
Zum besseren Verständnis dieser Formulierung der Gesamtfitness stellen wir uns ein Gen
vor, das dafür sorgt, dass sich ein Individuum einem anderen Menschen gegenüber altru-
istisch benimmt. Der Begriff Altruismus, wie er hier verwendet wird, definiert sich auf-
grund zweier Bedingungen: (1) dem Individuum entstehen Kosten, wodurch (2) einem
anderen ein Vorteil entsteht. Hamilton stellte sich nun folgende Frage: „Unter welchen
Bedingungen könnte sich ein solches Altruismus-Gen entwickeln und innerhalb einer
Bevölkerung ausbreiten? Wir können davon ausgehen, dass sich unter den meisten Bedin-
gungen kein Altruismus entwickeln wird. Entstehen einem Individuum Kosten, so beein-
trächtigt dies die eigene Reproduktion, deshalb wirkt die Evolution normalerweise deren
Entstehung zum Vorteil anderer Menschen entgegen, denn viele dieser anderen Menschen
sind ja Konkurrenten. Hamilton erkannte jedoch, dass sich ein solcher Altruismus tat-
sächlich entwickeln könnte, wenn die Kosten geringer wären als der Nutzen für Empfän-
ger der altruistischen Handlung multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass der Emp-
fänger eine Kopie des Altruismus-Gens in sich trug. Allgemeiner ausgedrückt besagt die
Hamiltonsche Regel also, dass die natürliche Selektion Altruismus-Mechanismen
begünstigt, wenn
c < rb
In dieser Formel steht c für die Kosten (costs) des Handelnden, r für den genetischen Ver-
wandtheits-Grad (relatedness) zwischen Handelndem und Empfänger (genetische Ver-
wandtschaft kann definiert werden als Wahrscheinlichkeit, mit der man ein besonderes,
wichtiges Gen über seine durchschnittliche Häufigkeit innerhalb der Population mit
einem anderen Individuum gemeinsam hat; siehe Dawkins, 1982, und Grafen, 1991, für
nähere Informationen). Weiter steht b für den Nutzen (benefit) des Empfängers. Sowohl
Kosten als auch Nutzen werden in reproduktiver Währung gemessen.
Diese Formel sagt aus, dass die Selektion ein Individuum, dem Kosten entstehen (indem es
„altruistisch“ handelt), dann fördern wird, wenn der Nutzen für einen 50%igen Verwand-
ten mehr als doppelt so hoch ist wie die Kosten für den Handelnden; wenn weiter der Nut-
zen für einen 25%igen Verwandten mehr als viermal so hoch ist wie die Kosten für den
Handelnden; und wenn schließlich der Nutzen für einen 12,5%igen Verwandten mehr als
achtmal so hoch ist wie die Kosten für den Handelnden. Ein Beispiel kann diese Aussage
verdeutlichen: Stellen wir uns vor, wir kommen an einen Fluss und einige unserer geneti-
schen Verwandten drohen in einem wilden Strudel zu ertrinken. Wir können ins Wasser
springen, um sie zu retten, werden dafür aber mit unserem eigenen Leben bezahlen. Nach
der Hamilton-Regel begünstigt die Selektion Entscheidungsregeln, nach denen wir durch-
schnittlich nur dann ins Wasser springen, wenn wir drei Geschwister retten können, nicht
aber nur eines. Demzufolge würden wir unser Leben nicht opfern, um nur einen Bruder zu
retten, denn das verstößt gegen die Hamilton-Regel. Wendet man die Hamiltonsche Logik
an, so sollten uns evolutionsbedingte Entscheidungsregeln dazu bringen, unser Leben für
fünf Nichten oder Neffen zu riskieren; ebenso müssten wir aber bereits neun Cousins oder
Cousinen retten können, um dafür unser eigenes Leben zu opfern.
Der wichtigste Punkt ist dabei nicht, dass menschliches Verhalten zwangsläufig immer
der Logik der Gesamtfitness folgen wird. Vielmehr kommt es darauf au, zu erkennen,
dass Hamiltons Regel die Bedingungen definiert, unter denen sich Gene entwickeln kön-
nen, die bewirken, dass wir unseren Verwandten helfen. Die Regel definiert den Selek-
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296 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 297
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298 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
ren (Hertwig, Davis & Sulloway, 2002). Es ist klar, dass über die interessanten Auswir-
kungen der Geburtsreihenfolge auf die Psychologie der verwandtschaftlichen Solidarität
noch mehr geforscht werden muss.
Geschwister und Halbgeschwister. Ein weiterer potentiell wichtiger Aspekt verwandt-
schaftlicher Beziehungen stellt die Frage, ob es sich um wirkliche oder um Halbge-
schwister handelt. Dabei kommt es darauf an, ob alle Kinder einer Mutter auch denselben
Vater haben oder nicht. Diese Entscheidung ist theoretisch wichtig, da tatsächliche
Geschwister zu durchschnittlich 50% miteinander verwandt sind, während zwischen
Halbgeschwistern nur eine genetische Verwandtschaft von durchschnittlich 25% besteht.
In einer faszinierenden Studie über Erdhörnchen entdeckten Warren Holmes und Paul
Sherman (1982), dass bei vollwertigen Geschwistern die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei
der Verteidigung der Jungen zusammenarbeiteten, weitaus höher war als bei Halbge-
schwistern.
Machen auch Menschen solche Unterschiede? Wir wissen es nicht, denn bisher hat sich
noch niemand mit dieser Frage befasst. Es gibt jedoch gute Gründe zu glauben, dass die
Unterscheidung zwischen Geschwistern und Halbgeschwistern im Laufe der menschli-
chen Evolutionsgeschichte ein ständig wiederkehrender Selektionsdruck war. Studien
zeitgenössischer Stammesgemeinschaften weisen darauf hin, dass Frauen häufig Kinder
von verschiedenen Männern haben – manchmal aufgrund außerehelicher Affären und
manchmal aufgrund mehrerer Ehen (Hill & Hurtado, 1996). Daly, Salmon und Wilson
(1997) vermuten, „dass es in der menschlichen Urgeschichte durchaus eine Rolle gespielt
haben kann, ob aufeinander folgende Kinder der gleichen Mutter Geschwister oder Halb-
geschwister waren, wobei die Unterscheidung zwischen r = .5 und r = .25 keineswegs zu
vernachlässigen ist, wenn es um die Frage Kooperation oder Konkurrenz geht“ (Daly,
Salmon & Wilson, 1997. S. 277). Die Konflikte, die in Stieffamilien auftreten, in denen
Geschwister mit unterschiedlichem genetischen Verwandtheits-Grad zusammenleben,
böten ideale Rahmenbedingungen, um diese Hypothesen zu verifizieren.
Großeltern und Enkel. Großeltern sind mit ihren Enkeln zu r = .25 verwandt. Die Tatsa-
che, dass die meisten modernen Frauen ihre Menopause heute weit überleben, führte zu
der Hypothese, dass sich die Menopause selbst entwickelt hat, um eine direkte Reproduk-
tion zu unterbinden und um in die Kinder und dann in die Enkelkinder zu investieren –
deshalb kennt man diese Hypothese heute auch als die „Großmutter-Hypothese“ (Hill &
Hurtado, 1991). In vielen Kulturen tragen Frauen jenseits der Menopause sehr viel zum
Wohlergehen ihrer Enkelkinder bei (Lancester & King, 1985). Deshalb kann man davon
ausgehen, dass die Fürsorge durch die Großeltern in der menschlichen Evolutions-
geschichte ein durchgehend präsentes Phänomen war, weshalb sich spezifische psycholo-
gische Mechanismen zur Allokation großelterlicher Investitionen entwickelt haben könn-
ten. Wie wir später in diesem Kapitel sehen werden, gibt es für diese Hypothese
eindeutige Belege.
Hypothesen über universale Aspekte der Verwandtschaft. Daly, Salmon und Wilson
(1997) stellen eine Reihe von Hypothesen über die universalen Aspekte der Psychologie
der Verwandtschaft auf. Zum einen gehen sie davon aus, dass eine ich-bezogene Ver-
wandtschafts-Terminologie universal ist. Das bedeutet, dass in allen Kulturen Verwandte
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 299
in Bezug auf ein zentrales Individuum gesehen und bezeichnet werden. Meine Eltern sind
nicht die gleichen Menschen wie Ihre Eltern. Meine Brüder sind andere Menschen als
Ihre Brüder. Alle Verwandtschafts-Bezeichnungen gehen also von einem ich-bezogenen
zentralen Individuum aus.
Zum zweiten gibt es in allen Verwandtschafts-Systemen bedeutende Unterschiede zwi-
schen Geschlechtern und Generationen. Die Mütter werden von den Vätern und die Brü-
der von den Schwestern unterschieden. Zu dieser geschlechtlichen Unterscheidung
kommt es wohl, weil mit dem Geschlecht eines verwandten Menschen eine ganze Reihe
reproduktiver Implikationen einhergehen. So haben Mütter etwa eine 100%ige Sicherheit,
was die genetische Übereinstimmung mit ihren Kindern betrifft, Väter dagegen nicht.
Söhne könnten durch viele Partnerschaften große Reproduktionserfolge erzielen, Töchter
dagegen nicht. Das Geschlecht eines Familienmitglieds ist also ausschlaggebend dafür,
welchen adaptiven Problemen es sich stellen muss, deshalb wird es in allen Familiensys-
temen Unterscheidungen je nach Geschlecht geben.
Drittens ist auch die Generation entscheidend. Wie wir in Kapitel 7 sahen, ist die Bezie-
hung zwischen Eltern und Kindern oft asymmetrisch. Mit zunehmendem Alter gewinnen
die Kinder beispielsweise für ihre Eltern immer mehr an Wert, während die Eltern umge-
kehrt für die Kinder immer weniger wertvoll werden. Deshalb können wir davon ausge-
hen, dass in allen Verwandtschafts-Systemen Unterscheidungen zwischen den Generatio-
nen gemacht werden.
Viertens werden Verwandtschafts-Verhältnisse universal nach dem Aspekt der „Nähe“
zueinander betrachtet, wobei diese Nähe eng mit der genetischen Überlappung zusam-
menhängt. Kurz gesagt werden die emotionale (sich jemandem nahe fühlen) und die kul-
turelle Dimension der „Nähe“ mit der genetischen Nähe übereinstimmen. Natürlich müs-
sen sich die Menschen dabei nicht zwangsläufig ihrer Gene, Reproduktion und
genetischen Verwandtheit bewusst sein.
Wie eng Verwandte zusammenarbeiten und wie solidarisch sie sich zeigen, ist fünftens
abhängig von ihrem genetischen Verwandtheits-Grad. So werden sich nahe Verwandte
sehr viel schneller und bereitwilliger im Notfall gegenseitig zu Hilfe eilen als entfernte
Verwandte. Auch wird man Ungleichgewichte bei der Reziprozität – wenn wir einem
anderen zum Beispiel Nahrung oder Geschenke bringen, ohne dafür eine Gegenleistung
erwarten – zwischen nahen Verwandten noch bereitwillig akzeptieren, doch die Akzep-
tanz schwindet mit abnehmendem Verwandtheits-Grad, wobei sie zwischen Nicht-Ver-
wandten, z.B. Freunden, am geringsten ist. Zusammenfassend sollte man also Koopera-
tionen und Konflikte am Verwandtheits-Grad zwischen Familienmitgliedern ablesen
können; wenn es wirklich darauf ankommt, wenden wir uns erwartungsgemäß eher an
nahe als an entfernte Verwandte; auch werden bestehende Interessenskonflikte zwischen
nahen Verwandten eher abgemildert als zwischen entfernten Verwandten.
Eine sechste Implikation der Gesamtfitness-Theorie besteht darin, dass die älteren Mit-
glieder einer weitläufigen Familie jüngere Mitglieder dazu ermutigen oder auch dazu
drängen werden, sich kollateralen Verwandten, (d.h. Verwandten, die keine direkten
Nachkommen sind, z.B. Brüder, Schwestern, Cousins, Cousinen, Nichten und Neffen)
gegenüber altruistischer und kooperativer zu zeigen als es ihre natürliche Neigung wäre.
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300 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Stellen wir uns einen alten Mann vor, der einen Sohn, eine Schwester und den Sohn der
Schwester als Verwandte hat. Aus seiner Perspektive ist der Sohn seiner Schwester (sein
Neffe) mit ihm zu 25% genetisch verwandt und so für ihn ein wichtiger Fitness-Träger.
Aus der Perspektive des Sohnes ist diese Person jedoch nur ein Cousin mit einem Ver-
wandtheits-Grad von 12,5%. Aus seiner Sicht müsste also jedes Opfer, das er für seinen
Cousin bringt, nach der Hamilton-Regel (c < rb) einen achtmal höheren Nutzen für ihn
haben. Also wäre jede altruistische Handlung des Sohnes des alten Mannes zugunsten
seines Cousins für die Fitness des alten Mannes nutzbringender als für die Fitness seines
Sohnes. Insgesamt liegt eine wichtige und interessante Implikation der Gesamtfitness-
Theorie darin, dass ältere Familienmitglieder jüngere Mitglieder dazu bringen möchten,
ihren Cousinen und Cousins und anderen Verwandten mehr zu helfen, als sie dies aus
eigener natürlicher Neigung und im eigenen besten Interesse tun würden. Dies ist ein Bei-
spiel für einen Interessenskonflikt, der als klassischer „Generationenkonflikt“ bezeichnet
werden kann.
Eine siebte Auswirkung der Gesamtfitness-Theorie ist, dass die eigene Position innerhalb
des ausgedehnten Familien-Netzwerks – die eigenen genealogischen Verbindungen – das
eigene Selbstbild wesentlich beeinflusst. Unsere Vorstellungen, „wer wir sind“ leiten sich
auch von verwandtschaftlichen Beziehungen ab, z.B. „Sohn von X“, „Tochter von Y“,
„Mutter von Z“. Dies ist eine direkt überprüfbare Aussage, die tief greifende psychologi-
sche Auswirkungen auf das Selbstbild hat (Salmon & Daly, 1996).
Obwohl es im Kulturenvergleich Unterschiede bei den genauen Verwandtschafts-
Bezeichnungen und deren mutmaßlicher Bedeutung gibt, wissen doch die Menschen
überall auf der Welt genau, wer ihre „wahren“ Verwandten sind. Dies ist die achte Impli-
kation der Gesamtfitness-Theorie. Betrachten wir die Yanomamö-Indianer Venezuelas.
Sie verwenden die Bezeichnung abawa sowohl für Cousins als auch für Brüder. Im Deut-
schen haben wir dagegen zwei unterschiedliche Begriffe, Cousin und Bruder. Verschleiert
diese begriffliche Zusammenfassung die wahren Verwandtschafts-Verhältnisse der
Yanomamö? Der Anthropologe Napoleon Chagnon ging dieser Frage nach, indem er
Yanomamö befragte und ihnen Fotos von Menschen zeigte, die wir im Deutschen als ihre
Cousins und ihre Brüder bezeichnen würden. Obwohl die Yanomamö beim Anblick bei-
der Fotos „abawa“ sagten, deutete doch auf die Frage „Welcher ist dein wahrer abawa?“
jeder unweigerlich auf seinen leiblichen Bruder und nicht auf seinen Cousin (Chagnon,
1981; Chagnon & Bugos, 1979). Außerdem kommt ein „wahrer abawa“ einem Yano-
mamö Dorfbewohner sehr viel eher in einem sozialen Konflikt zu Hilfe. Obwohl sich
Verwandtschafts-Bezeichnungen kurz gesagt in verschiedenen Kulturen unterscheiden
und manchmal sogar vermischt oder zusammengefasst werden, legt die Gesamtfitness-
Theorie doch nahe, dass die Menschen überall auf der Welt genau wissen, wer ihre wah-
ren Verwandten sind.
Eine letzte Implikation der Gesamtfitness-Theorie besteht darin, dass wir Verwandt-
schafts-Bezeichnungen nutzen, um andere Menschen zu überzeugen und zu beeinflussen,
auch dann wenn keine Verwandtschaft besteht. Ein gutes Beispiel ist die Frage des Bett-
lers: „He Bruder, hast Du ein bisschen Kleingeld übrig?“ Warum formuliert er seine
Frage genau so? Eine Hypothese lautet, dass er den Begriff „Bruder“ verwendet, um die
Psychologie der Verwandtschaft in seiner Zielperson zu aktivieren. Da wir einem Bruder
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 301
bereitwilliger helfen als einem Wildfremden, könnte der Begriff „Bruder“ leicht Einstel-
lungen und Verhaltensmuster gegenüber Verwandten aktivieren und so die Chancen stei-
gern, dass wir dem Bettler tatsächlich Geld geben. Ähnliche Verwendung finden
Verwandtschafts-Bezeichnungen in Studentenverbindungen, in denen sich die Mitglieder
oft mit „Bruder“ oder „Schwester“ ansprechen. Auch feministische Slogans, die die
„Schwesternschaft“ betonen, könnten eine ähnliche Intention verfolgen und das Solidari-
tätsgefühl der angesprochenen Frauen stärken wollen, obwohl diese genetisch nicht ver-
wandt sind. Diese sprachliche Bezugnahme auf Verwandtschafts-Beziehungen ist also
eine strategische Implikation der Gesamtfitness-Theorie – eine Hypothese die sich leicht
durch empirische Daten belegen lässt.
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302 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 303
sehr viel häufiger die Rolle des Rufers übernehmen als männliche – etwa 21% häufiger.
Für sich genommen bestätigt dieses Forschungsergebnis sowohl die Hypothese der elter-
lichen Investition als auch die Hypothese der Gesamtfitness, da sowohl die Töchter als
auch andere Verwandte des Rufers von seinem Signal profitieren.
Entscheidend ist das Verhalten der weiblichen Erdhörnchen, die keine Töchter oder ande-
ren Nachkommen, wohl aber andere Verwandte in der Gruppe haben. Stoßen auch sie die
Warnrufe aus, wenn sie einen Feind entdecken? Die Antwort lautet Ja. Auch Weibchen
ohne eigene Kinder schlagen Alarm, solange sie Schwestern, Nichten und Tanten in der
Nähe haben. Zwar ist zusammengefasst die Hypothese der elterlichen Investition höchst-
wahrscheinlich eine Funktion des Warnrufs, doch auch die Hypothese der Gesamtfitness
lässt sich bestätigen, denn die Weibchen stoßen selbst dann ihre Warnrufe aus, wenn sie
keine Nachkommen haben. Sherman fand auch eine weitere Bestätigung für die Gesamt-
fitness-Theorie, denn er entdeckte, dass weibliche Erdhörnchen ihren genetischen Ver-
wandten – Schwestern ebenso wie Töchtern – zu Hilfe eilen, um sie bei Revierkonflikten
mit Eindringlingen zu unterstützen. Nicht Verwandten halfen die Tiere dagegen nicht
(Holmes & Sherman, 1982). Zusammen genommen stützen diese Ergebnisse die These,
dass sich Altruismus aufgrund der Gesamtfitness entwickeln kann.
Erdhörnchen sind eine Spezies – Menschen eine ganz andere. Können wir annehmen,
dass die Gesamtfitness auch beim Menschen zu altruistischen Handlungen führt?
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304 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Verwandten, was eine Hauptthese der Gesamtfitness-Theorie bestätigt. Wir wollen jedoch
darauf hinweisen, dass sich nur etwa 30% aller Hilfeleistungen an Verwandte richteten.
Viele Hilfeleistungen kamen von und richteten sich an enge Freunde – ein Thema, das wir
in Kapitel 9 behandeln werden.
Die zweite These besagte, dass Hilfeleistungen unter Verwandten bevorzugt an Familien-
mitglieder mit hohem reproduktiven Potential gerichtet werden, eine These, die ebenfalls
bestätigt werden konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen ihren Kindern, Nichten und
Neffen halfen, war sehr viel höher als umgekehrt. Hilfeleistungen kommen meistens von
der älteren Generation und richten sich an die jüngere Generation, wodurch vielleicht das
größere zukünftige reproduktive Potential der jungen Empfänger reflektiert wird.
Diese Studienergebnisse sind auf vielerlei Weisen eingeschränkt. Sie beschränken sich
nur auf ein Geschlecht (Frauen), auf eine Stadt (Los Angeles) und auf eine Art der Infor-
mationsfindung (Fragebögen). Wir werden jedoch sehen, dass Verwandtschaft sich auch
sehr stark auf die Gewährung von Hilfeleistungen auswirkt, wenn wir Männer, andere
Populationen und andere Methoden in unserer Überprüfung berücksichtigen.
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 305
Eine Studie untersuchte eine Reihe von Hypothesen zur Bestimmung dieser Entschei-
dungsregeln, die sich aus der Gesamtfitness-Theorie ableiten (Burnstein, Crandall &
Kitayama, 1994). Genauer gesagt stellten die Forscher die Hypothese auf, dass eine Hil-
feleistung für andere eine direkte Funktion der Fähigkeit des Empfängers ist, die Gesamt-
fitness des Helfenden zu steigern. Die Häufigkeit von Hilfeleistungen sollte linear mit
abnehmendem Verwandtheits-Grad zwischen Empfänger und Helfendem ebenfalls
sinken, so argumentierten die Forscher. Also kommt es erwartungsgemäß zwischen
Geschwistern (die genetisch zu durchschnittlich 50% verwandt sind) häufiger zu Hilfe-
leistungen als zwischen einer Person und den Kindern ihrer Geschwister (die durch-
schnittlich nur zu 25% genetisch verwandt sind). Noch seltener sind dementsprechend
Hilfeleistungen zwischen Individuen, die nur zu 12,5% genetisch verwandt sind, also z.B.
zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades. Keine andere Theorie in der Psychologie
trifft solche genauen Vorhersagen über die Bedeutung und den Umfang der Hilfeleistun-
gen oder über spezifische Verwandtheits-Grade als ein grundlegendes Prinzip zur Vertei-
lung von altruistischen Handlungen.
Der genetische Verwandtheits-Grad ist zwar wichtig, er ist aber nicht der einzige theore-
tische Aspekt, der altruistische Entscheidungsregeln maßgeblich beeinflusst. Hilfeleistun-
gen sollten ebenso mit zunehmendem Alter des Empfängers abnehmen, ceteris paribus,
da diese sich weniger stark auf die eigene Fitness auswirken werden wie Hilfeleistungen
für jüngere Verwandte, denn bei letzteren ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie
Nachkommen haben werden, die einige der Gene des Helfenden tragen. Daneben sollten
auch genetisch Verwandte, die einen höheren reproduktiven Wert haben, und diejenigen,
bei denen sich eine Investition am ehesten „auszahlt“, mehr unterstützt werden als andere
mit geringerem reproduktiven Wert und einem geringeren „Ertrag“. Auch hier trifft keine
andere psychologische Theorie derart präzise Vorhersagen.
In einer Reihe von Studien (Burnstein et al., 1994) zur Überprüfung dieser Hypothesen
wurde eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten der Hilfeleistung getroffen: (1)
alles entscheidende Hilfeleistungen, die beeinflussen, ob der Empfänger lebt oder stirbt; und
(2) vergleichsweise unwesentliche Hilfeleistungen, wie etwas Kleingeld für einen Obdachlo-
sen. Laut Vorhersage müssten die Unterschiede im Ausmaß altruistischer Handlungen, die
sich auf unterschiedliche Verwandtschafts-Grade zu den Begünstigten zurückführen lassen,
in der ersten Kategorie stärker, in der zweiten Kategorie dagegen schwächer ausgeprägt sein.
Zur Überprüfung dieser Hypothesen untersuchten Burnstein und seine Kollegen zwei ver-
schiedene Kulturen: Amerika und Japan. Teilnehmer wurden darüber befragt, was sie tun
würden, wenn etwa ein Haus schnell abbrennen würde und sie nur noch genug Zeit hät-
ten, um einen von drei Hausbewohnern zu retten. Die Forscher wiesen ausdrücklich dar-
auf hin, dass nur die gerettete Person auch überleben, die beiden anderen dagegen sterben
würden. Bei den weniger bedeutenden alltäglichen Situationen der Hilfsbereitschaft
mussten die Testpersonen angeben, welcher Person sie helfen würden, indem sie für diese
einige Dinge einkauften. Wie in der oben beschriebenen Situation konnten die Teilneh-
mer auch hier nur einer Person helfen. Die möglichen Hilfe-Empfänger unterschieden
sich durch ihren genetischen Verwandtheits-Grad zum Helfenden.
In diesen hypothetischen Situationen sank die Hilfsbereitschaft stetig mit abnehmendem
genetischen Verwandtheits-Grad ab. Geschwister (zu 50% verwandt) profitierten häufiger
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306 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
von Hilfeleistungen als zu 25% Verwandte und diesen wurde wiederum häufiger geholfen
als Verwandten mit nur 12,5% Verwandtheits-Grad. Diese Ergebnisse waren besonders
deutlich in der Situation, in der es um Leben und Tod ging.
Die Hilfeleistungen in der Situation auf Leben und Tod sanken auch mit zunehmendem
Alter des potentiellen Hilfe-Empfängers stetig ab. Einjährigen wurde häufiger geholfen
als Zehnjährigen, die wiederum eher Hilfe erfuhren als 18-Jährige. Am seltensten wurden
die 75-Jährigen gerettet. Interessant ist, dass dieser Alterseffekt in der Leben-und-Tod-
Situation am stärksten ausgeprägt war, im Szenario der unwesentlicheren Hilfeleistungen
sich aber sogar umkehrte. Bei den alltäglichen Hilfeleistungen wie etwa Besorgungen
erfuhren die 75-Jährigen häufiger Hilfe als die 45-Jährigen (siehe Abbildung 8.2). Diese
Ergebnisse wurden bei Amerikanern und Japanern gleichermaßen ermittelt, was darauf
schließen lässt, dass diese Effekte nicht nur in westlichen Kulturen auftreten.
Zusammenfassend dokumentierten Burnstein und seine Kollegen, dass Hilfeleistungen,
auf die es wirklich ankommt, mit ansteigendem genetischen Verwandtheits-Grad zwi-
schen Empfänger und Helfendem sowie mit ansteigendem reproduktiven Wert des Ver-
wandten, gemessen an seiner Jugend, ebenfalls zunehmen. Das einzige Ergebnis, das
damit nicht übereinstimmt, besteht darin, dass Einjährige häufiger gerettet wurden als
Zehnjährige, obwohl der reproduktive Wert der älteren Kinder höher ist. Um dieses ver-
wirrende Ergebnis zu klären, ist weitere Forschungsarbeit nötig. Insgesamt weisen diese
Forschungsergebnisse darauf hin, dass der Selektionsdruck aufgrund der Gesamtfitness
zur Herausbildung menschlicher psychologischer Mechanismen geführt hat, die jeder von
uns in sich trägt und die darauf ausgerichtet sind, eigene Opfer zum Wohl derer zu erbrin-
gen, die Kopien unserer Gene in sich tragen.
2.6
Alltägliche Situation
Situation auf Leben und Tod
2.4
Tendenz zur Hilfeleistung
2.2
2.0
1.8
1.6
1.4
> 1 Jahr 10 Jahre 18 Jahre 45 Jahre 75 Jahre
Alter der Zielperson
Abbildung 8.2: Tendenz zur Hilfeleistung abhängig vom Alter des Empfängers und der
Wichtigkeit der Hilfesituationen auf Leben und Tod versus alltäglicher Situationen
Quelle: Some neo-Darwinian decision rules for altruism: Weighing cues for inclusive fitness as a function of
the biological importance of the decision by E. Burnstein, C. Crandall, & S. Kitayama, Journal of Personality
and Social Psychology, 67 (1994), 779, Copyright © 1994 by the American Psychological Association.
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 307
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308 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
aus. Ganze 51% der ersten 103 Pioniere starben. Ein wesentlicher Faktor, der darüber ent-
schied, wer am Leben blieb und wer nicht, war einfach die Anzahl der genetisch Ver-
wandten innerhalb der Kolonie. Am geringsten waren die Überlebenschancen für diejeni-
gen mit den wenigsten Verwandten. Diejenigen mit den größten Überlebenschancen
hatten dagegen innerhalb der Kolonie und auch unter den Überlebenden Eltern und
andere Verwandte. In weiteren Situationen auf Leben und Tod konnten ähnliche Ergeb-
nisse dokumentiert werden, z.B. bei der Katastrophe der Donner Party im Jahr 1846, bei
der 40 von 87 Menschen in einem bitterkalten Winter starben (Grayson, 1993). Kommt es
zu evolutionären Engpässen, in denen das Leben jedes Einzelnen auf dem Spiel steht,
erhöhen genetisch Verwandte die Überlebenschancen ganz erheblich.
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 309
Das Durchschnittsvermögen betrug bei Männern $ 54.000, bei Frauen $ 51.200. Interes-
santerweise neigten Frauen dazu, ihr Vermögen einer größeren Anzahl Begünstigter zu
hinterlassen (2,8) als Männer (2,0). Tabelle 8.1 zeigt den durchschnittlichen Vermögens-
anteil, der den unterschiedlichen Begünstigten bzw. ihrer Kategorie hinterlassen wurde.1
1 Rundungsfehler erklären die Diskrepanzen zwischen den angegebenen Einzelwerten und dem
Gesamtwert.
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310 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Die erste Hypothese konnte eindeutig bestätigt werden. Die Verstorbenen hinterließen
nicht Verwandten nur durchschnittlich 7,7% ihres Vermögens, 92,3% dagegen Ehepart-
nern und Familienmitgliedern. Auch die zweite Hypothese wurde bestätigt. Die Verstor-
benen vererbten größere Teile ihres Vermögens an nahe Verwandte als an entferntere Ver-
wandte. Betrachten wir nur den Anteil, der Verwandten hinterlassen wurde (ohne die
Kategorien Ehepartner und keine Familienmitglieder), so wurden 46% des Vermögens an
Verwandte vererbt, die zu 50% verwandt waren, 8% an solche, die zu 25% verwandt
waren und weniger als 1% an Familienmitglieder, die zu 12,5% verwandt waren. Diese
Daten stützen die Hypothese, dass die Gesamtfitness im Laufe der Evolution psychologi-
sche Mechanismen zur Verteilung von Ressourcen hervorgebracht hat, die darauf ausge-
richtet sind, Individuen je nach ihrem Verwandtheits-Grad zu bevorzugen.
Die dritte Hypothese – dass die Verstorbenen ihren Kindern mehr hinterlassen würden als
ihren Geschwistern – wurde ebenfalls bestätigt. Tatsächlich erhielten die Kinder über
viermal so viel (38,6% des Gesamtvermögens) wie die Geschwister (7,9% des Gesamt-
vermögens).
In einer neueren Testamentsanalyse fand Debra Judge (1995) eine erneute Bestätigung für
die Aussage, dass Frauen ihr Vermögen eher einer größeren Anzahl Begünstigter hinter-
lassen. Genauer gesagt hinterließen die meisten Männer ihr gesamtes Vermögen ihren
Ehefrauen oft in dem ausdrücklichen Vertrauen, dass diese die Ressourcen an die gemein-
samen Kinder weitergeben würden. Hier einige beispielhafte Gründe der Männer für ihre
Entscheidung, ihre gesamten Ressourcen ihren Ehefrauen zu hinterlassen:
„… ich weiß, dass ich ihr [Ehefrau] vertrauen kann und dass sie sich um meine
Jungs kümmern wird … ihre Erziehung und einen guten Start ins Leben.“
„… keine Vorsorge für meine Kinder …, denn ich glaube, sie [Ehefrau] wird für
sie angemessene Vorsorge treffen.“
„… [Ehefrau] kann das Vermögen besser verwalten, wenn sie es im Ganzen erbt
und … [ich habe] Vertrauen, dass sie sich um ihre oben erwähnten Kinder so gut
kümmern wird, wie ich es getan hätte.“ (Judge, 1995, S. 306)
Ganz im Gegensatz zu Ehemännern, die meist großes Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer
Ehefrauen ausdrückten, dass diese ihre Ressourcen gut verwalten würden, brachten die
Ehefrauen bei ihrem Tod ihren Männern nicht das gleiche Vertrauen entgegen. Wurde ein
Ehemann überhaupt erwähnt, war daran meist eine Bedingung geknüpft. So schlossen
beispielsweise sechs Ehefrauen ihre Männer ausdrücklich aus ihrem Testament aus, weil
sie von diesen verlassen worden waren, „aus Gründen, die für mich ausreichen [oder mir
am besten bekannt sind]“ oder aufgrund von Aussagen über das „Fehlverhalten“ des Ehe-
manns. In einem Fall hinterließ eine Frau ihr gesamtes Vermögen ihrem Mann „unter der
Bedingung, dass er unverheiratet bleibt“ (Judge, 1995, S. 307).
Zwar ist es schwierig, aus diesen Ergebnissen und Zitaten direkt Rückschlüsse zu ziehen,
doch eine Spekulation ist sicher angebracht. Es ist bekannt, dass ältere Männer sehr viel
häufiger wieder heiraten als ältere Frauen (Buss, 1994b). Deshalb könnte ein Witwer die
Ressourcen ihrer früheren Ehefrau dazu benutzen, um eine neue Partnerin zu gewinnen
und vielleicht sogar nochmals eine Familie zu gründen. Wäre dies der Fall, so würden die
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 311
Ressourcen nicht mehr den Kindern und Verwandten der ersten Frau zugute kommen. Da
umgekehrt die meisten älteren Frauen wahrscheinlich nicht mehr heiraten und mit großer
Sicherheit auch keine weiteren Kinder mehr bekommen werden (viele befinden sich
bereits nach der Menopause), können die Ehemänner eher darauf vertrauen, dass die
Witwe die hinterlassenen Ressourcen den gemeinsamen Kindern zukommen lassen wird.
Ist diese Spekulation zutreffend, so kann man daraus ersehen, dass die Psychologie der
menschlichen Partnerwahl einen weitreichenden Einfluss auf das menschliche Verhalten
ausübt, so dass sogar ein geschlechtsbezogener Unterschied in Bezug auf das „Vertrauen“
in den hinterbliebenen Ehepartner entsteht, der die Frauen dazu bringt, ihren Ehemännern
weniger Ressourcen zu hinterlassen als umgekehrt.
Neuere in Deutschland durchgeführte Studien bestätigen diese Interpretation (Bossong,
2001). Männer und Frauen unterschiedlichen Alters wurden gebeten, sich vorzustellen,
ihr Arzt hätte ihnen mitgeteilt, sie seien unheilbar krank, so dass sie nun ein Testament
schreiben müssten, um ihr Vermögen Ehepartnern und Kindern zu hinterlassen. Wie in
früheren Studien hinterließen auch hier die Frauen ihr Vermögen häufiger direkt ihren
Kindern. Die Männer dagegen hinterließen die Ressourcen eher der hinterbliebenen Ehe-
frau. Dabei war jedoch das Alter der Ehefrau für die Männer ein ausschlaggebender
Punkt. War die Ehefrau älter und war abzusehen, dass sie keine weiteren Kinder bekom-
men würde, hinterließ ihr der Ehemann den Löwenanteil des Vermögens, vermutlich weil
sie es dann seinen Kindern weitergeben würde. War die überlebende Ehefrau dagegen
jung und bestand die Möglichkeit, dass sie wieder heiraten und weitere Kinder mit einem
anderen Mann haben würde, so hinterließ der Ehemann sein Vermögen seltener seiner
Frau, sondern vererbte es meist direkt seinen Kindern.
Insgesamt konnten alle drei Hypothesen empirisch gestützt werden. Genetisch Verwandte
erben mehr als nicht Verwandte. Nahe Verwandte erhalten mehr als entfernte Verwandte.
Direkte Nachkommen, vor allem Kinder, werden häufiger bedacht als gleichgeordnete
Verwandte wie Schwestern oder Brüder.
Wie aber können wir diese Ergebnisse interpretieren angesichts der Tatsache, dass offi-
zielle Testamente eine relativ neue Erfindung sind? Es handelt sich sicher nicht um einen
speziellen „Testaments-Mechanismus“, denn Testamente sind wohl zu neu, um ein wie-
derkehrendes Merkmal innerhalb unserer Umwelt der evolutionären Anpassung zu sein.
Die vernünftigste Erklärung lautet, dass Menschen psychologische Mechanismen zur
Verteilung von Ressourcen entwickelt haben, dass der genetische Verwandtheits-Grad ein
kritischer Faktor bei der Entscheidungsregel für die Verteilung von Ressourcen ist und
dass diese evolutionsbedingten Mechanismen auf relativ neu erworbene Ressourcen wir-
ken, die nämlich, die man als materielle Vermögenswerte, die in einem Testament hinter-
lassen werden können, im Laufe seines Lebens angehäuft hat. Allgemeiner ausgedrückt
stützen diese Ergebnisse empirisch die Theorie, dass die Gesamtfitness einen Selektions-
druck verursacht, der zur Herausbildung psychologischer Mechanismen führt.
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312 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Theoretisch sind Großeltern mit jedem Enkel zu 25% genetisch verwandt. Worauf könn-
ten sich also Theorien über unterschiedliche großelterliche Investitionen stützen? Erin-
nern wir uns an die grundlegenden geschlechtsbezogenen Unterschiede, die uns immer
wieder begegnen: Männer sehen sich dem adaptiven Problem der unsicheren Vaterschaft
gegenüber, während Frauen sich ihrer Mutterschaft zu 100% sicher sind. Dies gilt für
Großeltern ebenso wie für Eltern, wobei es in ihrem Fall noch etwas komplizierter wird.
Hier haben wir es nämlich mit zwei Generationen an Nachkommen zu tun, also gibt es
aus Sicht des Großvaters zwei Möglichkeiten, die eine genetische Verwandtschaft
unmöglich machen könnten (DeKay, 1995). Zum einen kann es sein, dass er nicht der
leibliche Vater seines Sohnes oder seiner Tochter ist. Zum zweiten ist es möglich, dass
sein Sohn nicht der leibliche Vater seines mutmaßlichen Enkelkindes ist. Aufgrund dieser
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 313
doppelten Unsicherheit ist die leibliche Verwandtschaft zwischen einem Großvater und
den Kindern seines Sohnes die genetisch unsicherste von allen anderen großelterlichen
Verwandtschafts-Beziehungen.
Am anderen Ende der Sicherheitsskala stehen die Frauen, deren Töchter selbst Kinder
haben. In diesem Fall ist die Großmutter zu 100% sicher, dass ihre Enkelkinder auch ihre
Gene in sich tragen (bedenken wir immer, dass diese Denkprozesse meist nicht bewusst
ablaufen). Sie ist zweifellos die Mutter ihrer Tochter und die Tochter ist sich ihres geneti-
schen Beitrags an die eigenen Kinder sicher. Die theoretische Vorhersage aufgrund der
Gesamtfitness-Theorie ist also klar: Ceteris paribus sollte aus Sicht des Enkels die Mutter
der Mutter (MuMu) am meisten investieren, während der Vater des Vaters (VaVa) am
wenigsten investieren sollte.
Wie steht es mit den beiden anderen Großeltern, dem Vater der Mutter (VaMu) und der
Mutter des Vaters (MuVa)? In beiden Fällen gibt es eine Möglichkeit, die eine leibliche
Verwandtschaft ausschließt. Ein Mann, dessen Tochter ein Kind hat, könnte nicht ihr leib-
licher Vater sein. Eine Mutter, die einen Sohn hat, könnte mit den Kindern des Sohnes
nicht verwandt sein, wenn er nicht deren leiblicher Vater ist. Die Investition dieser beiden
Großeltern liegt also erwartungsgemäß etwa in der Mitte zwischen der stärksten (MuMu)
und der geringsten (VaVa) Sicherheit einer genetischen Verwandtschaft.
Eine Investition in Enkelkinder kann auf verschiedenste Art stattfinden und sowohl ver-
haltenstechnischer als auch psychologischer Natur sein. Was das Verhalten betrifft, so
könnte man Kontakthäufigkeit, tatsächliche Investition von Ressourcen, Bereitschaft zur
Adoption oder Vererbung von Vermögen untersuchen. Psychologisch könnte man die aus-
drücklichen Gefühle der Nähe, das Ausmaß der Trauer beim Tod eines Enkelkindes sowie
die Bereitschaft, Opfer zu bringen, als Maßstäbe betrachten. Die Hypothese der „unter-
schiedlichen großelterlichen Investition“ sagt voraus, dass verhaltenstechnische und psy-
chologische Indikatoren der Investition sich je nach dem Sicherheitsgrad der großelterli-
chen Verwandtschafts-Beziehung unterscheiden sollten. Am stärksten sollten diese
Indikatoren bei MuMu, am schwächsten bei VaVa und bei VaMu und MuVa irgendwo
dazwischen sein.
Zwei separate Studien aus zwei verschiedenen Kulturen überprüften die Hypothese der
unterschiedlichen großelterlichen Besorgtheit. In einer Studie, die in den USA durchge-
führt wurde, untersuchte der Evolutionspsychologe Todd DeKay (1995) eine Stichprobe
von 120 Studenten. Jeder Student füllte einen Fragebogen zu seinem biologischen Hinter-
grund aus und bewertete dann seine vier Großeltern jeweils nach folgenden Kriterien:
großelterliche physische Ähnlichkeit mit dem Enkel, Ähnlichkeiten in der Persönlichkeit
mit dem Enkel, mit den Großeltern verbrachte Zeit in der Kindheit, von den Großeltern
übernommenes Wissen, Geschenke der Großeltern und emotionale Nähe zu ihnen. Abbil-
dung 8.3 fasst die Ergebnisse dieser Studie zusammen.
Die Balkengruppe ganz links zeigt die Einteilung der Großeltern je nach empfundener
emotionaler Nähe der Testperson. Die Teilnehmer gaben an, zur Mutter ihrer Mutter die
größte emotionale Nähe und zum Vater des Vaters die geringste emotionale Nähe zu ver-
spüren. Ein ähnliches Muster ergab sich für die Variablen der bei den Großeltern ver-
brachten Zeit und der von ihnen erhaltenen Ressourcen (Geschenke). Die einzige Abwei-
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314 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
chung von diesem ansonsten vollständig vorhersehbaren Ergebnis stellte die Kategorie
des Wissens dar, das die Testpersonen von den Großeltern übernommen hatten. Zwar kam
das geringste Wissen erwartungsgemäß vom Vater des Vaters, am meisten Wissen kam
jedoch von der Mutter und vom Vater der Mutter gleichermaßen.
2.0
1.5
1.0
0.5
0
Nähe Zeit Wissen Ressourcen
Ein weiteres interessantes Muster ergab sich für die beiden Großeltern, die in Bezug auf
die verwandtschaftliche Sicherheit in der Mitte liegen. Bei allen vier Variablen wurde in
jedem Fall der Vater der Mutter höher eingestuft als die Mutter des Vaters. Wie erklärt
sich dieses Muster, wo es doch in jedem Fall die Wahrscheinlichkeit der Durchtrennung
der genetischen Verbindung gibt? DeKay (1995) hatte dieses Ergebnis sogar vorherge-
sehen, indem er darauf hinwies, dass Untreue in der jüngeren Generation häufiger vorkam
als in der älteren – eine Aussage, die sich durchaus empirisch belegen lässt (Lauman,
Gagnon, Michael & Michaels, 1994). Also wäre die verwandtschaftliche Unsicherheit für
die Mutter des Vaters größer, da der Vater der jüngeren Generation angehört. Beim Vater
der Mutter ist die Unsicherheit dagegen geringer. Wird diese Hypothese durch weitere
empirische Daten belegt, so kann dies darauf hinweisen, dass Großeltern entweder auf die
vorherrschende Untreuerate reagieren oder auf persönliche Umstände, die Zweifel an
einer genetischen Verbindung zwischen ihnen, ihren Kindern und ihren Enkelkindern auf-
kommen lassen könnten.
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 315
Eine alternative Hypothese wurde von Professor Bill von Hipple (personal communica-
tion, 10. Oktober 2002) vorgebracht. Er argumentierte, dass sich eine weitere mögliche
Erklärung auf die (fehlende) Präsenz andere Möglichkeiten der Investition von Ressour-
cen beziehen könnte. Genauer gesagt sind Großmütter väterlicherseits mit hoher Wahr-
scheinlichkeit gleichzeitig Großmütter mütterlicherseits, da sie sehr wahrscheinlich auch
mindestens eine Tochter haben, die ebenfalls Kinder hat. Dadurch haben sie eine sehr
sichere Alternative für ihre Investitionen – in die Kinder ihrer Tochter nämlich – und
investieren deshalb weniger in die Kinder ihres Sohnes. Großväter mütterlicherseits dage-
gen haben keine bessere Alternative als in die Kinder ihrer Töchter zu investieren und las-
sen diesen daher mehr Ressourcen zukommen als Großmütter väterlicherseits. Großväter
mütterlicherseits haben also in den Kindern ihrer Töchter ein zuverlässiges Investitions-
ziel, während Großmütter väterlicherseits ihre Investitionen in die Kinder ihrer Söhne
zurücknehmen könnten, da sie ja die Kinder ihrer Töchter als sichereres Ziel haben. Der
große Vorteil dieser Hypothese ist, dass man sie leicht überprüfen kann. Großmütter
väterlicherseits sollten demnach ihren Enkeln nur dann weniger Ressourcen zukommen
lassen als Großväter mütterlicherseits, wenn die Großmütter väterlicherseits auch Töchter
haben. Haben sie dagegen nur Söhne, sollten sie etwa vergleichbar viele Ressourcen an
ihre Enkelkinder geben. Das Wesentliche dieser Überlegungen ist, dass eine umfassende
Theorie über großelterliche Investitionen auch die individuellen Unterschiede innerhalb
jeder Großeltern-Kategorie berücksichtigen muss, wobei es dabei besonders auf die „Trä-
ger“ des Erbguts ankommt, die jedem Großvater oder jeder Großmutter zur Investition
zur Verfügung stehen.
Eine weitere Studie über die Hypothese der großelterlichen Investitionen wurde von
Harald Euler und Barbara Weitzel durchgeführt, die eine Stichprobe von 1.857 Teilneh-
mern aus Deutschland untersuchten (Euler & Weitzel, 1996). Aus allen Teilnehmern wur-
den anhand der Vorgabe, dass alle vier Großeltern mindestens bis zum siebten Lebensjahr
der Testperson lebten, 607 Testpersonen ausgewählt. Diese wurden befragt, wie ausge-
prägt sich jeder Großvater (jede Großmutter) um die Testperson gekümmert hatte, wobei
damit sowohl die praktische Fürsorge und Versorgung als auch die emotionale Zuwen-
dung und Sorge gemeint waren (Euler & Weitzel, 1996, S.55). Die Ergebnisse der Studie
sind in Tabelle 8.2 abzulesen.
Die Aussagen der deutschen Testpersonen stimmten genau mit DeKays Studie über ame-
rikanische Enkelkinder überein. Die Großmutter mütterlicherseits – für die es keine ver-
wandtschaftliche Unsicherheit gibt – hatte sich nach dem Empfinden der Testpersonen
am meisten um sie gekümmert. Der Großvater väterlicherseits – für den die genetische
Unsicherheit am größten ist – bot ihnen dagegen die geringste Fürsorge. Wie in der US-
Studie zeigten auch hier die VaMus höhere Investitionen als die MuVas.
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316 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Das zuletzt erwähnte Ergebnis ist besonders interessant, denn es schließt eine mögliche
alternative Erklärung aus, dass nämlich Frauen im Allgemeinen mehr investieren als
Männer, ein geschlechtsbezogener Unterschied, der sich eventuell auch auf Großeltern
und Enkel übertragen lässt. Doch die Ergebnisse beider Studien widersprechen dieser
Alternative. In beiden Fällen investierten die Großväter mütterlicherseits mehr als die
Großmütter väterlicherseits. Die allgemeine Erwartung eines geschlechtsbezogenen
Unterschieds bei der Investition kann also die Tatsache nicht erklären, dass Großväter in
bestimmten Fällen mehr investieren als Großmütter.
Die gleichen Muster großelterlicher Fürsorge wurden auch in Griechenland, Frankreich und
Deutschland bestätigt (Euler, Hoier & Rohde, 2001; Pashos, 2000). Ähnliche Ergebnisse
brachten Auswertungen, wie eng die Beziehung zwischen Enkeln und jedem ihrer Großel-
tern in der Kindheit war. In der Regel war das Verhältnis zur Großmutter mütterlicherseits
am besten und zum Großvater väterlicherseits am schlechtesten (Euler et al., 2001).
Eine zweite mögliche alternative Erklärung liegt darin, dass diese Ergebnisse auf die räum-
liche Distanz zu den Großeltern zurückzuführen sind. Um dies zu untersuchen, bewerteten
Euler und Weitzel die durchschnittliche räumliche Distanz für jede der vier verschiedenen
großelterlichen Beziehungen in Kilometern. Wie die Tabelle 8.2 zeigt, ist die durchschnitt-
liche räumliche Distanz in allen vier Fällen praktisch gleich. Diese Variable kann also die
unterschiedlichen großelterlichen Investitionen ebenfalls nicht erklären.
Dennoch lassen diese Studien noch viele Fragen offen. Wie wirken sich die in jeder
Generation vorherrschenden Untreueraten auf die Psychologie großelterlicher Investi-
tionen aus? Überwachen Großeltern, ob ihr Sohn möglicherweise von seiner Ehefrau um
eine Vaterschaft betrogen wird, und verlagern sie ihre Investitionen entsprechend?
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 317
Suchen Großeltern gezielt nach Ähnlichkeiten zwischen sich und ihren Enkelkindern und
machen sie davon teilweise ihre Investitionsentscheidungen abhängig?
Diese Fragen über die evolutionäre Psychologie großelterlicher Investitionen werden
wahrscheinlich im Laufe der nächsten zehn Jahre beantwortet werden können. Momentan
können wir den Schluss ziehen, dass Ergebnisse aus verschiedenen Kulturkreisen die
Hypothese bestätigen, dass großelterliche Investitionen davon abhängen, wie groß die
Wahrscheinlichkeit einer Unterbrechung der genetischen Verbindung von Generation zu
Generation ist. (Siehe in Kasten 8.1 eine Abhandlung über die Investitionen von Tanten
und Onkeln.)
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318 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 319
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320 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Obwohl sich Männer und Frauen gleich häufig auf ihre Stellung innerhalb der Familie
und der Verwandtschaft bezogen (53% der Frauen und 51% der Männer), unterschieden
sich die Geschlechter erheblich darin, welche Verwandtschafts-Beziehungen sie angaben.
Frauen benutzten weitaus häufiger Rollen innerhalb der Familie, besonders solche, die
eine spezielle Verwandtschafts-Bezeichnung trugen. 44% aller Frauen, die eine solche
benutzten, beschrieben sich selbst als „Tochter“, während nur 12,5% aller Männer sich
als „Sohn“ beschrieben. Interessant war, dass sowohl Männer als auch Frauen auf die
Frage, welchem Familienmitglied sie sich am nächsten fühlten, eher eine Schwester als
einen Bruder nannten.
Wie können wir diese geschlechtsbezogenen Unterschiede beim Erinnerungsvermögen
und in der Beschreibung der eigenen Person interpretieren? Eine mögliche Erklärung
liegt darin, dass Frauen im Laufe der menschlichen Evolutionsgeschichte durch Investi-
tionen in (und erhaltene Investitionen von) Familienmitglieder(n) eher einen reproduk-
tiven Erfolg erzielten, während Männer eher reproduktiv erfolgreich waren durch gestei-
gerten Zugang zu potentiellen Partnerinnen. Ist diese Interpretation richtig, so können wir
erwarten, dass sich ein größerer Teil der kognitiven Aktivität der Frau darauf richtet, an
ihre Familienmitglieder zu denken, sich an sie zu erinnern und mit ihnen Kontakt zu hal-
ten. Gemäß dieser Interpretation soll sich dieser geschlechtsbezogene Unterschied univer-
sal in allen Kulturen zeigen.
Alternativ könnten diese geschlechtsbezogenen Unterschiede sich auch nur speziell auf
eine Kultur beziehen und z.B. die adaptiven Probleme der modernen kanadischen Gesell-
schaft oder vielleicht der westlichen Kultur widerspiegeln. In diesen Kulturen können
Frauen stärker von der Familie abhängig sein, während Männer sich mehr auf reziproke
Beziehungen zu nicht Verwandten, z.B. auf Freundschaften verlassen (Salmon & Daly,
1996). So fand Chagnon (1988) heraus, dass bei den Yanomamö-Indianern in Venezuela
die Männer bei der Benennung von Verwandten besser abschnitten als die Frauen. Die
Rekonstruktion verwandtschaftlicher Beziehungen ist besonders für die Männer des
Yanomamö-Volkes wichtig, denn daraus leiten sich wichtige Regeln ab, die besagen, wen
sie heiraten dürfen.
Zukünftige Studien werden zeigen, ob die geschlechtsbezogenen Unterschiede, die Sal-
mon und Daly (1996) entdeckten, universal oder kulturabhängig sind. Bestehende Stu-
dien legen jedoch nahe, dass beide Geschlechter durchaus eine unterschiedliche Ver-
wandtschafts-Psychologie entwickelt haben könnten, die eventuell die unterschiedlichen
adaptiven Probleme widerspiegelt, denen sich Männer und Frauen in ihrer langen Evolu-
tionsgeschichte, in der die Verwandtschaft mit Sicherheit eine wichtige selektive Kraft
war, stellen mussten.
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 321
ner, die zusammen lebt und für die Zeugung, Erziehung und Versorgung von Kindern ver-
antwortlich ist. Für die Anthropologen dagegen steht eher die Verwandtschaft im Vorder-
grund; für sie sind Familien Gruppen von Eltern, unverheirateten Kindern und manchmal
weitläufigeren Verwandten, mithilfe derer man die Abstammung über mehrere Generatio-
nen verfolgen kann.
Der Evolutionsbiologe Stephen Emlen definiert Familien als „Fälle, in denen die Nach-
kommen auch im Erwachsenenalter noch regelmäßig mit ihren Eltern Kontakt haben“
(Emlen, 1995, S. 8092). Er unterscheidet zwei Arten von Familien: (1) einfache Familien,
bestehend aus einem allein erziehenden Elternteil oder einem Ehepaar, bei dem nur die
Frau Kinder hat (z.B. eine Mutter mit ihren kleineren Kindern), und (2) weitläufige Fami-
lien, d.h. Gruppen, in denen zwei oder mehr Verwandte gleichen Geschlechts Nachkom-
men haben. Wichtig ist, dass die Präsenz eines reproduzierenden Mannes nicht ausschlag-
gebend für die Definition einer Familie ist. Gibt es jedoch einen Vater, so nennt man diese
Familie biparental, denn hier teilen sich Vater und Mutter die Verantwortung der Eltern-
schaft. Gibt es keinen Vater, nennt man die Familie matrilineal, da nur die Frau (oder die
Frau und ihre weiblichen Verwandten) die Verantwortung der Elternschaft übernehmen.
Ein bestimmendes Merkmal jeder Familie ist, dass die Nachkommen auch über das Alter
hinaus, ab dem sie in der Lage sind, selbst Nachkommen zu zeugen, bei ihren Eltern leben.
Die Familie ist ein so alltäglicher Bestandteil des menschlichen Lebens, dass wir ihre
Existenz als selbstverständlich hinnehmen. Erstaunlich ist jedoch, dass nur 3% aller
Vögel und Säugetiere Familienverbände bilden (Emlen, 1995). Warum kommen bei ihnen
Familien so selten vor? Warum verlassen in der Tierwelt die meisten Jungen das Nest,
sobald sie – evolutionsbedingt – biologisch dazu in der Lage sind, und warum bleiben so
wenige Nachkommen auch nach der Geschlechtsreife bei den Eltern? Die am meisten
einleuchtende Begründung lautet, dass es enorme reproduktive Kosten verursachen
würde, länger im elterlichen Nest zu bleiben (oder die Selbstständigkeit hinauszuzögern).
In einfachen Familien pflanzen sich die Nachkommen nicht fort, solange sie zu Hause
leben. In weitläufigen Familien dagegen verhindern die Eltern oft aktiv die Reproduktion
ihrer Nachkommen (z.B. indem sie deren Paarungsversuche stören). In beiden Fällen
opfern die Nachkommen eigene Fortpflanzungsmöglichkeiten, wenn sie den Auszug aus
der Familie hinauszögern.
Familien verursachen den Nachkommen also im Wesentlichen zweierlei Kosten: (1) die
Reproduktion wird verzögert und manchmal sogar direkt unterdrückt (dies ist vielleicht
der am schwersten wiegende Preis) und (2) die Konkurrenz um Ressourcen wie Nahrung
wird verstärkt und nicht etwa entschärft, so dass das Leben für Eltern und Nachkommen
gleichermaßen schwieriger wird. Familien können sich nur dann entwickeln und in selte-
nen Fällen kommt es auch dazu, wenn für die Nachkommen der reproduktive Nutzen des
Verbleibens innerhalb der Familie so groß ist, dass er die hohen Kosten verpasster früher
Reproduktionschancen aufwiegt.
Zwei Theorien wurden aufgestellt, um die Evolution von Familien zu erklären. Zum einen
gibt es das Modell ökologischer Zwänge. Gemäß dieser Theorie entwickeln sich Familien
dann, wenn den geschlechtsreifen Nachkommen nur wenig reproduktive Möglichkeiten
zur Verfügung stehen. Unter diesen Umständen sind sowohl die Kosten eines Verbleibens
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322 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
innerhalb der Familie als auch der Nutzen der Selbstständigkeit gering. Die hohen Kosten
des Verbleibens in der Familie – verzögerte Reproduktion – entfallen, da eine frühe Fort-
pflanzung ohnehin nicht möglich ist, denn es fehlen ja entsprechende reproduktive Mög-
lichkeiten (d.h. Ressourcen-Nischen, die eine Reproduktion ermöglichen).
Zum zweiten gibt es das Modell des familiären Nutzens. Gemäß dieser Theorie bilden
sich Familienverbände aufgrund der vielfältigen Vorteile, die sie für die Nachkommen
bieten. Diese Vorteile sind u.a. (1) höhere Überlebenschancen durch die Hilfe und den
Schutz der Familienmitglieder, (2) höhere Wettbewerbschancen durch den Erwerb besse-
rer Fähigkeiten, durch gesteigerte Größe und Reife aufgrund des Verbleibens in der Fami-
lie, (3) die Chance, durch ein Verbleiben im Familienverbund das Familienrevier sowie
Ressourcen zu erben oder zu teilen und (4) Vorteile für die Gesamtfitness, da man inner-
halb der Familie die Möglichkeit hat, anderen genetisch Verwandten zu helfen und von
ihnen Hilfe zu empfangen.
Emlen (1995) bringt diese beiden Theorien in einer vereinenden Theorie der Ursprünge
von Familien zusammen. Seine Theorie der Familienbildung hat drei Prämissen. Erstens
bilden sich Familien dann, wenn die Anzahl der Nachkommen die Anzahl der freien
Reproduktionsnischen übersteigt. Diese Prämisse leitet sich aus dem Modell der ökologi-
schen Zwänge ab. Zum zweiten bilden sich Familien dann, wenn die Nachkommen auf
freie Reproduktionsnischen solange warten müssen, bis sie eine gute Ausgangsposition
erreicht haben, um darum zu konkurrieren. Zum dritten entstehen Familien dann, wenn
der Nutzen eines Verbleibens in der Familie hoch ist – in Form von höheren Überlebens-
chancen, besseren Möglichkeiten Wettbewerbsfähigkeiten zu entwickeln, besserem
Zugang zu familiären Ressourcen und gesteigertem Nutzen für die Gesamtfitness. Emlens
Familientheorie ist also eine Synthese aus den Modellen der ökologischen Zwänge und
des familiären Nutzens.
Aus Emlens Theorie lassen sich mehrere Vorhersagen ableiten. Dabei geht es zunächst
um die Familiendynamik der Verwandtschaft und die Kooperation.
Vorhersage 1: Familien bilden sich, wenn freie Reproduktionsnischen knapp sind, lösen
sich aber wieder auf, wenn es genügend freie Nischen gibt. Familien sind also instabil;
je nach den gegebenen Umständen bilden sie sich und lösen sich wieder auf. Diese Vor-
hersage wurde bei verschiedenen Vogelarten überprüft (Emlen, 1995). Wenn neue Paa-
rungsmöglichkeiten entstanden, wo es vorher keine gegeben hatte, lösten sich die
geschlechtsreifen Nachkommen aus dem Familienverbund, um diese neuen reproduktiven
Nischen zu besetzen, so dass eine intakte Familie aufgelöst wurde. Diese Vorhersage legt
nahe, dass geschlechtsreife Kinder, die noch nicht in der Lage sind, erfolgreich um eine
Partnerin/einen Partner zu konkurrieren oder noch nicht genug Ressourcen für ein eigenes
Heim haben, in der Regel in der Familie bleiben werden.
Vorhersage 2: Familien, die viele Ressourcen besitzen, sind stabiler und langlebiger als
Familien mit wenigen Ressourcen. Bei den Menschen könnte man davon ausgehen, dass
wohlhabende Familien stabiler sind als arme, besonders wenn die Kinder die Chance
haben, die elterlichen Ressourcen oder Liegenschaften zu erben. Erwartungsgemäß sind
Kinder aus wohlhabenden Familien besonders wählerisch, wenn es darum geht, wann und
unter welchen Bedingungen sie ihr Elternhaus verlassen. Wenn sie zuhause bleiben, könn-
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 323
ten sie irgendwann das elterliche Vermögen erben, deshalb sollten reiche Familien auf
Dauer stabiler sein als arme Familien. Bei vielen Säugetier- und Vogelarten, die Familien
bilden, erben die Nachkommen in der Tat manchmal die Reproduktionsposition der Eltern.
Davis und Daly (1997) konnten diese Vorhersage auch empirisch belegen, denn sie fanden
heraus, dass Familien mit hohem Einkommen in der Regel tatsächlich häufiger Kontakt zu
ihrer weitläufigen Verwandtschaft halten als Familien mit geringem Einkommen.
Vorhersage 3: Familien werden sich bei der Aufzucht von Nachkommen eher gegenseitig
helfen als andere Gruppen, deren Mitglieder nicht miteinander verwandt sind. So könnte
z.B. eine Schwester oder ein Bruder bei der Versorgung eines jüngeren Geschwisters hel-
fen und so durch sein Verbleiben in der Familie einen wichtigen Vorteil für die Gesamtfit-
ness liefern. Diese Vorhersage lässt sich bei den Menschen leicht überprüfen.
Vorhersage 4: In Familien kommt es seltener zu sexueller Aggression als in Gruppen,
deren Mitglieder nicht verwandt sind, da Verwandte evolutionsbedingt die mit Inzucht
verbundenen Risiken vermeiden. Geschwister fühlen sich selten sexuell zueinander hinge-
zogen, ebenso kommt es zwischen Vater uns Sohn nur selten zu einer Konkurrenzsitua-
tion um den sexuellen Zugang zur Mutter. Aufgrund des geringeren sexuellen Wettbe-
werbs innerhalb der Familie kann jedes einzelne Familienmitglied die Mühen der
Partnerüberwachung umgehen. Obwohl Familienmitglieder häufig die Möglichkeit zu
sexuellen Kontakten haben, sind inzestuöse Paarungen bei Vögeln und Säugetieren
extrem selten. Bei 18 der 19 untersuchten Vogelarten waren fast alle Paarungen exogam –
d.h. es paarten sich nur Vögel, die nicht der gleichen Familie angehörten (Emlen, 1995).
Auch bei Menschen kommt es nur selten zu inzestuösen Beziehungen zwischen genetisch
Verwandten, zwischen Stiefvätern und Stieftöchtern jedoch sind solche Beziehungen sehr
viel häufiger (Thornhill, 1992).
Weitere Vorhersagen beziehen sich auf Veränderungen der Familiendynamik aufgrund
des Verlustes oder der Loslösung eines reproduktiven Familienmitglieds.
Vorhersage 5: Verliert die Familie durch Tod oder Loslösung ein reproduzierendes Mitglied,
so entsteht unter den verbleibenden Familienmitgliedern ein Konflikt, wer die entstandene
Lücke ausfüllen soll. Eine zentrale Prämisse von Emlens Theorie lautet, dass die Familie
eine evolutionsbedingte Lösung des adaptiven Problems knapper Fortpflanzungsmöglich-
keiten ist. Deshalb hinterlässt der Verlust eines Elternteils eine neu zu besetzende Lücke und
schafft für die Nachkommen eine ideale Gelegenheit, die elterlichen Ressourcen zu erben.
Je qualitativ hochwertiger diese Lücke ist, desto größer sollte auch der Konflikt und der
Wettbewerb darum sein. Bei den Rotschopfspechten übernahm beispielsweise in allen 23
Fällen, in denen ein Vater starb, einer der Söhne die reproduktive Rolle und zwang die Mut-
ter so, die Familie zu verlassen. Bei Menschen könnte es zu einer ähnlichen Situation kom-
men, wenn ein Vater nach seinem Tod eine große Erbschaft hinterlässt. Konflikte über die
Erbansprüche von Kindern und anderen nicht Verwandten (z.B. einer Geliebten, der der
Vater einen Teil seiner Ressourcen hinterlassen hat) müssen in diesem Fall oft gerichtlich
geklärt werden, wobei derartige Ansprüche häufig angefochten werden (Smith, Kish &
Crawford, 1987).
Vorhersage 6: Der Verlust eines reproduktiven Familienmitglieds und der Ersatz durch ein
reproduktives Mitglied, das mit den übrigen Familienmitgliedern genetisch nicht verwandt
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324 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
ist, führt zu erhöhter sexueller Aggression. Ist eine Mutter geschieden, verwitwet oder
wurde sie von ihrem Ehemann verlassen und verbindet sie sich mit einem neuen nicht ver-
wandten Partner, so wird die strikte Ablehnung von Inzest abgemildert. So könnten sich
Stiefväter sexuell zu ihren Stieftöchtern hingezogen fühlen, wodurch zwischen Müttern
und Töchtern eine Art intrasexuelle Rivalität entstehen könnte. Bei einer Reihe von Vogel-
arten kommt es zwischen Stiefvätern und Söhnen recht häufig zu Aggressionen, da diese
nicht verwandten Männchen nun sexuelle Konkurrenten sind (Emlen, 1995). Bei Men-
schen könnte die Vorhersage von sexuellen Konflikten und Aggressionen leicht durch
einen Vergleich von Stieffamilien und biologisch intakten Familien überprüft werden.
Emlens Theorie liefert zusammengefasst mehrere überprüfbare Vorhersagen. Viele dieser
Vorhersagen konnten durch Studien von Vogel-, Säugetier- und Primatenarten untermauert
werden, andere dagegen müssen noch untersucht werden. Besonders faszinierend ist die
Anwendbarkeit auf menschliche Familien. Emlens Theorie zufolge können wir nicht davon
ausgehen, dass es innerhalb der Familie immer harmonisch und friedlich zugeht. Aufgrund
der unterschiedlichen „Interessen“ der einzelnen Familienmitglieder kommt es zwischen
ihnen vielmehr auch zu Konflikten, zu Konkurrenz und sogar zu offener Aggression.
Kritik an Emlens Familientheorie. Die Evolutionspsychologen Jennifer Davis und Martin
Daly kritisierten Emlens Theorie und boten einige nützliche Modifikationen sowie empi-
rische Tests zu einigen seiner Vorhersagen an (Davis & Daly, 1997). Auf allgemeiner
Ebene stellen Davis und Daly drei Überlegungen an, die die Untersuchung menschlicher
Familien in einen einzigartigen Kontext bringen: (1) Familien könnten zusammenbleiben,
um mit anderen Gruppen konkurrieren zu können, da eine große auf Verwandtschaft
basierende Koalition innerhalb eines solchen Gruppen-Wettbewerbs vorteilhaft sein
könnte; (2) Menschen gehen mit nicht Verwandten umfangreiche soziale Beziehungen
basierend auf einem reziproken Altruismus ein; und (3) für nicht reproduktive Helfer, wie
etwa Frauen, die sich nach ihrer Menopause befinden, ist der Anreiz gering, ihre Nach-
kommen zum Auszug und zur Selbstständigkeit zu bewegen, was zur Stabilisierung der
Familie beitragen könnte.
Diese drei Überlegungen könnten sich auf die Logik von Emlens Vorhersagen auswirken.
Betrachten wir Vorhersage 1, die besagt, dass sich Familien auflösen werden, wenn es an
anderer Stelle akzeptable neue Paarungsmöglichkeiten gibt. Hat eine Frau die Menopause
bereits hinter sich, ist also nicht mehr in der Lage, weitere Nachkommen zu haben, wäre es
für sie ganz klar ein Nachteil, ihre Familie zu verlassen und ihre Helferposition aufzuge-
ben, für den Fall, dass sich eine reproduktive Nische ergeben würde. Da sie die Menopause
hinter sich hat, ist sie selbst nicht in der Lage, eine neue reproduktive Nische zu besetzen.
Es wäre also für sie vorteilhafter, in ihrer Familie zu bleiben und weiterhin ihre Hilfe anzu-
bieten. Die relativ früh einsetzende Menopause bei der Frau könnte also ein einzigartiger
Faktor sein, der die Evolution menschlicher Familien entscheidend beeinflusst hat.
Eine weitere Modifikation bezieht sich auf die Tatsache, dass Menschen ausgeprägte
soziale Kontakte pflegen. Bedenken wir dazu Vorhersage 3: Familien werden sich bei der
Aufzucht ihrer Nachkommen eher gegenseitig helfen als vergleichbare Gruppen, deren
Mitglieder nicht miteinander verwandt sind. Frauen gehen oft Freundschaften mit nicht
Verwandten ein, in denen sie sich bei der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder gegen-
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 325
seitig unterstützen (Davis & Daly, 1997). Vorhersage 3 könnte also so abgewandelt wer-
den, dass nicht reziproke Hilfe bei der Aufzucht der Nachkommen bei Familien häufiger
vorkommt als bei vergleichbaren Gruppen, deren Mitglieder nicht miteinander verwandt
sind. Zusammenfassend könnten also einige von Emlens Vorhersagen modifiziert werden,
wenn man verschiedene Faktoren mit einbezieht, die nur für den Menschen gelten, z. B.
seine umfangreichen Muster reziproker Allianzen (siehe Kapitel 9) sowie die verhältnis-
mäßig lange Zeit, die eine Frau nach ihrer Menopause noch lebt.
Aus einer spezies-übergreifenden, vergleichenden Analyse geht klar hervor, dass Fami-
lien extrem selten sind und sich nur unter bestimmten Bedingungen entwickeln, beson-
ders dann, wenn es zu wenig reproduktive Nischen gibt. Angesichts des gegenwärtigen
gesellschaftlichen Interesses an „Familienwerten“ hat die evolutionäre Psychologie eini-
ges anzubieten, denn sie kann erklären, unter welchen Bedingungen Familien stabil blei-
ben oder auseinanderbrechen. Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden Wissenschaftler
zweifellos diese Vorhersagen sowie die von Davis und Daly angeregten Modifikationen
überprüfen und dabei eine Vielfalt evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen
entdecken, bei denen es sowohl um Kooperation als auch um Konflikte gehen wird, und
die auf die Lösung der verschiedenen adaptiven Probleme ausgelegt sind, die durch Fami-
lien entstehen (siehe Geary & Flinn, 2001).
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
326 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
bewerbs und wir haben allen Grund zu glauben, dass sich ähnliche Phänomene auch in
menschlichen Familien abspielen. Tatsächlich finden sich schon sehr früh in der mensch-
lichen Geschichte Zeugnisse von Geschwisterkonflikten, wie dieses Bibelzitat aus dem
Buch Genesis zeigt: „Israel liebte Josef unter allen seinen Söhnen am meisten, weil er
ihm noch im hohen Alter geboren worden war. Er ließ ihm einen Ärmelrock machen. Als
seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte, als alle seine Brüder, hassten sie ihn
und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden.“
Der zweite häufige Konflikt ist der Eltern-Kind-Konflikt, den wir in Kapitel 7 behandel-
ten. Aus Sicht der Eltern würde eine optimale Verteilung der Ressourcen beispielsweise
vorsehen, jedem Kind die gleiche Menge zukommen zu lassen, obwohl andere Faktoren
wie Bedürftigkeit und die Fähigkeit, die Ressourcen zu nutzen, mit Sicherheit Abwei-
chungen von dieser gleichmäßigen Verteilung verursachten. Aus Sicht des Kindes bedeu-
tet eine optimale Verteilung in der Regel, auf Kosten von Geschwistern und Eltern mehr
für sich selbst zu bekommen. In Amerika gibt es einen alten Witz, der dies verdeutlicht.
Ein Sohn geht aufs College und schreibt nach drei Monaten einen Brief nach Hause, in
dem er um Geld bittet:
„Dear Dad: No mon, no fun, your son.“
(„Lieber Vater: kein Geld, kein Spaß, Dein Sohn.“)
Sein Vater schreibt ihm zurück:
„Dear Son: Too bad, so sad, your Dad.“
(„Lieber Sohn: Zu dumm, bin untröstlich, Dein Vater.“)
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 327
Man kann davon ausgehen, dass die Selektion bei Kindern Adaptationen gefördert hat,
mithilfe derer sie ihre Eltern manipulieren und sich größere Ressourcenanteile sichern
konnten. Ebenso gibt es bei den Eltern Gegenadaptationen, die sie dazu bringen, nicht nur
den Wünschen eines einzelnen Kindes nachzugeben.
Der dritte grundlegende Familienkonflikt, der in Abbildung 8.4 gezeigt wird, ist der Kon-
flikt zwischen Mutter und Vater über die Aufteilung von Ressourcen, der so genannte
elterliche Konflikt. Bei diesem Konflikt geht es hauptsächlich darum, wie viel Investitio-
nen jedes Elternteil den Nachkommen zukommen lässt. Beispielsweise kann es manch-
mal von Vorteil sein, wenn ein Elternteil seine Ressourcen für andere Reproduktionsmög-
lichkeiten aufspart. Jedes Elternteil könnte einige Ressourcen der eigenen Verwandtschaft
zugute kommen lassen und profitierte also davon, wenn sein Partner selbst mehr in die
eigenen Kinder investierte. Außerdem könnte jedes Elternteil seine Ressourcen dazu nut-
zen, außereheliche Partnerschaften und in der Folge auch Kinder zu unterstützen, die mit
dem ursprünglichen Partner genetisch nicht verwandt sind. Auch das führt zu Konflikten
zwischen Eltern. Es wäre verwunderlich, wenn der Mensch keine Adaptationen entwi-
ckelt hätte, die genau auf die Lösung solcher Konflikte ausgerichtet sind. Zum Beispiel
wird empfindlich registriert, ob der Partner Ressourcen abzweigt oder versucht, psycho-
logische Manipulationen wie etwa Schuldgefühle einzusetzen, um dem Partner zusätzli-
che Ressourcen zu entlocken.
Oft wachsen wir in dem Glauben auf, dass Familien harmonische Einheiten sind, in denen
man durch gemeinsames Teilen den größten Nutzen für alle Beteiligten erreicht. Wenn
wir folglich doch Uneinigkeit, Streitereien und Konfrontationen mit Eltern, Geschwistern
oder Kindern erleben, haben wir das Gefühl, dass etwas Wesentliches aus den Fugen
geraten ist. Es gibt ganze Berufsgruppen wie etwa bestimmte Psychologen, die sich dar-
auf spezialisiert haben, den psychologischen Aufruhr aufzuarbeiten, der durch familiäre
Konflikte entsteht. Aus evolutionärer Sicht ergeben sich drei Hauptquellen von Konflik-
ten, die immer wieder auftauchen – Konflikte zwischen Geschwistern, zwischen Eltern
und Kindern und zwischen Müttern und Vätern. Dies ist vielleicht keine große Hilfe für
die Tochter, die mit ihrer Mutter nicht zurechtkommt, für Eltern, die sich um die Vertei-
lung der Ressourcen streiten oder für den Bruder, der seine Schwester nicht ausstehen
kann. Wenn wir aber die evolutionäre Logik von Familienkonflikten verstehen, erlangen
wir eine ganz andere Perspektive und erkennen, dass wir mit unseren Erfahrungen nicht
allein sind. Wir können davon ausgehen, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre viel
empirische Arbeit geleistet wird, um einige dieser faszinierenden Vorhersagen zu unter-
suchen, die sich aus den evolutionären Modellen der Familienkonflikte ergeben.
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328 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
Zusammenfassung
Wir begannen dieses Kapitel mit einer genaueren Betrachtung von Hamiltons (1964)
Theorie der Gesamtfitness, die er durch die Hamilton-Regel c < rb mathematisch for-
muliert hat. Damit sich Altruismus entwickeln kann, müssen beispielsweise die Kos-
ten des Handelnden geringer sein als die Vorteile, die er gewährt, multipliziert mit
dem genetischen Verwandtheits-Grad von Handelndem und Empfänger. Diese Theo-
rie konnte endlich die Frage beantworten, warum sich Altruismus entwickelt hat.
Außerdem wurde Darwins Definition der klassischen Fitness (persönlicher reproduk-
tiver Erfolg) zur inklusiven Fitness erweitert (persönlicher reproduktiver Erfolg plus
die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Fitness der genetisch Verwandten,
gewichtet nach dem genetischen Verwandtheits-Grad).
Als nächstes betrachteten wir die tief greifenden theoretischen Implikationen der
Gesamtfitness-Theorie für den Menschen. Diese Implikationen sind u.a.: (1) es gibt
eine spezielle evolutionsbedingte Verwandtschafts-Psychologie, die von Mechanis-
men geprägt ist, welche auf die Lösung verschiedener adaptiver Probleme ausgerich-
tet sind, die zwischen Geschwistern, Halbgeschwistern, Großeltern, Enkeln, Tanten
und Onkeln auftreten. (2) Geschlecht und Generation sind wichtige Kriterien zur
Abgrenzung von Verwandten, denn daraus leiten sich entscheidende persönliche
Eigenschaften der eigenen Fitness-Trägerschaft ab (so können männliche Verwandte
länger reproduktiv sein als weibliche; jüngere Verwandte haben einen höheren repro-
duktiven Wert als ältere). (3) Verwandtschaftliche Beziehungen haben eine Band-
breite von sehr eng bis distanziert, wobei sich die Bindung in erster Linie nach dem
Verwandtheits-Grad richtet. (4) Verwandtschaftliche Kooperation und Solidarität ist
abhängig vom genetischen Verwandtheits-Grad. (5) Ältere Familienmitglieder wer-
den jüngere Mitglieder dazu ermutigen, sich genetisch Verwandten, z.B. jüngeren
Geschwistern gegenüber, altruistischer zu verhalten, als diese dies aufgrund ihrer
natürlichen Veranlagung tun würden. (6) Die eigene Position innerhalb der Familie
bestimmt die eigene Identität. (7) Menschen nutzen Verwandtschafts-Bezeichnungen
aus, um andere in nicht verwandtschaftsbezogenen Situationen zu manipulieren (z.B.
„Bruder, hast Du etwas Kleingeld übrig?“).
Eine Vielzahl empirischer Studien hat die Bedeutung der Verwandtschaft in Bezug
auf helfendes Verhalten bestätigt. Eine Studie belegte, dass die Warnrufe der Erd-
hörnchen – eine möglicherweise sehr gefährliche Aktion für den Rufer, denn sie
erregt die Aufmerksamkeit des Feindes – dann ausgestoßen werden, wenn sich nahe
Verwandte in der Nähe befinden. Eine Studie an 300 amerikanischen Frauen zeigte,
dass die Hilfsbereitschaft vom genetischen Verwandtheits-Grad zum Hilfe-Empfän-
ger abhängig war. Eine weitere Studie belegte, dass auch in hypothetischen Szena-
rien, in denen es um Leben und Tod ging – wie etwa sein eigenes Leben zu riskieren,
um einen anderen Menschen aus einem brennenden Gebäude zu retten –, die poten-
tielle Hilfeleistung stark vom genetischen Verwandtheits-Grad zwischen Helfer und
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 329
Empfänger abhing. Untersucht man Erbschaften, so ergibt sich, dass die meisten
Menschen ihren genetisch Verwandten (und ihren Ehepartnern, die die Ressourcen
dann wahrscheinlich an die Nachkommen weitergeben werden) mehr vererben als
nicht Verwandten. Andere Studien dokumentieren, dass das Ausmaß an Trauer und
Schmerz, das Individuen durchleben, in direktem Zusammenhang mit dem geneti-
schen Verwandtheits-Grad steht (siehe Segal, Wilson, Bouchard & Gitlini, 1995, für
empirische Belege; und Archer, 1998, für einen ausführlichen Überblick über die
Psychologie der Trauer). All diese empirischen Studien heben die bedeutende Rolle
der Verwandtschaft bei der Vergabe von Hilfeleistungen hervor.
Die großelterlichen Investitionen eignen sich besonders gut, um nicht-intuitive Vor-
hersagen, die sich aus der Gesamtfitness-Theorie ableiten lassen, zu überprüfen. Hier
kommt insbesondere die Unsicherheit der Vaterschaft ins Spiel. Für einen Großvater
ist das Risiko, dass eine genetische Vaterschaft nicht vorliegt, doppelt hoch. Zunächst
könnte er nicht der Vater seiner Kinder sein und weiter könnte auch sein Sohn nicht
der leibliche Vater seiner Kinder sein. Großmütter dagegen sind zu 100% sicher, dass
sie mit den Kindern ihrer Töchter genetisch verwandt sind. Basierend auf dieser
Logik können wir davon ausgehen, dass die Mütter der Mütter durchschnittlich am
stärksten in ihre Enkelkinder investieren und die Väter der Väter durchschnittlich am
wenigsten. Die anderen beiden Großeltern – die Mütter der Väter und die Väter der
Mütter – werden sich mit ihren Investitionen meist zwischen den anderen beiden
Extremen bewegen, da es in beiden Fällen einmal die Möglichkeit gibt, dass die gene-
tische Verwandtschaft nicht besteht.
Empirische Belege aus Deutschland, den USA, Griechenland und Frankreich stützen
diese Vorhersagen. Auch andere Studien verschiedener Forscher bestätigen, dass sich
Enkelkinder ihrer Großmutter mütterlicherseits am nächsten fühlten und zu ihrem
Großvater väterlicherseits am wenigsten Nähe verspürten. Auch berichteten Enkel-
kinder, dass sie die meisten Ressourcen von ihrer Großmutter mütterlicherseits, die
wenigsten aber von ihrem Großvater väterlicherseits erhielten. Obwohl die anderen
beiden Großeltern auch hier im Mittelfeld lagen, ist es interessant festzustellen, dass
in beiden Fällen der Großvater mütterlicherseits mehr investierte als die Großmutter
väterlicherseits. Dieses Ergebnis schließt die Vorstellung aus, dass Frauen generell
mehr in ihre Verwandten investieren als Männer.
Eine ähnliche Logik lässt sich auch auf die Investitionen von Onkeln und Tanten
anwenden. Die Geschwister einer Schwester sind sich sicher, dass diese Schwester
tatsächlich die Mutter ihres Kindes ist, so dass sie sicher sein können, dass auch sie
mit ihren Nichten und Neffen genetisch verwandt sind. Die Geschwister eines Bru-
ders dagegen sind sich nicht sicher, denn ihr Bruder kann auch von seiner Partnerin
um die Vaterschaft betrogen worden sein. Dies führt zur Vorhersage unterschiedlicher
Investitionen durch Onkel und Tanten, je nachdem ob es sich um die Kinder von
deren Bruder oder deren Schwester handelt. So kann man davon ausgehen, dass Tan-
ten mütterlicherseits mehr investieren als Tanten väterlicherseits.
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
330 Teil 4 Herausforderungen der Elternschaft und Verwandtschaft
In einer Studie über die Investitionen von Onkeln und Tanten konnten zwei wesent-
liche Prädiktoren für Investitionen festgestellt werden. Erstens investierten Tanten in
der Regel mehr als Onkel, und zwar unabhängig davon, ob ihre Nichten und Neffen
die Kinder eines Bruders oder einer Schwester waren – dies ist ein geschlechtsbezo-
gener Effekt. Zum zweiten investierten die Tanten und Onkel mütterlicherseits mehr
als diejenigen väterlicherseits, was die Hauptvorhersage bestätigt.
Mehreren Studien zufolge sind nordamerikanische Frauen meist mehr mit ihren Ver-
wandten verbunden und an ihnen interessiert als dies bei Männern der Fall ist. Frauen
erinnern sich eher an die Namen ihrer Verwandten, sie definieren sich selbst eher über
ihre Position innerhalb eines Familienverbandes (z.B. „ich bin die Tochter von X“)
und sie halten auch eher Kontakt zu ihrer weitläufigen Verwandtschaft.
Der letzte Abschnitt dieses Kapitels befasst sich mit einer breit angelegten Sicht der
Familienevolution. Angesichts der Tatsache, dass es in der Tierwelt nur sehr selten
zur Bildung von Familien kommt – nur etwa drei Prozent aller Säugetiere leben in
Familien – verlangt schon die bloße Existenz der Familie nach einer Erklärung. Nach
Stephen Emlen bilden sich Familien, bei denen geschlechtsreife Nachkommen wei-
terhin zu Hause wohnen, unter zwei Bedingungen: (1) wenn es anderswo zu wenig
reproduktive Nischen gibt oder (2) wenn das Zuhausebleiben bestimmte Vorteile bie-
tet, z.B. bessere Überlebenschancen, ausgeprägtere Wettbewerbsfähigkeiten und Hil-
feleistung für (und von) genetisch Verwandte(n).
Diese Theorie lässt eine Vielzahl von Vorhersagen zu. So sagt sie voraus, dass die
Familienstabilität höher sein wird, wenn die Familie wohlhabend ist und so auch
mehr Möglichkeiten gegeben sind, von ihr zu profitieren und eventuell sogar das
Familienvermögen zu erben. Sie sagt voraus, dass der plötzliche Tod eines reprodu-
zierenden Familienmitglieds einen Konflikt über dessen Nachfolge auslösen wird
(z.B. über den Zugang zu den elterlichen Ressourcen). Sie sagt auch voraus, dass
Stiefväter und -mütter weniger in ihre Familien investieren werden als leibliche
Eltern und dass Stieffamilien wesentlich instabiler und konfliktanfälliger sind als
genetisch intakte Familien. Viele dieser Voraussagen wurden bei Tieren getestet, für
die meisten steht eine Überprüfung beim menschlichen Verhalten jedoch noch aus. Es
gibt mehrere Kritikpunkte an Emlens Theorie, darunter: (1) Sie berücksichtigt nicht,
dass Frauen nach der Menopause weiterhin ihren Familien helfen, nicht aber neue
reproduktive Nischen besetzen können. (2) Viele Menschen pflegen intensive rezi-
proke Beziehungen zu nicht Verwandten. Diese Faktoren können zur weiteren Bear-
beitung von Emlens Theorie herangezogen werden, so dass diese auch auf den Son-
derfall Mensch angewandt werden kann.
Obwohl frühe Evolutionsmodelle die harmonische Kooperation zwischen den Mit-
gliedern einer Familie hervorhoben, weisen neuere Modelle dennoch auf drei wesent-
liche Konfliktarten hin: Geschwisterkonflikt, Eltern-Kind-Konflikt und Konflikt zwi-
schen Mutter und Vater. Auch wenn die Gesamtfitness-Theorie sagt, dass der
genetische Verwandtheits-Grad ein wichtiger Faktor für Altruismus ist, haben Familien-
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Kapitel 8 Probleme im Kontext von Verwandtschaft 331
mitglieder so gut wie nie identische genetische Interessen. Folglich kommt es häufig
zu familiären Konflikten. In den nächsten zehn Jahren sollten weitere evolutionspsy-
chologische Studien Adaptationen aufzeigen, die die Menschen zur Lösung all dieser
familiären Konflikte entwickelten.
Die genetische Verwandtschaft ist ein wichtiger bestimmender Faktor von Investitio-
nen. Je näher die Verwandtschaft, desto größer ist die Investition. Ist die genetische
Verwandtschaft sicher, ist die Investition am höchsten, ceteris paribus. Ist die geneti-
sche Verwandtschaft aufgrund unsicherer Vaterschaft oder eines Stiefvaters (einer
Stiefmutter) in Frage gestellt, geht auch die Investition zurück. Die Theorie der
Gesamtfitness wirkt sich in entscheidender Weise auf das Verständnis der Verwandt-
schafts-Psychologie und der Familie aus, die die Wissenschaft erst ganz allmählich
entdeckt.
Weiterführende Literatur
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Teil 5
Probleme sozialer
Gemeinschaften
Das Leben in sozialen Gemeinschaften stellt einen entscheidenden Teil der menschlichen
Adaptationen dar und die evolutionäre Psychologie legt nahe, dass der menschliche Geist
(mind) viele spezielle Mechanismen dafür entwickelt hat. Dieser Teil besteht aus vier
Kapiteln, von denen jedes einer anderen Untergruppe gewidmet ist.
Kapitel 9 konzentriert sich auf die Entwicklung kooperativer Allianzen. Es führt in die
Theorie des reziproken Altruismus ein, die eine theoretische Lösung zur Entwicklung von
Kooperationen anbietet. Als Nächstes werden Kooperationen in der Natur angeführt wie
das Teilen von Nahrung bei Vampirfledermäusen und reziproke Allianzen unter Schim-
pansen und anderen Primaten. Der Rest von Kapitel 9 geht auf Forschungen über die Ent-
wicklung kooperativer Allianzen beim Menschen ein und endet mit einer Perspektive
über Kosten und Nutzen von Freundschaften, zu der die Psychologie „wahrer Freunde“
gehört, die stark an unserem Wohlergehen interessiert sind.
Kapitel 10 behandelt Aggression und Krieg und kommt zu der beunruhigenden Schluss-
folgerung, dass wir viele adaptive Vorteile angesammelt haben, indem wir anderen
Gewalt zugefügt haben. Das Kapitel geht auf die evolutionäre Logik ein, dass Männer
aggressiver sind als Frauen und liefert empirische Belege für bestimmte Aggressionsmus-
ter, die vom Geschlecht des Täters und vom Geschlecht des Opfers abhängen. Das Kapi-
tel endet mit der Untersuchung der Entwicklung von Krieg und der kontroversen Frage,
ob Menschen über spezifische Adaptationen verfügen, um andere Menschen zu töten.
Kapitel 11 konzentriert sich auf Konflikte zwischen Mann und Frau. Es beginnt mit der
Einführung der Theorie der interferierenden Strategien, die einen allumfassenden Rahmen
zum Verständnis der Konflikte zwischen den Geschlechtern bietet. Der größte Teil des Ka-
pitels fasst empirische Belege für bestimmte Formen dieser Konflikte wie sexuellen Zu-
gang, Eifersucht, Abtrünnigkeit in Beziehungen und Zugang zu Ressourcen zusammen.
Kapitel 12 handelt von einem universellen Merkmal menschlicher Gemeinschaften: der
Existenz von Status und Dominanz-Hierarchien. Es liefert eine evolutionäre Erklärung
für die Entstehung von Hierarchien und konzentriert sich auf spezifische Aspekte von
Dominanz und Status bei Tieren und Menschen. Die Belege beinhalten eine Diskussion
der Geschlechtsunterschiede im Streben nach Status und Verhaltensmanifestationen von
Dominanz und enden mit einer Diskussion über die Strategien der Unterwürfigkeit.
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
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Kapitel
9 Kooperative Allianzen
Willst du einen Freund finden, so erprobe zuerst seine Treue, und vertrau ihm
nicht allzu rasch. Denn mancher ist ein Freund, solange es ihm gefällt; aber in der
Not hält er nicht stand. Und mancher Freund wird bald zum Feind und macht dir
zur Schmach einen Streit bekannt. Und mancher Freund ist nicht mehr als dein
Kostgänger und hält in der Not nicht stand. Solange dir’s gut geht, tritt er auf wie
du selbst und lebt in deinem Haus, als wäre er der Hausherr; geht dir’s aber
schlecht, so stellt er sich gegen dich und läßt sich nirgends mehr finden. Halte
dich fern von deinen Feinden, aber sei auch vor den Freunden auf der Hut. Ein
treuer Freund ist ein starker Schutz. Ein treuer Freund ist nicht mit Geld oder Gut
zu bezahlen, und sein Wert ist nicht hoch genug zu schätzen.
– Buch Jesus Sirach, 6, 7-15, nach der Übersetzung Martin Luthers
Eine Geschichte erzählt von zwei Freunden, von denen einer eines Raubes angeklagt war,
den er nicht begangen hatte. Obwohl er unschuldig war, wurde er zu vier Jahren Haft ver-
urteilt. Während der Freund im Gefängnis war, schlief sein Freund, der durch die Verurtei-
lung sehr bekümmert war, jede Nacht auf dem Boden. Er wollte nicht die Bequemlichkeit
eines weichen Bettes genießen, während sein Freund auf einer modrigen Matratze schlafen
musste. Als sein Freund schließlich aus der Haft entlassen wurde, blieben die beiden
Freunde fürs Leben. Wie kann ein solch rätselhaftes Verhalten erklärt werden? Was bewegt
Menschen dazu, Freundschaften und langfristige kooperative Allianzen einzugehen?
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336 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 337
Diese Gewinne begründen die Entwicklung des reziproken Altruismus. Diejenigen, die an
ihm teilnehmen, stehen besser da, als die egoistisch Handelnden, wodurch die psychologi-
schen Mechanismen für reziproken Altruismus an nachfolgende Generationen weitergege-
ben wurden. Reziproker Altruismus kann als „Kooperation zwischen zwei oder mehr Indivi-
duen zum gegenseitigen Nutzen“ definiert werden (Cosmides & Tooby, 1992, S. 169).
Synonyme für reziproken Altruismus sind Kooperation, Erwiderung und sozialer Austausch.
Zu den wichtigsten adaptiven Problemen des reziproken Altruisten gehört es, sicherzustel-
len, dass die gewährten Vorteile in Zukunft erwidert werden. Jemand könnte vorgeben, ein
reziproker Altruist zu sein und die Vorteile zwar in Anspruch nehmen, sie aber später nicht
erwidern. Dies ist das problem of cheating, das Problem des Betrogenwerdens. Später in
diesem Kapitel untersuchen wir empirische Belege dafür, dass Menschen spezifische psy-
chologische Mechanismen entwickelt haben, um die adaptiven Probleme dieses betrügeri-
schen Verhaltens zu lösen. Zuerst untersuchen wir jedoch eine faszinierende Computer-
simulation, mit der die Entwicklung des reziproken Altruismus demonstriert wird.
Verschiedene Tierarten liefern ebenfalls Beispiele für die Entwicklung von Kooperationen.
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338 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Gesteht sein Partner nicht, würde A, falls er ihn verraten würde, einen Vorteil erhalten, denn
er würde frei kommen und eine kleine Belohnung dafür erhalten, dass er seinen Partner ver-
raten hat. Sollte sein Partner jedoch abtrünnig werden, würde Spieler A besser dastehen,
wenn er selbst auch abtrünnig wird, da er sonst die härteste Strafe erhielte. Die logische
Handlungsweise wäre somit, unabhängig davon, was der andere tut, diesen zu verpfeifen,
obwohl eine Kooperation für beide das beste Ergebnis darstellen würde.
Dieses hypothetische Dilemma gleicht dem Problem des reziproken Altruismus. Jeder kann
durch Kooperation gewinnen (B), aber jeder ist versucht, Vorteile aus dem altruistischen
Verhalten des Partners zu ziehen, ohne es zu erwidern (V). Das schlimmste Szenario besteht
darin, mit einem Partner zu kooperieren, der abtrünnig wird (T). Wird das Spiel nur einmal
gespielt, stellt die Abtrünnigkeit die beste Lösung dar. Robert Axelrod und W. D. Hamilton
(1981) zeigten, dass der Schlüssel zur Kooperation darin liegt, das Spiel zu wiederholen, so
dass keiner der Spieler weiß, wann das Spiel endet, wie es so oft im Leben der Fall ist.
Die Gewinnstrategie in Spielen wie dem „wiederholten Gefangenendilemma“ wird Tit For
Tat genannt – „Wie du mir, so ich dir“. Axelrod und Hamilton entdeckten diese Strategie,
als sie ein Computerturnier durchführten. Ökonomen, Mathematiker, Wissenschaftler und
Computergenies aus der ganzen Welt wurden gebeten, Strategien zu entwickeln, um 200
Runden des Gefangenendilemmas zu spielen. Punkte wurden in Übereinstimmung mit der
Gewinnmatrix in Abbildung 9.1 verteilt. Gewinner war derjenige, der die höchste Punktzahl
erreichte. Die Strategien beruhten auf Entscheidungsregeln hinsichtlich der Interaktion mit
anderen Spielern. Vierzehn Strategien wurden unterbreitet und in dem Computerturnier, in
dem jeder gegen jeden spielte, zufällig kombiniert. Einige Strategien waren sehr komplex
und enthielten kontingente Regeln, die Strategien des anderen als Muster zu benutzen und
plötzlich die Strategie zu wechseln. Die komplexeste Strategie bestand aus 77 Programm-
zeilen in der Computersprache FORTRAN. Der Gewinner des Turniers benutzte die ein-
fachste Strategie von allen: „Tit For Tat – Wie du mir, so ich dir“, die sich als vierzeiliges
FORTRAN-Programm beschreiben lässt. Die zwei einfachen Regeln lauten: (1) Kooperiere
im ersten Durchgang und (2) erwidere in jedem folgenden Zug. In anderen Worten: beginne
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 339
durch Kooperation und kooperiere weiter, wenn der andere auch kooperiert. Wird der
andere jedoch abtrünnig, dann werde ebenfalls abtrünnig. Trivers (1985) bezeichnete dies
zutreffenderweise als „kontingente Reziprozität“.
In einer zweiten Runde des Turniers warb Axelrod einen größeren Teilnehmerkreis an und
erhielt 62 Meldungen, zu denen Ärzte, Biologen und Computerwissenschaftler aus sechs
Ländern gehörten. Dieses Turnier beinhaltete statt der festgelegten 200 Runden eine unbe-
stimmte Interaktionsdauer der Begegnungen. Tit For Tat wurde von seinem Autor nochmals
eingereicht und gewann wieder. Als das Turnier durchgeführt wurde, um den Prozess der
natürlichen Selektion zu simulieren, in dem die erfolgreichen Strategien die weniger erfolg-
reichen Strategien in nachfolgenden Generationen ersetzten, gewann Tit For Tat erneut.
Axelrod (1984) identifizierte vier Merkmale dieser Strategie, die den Schlüssel zu ihrem
Erfolg darstellen: (1) Sei niemals der erste, der nicht kooperiert. Beginne immer mit Koo-
peration und kooperiere solange, wie dies der andere Spieler tut; (2) übe nur Vergeltung,
nachdem der andere nicht mehr kooperiert und kooperiere dann auch nicht mehr; und (3)
sei nicht nachtragend: wenn ein erst nicht kooperierender Spieler zu kooperieren beginnt,
dann erwidere die Kooperation und beginne einen für beide Seiten vorteilhaften Zyklus.
Zusammenfassend: „Verhalte dich anderen gegenüber, wie du dir wünscht, dass sie sich dir
gegenüber verhalten. Aber verhalte dich dann ihnen gegenüber so, wie sie sich dir gegenü-
ber verhalten.“ (Trivers, 1985, S. 392). Strategien zur Förderung der Kooperation, die in
der Folge dann auch zum Erfolg von Tit For Tat führen, werden in Kasten 9.1 diskutiert.
Die Tit For Tat-Strategie im Kontext des wiederholten Gefangenendilemmas ist ein Bei-
spiel für eine evolutionär-stabile Strategie (ESS – evolutionary stable strategy) (Maynard
Smith & Price, 1973). Die ESS wird „als Strategie beschrieben, die, wenn die meisten
Angehörigen einer Population sie annehmen, durch keine alternative Strategie geschlagen
werden kann“ (Dawkins, 1989, S. 69). Das Konzept der ESS stammt aus der Spieltheorie,
einem Zweig der Mathematik, in dem der Erfolg verschiedener Strategien, die gegeneinan-
der gespielt werden, formell modelliert wird (Maynard Smith, 1982). Tit For Tat ist eine
ESS, da sie sich gegen eine Vielzahl anderer Strategien durchsetzt, Populationen dominiert
und wenn sie in einer Population etabliert ist, nicht durch alternative Strategien verdrängt
werden kann. Tit For Tat funktioniert besonders in Populationen mit vielen anderen Spie-
lern, die ebenfalls gemäß Tit For Tat entscheiden.
Aus Axelrods (1984) Analyse des Tit For Tat als erfolgreiche Strategie ergeben sich für
die Förderung der Kooperation mehrere praktische Konsequenzen. Man verweise ers-
tens darauf, dass die Zukunft ihre Schatten vorauswirft. Wenn der andere der Meinung
ist, dass man in Zukunft regelmäßig interagieren wird, so hat er ein größeres Interesse an
einer Kooperation. Wenn man weiß, wann der „letzte Zug“ gemacht wird und dass die
Beziehung bald endet, gibt es einen größeren Anreiz, abtrünnig zu werden und nicht län-
ger zu kooperieren. Diese Erwartungshaltung kann dadurch erreicht werden, dass man
häufiger interagiert oder indem man eine Bindung eingeht wie das Eheversprechen.
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340 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Vielleicht ist eine der Ursachen, dass Scheidungen oft so hässlich sind und durch
gegenseitige Verunglimpfungen getrübt werden, darin zu finden, dass beide Parteien
den „letzten Zug“ und das abrupte Wegfallen einer Perspektive wahrnehmen.
Eine zweite Strategie, die Axelrod empfiehlt, ist Reziprozität lehren. Indem die Rezi-
prozität gefördert wird, hilft man nicht nur sich selbst, indem andere kooperativer
sind, sondern macht es ausnutzenden Strategien schwierig, sich auszubreiten. Je grö-
ßer die Anzahl derer ist, die eine Tit For Tat-Strategie verfolgen, desto weniger
erfolgreich ist jemand, der andere ausnutzt. Diejenigen, die kooperieren, gedeihen
durch ihre gegenseitigen Interaktionen, und die Ausbeuter leiden, da es immer weni-
ger gibt, die sie ausnutzen können.
Eine dritte Strategie zur Förderung der Kooperation besteht darin, auf nicht mehr als
auf Fairness zu bestehen. Gier ist der Sturz vieler, vielleicht am besten veranschau-
licht durch den Mythos von König Midas, dessen Gier nach Gold sich gegen ihn
wandte, als alles, was er berührte, sich in Gold verwandelte – selbst die Speisen, die
er essen wollte. Das Schöne an Tit For Tat ist, dass es nicht darauf besteht, mehr von
anderen zu erhalten als es gibt. Durch die Förderung von Fairness ruft Tit For Tat die
Kooperation der anderen hervor.
Eine vierte Strategie, Kooperation zu fördern, besteht darin, auf Provokationen
schnell zu antworten. Wird der Partner abtrünnig, sollte man sofort Vergeltung üben.
Dies sendet ein starkes Signal aus, dass man es nicht toleriert, ausgenutzt zu werden,
und veranlasst künftige Kooperation.
Eine letzte Strategie zur Förderung der Kooperation besteht darin, einen persönlichen
Ruf als Reziprokator zu fördern. Wir leben in einer sozialen Umgebung, in der Ansich-
ten, die andere über uns haben (unser Ruf), darüber entscheiden, ob sie sich mit uns
befreunden oder uns meiden. Der Ruf wird durch das Verhalten und die Taten eines
Menschen bestimmt. Hat man einen Ruf als Reziprokator, werden andere auf einen
zukommen. Ein Ruf als jemand, der andere ausnutzt, führt zur sozialen Isolation.
Der kombinierte Effekt dieser Strategien führt zu einem erfolgreichen Muster der
Kooperation, bei dem diejenigen, die früher Ausbeuter waren, dazu gezwungen sind,
sich zu rehabilitieren und ihren schlechten Ruf aufzubessern, indem sie kooperatives
Verhalten zeigen. Auf diese Weise wird die Kooperation innerhalb der Gemeinschaft
gefördert. Diese Fälle liefern interessante Vergleichspunkte für die Evolution der
Kooperation beim Menschen.
Die Ergebnisse dieser Computerturniere belegen, dass sich Kooperation in der Natur
leicht entwickeln kann, dass man aber eine entscheidende Einschränkung im Auge behal-
ten muss. Das Spiel nimmt an, dass die Spieler die gleiche Macht haben, um zu belohnen
und zu bestrafen. Im wahren Leben ist die Macht jedoch häufig asymmetrisch verteilt. Es
ist nicht klar, wie es Tit For Tat unter Bedingungen, bei denen die Macht asymmetrisch
verteilt ist, ergehen würde. Trotz dieser Einschränkungen demonstrieren die Ergebnisse,
dass sich kontingente Kooperation mithilfe recht einfacher Entscheidungsregeln entwi-
ckeln kann und in der Natur weit verbreitet ist.
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 341
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342 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
schen Verhaltens voraus. Die Vorteile des Gebens sind höher als die Kosten des
Gebenden. Die Umstände kehren sich häufig ins Gegenteil um, so dass der Geber am
nächsten Tag der Nehmende ist. Einzelne Fledermäuse zeigen eine Präferenz, denen Blut
zu spenden, die ihnen vor kurzem geholfen haben. Betrachtet man diese Bedingungen
und die Bedrohung, der sie durch Verhungern ausgesetzt sind, fällt es schwer sich vorzu-
stellen, wie sie ohne reziproken Altruismus überleben könnten.
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 343
nach Entlausen
ohne vorheriges Entlausen
(in Sekunden)
4
0
Verwandte Nicht-
Verwandte
Abbildung 9.2: Der Effekt des vorherigen Entlausens bei grünen Meerkatzen auf die
Tendenz, einer Bitte nach Hilfe zu antworten
Die Dauer der Zuwendung von Aufmerksamkeit (in Sekunden) eines Affen auf die Tonbandaufnahme
mit dem Hilferuf eines Verwandten oder Nicht-Verwandten, nachdem dieser vorher vom Hilfesuchen-
den entlaust worden war oder nicht. Aufmerksame Antwort = Blickrichtung auf den Hilfesuchenden.
Die Dauer des Blicks wurde anhand eines Filmes über die Interaktion errechnet. Der Unterschied bei
Nicht-Verwandten – nach Entlausen oder ohne vorherige Entlausung – ist statistisch signifikant.
Andere Vergleiche sind dies nicht.
Quelle: Nature (Seyfahrth, R. M. & Cheney, D. L. (1984). Grooming, alliances and reciprocal altruism in
vervet monkeys, 308, 541-543) Copyright © (1984) Macmillan Magazines Limited.
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344 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Obwohl er von der Macht verdrängt worden war und keinen sexuellen Zugang mehr
hatte, war Yeroen noch nicht bereit, sich zur Ruhe zu setzen. Nach und nach ging er mit
einem Männchen namens Nikkie eine enge Allianz ein. Weder Yeroen noch Nikkie wag-
ten es, Luit alleine herauszufordern, aber zusammen bildeten sie eine beeindruckende
Allianz. Über mehrere Wochen wurde die Allianz in ihren Angriffen auf Luit immer küh-
ner. Schließlich brach ein Kampf aus. Obwohl alle Schimpansen Verletzungen davontru-
gen, triumphierte die Allianz zwischen Nikkie und Yeroen. Nach dem Sieg sicherte sich
Nikkie 50 Prozent der Paarungen und aufgrund seiner Allianz mit Nikkie erhielt auch
Yeroen einen Anteil von 25 Prozent. Obwohl Yeroen niemals seinen dominierenden Sta-
tus wieder einnahm, war die Allianz mit Nikkie von entscheidender Bedeutung, um nicht
ganz von der Paarung ausgeschlossen zu werden. Nikkies Allianz mit Yeroen war von
entscheidender Bedeutung für die Dominanz über Luit.
Allianzen stellen zentrale Merkmale im sozialen Leben von Schimpansen dar. Männchen
werben regelmäßig um Allianzen mit Weibchen, indem sie sie entlausen und mit ihren Säug-
lingen spielen. Ohne die Allianzen der Weibchen könnten sie Männchen ihre dominierende
Stellung nicht beibehalten. Als Teil des Versuchs, den Alpha-Status zu erreichen, beißt ein
Männchen ein Weibchen oder jagt es, wenn es herausfindet, dass das Weibchen sich einem
Gegner anschließt. In extremen Fällen stürzt sich das Männchen auf das Weibchen und
springt ihm auf den Rücken, während es schreit. Eine Stunde später ist das Männchen extrem
freundlich zu dem Weibchen und wirbt um es und seine Säuglinge. Dies stellt eine der
Schlüsselstrategien in der Bildung von Allianzen bei Schimpansen dar: Versuche, einen Keil
zwischen deinen Gegner und seine Alliierten zu treiben und umwerbe die letzteren.
Durch de Waals faszinierende Studien können wir einen Blick auf die Komplexität der
Entwicklung des reziproken Altruismus werfen. Es bilden sich Allianzen nicht nur zwi-
schen Männchen, sondern auch zwischen den Geschlechtern. Vor diesem Hintergrund
wenden wir uns nun der Evolution von Kooperationen beim Menschen zu.
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 345
Die Bedürfnisse und Fähigkeiten der interagierenden Individuen sind nur selten aufeinan-
der abgestimmt. Deshalb ist gleichzeitiger Austausch normalerweise nicht möglich.
Wenn ich Hunger leide und du der einzige bist, der über Nahrung verfügt, kann ich dich
nicht sofort dafür entschädigen, dass du mich vor dem Verhungern rettest. Du musst mir
vertrauen, dass ich dir helfen werde, wenn du in Not bist. Findet der Austausch nicht
gleichzeitig statt, besteht immer die Möglichkeit der Abtrünnigkeit, d.h. dass man den
Vorteil annimmt, ihn aber nicht erwidert.
Die evolutionären Psychologen Leda Cosmides und John Tooby haben die Theorie des
sozialen Vertrages (social contract theory) entworfen, die die Evolution kooperativen
Austausches bei Menschen erklärt und besonderes Augenmerk darauf legt, wie Menschen
das Problem des betrügerischen Verhaltens gelöst haben. Die Möglichkeit des Betrugs
stellt eine Gefahr für die Entwicklung der Kooperation dar. Dies liegt daran, dass Betrüger
zumindest unter bestimmten Voraussetzungen – wenn das betrügerische Verhalten nicht
entdeckt oder bestraft wird – einen Vorteil gegenüber jenen haben, die kooperieren. Wenn
ich die Vorteile annehme, die du mir bietest, diese aber später nicht erwidere, gewinne ich
zweifach, indem ich Vorteile erhalten habe, die reziproken Kosten jedoch vermeide. Aus
diesem Grund werden sich die Betrüger im Lauf der Zeit mehr reproduzieren als die
Kooperierenden, bis die ganze Population aus nicht kooperierenden Individuen besteht.
Reziproker Altruismus kann sich daher nur entwickeln, wenn der Organismus über
Mechanismen verfügt, die Betrüger zu erkennen und zu meiden. Wenn kooperierende
Individuen Betrüger erkennen können und nur mit Gleichgesinnten interagieren, kann der
reziproke Altruismus Fuß fassen und sich im Lauf der Zeit entwickeln. Die Betrüger sind
im Nachteil, da sie durch ihr Verhalten keine Vorteile erlangen können.
Welche spezifischen Probleme müssen gelöst werden, damit sich Mechanismen entwi-
ckeln, die dazu motivieren, soziale Verträge einzugehen und Betrüger zu meiden? Cosmi-
des und Tooby (1992) umrissen fünf kognitive Kapazitäten:
Kapazität 1: Die Fähigkeit, viele verschiedene Individuen zu erkennen. Wenn du mir einen
Vorteil gewährst und ich in einem „Meer anonymer Individuen“ verloren gehe (Axelrod &
Hamilton, 1981), kannst du leicht betrogen werden. Du musst mich identifizieren und
mich von anderen unterscheiden können. Die Fähigkeit, viele Individuen zu erkennen,
mag uns als Selbstverständlichkeit erscheinen – aber nur deshalb, weil wir so gut darin
sind. In einer Studie wurde herausgefunden, dass man Menschen, die man bis zu 35 Jahren
nicht gesehen hat, mit einer Erkennungsrate von über 90 Prozent identifizieren kann (Bah-
rick, Bahrick & Wittlinger, 1975). Es gibt neurologische Befunde, dass diese Fähigkeit in
einem bestimmten Bereich der rechten Gehirnhälfte angesiedelt ist. Menschen mit einer
Läsion der rechten Gehirnhälfte entwickeln ein spezifisches Defizit - Prosopagnosie, die
Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen (Gardner, 1974). Menschen können andere auch an
ihrem Gang erkennen (Cutting, Profitt & Kozlowski, 1978). Es existieren ausreichende
wissenschaftliche Belege, dass Menschen über Fähigkeiten verfügen, andere Individuen
zu erkennen.
Kapazität 2: Die Fähigkeit, sich an Aspekte der Interaktion mit verschiedenen Individuen
zu erinnern. Diese Kapazität teilt sich in verschiedene Fähigkeiten auf. Zum einen muss
man sich erinnern können, ob die Person, mit der man interagiert hat, kooperierte oder ein
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346 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Betrüger war. Zweitens muss man im Auge behalten, wer wem was schuldig ist. Man
benötigt eine Art Buchhaltung, um auf dem Laufenden zu bleiben, welche Kosten man
hatte und welche Vorteile man erhielt. Scheitert man daran, sich an diese Interaktionen zu
erinnern, kann man leicht betrogen werden. Vergisst man, sich zu erinnern, wer einen in
der Vergangenheit betrogen hat, so kann man in der Zukunft leicht ausgenutzt werden.
Wenn man nicht mehr weiß, wie viel man jemandem gegeben hat, so weiß man nicht, ob
der Vorteil, mit dem er später reagiert, den damals entstandenen Kosten entspricht. Bisher
wurde diese Kapazität noch nicht wissenschaftlich untersucht.
Kapazität 3: Die Fähigkeit, anderen die eigenen Werte zu vermitteln. Wenn dein Freund
nicht versteht, was du willst, wie kann er dir dann die Vorteile geben, die du brauchst?
Wenn man daran scheitert, einem Betrüger seine Verärgerung mitzuteilen, wird man für
künftige Betrugsabsichten verletzlich. Betrachten wir ein Beispiel aus de Waals (1982)
Schimpansen-Studie. Sie betraf Puist und Luit, die eine langjährige Beziehung gegensei-
tiger Hilfe verband.
Puist hatte Luit bei einem Kampf gegen Nikkie unterstützt. Als Nikkie später ein
(aggressives) Imponiergehabe gegenüber Puist an den Tag legte, wandte sie sich
Luit zu und streckte ihre Hand in der Bitte um Unterstützung nach ihm aus. Luit tat
jedoch nichts, um sie gegen Nikkies Angriff zu schützen. Puist wandte sich darauf-
hin sofort Luit zu, bellte ihn wütend an, scheuchte ihn durch das Gehege und
schlug ihn (S. 207).
Puist schien Luit ihre Unzufriedenheit darüber, dass er ihr nicht beigestanden hatte, mitzutei-
len. Die Kommunikation von Schimpansen ist nonverbal. Unter Menschen dient die Sprache
dazu, emotionale Äußerungen und anderes nonverbales Verhalten als Medium der Kommu-
nikation von Wünschen, Ansprüchen und Verärgerung über nicht erfüllte Verpflichtungen zu
äußern. Die Sätze „Du schuldest mir“, „Ich brauche“, „Ich habe ein Recht auf“ und „Ich
möchte“ repräsentieren Möglichkeiten, wie Menschen anderen ihre Werte mitteilen.
Kapazität 4: Die Fähigkeit, die Werte der anderen zu verstehen. Die andere Seite der
Medaille ist die Fähigkeit, die Werte der anderen zu verstehen. Wenn man entdecken
kann, wann jemand in Not ist und was er benötigt, kann man die Hilfe dementsprechend
leisten. Wenn ich dir ein Stück Fleisch gebe und nicht erkenne, dass du nicht hungrig bist
und über einen ausreichenden Vorrat verfügst, bedeutet meine Hilfe nicht viel. Indem
man die Wünsche und Bedürfnisse der anderen erkennt, kann man seine Hilfe maximie-
ren, was dazu führt, dass der Empfänger noch mehr in der Schuld steht, diese zu erwi-
dern. Dies legt nahe, dass Menschen „Marktforschung“ betreiben, um die Präferenzen,
Bedürfnisse und Motivationen derjenigen zu erkennen, mit denen sie interagieren. Das ist
eine Ansicht, die noch empirischer Untersuchungen bedarf.
Kapazität 5: Die Fähigkeit, Kosten und Nutzen unabhängig von der tatsächlichen Leistung
zu repräsentieren. Cosmides und Tooby (1989) argumentieren, dass bei Tieren der Aus-
tausch auf Dinge wie Nahrung oder Sex beschränkt ist. Menschen dagegen können sehr
viel mehr austauschen: Messer und andere Werkzeuge, Fleisch, Beeren, Nüsse, Fisch,
Schutz, Status, Steinäxte, Unterstützung bei Kämpfen, sexuellen Zugang, Geld, Blasrohre,
Informationen über Feinde, Hilfe bei Semesterarbeiten und Computerprogramme, um nur
einige zu nennen. Aus diesem Grunde, so Cosmides und Tooby, können die Mechanismen
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 347
des sozialen Austausches nicht mit spezifischen Gegenständen verknüpft sein. Wir müssen
die Kosten und den Nutzen einer großen Bandbreite von Dingen verstehen und kognitiv
darstellen können. Bei Menschen entwickelte sich daher eine allgemeine Fähigkeit, Kos-
ten und Nutzen zu repräsentieren, die nicht an bestimmte Dinge gebunden ist.
Zusammengefasst schlägt die Theorie des sozialen Vertrags die Entwicklung von fünf
kognitiven Kapazitäten vor, um das Problem des betrügerischen Verhaltens zu lösen und
uns am erfolgreichen sozialen Austausch zu beteiligen. Wir müssen andere Individuen
erkennen können, unsere Geschichte der Interaktionen mit ihnen kennen, anderen unsere
Werte, Wünsche und Bedürfnisse mitteilen, diese in anderen erkennen und Kosten und
Nutzen einer Vielzahl von Dingen, die man austauschen kann, repräsentieren können.
Um die Theorie des sozialen Vertrags zu testen, führten Cosmides und Tooby mehr als ein
Dutzend empirischer Studien über die Reaktionen auf logische Probleme durch. Logik
bezieht sich auf die Schlussfolgerungen, die man über die Wahrheit einer Feststellung
machen kann, und zwar basierend auf Annahmen über die Wahrheit anderer Feststellungen,
unabhängig von deren Inhalt. Wenn ich behaupte, dass Q aus P folgt, dann ist die logische
Schlussfolgerung, dass Q auch richtig sein muss, sobald man herausgefunden hat, dass P
richtig ist. Dies trifft auf alle Feststellungen zu wie „Wenn ich zum Supermarkt gehe,
bedeutet das, dass ich hungrig bin“ oder „wenn du untreu bist, werde ich dich verlassen“.
Leider schneiden Menschen bei der Lösung logischer Probleme nicht sehr gut ab. Stellen
Sie sich vor, dass sich in einem Raum Archäologen, Biologen und Schachspieler befinden
(Pinker, 1997, S. 334). Keiner der Archäologen ist ein Biologe, aber alle Biologen sind
Schachspieler. Was folgt aus diesem Wissen? Mehr als 50 Prozent der College-Studenten,
die an der Studie teilnahmen, schließen daraus, dass keiner der Archäologen Schachspie-
ler ist, was eine ungültige Inferenz ist, denn die Feststellung, dass alle Biologen Schach-
spieler sind, bedeutet nicht, dass keiner der Archäologen Schach spielt. Keiner der Teil-
nehmer kam zu dem Ergebnis, dass einige der Schachspieler in dem Zimmer nicht
Archäologen sind, was aus den Prämissen logisch ableitbar ist. Etwa 20 Prozent der Teil-
nehmer behaupteten, dass aus der obigen Prämisse keine logische Schlussfolgerung gezo-
gen werden kann, was ebenfalls ganz klar falsch ist.
Betrachten wir folgendes logische Problem (Wason, 1966): Stellen Sie sich vor, auf dem
Tisch liegen vier Karten. Jede Karte hat auf der Vorderseite eine Zahl und auf der Rück-
seite einen Buchstaben, aber Sie sehen nur eine Seite. Welche Karten müssten Sie
umdrehen, um folgende Regel zu testen: „Eine Karte mit einem Vokal auf der Vorderseite
hat eine gerade Zahl auf der Rückseite.“ Drehen Sie nur die Karten um, die umgedreht
werden müssen, um zu sehen, ob die Regel stimmt:
a b 2 3
Entscheiden Sie wie die Mehrheit der Studienteilnehmer, werden Sie die Karte mit dem
„a“ oder die Karten mit dem „a“ und der „2“ umdrehen. Die Karte mit dem „a“ ist auf
jeden Fall richtig. Da sie einen Vokal hat, würde eine ungerade Zahl auf der Rückseite
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348 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
bedeuten, dass die Regel falsch ist. Die Karte mit der „2“ enthält jedoch keine Informa-
tion, die zur Überprüfung der Regel relevant wäre. Da die Regel nicht besagt, dass alle
Karten mit einer geraden Nummer auf einer Seite einen Vokal auf der anderen Seite
haben, ist es egal, ob sich auf der Rückseite der Karte mit der „2“ ein Vokal oder ein Kon-
sonant befindet. Dreht man jedoch die Karte mit der „3“ um, könnte man die Regel über-
prüfen. Steht auf der Rückseite der Karte mit der „3“ ein Vokal, so ist die Regel definitiv
falsch. Die logisch korrekte Antwort, welche Karten umzudrehen sind, lautet daher „a“
und „3“ (die Karte mit der „b“ liefert ebenfalls keinerlei Informationen, da die Regel
keine Feststellungen darüber enthält, was die Rückseite einer Karte mit einem Konsonan-
ten enthalten soll). Warum fällt es Menschen, von denen einige einen College-Kurs über
Logik absolvierten, so schwer, eine derartige Aufgabe richtig zu lösen?
Nach Cosmides und Tooby (1992) fällt es Menschen schwer, abstrakte logische Fragen zu
lösen. Sie können diese Fragen jedoch lösen, wenn sie in Form eines sozialen Austau-
sches strukturiert sind, d.h. wenn sie in Termini wie Kosten und Nutzen präsentiert wer-
den. Betrachten wir folgende Aufgabenstellung: Sie arbeiten in einer Bar und zu Ihrem
Job gehört es sicherzustellen, dass Minderjährige keinen Alkohol trinken. Sie sollen die
folgende Regel durchsetzen: „Wer Alkohol trinkt, muss 21 oder älter sein.“. Welche der
folgenden vier Personen müssen Sie überprüfen: diejenige, die Bier trinkt, die Soda
trinkt, eine 25-jährige Frau oder einen 16-jährigen Jugendlichen? Im Gegensatz zur
abstrakten Fragestellung weiter oben wählt die große Mehrheit hier zutreffend den Bier-
trinker und den 16-Jährigen aus. Die Logik ist identisch mit der abstrakten Wahlaufgabe
mit den Vokalen und geraden Zahlen. Warum fällt es Menschen also leicht, diese Aufgabe
zu lösen, nicht aber die abstrakte Version weiter oben?
Nach Cosmides und Tooby denken Menschen logisch korrekt, wenn die Aufgabe wie ein
sozialer Vertrag strukturiert ist. Trinkt man Bier, ist aber nicht über 21, hat man einen Vorteil
erhalten, ohne die Voraussetzungen (Kosten) zu erfüllen, das heißt das erforderliche Min-
destalters erreicht zu haben. In anderen Worten fällt es Menschen leicht, nach „Betrügern
Ausschau“ zu halten, die sich einen Vorteil verschafft haben, ohne den Preis dafür zu zahlen.
Um eine Aufgabe erfolgreich zu lösen, muss sie so strukturiert sein, dass man sie in Nutzen-
nehmen und Kosten-zahlen zerlegen kann. Cosmides und Tooby konnten eine Reihe alterna-
tiver Hypothesen ausschließen. Der Effekt hängt nicht davon ab, ob man mit der Aufgaben-
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 349
stellung vertraut ist oder nicht. Wenn seltsame und unvertraute Regeln angewandt wurden
wie „wenn man heiratet, muss man sich eine Tätowierung an der Stirn anbringen lassen“
oder „wenn man Mongongo-Nüsse isst, muss man über 1,80 m groß sein“, antworteten noch
immer etwa 75 Prozent der Studienteilnehmer richtig (im Gegensatz zu den weniger als zehn
Prozent, die die abstrakte Version richtig beantworteten). Nach diesen Studien hat der
menschliche Verstand (mind) psychologische Mechanismen entwickelt, um Betrüger zu ent-
decken. Diese Ergebnisse wurden in anderen Kulturen wie den Shiwiar, einem Stamm der
Wildbeuter in Ecuador (Sugiyma, Tooby & Cosmides, 2002) repliziert. Der Prozentsatz der
richtigen Antworten betrug 86 Prozent, was mit dem Ergebnis der Harvard-Studenten von
75-92 Prozent fast identisch ist. Dieses kulturübergreifende Ergebnis deutet auf eine mögli-
che universelle Adaptation zur Entdeckung von Betrügern im sozialen Austausch hin.
Zusätzliche Belege für eine spezifische Adaptation zur Aufdeckung von Betrügern stam-
men aus Arbeiten mit hirngeschädigten Patienten durch die evolutionären Psychologen
Valerie Stone und ihre Kollegen (Stone, Cosmides, Tooby, Kroll & Knight, 2002). Ein
Patient, R. M., wies anhaltende Schäden an zwei Gehirnregionen, dem orbitofrontalen
Kortex und der Amygdala auf. Bei einigen Problemen war R. M. in der Lage, die logisch
korrekte Lösung zu finden. Zum Beispiel könnte er Aufgaben, die in Form von Vorsichts-
maßnahmen formuliert waren – „wenn man eine riskante Arbeit wie X macht, muss man
entsprechende Vorsichtsmaßnahmen wie Y treffen“ – genauso gut lösen wie Menschen
ohne Hirnschädigung. Dagegen konnte er Probleme in Bezug auf soziale Verträge – z.B.
„wenn man den Vorteil X erhält, muss man den Preis Y bezahlen“ – kaum lösen. Die Dis-
sonanz zwischen diesen beiden Aufgaben legt nahe, dass die Logik des sozialen Austau-
sches ein getrennter und spezialisierter Bereich der kognitiven Maschinerie ist. Interes-
santerweise sind Menschen mit einer Hirnschädigung wie der von R. M. anfällig für
Betrügereien, ausnützende Beziehungen und ungünstige Geschäftsabschlüsse (Stone
et al., 2002).
Der Mechanismus zur Entdeckung von Betrügern scheint auch vom eigenen Standpunkt
abzuhängen (Gigerenzer & Hug, 1992). Betrachten Sie folgende Regel: „Wenn ein Ange-
stellter eine Pension erhält, hat er zehn Jahre lang gearbeitet.“ Was würde eine Verletzung
dieses sozialen Vertrages darstellen? Es hängt davon ab, wen man fragt. Teilnehmer, die
gebeten wurden, sich vorzustellen, sie seien Arbeitnehmer, suchten Arbeitnehmer heraus,
die mehr als zehn Jahre gearbeitet, aber keine Pension erhalten hatten. Dies würde eine
Verletzung des sozialen Vertrags durch den Arbeitgeber darstellen, der die Pension nicht
gewährte, obwohl sie den Arbeitnehmern zustand. Wurden die Teilnehmer jedoch gebeten,
sich vorzustellen, sie seien Arbeitgeber, suchten sie Arbeitnehmer heraus, die weniger als
zehn Jahre gearbeitet und trotzdem die Pension in Anspruch genommen hatten. Dies
würde eine Verletzung des sozialen Vertrages durch die Arbeitnehmer darstellen, die die
Pension in Anspruch nahmen, ohne die erforderlichen zehn Jahre gearbeitet zu haben. Die
Perspektive bestimmt, nach welchen Betrügern man Ausschau hält. Ist man Arbeitnehmer,
achtet man darauf, von seinem Arbeitgeber nicht betrogen zu werden; als Arbeitgeber ach-
tet man darauf, nicht von seinen Arbeitnehmern betrogen zu werden.
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350 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Weitere Forschungen sind notwendig, um die Theorie des sozialen Vertrags im Allgemei-
nen und den Mechanismus zur Aufdeckung von Betrügern im Besonderen zu unter-
suchen. Erinnern Sie sich an die Definition psychologischer Mechanismen zu denen
„Input, Entscheidungsregeln und Output“ gehören. Wir wissen nur wenig darüber, wie
Menschen auf verschiedene Inputs reagieren. Verfügen Männer und Frauen über Emp-
findlichkeiten, um auf verschiedene Arten betrügerischen Verhaltens wie beispielsweise
sexuelle Untreue in der Ehe zu reagieren? Es ist offensichtlich, dass Menschen wütend
werden und es anderen erzählen, dass der Partner untreu war, und sie werden in Zukunft
den Kontakt meiden. Aber wir wissen wenig über die Output-Seite: Was tut man, wenn
man einen Betrüger entdeckt und wie unterscheiden sich die Handlungen in Bezug auf
Statusunterschiede und genetische Verwandtschaft? Nichtsdestotrotz zeigt diese bahnbre-
chende Forschung, dass wir über psychologische Mechanismen verfügen, um Betrüger zu
entlarven. Diese Mechanismen werden dann aktiviert, wenn ein Austausch in Form von
Nutzen und Aufwand strukturiert ist. Wie Cosmides und Tooby abschließend bemerken:
„Die Ergebnisse zeigen, dass wir nicht über eine universelle Fähigkeit verfügen, Verlet-
zungen konditionierter Regeln zu erkennen. Aber das menschliche Urteilsvermögen kann
Verletzungen konditionierter Regeln erkennen, wenn diese als Betrug eines sozialen Ver-
trages interpretiert werden können.“ (Cosmides & Tooby, 1992, S. 205).
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 351
Die Logik dieser Aufgabe besteht darin, dass Menschen, die anderen nur helfen, um
externe Anerkennung zu erhalten, keine geeignete Kandidaten sind, um einem in Zukunft
zu helfen und daher schlechte Kooperationspartner abgeben. Diejenigen, die anderen hel-
fen, ohne nach externer Anerkennung zu suchen, zeigen aufrichtige altruistische Tenden-
zen und eignen sich als Verbündete. Die richtige Antwort aus der Perspektive altruisti-
scher Aufdeckung wäre daher, die Karten „X hilft“ und „X sucht nicht nach
Anerkennung“ auszuwählen.
Brown und Moore (2000) fanden durch zwei Experimente heraus, dass die Mehrheit der
Teilnehmer das Kartenmuster auswählte, anhand dessen sie die Altruisten herausfinden
konnten. In der Tat war die Leistung der Versuchspersonen bei der Altruisten-Aufgabe
fast so gut wie bei der Betrüger-Aufgabe, und bei beiden Aufgaben war die Leistung weit
besser als bei abstrakten Aufgaben. Die Fähigkeit, aufrichtige Altruisten zu erkennen,
würde die Evolution der Kooperation stark favorisieren - unter der Voraussetzung, dass
die Aufrichtigkeit einer altruistischen Handlung ein Anzeichen künftiger altruistischer
Handlungen ist. Obwohl noch weitere Untersuchungen notwendig sind, um spezifische
Merkmale zu identifizieren, deuten die gegenwärtigen Belege auf die Existenz von zwei
Adaptationen hin, die die Evolution der Kooperation begünstigen: (1) Betrüger zu erken-
nen (diejenigen, die Vorteile annehmen, ohne dafür zu bezahlen) und (2) Altruisten zu
erkennen (deren Motivation aufrichtig ist).
Diese zwei Kandidaten für Adaptationen im Kontext von sozialem Austausch sind bei
weitem nicht alles. Ein weiterer Kandidat ist die social-exchange heuristic (Heuristik für
sozialen Austausch), die eine kognitive Adaptation darstellt und uns motiviert, einen koo-
perierenden Partner nicht auszubeuten (Kiyonari, Tanida & Yamagishi, 2000). Diese
Fähigkeit würde die Entwicklung wechselseitiger Kooperation begünstigen. Eine weitere
potentielle Adaptation ist costly signaling (kostspieliges Signalisieren) (Gintis, Smith &
Bowles, 2001; Grafen, 1990; Zahavi, 1977; siehe auch McAndrew, 2002). Individuen zei-
gen altruistische Handlungen, wie beträchtliche Geschenke, Spenden an Wohlfahrtsorga-
nisationen, Einladungen zu üppigen Abendessen etc., um anzudeuten, dass sie sich als
Verbündete eignen. Nur diejenigen, die sich diese altruistischen Handlungen leisten kön-
nen, tun dies; denn diejenigen, die nicht über die Ressourcen verfügen, können sich diese
kostspieligen Signale nicht leisten. Üppige Festmahle und Parties mit Speisen und
Getränken in Hülle und Fülle, könnten Manifestationen kostspieligen Signalisierens sein.
Altruistische Handlungen, die mit Kosten verbunden sind, geben anderen ein Signal über
die Qualitäten des Gebers als Verbündeter.
Zusammengenommen kann man sagen, dass, obwohl die Entdeckung von Betrügern für
die Evolution der Kooperation von entscheidender Bedeutung ist, sich wahrscheinlich
auch andere Adaptationen entwickelt haben, die Kooperationen begünstigen. Zu den
wichtigsten gehören diejenigen, die bei der Wahl der Kooperationspartner involviert sind
(d.h. diejenigen zu identifizieren, die aufrichtige altruistische Motivationen haben), die
das Verhalten innerhalb einer kooperativen Allianz regeln (z.B. heuristischer sozialer Aus-
tausch) und diejenigen, die kostspielige aber ehrliche Signale potentieller Verbündeter
erkennen. Neuere Befunde, dass Menschen aufrichtigen altruistischen Handlungen Beach-
tung schenken sowie die Kostspieligkeit altruistischer Handlungen legen das Vorhan-
densein ausgeklügelter kognitiver Mechanismen zur Bildung kooperativer Allianzen nahe.
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352 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 353
fahren, um Ihre Wochenendeinkäufe zu machen und ein Freund fragt, ob Sie ihn mitneh-
men können. Indem Sie Ihren Freund im Auto mitnehmen, haben Sie keine zusätzlichen
Kosten, da Sie ohnehin zum Supermarkt gefahren wären. Nach den zwei klassischen The-
orien der Evolution des Altruismus würde diese Handlung nicht als Altruismus definiert
werden, da keine Kosten verursacht werden. Der gesunde Menschenverstand sagt uns
allerdings, dass man seinem Freund auf jeden Fall einen Gefallen tut, unabhängig davon,
ob die Hilfe für den Freund für einen selbst vorteilhaft ist, kostenneutral oder kostspielig
ist. Tooby und Cosmides (1996) meinen, dass wir die Evolution von Mechanismen ver-
stehen müssen, die entwickelt wurden, um anderen einen Gefallen zu tun, unabhängig
davon, ob sie für die Person, die den Vorteil gewährt, mit Kosten verbunden ist.
Aus einer evolutionären Perspektive betrachtet gilt: je höher die Kosten für denjenigen
sind, der anderen einen Gefallen tut, desto seltener sind solche Vorteile. Je weniger damit
verbunden ist, anderen einen Gefallen zu tun, desto weiter verbreitet werden sie sein.
Sobald sich einmal Adaptationen herausgebildet haben, anderen einen Gefallen zu erwei-
sen, werden im Lauf der Evolution diese so verändert, dass die Kosten minimiert werden
- bis dahin, dass derartiges Verhalten sogar vorteilhaft sein kann für den, der den Gefallen
erweist. Diese Argumentation besagt, dass viele altruistische Mechanismen noch uner-
forscht sind - Mechanismen, die entwickelt wurden, anderen einen Gefallen zu gewähren,
wenn diese Handlungen eher mit Vorteilen als mit Nachteilen für den Handelnden ver-
bunden sind. Dies führt uns aus dem Bereich der Verwandtschaft und dem reziproken Alt-
ruismus und bringt uns zum „Paradoxon der Banken“.
Das Paradoxon der Banken. Banken stehen bei der Gewährung von Krediten vor einem
Dilemma: Die Anzahl der Menschen, die einen Kredit wünschen, übersteigt den Betrag,
den Banken ausgeben können. Banken stehen daher vor schweren Entscheidungen, wem
sie Kredite gewähren sollen. Einige Menschen stellen ein geringes Kreditrisiko dar und
zahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit das Geld zurück. Andere stellen ein großes Kredit-
risiko dar und können den Kredit vielleicht nicht zurückbezahlen. Unter dem „Paradoxon
der Banken“ (Tooby & Cosmides, 1996) versteht man folgendes: Diejenigen, die das
Geld am dringendsten benötigen, sind diejenigen mit dem größten Kreditrisiko, während
diejenigen, die das Geld weniger dringend benötigen, ein geringes Kreditrisiko darstellen.
Daher gewähren die Banken denjenigen Kredite, die sie am wenigsten benötigen und ver-
weigern sie denjenigen, die sie am dringendsten brauchen.
Dieses Dilemma gleicht einem profunden adaptiven Problem unserer Vorfahren. Jeder
verfügt nur über einen bestimmten Umfang an Hilfe, die er anderen gewähren kann.
Benötigt jemand dringend Hilfe, ist dies jedoch genau zu der Zeit, in der er ein „großes
Kreditrisiko“ darstellt und es am wenigsten wahrscheinlich ist, dass er diese erwidern
kann. War einer unserer Vorfahren verletzt oder krank und stark hilfsbedürftig, so bedeu-
tete das nicht, dass eine Hilfeleistung immer vorteilhaft war. Unsere Vorfahren standen
daher vor einem Dilemma, das mit dem der Banken verglichen werden kann: Sie mussten
Entscheidungen darüber treffen, an wen „Kredite vergeben werden sollten“ und wann
Kredite an andere Individuen vergeben werden sollten. So wie einige Kreditnehmer ein
geringes Kreditrisiko für Banken darstellen, sind einige Individuen auch geeignetere
Objekte unserer begrenzten Zeit und Kräfte zur Hilfeleistung.
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354 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Welche Adaptationen regeln diese Entscheidungen? Erstens sollte man einschätzen kön-
nen, ob eine Person, der man Kredit gewährt, bereit ist, diesen später zurückzuzahlen.
Handelt es sich um jemanden, der andere regelmäßig ausbeutet, oder ist es jemand, der
die angebotene Hilfe zu schätzen weiß und versucht, auch anderen Voreile zu gewähren?
Zweitens sollte man einschätzen können, ob die Person in der Lage ist, den Vorteil später
zu erwidern. Wird sich ihr Glück in Zukunft zum Guten wenden oder werden die gegen-
wärtigen schlechten Umstände andauern? Drittens sollte man sich fragen, ob es in Anbe-
tracht von Dritten, die vielleicht kreditwürdiger sind, eine gute Idee ist, dieser Person
Hilfe zu gewähren?
Stirbt der Empfänger der Hilfe, erleidet er einen permanenten Statusverlust innerhalb der
Gruppe oder verschlechtert sich sein Zustand, könnte die getätigte Investition verloren sein.
Befindet sich ein Mensch in einer ernsthaften Notlage, so bedeutet eine Hilfeleistung zu sei-
nen Gunsten eine weniger attraktive Investition als eine solche zugunsten eines Individuums,
dessen Umstände besser sind. Dies kann zu Adaptationen führen, die eine Person veranlas-
sen, einen Freund herzlos zu verlassen, wenn er dringend Hilfe benötigt. Auf der anderen
Seite, wenn die Schwierigkeiten der Person nur vorübergehend sind wie eine glücklose Jagd,
kann sich diese Person als besonders attraktiv bezüglich zu leistender Hilfe erweisen. Jeman-
dem zu helfen, der vorübergehend in Not ist, kann viel versprechend sein, da diese Hilfe
durch denjenigen, der in Not ist, sehr geschätzt wird. Die Selektion sollte daher Adaptatio-
nen bevorzugen, die Entscheidungen dahingehend motivieren, wann und an wen man seine
Hilfe richten soll. Aber das Problem bleibt bestehen: Die Evolution sollte psychologische
Mechanismen bevorzugen, die Menschen motivieren, einen dann zu verlassen, wenn man
dringend Hilfe benötigt. Wie kann uns die Selektion aus dieser Zwangslage befreien? Wie
können wir andere dazu bewegen, uns zu helfen, wenn wir ihre Hilfe benötigen?
Unersetzlich werden. Als Lösung für dieses adaptive Problem schlagen Tooby und
Cosmides (1996) vor, man solle sich unersetzlich oder unentbehrlich für andere machen.
Betrachten wir folgendes hypothetische Beispiel: Zwei Menschen bedürfen Ihrer Hilfe,
aber Sie können nur einem helfen. Beide sind Ihre Freunde und beide gewähren Ihnen
gleichwertige Vorteile (z.B. hilft Ihnen einer bei Ihren Mathematik-Hausaufgaben und der
andere gibt Ihnen die Unterlagen der Unterrichtsfächer, die Sie verpassen). Beide werden
gleichzeitig krank, aber Sie können nur einen pflegen. Wem helfen Sie? Ein Faktor, der
diese Entscheidung beeinflussen kann, ist Unentbehrlichkeit. Wenn Sie mehrere Leute
kennen, die Ihnen die Unterlagen der Fächer mitbringen, die Sie verpassen, aber nieman-
den sonst kennen, der Ihnen bei Ihren Mathematikaufgaben hilft, ist Ihr Mathematik-
Freund schwieriger zu ersetzen. Wer ersetzbar ist, kann daher leichter verlassen werden
als ein nicht zu Ersetzender, selbst wenn die gewährten Vorteile den gleichen Wert haben.
Die Loyalität Ihrer Freundschaft sollte daher teilweise darauf basieren, wie unersetzlich
der Freund ist.
Wie kann man die Chancen erhöhen, dass man unersetzlich und attraktiv für die Investitionen
anderer wird? Tooby und Cosmides (1996) schlagen mehrere Strategien vor. Man kann
1. ein Ansehen fördern, indem man einmalige oder außergewöhnliche Attribute hervorhebt;
2. motiviert sein, persönliche Attribute zu erkennen, die andere schätzen, aber nur
schwer von anderen erhalten;
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 355
Solange es einem gut geht, gleichen sich Bekannte und echte Freunde. Bekannte können
wie echte Freunde erscheinen und das adaptive Problem liegt darin, zu unterscheiden,
wer ein guter Freund ist und am eigenen Wohlergehen interessiert ist und wer in Stunden
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356 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
der Not verschwindet (Tooby & Cosmides, 1996). Die Selektion hat bei Menschen
Mechanismen entwickelt, mit denen wir derartige Unterscheidungen treffen können. Der
beste Test, der zuverlässigste Beleg der Freundschaft, ist die Hilfe, die man in Zeiten gro-
ßer Not erhält. Hilfe in dieser Zeit ist ein zuverlässigerer Lackmustest als Hilfe aus ande-
ren Zeiten. Gefühlsmäßig scheinen wir ein spezielles Erinnerungsvermögen dafür zu
haben. Wir geben uns große Mühe unseren Dank auszudrücken und kommunizieren, dass
wir die Person, die uns in unserer Not geholfen hat, niemals vergessen.
Das moderne Leben stellt uns jedoch vor ein Paradoxon (Tooby & Cosmides, 1996). Die
meisten von uns vermeiden Episoden gefährlicher und persönlicher Schwierigkeiten und
viele der „feindlichen Kräfte der Natur“, die unsere Vorfahren erlebten, werden von uns
beherrscht. Wir verfügen über Gesetze, um Überfälle, Aggressionen und Mord zu
bekämpfen. Polizisten führen viele der Funktionen aus, für die früher Freunde zuständig
waren. Wir verfügen über medizinisches Wissen, das viele Krankheiten eliminiert oder
reduziert hat. Wir leben in einer Umwelt, die um einiges sicherer und stabiler ist als die
unserer Vorfahren. Paradoxerweise können wir deshalb kaum einschätzen, wer von unse-
ren Freunden und Bekannten wirklich an unserem Wohlergehen interessiert ist und wer
lediglich während einer Schönwetter-Phase mit uns zusammen sein möchte. Es ist mög-
lich, dass die Einsamkeit und das Gefühl der Entfremdung, das viele von uns kennen - ein
Mangel an tiefer sozialer Verbundenheit, den wir trotz der vielen, scheinbar warmen und
freundlichen Interaktionen empfinden - seinen Ursprung in fehlenden Herausforderungen
hat, die uns in z.B. Zeiten der Not zeigen, wer wirklich an unserem Wohlergehen interes-
siert ist (Tooby & Cosmides, 1996).
Begrenzte Nischen für Freundschaften. Nach der Theorie von Tooby und Cosmides
über die Evolution der Freundschaft verfügt jeder über eine begrenzte Menge an Zeit,
Energie und Kraft. So wie man nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, ist die Ent-
scheidung, sich mit einer Person zu befreunden, gleichzeitig die Entscheidung, sich mit
einer anderen nicht zu befreunden. Nach dieser Theorie hat jede Person nur wenige
Nischen für Freundschaften und das adaptive Problem besteht darin, zu entscheiden, wer
diese füllen sollte. Die Implikationen dieser Theorie unterscheiden sich von den Implika-
tionen der Theorie des reziproken Altruismus, bei der man Vorteile in der Erwartung
gewährt, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt erwidert werden. Tooby und Cosmides
(1996) meinen, dass die Wahl von Freunden durch andere Faktoren beeinflusst wird.
1. Wie viele der Nischen für Freundschaften sind schon besetzt? Wie viele Freunde
haben Sie und sind dies echte Freunde oder Bekannte? Sollten Sie nur wenige
Freunde haben, sollten psychologische Mechanismen Aktionen motivieren wie die
Rekrutierung neuer Freunde, die Festigung und Vertiefung bereits bestehender
Freundschaften oder Bestrebungen, sich selbst für potentielle künftige Freunde attrak-
tiv zu machen.
2. Einschätzen, wer uns durch positive Externalitäten nutzen kann. Sagen wir, jemand ist
körperlich Achtung gebietend, sieht vielleicht aus wie Arnold Schwarzenegger und
lebt in Ihrer Nachbarschaft. Seine bloße Existenz schreckt Räuber und andere Krimi-
nelle ab, so dass Sie einen Vorteil dadurch erhalten, dass aufgrund der Präsenz dieser
Person Sie oder Ihre Familie weniger durch Kriminelle bedroht werden. Einige Men-
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 357
schen gewähren Vorteile, die als Nebeneffekte ihrer Existenz oder ihrer Handlungen
angesehen werden und die nicht als absichtliche altruistische Handlungen gelten. Ihr
Nachbar wurde nicht deshalb so muskulös, um Ihnen Vorteile zu gewähren. Statt-
dessen gewährt er durch seine Statur Vorteile, die als Nebeneffekte oder zufällige
Konsequenzen angesehen werden. Ökonomen nennen diese vorteilhaften Neben-
effekte positive Externalitäten.
Menschen, die über bestimmte Talente oder Fähigkeiten verfügen wie das Sprechen
anderer Dialekte, oder die besser darin sind, Beeren, Beute oder Wasser zu finden,
können denen Vorteile gewähren, mit dem sie zusammen sind, unabhängig davon, ob
sie ihnen absichtlich helfen. Diejenigen, die mehr dieser positiven Fähigkeiten aus-
strahlen, sind dabei als potentielle Freunde attraktiver als diejenigen, die über weniger
Fähigkeiten verfügen, unabhängig von absichtlichen Vorteilen, die diese Personen ge-
währen. Man würde daher erwarten, dass die Selektion Mechanismen entwickelt hat,
die bei der Identifizierung solcher Individuen helfen und die uns motivieren, unsere
Nischen mit ihnen zu füllen.
3. Wählen Sie Freunde, die Ihre Gedanken lesen können. Man kann leichter jemandem
helfen, wenn man seine Gedanken erraten und seine Bedürfnisse vorhersagen kann.
Ein Freund, der Ihre Gedanken lesen kann und Ihre Wünsche, Ansichten und Werte
versteht, kann Ihnen hilfreich sein, und gleichzeitig ist es weniger aufwändig für ihn,
Ihnen einen Gefallen zu erweisen. Jemand, der nicht erkennt, was man benötigt,
könnte eine Möglichkeit verpassen, Ihnen zu helfen. Wir kennen alle mindestens
einen Menschen, der intuitiv wusste, was man dachte und oftmals bevor man selbst
daran dachte. Diese Menschen sind gute Freunde.
4. Wählen Sie Freunde, die Sie als unersetzbar betrachten. Ein Freund, der Sie als uner-
setzlich betrachtet, hat mehr Interesse an Ihrem Wohlergehen als jemand, der Sie als
entbehrlich betrachtet. Füllt man sein Leben mit Freunden, die einen für unersetzlich
ansehen, erhält man, ceteris paribus, größere Vorteile.
5. Wählen Sie Freunde, die die gleichen Ziele und Werte haben. Wenn Sie Ihre Zeit mit
Freunden verbringen, die die gleichen Werte haben, führt dies für beide Seiten zu einer
Bereicherung: indem Ihre Freunde ihre Umwelt so gestalten, dass Sie ihren Wünschen
entspricht, ändern sie sozusagen gleichzeitig auch Ihre Umwelt. Nehmen wir ein trivia-
les Beispiel: Sie lieben wilde Parties und haben einen Freund, der dies ebenso tut. Ihr
Freund macht solche Parties ausfindig, wird zu ihnen eingeladen und besucht diese
auch regelmäßig. Weil Sie mit ihm befreundet sind, können Sie sich ihm ab und zu an-
schließen. Zu geringen oder keinen Kosten gewährt Ihnen Ihr Freund Vorteile, weil sie
die gleichen Ziele haben. In der gleichen Weise gewähren Sie Ihrem Freund Vorteile,
denn Sie arrangieren Ihre Umwelt nach Ihren Vorlieben. Da Ihr Freund diese Vorlieben
teilt, erhält er Vorteile aus diesen Arrangements. Indem man Freunde auswählt, die die
gleichen Werte haben, schafft man sich gegenseitig Vorteile.
Da wir alle über eine begrenzte Anzahl von Nischen für Freundschaften verfügen, sollte
die Selektion psychologische Mechanismen bevorzugen, mit denen wir die von diesen
Freunden gewährten Freundschaftsdienste überwachen können – nicht auf solche
begrenzt, die der Freund absichtlich gewährt, sondern die als Ergebnis geteilter Werte und
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358 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
positiver Äußerlichkeiten fließen, – und den Grad, zu dem diese Vorteile unersetzlich
sind. Nach Tooby und Cosmides (1996) ist das wesentliche Risiko nicht, dass man von
Freunden betrogen wird, wie es der Fall wäre, wenn Freundschaften nur auf reziprokem
Austausch basieren würden. Vielmehr besteht das Risiko in diesem Kontext eher darin,
keine Freundschaften zu bilden, die durch gegenseitiges Engagement charakterisiert sind,
oder von Bekannten umgeben zu sein, statt von echten Freunden. Die psychologischen
Mechanismen, mit denen wir Freundschaften bewerten, sollten daher anzeigen können,
wenn die Zuneigung eines Freundes abnimmt, wenn andere Personen besser geeignet
sind, unsere wertvollen und begrenzten Nischen für die Freundschaft zu füllen, und Sig-
nale darüber, inwieweit wir von unseren Freunden als unersetzlich angesehen werden.
Tief gehendes Engagement versus reziproker Austausch. Die moderne Welt ist mit
sozialen Interaktionen gefüllt, zu denen reziproker Austausch gehört. Jedes Mal wenn wir
etwas einkaufen, tauschen wir Geld gegen Waren. Jedes Mal, wenn man jemanden zum
Mittagessen einlädt und diese Person sich revanchiert und einen das nächste Mal einlädt,
liegt ein reziproker Austausch vor. Aber diese Art des Austausches charakterisiert nicht
wahre Freundschaft. Die Erwartung, dass jemand jeden Gefallen in Form eines ähnlichen
Gefallens erwidert, charakterisiert schwache Freundschaften, denen aufrichtiges Ver-
trauen fehlt (Tooby & Cosmides, 1996).
Was wahre Freunde charakterisiert, ist eine völlig andere Konstellation von Emotionen und
Erwartungen. Wir fühlen uns in der Gesellschaft unserer Freunde wohl und empfinden
Freude und nicht Neid, wenn sie erfolgreich sind. Wir gewinnen tiefe Zufriedenheit aus
geteilten Werten und gemeinsamen Ansichten. Wir helfen unseren Freunden, wenn sie
unserer Hilfe bedürfen ohne zu erwarten, dass unsere Bemühungen sofort erwidert werden.
Das weit verbreitete Gefühl der sozialen Entfremdung hat, so Tooby und Cosmides (1996),
seine Ursache darin, dass die moderne Welt mit eindeutig abhängigem Austausch auf einer
noch nie dagewesenen Ebene gefüllt ist, verbunden mit der Abwesenheit von tief gehender
Bindung, die wahre Freundschaft charakterisiert. Künftige Forschungen der evolutionären
Psychologie werden zweifellos die komplexen Konstellationen psychologischer Mechanis-
men dokumentieren, die der Bildung tief gehender Bindungen gewidmet sind.
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 359
Geschlecht eingegangen werden. Die potentiellen Vor- und Nachteile sind sehr unter-
schiedlich. Eine gleichgeschlechtliche Freundschaft beispielsweise enthält das Potential
intrasexueller Rivalität, eine Freundschaft mit dem anderen Geschlecht jedoch nicht. Sie
bietet jedoch einen Vorteil, den eine gleichgeschlechtliche Freundschaft normalerweise
nicht bieten kann, nämlich einen potentiellen Partner. Bleske und Buss (2001) untersuch-
ten einige Hypothesen über die Vorteile und Nachteile von Freundschaften, indem sie
zwei Informationsquellen der Teilnehmer sammelten: (1) Wahrnehmungen darüber, wie
vorteilhaft (oder nachteilig) verschiedene Dinge sind, wenn man sie von einem Freund
erhält und (2) Berichte darüber, wie oft sie diese Vorteile (oder Nachteile) von ihren
Freunden erhielten.
Die erste Hypothese besagt, dass für Männer mehr als für Frauen kurzfristiger sexueller
Zugang eine Funktion der Freundschaft zum anderen Geschlecht darstellt. Diese Hypo-
these folgert aus der Logik der Theorie der elterlichen Investitionen (Trivers, 1972). Im
Verlauf der menschlichen Evolutionsgeschichte waren Männer das weniger investierende
Geschlecht, da ihr relativer reproduktiver Erfolg hauptsächlich durch die Anzahl der
Frauen eingeschränkt wird, mit denen sie Geschlechtsverkehr haben. Daher haben Män-
ner einen starken Wunsch nach sexuellem Zugang zu einer großen Anzahl von Frauen, zu
denen auch ihre Freundinnen gehören.
Wie vorhergesagt, schätzten Männer das Potential für sexuellen Zugang zu ihren Freun-
den des anderen Geschlechts bedeutend vorteilhafter ein als Frauen, wie in Abbildung 9.3
dargestellt wird. Männer berichteten auch häufiger als Frauen über nicht erwiderte Anzie-
hung zu Freunden des anderen Geschlechts. Frauen berichteten häufiger als Männer über
eine Freundschaft mit dem anderen Geschlecht, in der der Freund sich romantisch von
ihnen angezogen fühlte, dies aber nicht auf Gegenseitigkeit beruhte (Abbildung 9.4).
Zudem wurde Männer häufiger sexueller Zugang zu Freunden des anderen Geschlechts
verweigert, als dies bei Frauen der Fall war. Die Belege unterstützen somit die Hypothese,
dass Männer häufiger als Frauen sexuellen Zugang als Vorteil der Freundschaft zum
anderen Geschlecht sehen.
Beurteilung der Vorteile
2.0
Männer
1.5 Frauen
1.0
0.5
0
GGF AGF
Freundschaft
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360 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
2.0
Männer
1.5 Frauen
Häufigkeit
1.0
0.5
0
GGF AGF
Freundschaft
Die zweite Hypothese über die Funktionen von Freundschaften zum anderen Geschlecht
betrifft die Gewährung von Schutz. Dies trifft mehr für Frauen als für Männer zu. Im Ver-
lauf der Evolutionsgeschichte waren Frauen, die sich Ressourcen (z.B. Nahrung und
materielle Güter) und Schutz von Männern sichern konnten, reproduktiv erfolgreicher als
Frauen, die keine Ressourcen und Schutz für sich und ihren Nachwuchs sichern konnten.
Bleske und Buss (2001) stellten die Hypothese auf, dass Frauen eine Präferenz für Män-
ner haben, die fähig und bereit sind, ihnen Ressourcen und Schutz zu bieten oder die die
Aussichten haben, künftig solche Vorteile zu bieten. In Unterstützung dieser Hypothese
berichten Frauen, dass ihre Freunde des anderen Geschlechts ihnen Schutz gewährten.
Auf einer Skala von 0 bis 6 ergab der von Frauen berichtete Schutz durch Freunde einen
Durchschnittswert von 3,6 Punkten, während der von Männern berichtete entsprechende
Wert im Schnitt bei 1,68 lag, ein statistisch signifikanter Unterschied.
Eine dritte Hypothese besagt, dass Freundschaften zum anderen Geschlecht dazu dienen,
Informationen über dieses zu erhalten. Angesichts der Tatsache, dass Freunde des anderen
Geschlechts über Informationen über ihr eigenes Geschlecht verfügen sollten, nehmen
Männer und Frauen solche Informationen als Vorteil der Freundschaften zum anderen
Geschlecht mehr wahr als bei Freundschaften zum gleichen Geschlecht. Indem man lernt,
was das andere Geschlecht an kurzfristigen oder langfristigen Partnern bevorzugt und dies
Männern und Frauen bei der Lösung von Problemen der Partnersuche hilft, nehmen beide
den Zugang zu derartigen Informationen als vorteilhaft wahr. In Unterstützung dieser
Hypothese berichteten Männer und Frauen, Informationen über das andere Geschlecht
häufiger von Freunden des anderen Geschlechts (M = 2.84) erhalten zu haben als von
gleichgeschlechtlichen Freunden (M = 1.86). In gleichgeschlechtlichen Freundschaften
erhielten Frauen (M = 2.15) häufiger Informationen über das andere Geschlecht als Män-
ner (M = 1.48). Dieser Austausch von Informationen scheint eher ein Vorteil für Frauen als
für Männer in gleichgeschlechtlichen Freundschaften zu sein. Männer und Frauen berich-
teten zudem, dass Informationen über das andere Geschlecht, die sie von Freunden des
anderen Geschlechts (M = 4.15) erhalten hatten, vorteilhafter waren als Informationen von
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 361
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362 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
sich die Geschlechter in ihrer Wahrnehmung der Bedeutung dieses Vorteils? (6) Sind
diese Merkmale kulturübergreifend?
Diese Studien stellen einen Bezug zu einigen dieser Standards dar, wie die Wahrnehmun-
gen von Vorteilen, die Häufigkeit Vorteile zu erhalten und Geschlechtsunterschiede in der
Wahrnehmung und der berichteten Häufigkeit. Obwohl die gegenwärtigen Studien nicht
eindeutig zwischen Vorteilen und Funktion von Freundschaften unterscheiden können,
identifizieren sie Vorteile, die für künftige Untersuchungen der möglichen Funktionen
von Freundschaft interessant sind.
Kooperative Koalitionen
Menschen bilden auch kooperative Koalitionen – Allianzen, die aus mehr als zwei Indivi-
duen bestehen mit dem Zweck, durch gemeinsame Handlungen ein bestimmtes Ziel zu
erreichen. Unter den Jäger-Sammler-Gesellschaften dienten diese Koalitionen normaler-
weise Zielen wie der Großwildjagd, dem Teilen der Nahrung, dem Angriff auf eine
Gruppe, der Verteidigung gegen Angriffe anderer Gruppen und zum Bau von Unterstän-
den. Es ist anzunehmen, dass Menschen spezialisierte psychologische Mechanismen zur
Förderung kooperativer Allianzen entwickelt haben.
Koalitionen stehen jedoch großen Problemen gegenüber, die ihre Entstehung unterminie-
ren können: Abtrünnigkeit und free-riding (Trittbrettfahren). Ein Beispiel der Abtrünnig-
keit findet man bei den Yanomamö in Venezuela (Chagnon, 1983). Wenn eine Gruppe
von Yanomamö eine benachbarte Gruppe anzugreifen beginnt, behaupten ein oder meh-
rere Männer der Gruppe, sie hätten einen scharfen Dorn im Fuß oder Bauchschmerzen
und müssten deshalb nach Hause zurückkehren. Dieses Verhalten gefährdet den Erfolg
der Koalition, und Männer, die diese Entschuldigungen zu oft verwenden, werden als
Feiglinge gebrandmarkt. Aber Tatsache ist, dass Individuen manchmal von ihren Koali-
tionen abfallen und so ihren Erfolg gefährden.
Ein ebenso ernsthaftes Problem stellt das Trittbrettfahren dar: am Erfolg einer Koalition
teilzuhaben, aber nicht ihren Anteil zum Erfolg einer Koalition einzubringen, obwohl
man dies durchaus könnte. Ein Beispiel sind Menschen, die immer dann kein Bargeld
dabei haben, wenn es ans Bezahlen der Rechnung im Restaurant geht und die so Vorteile
der Gruppe in Anspruch nehmen, ohne ihren Anteil zu übernehmen. Die Probleme der
Abtrünnigkeit und des Trittbrettfahrens sind so schwer wiegend, dass viele Analysen der
Spieltheorie in Biologie und Wirtschaft zeigen, dass kooperative Koalitionen dadurch
zusammenbrechen. Abtrünnigkeit wird oft zur evolutionarily stable strategy (evolutionär
stabilen Strategie) die von einer anderen Strategie weder übervorteilt noch abgelöst wer-
den kann, sobald sie in einer Gesellschaft praktiziert wird (Maynard Smith & Price,
1973). Damit kooperative Koalitionen entstehen können, müssen daher die Probleme des
Trittbrettfahrens und von potentieller Abtrünnigkeit gelöst werden.
Evolutionswissenschaftler haben daher ihre Aufmerksamkeit auf die Bestrafung der Tritt-
brettfahrer gerichtet (Boyd & Richardson, 1992; Gintis, 2000; Henrich & Boyd, 2001).
Kooperative Koalitionen sind solange erfolgreich, wie Trittbrettfahren sanktioniert wird.
Experimente haben gezeigt, dass höhere Ebenen der Kooperation stattfinden, wenn Tritt-
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 9 Kooperative Allianzen 363
brettfahrer bestraft werden, d.h. denjenigen Strafen auferlegt werden, die ihren Anteil
nicht beitragen. Aber die Bestrafung von Trittbrettfahrern führt zum nächsten Problem:
Wer trägt die Kosten der Bestrafung? Angehörige der Koalition, die Trittbrettfahrer
bestrafen, leisten ein Engagement, das zu den Verweigerern dieser Bestrafung in Bezug
steht. Somit muss es eine Möglichkeit geben, die Verweigerer der Bestrafung von Tritt-
brettfahrern zu bestrafen. Obwohl die Forschung bisher noch nicht zu einem Konsens
darüber gekommen ist, wie dieses Problem gelöst werden kann, gibt es zunehmende
Belege dafür, dass wir über Adaptationen verfügen, um Trittbrettfahrer im Kontext koo-
perativer Koalitionen zu bestrafen (Price, Cosmides & Tooby, 2002). Wenn es Bestrafun-
gen für die gibt, die sich weigern, ihren Anteil einzubringen, entstehen Kooperationen auf
hoher Ebene (Fehr, Fischbaher & Gachter, 2002; Kurzban et al., 2001).
Eine Hypothese besagt, dass sich in der Evolution kooperativer Koalitionen eine Strafbe-
reitschaft (punitive sentiment) (strafendes Gefühl/Ansicht) als Lösung des Problems des
Trittbrettfahrens entwickelte; diese äußert sich in dem Wunsch, „Bummelanten“ in der
Gruppe Schaden zuzufügen (Price et al., 2002). Diese Strafbereitschaft könnte auf min-
destens zwei Arten operieren: zum einen das Individuum motivieren, Trittbrettfahrer zu
bestrafen und zum anderen Gruppenmitglieder ermutigen, Trittbrettfahrer ebenfalls zu
bestrafen. Im Prinzip könnte eine derartige Strafbereitschaft zwei unterschiedliche Funk-
tionen haben: (1) die Chance zu erhöhen, dass ein widerwilliges Mitglied der Gruppe sei-
nen Anteil beiträgt und (2) die Fitness des Trittbrettfahrers verglichen mit denen, die zur
kooperativen Koalition beitragen, zu beeinträchtigen, d.h. „nachteilige Fitness-Unter-
schiede zu eliminieren“ (Price et al., S. 210).
In einer faszinierenden empirischen Studie untersuchten Price et al. (2002), wodurch das
Ausmaß der Strafbereitschaft in einer hypothetischen Koalition am besten vorhergesagt
werden konnte. Es ging dabei um die Bereitschaft, zur Armee zu gehen, wenn die Verei-
nigten Staaten in den Krieg ziehen. Der beste Prädikator für Strafbereitschaft war dabei
der Grad der eigenen Beteiligung an der kooperativen Koalition. Je bereitwilliger eine
Person sich beteiligte (z.B. zur Armee eingezogen zu werden), desto mehr wollte die Per-
son diejenigen bestrafen, die sich beteiligen hätten können, dies aber nicht taten (z.B. die
den Dienst in der Armee verweigerten). Diese Studie legt also den Schluss nahe, dass die
Evolution eine Bereitschaft hervorgebracht hat, die Fitness-Vorteile, die sich Trittbrettfah-
rer erschleichen möchten, wieder zu eliminieren – auch wenn die Hypothese, dass die
Funktion einer derartigen Strafbereitschaft auch darin liegen könnte, die Chancen auf
eine Teilnahme an der Koalition zu erhöhen, nicht ausgeschlossen werden kann.
Wenn Sie also das nächste Mal Bummelanten bestrafen wollen, die ihren Anteil zur
Gruppe nicht beitragen wollen, wissen Sie warum: Dieses Bedürfnis ist wahrscheinlich
eine Manifestationen eines „punitive sentiment“, das im Laufe der Evolution entwickelt
wurde, um das in kooperativen Koalitionen auftretende Problem des Trittbrettfahrens zu
lösen. Die Studien zu kooperativen Koalitionen befinden sich noch im Anfangsstadium.
Da wir wissen, dass Menschen kooperative Gruppen bilden, ist es wahrscheinlich, dass
sie spezielle psychologische Mechanismen entwickelt haben, adaptive Probleme zu
lösen, die bei der Bildung dieser Koalitionen entstanden, zu denen auch die Verringerung
der durch Trittbrettfahren verursachten Kosten gehört.
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364 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Zusammenfassung
Wir begannen dieses Kapitel mit dem Problem des Altruismus: Merkmale, die der
Reproduktion anderer Individuen von Nutzen sind, obwohl dem Altruisten dadurch,
dass er diese Merkmale hat, selbst Kosten entstehen. Der Altruismus verstößt gegen
Hamiltons Regel; es ist also unklar, wie er entstehen konnte. Eine Lösung ist die The-
orie des reziproken Altruismus, nach der sich psychologische Mechanismen zur
Gewährung von Vorteilen an Nicht-Verwandte dann entwickeln können, wenn die
Gewährung dieser Vorteile den Empfänger veranlasst, diese zu einem späteren Zeit-
punkt zu erwidern. Das größte Problem des reziproken Altruisten stellen Betrüger
dar, die Vorteile in Anspruch nehmen, ohne sie später zu erwidern.
Eine Lösung dieses Problems kommt von einem Computerturnier, das Robert Axel-
rod durchführte. Er entdeckte, dass Tit For Tat – eine Strategie, nach der ein Indivi-
duum beim ersten Schritt kooperiert, aber jeden weiteren Zug erwidert – sehr erfolg-
reich ist. Sie scheint die Kooperation zu fördern, trägt aber auch dazu bei, ein
Problem des Altruisten - nämlich durch unkooperatives Verhalten seitens anderer aus-
geblendet zu werden - zu lösen, indem sie derartiges Verhalten sofort bestraft.
Beispiele reziproken Altruismus sind in der Tierwelt reichlich vorhanden. Vampirfleder-
mäuse teilen ihr Blut mit „Freunden“, die kein Jagdglück hatten. Später erwidern die
Freunde die Blutspende und spenden ihre Nahrung vorzugsweise denen, die ihnen vor
kurzem geholfen hatten. Paviane, grüne Meerkatzen und Schimpansen bilden ebenfalls
reziproke Allianzen. Die Paviane und grünen Meerkatzen, die Hilfe gewähren, erhalten
auch häufig Hilfe. Paviane und grüne Meerkatzen tendieren dazu, stabile Allianzen zu bil-
den, so dass der Freund, der um Hilfe bittet, diese zu einem späteren Zeitpunkt meist
erwidert. Diese Hilfsdienste sind wahrscheinlich eher das Ergebnis reziproken Altruismus
als verwandtschaftlicher Verhältnisse. Unter Schimpansen bilden sich reziproke Allian-
zen zwischen Männchen, zwischen Weibchen sowie zwischen Männchen und Weibchen.
Die Theorie des sozialen Vertrags postuliert die Evolution von fünf kognitiven Kapazi-
täten beim Menschen, die das Problem der Betrüger lösen und eine erfolgreiche Beteili-
gung am sozialen Austausch erlauben. Menschen müssen andere Individuen erkennen;
ihre gemeinsame Geschichte der Interaktionen erinnern; anderen die eigenen Werte,
Wünsche und Bedürfnisse mitteilen; die Werte, Wünsche und Bedürfnisse anderer
registrieren und die Kosten und den Nutzen einer großen Anzahl von Dingen unabhän-
gig von deren Inhalt repräsentieren. Forscher haben gezeigt, dass Menschen Mechanis-
men zur Aufdeckung von Betrügern entwickelt haben - diese Mechanismen wurden
entdeckt, als die Fähigkeit logischen Denkens anhand von Problemen in Form sozialer
Verträge untersucht wurde. Menschen scheinen besonders aufmerksam zu sein, wenn es
darum geht, diejenigen zu finden, die Vorteile angenommen haben, ohne dafür gezahlt
zu haben. Zusätzlich zu Adaptationen zur Entlarvung von Betrügern deuten neuere
Belege auf eine spezielle Fähigkeit hin, diejenigen mit aufrichtigen altruistischen
Ansichten zu erkennen. Diejenigen als Verbündete zu wählen, die motiviert sind zu
kooperieren, ist eine wichtige Strategie, um nicht Betrügern aufzusitzen.
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Kapitel 9 Kooperative Allianzen 365
Die Evolution von Freundschaften wirft ein besonderes Problem auf, das durch das
Paradoxon der Banken erfasst wird: Obwohl Banken Kredite denjenigen gewähren,
die Geld benötigen, stellen die, welche am dringendsten Geld benötigen, das größte
Kreditrisiko dar. Daher gewähren die Banken denjenigen Kredite, die das Geld am
wenigsten benötigen, und verweigern es denen, die es am dringendsten benötigen.
Ähnlich geht es auch uns, denn wenn wir dringend Hilfe von unseren Freunden benö-
tigen, stellen wir meist ebenfalls ein großes Kreditrisiko dar und können die Vorteile,
die uns gewährt werden, nicht erwidern. Eine Lösung zu diesem Paradoxon besteht
darin, unersetzlich zu werden: wenn wir Vorteile gewähren, die sonst keiner gewäh-
ren kann, haben unsere Freunde einen großen Anteil an unserem Wohlergehen und
werden uns helfen, wenn wir ihre Hilfe benötigen. Eine wichtige Unterscheidung ist
die zwischen Bekannten und echten Freunden. Wenn wir Hilfe am meisten benötigen,
erkennen wir am Verhalten, wer ein echter Freund ist. Es ist möglich, dass das Gefühl
der Entfremdung, das viele Menschen haben, seinen Ursprung in der Tatsache hat,
dass Menschen so viele „feindliche Kräfte der Natur“ gezähmt haben und es daher
weniger wahrscheinlich ist, dass sie lebensbedrohlichen Ereignissen ausgesetzt sind.
Diese ermöglichen ihnen herauszufinden, wer ihre wahren Freunde sind, die an ihrem
Wohlergehen interessiert sind. Obwohl Menschen viele Freundschaften eingehen,
haben viele das Gefühl, dass andere nicht sehr in ihr Leben involviert sind.
Es wurde viel Arbeit in die Funktionen der Freundschaft durch Erforschung der erhalte-
nen Vorteile (und Nachteile) von Freundschaften gesteckt. Männer und Frauen bilden
gleichgeschlechtliche Freundschaften sowie Freundschaften mit dem anderen Geschlecht.
Die Belege deuten auf Geschlechtsunterschiede in den Funktionen der Freundschaften
hin. Männer nehmen - mehr als dies bei Frauen der Fall ist - kurzfristigen sexuellen
Zugang als Vorteil von Freundschaften zum anderen Geschlecht wahr. Frauen nehmen,
mehr als dies bei Männern der Fall ist, Schutz als Vorteil von Freundschaften zum anderen
Geschlecht wahr. Beide Geschlechter sehen das Erhalten von Informationen über das
andere Geschlecht als einen wichtigen Vorteil dieser Freundschaften.
Ein Kostenfaktor gleichgeschlechtlicher Freundschaften ist das Potential sexueller
Rivalität. Sexuelle Rivalität scheint häufiger zwischen männlichen als zwischen
weiblichen Freunden aufzutauchen, vielleicht weil Männer einen stärkeren Wunsch
nach kurzfristigen sexuellen Kontakten haben, was dann dazu führt, dass sie häufiger
in Konflikt miteinander geraten.
Zusätzlich zu dyadischen Allianzen bilden Menschen auch kooperative Koalitionen,
das sind Gruppen, die durch gemeinsame Aktionen ein gemeinsames Ziel erreichen
wollen. Adaptationen um diese kooperativen Koalitionen zu bilden, entwickeln sich
nur, wenn das Problem des Trittbrettfahrens gelöst werden kann. Empirische Belege
legen nahe, dass Strafbereitschaft ein Teil der Lösung sein könnte. Der Ärger, den
Menschen gegen Gruppenmitglieder fühlen, die ihren Anteil in der Gruppe nicht
erbringen, motiviert Sanktionen, die zur Bestrafung von Trittbrettfahrern führen. For-
schungen im kommenden Jahrzehnt werden andere psychologische Mechanismen
offen legen, die in kooperativen Koalitionen eingesetzt werden.
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366 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Weiterführende Literatur
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Kapitel
10 Aggression und
Kriegsführung
Aus evolutionärer Sicht ist die Hauptursache für Gewalt die Männlichkeit.
– Robert Wright, 1995
Eines Nachmittags im Januar 1974 bildete eine Gruppe von acht Schimpansen aus dem
Gombe-National-Park in Tansania einen Schlägertrupp und bewegte sich nach Süden
(Wrangham & Peterson, 1996). Auf ihrem Weg in Richtung der Grenze ihres heimat-
lichen Territoriums bemühten sie sich sichtlich, leise zu sein und ungesehen vorwärts zu
kommen. Sie überquerten die Grenze, wobei sie von Hillali Matama, einem Mitglied von
Jane Goodalls Gombe-Team verfolgt wurden. In nächster Nähe befand sich Godi, ein jun-
ges Männchen von ca. 21 Jahren, das sich friedlich an den reifen Früchten eines Baumes
labte. Normalerweise machte sich Godi zusammen mit seinen Kameraden, den sechs
anderen Männchen der Kahama-Schimpansen-Gruppe, auf Nahrungssuche, heute aber
war er allein unterwegs.
Godi bemerkte die acht Eindringlinge erst, als sie seinen Baum bereits erreicht hatten.
Mit einem verzweifelten Satz versuchte Godi ihnen zu entkommen, sie holten ihn jedoch
sofort ein und brachten ihn zu Fall, indem sie seine Beine festhielten. Humphrey, einer
der Anführer des Schlägertrupps hielt Godis Arme und Beine fest, so dass dieser sich
nicht mehr bewegen konnte, während die anderen sich um die beiden gruppierten. Wäh-
rend Godis Gesicht weiterhin in den Staub gedrückt wurde, griffen die anderen Männ-
chen an. Wild schreiend, kratzend, beißend und um sich schlagend fielen die Angreifer
über Godi her wie eine Horde menschlicher Teenager über ein einzelnes Opfer, das zu
seinem Pech zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nach zehn Minuten ließen
die Angreifer von Godi ab und er sah zu, wie sie wieder in ihr heimatliches Revier
zurückkehrten. Godi blutete aus über einem Dutzend Wunden und war von Schrammen
übersäht. Die Forscher sahen ihn nicht wieder. Zwar starb er nicht direkt bei diesem
Angriff, sie waren sich jedoch fast sicher, dass er einige Tage oder eine Woche später sei-
nen Verletzungen erlag.
Das Bemerkenswerte an diesem Angriff war nicht seine Brutalität oder das große Maß an
Koordination, womit die Eindringlinge ihr Opfer überwältigten. Bemerkenswert war,
dass hier zum ersten Mal ein Mensch beobachten konnte, wie Schimpansen in ein
benachbartes Revier eindrangen, um einen Feind anzugreifen, der in der Folge starb.
Außerdem brachte der Angriff die Wissenschaftler dazu, ihre lang gehegte Vermutung in
Frage zu stellen, dass andere Primaten friedliebend und harmonisch sind und dass nur
Menschen ihre eigenen Artgenossen umbringen. Auch hinterfragten sie dadurch die lang
gehegte Vermutung, dass Schimpansen eine „arkadische Existenz ursprünglicher
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368 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Unschuld“ verkörperten oder sogar das friedliche „Paradies, das dem Menschen irgend-
wie verloren gegangen war“ (Ardry, 1996, S. 222). Führende Wissenschaftler gingen
sogar soweit, aus diesem Zwischenfall den Schluss zu ziehen, dass „die männliche
Gewalt, die Schimpansengemeinschaften umgibt und bedroht, so extrem ist, dass es den
Tod bedeutet, wenn ein Mitglied der falschen Gruppe zufällig zur falschen Zeit am fal-
schen Ort ist“ (Wrangham & Peterson, 1996, S. 21).
Natürlich sind Schimpansen keine Menschen und wir sollten uns vor oberflächlichen Ver-
gleichen zwischen Menschen und anderen Arten in Acht nehmen. Belege über die extre-
men Aggressionen zwischen Schimpansen sagen für sich genommen noch nichts aus über
die Aggressionen zwischen Menschen. Wrangham und Peterson (1996) machten jedoch
eine bemerkenswerte Beobachtung. Nur zwei der über zehn Millionen existierenden Tier-
arten, darunter viertausend Säugetiere, zeigen wissenschaftlichen Belegen zufolge inten-
sive, vom Männchen ausgehende territoriale Aggressionen, die sich zum Beispiel in der
Bildung von Gruppen äußern, welche in benachbarte Reviere eindringen und tödliche
Angriffe auf Vertreter ihrer eigenen Art verüben. Diese beiden Arten sind Schimpansen
und Menschen.
Wie bei den Schimpansen, so tun sich auch bei den Menschen Männer zu aggressiven
Gruppen zusammen, in denen sich alle Mitglieder gegenseitig in dem gemeinsamen Ziel
unterstützen, gegen andere aggressiv zu sein. Die Geschichte der Menschheit steckt voller
Beispiele für solche Rivalitäten: die Spartaner und die Athener, die Kreuzzüge, die Hat-
fields und die McCoys, die Palästinenser und die Israelis, die Tutsis und die Hutus. In
allen Kulturen haben sich meist Männer zusammengeschlossen, um andere Gruppen
anzugreifen oder ihre eigene Gruppe zu verteidigen. Es gibt keine andere bekannte Spe-
zies, die dieses einzigartige Aggressionsmuster mit den Menschen und den Schimpansen
gemeinsam hat (Wrangham & Peterson, 1996).
Aufgrund dieser Beobachtungen können wir uns nun fragen: Woher kommt die mensch-
liche Aggression? Wie sehen die Hauptaggressionsmuster aus – wer wird aggressiv und
unter welchen Umständen? Warum existiert sie in dieser Form? Dies sind die Fragen, mit
denen wir uns in diesem Kapitel auseinandersetzen werden.
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 369
Oft bilden Menschen, besonders Männer, Koalitionen mit dem Ziel, anderen gewaltsam
Ressourcen abzunehmen. Bei den Yanomamö beispielsweise überfallen solche Männer-
gruppen Nachbarstämme und zwingen diese, ihnen Nahrungsmittel und Frauen im gebär-
fähigen Alter zu überlassen (Chagnon, 1983). Im Laufe der gesamten menschlichen
Geschichte kam es immer wieder zu Kriegen, in denen die Sieger gegnerische Länder
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370 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 371
weil er herausgefunden hat, dass dieser mit seiner Freundin oder Ehefrau eine Affäre
hatte (Daly & Wilson, 1988).
Da die Evolution sich auf Unterschiede in genetischen Entwürfen auswirkt, können dem
Gegner verursachte Nachteile gleichzeitig Vorteile für den Angreifer sein. Gemäß dieser
dritten evolutionstheoretisch motivierten Hypothese besteht eine wichtige Funktion ver-
baler und physischer Aggression darin, gleichgeschlechtlichen Rivalen Kosten zu verur-
sachen.
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372 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 373
aggressiv zur Wehr setzt (Nisbett, 1993). Eine Tochter, die Schande über den Familienna-
men gebracht hat, weil sie vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatte, könnte umgebracht wer-
den, denn dies könnte als „ehrbare“ Lösung gelten, um den Ruf der Familie wiederherzu-
stellen (Daly & Wilson, 1988). Bleibt die Tochter am Leben, so könnte das in diesen
Kulturen einen Statusverlust für die gesamte übrige Familie zur Folge haben.
Eine weitere Art von Kosten ergibt sich aus der Fähigkeit und Bereitschaft des Opfers,
Rache zu nehmen. In der Schule suchen sich die aggressiven Kinder meist schwächere
Gegner oder Außenseiter aus, die sich nicht wehren können oder wollen (Olweus, 1978).
Ähnlich wird ein Ehemann, dessen Frau vier starke Brüder und einen mächtigen Vater in
der Nähe wohnen hat, es sich zweimal überlegen, sie zu schlagen, wenn sie mit einem
anderen Mann geflirtet hat. Die Gegenwart weiterer Familienmitglieder ist also ein Auf-
wand-Kontext, der Gewaltanwendung in der Ehe abmildern wird. Neuere empirische
Ergebnisse bestätigen diese Vorhersage. Eine Studie über häusliche Gewalt in Madrid
ergab, dass Frauen, die mehr leibliche Verwandte in und um Madrid hatten, weniger oft
häusliche Gewalt erlebten (Figueredo, 1995). Gab es direkt in Madrid mehr leibliche Ver-
wandte, so bewirkte das einen noch größeren Schutz vor Gewalt, was die Bedeutung
räumlicher Nähe zu den Verwandten bestätigt.
In einigen Situationen wird sich Gewaltanwendung negativ auf die Reputation des
Angreifers auswirken. In akademischen Kreisen beispielsweise ist Gewaltanwendung
verpönt und wer dennoch aggressiv handelt, wird ausgegrenzt. Bei den Mitgliedern eini-
ger Straßengangs hingegen führt es zu einem unwiederbringlichem Statusverlust, wenn
sich ein Angegriffener nicht aggressiv wehrt (Campbell, 1993).
Der wesentliche Punkt ist, dass die evolutionspsychologische Perspektive vorhersagt,
dass die evolutionsbedingten Mechanismen darauf ausgerichtet sind, auf Kontexte und
nicht auf das starre, immer gleiche Auftreten von Aggression zu reagieren, wie dies in
früheren Instinktstudien dargestellt wurde. Deshalb widerlegen Erkenntnisse über die
Variabilität von Aggression je nach Kultur, Kontext und Individuum einzelne evolutio-
näre Hypothesen keineswegs. Eben genau anhand dieser unterschiedlichen Reaktionen
auf bestimmte Kontexte kann man diese Hypothesen überprüfen (Dekay & Buss, 1992).
Frühere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet kamen zu dem Ergebnis, dass die Variabi-
lität gleichzeitig die „biologischen“ Theorien widerlegte und die „Lerntheorien“ bestä-
tigte. Die evolutionäre Psychologie wirft diese falsche Trennung über Bord, indem sie ein
spezielles Modell der Interaktion vorstellt: durch bestimmte adaptive Probleme hervorge-
rufene Aggression trifft auf bestimmte Kosten-Nutzen-Kontexte. Prinzipiell können die
Aggression auslösenden Mechanismen das ganze Leben eines Individuums verborgen
bleiben, wenn es nicht den jeweiligen Kontexten begegnet. So gesehen basiert Aggression
zwar auf evolutionsbedingten psychologischen Mechanismen, sie ist aber nicht starr oder
immer gleich und bricht auch nicht unabhängig von den jeweiligen Umständen aus.
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374 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 375
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376 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
ner Dimorphismen beim Menschen entspricht in etwa dem unserer Vorfahren, die vor
50.000 Jahren lebten. Zweikämpfe zwischen Männern wie auch zwischen anderen Säuge-
tieren, die geschlechtsbezogene Dimorphismen aufweisen, sind ein Hauptgrund für Ver-
letzungen und Todesfälle bei den männlichen Vertretern der Art.
Der moderne Mensch hat die psychologischen Mechanismen geerbt, die unsere Vorfahren
zum Erfolg führten. Das bedeutet nicht, dass Männer bewusst oder unbewusst den
Wunsch haben, ihren reproduktiven Erfolg zu steigern. Es bedeutet auch nicht, dass Män-
ner einen „Aggressionsinstinkt“ haben, im Sinne einer gewissen angestauten Energie, die
sich äußern muss. Vielmehr haben Männer von ihren Vorfahren psychologische Mecha-
nismen geerbt, die auf Kontexte sensitiv reagieren, in denen Aggression mit hoher Wahr-
scheinlichkeit zur erfolgreichen Lösung eines bestimmten adaptiven Problems führt.
Daraus ergibt sich eine effektive Erklärung für beide Tatsachen, die aus kulturübergrei-
fenden Mord-Statistiken abzulesen sind. Männer sind häufiger gewalttätig, da sie das Pro-
dukt einer langen Geschichte zwar schwacher aber doch ständig präsenter effektiver Poly-
gynie sind, die durch die riskanten Strategien des intrasexuellen Wettbewerbs um den
Zugang zum investierenden Geschlecht geprägt ist. Die Tatsache, dass Männer durch-
schnittlich sieben Jahre früher sterben als Frauen, ist nur eine Auswirkung dieser aggres-
siven intrasexuellen Strategie (Trivers, 1985).
Männer sind sehr viel häufiger Opfer von aggressiven Handlungen als Frauen, da sie
meist mit anderen Männern im Wettbewerb stehen. Es sind Männer, die ihnen bei der Ver-
folgung ihrer Strategie am ehesten in die Quere kommen, und Männer versperren ihnen
auch den Zugang zu den Ressourcen, die sie brauchen, um erfolgreich um Frauen werben
zu können. Außerdem sind es Männer, die ihnen auch den Zugang zu anderen Frauen
nehmen wollen. Nur der Sieger macht die Beute. Die Verlierer bekommen keine Partne-
rin, sie werden sogar verletzt oder sterben vorzeitig.
Auch Frauen werden aggressiv und ihre Opfer sind meist ebenfalls Vertreter ihres eigenen
Geschlechts. In Studien über verbale Aggression in Form von Angriffen auf Rivalinnen
zeigte sich, dass Frauen diese dadurch angreifen, dass sie ihre äußere Erscheinung und
damit auch ihren reproduktiven Wert schlecht machen (Buss & Dedden, 1990; Campbell,
1993, 1999). Von Frauen angewendete Formen der Aggression sind aber in der Regel
weniger heftig und gewalttätig und damit auch risikoärmer als männliche Aggressionsfor-
men – Tatsachen die durch die Theorien der elterlichen Investitionen und der sexuellen
Selektion (siehe Campbell, 1995) erklärt werden können. Die Selektion kann sich sogar
auf diejenigen Frauen negativ auswirken, die in Bezug auf Aggressionsäußerungen ein
großes physisches Risiko eingehen. Die evolutionäre Psychologin Anne Campbell argu-
mentiert, dass Frauen mehr Wert auf ihr eigenes Leben legen müssen als Männer, denn
Neugeborene und Kleinkinder sind stärker auf die mütterliche als auf die väterliche Für-
sorge angewiesen (Campbell, 1999). Die evolutionsbedingte Psychologie der Frau sollte
also von einer größeren Furcht vor Situationen gekennzeichnet sein, die eine physische
Bedrohung oder Verletzung mit sich bringen können – eine Vorhersage, die durch empiri-
sche Ergebnisse eindeutig bestätigt wird (Campbell, 1999).
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378 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
vollsten Vergleich beider Geschlechter, wenn man den Anteil der durch Männer verübten
gleichgeschlechtlichen Tötungen errechnet (d.h. den Prozentsatz der Tötungen, die von
Männern an Männern begangen wurden). Ausgewählte Daten hierzu finden sich in
Tabelle 10.1.
Die in Tabelle 10.1 aufgelisteten Daten weisen eine überwältigende Konsistenz auf. In
allen Kulturen, aus denen Daten zur Verfügung standen, wurden sehr viel mehr Morde
von Männern an Männern verübt als von Frauen an Frauen. Dennoch weisen verschie-
dene Vorkommnisse, über die auch in der Presse berichtet wird, darauf hin, dass Frauen
immer häufiger gewalttätig agieren und Verbrechen begehen (Daly & Wilson, 1988).
Einige zeigen, dass dies die „dunkle Seite“ der weiblichen Emanzipation sei, im Zuge
derer die Frauen den Männern immer ähnlicher werden.
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 379
Die höhere Anzahl verübter Verbrechen ist tatsächlich ausschließlich auf die gestiegene
Anzahl weiblicher Festnahmen aufgrund geringfügiger Diebstähle zurückzuführen. Es
gibt keine Belege dafür, dass Frauen auch mehr Gewaltverbrechen, z.B. Morde, begehen.
Daly und Wilson (1988) schlossen daraus, dass es „tatsächlich keine Belege dafür gibt,
dass Frauen in irgendeiner Kultur jemals in dem Maße in gewaltsame Konflikte verwi-
ckelt waren wie Männer der gleichen Kultur“ (S. 149, Hervorhebung auch im Original).
Gleichgeschlechtliche Gewalt in der Schule. Mord ist die extremste Form der Aggres-
sion, doch auch bei schwächeren Aggressionsformen zeigen sich ähnliche geschlechtsbe-
zogene Unterschiede, so etwa bei Gewaltausübung in der Schule. In einer Studie unter-
suchten Forscher (Ahmad & Smith, 1994) 226 Grundschüler (8- bis 11-jährig) und 1.207
Schüler weiterführender Schulen (11- bis 16-jährig). Anhand eines anonymen Frage-
bogens befragten sie jeden Schüler, wie oft er bereits das Opfer von Aggression durch
andere Mitschüler gewesen war, wie oft er sich bereits einer Gruppe von Schülern ange-
schlossen hatte, die anderen gegenüber aggressiv war, und wie genau diese Aggressionen
aussahen. Die Wissenschaftler fanden in allen Bereichen große Unterschiede zwischen
den Geschlechtern. So gaben beispielsweise 54% der Grundschüler an, sich schon einmal
an aggressiven Handlungen gegen andere Schüler beteiligt zu haben, bei den Grundschü-
lerinnen lag dieser Prozentsatz dagegen nur bei 34%. In den weiterführenden Schulen
beantworteten 43% der Jungen und nur 30% der Mädchen diese Frage mit Ja.
Diese Geschlechtsunterschiede unterschätzen jedoch die tatsächliche Häufigkeit gewalt-
samer Aggression. Untersucht man die Formen der Aggression genauer, so findet sich ein
noch größerer Unterschied. In den weiterführenden Schulen gaben 36% der Jungen, aber
nur 9% der Mädchen an, körperlich verletzt z.B. geschlagen oder getreten worden zu sein.
Außerdem gaben 10% der Jungen und nur 6% der Mädchen an, dass man ihnen ihre
Sachen weggenommen habe – ein Ergebnis, das die Hypothese unterstützt, dass eine
Funktion der Aggression darauf abzielt, die Ressourcen anderer für sich zu gewinnen. Bei
zwei Aggressionsformen waren Mädchen jedoch häufiger betroffen als Jungen. Ganze
74% der Mädchen gaben an, man habe ihnen Schimpfworte nachgerufen, während der
entsprechende Prozentsatz bei den Jungen nur bei 57% lag. Noch deutlicher war das
Ergebnis bei dem Punkt „Man hat Gerüchte über mich verbreitet“. Hier waren 30% der
Mädchen, aber nur 17% der Jungen betroffen.
Der Inhalt der verbalen Aggressionsäußerungen ist sehr aufschlussreich. Die am häufigs-
ten gebrauchten Schimpfworte und Gerüchte, die von Mädchen über andere Mädchen in
Umlauf gebracht wurden, waren „Miststück“, „Schlampe“, „Flittchen“ und „Hure“. Sol-
che Formen verbaler Aggression traten unter Schülerinnen der weiterführenden Schulen
häufig auf, waren aber bei Grundschülern praktisch nicht vorhanden. Dies lässt auf einen
Anstieg des intrasexuellen Wettbewerbs um Partner schließen, in dem die Betroffenen all-
mählich auf die adaptiven Probleme der Partnerwahl stoßen.
Ähnliche geschlechtsbezogene Unterschiede konnte man auch in anderen Kulturen beob-
achten. In einer in Turku, Finnland, durchgeführten Studie wurden 127 15-jährige Schüler
sowohl durch Aussagen ihrer Mitschüler als auch aufgrund von Selbsteinschätzung beur-
teilt (Bjorkqvist, Lagerspetz, & Kaukiainen, 1992). Jungen zeigten dabei mehr als drei-
mal so häufig physisch aggressives Verhalten wie Mädchen. Diese direkte physische
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Aggression zeigte sich, indem sie anderen ein Bein stellten, ihnen Dinge wegnahmen, tra-
ten und schlugen, in Spielen Rache suchten und andere schubsten und stießen. Indirekte
Aggression wurde anhand von Aktionen gemessen, wie über andere zu lästern, sie zu
beleidigen, aus Rache böse Gerüchte über sie zu verbreiten, den Kontakt zu bestimmten
Personen abzubrechen und sich aus Rache mit anderen anzufreunden. Bei den 15-jähri-
gen Mädchen lag der Anteil indirekter Aggressionen um etwa 25% höher als bei den Jun-
gen gleichen Alters.
Zusammengefasst bestätigen auch Studien über Aggressionen in der Schule die Vorher-
sage eines geschlechtsbezogenen Unterschieds beim Einsatz von Gewalt und risikorei-
chen Aggressionsformen. Männer wenden diese Formen häufiger an als Frauen. Dieser
Unterschied zeigt sich bei Umfragen in Universitäten (Gladue, 1991) wie auch bei
aggressiven Autofahrern: Männer fahren schneller als Frauen, sie drängeln häufiger und
schneiden auch beim Spurwechsel häufiger andere Autos (Atzwanger, 1995). Wenn
Frauen aggressiv sind – und auch das kommt vor – so setzen sie eher weniger gewaltsame
Methoden ein, etwa verbale Beschimpfungen ihrer Konkurrentinnen.
Aggression in einer australischen Aborigines-Gemeinschaft. Die Anthropologin Victo-
ria Burbank verbrachte mehrere Monate mit der Erforschung einer Gemeinschaft, die sie
Mangroven nannte, eine Gemeinschaft von etwa 600 australischen Aborigines aus dem
südöstlich gelegenen Arnhem-Gebiet. Sie wandte eine ungewöhnliche Methode an, die
aber wahrscheinlich genauso valide ist wie jede andere Methode anderer Sozialwissen-
schaftler. Burbank erfasste 793 Fälle aggressiven Verhaltens. Viele wurden ihr durch die
Bewohner, meist Frauen, mündlich zugetragen, In etwa einem Drittel der Fälle gaben
zwei oder mehr „Informanten“ ihr Wissen über denselben aggressiven Vorfall weiter. In
51 Fällen schilderte Burbank ihre eigenen Beobachtungen aggressiver Handlungen. Hier
beispielhaft einer von Burbanks (1992) Berichten:
In der Nähe befand sich [ein Mann] mit zwei seiner Frauen, als ein „Bruder“ ver-
suchte, sie voneinander wegzuziehen. „Du kannst sie nicht haben,“ sagte er. „Wir
werden im Camp kämpfen.“ Da stach der Ehemann dem jungen Mann in die Seite,
so dass seine Eingeweide heraustraten. Kaum hatte er das getan, als einige Män-
ner den jungen Mann ergriffen, den Ehemann aber nicht. Dann gab er ihm einen
Speer und sagte: „Hier [und bot ihm die Brust], töte mich, dann sterben wir zu-
sammen.“ Doch alle riefen: „Nicht in den Bauch,“ und so stach der sterbende
Mann [den Ehemann] in die Schulter. Dann starb er. (S. 254-255)
Burbank teilte die 793 aggressiven Vorfälle in Kategorien ein und untersuchte
geschlechtsbezogene Unterschiede bei der Häufigkeit in jeder Kategorie. Männer wurden
weitaus häufiger gefährlich aggressiv als Frauen. In insgesamt 93 Fällen wurden gefähr-
liche Waffen eingesetzt: zwölfmal wurde eine Pistole abgefeuert, 64-mal handelte es sich
um einen Speerstoß, und 14-mal wurde ein Messer benutzt. All diese Taten wurden von
Männern begangen. Dagegen griffen Frauen nur insgesamt zweimal zum Messer und ein-
mal zum Speer. Im Ganzen wurden also 90 Taten, in denen eine gefährliche Waffe benutzt
wurde, von Männer begangen und nur drei von Frauen. Männer waren also für 97% aller
aggressiven Vorfälle verantwortlich, bei denen eine gefährliche Waffe eingesetzt wurde.
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 381
Diese Männer des Aborigines-Stammes stellten auch häufiger als die Frauen aggressives
Verhalten zur Schau – d.h. sie zeigten dramatische und potentiell gefährliche Verhaltens-
weisen, bei denen kein anderer zu Schaden kam, die aber vielleicht ihre Reputation ver-
besserten. Dabei nahmen 90 Männer eine gefährliche Waffe auf, setzten sie aber nicht ein,
14 fuhren mit einem Fahrzeug mit Höchstgeschwindigkeit durch das Dorf, 35 griffen ein
Objekt an und fünf drohten mit Angriffen. Männer stellten also in 144 Fällen aggressive
Verhaltensweisen zur Schau, während Frauen Ähnliches nur in 57 Fällen taten.
Es gab nur einige wenige Kategorien, in denen Frauen mehr Aggression zeigten als Män-
ner. Die erste bezog sich auf den Gebrauch von Stöcken – 63 Frauen, aber nur 25 Männer
benutzten sie. Stöcke fügten den Opfern wesentlich weniger Schaden zu als gefährliche
Waffen wie Messer, Speere oder Pistolen. Die Vorliebe der Frauen für Stöcke ist um so
verwunderlicher, da sie durch das Kochen und andere häusliche Aktivitäten freien Zugriff
auf diverse Messer und andere Waffen hatten. Wir können daraus ableiten, dass Frauen
weniger körperlichen Schaden zufügen wollen als Männer, was teilweise ihre Waffenaus-
wahl bestimmt. Die zweite Kategorie, in der sich Frauen aggressiver zeigten als Männer,
betraf die verbale Aggression. Insgesamt 221-mal waren Frauen verbal aggressiv, Männer
dagegen nur 141-mal.
Zusammengefasst sind diese geschlechtsbezogenen Unterschiede den Unterschieden
erstaunlich ähnlich, die in den oben genannten Studien über schulische Gewalt in Eng-
land und Finnland ermittelt wurden. Auf Basis der verfügbaren Daten können wir daraus
schließen, dass es große und durchgehend sichtbare geschlechtsbezogene Unterschiede
beim Einsatz von Gewalt gibt, wobei sich Männer durch alle Studien hindurch als phy-
sisch aggressiver erweisen als Frauen. In einem klassischen Werk über geschlechtsspezi-
fische Unterschiede heißt es: „Wir können fetstellen, dass die größere Aggressivität des
Mannes einer der feststehendsten und durchgängigsten aller psychologischer geschlechts-
bezogenen Unterschiede ist.“ (Maccoby & Jacklin, 1974, S. 368). Diese Schlussfolgerung
bezieht verbale Aggression jedoch nicht mit ein.
Das Syndrom junger Männer. Die evolutionäre Logik gleichgeschlechtlicher Aggres-
sion sagt voraus, dass Männer eher dazu bereit sein werden als Frauen, risikoreiche und
gewaltsame Strategien zu verfolgen. Jedoch wenden nicht alle Männer eine solche Taktik
an, so dass auch diese gleichgeschlechtliche Abweichung nach einer Erklärung verlangt.
Besonders junge Männer scheinen anfällig für risikoreiche Aggressionsformen zu sein –
Aggressionen, die sie dem Risiko von Verletzung und Tod aussetzen. Wilson und Daly
(1985) nennen dies das „Syndrom junger Männer“ (young male syndrom).
Eine empirische Verdeutlichung dieses Syndroms zeigen wir in Abbildung 10.1. Hier
sind Tötungsraten je nach Alter und Geschlecht des Opfers angegeben. Die Ergebnisse
stammen aus einer umfassenden Datenauswahl in den USA aus dem Jahr 1975 (die
Ergebnisse anderer Jahre weisen eine ähnliche Form und Verteilung auf). Bis zum Alter
von zehn Jahren ist für Mädchen und Jungen die Wahrscheinlichkeit, einem Verbrechen
zum Opfer zu fallen, gleich hoch. Im Teenageralter nehmen jedoch Tötungen von Män-
nern schlagartig zu, wobei die Zahlen bei einem Alter von etwa Mitte 20 ihren Höhepunkt
erreichen. In diesem Alter ist für Männer die Wahrscheinlichkeit, gewaltsam getötet zu
werden, sechsmal höher als für Frauen. Ab Mitte 20 fallen die Tötungsraten bei Männern
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382 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
wieder stark ab, was darauf hinweist, dass Männer dieses Alters eher auf physisch risiko-
behaftete Strategien verzichten. Beim Alter von 75 Jahren haben sich beide Geschlechter
wieder einander angenähert und die Unterschiede bei den Tötungsraten sind nur noch
gering. Insgesamt gesehen kommt es bei jungen Männern tatsächlich zu überproportional
vielen Tötungen – das Syndrom junger Männer.
Warum sind junge Männer, die sich auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Kraft befinden
und in einem Alter sind, da die Gefahr, an einer Krankheit zu sterben, am geringsten ist,
so besonders anfällig dafür, ihr Leben durch gewaltsame Handlungen aufs Spiel zu set-
zen? Daly und Wilson liefern eine Erklärung für dieses Rätsel basierend auf einer evolu-
tionären Analyse des Partnerwettbewerbs in einer urzeitlichen Umwelt, das durch einen
gewissen Grad an Polygynie gekennzeichnet war: „Junge Männer sind gleichzeitig
besonders bedrohlich und auch besonders risiko-anfällig, denn sie bilden die demografi-
sche Gruppe, auf die zur Zeit unserer Vorfahren der größte Selektionsdruck für Durchset-
zungsvermögen und kompetitive Fähigkeiten wirkte.“ (Daly & Wilson, 1994, S. 227).
Genauer gesagt argumentieren sie, dass im Laufe der menschlichen evolutionären
Geschichte ein Mann, der eine Ehefrau gewinnen wollte, auf der Jagd, bei Stammes-
kämpfen, bei der Verteidigung seines Stammes und bei der Verteidigung seiner eigenen
Interessen enorme körperliche Kraft demonstrieren musste. Diese Demonstration war
darauf ausgelegt, nicht nur Frauen, sondern auch andere Männer zu beeindrucken, um so
potentielle Rivalen abzuschrecken, die dem Mann in die Quere kommen konnten.
350
Männer
300 Frauen
Todesfälle pro Millionen
250
200
150
100
50
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Alter des Opfers in Jahren
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 383
Dieses Argument kann für sich genommen auf viele Säugetierarten angewendet werden.
Nach Daly und Wilson besteht die Besonderheit beim Menschen darin, dass er sich unbe-
dingt eine Reputation aufbauen muss, die lang anhaltende Wirkung haben kann. Ein frü-
her Wettbewerbserfolg oder -misserfolg im Leben könnte sich stark auf diese Reputation
auswirken und so den Überlebens- und Reproduktionserfolg eines Mannes sein ganzes
Leben lang beeinflussen. Zeigt sich ein Mann im Angesicht der Gefahr mutig, so kann
dies beispielsweise seine Reputation sein ganzes Leben lang bestimmen. Die erwiesene
Tatsache, dass Männer sich fast immer nur dann aggressiv verhalten, wenn sie dabei
Publikum haben, legt nahe, dass sie nicht nur darauf ausgerichtet sind, einen Rivalen zu
besiegen, denn das könnten sie ja auch mitten in der Nacht, an einer einsamen Wegbie-
gung oder im Schutz eines Verstecks tun. Die Gegenwart von Publikum weist darauf hin,
dass risikoreiche Gewaltdemonstrationen auch darauf ausgerichtet sind, andere zu beein-
drucken und sich eine furchteinflößende gesellschaftliche Reputation aufzubauen.
Diese Argumentation erklärt auch, warum wir den Personen Status und Prestige verlei-
hen, die Risiken auf sich nehmen und dennoch erfolgreich sind (Zahavi & Zahavi, 1996).
Wenn man von Erfolgen in der Vergangenheit auf zukünftige Erfolge und umgekehrt von
vergangenen Niederlagen auf zukünftige schließen kann, so ist es für uns besonders wich-
tig, die Ergebnisse risikoreicher Unternehmungen mitzuverfolgen – dies sind Informatio-
nen, die kodiert und in Form der Reputation eines Menschen an andere weitergegeben
werden müssen. In Kapitel 12 werden wir uns nochmals genauer mit diesem Thema
befassen, denn dort betrachten wir die evolutionäre Psychologie von Prestige, Status und
Reputation.
Die Erklärung, die das Syndrom junger Männer liefert, lässt sich auch auf die faszinieren-
den Ergebnisse einer groß angelegten Studie anwenden, bei der gewaltsame Vorfälle kol-
lektiver Aggression (z.B. Aufstände, Kämpfe zwischen Gangs) mit Todesfolge untersucht
wurden (Mesquida & Wiener, 1996). Die Studien kamen in einer Reihe von Staaten und
Ländern zu folgendem Ergebnis: Je höher der Männeranteil in der Altersgruppe der 15-
bis 29-Jährigen war, verglichen mit dem Männeranteil in der Altersgruppe der ab 30-Jäh-
rigen, desto häufiger kam es zu Fällen kollektiver Aggression. Diese Verbindung ist so
ausgeprägt, dass der Anteil junger Männer in einer Population als bestes oder zumindest
als eines der besten Anzeichen für gewaltsame Aggression angesehen werden kann.
Zusammengefasst kann man die Logik des „Syndroms männlicher Jugend“ auf eine
ganze Reihe empirischer Ergebnisse anwenden, darunter die Abweichungen bei der kol-
lektiven Aggression, die plötzliche Zunahme der Muskelkraft bei Männern von der
Pubertät angefangen bis Mitte 20, die Zunahme von Stärke und Ausdauer bei Jugend-
lichen und jungen Männern bis Mitte 20 und besonders der Anstieg kurzer, heftiger Ener-
gieschübe, die für risikoreiche Aggressionsformen nötig sein könnten (Daly & Wilson,
1994). All diese Veränderungen scheinen mit dem Auftreten physisch riskanter, kompeti-
tiver Strategien zusammenzuhängen.
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384 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 385
und werden durch Anzeichen eines Statusverlusts ausgelöst. Sie können heute eine Fehl-
adaptation sein, ebenso wie unsere Vorliebe für Fett in der heutigen Umwelt, wo es an
jeder Ecke ein Fast-Food-Restaurant gibt, eine Fehladaptation ist. Dennoch funktionieren
die Mechanismen aus der Steinzeit auch in unserem heutigen Informationszeitalter und
werden von Ereignissen ausgelöst, die sie auch schon zur Zeit unserer Vorfahren auslösten.
Ein letzter Hinweis auf die Verbindung zwischen Aggression und Status stammt von einer
Studie zweier Stämme im ecuadorianischen Amazonasgebiet. Sie wurde durchgeführt
von dem evolutionären Anthropologen John Patton (1997, 2000). Patton fotografierte
jeden Mann in einem jeden der Stämme. Es wurden 47 Informanten eingesetzt, 26 aus der
Achuar-Gruppierung und 21 aus der Quichua-Gruppierung. Jeder Informant beurteilte
jeden der 33 verheirateten Männer in Hinblick auf dessen Status. Patton legte den Infor-
manten drei Bilder gleichzeitig vor und sie mussten angeben, wer davon das höchste
Ansehen, wer das zweithöchste und wer das geringste Ansehen genoss. Die Bewertungen
aller Teilnehmer wurden dann aufsummiert. In einer zweiten Befragung sollten die Infor-
manten angeben, welcher der Männer sich am besten als „Krieger“ eignen würde: „Wenn
es heute Krieg gäbe, welcher dieser Männer wäre der beste Krieger?“ (Patton, 1997,
S. 12-13) Auch diese Bewertungen wurden insgesamt addiert.
Die Ergebnisse sind in Abbildung 10.2 dargestellt. Status und Krieger-Eignung weisen
eine hohe Korrelation auf. Bei den Quichua-Männern ergibt sich eine Korrelation von
+.90. Bei den Achuar Männern liegt die Korrelation bei +.77. Ein wilder Krieger scheint
also meist gleichzeitig innerhalb seiner Gruppe auch hohes Ansehen zu genießen.
250
200
Status
150
100
50
0
20 40 60 80 100 120
Eignung zum Krieger
Sexuelle Eifersucht und intrasexuelle Rivalität. Sexuelle Eifersucht scheint ein weiterer
wichtiger Kontext zu sein, der gleichgeschlechtliche Aggressionen und Tötungen auslöst.
Meist sind es Männer, die andere töten, und in der Regel sind ihre Opfer auch männlich.
Eine Zusammenfassung von acht Studien, die sich mit gleichgeschlechtlichen Tötungen
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386 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 387
genau auf die kleinen körperlichen Unzulänglichkeiten anderer Frauen zu achten und ver-
gessen niemals, diese im Fall eines intrasexuellen Wettbewerbs auch öffentlich zu erwäh-
nen, wobei sie die Aufmerksamkeit anderer darauf lenken und deren Bedeutung in den
Augen der Männer aufbauschen.
Ging es um sexuelles Verhalten, so gaben Frauen häufiger als Männer an, ihre Rivalinnen
könnten keinen langfristigen Partner halten, hätten schon viele Beziehungen gehabt, seien
sexuell zu freizügig und würden mit jedem beliebigen Mann ins Bett gehen (Buss & Ded-
den, 1990). Diese Taktik der verbalen Beschimpfungen war außerdem kontext-abhängig.
Suchte ein Mann eine kurzfristige Partnerin, so war es ganz und gar nicht hilfreich, eine
Rivalin durch Hinweise auf ihre angebliche Freizügigkeit schlecht zu machen, denn ein
Mann steht dieser Charaktereigenschaft bei einer kurzfristigen Partnerin relativ gleichgül-
tig gegenüber, könnte diese sogar als wertvoll einschätzen, da sie eine höhere Wahr-
scheinlichkeit des Geschlechtsverkehrs signalisieren kann (Schmitt & Buss, 1996). War
ein Mann dagegen auf der Suche nach einer langfristigen Partnerin, war es in höchstem
Maß effektiv, eine Konkurrentin schlecht zu machen, indem man auf ihre Freizügigkeit
hinwies, denn ein Mann legt bei einer langfristigen Partnerin extrem viel Wert auf Treue
(Buss & Schmitt, 1993).
Neuere Studien weiblicher Aggression gegen Frauen haben bestätigt, dass die Funktionen
weiblicher Aggression vornehmlich darin bestehen, intrasexuellen Rivalinnen Kosten zu
verursachen. Eine Studie an Schülerinnen im Teenageralter ergab beispielweise, dass die
Motivation für weibliche Aggression meist Eifersucht auf Rivalinnen, Konkurrenz um
Jungen, und der Wunsch war, Mitglied in der Gruppe der „beliebten“ Mädchen zu sein
(Owens, Shute & Slee, 2000; siehe auch Campbell, 2000 für eine ausführlichere Behand-
lung von Wettbewerbssituationen zwischen Frauen).
Zusammengefasst greifen im Kontext der Partnerkonkurrenz Frauen andere Frauen
ebenso häufig an wie Männer ihre Geschlechtsgenossen. Dies ist nicht auf einen unverän-
derlichen Aggressionsinstinkt zurückzuführen, ebenso wenig gibt es einen völlig kontex-
tunabhängigen „Ausbruch“ an Aggression. Frauen scheinen sich vielmehr dessen
bewusst zu sein, was sich Männer in langfristigen und kurzfristigen Partnerwahlsituatio-
nen wünschen und verlagern ihre Angriffstaktik entsprechend.
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388 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
und besitzergreifend (Hilberman & Munson, 1978) und in einer dritten Studie, bei der 100
Fälle häuslicher Gewalt gegen Ehepartner untersucht wurden, gaben die Ehemänner in den
allermeisten Fällen an, sie seien frustriert, weil sie ihre Ehefrauen nicht kontrollieren konn-
ten und beschuldigten sie meist gleichzeitig der Untreue (Whitehurst, 1971).
Sexuelle Eifersucht ist ebenso ein wichtiger Kontext für Tötungen in der Ehe und offen-
bar gleichzeitig kulturübergreifend der Hauptgrund dafür (Daly & Wilson, 1988). Män-
ner, die ihre Ehefrauen oder Freundinnen umbringen, tun dies meist, wenn eine von zwei
wesentlichen Voraussetzungen gegeben ist: wenn sie ihre Partnerin sexuelle Untreue
nachweisen können oder diese vermuten oder wenn die Frau die Beziehung beendet. Im
ersten Fall wird der Mann betrogen und läuft Gefahr, seine begrenzten Ressourcen in
Nachkommen zu investieren, mit denen er genetisch nicht verwandt ist. Im zweiten Fall
verliert er eine reproduktiv wertvolle Partnerin an einen Rivalen – dies ist in Fitness-Wäh-
rung ausgedrückt auch ein direkter Verlust. Diese adaptive Logik vollzieht sich natürlich
nicht direkt in den Köpfen der Männer. Sie tragen jedoch die psychologischen Mechanis-
men in sich, die ihre Vorfahren zum Erfolg führten, und ein Bereich dieser Mechanismen
treibt sexuelle Eifersucht und Besitzanspruch der Partnerin an – und beide Faktoren kön-
nen zu Aggressionen führen.
Eine Eigenschaft weiblicher Opfer zeigt sich immer wieder überdeutlich: ihr Alter. Für
junge Ehefrauen und Freundinnen ist die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, um eini-
ges höher als für ältere (Daly & Wilson, 1988; Shackelford, Buss & Weeks-Shackelford,
2003). Da ihre Jugend ein wichtiger Hinweis auf den reproduktiven Wert der Frau ist,
richtet sich folglich die sexuelle Eifersucht der Männer verstärkt auf junge Partnerinnen.
Auch ist es wahrscheinlich, dass junge Frauen häufiger von anderen Männern begehrt
werden, so dass die sexuelle Eifersucht durch die Gegenwart von Rivalen ausgelöst wer-
den kann, die versuchen, die Frau für sich zu gewinnen.
Um die Hypothese noch direkter zu testen, dass Männer gegen Frauen Gewalt anwenden,
um ihre sexuelle Aktivität zu kontrollieren, wurden in einer Studie (Wilson, Johnson &
Daly, 1995) 8.385 Frauen untersucht, von denen 277 im Laufe des letzten Jahres durch
ihre Männer angegriffen worden waren. Es wurden zwei Formen der Gewalt unterschie-
den: „nicht schwer wiegende“ und „schwer wiegende“ Gewalt. Unter die Bewertung nicht
schwer wiegender Gewalt fielen Fragen wie: „Hat Ihr Ehemann/Partner jemals damit
gedroht, Sie mit der Faust oder etwas anderem zu schlagen, das Sie verletzen könnte?“;
„Hat er jemals etwas nach Ihnen geworfen, das Sie verletzen könnte?“; „Hat er Sie jemals
geschubst, gestoßen oder grob gepackt?“; „Hat er Sie jemals geschlagen?“; „Hat er Sie
jemals getreten, gebissen oder mit der Faust geschlagen?“; „Hat er Sie jemals mit etwas
geschlagen, das Sie verletzen könnte?“ Als schwer wiegende Gewalt wurden Fragen
bewertet wie „Hat er Sie jemals zusammengeschlagen?“; „Hat er Sie jemals gewürgt?“;
„Hat er jemals gedroht, Sie mit einem Messer oder einer Pistole zu verletzen, oder hat er
dies jemals getan?“
Zu einem anderen Zeitpunkt während der Befragung wurden die Frauen über die Eifer-
sucht und das Kontrollverhalten ihrer Ehemänner anhand folgender Punkte befragt: „Er
ist eifersüchtig und möchte nicht, dass Sie mit anderen Männern sprechen“; „Er versucht,
Ihren Kontakt zu Ihrer Familie und zu Freunden einzuschränken“; „Er besteht darauf,
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 389
immer zu wissen, wo Sie sind und wer bei Ihnen ist“; „Er beschimpft Sie, so dass Sie sich
minderwertig fühlen“; „Er verhindert, dass Sie über das Haushaltseinkommen Bescheid
wissen oder darauf zugreifen, selbst wenn Sie darum bitten.“
Die Punkte, die mit einer „Einschränkung der Selbstständigkeit“ einhergingen, konnten
direkt mit durch den Ehemann verübter Gewalt gegen die Ehefrau in Zusammenhang
gebracht werden. Meist zeigen Männer, die gegen ihre Frauen gewalttätig sind, auch ein
überaus hohes Maß an Eifersucht und Kontrollbedürfnis. Schwerer wiegende Formen der
Gewalt hängen direkt mit starker Eifersucht und einem die Selbstständigkeit einschrän-
kenden Verhalten zusammen. Die Ergebnisse stützen die Hypothese, dass Männer Gewalt
gegen ihre Frauen als Strategie einsetzen, um diese zu kontrollieren, mit dem Ziel, den
sexuellen Zugang anderer Männer zu unterbinden und einen Abbruch der Beziehung zu
verhindern.
Das Wesentliche ist nicht, dass Gewalt gegen Frauen auf einen unveränderbaren Instinkt
zurückgeführt werden kann. Vielmehr hängen die auftretenden Gewaltmuster – die Kon-
texte, in denen es zu Gewaltausübung kommt, und die Eigenschaften der Opfer – sehr
stark von den jeweils vorliegenden adaptiven Problemen ab.
Kriegsführung
Die Menschheitsgeschichte, darunter hunderte von Ethnografien über Stammeskulturen
rund um die Welt, zeigt, dass es überall auf der Erde immer wieder zur Bildung männ-
licher Koalitionen zum Zweck der Kriegsführung kommt (z.B. Chagnon, 1988; Keeley,
1996; Tooby & Cosmides, 1988). Kriege werden also ausschließlich von Männern
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390 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
geführt. Die beabsichtigten Opfer sind ebenso meist Männer, obwohl oft auch Frauen dar-
unter leiden müssen. Obwohl es nur in wenigen Kriegen ursprünglich rein darum geht,
Frauen zu rauben, wird ein vermehrter Zugang zu Geschlechtsverkehr fast immer als sehr
erwünschter Vorteil einer erfolgreichen Feinderoberung angesehen. Kasten 10.1 enthält
die Beschreibung eines konkreten Stammeskriegs.
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 391
ihres Dorfes zurück, während Damowas Frauen nach Hause zurückrannten und die
anderen alarmierten. Die Mörder entkamen und die Monou-teri selbst flohen in den
Schutz des Dschungels, denn sie fürchteten, die Angreifer könnten zurückkommen.
Nun da ihr Anführer tot war, waren die Monou-teri demoralisiert. Doch bald trat ein
neuer Anführer, Kaobawa, auf den Plan und brachte den Stamm dazu, Rache für
Damowas Tod zu nehmen. Verzichtet man auf Vergeltung, so kann das zu einer Ruf-
schädigung führen: andere sehen die besiegte Gruppe als leichtes Opfer an, das man
leicht ausbeuten kann. Deshalb glaubten die Monou-teri aktiv werden zu müssen, um
zukünftigen Angriffen vorzubeugen.
Am Abend vor dem Angriff heizte Kaobawa seine Männer gehörig an. Er begann zu
singen: „Ich habe Hunger auf Fleisch! Ich habe Hunger auf Fleisch!“ (Chagnon, 1983,
S. 182). Die anderen Angreifer stimmten mit ein und ihr Gesang endete mit einem
hohen Schrei, der Chagnon eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Schreie wur-
den immer wütender und wilder und die Angreifer – heiß auf Rache – versetzten sich
selbst in einen Zustand nahe der Raserei.
Im Morgengrauen des nächsten Tages gaben die Frauen ihren Kriegern einen großen
Vorrat an Pisang für ihren Kriegszug mit. Die Männer malten sich Gesicht und Körper
schwarz an. Die Mütter und Schwestern der Angreifer gaben diesen gute Ratschläge
mit: „Lass Dich nicht erschießen!“ und „Sei bloß vorsichtig!“ (S. 183). Dann weinten
die Frauen, denn sie hatten Angst um ihre Männer.
Fünf Stunden waren seit dem Aufbruch der Männer bereits vergangen, als einer wieder
im Dorf erschien; er klagte über einen wund gelaufenen Fuß, der ihn daran hinderte,
mit den anderen Schritt zu halten. Er hatte das Fest und die Zeremonie des vergange-
nen Abends zwar genossen, was die Frauen beeindruckte. Doch wie viele Yanomamö,
die in den Krieg ziehen, hatte auch er Angst.
Einige Tage Fußmarsch waren zurückzulegen, bis die Feinde erreicht waren. Nachts
zündeten die Yanomamö Feuer an, um sich zu wärmen, in der letzten Nacht mussten
sie jedoch auf diesen Luxus verzichten, denn die Gefahr, den Feind auf sich aufmerk-
sam zu machen, war zu groß. Am Abend vor dem Angriff klagten plötzlich einige wei-
tere Männer über wunde Füße und Bauchschmerzen und machten sich wieder auf den
Heimweg. Die verbliebenen Krieger besprachen nochmals ihren Angriffsplan. Sie
beschlossen, kleinere Gruppen zu je vier bis sechs Mann zu bilden. Diese Gruppierun-
gen konnten sich geschützt zurückziehen, denn zwei Männer aus jeder Gruppe würden
sich auf die Lauer legen und mögliche Verfolger aus dem Hinterhalt überfallen.
Einer der Angreifer war der zwölfjährige Sohn von Damowa, den man mitgenommen
hatte, damit er seinen Vater rächen konnte. Dies war sein erster Angriff, also behielten
ihn die anderen Männer in ihrer Mitte und schirmten ihn so vor Gefahren so gut wie
möglich ab.
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392 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Die evolutionäre Psychologie des Krieges. In einer brillanten Analyse über die Logik der
Kriegsführung machten Tooby und Cosmides (1988) auf eine Tatsache aufmerksam, die
oft übersehen wird: Krieg ist ein überaus kooperatives Unterfangen. Es könnte keine
Kriege geben, wenn sich nicht auf beiden Seiten Männer verbünden würden. Sie müssen
sich zusammenschließen und als eine kooperative Einheit auftreten. Diese Voraussetzung
ist so zwingend erforderlich, dass es nur zwei Säugetierarten gibt, die man jemals dabei
beobachten konnte, wie sie aggressive Bündnisse gegen Mitglieder ihrer eigenen Spezies
bildeten: Schimpansen und Menschen.
Die Evolution der Kriegsführung muss ein weiteres großes Hindernis überwinden: Die
Vorteile müssen – in Fitness-Währung ausgedrückt – groß genug sein, um das vernich-
tende Verletzungs- und Todesrisiko derer auszugleichen, die am Krieg teilnehmen. Für
jeden Beteiligten birgt ein Krieg extrem hohe Kosten. Tooby und Cosmides drückten es
so aus: „Es ist schwer zu begreifen, warum ein vernünftiger Organismus, den die Selek-
tion auf Überleben und Reproduktion programmiert hat, aktiv danach streben sollte,
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 393
Bedingungen zu schaffen, die so immens hohe persönliche Kosten und Risiken mit sich
bringen.“ (1988, S. 2). Wie konnte die Selektion also psychologische Mechanismen
begünstigen, die Männer dazu bringen, solche Risiken auf sich zu nehmen? Wie lässt sich
erklären, dass im Laufe der menschlichen evolutionären Geschichte immer wieder Kriege
angezettelt wurden, deren Kriegshelden von den Mitgliedern ihrer Truppen ausgezeichnet
und glorifiziert wurden?
Die von Tooby und Cosmides (1988) aufgestellte evolutionäre Theorie der Kriegsführung
nennt vier grundlegende Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich Adaptatio-
nen entwickeln, die gemeinschaftliche Aggressionen zum Ausbruch bringen.
1. Der durchschnittliche langfristige Gewinn an reproduktiven Ressourcen muss hoch
genug sein, um die reproduktiven Kosten der Kriegsführung im Laufe der Evolutions-
geschichte auszugleichen. Welche reproduktiven Ressourcen könnten dafür wichtig
genug sein? Es ist sehr wahrscheinlich, dass es dabei um mehr Geschlechtsverkehr
mit Frauen geht – der Ressource, die die männliche Fortpflanzung am stärksten be-
schränkt. Für Frauen ist der sexuelle Zugang dagegen nicht im selben Maße ein-
schränkend, wie in der Diskussion den Theorien der elterlichen Investitionen und der
sexuellen Selektion deutlich wurde. Frauen sind deshalb eine so wertvolle und doch
begrenzte Ressource für Männer, weil sie zwangsläufig so viel in ihre Nachkommen
investieren müssen. Diese Asymmetrie zwischen den Geschlechtern bedeutet, dass
Frauen wenig gewinnen können, wenn sie in den Krieg ziehen, um verstärkten sexuel-
len Zugang zu Männern zu erlangen. Sperma ist billig zu haben und es gab noch nie
zu wenig Männer, die bereit gewesen wären, ihr Sperma in ausreichender Menge zur
Verfügung zu stellen, damit es für die Frau zur Befruchtung kam. Zusammenfassend
können Männer also durch Kriegsführung sehr viel gewinnen, wenn daraus ein ver-
stärkter sexueller Zugang zu Frauen folgt. Dies ist die knappe reproduktive Ressource,
für die sich das Risiko lohnen könnte.
2. Koalitionsmitglieder müssen glauben, dass ihre Gruppe erfolgreich sein wird. Damit
ist nicht nur der Glaube daran gemeint, dass die eigene Gruppe die Schlacht gewinnen
wird, sondern auch der Glaube, dass die kollektiven Ressourcen der eigenen Koalition
nach der aggressiven Begegnung größer sein werden als vorher.
3. Das Risiko, das jedes Mitglied auf sich nimmt, und die Bedeutung, die der Beitrag
jedes Einzelnen für den Erfolg hat, muss auch einen entsprechenden Anteil an den
erlangten Vorteilen mit sich bringen. Dies ist eine Form des Betrüger-Entdeckungs-
Kriteriums für die Evolution der Kooperation, die wir in Kapitel 9 behandelten. Män-
ner, die sich nicht auf das Risiko eines Kampfes einlassen, dürfen auch nicht in den
Genuss der Siegesbeute kommen. Männer, die größere Gefahren auf sich nehmen –
wie etwa Anführer, die ihre Männer in die Schlacht führen – bekommen einen verhält-
nismäßig größeren Teil der Kriegsbeute. Ähnlich bekommen Männer, die zum Erfolg
der Schlacht mehr beigetragen haben, auch einen verhältnismäßig größeren Teil der
sich daraus ergebenden reproduktiven Ressourcen.
4. Männer, die in den Krieg ziehen, müssen in einen „Schleier des Unwissens“ gehüllt
sein, d.h. sie dürfen nicht wissen, wer leben und wer sterben wird. Die Wahrschein-
lichkeit des Todes muss anders ausgedrückt zufällig auf die Mitglieder der Koalition
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394 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
verteilt sein. Wer bereits vor der Schlacht weiß, dass er mit Sicherheit sterben wird,
kann dadurch nichts gewinnen. Die Selektion würde also jeder psychologischen Nei-
gung stark entgegenwirken, die einen Mann veranlasst, in die Schlacht zu ziehen,
wenn dieser sich seines Todes sicher ist. Die „Schlachtfeldpanik“, die einige Männer
dazu bringt, abtrünnig zu werden, könnte die Wirkung des psychologischen Mecha-
nismus widerspiegeln, der einen Mann aus der Gefahrenzone drängt, wenn die Wahr-
scheinlichkeit des Todes allmählich an Sicherheit grenzt. Wird das Risiko aber mit an-
deren geteilt und weiß keiner, wer am Leben bleibt oder stirbt, dann kann die
Selektion durchschnittlich gesehen eine psychologische Neigung zur gemeinschaftli-
chen Kriegsführung fördern.
Diese Bedingungen, die Tooby und Cosmides (1988) den „Risikovertrag des Krieges“
nennen, lassen einige überraschende Voraussagen zu. Bei der wichtigsten Voraussage
geht es um die Auswirkungen eines gewissen Maßes an Moralität auf den evolutionären
Selektionsdruck für psychologische Mechanismen, die darauf ausgelegt sind, Männer in
den Krieg zu führen. Erinnern wir uns, dass die natürliche Selektion auf Gene wirkt, so
dass diese bestimmte Merkmale entwickeln, basierend auf ihren durchschnittlichen repro-
duktiven Konsequenzen über die gesamte evolutionäre Zeit gesehen. In Kapitel 3 unter-
suchten wir die Evolution der männlichen Neigung, Risiken einzugehen, die zu einem
durchschnittlich gesehen größeren Reproduktionserfolg führen, aber gleichzeitig eine
kürzere Lebensdauer mit sich bringen.
Wenden wir diese Logik auf die Kriegsführung an. Nehmen wir an, zehn Männer bilden
eine Koalition, um einen benachbarten Stamm anzugreifen. Während des Überfalls wer-
den fünf fruchtbare Frauen gefangen genommen. Wenn alle Männer überleben, beträgt
der durchschnittliche Gewinn an sexuellem Zugang 50% einer fruchtbaren Frau pro
Mann (fünf Frauen geteilt durch zehn Männer ergibt einen Durchschnitt von 0,50 pro
Mann). Nehmen wir nun an, dass fünf Männer im Kampf umkommen und wieder fünf
fruchtbare Frauen gefangen genommen werden. Nun beträgt der Gewinn für jeden überle-
benden Mann sexuellen Zugang zu 1,0 fruchtbarer Frau (fünf Frauen geteilt durch fünf
Männer ergibt 1,0). Der Durchschnittsgewinn eines jeden Mannes, der in den Krieg gezo-
gen ist, beträgt unverändert 0,50 (fünf Frauen geteilt durch zehn Männer, die in den Krieg
zogen, ist und bleibt 0,50). Der durchschnittliche reproduktive Gewinn aufgrund der Ent-
scheidung, in den Krieg zu ziehen, ist in beiden Situationen identisch, obwohl in einem
Fall kein Mann starb, während im anderen Fall fünf starben.
Für diejenigen, die sterben, bedeutet der Kampf natürlich den totalen Verlust. Doch die
Ressourcen, die diese Männer gewonnen hätten, werden einfach denjenigen Verbündeten
neu zugeteilt, die überlebt haben. Das bedeutet, dass der reproduktive Durchschnittsge-
winn identisch geblieben ist, auch wenn die Hälfte der Männer stirbt. Die Selektion kann
also, da sie sich auf durchschnittliche reproduktive Effekte bei Individuen im Laufe der
evolutionäre Geschichte auswirkt, psychologische Mechanismen fördern, die Männer in
den Krieg führen, selbst wenn diese sie einem gewissen Todesrisiko aussetzen.
Diese evolutionäre Theorie des Krieges führt uns zu einigen spezifischen Voraussagen:
(1) Nur Männer haben diese auf gemeinschaftliche Kriegsführung ausgerichteten psycho-
logischen Mechanismen entwickelt – Frauen nicht. (2) Sexueller Zugang ist der wich-
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 395
tigste Vorteil, den Männer durch den Beitritt zu einer Kriegspartei erlangen können. (3)
Männer sollten psychologische Mechanismen entwickelt haben, die sie dazu bringen, in
Panik zu geraten und zu desertieren, sobald der Tod eine unmittelbare Bedrohung dar-
stellt. (4) Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer in den Krieg ziehen, sollte höher sein,
wenn ihre Siegeschancen gut sind, z.B. wenn ihre Truppen weitaus größer sind als die
gegnerischen. (5) Männer sollten psychologische Mechanismen entwickelt haben, die
darauf ausgerichtet sind, den Risikovertrag zu erfüllen – d.h. Betrüger, Deserteure und
Verräter zu entlarven. (6) Männer sollten psychologische Mechanismen entwickelt haben,
die darauf ausgerichtet sind, Männer zu entdecken, vorzuziehen und zu rekrutieren, die
bereit und in der Lage sind, zum Erfolg der Truppe beizutragen. Angesichts der Tatsache,
dass diese evolutionäre Theorie des Krieges erst vor kurzem aufgestellt wurde, gibt es
noch relativ wenig empirische Daten zu diesen Vorhersagen. Dennoch gibt es einige
Belege, die diese stützen (Brown, 2001).
Männer betreiben Kriegsführung. Die Tatsache, dass Männer Koalitionen bilden mit
dem Zweck, andere Männer in gegnerischen Koalitionen zu töten, lässt sich in so gut wie
allen Kulturen beobachten (Alexander, 1979; Chagnon, 1988; Otterbein, 1979; Wrang-
ham & Peterson, 1996). In einigen Kulturen wie etwa bei den Yanomamö scheinen die
Stämme sich sogar ständig im Kriegszustand zu befinden. In keiner Kultur konnte bisher
beobachtet werden, dass sich Frauen mit dem Zweck zusammenschließen, andere Men-
schen umzubringen. Diese Tatsachen erscheinen vielleicht offensichtlich und waren lange
vor der von Tooby und Cosmides (1988) aufgestellten evolutionären Theorie des Krieges
allgemein bekannt. Sie bestätigen die Theorie jedoch und stellen andere Theorien in
Frage, z.B. dass Kriege willkürliche soziale Konstruktionen sind (van der Dennen, 1995).
Männer messen eher spontan ihre kämpferischen Fähigkeiten. Wenn Männer sich im
Laufe der Evolutionsgeschichte immer wieder auf gewaltsame Aggressionen eingelassen
haben – mehr als Frauen dies taten – sollte man erwarten, dass sie auch ganz bestimmte
psychologische Mechanismen entwickelt haben, die sie dazu bringen, genau abzuwägen,
ob die jeweils gegebenen Bedingungen dafür sprechen, sich auf einen Kampf einzulassen
oder nicht. Einer dieser Mechanismen ist die Selbsteinschätzung der eigenen kämpferi-
schen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen Männern. Der evolutionäre Psychologe Adam
Fox (1997) sagte voraus, dass Männer Mechanismen zur Einschätzung ihrer kämpferi-
schen Fähigkeiten entwickelt haben – dass sie genauer gesagt ihre kämpferischen Fähig-
keiten häufiger selbst messen würden als Frauen.
Um diese Vorhersagen zu überprüfen, befrage Fox eine Auswahl von Studenten, wie oft
sie sich den möglichen Ausgang von Kämpfen zwischen ihnen und anderen ausmalten.
Abbildung 10.3 zeigt die Ergebnisse. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist
geradezu dramatisch. Die Mehrheit der Männer gab an, sich solche Kämpfe und deren
Ausgang mindestens einmal im Monat vorzustellen, am häufigsten kam die Antwort:
„einmal pro Woche“. Die Mehrzahl der Frauen gab dagegen an, sich solche Kämpfe nur
gelegentlich vorzustellen. Die meisten Frauen antworteten sogar: „nie“. Diese Ergebnisse
stützen die Vorhersage, dass Männer die eigenen kämpferischen Fähigkeiten häufiger
messen als Frauen – ein möglicher evolutionsbedingter psychologischer Mechanismus,
der darauf ausgerichtet ist, richtig einschätzen zu können, ob es sich lohnt, in den Krieg
zu ziehen.
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396 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
35 Männer (N = 133)
Frauen (N = 169)
30
Prozent der Testpersonen
25
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jährlich Monate monatlich wöchentlich täglich einmal täglich
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 397
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398 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Zusätzliche empirische Belege dafür, dass Bandenanführer in der Regel mehr Sexualpart-
nerinnen haben, liefert Chagnons (1988) Studie der Yanomamö. Bei den Yanomamö ist
die am häufigsten genannte Begründung für einen Krieg mit einem anderen Stamm die
Rache einer vorher erfolgten Tötung; und der häufigste Grund für den ursprünglichen
Beginn der Kämpfe sind „Frauen“. Die Yanomamö treffen eine gesellschaftliche Unter-
scheidung zwischen unokais (die getötet haben) und non-unokais (die nicht getötet
haben). Diese Unterscheidung wirkt sich entscheidend auf den Ruf eines Mannes aus und
es ist offensichtlich dem ganzen Dorf wohl bekannt, wer ein unokai ist. Die Opfer der
unokais sind meist andere Männer, die bei Überfällen auf Gegner getötet wurden, obwohl
auch einige Männer aufgrund sexueller Eifersucht von Mitgliedern der eigenen Gruppe
getötet wurden. Zur Zeit der Studie lebten in dem Stamm 137 unokais. Die meisten uno-
kais haben nur einmal getötet, die wenigen aber, die mehrmals getötet hatten (der lokale
Rekord stand bei 16 Tötungen), entwickelten einen speziellen Ruf und galten als waiteri
oder wild.
Beim Vergleich der unokais mit den non-unokais gleichen Alters ergab sich insbesondere
ein statistischer Unterschied: Die unokais hatten mehr Ehefrauen. Im Alter von nur 20-24
Jahren hatte ein unokai durchschnittlich 0,80 Frauen, über viermal so viele wie ein non-
unokai, der im Durchschnitt nur 0,13 Ehefrauen hatte. Bei den über 41-jährigen Männern
hatten unokais durchschnittlich 2,09 und non-unokais nur 1,17 Frauen. Die unokais haben
also ganz klar mehr Sexualpartnerinnen, denn sie heiraten mehr Frauen. Anekdotische
Belege weisen außerdem darauf hin, dass unokais auch häufiger außereheliche Affären
haben (Chagnon, 1983). Wenn es als wichtiger Beitrag zur erfolgreichen gemeinschaftli-
chen Kriegsführung gilt, einen Mann getötet zu haben, so stützen diese Belege die Hypo-
these, dass sexueller Zugang zu Frauen eine wichtige reproduktive Ressource ist, die man
durch gemeinschaftliche Aggressionsäußerung erlangen kann.
Welche Eigenschaften schätzen Männer und Frauen an ihren Verbündeten? Drei Forscher
befassten sich mit dieser Frage und baten 60 Männer und 53 Frauen zu beurteilen, als wie
wünschenswert sie 148 mögliche Eigenschaften bei einem Bündnispartner einschätzten.
Ein „Bündnis“ war definiert als „eine Gruppe von Menschen, mit denen Sie sich identifi-
zieren, weil sie ein gemeinsames Ziel verfolgen“ (DeKay, Buss & Stone, unveröffentlicht,
S. 13). Jede Eigenschaft wurde auf einer Skala von –4 (extrem unerwünscht bei einem
Bündnispartner) bis +4 (extrem erwünscht bei einem Bündnispartner) bewertet. Die Liste
der 148 Eigenschaften leitete sich aus drei Quellen ab: (1) Nennung von Taten und Ereig-
nissen, die Status und Reputation einer Person steigern können, (2) Anzeichen der haupt-
sächlichen Charaktereigenschaften wie Dominanz, Umgänglichkeit, Unsicherheit, emo-
tionale Stabilität, Offenheit, (3) aus evolutionären Vorhersagen über die Funktion von
Bündnissen abgeleitete theoretische Eigenschaften. So wurde etwa der Punkt „Tapferkeit
im Angesicht der Gefahr“ herangezogen, um die Hypothese zu testen, dass eine Funktion
männlicher Bündnisse (und damit die Grundlage, nach der Männer ihre Bündnispartner
auswählen) die Aggression gegen andere Bündnisse oder die Verteidigung der eigenen
Gruppe ist.
Sowohl Männer als auch Frauen bewerteten die folgenden Charaktereigenschaften als
sehr erwünscht bei einem Bündnispartner: Fleiß, Intelligenz, Freundlichkeit, Offenheit,
die Fähigkeit, andere zu motivieren, großes Allgemeinwissen, Sinn für Humor, Verläss-
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 399
lichkeit. Es gab aber auch wesentliche geschlechtsbezogene Unterschiede, die auf die
speziellen Funktionen männlicher Bündnisse hinweisen: Verglichen mit Frauen schätzten
Männer die folgenden Eigenschaften als wichtiger ein: Tapferkeit im Angesicht der
Gefahr (2,40 bei Männern gegenüber 1,66 bei Frauen), körperliche Kraft (1,07 gegenüber
0,43), gute Kämpfer (1,30 gegenüber 0,42), die Fähigkeit, andere vor körperlichem Scha-
den zu bewahren (1,37 gegenüber 0,89), die Fähigkeit, physische Schmerzen zu ertragen
(0,75 gegenüber 0,36), die Fähigkeit, sich selbst gegen körperliche Angriffe verteidigen
zu können (1,90 gegenüber 1,43) und die körperliche Fähigkeit, andere zu bezwingen
(0,35 gegenüber -0,42). Ebenso hielten Männer folgende Eigenschaften für unerwünsch-
ter bei einem Bündnispartner als dies bei Frauen der Fall war: geringe sportliche Aktivität
(-0,68 gegenüber -0,23) und körperliche Schwäche (-1,08 gegenüber -0,55).
Dies ist nur eine einzelne Studie, bei der eine begrenzte Auswahl amerikanischer Studen-
ten befragt wurde, weshalb man keine weit reichenden Schlüsse ziehen kann. Mit Sicher-
heit wäre es sinnvoll, diese Studie auch in anderen Kulturkreisen durchzuführen. Den-
noch ist es interessant festzuhalten, dass selbst in der modernen Umwelt amerikanischer
Universitäten, die doch scheinbar so weit entfernt ist von den Stammeskriegen unserer
evolutionären Vergangenheit, Männer ihre Bündnispartner zum Teil anhand von Eigen-
schaften auswählen, die die Gruppe bei Aggressionsäußerungen gegen andere Gruppen
und körperlicher Verteidigung zum Erfolg führen würden.
Zusammenfassung zur Kriegsführung. Die von Tooby und Cosmides (1988) entwickelte
Theorie der Kriegsführung stellt eine oft übersehene Schlussfolgerung in den Vorder-
grund: Kriegsführung erfordert wohl durchdachte Kooperation innerhalb der Mitglieder
einer Gruppe, um die eigenen Aggressionshandlungen gegen andere Gruppen zu koordi-
nieren. Die Theorie sagt auch aus, dass der sexuelle Zugang zu Frauen die wichtigste
reproduktive Ressource ist, aufgrund derer die Selektion Männer dazu gebracht hat, eine
Psychologie der Kriegsführung zu entwickeln. Die Theorie führt uns zu einigen überra-
schenden Vorhersagen – z.B., dass die Sterberate die durchschnittlichen reproduktiven
Vorteile einer Kriegsstrategie nicht beeinflussen wird, solange es einen „Schleier der
Unkenntnis“ gibt, der verhüllt, wer getötet werden wird.
Eine Vielzahl von Quellen empirischer Belege stützt einige der wesentlichen Voraussagen
dieser Kriegsführungstheorie. Zum einen haben Männer innerhalb der gesamten Mensch-
heitsgeschichte immer wieder Kriege geführt, während es keinen einzigen dokumentier-
ten Fall gibt, bei dem Frauen gleichgeschlechtliche Bündnisse zum Zweck der Kriegsfüh-
rung gebildet hätten. Zum zweiten messen Männer ihre kämpferischen Fähigkeiten
spontan häufiger als Frauen, was auf die Existenz evolutionsbedingter Mechanismen hin-
deutet, die bewerten, ob sich eine aggressive Konfrontation lohnt oder nicht. Drittens wei-
sen sowohl Studien über Gangs als auch ethnografische Belege über Kriegsführung dar-
auf hin, dass Kriege verstärkten sexuellen Zugang zu Frauen mit sich bringen. Schließlich
bevorzugen Männer auch Verbündete, die im Angesicht der Gewalt tapfer sind, die stark
sind und gut kämpfen können und die andere beschützen können – Eigenschaften, die
einen guten Kriegskameraden ausmachen. Auch wenn noch weitere Forschungsarbeit zu
diesem faszinierenden Thema nötig ist, so stützen doch die vorhandenen empirischen
Daten die Theorie, dass Männer spezielle psychologische Mechanismen entwickelt
haben, die sie in den Krieg führen.
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400 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 401
ten „Opfer“ standen und ob die Fantasien durch einen körperlichen Angriff, eine öffent-
liche Demütigung oder eine andere Provokation ausgelöst worden waren.
Beide Studien brachten ähnliche Ergebnisse, weshalb wir uns nur auf die zweite Studie
konzentrieren werden, die größer und detaillierter war. Erstens gaben mehr Männer
(79%) als Frauen (58%) an, bereits mindestens eine Mordfantasie gehabt zu haben (siehe
Abbildung 10.4). Zweitens sagten 38% der Männer, aber nur 18% der Frauen, sie hätten
schon mehrere Mordfantasien gehabt. Drittens hielten die Mordfantasien der Männer
meist länger an als die der Frauen. Die meisten Frauen (61%) gaben an, ihre Fantasien
dauerten nur wenige Sekunden. Die Männer gaben dagegen meist an, ihre Fantasien hiel-
ten einige Minuten an, 18% gaben sogar an, ihre Fantasien würden sie einige Stunden
oder länger beschäftigen. Diese Ergebnisse untermauern die Hypothese, dass Männer
psychologisch eher zu Mord und Tötung neigen als Frauen – ein Ergebnis, das auch die
tatsächliche Mordstatistik bestätigt.
Bei den Auslösern von Mordfantasien wurden auch geschlechtsbezogene Unterschiede
sichtbar. Bei Männern war es wahrscheinlicher als bei Frauen, dass sie nach einer persön-
lichen Drohung (71% gegenüber 52%), einem Diebstahl (57% gegenüber 42%), durch
den Wunsch, zu sehen wie es ist, jemanden zu töten (32% gegenüber 8%), nach einem
Streit um Geld (27% gegenüber 10%), und nach einer öffentlichen Demütigung (59%
gegenüber 45%) Mordgedanken hegten.
Die weiblichen und männlichen Mordfantasien richteten sich auch auf unterschiedliche
Opfer. Männer fantasierten eher darüber, einen Fremden (53% gegenüber 33%), eine
nationale Führungspersönlichkeit (34% gegenüber 17%), einen Chef (35% gegenüber
21%) oder einen Mitbewohner (34% gegenüber 23%) umzubringen.
Nie
Gelegentlich (Wenige Male im Leben)
Häufig (Mehrere Male im Leben)
Geschlecht
Männer
Frauen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Prozent der Stichprobe
Abbildung 10.4: Die Abbildung zeigt, dass prozentual mehr Männer als Frauen Mordfantasien
haben und dass Männer solche Fantasien auch häufiger haben als Frauen.
Quelle: Ethology and Sociobiology, 14, D. T. Kenrick & B. Sheets, Homicidal fantasies, 231-246, Copyright
© 1993 by Elsevier Science.
Die evolutionäre Logik der Gesamtfitness-Theorie sagt voraus, dass es zwischen Kindern
und ihren Stiefeltern mehr Konflikte gibt als zwischen Kindern und ihren leiblichen
Eltern, was auch die Belege über die Mordfantasien zeigen. 44% aller Kinder, die bei
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402 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Stiefeltern lebten, gaben an, sie hätten Fantasien, diese umzubringen. 59% aller Kinder,
die länger als sechs Jahre bei Stiefeltern lebten – ein noch größerer Prozentsatz – sagten,
sie hätten diese Mordfantasien. Mordfantasien, die sich gegen einen leiblichen Vater oder
eine leibliche Mutter richteten, waren dagegen seltener: jeweils 25 und 31%.
Wie lassen sich diese Ergebnisse aus evolutionärer Sicht erklären? Es gibt zwei verschie-
dene Möglichkeiten: Die von Kenrick und Sheets (1993) und Daly und Wilson (1988)
vertretene Hypothese könnte man die „Fehltritt-Hypothese“ nennen. Gemäß dieser Hypo-
these haben Männer eine psychologische Neigung zur Gewalttätigkeit entwickelt, um
dadurch Zwang und Kontrolle ausüben zu können und um Konfliktquellen zu beseitigen.
Diese Neigung äußert sich normalerweise in Form von Gewaltandrohung und nicht töd-
licher Gewalt. Gelegentlich passiert jedoch ein „Fehltritt“ und die Gewalt schäumt über
und endet tödlich. „Jede Auseinandersetzung kann ein Spiel mit dem Feuer sein und ein
Mord durch einen Ehepartner kann als Fehltritt in diesem gefährlichen Spiel angesehen
werden.“ (Daly & Wilson, 1988). Ebensolche Fehltritte kann es bei anderen Mordformen
geben, z.B. wenn ein Mann einen anderen Mann umbringt.
Eine Alternative ist ein „evolutionsbedingter Tötungsmechanismus“ (Buss & Duntley,
1998; Duntley & Buss, 1998). Nach dieser Hypothese haben die Menschen, insbesondere
Männer, spezielle psychologische Mechanismen entwickelt, die sie dazu bringen, unter
bestimmten, vorhersehbaren Umständen, z.B. Kriege, intrasexuelle Rivalität, Untreue des
Ehepartners oder Desertierung, ihre Artgenossen umzubringen. Die menschlichen Mord-
fantasien können als ein Teil dieser evolutionsbedingten Mordmechanismen angesehen
werden, denn damit kann der Mensch das Mordszenario geistig aufbauen und durchspie-
len, Aufwand und Nutzen verschiedener Handlungsmöglichkeiten abwägen und sich für
einen Mord entscheiden, wenn die Vorteile größer sind als die Kosten. In vielen Fällen
sind letztere zu hoch: In jeder Gesellschaft riskiert der Täter, sich die Wut der Angehöri-
gen zuzuziehen und von anderen betroffenen Mitgliedern der Gruppe bestraft zu werden
(Daly & Wilson, 1988). Diese Kosten müssen gewichtet werden und lassen viele vor
einem Mord zurückschrecken. Die Theorie besagt nicht, dass Männer einen „Tötungsins-
tinkt“ haben, der sie dazu anstiftet, unabhängig von den Umständen immer zu töten. Sie
meint vielmehr, dass Morde und Tötungen einen Teil der Verhaltensweisen darstellen, zu
denen es aufgrund evolutionsbedingter Mordmechanismen kommt, die durch bestimmte
Inputformen aktiviert werden, woraufhin Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen
werden.
Diese konkurrierenden evolutionären Hypothesen – die Fehltritt-Hypothese und die
Theorie evolutionsbedingter Tötungsmechanismen – konnten bisher in empirischen Tests
noch nicht verglichen werden. Die Häufigkeit von Mordfantasien, die Vorhersagbarkeit
der Umstände, die diese auslösen, die Belege für geschlechtsbezogene Unterschiede und
die Tatsache, dass so viele Morde durchdacht und geplant wurden, sprechen jedoch eher
gegen die Fehltritt-Hypothese. Forschungsarbeiten zur Überprüfung dieser Hypothesen
werden folgen. Im Laufe der nächsten zehn Jahre können wir also mit einer Antwort auf
die Frage rechnen, ob die Menschen spezielle Tötungsmechanismen entwickelt haben.
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 403
Zusammenfassung
Aus Sicht der evolutionären Psychologie ist Aggressivität kein einzelnes oder isolier-
tes Phänomen. Sie stellt vielmehr eine Vielzahl von Strategien dar, die sich unter ganz
besonderen kontextspezifischen Bedingungen auswirken. Diese der Aggressivität
zugrunde liegenden Mechanismen haben sich aus dieser Sicht als – zugegebenerma-
ßen abstoßende – Lösungen für eine ganze Reihe unterschiedlicher adaptiver Prob-
leme entwickelt, z.B. Ressourcenbeschaffung, intrasexueller Wettbewerb, Hierarchie-
Verhandlungen und Bindung des Partners.
Aus dieser Perspektive kommt es erwartungsgemäß zu Abweichungen bei aggressi-
ven Handlungen – zwischen den Geschlechtern, unter Individuen, im Laufe des
Lebens und über Kulturen hinweg. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass Abweichun-
gen nicht automatisch bedeuten, die Biologie sei irrelevant. Eine evolutionspsycholo-
gische Perspektive bezieht viele Disziplinen und Handlungen mit ein: Sie definiert
eine Reihe kausaler Bedingungen, die dazu führen, dass bestimmte Merkmale des
Täters, des Opfers, des sozialen Zusammenhangs und des adaptiven Problems
Aggressivität als strategische Lösung hervorbringen können.
Eine evolutionäre Perspektive legt mindestens sechs verschiedene Vorteile nahe, die
unsere Vorfahren erlangen konnten, wenn sie eine aggressive Strategie verfolgten:
Vereinnahmung der Ressourcen anderer, Verteidigung der Familie gegen Angriffe,
zusätzliche Kosten für intrasexuelle Rivalen, Aufstieg in der Hierarchie von Macht
und Status, Abschreckung von Rivalen von zukünftigen Aggressionen und Abschre-
ckung langfristiger Partner von Untreue oder Verlassen.
Fundierte evolutionäre Argumente weisen darauf hin, dass es zwischen Männern häu-
figer zu Aggressionsausbrüchen kommt, wobei sowohl Täter als auch Opfer meist
Männer sind. Herrscht in einem Partnersystem ein gewisses Maß an Polygynie, so
wird die Selektion risikoreiche Taktiken der Männer begünstigen, um sexuellen
Zugang zu mehr Frauen zu bekommen, als ihnen eigentlich zustehen, und um zu ver-
hindern, ganz von der Partnerwahl ausgeschlossen zu sein. Empirische Belege deuten
darauf hin, dass aggressive Handlungen meist von Männern begangen werden und
dass auch die Opfer in der Regel Männer sind. Diese Belege beziehen auch gleichge-
schlechtliche Morde in vielen Kulturen, die Häufigkeit von Gewalt in der Schule und
ethnografische Daten über physische Gewalt in australischen Aborigines-Gemein-
schaften mit ein.
Eine Reihe von Kontexten kann mit Aggressivität in Verbindung gebracht werden, die
innerhalb jeder Geschlechterkombination von Angreifer und Angegriffenem auftre-
ten. Kontexte, die männliche Aggressionen gegen andere Männer auslösen, sind unter
anderem, unverheiratet und arbeitslos zu sein – dies sind Kontexte, die bedeuten kön-
nen, dass sich der Mann auf dem Weg in die partnerschaftliche Isolation befindet, was
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404 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 10 Aggression und Kriegsführung 405
Der letzte Abschnitt des Kapitels untersuchte zwei gegensätzliche Hypothesen, die
darauf abzielten, die Evolution der Tötung anderer Menschen zu erklären. Die erste
Hypothese geht davon aus, dass Tötungen „Fehltritte“ sind, zu denen es aufgrund von
Gewaltanwendung und -androhung zum Zweck der gewaltsamen Kontrolle anderer
kommt. Die zweite Hypothese geht dagegen davon aus, dass die Menschen – beson-
ders die Männer – spezielle „Tötungsmechanismen“ entwickelt haben, die sie dazu
bringen, andere Menschen unter bestimmten Umständen zu töten, wenn der Nutzen
größer ist als der Aufwand. Die Häufigkeit von Mordfantasien, die Vorhersagbarkeit
der Umstände, die diese auslösen, der Nachweis geschlechtlicher Unterschiede und
die Tatsache, dass so viele Morde genau im Voraus geplant werden – all dies legt
nahe, dass die Theorie der evolutionsbedingten Tötungsmechanismen zutrifft, obwohl
noch weitere Forschungsarbeit nötig ist, um beide Theorien und deren Voraussagen
genau zu vergleichen.
Die evolutionspsychologische Sichtweise menschlicher Aggressivität ist in vielerlei
Hinsicht eingeschränkt. Sie kann beispielsweise heute noch nicht erklären, warum
drei Männer, die mit der Untreue ihrer Frauen konfrontiert werden, ganz unterschied-
lich reagieren können: einer schlägt zu, der andere mordet, der dritte betrinkt sich. Sie
kann auch noch nicht erklären, warum in einigen Kulturen, z.B. bei den Yanomamö,
der Einsatz männlicher Gewalt nötig ist, um Status und Ansehen zu erreichen, wäh-
rend in anderen Kulturen aggressives Handeln zu irreparablem Reputationsverlust
führt. Die gegenwärtige evolutionspsychologische Betrachtung der Aggressivität ist
in dieser und in vielerlei anderer Hinsicht begrenzt.
Doch selbst in dieser fast vorläufigen Phase der Untersuchung liefert die evolutions-
psychologische Sichtweise der Aggressivität eine Hinführung zu bestimmten Unter-
suchungen, die bisher in anderen Disziplinen noch nicht durchgeführt wurden. Sie
kann eine ganze Reihe Ergebnisse zumindest ansatzweise erklären, die bisher als
unerklärbar galten, z.B. dass Männer universal gesehen immer mehr Gewalt gegen
andere Männer ausübten, dass die allgegenwärtige sexuelle Eifersucht der Männer ein
Grund für Gewalt und Mord in der Ehe ist und dass Stiefkinder in ihren Familien
einem größeren Aggressionsrisiko ausgesetzt sind als leibliche Kinder. So gesehen
bringt uns die evolutionspsychologische Perspektive einen Schritt näher an eine kom-
plexe, vielschichtige Theorie menschlicher Aggressivität heran.
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406 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Weiterführende Literatur
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Kapitel
Es wird immer einen Kampf zwischen den Geschlechtern geben, denn Männer und
Frauen wollen unterschiedliche Dinge. Männer wollen Frauen und Frauen wollen
Männer.
– George Burns
In jedem Zeitalter ist der Kampf der Geschlechter vor allem ein Kampf um Sex.
– Donald Symons, 1979
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408 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 409
gien ausgelöst werden. Das Wort negativ ist mit Anführungszeichen versehen, da, obwohl
diese Emotionen normalerweise schmerzhaft sind, angenommen wird, dass sie zur
Lösung von adaptiven Problemen zweckmäßig sind, die durch interferierende Strategien
ausgelöst werden. Zum einen machen sie auf problematische Ereignisse aufmerksam,
konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf diese und schirmen einen Moment lang weni-
ger wichtige Ereignisse ab. Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource, mit der man
umsichtig umgehen sollte. Wenn jemand Wut oder Verzweiflung erlebt, leiten die Emo-
tionen ihn zur Quelle der Verzweiflung. Zum zweiten werden diese Ereignisse in der
Erinnerung gespeichert und können leicht wieder aufgerufen werden. Zum dritten werden
durch Emotionen Handlungen ausgelöst und es wird versucht, die Ursachen der interfe-
rierenden Strategien zu beseitigen.
Zusammengefasst besteht die Theorie der interferierenden Strategien aus zwei Postulaten.
Erstens gibt es immer dann Interferenz zwischen Strategien, wenn Angehörige des einen
Geschlechts die Wünsche der Angehörigen des anderen Geschlechts verletzen; historisch
gesehen hinderten solche Interferenzen unsere Vorfahren daran, ihre sexuellen Strategien zu
verfolgen und beeinträchtigten somit ihren reproduktiven Erfolg. Zweitens stellen „nega-
tive“ Emotionen wie Wut, Zorn und Verzweiflung entwickelte Lösungen zu den Problemen
dar, die durch interferierende Strategien entstehen, indem man auf die Quellen der Interfe-
renz aufmerksam wird und Handlungen ausgelöst werden, diesen entgegenzuwirken.
Bevor wir mit den empirischen Studien fortfahren, die diese Theorie untersuchen, sollten
wir zwei qualifizierende Merkmale betrachten. Erstens dienen Konflikte per se keinen
adaptiven Zwecken. Es ist für Individuen nicht adaptiv, mit dem anderen Geschlecht in
Konflikt zu geraten. Konflikte sind ein unerwünschtes Nebenprodukt der Tatsache, dass
sich die sexuellen Strategien von Männern und Frauen grundlegend unterscheiden.
Eine zweite Qualifikation besteht darin, dass die Metapher „Kampf der Geschlechter“
irreführend ist. Der Satz deutet an, dass Männer in ihren Interessen genauso wie die
Frauen als eine Gruppe vereint sind und dass die zwei Gruppen gegeneinander Krieg füh-
ren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Eine evolutionäre Sichtweise
hilft uns zu verstehen, warum. Männer können aus dem einfachen Grund nicht mit allen
anderen Männer vereint sein, da Männer vor allem mit Angehörigen ihres eigenen
Geschlechts in ständiger Konkurrenz stehen. Das Gleiche gilt für Frauen. Natürlich kön-
nen Männer bzw. Frauen Allianzen mit Angehörigen ihres eigenen Geschlechts eingehen,
aber dies widerspricht nicht dem grundlegenden Prinzip, dass Individuen vor allem in
Konkurrenz zu Angehörigen ihres eigenen Geschlechts stehen. Mit diesen Qualifikatio-
nen im Hinterkopf wenden wir uns nun den empirischen Belegen über die Konflikte zwi-
schen den Geschlechtern zu.
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410 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
lich der gewünschten sexuellen Intimität (Byers & Lewis, 1988). Diese Meinungsver-
schiedenheiten wiesen einen beträchtlichen Geschlechtsunterschied auf. In einer Studie
australischer Studenten berichteten 53 Prozent der 217 Studienteilnehmerinnen, dass
mindestens ein Mann den „Grad der gewünschten Intimität überschätzt“ hatte, während
45 Prozent der 72 männlichen Teilnehmer berichteten, dass mindestens eine Frau „den
Grad der gewünschten Intimität unterschätzt“ hatte (Paton & Mannison, 1995, S. 447).
Manchmal erhoffen sich Männer sexuellen Zugang mit einem Minimum an Investitionen.
Häufig bewachen sie ihre Ressourcen und sind außerordentlich wählerisch, in wen sie
diese investieren. Sie sind mit ihren Ressourcen zurückhaltend und bewahren sie für lang-
fristige Partnerinnen auf. Da Frauen oftmals eine langfristige Partnerstrategie verfolgen,
halten sie Ausschau nach Investitionen oder nach Signalen, die auf Investitionen hindeu-
ten, bevor sie Sex zustimmen. Aber die von Frauen so begehrten Investitionen sind genau
das, was Männer so energisch zurückhalten. Der sexuelle Zugang, den Männer suchen, ist
wiederum genau die Ressource, bei deren Gewährung die Frauen so zurückhaltend sind.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 411
getrunken hatten und ob die Frau damit einverstanden war, mit dem Mann in seinen
Schlafraum zu gehen. Nachdem sie jedes Szenario gesehen hatten, bewerteten die Teil-
nehmer vier Fragen auf einer 7-Punkte-Skala und schätzten den Grad ein, in dem ein
jeder der Akteure entweder eine Bereitschaft oder eine Erwartung ausgedrückt hatte, Sex
zu haben. Die Antworten auf die vier Fragen ergaben zusammengefasst einen zusammen-
gesetzten Index der wahrgenommenen sexuellen Absichten.
Die Ergebnisse sind in Abbildung 11.1 dargestellt. Die brasilianischen Studenten nahmen
mit Durchschnittswerten von 18.77 bzw. 14.27 einheitlich mehr Sexualität im Verhalten
der Akteure wahr als die amerikanischen Studenten. Die Geschlechtsunterschiede waren
ebenfalls hoch signifikant. Brasilianische und amerikanische Männer nahmen mit Durch-
schnittswerten von 17.53 bzw. 15.50 eine deutlichere sexuelle Absicht im Verhalten der
Akteure wahr als die Frauen. Getrennte Analysen in jeder Kultur zeigten, dass die
Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der sexuellen Absichten besonders für die Szena-
rien stabil blieben, in denen die Akteure Alkohol konsumiert hatten.
Im Zweifelsfall schließen Männer auf sexuelles Interesse. Sie handeln gemäß ihrer Inferen-
zen und eröffnen sich so gelegentlich sexuelle Möglichkeiten. Hätte im Lauf der Evoluti-
onsgeschichte auch nur ein geringer Teil dieser Inferenzen zu Sex geführt, hätten Männer
niedrigere Schwellen entwickelt, um auf das sexuelle Interesse von Frauen zu schließen. Es
ist unmöglich eindeutig festzustellen, ob Männer das sexuelle Interesse von Frauen tatsäch-
lich falsch beurteilen, da es unmöglich ist, mit Gewissheit die Interessen und Absichten
einer Person zu bestimmen. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass Männer bei der
Wahrnehmung sexuellen Interesses niedrigere Schwellen haben als Frauen.
Männer
22 Frauen
Sexuelle Absichten
20
18
16
14
12
S1 S2 S3 S4
Dieser männliche Mechanismus ist anfällig für Manipulationen. Frauen wenden Sexualität
manchmal bewusst als Taktik an. In einer Studie von 200 Universitätsstudenten berichte-
ten deutlich mehr Frauen als Männer, dass sie Taktiken wie Lächeln und Flirten einsetzten,
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412 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 413
Um sich gegen Täuschung zu schützen, verbringen Frauen viele Stunden damit, mit ihren
Freundinnen die Einzelheiten von Interaktionen, die sie mit ihrem Partner oder einem mög-
lichen Partner hatten, zu analysieren. Gespräche werden wiedergegeben und genau unter-
sucht. Die meisten Frauen geben zu, dass sie mit ihren Freundinnen reden, um die wahren
Absichten eines Mannes herauszufinden, mit dem sie ausgehen. Männer dagegen widmen
der Einschätzung einer begehrten Frau bedeutend weniger Zeit (Buss, 2003).
Kognitive Tendenzen im Erkennen sexueller Intentionen. Menschen leben in einer
unbeständigen Welt der Partnersuche. Wir müssen ständig Inferenzen über die Absichten
und den emotionalen Zustand anderer ziehen. Wie sehr ist er von ihr angezogen? Wie eng
ist sie mit ihm verbunden? Signalisiert dieses Lächeln sexuelles Interesse oder einfach nur
Freundlichkeit? Manchmal werden psychologische Zustände, wie schwelende Leiden-
schaften für andere Menschen, absichtlich verheimlicht, was die Zweifel noch größer wer-
den lässt und die Inferenzen aus diesem Verhalten noch schwieriger macht. Wir sind
gezwungen, Inferenzen über Absichten und verheimlichte Handlungen zu ziehen, indem
wir eine Reihe von Hinweisen benutzen, die nur probabilistisch mit der tatsächlichen
Handlung zusammenhängen. Ein fremder Geruch am festen Partner beispielsweise könnte
sexuelle Untreue bedeuten oder ein harmloser Duft sein, der in einem normalen Gespräch
angenommen wurde.
Versucht man die Gedanken anderer zu lesen, kann man auf zwei Arten falsch liegen.
Man kann auf einen psychologischen Zustand schließen, der nicht existiert, wie beispiels-
weise anzunehmen, dass sexuelles Interesse besteht, wenn dieses abwesend ist; oder die
tatsächlich vorhandenen romantischen Sehnsüchte des anderen werden übersehen. Nach
einem neuen Ansatz, der so genannten Fehlermanagement-Theorie (error management
theory), ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Kosten-Nutzen-Folgen der bei-
den Arten identisch auftreten. (Haselton, 2003; Haselton & Buss, 2000; Haselton & Buss,
2003; siehe auch Buss, 2001). Wir verstehen dies intuitiv im Zusammenhang mit Feuer-
meldern, die normalerweise hypersensibel auf Rauch eingestellt sind. Die Folgekosten
eines gelegentlichen Fehlalarms sind unbedeutend im Vergleich zu den enormen Kosten,
die entstehen würden, wenn ein Feuer nicht entdeckt würde. Die Fehlermanagement-The-
orie dehnt diese Logik auf die Kosten-Nutzen-Folgen der evolutionären Fitness aus und
insbesondere darauf, die Gedanken des anderen Geschlechts zu lesen.
Nach der Fehlermanagement-Theorie führen Asymmetrien in den Kosten-Nutzen-Folgen
der Inferenzen des Erkennens von Intentionen, wenn sie im Lauf der Evolution wieder-
kehren, zu einem Selektionsdruck, der vorhersagbare kognitive Tendenzen entwickelt. So
wie Feuermelder „dazu tendieren“, mehr Fehlalarme als Feueralarme auszulösen, so sagt
die Fehlermanagement-Theorie voraus, dass Mechanismen des Erkennens von Intentio-
nen dazu tendieren, eher zur einen Art von Inferenzfehler zu führen, als zur anderen.
Zwei potentielle Tendenzen des Erkennens von Intentionen wurden erforscht. Die erste
ist die Tendenz der übersteigerten Wahrnehmung sexueller Interessen seitens der Frau
(sexual overperception bias), nach der Männer beim Erkennen von Intentionen dazu nei-
gen, die Kosten verpasster sexueller Möglichkeiten zu minimieren. Die Fehlermanage-
ment-Theorie liefert so eine stichhaltige Erklärung für das oben diskutierte Beispiel, dass
Männer fälschlicherweise annehmen, eine Frau sei sexuell an ihnen interessiert, wenn sie
sie anlächelt, ihren Arm berührt oder auf einen Drink in der Kneipe vorbeikommt.
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414 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Die zweite ist die Tendenz der Frauen, Bindungen skeptisch einzuschätzen (commitment
skepticism bias) (Haselton & Buss, 2000). Nach dieser Hypothese haben Frauen eine Tendenz
entwickelt, den tatsächlichen Grad der romantischen Bindung eines Mannes zu Beginn des
Umwerbens zu unterschätzen. Diese Tendenz hat die Funktion, die Kosten zu minimieren,
von Männern getäuscht zu werden, die Bindungswillen heucheln, um eine Strategie für Gele-
genheitssex zu verfolgen. Wenn Männer den umworbenen Frauen Blumen überreichen oder
Geschenke machen, tendieren die Empfänger dazu, das Ausmaß, in dem diese Geschenke
Bindung signalisieren, im Vergleich zu „objektiven“ Beobachtern zu unterschätzen. Natürlich
gibt es gute Gründe für Frauen, am Bindungswillen des Mannes zu zweifeln. Männer, die
Gelegenheitssex suchen, versuchen Frauen regelmäßig über ihren Bindungswillen, ihren sozi-
alen Status und sogar ihre Zuneigung zu Kindern zu täuschen. Diese Bereiche der Täuschung
sind den Frauen wohl bekannt (Keenan, Gallup, Goulet & Kulkarni, 1997).
Die Fehlermanagement-Theorie bietet eine neue Sichtweise auf die Schwierigkeiten bei der
Partnersuche. Sie legt nahe, dass bestimmte Fehler eher funktionelle Adaptationen als Män-
gel der psychologischen Maschinerie reflektieren. Sie gibt neue Einblicke, warum Männer
und Frauen in Konflikt geraten, z.B. die Tendenz der Männer zur übersteigerten Wahrneh-
mung sexueller Interessen der Frau, die zu unerwünschter sexueller Anmache führt. Die
Kenntnis dieser Tendenzen und die evolutionäre Logik ihrer Entstehung könnte Männern
und Frauen helfen, die Gedanken und Absichten ihres Gegenübers besser zu deuten.
Sexuelle Belästigung. Diskrepanzen über sexuellen Zugang gibt es nicht nur im Zusam-
menhang mit Verabredungen und ehelichen Beziehungen, sondern auch am Arbeitsplatz,
wo Menschen häufig kurzfristige und langfristige Partner suchen. Sexuelle Belästigung
wird als „unerwünschte und unerbetene sexuelle Aufmerksamkeit von anderen Indivi-
duen am Arbeitsplatz“ definiert (Terpstra & Cook, 1985). Sie reicht von unerwünschtem
Anstarren und sexuellen Kommentaren bis zu körperlichen Übergriffen wie das Berühren
der Brüste, des Gesäßes oder der Genitalien. Sexuelle Belästigung führt zu offensichtli-
chen Konflikten zwischen den Geschlechtern und ist ein Ergebnis der entwicklungsbe-
dingten psychologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen (Brown, 2002).
Sexuelle Belästigung wird normalerweise durch die Möglichkeit motiviert, dass sie zu
einer kurzfristigen sexuellen Begegnung führen kann, auch wenn nicht ausgeschlossen
wird, dass sie durch den Wunsch motiviert wird, Macht zu zeigen oder durch die Suche
nach einer langfristigen romantischen Beziehung. Die Ansicht, dass sexuelle Belästigung
durch die unterschiedlichen sexuellen Strategien von Mann und Frau erzeugt wird, wird
durch die Profile der typischen Opfer gestützt, wozu Faktoren wie Geschlecht, Alter,
Familienstand und Attraktivität gehören, sowie die Reaktionen auf unerwünschte sexuelle
Anmache und die Umstände, unter denen die Belästigungen stattfanden.
Die Opfer sexueller Belästigung sind nicht zufällig überwiegend beim weiblichen
Geschlecht zu finden. In einer Studie von Beschwerden, die beim Illinois Department of
Human Rights über einen Zeitraum von zwei Jahren registriert wurden, reichten Frauen
76 Beschwerden ein, während Männer nur fünf Beschwerden einreichten. In einer weite-
rer Studie, die 10.644 Angestellte der Bundesregierung erfasste, gaben 42 Prozent der
Frauen, aber nur 15 Prozent der Männer an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein
(Gutek, 1985). Von den Beschwerden über sexuelle Belästigung, die bei den Behörden
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 415
einer kanadischen Provinz eingingen, stammten 93 von Frauen und nur zwei von Män-
nern. In den beiden Fällen, in denen Männer Opfer sexueller Belästigung waren, wurden
diese von Männern belästigt. Somit sind Frauen im Allgemeinen die Opfer sexueller
Belästigung und Männer im Allgemeinen die Täter. Angesichts der Tendenz, dass Frauen
mehr unter sexueller Aufdringlichkeit oder Aggressivität leiden, reagieren sie bestürzter
auf die gleichen Akte sexueller Belästigung als Männer (Buss, 2003; Rotundo, Nguyen &
Sackett, 2001). Daher reichen Frauen wahrscheinlich eher offizielle Beschwerden ein,
wenn sie belästigt werden.
Obwohl jede Frau das Ziel sexueller Belästigung sein kann, sind vor allem junge, attrak-
tive und allein stehende Frauen betroffen. Frauen über 45 werden seltener Opfer vielseiti-
ger Formen sexueller Belästigung als jüngere Frauen (Studd & Gattiker, 1991). Eine Stu-
die stellte fest, dass 72 Prozent der Beschwerden von Frauen im Alter zwischen 20 und 35
eingereicht wurden, obwohl sie nur 43 Prozent der Belegschaft darstellten. Frauen über
45, die 28 Prozent der Belegschaft ausmachten, reichten dagegen nur fünf Prozent der
Beschwerden ein. In keiner der vielen Studien über sexuelle Belästigung waren ältere
Frauen dem gleichen oder einem höheren Risiko an Belästigungen ausgesetzt als junge
Frauen. Die Opfer sexueller Belästigung sind relativ jung, was mit den allgemeinen
Manifestationen männlichen sexuellen Interesses übereinstimmt.
Reaktionen auf sexuelle Belästigungen tendieren dazu, der Logik zu folgen, die durch die
evolutionäre Psychologie vorhergesagt wird. Als Männer und Frauen gefragt wurden, wie
sie sich fühlen würden, wenn ein Kollege des anderen Geschlechts sie fragen würde, ob
sie mit ihm Sex haben wollten, antworteten 63 Prozent der Frauen, sie wären beleidigt,
während eine Minderheit, nämlich 17 Prozent der Frauen antwortete, sie würden sich
geschmeichelt fühlen. Die Reaktionen der Männer waren genau gegenteilig. Nur 15
Prozent der Männer sagten, sie wären beleidigt, während 67 Prozent sich geschmeichelt
fühlten. Diese Reaktionen stimmen mit der evolutionären Logik des Partnerverhaltens
überein, mit der Männer auf die Aussicht auf Gelegenheitssex positiv reagieren, während
Frauen sich als Sexobjekte herabgesetzt fühlen. Diese Ergebnisse unterstützen die Theo-
rie der interferierenden Strategien.
Der Grad der Empörung über sexuelle Annäherungsversuche hängt jedoch teilweise auch
vom Status des Belästigers ab. In einer Studie bewerteten 109 College-Studentinnen, wie
verärgert sie wären, wenn sie ein ihnen unbekannter Mann, dessen beruflicher Status von
niedrig bis hoch variierte, beharrlich fragen würde, ob sie mit ihm ausgehen würden,
obwohl sie dies schon mehrmals abgelehnt hatten (Buss, 2003). Auf einer 7-Punkte-Skala
waren die Frauen am meisten über beharrliche Annäherungsversuche von Bauarbeitern
(4.04), Müllmännern (4.32), Reinigungspersonal (4.19) und Mitarbeitern an der Tank-
stelle (4.13) verärgert und am wenigsten über beharrliche Annährungsversuche von
Medizinstudenten (2.65), anderen Studenten (2.80) oder erfolgreichen Rockstars (2.71).
Als 104 andere Frauen befragt wurden, wie geschmeichelt sie sich durch ein direktes
sexuelles Angebot von Männern verschiedener Berufe fühlen würden, fielen die Antwor-
ten ähnlich aus. Es scheint, als ob die Emotionen der Belästigten, die interferierende Stra-
tegien in Bezug auf die belästigende Person signalisieren, sensibel auf den Status des
Belästigers reagieren würden.
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416 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Die Befunde zu den Profilen der Opfer sexueller Belästigungen, die Geschlechtsunter-
schiede emotionaler Reaktionen auf sexuelle Belästigung und die Bedeutung des Status des
Belästigers folgen der evolutionären Logik sexueller Strategien und der Theorie der interfe-
rierenden Strategien. Männer entwickelten niedrigere Schwellen, um Gelegenheitssex ohne
Bindung zu verwirklichen und um sexuelle Absichten bei anderen wahrzunehmen. Diese im
Laufe der Evolution entstandenen sexuellen Mechanismen wirken im Arbeitsumfeld nicht
anders als in anderen sozialen Zusammenhängen. Frauen haben psychologische Muster von
Wut und Verärgerung in Reaktion auf sexuelle Belästigung entwickelt – Emotionen, die ver-
mutlich die interferierenden Strategien neutralisieren oder die Wahrscheinlichkeit ihres
künftigen Auftretens verringern.
Sexuelle Aggressivität. Sexuelle Aggressivität, die nachhaltige Verfolgung sexuellen Zugangs
trotz der Abneigung oder des Widerstands einer Frau, kann außer der sexuellen Belästigung
auch viele andere Formen annehmen. Die Strategie der sexuellen Aggressivität wird von
Männern angewandt, um die Kosten des sexuellen Zugang zu minimieren, obwohl sie wie-
derum mit Kosten wie Vergeltungsmaßnahmen und einer Schädigung des eigenen Ansehens
verbunden ist. Sexuelle Aggression tritt exemplarisch auf in der Forderung oder Erzwingung
sexueller Intimitäten, wenn keine Zustimmung zum Sex erhalten wurde und die Berührung
des Körpers einer Frau gegen deren Willen erfolgte. In einer Studie wurden Studentinnen
gebeten, auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht verletzend) bis 7 (extrem verletzend) 147
potentiell verletzende Handlungen zu bewerten, die Männer ihnen antun könnten (Buss,
1989b). Frauen bewerteten sexuelle Aggressivität mit durchschnittlich 6.5. Keine anderen
Handlungen der Männer, zu denen verbale Beschimpfung und nicht sexuelle körperliche
Misshandlung gehörten, wurden von Frauen als so verletzend bewertet wie sexuelle Aggres-
sion. Im Gegensatz zur Meinung einiger Männer lehnen Frauen erzwungenen Sex strikt ab.
Ganz anders dazu scheinen Männer sich weit weniger belästigt zu fühlen, wenn eine Frau
sexuell aggressiv ist. Sie bewerteten dies als relativ harmlos, verglichen mit anderen Quellen
des Unbehagens. Auf derselben 7-Punkte-Skala bewerteten Männer die Gruppe sexuell
aggressiver Handlungen mit 3,02 oder leicht verletzend, wenn diese von einer Frau begangen
wurden. Einige Männer schrieben spontan an den Rand des Fragebogens, dass sie es sexuell
erregen würde, wenn sich eine Frau sexuell aggressiv verhält. Andere Verletzungen wie
Untreue, sowie verbale Beschimpfungen und körperlicher Missbrauch wurden mit 6.04 und
5.55 Punkten als sehr viel verletzender empfunden als sexuelle Aggression durch Frauen.
Ein beunruhigender Unterschied zwischen Männer und Frauen ist die Tatsache, dass Män-
ner durchweg unterschätzen, wie unakzeptabel sexuelle Aggression für Frauen ist. Männer,
die gebeten wurden, die negativen Auswirkungen sexueller Aggressionen auf Frauen zu
bewerten, bewerteten sie auf einer 7-Punkte-Skala mit 5.8 Punkten, während Frauen sie mit
6.5 Punkten bewerteten. Dies stellt eine alarmierende Konfliktquelle zwischen den
Geschlechtern dar, da sie impliziert, dass einige Männer dazu neigen, sexuell aggressive
Handlungen zu begehen, weil sie nicht erkennen, wie verletzend diese auf Frauen wirken.
Neben den Konflikten zwischen Individuen bei ihrem heterosexuellen Interagieren könnte
es einen weiteren Mechanismus dafür geben, dass Männer wenig Einfühlungsvermögen in
Vergewaltigungsopfer haben: sie scheitern dabei, den psychischen Schmerz von Frauen als
Folge sexueller Misshandlung nachzuempfinden (Thornhill, 1996).
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 417
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418 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
jedoch kein entscheidender Beleg für oder gegen die konkurrierenden Vergewaltigungsthe-
orien. Dieses Ergebnis könnte auf die Präferenzen der Männer für fruchtbare Frauen in regu-
lären Zusammenhängen der Partnersuche zurückzuführen sein (siehe Kapitel 5) und daher
sind Vergewaltigungs-Adaptationen nicht erforderlich, um dieses Ergebnis zu erklären.
Bei Labortests, in denen Männer visuelle Darstellungen von Vergewaltigungen betrachte-
ten, wurde festgestellt, dass Männer sexuell erregt wurden, genau so wie bei der Betrach-
tung einvernehmlicher sexueller Begegnungen (Thornhill & Thornhill, 1992). Männer
werden in jedem Fall sexuell erregt. Nichtsdestotrotz können auch diese Ergebnisse nicht
zwischen der Theorie der Vergewaltigung als Adaptation und der Theorie der Vergewalti-
gung als Nebenprodukt unterscheiden, da sexuelle Erregung durch beide vorhergesagt
wird. Zudem kann körperliche Gewalt gegen Frauen oder eine Ekelreaktion der Frau die
sexuelle Erregung bei den meisten Männern hemmen, was der Hypothese der Vergewalti-
gung als Adaptation scheinbar entgegensteht.
Offensichtlich unterscheiden sich Männer in ihrem Hang zu Vergewaltigungen. In einer
Studie wurden Männer gebeten sich vorzustellen, dass sie Sex mit einer Frau gegen deren
Willen haben könnten und dass dies niemals entdeckt werden würde. In der Studie gaben
35 Prozent eine Wahrscheinlichkeit größer Null an für eine Vergewaltigung unter diesen
Umständen, auch wenn in den meisten Fällen die Wahrscheinlichkeit gering war (Mala-
muth, 1981; siehe auch Young & Thiessen, 1992, für ein ähnliches Ergebnis). Obwohl
diese Werte alarmierend hoch sind, bieten sie keine klare Unterstützung für die Theorie
der Vergewaltigung als Adaptation. Werden die Ergebnisse für bare Münze genommen,
so zeigen sie, dass die meisten Männer keine potentiellen Vergewaltiger sind.
Vor mehr als zwei Jahrzehnten folgerte Donald Symons: „Ich glaube nicht, dass die vor-
handenen Daten ausreichend sind, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass Verge-
waltigung eine fakultative Adaptation im Mann darstellt.“ (Symons, 1979, S. 284). Die
heute vorliegenden Belege legen nahe, dass diese Schlussfolgerung noch immer zutref-
fend ist. Nichtsdestotrotz, die Abwesenheit von Belegen ist kein Beleg der tatsächlichen
Abwesenheit. Die Tatsache, dass Untersuchungen der Gründe von Vergewaltigungen
ideologisch aufgeladen sind, erzeugt ungewollt den Effekt, Forschungsbemühungen zu
vereiteln, die die wahren Gründe für dieses abscheuliche Phänomen identifizieren könn-
ten (siehe Jones, 1999, für eine ausgewogene Diskussion über Vergewaltigungstheorien
und relevante empirische Belege).
Haben Frauen Adaptationen entwickelt, die gegen Vergewaltigung gerichtet sind?
Obwohl sich die Kontroverse über die Erklärungen von Vergewaltigung auf die Motiv-
ationen der Männer konzentriert, ist es auch wichtig, die Vergewaltigungsopfer zu untersu-
chen. In einem Punkt der Opferpsychologie sind sich alle theoretischen Lager einig: Verge-
waltigung ist abscheulich und fügt dem Opfer schwere Schäden zu. Man benötigt keine
formale Theorie für dieses Verständnis, aber es ist wichtig zu untersuchen, warum Verge-
waltigung von den Opfern als außerordentlich traumatisch erlebt wird. Aus der evolutionä-
ren Perspektive beginnt der Schaden durch die Vergewaltigung mit der Einmischung in die
Partnerwahl der Frau, einem wichtigen Teil ihrer sexuellen Strategien (siehe Kapitel 4).
Eine vergewaltigte Frau riskiert eine ungewollte und ungeplante Schwangerschaft von
einem Mann, den sie nicht ausgewählt hat. Zudem werden Vergewaltigungsopfer oft
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 419
beschuldigt oder gar bestraft, was zu einer Beschädigung ihres Ansehens und einer Verrin-
gerung ihres zukünftigen Partnerwerts führt. Lebt die vergewaltigte Frau in einer Partner-
schaft, besteht das Risiko, dass sie verlassen wird. Vergewaltigte Frauen leiden auch unter
psychologischen Nachwirkungen wie Erniedrigung, Sorgen, Angst, Wut und Depressionen.
In Anbetracht dieser Schäden wäre es daher überraschend, wenn die Selektion bei Frauen
nicht entsprechende Verteidigungsmechanismen entwickelt hätte. Wir möchten darauf hin-
weisen, dass diese Frage nichts damit zu tun hat, ob Männer eine Vergewaltigungs-Adapta-
tion entwickelt haben oder nicht. Im Prinzip hätten Frauen selbst dann Mechanismen
gegen Vergewaltigungen entwickeln können, wenn Vergewaltigung ein Nebenprodukt
anderer Mechanismen in Männern wäre. Auch wenn wir keine Zeitreise in die Vergangen-
heit unternehmen können, legen historische Aufzeichnungen und anthropologische Ethno-
grafien nahe, dass Vergewaltigung kulturübergreifend schon immer vorgekommen ist
(Buss, 2003). Von den Semai in Malaysia bis zu den !Kung San in Botswana gibt es viele
Aufzeichnungen über Vergewaltigungen. Die von Thomas Gregor studierten Gruppen am
Amazonas haben sogar eigene Worte für Vergewaltigung (antapai) und Gruppenvergewal-
tigung (aintyawakakinapai) (Gregor, 1985). Die evolutionäre Anthropologin Barbara
Smuts fasst diese Belege wie folgt zusammen: „Obwohl das Vorherrschen männlicher
Gewalt gegen Frauen kulturell variiert, deuten Belege darauf hin, dass Gesellschaften, in
denen Männer Frauen selten angreifen oder vergewaltigen, die Ausnahme und nicht die
Norm darstellen.“ (Smuts, 1992, S. 1).
Wenn Vergewaltigung eine wiederkehrende Gefahr für Frauen darstellte, stellt sich die
Frage, welche Verteidigungsmaßnahmen entwickelt wurden, um sie zu verhindern? Sol-
che Maßnahmen könnten sein:
T Die Bildung von Allianzen mit anderen Männern als „spezielle Freunde“, um Schutz
zu erhalten (Smuts, 1992)
T Partnerwahl basierend auf Qualitäten der Männer wie körperliche Größe und soziale
Dominanz, die andere Männer von sexueller Aggression abschrecken – die „Body-
guard-Hypothese“ (Wilson & Mesnick, 1997)
T Die Kultivierung weiblicher Koalitionen zum Schutz (Smuts, 1992)
T Die Entwicklung spezieller Ängste, die Frauen motivieren, bestimmte Situationen zu
meiden, in denen sie Gefahr laufen könnten, vergewaltigt zu werden (Chavanne &
Gallup, 1998)
T Die Vermeidung riskanter Aktivitäten während der Ovulation, um die Risiken sexuel-
ler Angriffe zu vermindern (Chavanne & Gallup, 1998)
T Psychische Schmerzen infolge einer Vergewaltigung, die Frauen motivieren, Verge-
waltigung in Zukunft zu vermeiden (Thornhill & Palmer, 2000)
Obwohl Forschungen über diese vermuteten Schutzmaßnahmen erst begonnen haben,
scheinen sie viel versprechend zu sein. Frauen, die keine oralen Verhütungsmittel einneh-
men, tendieren dazu, während ihrer Ovulation mehr als zu anderen Zeiten ihres Zyklus
riskante Aktivitäten zu vermeiden wie alleine in eine Bar oder durch eine schwach
beleuchtete Gegend zu gehen (Chavanne & Gallup, 1998). Größere Angst vor Vergewalti-
gung korreliert positiv mit einer Zunahme von Vorsichtsmaßnahmen, beispielsweise zu
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420 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
vermeiden, dass man mit Männern, die man nicht kennt, oder Männern, die einen sexuell
anmachen, allein ist. Dies weist auf eine Emotion hin, die ein Verhalten auslöst, das ein
Vergewaltigungsrisiko reduziert. Junge Frauen haben eine größere Angst vor Vergewalti-
gung als ältere Frauen, die sich mehr davor fürchten, ausgeraubt oder überfallen zu wer-
den, was zeigt, dass Angst vor Vergewaltigung mit dem statistischen Risiko einhergeht
(Pawson & Blanks, 1993). Direkte Tests der „Bodyguard-Hypothese“ wurden noch nicht
durchgeführt, auch wenn verheiratete Frauen über geringere Vergewaltigungsraten
berichten als allein stehende Frauen (Wilson & Mesnick, 1997).
Zusammengefasst verspricht die bisher durchgeführte empirische Arbeit die Entdeckung von
Mechanismen gegen Vergewaltigungen bei Frauen. Angesichts der alarmierenden Vergewal-
tigungsraten in unserer Gesellschaft ist es dringend erforderlich, Forschungen über Anti-Ver-
gewaltigungs-Strategien und ihre relative Effektivität durchzuführen, unabhängig davon ob
sie Adaptationen oder Nebenprodukte kognitiver und emotionaler Mechanismen sind.
Individuelle Unterschiede in der sexuellen Aggression: Die Partner-Deprivations-Hypo-
these. Nicht alle Männer verhalten sich Frauen gegenüber sexuell aggressiv. Evolutio-
näre Psychologen wie Neil Malamuth führten Studien durch, um die Merkmale von sexu-
ell aggressiven Männern zu identifizieren (Malamuth, 1996; Malamuth, Sockloskie, Koss
& Tanaka, 1991). Die Forscher haben zwei Wege zur sexuellen Aggression identifiziert.
Der erste ist der unpersönliche Sexpfad (impersonal sex path). Dieser wird von Männern
verfolgt, die sexuelle Eroberung als wichtig für ihren Status in Gruppen und ihre Selbst-
achtung ansehen. Nicht alle Männer, die diese Strategie verfolgen, wenden sexuelle
Aggression an, aber sie ist statistisch gesehen häufig mit sexueller Aggression verbunden.
Der zweite Weg wird Pfad der feindlichen Männlichkeit (hostile masculinity path)
genannt. Dieser kombiniert zwei miteinander in Beziehung stehende Komponenten: (1)
unsichere, defensive, hypersensible, feindliche und misstrauische Orientierung insbeson-
dere in Bezug auf Frauen und (2) Freude an der Dominanz und Kontrolle über Frauen.
Männer, die in Bezug auf feindliche Männlichkeit hoch punkten, haben oftmals Ableh-
nung durch Frauen erfahren. Sie stimmen Aussagen zu wie „Ich wurde durch viele
Frauen in meinem Leben zurückgewiesen“ und „Ich bin sicher, dass ich bei Frauen
schlecht ankomme“ (Malamuth, 1996). Diese Männer haben das Gefühl, dass sie von
Frauen verletzt, getäuscht, verraten und manipuliert wurden. Malamuth erklärt, dass diese
Strategie es Männern erleichtert, Sympathie oder Anteilnahme für das Opfer zu vermei-
den, was ansonsten die Anwendung sexueller Aggression hemmen würde.
Das wichtigste Ergebnis dieser Forschung liegt darin, dass die Kombination der Pfade ein
Vorzeichen für sexuelle Aggression ist. Männer, die sowohl eine unpersönliche Orientie-
rung als auch feindliche Männlichkeit an den Tag legen, sind stärker gefährdet, sich Frauen
gegenüber sexuell aggressiv zu verhalten. Die Forschung hat zu einer spezifischen evoluti-
onspsychologischen Vorhersage geführt: Für Männer, die einen Mangel an sexuellem
Zugang zu Frauen erlebt haben, ist es wahrscheinlicher, Taktiken der sexuellen Aggression
anzuwenden (Lalumiere, Chalmers, Quinsey & Seto, 1996). Dies wurde als Partner-
Deprivations-Hypothese bezeichnet (siehe Lalumiere & Quinsey, 1996; Quinsey & Lalu-
miere, 1995; Thornhill & Thornhill, 1983, 1992). Nach dieser Hypothese haben Männer
eine Partnerstrategie unter Vorbehalten entwickelt; wenn sie Partner nicht durch Attraktion
für sich gewinnen können, erleben sie Deprivation. Diese löst vermehrt Taktiken der sexu-
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 421
ellen Aggression aus, um zu vermeiden, dass sie völlig leer ausgehen. Im Extremfall kann
dies zu Vergewaltigung führen. „Vergewaltigung wird von Männern angewandt, die im
Wettbewerb um Ressourcen und Status, die zur Anziehung begehrenswerter Partner not-
wendig sind, relativ erfolglos sind.“ (Thornhill, Thornhill, & Dizinno, 1986, S 103).
Diese Hypothese wurde an einer Stichprobe von 156 heterosexuellen Männern mit einem
Durchschnittsalter von 20 getestet (Lalumiere et al., 1996). Die Maße sexueller Nötigung
umfassten sowohl nicht-körperliche Nötigung (z.B. „Hatten Sie jemals Geschlechtsverkehr
mit einer Frau, obwohl sie eigentlich nicht zustimmte, sich aber durch ihre andauernden
Diskussionen unter Druck fühlte?“) und körperliche Nötigung (z.B. „Hatten Sie jemals
Geschlechtsverkehr mit einer Frau gegen deren Willen, weil sie körperliche Gewalt
anwandten?“). Die Maße des Erfolgs bei der Partnersuche wurden, anhand einer „Self-Per-
ceived Mating Success Scale“ (Skala des selbst wahrgenommenen Partnererfolges) einge-
schätzt, die Punkte enthielt wie „Angehörige des anderen Geschlechts, die ich mag, mögen
mich auch“; „Mir werden viele Komplimente von Angehörigen des anderen Geschlechts
gemacht“ und „Angehörige des anderen Geschlechts fühlen sich von mir angezogen“. Auch
der sozioökonomische Status und das künftige potentielle Einkommen wurden erhoben.
Die Ergebnisse widersprachen den Vorhersagen, die die Autoren von der Partner-Depriva-
tions-Hypothese über sexuelle Aggression abgleitet hatten. Männer, die im selbst wahrge-
nommenen Partnererfolg hohe Punkte erzielt hatten, tendierten dazu, auch bei den Maßen
der sexuellen Aggression hoch zu punkten, wie in Abbildung 11.2 dargestellt. Zudem ten-
dierten Männer, die ihr künftiges Einkommenspotential als hoch einschätzten, mehr dazu,
körperliche Nötigung anzuwenden als Männer, die ihr künftiges Einkommen als niedrig
einschätzten. Somit wird die Partner-Deprivations-Hypothese nicht unterstützt, was zeigt,
dass sich evolutionspsychologische Hypothesen als falsch herausstellen können.
0.7
Selbst wahrgenommene
0.3
Partnererfolge
–0.1
–0.5
–0.9
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Abbildung 11.2: Selbst wahrgenommener Erfolg bei Partnern und sexuelle Aggression
Die Abbildung zeigt, dass Männer, die in Bezug auf den von ihnen wahrgenommenen Erfolg beim
Partner hoch punkten, dazu tendieren, auch bei sexueller Nötigung hoch zu punkten, was im Wider-
spruch zur Partner-Deprivations-Hypothese steht.
Quelle: Ethology and Sociobiology, 17, M. L. Lalumiere, L. J. Chalmers, V. L. Quinsey & M. C. Seto. A test of
the mate deprivation hypothesis of sexual coercion, 299-318, copyright © 1996 by Elsevier Science.
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422 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Männer, die dazu tendierten, sexuell aggressiv zu sein, verfolgen eine kurzfristige sexu-
elle Strategie. Sie drückten eine größere Präferenz für wechselnde Partner und Gelegen-
heitssex aus, was das Ergebnis von Malamuth (1996) unterstützt, dass unpersönlicher Sex
einen Pfad zu sexueller Aggression darstellt. Tatsächlich berichteten sexuell aggressive
Männer in dieser Stichprobe über mehr Paarungsmöglichkeiten, regelmäßigen
Geschlechtsverkehr und einen ausgedehnteren sexuellen Hintergrund als Männer, die
keine Taktiken der sexuellen Aggression anwandten.
Die Autoren schlagen eine Möglichkeit vor, wie die Partner-Deprivations-Hypothese
doch noch zu retten wäre. Sie empfehlen eine „Mikro-Partner-Deprivations-Hypothese“,
nach der Männer, die eine kurzfristige Partnerstrategie anwenden, periodisch unter
Schwierigkeiten leiden, sexuellen Zugang sicherzustellen und deshalb auf aggressive
Taktiken zurückgreifen. Künftige Forschungen müssen daher das Verhältnis zwischen
dem Geschlechtsverkehr unter Zwang und dem ohne Zwang feststellen, um diese Modifi-
kation der Partner-Deprivations-Hypothese zu testen.
Sexuelle Verweigerung. Sexuelle Verweigerung stellt die Umkehrung der sexuellen
Aggression dar. Männer beschweren sich häufig über die sexuelle Verweigerung der
Frauen, die durch Handlungen wie verführerisches Verhalten, Ablehnung des
Geschlechtsverkehrs und sexuelle Anmache mit anschließend abruptem Beenden dersel-
ben definiert wird. Auf einer 7-Punkte-Skala bewerteten Männer die sexuelle Verweige-
rung mit 5,03 und Frauen mit 4,29 Punkten (Buss, 1989b). Beide Geschlechter sind über
sexuelle Verweigerung verärgert, Männer jedoch deutlich mehr als Frauen.
Für Frauen erfüllt ihre sexuelle Verweigerung mehrere Funktionen. Eine ist die Wahrung
ihrer Interessen, Männer auszuwählen, die bereit sind, sich emotional einzulassen und
materiell zu investieren. Frauen verweigern sich bestimmten Männern und haben Sex mit
anderen ihrer Wahl. Zudem erhöhen Frauen durch die Verweigerung ihren sexuellen
Wert. Sie verwenden Sex als seltene Ressource. Knappheit erhöht den Preis, den Männer
zu zahlen bereit sind. Wenn Männer nur durch Investitionen sexuellen Zugang erreichen
können, so werden sie diese Investitionen aufbringen. Unter Bedingungen sexueller
Knappheit erhalten Männer, die nicht zu investieren bereit sind, keinen sexuellen Zugang.
Dadurch entsteht ein weiterer Konflikt zwischen Mann und Frau: Ihre Verweigerung
beeinträchtigt seine Strategie, früher und mit weniger emotionalen Bedingungen sexuel-
len Zugang zu erhalten.
Eine weitere Funktion der sexuellen Verweigerung ist die Manipulation des Partnerwerts
einer Frau. Da äußerst begehrenswerte Frauen für den durchschnittlichen Mann sexuell
unerreichbar sind, nutzen Frauen die Wahrnehmung der Männer über ihre Attraktivität
aus und verweigern den sexuellen Zugang (Buss, 2003). Eine letzte mögliche Funktion
der sexuellen Verweigerung, zumindest zu Beginn einer Beziehung, ist den Mann zu
ermutigen, eine Frau als permanente und nicht nur als vorübergehende Partnerin zu
sehen. Wenn sexueller Zugang schon früh gewährt wird, sehen Männer Frauen als flüch-
tige Partnerinnen. Sie nehmen sie als promiskuitiv und leicht zu erobern wahr. Das sind
Merkmale, die Männer bei einer langfristigen Partnerin ablehnen.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 423
11.3 Eifersucht
In Kapitel 5 beschäftigten wir uns mit den Präferenzen der Männer bezüglich langfristi-
ger Partner, von denen eine der Wunsch nach einem sexuell treuen Partner war. Diese
Präferenz ist dazu bestimmt, das Problem der Unsicherheit der Vaterschaft, zumindest
teilweise, zu lösen. Dies gibt einen Hinweis darauf, dass Männer sehr um mögliche sexu-
elle Kontakte ihrer Partnerin mit anderen Männern besorgt sind. Wie wir in Kapitel 6
gesehen haben, können Frauen aus außerehelichen Affären potentielle Vorteile wie Res-
sourcen, gute Gene und eventuell einen besseren Partner gewinnen. Diese Überlegungen
deuten auf eine tief gehende Quelle des Konflikts zwischen den Geschlechtern hin: den
Wunsch des Mannes nach exklusivem sexuellen Zugang zu seiner Frau und dem Wunsch
der Frau nach potentiellem sexuellen Kontakt mit anderen Männern. Kurz gesagt gibt es
Konfliktpotential zwischen den Geschlechtern hinsichtlich sexueller Untreue.
Das Potential der Untreue stellt für den Mann ein ernsthaftes adaptives Problem dar, das
beim Menschen noch aufgrund der Investitionen vergrößert wird, die ein Mann auf seine
Kinder verwendet. Wurde der Mann betrogen, muss er die Möglichkeit in Betracht zie-
hen, dass er seine Ressourcen in die Kinder eines anderen Mannes investiert. Aber das
Problem ist weitaus ernster. Der Mann verliert nicht nur seine Investitionen, sondern auch
die seiner Partnerin, die sich nun um die Kinder eines anderen Mannes kümmert. Zusätz-
lich verliert der betrogene Ehemann all die Energie und Anstrengung, die er in die Aus-
wahl, die Anziehung und das Werben um seine Partnerin gesteckt hat.
Unsere Vorfahren, die daran scheiterten, dieses adaptive Problem zu lösen, riskierten
nicht nur direkte reproduktive Verluste, sondern auch ihren Status und ihren Ruf, was ihre
Fähigkeit beeinträchtigen konnte, auf andere Partner anziehend zu wirken. In der griechi-
schen Kultur wurde die Situation des gehörnten Ehemannes wie folgt beschrieben:
Die Untreue der Frau .... bringt Schande über den Ehemann, der als Keratas be-
zeichnet wird, – die schlimmste Beleidigung für einen Griechen – ein schändlicher
Schimpfname, der mit Assoziationen der Schwäche und Unzulänglichkeiten ver-
bunden ist... Während es für die Frau sozial akzeptabel ist, ihren untreuen Ehe-
mann zu tolerieren, ist es für einen Mann sozial nicht akzeptabel, seine untreue
Frau zu tolerieren und wenn er dies tut, so macht man sich über sein unmännli-
ches Verhalten lustig (Safilios-Rothschild, 1969, S. 78-79).
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424 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Evolutionäre Psychologen haben die Hypothese aufgestellt, dass sexuelle Eifersucht ein
psychologischer Mechanismus ist, der bei Männern entwickelt wurde, um den vielfälti-
gen potentiellen Kosten der Untreue entgegenzuwirken (Daly, Wilson & Weghorst, 1982;
Symons, 1979).
Männliche Eifersucht kann dieses adaptive Problem auf mehrere Arten lösen. Zum einen
kann sie den Mann für Umstände sensibilisieren, in denen seine Partnerin untreu sein
könnte und so seine Wachsamkeit verstärken. Zum zweiten kann sie Handlungen auslö-
sen, die dazu dienen, Kontakte der Partnerin mit anderen Männern einzuschränken. Drit-
tens kann sie dazu führen, dass er seine Bemühungen verstärkt, die Erwartungen seiner
Partnerin zu erfüllen, so dass sie weniger Grund hat fremdzugehen. Viertens könnte die
Eifersucht Männer dazu bringen, Rivalen, die sexuelles Interesse an ihrer Partnerin zei-
gen, zu bedrohen oder anderweitig abzuwehren. Eine klare Vorhersage, die aus dieser
Argumentation folgt, ist, dass die Eifersucht des Mannes sich auf potentiellen sexuellen
Kontakt konzentrieren sollte, den seine Frau mit anderen Männern haben könnte. Die
Hypothese geht davon aus, dass sich sexuelle Eifersucht als Reaktion auf die hohen Kos-
ten gebildet hat, die ein Hahnrei tragen muss.
Auch Frauen stehen einem ernsthaften adaptiven Problem gegenüber, wenn ihr Partner
fremdgeht. Aber dieses betrifft nicht die Gewissheit ihrer Mutterschaft, da diese immer
100 Prozent beträgt. Gehen wir zurück zu unseren Vorfahren: Wäre der Partner eines
unserer weiblichen Vorfahren fremdgegangen, könnte dies ein ernsthaftes adaptives Pro-
blem dargestellt haben, denn Männer tendieren dazu, Investitionen und Ressourcen auf
Frauen zu lenken, mit denen sie Sex haben, und ein Ehemann könnte daher Zeit, Auf-
merksamkeit, Energie und Mühen auf eine andere Frau und deren Kinder statt auf die
Ehefrau und Kinder richten. Aus diesen Gründen haben evolutionäre Psychologen vor-
hergesagt, dass die Eifersucht der Frauen sich wahrscheinlich mehr auf die langfristige
Umlenkung der Bindungen des Mannes konzentrieren würden, d.h. auf seine emotionale
Bindung zu einer anderen Frau (Buss, Larsen, Westen & Semmelroth, 1992).
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 425
Nach einer evolutionspsychologischen Analyse hatten all diese Studien, obwohl sie infor-
mativ bezüglich der Gleichheit der Geschlechter waren, die Frage zu global gestellt. Eine
evolutionäre Analyse führt zu der Vorhersage, dass, obwohl beide Geschlechter Eifer-
sucht erleben, sie sich darin unterscheiden, welches Gewicht sie Hinweisen geben, die
Eifersucht auslösen. Männer legen demnach mehr Gewicht auf Hinweise sexueller
Untreue, während Frauen mehr Gewicht auf Hinweise legen, die auf eine langfristige
Umlenkung der Investitionen wie eine emotionale Beziehung zu einer anderen Person
hindeuten (Buss et al., 1992).
In einem systematischen Test dieser angenommenen Geschlechtsunterschiede wurden 511
College-Studenten gebeten, zwei besorgniserregende Ereignisse zu vergleichen: (a) dass
ihr Partner mit jemand anderem Geschlechtsverkehr hat oder (b) dass ihr Partner sich emo-
tional auf einen anderen einlässt (Buss et al., 1992). Während 83 Prozent der Frauen die
emotionale Untreue bei weitem besorgniserregender fanden, waren es bei den Männern
nur 40 Prozent. Dagegen bewerteten 60 Prozent der Männer die sexuelle Untreue als
besorgniserregender, während es bei den Frauen nur 17 Prozent waren. Dies stellt eine
Differenz von 43 Prozent zwischen den Geschlechtern dar, eine Differenz, die nach jedem
sozialwissenschaftlichen Maßstab riesig ist. Durch eine genauere Fragestellung – nicht ob
jedes Geschlecht „Eifersucht“ erlebt, sondern welche Auslöser der Eifersucht besorgniser-
regender sind – konnte die evolutionspsychologische Hypothese die Forscher auf einen
Geschlechtsunterschied hinweisen, der bisher unbemerkt geblieben war.
Verbale Berichte sind wichtige Datenquellen, aber idealerweise sind konvergierende
Belege aus anderen Datenquellen wissenschaftlich überzeugender. Um die Allgemeingül-
tigkeit der oben aufgeführten Ergebnisse durch verschiedene wissenschaftliche Methoden
zu untersuchen, wurden 30 Männer und 30 Frauen in ein psychophysiologisches Labor
gebeten (Buss et al., 1992). Um die physiologischen Auswirkungen der zwei Arten der
Untreue zu testen, platzierten Forscher Elektroden am musculus corrugator (Stirnrunzler,
„Sorgenmuskel“) auf der Stirn, der sich zusammenzieht, wenn man die Stirn runzelt; wei-
tere Elektroden platzierten sie am ersten und dritten Finger der rechten Hand, um die
elektrodermale Reaktion oder das Schwitzen zu messen sowie am Daumen, um den Puls
oder Herzschlag aufzuzeichnen. Die Teilnehmer wurden gebeten, sich entweder sexuelle
Untreue („stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat mit jemand anderem Sex .... werden Sie sich
der Bilder und Gefühle bewusst“) vorzustellen oder emotionale Untreue („stellen Sie sich
vor, Ihr Partner verliebt sich in eine/n andere/n .... werden Sie sich der Bilder und Gefühle
bewusst“). Die Teilnehmer drückten einen Knopf, wenn sie sich die Situation und die
Gefühle bewusst machen konnten, woraufhin die physiologischen Aufzeichnungen für
zwanzig Sekunden aktiviert wurden.
Die Männer waren physiologisch durch sexuelle Untreue stärker beunruhigt. Ihr Herz-
schlag beschleunigte sich um fast fünf Schläge die Minute, was etwa dem Trinken drei
Tassen starken Kaffees entspricht. Die Reaktionen der Haut nahmen beim Gedanken an
sexuelle Untreue um 1,5 Einheiten zu, zeigten aber fast keinen Unterschied beim Gedan-
ken an emotionale Untreue. Das Stirnrunzeln nahm ebenfalls zu und zeigte 7,75 Mikro-
volt-Einheiten der Kontraktion in Reaktion auf sexuelle Untreue verglichen mit nur 1,16
Einheiten in Reaktion auf emotionale Untreue.
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426 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Frauen zeigten ein gegensätzliches Muster. Sie zeigten eine stärkere physiologische
Reaktion beim Gedanken an emotionale Untreue. Ihr Stirnrunzeln erhöhte sich auf 8,12
Mikrovolt-Einheiten in Reaktion auf vorgestellte emotionale Untreue im Vergleich zu nur
3,03 Einheiten in Reaktion auf vorgestellte sexuelle Untreue. Die Konvergenz psycholo-
gischer Reaktionen mit physiologischen Mustern bei Männern und Frauen unterstützt die
Hypothese, dass Menschen Mechanismen entwickelt haben, die spezifisch auf die adapti-
ven Probleme der Geschlechter zugeschnitten sind, mit denen diese im Verlauf der Evolu-
tion konfrontiert waren.
Diese Geschlechtsunterschiede wurden in Deutschland, den Niederlanden, Korea und Japan
repliziert (Buunk, Angleitner, Oubaid & Buss, 1996). Abbildung 11.3 zeigt Reaktionen von
Menschen aus diesen Kulturen und welche Form der Eifersucht für sie Besorgnis erregend
ist - die sexuelle oder die emotionale Untreue. Zusammengenommen scheint die Eifersucht
der Männer sensibler auf Hinweise sexueller Untreue zu reagieren und die der Frauen ver-
stärkt auf Hinweise emotionaler Untreue. Das sind Ergebnisse, die universell und kultur-
übergreifend sind und durch den Einsatz von psychologischen wie physiologischen Metho-
den bestätigt werden.
Die evolutionäre Interpretation dieser Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Eifersucht
wurde in Frage gestellt (DeSteno & Salovey, 1996). Diese Psychologen schlugen vor,
dass sexuelle und emotionale Eifersucht häufig in Korrelation zueinander stehen. Men-
schen tendieren dazu, sich emotional mit Personen einzulassen, mit denen sie Sex haben,
und mit Personen Sex zu haben, mit denen sie emotional eng verbunden sind. Aber Män-
ner und Frauen könnten sich darin unterscheiden, wie sie diese Korrelation beurteile.
Vielleicht werden Frauen mehr durch das emotionale Engagement verletzt, da sie anneh-
men, dass dies bedeutet, dass ihr Partner ihnen auch sexuell untreu wird. Frauen könnten
annehmen, ihr Partner könne Sex haben, ohne sich emotional einzulassen, weshalb die
sexuelle Untreue des Partners weniger verletzend ist. Die Ansichten der Männer könnten
sich davon unterscheiden. Vielleicht sind Männer verletzter über das sexuelle Engage-
ment des Partners, weil sie annehmen, dass die Partnerin nur dann Sex hat, wenn sie auch
emotional involviert ist, während sie annehmen, dass eine Frau sich auch emotional auf
einen Mann einlassen kann, ohne Sex mit ihm zu haben. Da Männer und Frauen verschie-
dene Ansichten über die Verbindungen zwischen sexueller und emotionaler Untreue
haben, antworten sie unterschiedlich darauf, was für sie verletzender ist, wenn sie zur
Auswahl gezwungen werden.
In drei verschiedenen Kulturen wurden vier empirische Studien durchgeführt, um die
Vorhersagen dieser konkurrierenden Hypothesen zu untersuchen (Buss et al., 1999). Die
erste Studie umfasste 1.122 Studenten an einer geisteswissenschaftlichen Universität im
Südosten der Vereinigten Staaten. Die ursprünglichen Untreue-Szenarien (Buss et al.,
1992) wurden angepasst, so dass die zwei Arten der Untreue sich gegenseitig ausschlos-
sen. Die Teilnehmer berichteten über ihre Verletzung in Reaktion auf die sexuelle
Untreue des Partners ohne emotionales Engagement und emotionales Engagement ohne
sexuelle Untreue. Wie in Abbildung 11.4 zu sehen ist, zeigte sich ein bemerkenswerter
Geschlechtsunterschied, wie er auch durch das evolutionäre Modell vorhergesagt worden
war. Würde die Hypothese zutreffen, dass Männer und Frauen die Korrelation von sexuel-
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 427
Frauen
Prozentsatz derer, die über größere
50
40
30
20
10
0
USA Deutschland Niederlande Korea
Eine zweite Studie mit amerikanischen Studenten wandte vier zusätzliche Tests der Vor-
hersagen aus den zwei Modellen an und benutzte dazu drei Strategien. Eine Strategie gab
es in drei verschiedenen Versionen, die die zwei Arten der Untreue gegenseitig ausschlos-
sen. Eine zweite Strategie beinhaltete die Annahme, dass beide Arten der Untreue prakti-
ziert wurden und ließ die Teilnehmer angeben, welchen Aspekt sie verletzender fanden.
Eine dritte Strategie verwendete ein statistisches Verfahren, um den unabhängig vorher-
gesagten Wert von Sex und Einstellungen darüber, welche Form der Untreue verletzender
ist, zu berechnen. Die Ergebnisse waren in sich schlüssig: genau wie durch das evolutio-
näre Modell vorhergesagt, wurden große Geschlechtsunterschiede entdeckt (siehe Abbil-
dung 11.4). Unabhängig von der Fragestellung, unabhängig von den angewandten metho-
dischen Strategien und unabhängig davon, wie streng die bedingten Wahrscheinlichkeiten
überprüft wurden, blieben die Geschlechtsunterschiede bestehen.
Eine dritte Studie replizierte die sechs Untreue-Dilemmata in Korea. Die ursprünglichen
Geschlechtsunterschiede wurden repliziert (Buss et al., 1992) und es wurde gezeigt, dass
Frauen emotionale Untreue mehr verletzte als Männer, während Männer sexuelle Untreue
verletzender wahrnahmen als Frauen. Mit zwei Strategien zur Kontrolle der bedingten
Wahrscheinlichkeiten blieben die Geschlechtsunterschiede erneut bestehen. Die evolutio-
näre Hypothese bestand diese empirische Überprüfung. Eine vierte Studie testete die Vor-
hersagen über Eifersucht und über die Natur der Überzeugungen in einer japanischen
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428 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Stichprobe. Die Ergebnisse lieferten wiederum Unterstützung für die evolutionäre Hypo-
these (Buss et al., 1999).
70
Männer
Frauen
60
Besorgnis bei sexueller Untreue berichten
Prozentsatz derer, die über größere
50
40
30
20
10
0
Welcher Aspekt Sexuell aber Ex-Liebhaber: One-night-stand
der Involvierung nicht emotional noch sexuell versus emotionale
des Partners ist versus emotional interessiert versus Involvierung
Besorgnis erregender aber nicht noch emotional aber kein Sex
sexuell interessiert
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 429
sucht (Buss, 2000a) sowie der ursprünglichen Messmethode der erzwungenen Auswahl
(z.B. Geary et al., 2001) bestätigt.
Die evolutionäre Hypothese über die Psychologie der Eifersucht hat mehreren Versuchen
der Widerlegung und armseligen Berechnungen in einer Zusammenfassung empirischer
Belege widerstanden. Sie erklärt die ursprünglichen Ergebnisse der Geschlechtsunter-
schiede bei Untreue (Buss et al., 1992) und kann auch die Geschlechtsunterschiede bei
Eifersucht erklären, nachdem für die bedingten Wahrscheinlichkeiten kontrolliert wurde.
Sie erklärt die Geschlechtsunterschiede, die auftreten, wenn beide Aspekte der Untreue
stattgefunden haben und einer davon als verletzender empfunden wird. Sie dient als
Erklärung für die kulturübergreifende Robustheit dieser Geschlechtsunterschiede, die in
westlichen Kulturen wie den Niederlanden und Deutschland und in asiatischen Kulturen
wie Korea und Japan dokumentiert wurden.
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430 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
ihrer Partnerin Schmuck, machten ihr Geschenke und führten sie in teure Restaurants aus.
Interessant und nicht vorhergesagt war das Ergebnis, dass sowohl Männer, die mit einer
Frau ausgingen, als auch verheiratete Männer mehr zu Unterwürfigkeit und Selbsternied-
rigung tendierten als Frauen. Mehr Männer als Frauen berichteten von Kriecherei und
sagten, sie würden alles tun, damit der Partner in der Partnerschaft bleibt.
Frauen wandten teilweise andere Strategien der Partnerbindung an. Wie vorhergesagt,
tendierten Frauen dazu, ihr Erscheinungsbild zu verbessern, indem sie ihr Gesicht
schminkten, Wert auf ein modisches Äußeres legten und sich für ihre Partner „besonders
attraktiv“ machten.
Frauen tendierten auch dazu, bei ihrem Partner Eifersucht auszulösen, indem sie vor seinen
Augen mit anderen Männern flirteten, Interesse an anderen Männern zeigten, um ihn
wütend zu machen, und mit anderen Männern redeten, um ihn eifersüchtig zu machen. Eine
Studie fand einen Kontext, in dem Frauen absichtlich Eifersucht auslösen. In der Studie
wurden Diskrepanzen zwischen der zugegebenen Bindung eines Mannes bzw. einer Frau in
einer Beziehung untersucht. Diese Diskrepanzen, wie involviert jeder Partner in die Bezie-
hung ist, signalisieren Unterschiede in der Attraktivität des Partners; die weniger involvierte
Person ist normalerweise begehrenswerter (Buss, 2000). Obwohl Frauen zugeben, Eifer-
sucht häufiger als Männer bewusst herbeizuführen, wenden nicht alle Frauen diese Taktik
an. Während 50 Prozent der Frauen, die sich selbst als involvierter in die Beziehung als ihre
Partner bezeichneten, absichtlich Eifersucht provozierten, griffen nur 26 Prozent der
Frauen, die gleich oder weniger involviert waren, auf diese Taktik zurück (White, 1980).
Er rief sie zu unerwarteten Zeiten an, um zu Er sagte ihr, dass er sie liebe.
sehen, mit wem sie zusammen war. Er war hilfsbereit, wenn sie die Hilfe benö-
Er rief sie an, um zu kontrollieren, wo sie tigte.
sich aufhielt.
Er nahm sie nicht zu einer Party mit, bei der Er sagte, er würde sich für sie ändern.
andere Männer anwesend waren. Er wurde ihr „Sklave“.
Er ließ sie nicht mit anderen Männern reden.
Er bestand drauf, dass sie all ihre freie Zeit Er umarmte sie enger, wenn ein anderer
mit ihm verbrachte. Mann vorbeiging.
Er ließ sie nicht ohne ihn ausgehen. Er legte seinen Arm in Gegenwart anderer
um sie.
Tabelle 11.1: Stichproben der Taktiken und Handlungen der Partnerbindung. Taktiken
der Partnerbindung reichen von Wachsamkeit bis Gewalt. Sie werden angewandt, um
einen Partner zu halten und intrasexuelle Rivalen abzuwehren.
Von Buss, D. M. (1996, June). Mate retention in married couples. Paper presented to the Annual
Meeting of the Human Behavior and Evolution Society. Evanston, IL.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 431
Er sprach auf einer Party mit anderen Er warf dem Mann, der sie ansah, einen eisi-
Frauen, um sie eifersüchtig zu machen. gen Blick zu.
Er zeigte Interesse an anderen Frauen, um Er drohte, den Mann, der sie anmachte, zu
sie eifersüchtig zu machen. schlagen.
Er drohte damit, sich etwas anzutun, wenn Er schrie sie an, wenn sie Interesse an einem
sie ihn verlassen würde. anderen Mann zeigte.
Er erreichte, dass sie sich schuldig fühlte, Er schlug sie, wenn er sie erwischte, wie sie
wenn sie mit anderen Männern sprach. mit einem anderen flirtete.
Er sagte ihr, der andere Kerl sei dumm. Er schlug den Mann, der ihr gegenüber
Er wertete die Stärke des anderen ab. einen Annäherungsversuch machte.
Er brachte seine Freunde dazu, den Mann zu
verprügeln, der ihr gegenüber einen Annä-
herungsversuch gemacht hatte.
Frauen geben zu, dass sie motiviert sind, Eifersucht auszulösen, um die Enge der Bezie-
hung zu erhöhen und die Stärke der Beziehung zu testen. Dabei wollen sie herausfinden,
ob ihr Partner sich um sie bemüht, und sie wollen den Partner animieren, besitzergreifen-
der zu sein. Diskrepanzen der Partner in ihrem Partnerwert – gekennzeichnet dadurch,
wie unterschiedlich sie in ihre Beziehung involviert sind – bringen Frauen dazu, Eifer-
sucht als Taktik anzuwenden, um Informationen über die Stärke der Bindung des Partners
zu erhalten und diese zu erhöhen. Die absichtliche Auslösung der Eifersucht durch beide
Geschlechter dient auch der Bestätigung der Bindung und der langfristigen Stabilität der
Beziehung (Sheets, Fredendall & Claypool, 1997).
Insgesamt schirmen Männer ihre Partnerin häufiger ab als Frauen ihre Partner, machen ihnen
Geschenke, unterwerfen sich ihrer Partnerin und wenden Gewalt gegen Rivalen an, um ihre
Partnerinnen davon abzuhalten, sich mit anderen Männern einzulassen. Frauen dagegen ver-
bessern ihr äußeres Erscheinungsbild und entsprechen damit einer entwickelten männlichen
Vorliebe für physisch attraktive Partnerinnen. Frauen lösen auch häufiger bewusst Eifersucht
bei ihren Partnern aus – vielleicht als Strategie, um anzuzeigen, dass sie auch andere Partner-
möglichkeiten haben. Sie kommunizieren so Informationen über ihre Attraktivität.
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432 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 433
Kenrick & Keefe, 1992). Von Männern, die mit Frauen von hohem reproduktiven Wert
verheiratet sind, d.h. die jünger und physisch attraktiv sind, wird angenommen, dass sie
mehr Bemühungen auf die Bewachung ihrer Frau verwenden als Männer, die mit Frauen
verheiratet sind, die einen niedrigeren reproduktiven Wert haben. Um diese Hypothese zu
testen, wurden die Bemühungen der Partnerbindung der Männer mit dem Alter und der
physischen Attraktivität ihrer Frauen korreliert. Ein Teil der Ergebnisse ist in Abbildung
11.5 dargestellt.
–0.5
Männer
–0.4 Frauen
Korrelation
–0.3
–0.2
–0.1
–0
A B
Männer, die mit jüngeren Frauen verheiratet waren, berichteten, größere Anstrengungen in
das adaptive Problem zu investieren, ihre Partner zu verbergen. Außerdem berichteten sie,
ihre Partner häufiger emotional zu manipulieren, verbal ihren Besitz zu signalisieren (z.B.
indem sie darauf hinwiesen, dass sie „meine Ehefrau“ ist), besitzergreifende Ausschmü-
ckung zu fordern (z.B. darauf zu bestehen, dass sie seinen Ring trägt), intrasexuelle Dro-
hungen und Gewalt gegen Rivalen anzuwenden, als das Männer, die mit älteren Frauen ver-
heiratet waren, taten. Diese Ergebnisse hatten auch noch nach der statistischen Kontrolle
anderer Variablen wie der Länge der Beziehung und dem Alter des Ehemanns Bestand.
Die Taktiken der Partnerbindung der Männer waren auch mit ihrer Wahrnehmung der
physischen Attraktivität ihrer Partnerinnen verknüpft. Männer, die mit Frauen verheiratet
waren, die als physisch attraktiv wahrgenommen wurden, berichteten über vermehrte
Zurschaustellung der Ressourcen, ein verbessertes Erscheinungsbild, verbale Besitz-
signale und intrasexuelle Drohungen als Männer, deren Frauen physisch als weniger
attraktiv wahrgenommen wurden. Interessanterweise wurde diese Gemeinsamkeit erzielt,
wenn die physische Attraktivität der Frauen von Studienteilnehmern bewertet wurde. Die
Bemühungen der Partnerbindung von Männern scheinen eher von ihrer subjektiven Wahr-
nehmung über die Attraktivität ihrer Partnerin abzuhängen, als von den unabhängigen
Bewertungen der Studienteilnehmer.
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434 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Einkommen und Statusbestrebungen des Ehemannes. Von den Taktiken der Partner-
bindung der Frauen wurde nicht angenommen, dass sie vom Alter oder der physischen
Attraktivität des Ehemannes abhängen, was auch zutraf. Die Bemühungen der Frauen in
Bezug auf die Partnerbindung waren vielmehr mit dem Wert ihrer Partner in den Dimen-
sionen Einkommen und Statusbestrebungen verbunden, dem Grad, in dem der Ehemann
versucht, in der Hierarchie von Status und Beruf Karriere zu machen (Buss & Shackel-
ford, 1997). Diese geschlechtsspezifischen Werte schätzen Frauen kulturübergreifend an
langfristigen Partnern (siehe Kapitel 4).
Um diese Hypothese zu testen, korrelierten Buss und Shackelford (1997) Taktiken der
Partnerbindung mit dem Einkommen des Partners und vier Maßen von Status-
bestrebungen. Diese Maße beinhalteten den Grad, in dem eine Person Betrug oder Mani-
pulation anwendet, um auf der Karriereleiter nach oben zu steigen, Fleiß und harte Arbeit,
soziale Netzwerke und Einschmeicheln bei Vorgesetzten. Sechs der neunzehn Taktiken
der Partnerbindung, die von Frauen angewandt werden, standen in positiv signifikanter
Korrelation zum Einkommen des Mannes. Frauen, die mit Männern mit hohem Einkom-
men verheiratet waren, berichteten von größerer Wachsamkeit, Gewalt von Seiten des
Mannes gegen sich, Verbesserung des Erscheinungsbildes, besitzergreifender Ausschmü-
ckung, Unterwerfung und Selbsterniedrigung.
Frauen, die mit Männern verheiratet waren, die mehr in Statusbestrebungen investierten,
berichteten signifikant mehr über emotionale Manipulation, Zurschaustellung der Res-
sourcen, Verbesserung des Erscheinungsbildes, verbale Besitzanzeige und besitzergrei-
fende Ausschmückung als Frauen, die mit Männern verheiratet waren, deren Status-
bestrebungen gering waren. Diese Korrelationen blieben auch nach der statistischen
Kontrolle anderer Faktoren wie das Alter der Ehefrauen und die Dauer der Beziehung
signifikant. Eine Auswahl der Ergebnisse ist in Abbildung 11.6 dargestellt.
Die Forschung hat mehrere evolutionspsychologische Hypothesen über die Kontexte bestä-
tigt, in denen Männer und Frauen verstärkt Bemühungen auf das adaptive Problem der
Partnerbindung richten. Männer strengen sich bei der Bindung einer Partnerin mehr an,
wenn sie annehmen, dass ihre Partnerinnen innerhalb des nächsten Jahres untreu sein könn-
ten und wenn sie jung und physisch attraktiv sind, zwei wichtige Hinweise auf den repro-
duktiven Wert einer Frau. Frauen bemühen sich verstärkt um die Partnerbindung, wenn
ihre Ehemänner über ein hohes Einkommen verfügen und ihre Anstrengungen auf ihre
Karriere richten. Diese Überprüfungen sind besonders wichtig, um den heuristischen Wert
der evolutionären Psychologie zu demonstrieren – das Aufstellen von Hypothesen und
Vorhersagen, die durch vorherrschende psychologische Theorien bisher nicht aufgestellt
wurden. Vor der Arbeit der evolutionären Psychologen hatte tatsächlich noch niemand
untersucht, wie sehr sich die Menschen um das Problem der Partnerbindung kümmern.
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 435
.35
Männer
Frauen
.3
.25
Korrelation
.2
.15
.1
.05
0
direkte Wachsamkeit emotionale Verbesserung
Überwachung Manipulation des Erscheinungs-
bildes
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436 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
70
getötete Frauen pro Millionen
zusammenlebend
60
getrennt lebend
50
pro Jahr
40
30
20
10
0
NSW Kanada Chicago
Abbildung 11.7: Raten der von Ehemännern verübten ehelichen Morde bei zusammen-
lebenden versus getrennt lebenden Ehepaaren in New South Wales (NSW), Australien
(1968-1986); Kanada (1974-1990) und Chicago (1965-1989)
Quelle: Male sexual proprietariness and violence against wives by M. Wilson & M. Daly, Current Directions
in Psychological Science, 5, 1996.
Intuitiv scheint das Töten des Partners bizarr und unangepasst. Das Töten der Frau erlegt
dem Täter wie dem Opfer Kosten auf, da der Ehemann damit jeden Zugang zu einer
reproduktiv wertvollen Ware zerstört hat. Aus einer evolutionären Perspektive betrachtet,
erscheint das Töten der Ehefrau daher rätselhaft. Wilson und Daly (1996) erklären dieses
Rätsel, indem sie vorschlagen, dass Gewalt als Mittel der Abschreckung dient:
Eine Drohung ist ein wirksames und normalerweise billiges soziales Werkzeug,
aber sie verliert ihre Wirksamkeit, wenn die drohende Partei nur zu bluffen
scheint, d.h. wenn sie nicht bereit ist, die gelegentlich anfallenden Kosten zu über-
nehmen, falls die Drohung ignoriert oder missachtet wird. Solch rachsüchtiges
Verhalten scheint kontraproduktiv zu sein – eine riskante oder kostspielige Vorge-
hensweise, die zu spät kommt, um erfolgreich zu sein. Aber wirksame Drohungen
dürfen keine Anzeichen erkennen lassen, dass sie nur ein Bluff sind und müssen
daher ernsthaft vorgebracht werden. Obwohl die Tötung einer getrennt lebenden
Frau nutzlos zu sein scheint, kann die Bedrohung der Frau, die einen sonst viel-
leicht verlassen würde, im eigenen Interesse sein wie auch ihre Verfolgung mit
weiteren Drohungen, Zurschaustellung von Wut und angebliche Außerachtlassung
der Kosten (S. 2-7).
Kurz gesagt, repräsentiert nach dieser Hypothese die Bereitschaft, auf extreme Gewalt
zurückzugreifen, eine riskante Strategie in dem Versuch, eine Frau davon abzuhalten, den
Mann zu verlassen und sexuelle Rivalen abzuschrecken, eine Strategie, die manchmal
auch umgesetzt werden muss, um wirksam zu sein.
Junge und attraktive Frauen scheinen anfälliger dafür zu sein, der Gewalt durch ihre Partner
ausgesetzt zu sein. Wilson und Daly (1993) bemerkten: „Junge Frauen beenden häufiger als
ältere Frauen eine Ehe, die nicht ihren Erwartungen entspricht, werden häufig durch sexu-
elle Rivalen des Ehemannes angesprochen und gehen häufiger neue sexuelle Beziehungen
ein. Daher wird angenommen, dass Männer insbesondere gegenüber jüngeren Frauen
zwanghaft eifersüchtig und besitzergreifend sind.“ (Wilson & Daly, 1993, S. 285).
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 437
Diese Hypothese wird durch Daten zu Morden an Ehepartnern bestätigt. Die Frauen, die
dem höchsten Risiko ausgesetzt sind, von ihren Männern getötet zu werden, sind im
Teenager-Alter; das niedrigste Risiko tragen Frauen nach der Menopause (Daly & Wil-
son, 1988). Ein Teil dieser Ergebnisse mag darauf zurückzuführen sein, dass junge
Frauen oft mit jungen Männern verheiratet sind, von denen bekannt ist, dass sie häufiger
auf Gewalt zurückgreifen als ältere. Das Alter des Mannes allein kann die Ergebnisse
jedoch nicht erklären, da junge Frauen, die mit älteren Männern verheiratet sind, einem
größeren Risiko ausgesetzt sind als junge Frauen, die mit jungen Männern verheiratet
sind (Shackelford, Buss & Peters, 2000; Wilson & Daly, 1993).
Ein weiterer Kontext der Anwendung von Gewalt ist dann gegeben, wenn es Männern an
Ressourcen mangelt, um positive Anreize dafür zu schaffen, dass eine Frau in der Partner-
schaft verbleibt. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, geben Frauen, deren Ehemänner
arbeitslos sind oder aus anderen Gründen keine wirtschaftlichen Ressourcen zur Verfügung
haben, häufiger an, dass sie eine Affäre haben. Dies führt zu folgender Vorhersage: Männer,
die unter einem Mangel an wirtschaftlichen Ressourcen leiden, wenden häufiger Gewalt als
Taktik der Partnerbindung an als Männer, die über wirtschaftliche Ressourcen verfügen und
damit ihre Partner durch positive Anreize halten können (Wilson & Daly, 1993).
Die empirischen Ergebnisse scheinen diese Hypothese zu unterstützen. Eine Studie unter-
suchte 1.156 Frauen im Alter von 16 Jahren oder älter, die über einen Zeitraum von fünf
Jahren (1990-1994) in New York City getötet wurden (Belluck, 1997). Fast die Hälfte
wurde durch ihre gegenwärtigen oder ehemaligen Ehemänner oder Freunde umgebracht.
Etwa 67 Prozent starben in den ärmsten Bezirken von New York, der Bronx und Brooklyn.
Diese Ergebnisse zeigen höhere Raten des ehelichen Mordes unter Männern, die arm und
arbeitslos sind; das sind Umstände, die Männer daran hindern, positive Anreize wie die
Bereitstellung von Ressourcen anzuwenden, um den Partner zu halten.
Mehrere Bedingungen können eine Frau vor der Gewalt ihres Partners schützen. Einer
davon ist die Anwesenheit ihrer Verwandtschaft, die einen Partner abhalten kann, Gewalt
gegen sie anzuwenden. Dies ist das Ergebnis von Studien des evolutionären Psychologen A.
J. Figueredo über häusliche Gewalt in Spanien und Mexiko (Figueredo, 1995; Figueredo et
al., 2001). Er fand eine Methode zur Messung häuslicher Gewalt, die verbale Beschimp-
fung, physische Misshandlung, eskalierende lebensbedrohliche Gewalt und sexuelle Gewalt
umfasste und führte telefonische Umfragen mit misshandelten und nicht misshandelten
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438 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Frauen durch. Die wichtigste Hypothese war, dass die Verwandtschaft einer Frau sie gegen
eheliche Misshandlung schützen kann. Die Ergebnisse bestätigten diese Hypothese: Je
höher die Dichte der genetischen Verwandtschaft in und außerhalb Madrids, desto niedriger
waren die Raten häuslicher Gewalt gegen Frauen. Die Verwandtschaftsdichte innerhalb von
Madrid hatte einen besonders starken Einfluss, während entfernt lebende Verwandte einen
geringen Einfluss auf die Reduzierung der ehelichen Misshandlungen hatten. Zu ähnlichen
Ergebnissen kam man auch in Mexiko (Figueredo et al., 2001).
Zusammengefasst scheint männliche sexuelle Eifersucht einer der zentralen Gründe von
Gewalt gegen Frauen in Beziehungen zu sein. Nach einer Hypothese wird Gewalt als Tak-
tik des Zwangs angewandt, um zu erreichen, dass der Partner treu bleibt und um künftige
Untreue und Abtrünnigkeit in der Beziehung zu verhindern. Nicht alle Männer wenden für
diese Ziele Gewalt an und nicht alle Frauen sind gleich verletzlich. Männer, denen es an
wirtschaftlichen Ressourcen mangelt, die eine Frau normalerweise in der Beziehung halten
würden, neigen eher zu Gewalt. Frauen, die jung sind und daher einen hohen reprodukti-
ven Wert aufweisen und attraktiv auf andere Männer wirken, scheinen besonders anfällig
für Gewalt des Partners zu sein. Zwei Faktoren scheinen das Risiko der Frau zu reduzie-
ren: die Wahl eines Mannes mit wirtschaftlichen Ressourcen und Verwandtschaft, die in
ihrer Nähe lebt.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 439
(Wilson & Daly, 1992). Diese Punkte, die Kontrolle von Ressourcen durch Männer und
das Einsetzen dieser Ressourcen zur Kontrolle von Frauen scheinen Themen der Überein-
stimmung zwischen Feministinnen und evolutionären Psychologen zu sein (Buss, 1996a).
Feministinnen verfolgen die Wurzeln der Unterdrückung von Frauen durch Männer oftmals
bis zum Patriarchat zurück, einem Terminus, der sich auf die Dominanz von Männern über
Frauen in der Familie und in der Gesellschaft bezieht (Smuts, 1995). Eine wissenschaftliche
Frage betrifft die Ursprünge der Phänomene, die unter diesem Terminus zusammengefasst
sind. Obwohl einige Feministinnen Spekulationen über den Ursprung der männlichen Kon-
trolle und Dominanz angeboten haben wie die Zurückverfolgung auf die Tatsache, dass
Männer größer und stärker als Frauen sind, wurde bisher keine Einigkeit erzielt (Faludi,
1991; Hooks, 1984; Jagger, 1994; Smuts, 1995). Die meisten Feministinnen nehmen die
männliche Dominanz und Kontrolle als Ausgangspunkt oder als gegeben hin (Smuts, 1995).
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440 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Feministinnen stellen manchmal alle Männer als vereint in dem gemeinsamen Ziel der
Unterdrückung aller Frauen dar (Dworkin, 1987; Faludi, 1991). Evolutions-
psychologische Analysen sagen aus, dass dies nicht der Fall ist, da Männer und Frauen
vor allem mit Angehörigen ihres eigenen Geschlechts konkurrieren. Männer wollen
Ressourcen auf Kosten und unter Ausschluss anderer Männer kontrollieren. Männer
berauben andere Männer ihrer Ressourcen, schließen andere Männer von Positionen
der Macht aus und werten andere Männer ab, um sie für Frauen weniger attraktiv zu
machen. Die Tatsache, dass etwa 70 Prozent aller Morde Männer betreffen, die andere
Männer töten, stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs der Kosten dar, die Männer als
Ergebnis ihrer intrasexuellen Konkurrenz zahlen (Daly & Wilson, 1988).
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 441
Frauen tragen ebenfalls den Schaden, der ihnen durch Angehörige ihres eigenen
Geschlechts zugefügt wird. Sie konkurrieren miteinander um den Zugang zu Män-
nern mit hohem Status, haben Sex mit den Ehemännern anderer Frauen und locken
Männer von ihren Ehefrauen weg. Frauen verleumden und verunglimpfen ihre Riva-
linnen, vor allem diejenigen, die kurzfristige Partnerstrategien verfolgen (siehe Kapi-
tel 10). Frauen wie Männer sind Opfer der sexuellen Strategien ihres Geschlechts und
so kann man nicht behaupten, sie seien mit allen Angehörigen ihres Geschlechts für
ein gemeinsames Ziel wie der Unterdrückung des anderen Geschlechts vereint.
Eine Ausnahme ist dann gegeben, wenn Männer Koalitionen in Form von Untergrup-
pen bilden, wie wir in Kapitel 10 sahen. Diese Koalitionen werden manchmal gebildet,
um sexuellen Zugang zu Frauen zu erhalten wie in brutalen Gruppenvergewaltigungen
oder einem Überfall auf ein Nachbardorf, um Frauen zu rauben (Smuts, 1992). Zudem
dienen die Koalitionen der Männer manchmal dazu, Frauen von der Macht auszu-
schließen, beispielsweise Vereinigungen, in denen Handel getrieben wird und in denen
Frauen explizit von der Mitgliedschaft ausgeschlossen sind. Die gleichen Koalitionen
richten sich jedoch auch gegen andere Männer und deren Koalitionen. Im Geschäfts-
leben, in der Politik und im Krieg bilden Männer Koalitionen zu ihrem eigenen Vorteil
und zum Nachteil von Koalitionen anderer Männern.
Es sollte aber auch darauf hingewiesen werden, dass Männer und Frauen von den
Strategien des anderen Geschlechts profitieren. Männer stellen ihren Ehefrauen,
Geliebten, Schwestern, Töchtern und Müttern Ressourcen zur Verfügung. Der Vater,
die Brüder und die Söhne können von der Partnerwahl einer Frau profitieren. Im
Gegensatz zur Ansicht, dass Männer und Frauen mit allen Angehörigen ihres
Geschlechts zum Zweck der Unterdrückung des anderen Geschlechts vereint sind,
deutet die evolutionäre Psychologie auf eine andere Schlussfolgerung hin: Jedes Indi-
viduum ist mit einigen Angehörigen beider Geschlechter vereint und befindet sich
mit einigen Angehörigen beider Geschlechter im Konflikt. Simple Vorstellungen
gleichgeschlechtlicher Verschwörungen durch ein Geschlecht widersprechen der
evolutionären Logik. Diese evolutionäre Analyse deutet auf zwei wichtige Auswir-
kungen des Konflikts zwischen den Geschlechtern hin: der Verbindung zwischen
gleichgeschlechtlicher Konkurrenz und Konflikten zwischen den Geschlechtern und
die Ausbeutung der Wünsche des einen Geschlechts durch das andere.
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442 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Zusammenfassung
Konflikte zwischen Männern und Frauen durchziehen das soziale Leben, von
Unstimmigkeiten bei Verabredungen bis hin zu emotionaler Verzweiflung in Ehen.
Die evolutionäre Psychologie bietet mehrere Einsichten, warum es solche Konflikte
gibt und beschreibt die besonderen Formen, die sie annehmen. Den ersten Einblick
stellt die Theorie der interferierenden Strategien dar, nach der angenommen wird,
dass Konflikte daraus resultieren, dass eine Person die erfolgreiche Ausführung einer
Strategie blockiert oder behindert. Verfolgt eine Frau eine langfristige Partnerstrate-
gie und ein Mann eine kurzfristige, so beeinträchtigen sie sich gegenseitig bei der
erfolgreichen Erreichung ihrer Ziele. Von negativen Emotionen wie Wut, Verzweif-
lung und Eifersucht wird angenommen, dass sie Lösungen darstellen, um Individuen
auf diese interferierenden Strategien hinzuweisen.
Konflikte über sexuellen Zugang stellen den größten Bereich der Konflikte zwischen
den Geschlechtern dar und nehmen viele Formen an. Erstens dokumentieren diverse
Studien, dass Männer grundsätzlich auf eine größere sexuelle Absicht schließen als
Frauen, vor allem als Reaktion auf vieldeutige Signale wie ein Lächeln. Zweitens täu-
schen Männer Frauen manchmal über ihr emotionales Engagement und über langfris-
tige Absichten, um kurzfristigen sexuellen Zugang zu erlangen. Einige dieser Kon-
flikte gehen auf entwickelte kognitive Tendenzen zurück, wie sie durch die Logik der
Fehlermanagement-Theorie vorhergesagt werden. Nach dieser Theorie unterscheiden
sich die reproduktiven Kosten des einen Fehlers (z.B. auf sexuelles Interesse zu schlie-
ßen, wenn dies nicht vorhanden ist) vom anderen Fehler (z.B. sexuelles Interesse nicht
wahrzunehmen, wenn es vorhanden ist). Wenn diese asymmetrischen Kosten im
Laufe der Evolution immer wieder erscheinen, so werden in sozialen Interferenzen
bestimmte Tendenzen durch die Selektion bevorzugt. Daher wird die Vorhersage
gemacht, dass Männer zu einer Sichtweise neigen, die sie glauben macht, dass eine
Frau in Reaktion auf vieldeutige Hinweise, z.B. ein Lächeln oder alleine in eine Bar
zu gehen, sexuell an ihnen interessiert ist; diese Tendenz wurde entwickelt, um das
Verpassen sexueller Gelegenheiten zu verhindern. Frauen haben die Neigung, skep-
tisch zu sein, was sie dazu anhält, misstrauisch auf männliche Hinweise auf eine
gewünschte Bindung zu reagieren, so dass sie nicht von Männern getäuscht werden,
die emotionale Hingabe nur vorgeben.
Eine dritte Manifestation des Konflikts des sexuellen Zugangs findet in Form sexuel-
ler Belästigungen am Arbeitsplatz statt. Die überwältigende Mehrheit der Täter sind
hier Männer, die überwältigende Mehrheit der Opfer Frauen. Die Opfer weisen über-
wiegend ein bestimmtes Profil auf: sie sind jung, allein stehend und physisch attrak-
tiv. Frauen reagieren verletzter auf sexuelle Belästigung als Männer, woraus geschlos-
sen werden kann, dass diese negative Emotion als Signal für interferierende
Strategien dient. Die Bestürzung der Frauen als Reaktion auf sexuelle Belästigung ist
größer, wenn der Täter einen niedrigen Status wie Müllmann oder Bauarbeiter hat
und geringer, wenn der Täter einen hohen Status hat.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 443
Sexuelle Aggressivität findet nicht nur am Arbeitsplatz statt. Wie bei sexueller Beläs-
tigung reagieren Frauen auch hier verärgerter als Männer auf Handlungen wie die
Berührung ihres Körpers ohne ihre Erlaubnis und beharrliche sexuelle Anmache trotz
Ablehnung. Studien zeigen, dass Männer unterschätzen, wie sehr Frauen durch sexu-
elle Aggressionen verletzt werden.
Ein kontroverses Thema, das zu den Konflikten zwischen den Geschlechtern gehört,
ist, ob Männer bestimmte Vergewaltigungs-Adaptationen entwickelt haben oder ob
Vergewaltigung ein Nebenprodukt anderer Mechanismen, wie der Wunsch nach
schnellem Sex, kombiniert mit einer allgemeinen Neigung zur Gewaltanwendung, um
eine Vielzahl von Zielen zu erreichen, ist. Die bekannten empirischen Befunde aus
Studien über Vergewaltigung unterstützen weder die eine noch die andere Hypothese.
Die Tatsache, dass Vergewaltigungsopfer meist jung (und somit fruchtbar) sind, deu-
tet nicht auf die Existenz einer Vergewaltigungs-Adapation, denn es ist bekannt, dass
Männer Partnerpräferenzen für junge Frauen entwickelt haben. Nichtsdestotrotz sind
weitere Forschungen über die Ursachen notwendig, um das Auftreten dieses abscheu-
lichen Phänomens zu reduzieren.
Seit kurzem hat sich die Aufmerksamkeit auf Schutzmaßnahmen gegen Vergewalti-
gungen konzentriert, die Auswahl „spezieller Freunde“ zum Schutz, die Auswahl von
großen und dominanten Partnern, das Vermeiden von Situationen, in denen Frauen
vergewaltigt zu werden riskieren und die Erfahrung psychischer Schmerzen nach
sexueller Gewalt. Vorläufige Überprüfungen der Hypothesen über Schutzmaßnahmen
der Frauen gegen Vergewaltigungen sind viel versprechend. Ausführlichere Prüfun-
gen sind erforderlich, um die Strategien zu identifizieren, mit denen sie sich gegen
sexuelle Gewalt wehren.
Männer unterscheiden sich darin, ob sie sexuell aggressive Taktiken anwenden oder
nicht und evolutionäre Psychologen haben vorherzusagen versucht, welche Männer
diese Taktiken anwenden. Sie schlagen die Partner-Deprivations-Hypothese vor, die
nahe legt, dass Männer, die daran scheitern, Frauen auf anderem Weg anzuziehen,
sexuelle Aggression anwenden. Die vorliegenden Belege deuten jedoch auf eine
gegenteilige Schlussfolgerung hin: Männer, die sexuelle Aggression anwenden, ten-
dieren dazu, sich selbst als sehr attraktiv einzuschätzen und weisen auf eine erfolgrei-
chere Geschichte in Bezug auf sexuellen Zugang zu Frauen hin als Männer, die keine
Taktiken der sexuellen Aggression anwenden. Obwohl wir zurzeit noch nicht wissen,
warum einige Männer Taktiken der sexuellen Aggression anwenden und andere nicht,
können zwei übereinstimmende Ergebnisse wichtige Hinweise liefern: Männer, die
sexuelle Aggression anwenden, neigen zu (1) einer Orientierung auf schnellen,
unpersönlichen Sex und (2) einer Psychologie feindlicher Männlichkeit.
Eifersucht beschreibt eine weitere Kategorie von Konflikten der Geschlechter. Evolu-
tionäre Psychologen vermuteten, dass Eifersucht eine Lösung des Problems des Ver-
lassenwerdens darstellt. Sie nehmen an, dass sich die männliche Eifersucht stark auf
die sexuelle Untreue eines Partners konzentriert, da dadurch die Gewissheit der Vater-
schaft gefährdet ist.
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444 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Eifersucht der Frauen mehr auf die langfris-
tige Umlenkung der Investitionen und auf die Bindung des Partners. Umfangreiche
empirische Belege unterstützen diese Annahmen: Männer tendieren dazu, eifersüchti-
ger auf sexuelle Untreue zu reagieren, und Frauen sind eifersüchtig bei emotionaler
Untreue. Diese Geschlechtsunterschiede sind groß, zeigen sich in psychologischen
und physiologischen Daten und wurden in einem halben Dutzend Kulturen repliziert.
Wenn Männer und Frauen sich vorstellen sollen, dass ihr Partner sowohl sexuell als
auch emotional untreu war, so sind Männer verärgerter über den sexuellen Aspekt der
Untreue und Frauen verärgerter über den emotionalen Aspekt.
Die Psychologie der Eifersucht führt zu einem Verhalten, das einen Partner davon
abhalten soll, den anderen zu verlassen oder untreu zu werden und das von Wachsam-
keit bis zur Gewalt reicht. Männer tendieren dazu, viel in die Partnerbindung zu inves-
tieren, wenn sie mit jungen, physisch attraktiven Frauen verheiratet sind, zwei
bekannten Hinweisen auf den reproduktiven Wert einer Frau. Frauen tendieren dazu,
sich intensiv in Bereichen der Partnerbindung zu engagieren, wenn sie mit Männern
verheiratet sind, die ein hohes Einkommen haben und viel in Statusbestrebungen
investieren. Gewalt gegen Partner ist eine extreme und zerstörerische Taktik der Part-
nerbindung. Sie wird mehr von Männern als von Frauen angewandt und vor allem von
Männern, denen die wirtschaftlichen Mittel fehlen, um eine Frau durch positive
Anreize zu halten.
Männer und Frauen stehen auch über den Zugang zu Ressourcen im Konflikt mitein-
ander. Die evolutionäre Psychologie wirft Licht auf die Tatsache, dass Männer welt-
weit dazu tendieren, die wirtschaftlichen Ressourcen zu kontrollieren, auch wenn es
hier individuelle und kulturelle Unterschiede gibt. Dies ist ein Aspekt des so genann-
ten Patriarchats. Der Geschlechtsunterschied kann zurückverfolgt werden bis zur
gleichzeitigen Entwicklung der Präferenzen der Frauen und der kompetitiven Partner-
strategie der Männer. Im Lauf der Evolutionsgeschichte haben Frauen schon immer
vorzugsweise Männer ausgewählt, die über Ressourcen verfügten, und Männer stan-
den im gegenseitigen Wettbewerb, um sich Ressourcen anzueignen und so Frauen
anzuziehen. Eine evolutionäre Analyse legt auch nahe, dass Männer nicht mit allen
anderen Männern vereint sein können, um Frauen davon abzuhalten, Zugang zu die-
sen Ressourcen zu gewinnen. Männer stehen vor allem zu anderen Männern und nicht
zu Frauen in Konkurrenz. Zudem verbünden sich Männer in ihren Interessen mit vie-
len Frauen wie ihren Freundinnen, Schwestern, Frauen, Geliebten, Nichten und Müt-
tern.
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Kapitel 11 Konflikte zwischen den Geschlechtern 445
Weiterführende Literatur
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Kapitel
Alle Tiere sind gleich. Aber einige sind gleicher als andere.
– George Orwell
Wir kamen auf die Welt, ausgerüstet mit einem Nervensystem, das sich mit unserer
sozialen Stellung beschäftigt.
– Robert Frank, 1985
Im Jahr 1996 wurde Admiral Jeremy Boorda, Einsatzleiter der United States Navy, zu sei-
nem Kriegsorden „V“ für „valor“ (engl. Tapferkeit) interviewt, den er stolz an die Brust
geheftet trug (Feinsilber, 1997). Tatsächlich war Admiral Boorda dieser Orden niemals ver-
liehen worden. Um der Schmach einer Aufdeckung dieses Betrugs zu entgehen, beging er
Selbstmord. Ein Jahr später wurde bekannt, dass der U. S.-Bundesrichter James Ware aus
San Jose, Kalifornien, fälschlicherweise behauptet hatte, der ältere Bruder von Virgil Ware
zu sein, einem Jungen, der 1963 in Birmingham, Alabama, bei einem rassistischen Überfall
von weißen Jugendlichen getötet worden war. Am gleichen Tag starben vier Mädchen bei
einem Bombenanschlag auf die Kirche einer schwarzen Gemeinde. Ware hatte diese
Behauptung oft eingesetzt, um zu begründen, warum er von einem „Hunger nach Gerech-
tigkeit“ angetrieben werde und seine wachsende Berühmtheit als Richter wurde nicht selten
mit dieser falschen Behauptung in Zusammenhang gebracht, die ihm einen hohen sozialen
Status verlieh. Als die Täuschung aufflog, musste er seine Ansprüche auf die Kandidatur
für ein Amt in einem hohen Berufungsgericht wohl oder übel aufgeben. Dies sind nur zwei
von hunderten solcher Vorkommnisse, die im Laufe der letzten zehn Jahre ans Licht kamen.
Warum fälschen Menschen ihre Referenzen und riskieren so, als Betrüger entlarvt zu wer-
den, nur um ihren Status und ihre gesellschaftliche Position zu verbessern?
Status, Prestige, Ansehen, Ehre, Respekt und Rang werden in allen bekannten Gruppen auf
verschiedene Weise verliehen. Die Menschen verwenden ungeheure Anstrengungen darauf,
nicht in Verruf zu geraten oder in Ungnade zu fallen und Scham, Erniedrigung, Ehrlosigkeit
und Gesichtsverlust zu vermeiden. Empirische Untersuchungen bestätigen, dass sich Status-
und Dominanz-Hierarchien sehr schnell bilden. In einer Studie wurden 59 Gruppen von
jeweils drei Personen untersucht, die sich vorher nicht gekannt hatten. In 50% der Fälle bil-
dete sich eine Hierarchie innerhalb nur einer Minute. Bei den übrigen 50% dauerte es fünf
Minuten, bis sich eine klare Hierarchie ergab (Fisek & Ofshe, 1970). Noch erstaunlicher war,
dass die Gruppenmitglieder ihren eigenen zukünftigen Status innerhalb der neuen Gruppe
genau einschätzen konnten, sobald sie die neuen Mitglieder nur gesehen hatten und noch
bevor irgend jemand ein Wort gesprochen hatte (Kalma, 1991). Sollte es einen vernünftigen
Anwärter für ein universales menschliches Motiv geben, so stünde das Streben nach Status
ganz oben auf der Liste (Barkow, 1989; Frank, 1985; Maslow, 1937; Symons, 1979).
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448 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 449
wenn sie im Voraus einvernehmlich festlegen könnten, wer der Gewinner sein wird, und
sich auf diese Weise die Nachteile, die ein Kampf mit sich bringt, ersparen könnten.
Wenn der Verlierer sich unterwirft, kommt er lebend und ohne Verletzung davon. Auch
wenn er momentan eine Ressource aufgegeben hat, kann er an anderer Stelle sein Glück
versuchen, wo die Chancen für ihn besser stehen; oder der Verlierer kann sich zurückhal-
ten und auf eine bessere Gelegenheit zum Angriff warten (Pinker, 1997).
Zusammengefasst wird die Selektion die Fähigkeit der Beurteilung fördern – psychologi-
sche Mechanismen also, die die Bewertung der eigenen kämpferischen Fähigkeiten
gegenüber anderen mit einschließen. Beim Menschen sind diese Beurteilungsmechanis-
men wahrscheinlich komplex, gehen über die rein körperlichen Fähigkeiten hinaus und
beziehen auch die Fähigkeit mit ein, mächtige Freunde und Verbündete für sich zu gewin-
nen, sich ein Netzwerk aus sozialen Verbindungen zu schaffen und die ausgedehnte Fami-
lie hinter sich zu versammeln. Nach diesen Beurteilungen kann sowohl eine dominante
als auch eine unterwürfige Strategie ihre Funktionen haben. Die wichtigste Funktion
einer jeden Strategie ist es, kostspielige Konfrontationen zu vermeiden, wenn der Aus-
gang eines Konfliktes im Voraus bestimmt werden kann. Natürlich liegt dieser Ausgang
oft im Dunkeln. Die verschiedenen Formen des Bluffens, Brüllens und Drohens können
darauf ausgerichtet sein, die Stärke des Kämpfers aufzubauschen, um den Gegner dazu zu
bringen, vorzeitig aufzugeben. Die Selektion würde aber auch ein Durchschauen dieser
Bluffs begünstigen, da Tiere, die sich aufgrund solcher Bluffs vorzeitig geschlagen geben,
den Zugang zu wertvollen Ressourcen verlören. Der wesentliche Punkt ist, dass sowohl
unterwürfige als auch dominante Strategien bestimmte Funktionen für den Einzelnen
haben. In ihrem Zusammenspiel führen sie zu einer Dominanz-Hierarchie.
Funktional gesehen bezieht sich eine Dominanz-Hierarchie auf die Tatsache, dass
bestimmte Individuen innerhalb einer Gruppe zuverlässig besseren Zugang zu wichtigen
Ressourcen haben als andere – diese Ressourcen tragen zum Überleben und zur Repro-
duktion bei (Cummins, 1998). Diejenigen, die in der Hierarchie weiter oben stehen,
sichern sich besseren Zugang zu diesen Ressourcen; diejenigen dagegen, die weiter unten
stehen, haben nur eingeschränkten Zugang. In ihrer einfachsten Form sind Dominanz-
Hierarchien transitiv, d.h. wenn A über B und B über C dominiert, wird A auch über C
dominieren. Dominanz-Hierarchien wurden bei einer Vielzahl von Tierarten nachgewie-
sen, vom Flusskrebs bis zum Schimpansen.
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450 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
senschaftler Donald Edwards und seine Kollegen entdeckten ein bestimmtes Neuron in
den Flusskrebsen, das je nach dem Status des Tieres unterschiedlich auf den Neurotrans-
mitter Serotonin reagiert. Beim dominanten Flusskrebs wird das Neuron durch das Sero-
tonin eher aktiviert, während es beim Verlierer eher gehemmt wird. Dies ist „das erste
Mal, dass man in der Lage war, ein soziales Phänomen mit einer Veränderung einer
bestimmten, identifizierten Synapse in Zusammenhang zu bringen“ (Barinaga, 1996,
S. 290).
Ein einziger Kampf verurteilt ein Tier jedoch nur sehr selten dazu, auf Dauer in der Posi-
tion des Gewinners oder Verlierers zu bleiben. Als zwei unterlegene Flusskrebse von den
Forschern in demselben Territorium ausgesetzt wurden, entwickelte sich einer der beiden
zwangsläufig zum Überlegenen. Bei einer Überprüfung der Neuronen zwei Wochen
später fanden die Forscher heraus, dass bei dem dominanten Tier das ausschlaggebende
Neuron durch das Serotonin angeregt und nicht mehr gehemmt wurde. Also können
unterlegene Krebse schnell eine dominante Stellung einnehmen, wenn sich die Gegeben-
heiten verändern. Für einen dominanten Krebs gilt dies jedoch nicht. Setzten die Forscher
zwei vormals dominante Flusskrebse in einem Revier aus, wurde einer automatisch
gezwungen, in die Rolle des Unterlegenen zu wechseln. Doch der Verlierer, der vorher
ebenfalls dominant gewesen war, zeigte sich weiterhin aggressiv und forderte den domi-
nanten Flusskrebs immer wieder zu Kämpfen heraus, die soweit gingen, dass er sogar
getötet wurde. Es schien, als „weigerten sich die Tiere, von einer dominanten in eine
unterlegene Position zu begeben“ (Barinaga, 1996, S. 290).
Auch Schimpansen kämpfen um eine Vormachtstellung (de Waal, 1982). Dominante
männliche Schimpansen stolzieren umher und versuchen, möglichst groß und schwer
auszusehen. Das zuverlässigste Zeichen von Dominanz ist die Anzahl der unterwürfigen
Begrüßungen, die ein Tier von anderen erhält. Diese Begrüßungen sind eine kurze
Abfolge keuchender Grunzlaute, die mit einer Beugung des Oberkörpers einhergehen, so
dass das untergebene Tier regelrecht zu dem dominanten Artgenossen aufschaut. Diese
Beugung des Oberkörpers wird oft durch eine Reihe schneller, tiefer Verbeugungen
erreicht. Manchmal bringt der Untergebene dem Dominanten auch Begrüßungsgaben mit,
z.B. ein Blatt oder einen Stock, den er übergibt, während er ihm Füße, Hals oder Brust
küsst. Das dominante Männchen reagiert darauf, indem es sich zu seiner vollen Größe
aufrichtet und auch seine Haare aufstellt, damit es noch größer wirkt. Ein Beobachter
könnte daraus schließen, dass beide Schimpansen unterschiedlich groß sind, obwohl sie
tatsächlich die gleiche Größe haben. Ein Schimpanse kriecht am Boden, während der
andere umherstolziert und manchmal sogar über den Untergebenen hinwegspringt. Die
Weibchen dagegen zeigen den dominanten Männchen meist ihre Hinterteile zur Inspek-
tion. Versäumt es ein Männchen oder ein Weibchen gelegentlich, diese unterwürfigen
Gesten zu zeigen, ist das ein direkter Angriff auf den Status des dominanten Tieres, der
einen aggressiven Vergeltungsschlag zur Folge haben kann.
Die dominante Position bei männlichen Schimpansen bringt einen wesentlichen Vorteil
mit sich: vermehrter sexueller Zugang zu Weibchen (de Waal, 1982). Dominante Männ-
chen innerhalb einer Kolonie beanspruchen mindestens 50% – manchmal sogar bis zu
75% – aller Paarungsakte für sich, selbst wenn noch ein halbes Dutzend anderer Männ-
chen in der Kolonie leben. Eine Analyse aus 700 Studien ergab, dass Männchen von mitt-
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 451
lerem bis hohem Rang in der Regel einen reproduktiven Vorteil gegenüber niedriger
gestellten Männchen haben (Ellis, 1995). Allerdings kommt es bei manchen Arten, z.B.
den Rhesusmakakken vor, dass sich die Weibchen heimlich mit untergeordneten Männ-
chen paaren (Manson, 1992).
Die dominanten männlichen Schimpansen scheinen besonders dann einen gesteigerten
sexuellen Zugang zu den Weibchen zu haben, wenn diese sich in der fruchtbaren Phase
befinden (Ellis, 1995). Drei der vier Studien, die diesen Zusammenhang untersuchten,
ergaben, dass dominante Männchen dann mehr sexuellen Zugang zu Weibchen erlangten,
wenn diese sich in ihrer fruchtbaren Phase befanden und eine Befruchtung daher
wahrscheinlicher war. Dies legt nahe, dass Unterlegene womöglich dann sexuellen
Zugang zu den Weibchen haben, wenn eine Befruchtung weniger wahrscheinlich ist. Eine
Studie, die DNA-Merkmale untersuchte, bestätigte diese Schlussfolgerung. Sie ergab,
dass hochrangige Männchen tatsächlich eine unverhältnismäßig große Anzahl an Nach-
kommen gezeugt hatten (im Vergleich zu rangniedrigeren Männchen). Bei Orang-Utans
und Pavianen konnte man ähnliche Zusammenhänge zwischen Dominanz, sexuellem
Zugang und reproduktiven Ergebnissen nachweisen (Ellis, 1995).
Zwei weitere wichtige Merkmale von Dominanz-Hierarchien bei Primaten sind bekannt
(Cummins, 1998). Zum einen sind diese Hierarchien nicht statisch. Die Individuen stehen
in ständigem Wettbewerb um eine höhere Position und verdrängen manchmal das domi-
nante Männchen. Verdrängten Männchen gelingt es manchmal, ein gewisses Maß ihrer
früheren Dominanz zurückzugewinnen. Tod oder Verletzung eines dominanten Tieres
kann einen Zeitraum der Instabilität nach sich ziehen, in welchem die anderen nach-
drängen, um das Vakuum an der Spitze der Hierarchie zu füllen. Einzelne versuchen stän-
dig, sich innerhalb der Hierarchie eine gute Position zu sichern und machen sie so zu
einer dynamischen Form einer sozialen Organisation. Zum zweiten bestimmt nicht nur
die körperliche Größe des Primaten seinen Rang. Ein Aufstieg innerhalb einer Primaten-
Hierarchie hängt dagegen verstärkt von den sozialen Fähigkeiten ab, insbesondere davon,
Verbündete zu gewinnen, auf deren Unterstützung man sich im Wettkampf mit anderen
Individuen verlassen kann. So gab es einen dokumentierten Fall, bei dem ein untergeord-
netes Männchen sein Bündnis mit dem Anführer beendete, weil dieser sich weigerte, ihn
in einem Kampf gegen ein anderes Männchen zu unterstützen, bei dem es um den sexuel-
len Zugang zu einem bestimmten Weibchen ging (de Waal, 1992).
Mehr sexuelle Möglichkeiten mit Weibchen sind ein wichtiger adaptiver Beweggrund für
die Entwicklung von Dominanzhierarchien. Dies lässt auch eine evolutionäre Basis der
Geschlechtsunterschiede im Dominanz-Motiv vermuten.
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 453
Ein höherer Status und stärkere Dominanz gewähren Männern auf zweierlei Weise mehr
sexuellen Zugang zu Frauen. Zum ersten können Frauen dominante Männer als Partner
bevorzugen (Kenrick et al., 1990). Männer, die hohes Ansehen genießen, können Frauen
mehr Schutz und mehr Ressourcen bieten, die diese für sich und ihre Kinder einsetzen
können. Außerdem können diese Männer vielleicht sogar eine bessere Gesundheitsver-
sorgung bieten (Buss, 1994; Hill & Hurtado, 1996). In polygynen Gesellschaften ziehen
es Frauen oft vor, die umfangreichen Ressourcen eines hoch gestellten Mannes mit ande-
ren Mitfrauen zu teilen, anstatt die wenigen Ressourcen eines rangniedrigeren Mannes für
sich alleine zu haben (Betzig, 1986). Also könnte ein potentieller Vorteil eines ranghohen
Mannes darin bestehen, von Frauen bevorzugt als Partner ausgewählt zu werden. Zu die-
ser Bevorzugung kann es sowohl bei der kurzfristigen als auch bei der langfristigen Part-
nerwahl kommen, da Frauen in vielen Kulturen auch für kurze Affären eher Männer mit
hohem Status auswählen (Baker & Bellis, 1995; Buss, 1994; Hill & Hurtado, 1996).
Ein zweiter Weg, durch den dominante Männer mehr Zugang zu Frauen gewinnen können,
bezieht sich auf die intrasexuelle Dominanz. Dominante Männer können einfach die Part-
nerinnen untergeordneter Männer für sich beanspruchen, ohne dass niedriger gestellte
Männer sie daran hindern können. Daly und Wilson stellten fest: „Männer gelten in ihrer
Umgebung entweder als ‚diejenigen, die man herumschubsen kann’, oder als ‚diejenigen,
die sich nichts gefallen lassen’, als Männer, die nach ihrem Wort handeln, oder als Männer,
deren Worte nur heiße Luft sind, als Männer, denen man ungestraft die Freundin ausspan-
nen kann, oder als Männer, mit denen man sich besser nicht anlegt.“ (1988, S.128). Napo-
leon Chagnon berichtete das folgende Beispiel einer Interaktion zwischen zwei Yano-
mamö-Brüdern. Der höher gestellte Bruder (Rerebawa) hatte eine Affäre mit der Ehefrau
seines niedriger gestellten Bruders. Als der betrogene Bruder davon erfuhr, griff er Rere-
bawa an, wurde aber mit der stumpfen Seite einer Axt heftig verprügelt. Als Rerebawa
Chagnon durch sein Dorf führte, stellte er ihm auch seinen Bruder vor, indem er ihn am
Handgelenk packte, ihn zu Boden zwang und verkündete: „Das ist der Bruder, mit dessen
Frau ich geschlafen habe, als er nicht da war“ (Chagnon, 1983, S. 29). Das war eine tödli-
che Beleidigung, die normalerweise einen blutigen Zweikampf ausgelöst hätte, wenn
beide Brüder gleichrangig gewesen wären. Doch der untergeordnete Bruder stahl sich nur
voll Scham davon, froh darüber, dass ihm ein Kampf mit seinem Bruder erspart blieb.
Status und sexuelle Möglichkeiten. Gibt es Belege dafür, dass ein Mann höheren Ranges
tatsächlich auch mehr sexuelle Möglichkeiten bei Frauen hat? Im Laufe der gesamten
Weltgeschichte haben Könige, Kaiser und Despoten Frauen in Harems um sich versam-
melt und dabei immer junge, fruchtbare und attraktive Frauen ausgewählt. Der marokka-
nische Kaiser Moulay Ismail der Blutrünstige hatte beispielsweise 500 Frauen in seinem
Harem, mit denen er 888 Kinder zeugte. Die Evolutionsanthropologin Laura Betzig sam-
melte systematische Daten der ältesten sechs Zivilisationen: Mesopotamien, Ägypten, das
Aztekenreich, Mexiko, das Inkareich in Peru sowie die Kaiserreiche Indien und China
(Betzig, 1993). Diese Zivilisationen umspannten vier Kontinente und etwa viertausend
Jahre, wobei der Anfang etwa im Jahr 4000 vor Christus liegt.
In allen sechs Zivilisationen zeigt sich ein bemerkenswert einheitliches Muster. In Indien
besaß Bhupinder Singh einen Harem mit 332 Frauen. Darunter befanden sich zehn hoch-
rangige Maharanis, 50 Ranis mittleren Rangs und weitere Mätressen und Dienerinnen
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454 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
ohne Rang. „Alle Frauen standen dem Maharaja jederzeit zur Verfügung. Er konnte seine
Lust mit jeder von ihnen zu jeder Tages- oder Nachtzeit befriedigen.“ (Dass, 1970, S. 78).
Dieses extravagante Sexualleben war nur den Männern mit Ansehen und Macht vorbe-
halten. Viele Männer konnten sich nur eine einzige Frau leisten, und für manche war
selbst das schon zu teuer. Reiche Adelige dagegen konnten leicht einen Harem unterhal-
ten, was viele in Indien bis vor kurzer Zeit auch noch taten (Betzig, 1993).
Im Kaiserreich China zeigte sich ein ähnliches Bild. Am Ende der Chou-Dynastie im Jahr
771 v. Chr. hatte jeder König „eine Königin (hou), drei Gefährtinnen (fu-jen), neun Ehe-
frauen zweiten Ranges (pin), 27 Ehefrauen dritten Ranges (shih-fu) und 81 Konkubinen
(yu-chi)“ (van Gulik, 1974, S.17). Es gab bestimmte Bedienstete des Palastes, deren Auf-
gabe es war, das Land nach jungen, hübschen und gut situierten Frauen zu durchkämmen,
die dann zum Palast gebracht wurden. Die Frauen, die am wenigsten attraktiv waren,
mussten niedere Arbeiten im Palast verrichten, die hübschesten wurden jedoch für den
königlichen Harem ausgewählt. Die Anzahl der Frauen entsprach in etwa dem Rang des
Mannes. Der Kaiser Huang-ti hatte angeblich mit 1.200 Frauen Geschlechtsverkehr. Der
entthronte Kaiser Fei-ti besaß sechs Paläste, in denen über 10.000 Frauen wohnten. Groß-
prinzen durften nur einige hundert Frauen haben, Großgeneräle etwa dreißig, Männer in
gehobener Stellung hatten sechs bis zwölf Frauen und solche von mittlerem Stand nur
drei oder vier (Betzig, 1993).
Auf der anderen Seite der Welt, im Inkareich in Peru, gab es „Jungfrauenhäuser“, in denen
etwa 1.500 Frauen oder mehr lebten – es gab keine Beschränkung nach oben. In diesen
Häusern warteten die Frauen, bis sie vom König gerufen wurden. Dann wurden sie dorthin
gebracht, wo der König sich gerade befand. Wie in China hing auch hier die Anzahl der
Ehefrauen vom Ansehen und Rang des Mannes ab. Die Kaiser hatten die meisten Frauen,
oft in den Tausenden. Inkafürsten hatten mindestens 700 Frauen „für Dienste im Haus und
für ihr Vergnügen“ (Cieza de Leon, 1959, S. 41). Nach dem Gesetz und Brauch der Inka
erhielten „Prinzipale“ 50 junge Frauen, Vasallenführer hatten 30; Herrscher über Provin-
zen mit mehr als 100.000 Einwohnern erhielten 20 Frauen, Herren von 100 Menschen
erhielten acht Frauen, kleine Häuptlinge sieben, kleinere Häuptlinge fünf und so weiter.
Frauen wurden streng nach Status und Rang des Mannes zugeteilt.
Auch in Ägypten ergibt sich das gleiche Bild, wie aus historischen Quellen aus den Jah-
ren 1416 bis 1377 v. Chr. hervorgeht. „Der König verlangte von den Herrschern über
seine Provinzen ständig neue hübsche Dienerinnen.“ (Redford, 1984, S. 36). Zwar ist
keine genaue Anzahl überliefert, es ist jedoch klar, dass die mesopotamischen Könige aus
Sumer, Assyrien und Babylon zahlreiche Kinder mit vielen Frauen, Konkubinen und
Sklavinnen zeugten – manchmal mit tausenden von Frauen (Betzig, 1993). Durch Anse-
hen und einen hohen Rang konnten sich Männer, wie es scheint, in allen der sechs ältes-
ten menschlichen Zivilisationen erhöhten sexuellen Zugang zu Frauen sichern.
Dieser Zusammenhang scheint auch in unserer modernen Zeit noch zu gelten – allerdings
zweifellos nicht in dem beschriebenen Ausmaß. Die per Gesetz festgeschriebene Mono-
gamie, die in den westlichen Kulturen herrscht, schränkt die Anzahl der Frauen, die ein
Mann heiraten kann, ganz erheblich ein. Mit der Absetzung von Königen und Despoten
verschwanden auch die Harems. Dennoch ergab eine neuere Studie, dass hochrangige
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 455
Männer auch heute noch verstärkt sexuellen Zugang zu Frauen erhalten (Perusse, 1993).
Da dieser Zugang im Rahmen der gesetzlich festgeschriebenen Monogamie stattfindet,
handelt es sich hier ausschließlich um kurzfristige und außereheliche Affären. Außerdem
können Männer von hohem Rang eher äußerlich attraktivere Frauen heiraten als Männer
von niedrigerem Rang (Elder, 1969; Taylor & Glenn, 1976; Udry & Eckland, 1984).
Männer von hohem Status suchen sich zudem jüngere und dadurch fruchtbarere Frauen
aus (Grammer, 1992). Auch wenn sich die Struktur moderner Zivilisationen im Vergleich
zu den Merkmalen der frühesten Kulturen stark verändert hat, blieb doch die Verbindung
zwischen dem Status eines Mannes und seinem sexuellen Zugang zu jungen, attraktiven
Frauen mehr oder weniger bestehen.
Zusammengefasst bestätigen empirische Belege die evolutionäre Logik, die einen
geschlechtsbezogenen Unterschied in Bezug darauf vorhersagt, wie stark die Motivation
für ein Streben nach einem hohen Rang ist. Alle verfügbaren Belege bestätigen, dass ein
hoher Rang einem Mann direkt sexuellen Zugang zu einer größeren Anzahl von Frauen
beschert. Doch auch für Frauen kann ein höherer Rang viele reproduktive Vorteile haben.
Der direkte verstärkte sexuelle Zugang, den Männer mit höherem Ansehen genießen, legt
jedoch nahe, dass der selektive Mechanismus für ein Streben nach hohem Status beim
Mann ausgeprägter ist.
Streben Männer eher nach sozialem Status? Gibt es irgendwelche direkten Belge dafür,
dass Männer stärker nach Dominanz oder einem hohen Rang streben als Frauen? Überra-
schend wenige Studien beschäftigen sich mit dieser Frage, doch es gibt einige Hinweise.
In einer Studie über sechs Kulturen fanden Whiting und Edwards (1988) heraus, dass sich
Jungen eher auf Raufereien, Angriffe und andere aggressive Handlungen einließen als
Mädchen – all diese Handlungen zeigen „egoistische“ Dominanz und wollen Aufmerk-
samkeit erregen. In allen sechs Kulturen ließen sich Jungen eher auf Dominanz bezogene
Mutproben mit Gleichaltrigen ein als Mädchen. Mädchen dagegen zeigten eher Verhal-
tensweisen des Umsorgens und der sozialen Verträglichkeit als Jungen.
Die Psychologin Elenor Maccoby (1990) hat sich vielleicht mehr als alle ihrer Kollegen
mit Belegen für geschlechtsspezifische Unterschiede bei Kindern in tausenden von Stu-
dien befasst. Sie beschrieb zwei der auffälligsten geschlechtsbezogenen Unterschiede im
Vorschulalter:
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456 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Der erste bezieht sich auf die Rauflust der Jungen und ihre starke Orientierung
auf Konkurrenz und Dominanz. … Ein zweiter wichtiger Faktor ist, dass es Mäd-
chen als schwierig empfinden, Jungen zu beeinflussen. … Jungen setzen ihre Spra-
che oft aus egoistischen Beweggründen und zur Eroberung und zum Schutz des
eigenen Territoriums ein. Bei Mädchen ist die Konversation eher ein Prozess, um
soziale Bindungen zu festigen (S. 516).
Ein geschlechtsbezogener Unterschied bei der Motivation zur Dominanz zeigt sich also
schon in einem sehr jungen Alter.
Eine weitere Quelle von Belegen für geschlechtsspezifische Unterschiede ist ein umfas-
sendes Forschungsprogramm der Psychologen Felicia Pratto und Jim Sidanius über die
von ihnen so genannte soziale Dominanzorientierung (Social Dominance Orientation,
SDO) (Pratto, Sidanius, & Stallworth, 1993). Sie entwickelten eine Messskala für SDO,
die sie als Präferenz für soziale Hierarchien bezeichneten. Diejenigen, bei denen diese
Orientierung stark ausgeprägt ist, verfolgen eine Ideologie, bei der es um die Legitima-
tion der Dominanz einer Gruppe über eine andere geht, darum, ob es eine Gruppe ver-
dient, von einer anderen diskriminiert und unterworfen zu werden, und darum, dass einer
Gruppe mehr Vergünstigungen zugute kommen als einer anderen. Einige der Punkte auf
der SDO-Skala lauten: „Um im Leben voranzukommen, muss man manchmal anderen
schaden“, „Reiche Menschen haben ihr Geld, weil sie einfach besser sind“, „Manche
Menschen sind anderen einfach unterlegen“, „Manche Gruppen sind einander nicht eben-
bürtig“, „Nur die Besten [z.B. die Klügsten, Reichsten, Gebildetsten etc.] sollten in dieser
Welt etwas erreichen“, „Es ist wichtiger zu gewinnen, als die Spielregeln zu befolgen“,
„[Es ist in Ordnung], mit fast allen erforderlichen Mitteln im Leben voranzukommen“
(Pratto, 1996, S. 187).
Diese Psychologen vertraten die Meinung, dass Männer höhere SDO-Werte haben sollten
als Frauen, da eine solche Orientierung unseren männlichen Vorfahren einen verstärkten
Zugang zu Frauen ermöglicht hatte. Außerdem meinen sie, dass die Selektion Frauen
begünstigte, die Männer mit hohen SDO-Werten auswählten, da dies ihnen und ihren
Kindern mehr Vorteile brachte. Zusammengenommen stellen beide Argumentations-
ketten eine evolutionäre Basis für die These dar, dass es bei den SDO-Werten
geschlechtsbezogene Unterschiede gibt. Tatsächlich sind bei Männern diese Werte auch
durchgehend höher als bei Frauen. In einer Studie mit 1.000 Erwachsenen aus Los Ange-
les erzielten die Männer höhere SDO-Werte – ein geschlechtsspezifischer Unterschied,
der sich unabhängig von Herkunft, Einkommen, Ausbildung, politischer Einstellung und
anderen Variablen immer abzeichnete (Pratto, 1996). Dieser geschlechtsspezifische
Unterschied bei der sozialen Dominanz-Orientierung konnte auch in anderen Kulturen
nachgewiesen werden, darunter auch Schweden, einer der gleichberechtigsten Kulturen
der Welt (Buss, 1994). Männer scheinen also insgesamt gesehen eher Ansichten zu ver-
treten, die sich darum drehen, im Leben voranzukommen, darunter auch Ansichten, die
rechtfertigen, dass ein Mann eine höhere Stellung innehat als ein anderer und dass eine
Gruppe eine andere dominiert. Diese Ergebnisse bestätigen die Evolutionstheorie eines
geschlechtsbezogenen Unterschieds bezüglich der Motivation, Dominanz oder Ansehen
zu erlangen. Jedoch ist auch hier weitere Forschungsarbeit nötig.
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 457
Männer und Frauen drücken ihre Dominanz durch unterschiedliche Handlungen aus.
Eine weitere Quelle von Belegen für geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Domi-
nanz ergibt sich aus den Handlungen, durch welche Männer und Frauen ihre Dominanz
ausdrücken. In einer Studie wurden 100 zuvor als dominant bezeichnete Handlungen auf-
gelistet (Buss, 1981). Beispiele lauteten: „Ich hatte die Situation nach dem Unfall im
Griff“, „Ich habe bei dem Meeting viel geredet“, „Ich forderte eine Gegenleistung“, „Ich
entschied, welche Fernsehsendung sich die Gruppe ansehen sollte“, „Ich legte im
Gespräch mit meinem/r Geliebten einfach auf“. In der ersten Studie sollten die männli-
chen und weiblichen Teilnehmer diese Handlungen danach bewerten, wie sozial
erwünscht oder wie wertvoll sie in ihren Augen waren. Dabei ergaben sich erhebliche
geschlechtsbezogene Unterschiede. Frauen neigten eher als Männer dazu, Handlungen
prosozialer Dominanz als sozial erwünscht einzustufen, z.B. „in der Ausschusssitzung die
Verantwortung übernehmen“, „zu einem wichtigen Thema seine Meinung sagen, ohne
abzuwarten, was die anderen denken“, „finanzielle Mittel für eine wichtige Sache sam-
meln“ und „sich an vielen Aktivitäten der Gemeinde oder der Universität beteiligen“.
Männer dagegen stuften egoistisch dominante Handlungen als sozial erwünschter ein als
Frauen, darunter „seinen eigenen Willen durchsetzen“, „anderen schmeicheln, um seinen
Willen durchzusetzen“, „sich darüber beschweren, anderen einen Gefallen tun zu müs-
sen“, „andere beschuldigen, wenn etwas schief geht“. Männer scheinen egoistische
Dominanz-Handlungen als erwünschter oder weniger verurteilenswert einzuschätzen als
Frauen.
Zeigen sich diese geschlechtsbezogenen Unterschiede auch tatsächlich im Verhalten von
Männern und Frauen? Um dies zu überprüfen, übergab man 43 Frauen und 40 Männern
die „California Psychological Inventory Dominance“-Skala (Gough, 1964) und die „Per-
sonality Research Form Dominance“-Skala (Jackson, 1967). Eine Woche später mussten
die Teilnehmer angeben, wie oft sie jede der 100 auf der Skala angegebenen Dominanz-
Handlungen ausgeführt hatten (Buss, 1981). Die Dominanz-Werte auf der Persönlich-
keitsskala wurden dann mit den Dominanz-Handlungen korreliert, und zwar getrennt
nach Geschlechtern. Dominante Männer und Frauen neigten beide dazu, auch viele domi-
nante Handlungen auszuführen, z.B. „Ich beteiligte mich intensiv an einer politischen
Kampagne“, „Ich versuchte als Erster, eine lahme Party wieder in Gang zu bringen“, „Ich
sprach bei einer öffentlichen Veranstaltung“, „Ich habe zur Unterhaltung anderer eine
lange Geschichte erzählt“, „Ich nahm nach dem Unfall die Sache in die Hand“.
Trotz dieser Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Dominanz-Handlungen von Männern
und Frauen doch erheblich voneinander. Dominante Männer – jedoch nicht dominante
Frauen – gaben an, folgende Handlungen ausgeführt zu haben: „Ich wies andere an,
niedere Aufgaben zu erledigen, damit ich das nicht selbst machen musste“, „Ich habe
meinen Willen durchgesetzt“, „Ich sagte ihm, welche der beiden Stellen er annehmen
sollte“, „Ich schaffte es, das Ergebnis des Meetings zu beeinflussen, ohne dass die ande-
ren etwas merkten“, „Ich forderte, dass jemand anderes die Aufgabe übernahm“. Anders
ausgedrückt handeln dominante Männer oft egoistisch dominant und beeinflussen andere
direkt, um für sich einen Vorteil zu erlangen.
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458 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Dominante Frauen dagegen neigen eher dazu, prosoziale dominante Handlungen auszu-
führen, z.B. „Ich schlichtete einen Streit zwischen den Gruppenmitgliedern“, „Ich habe
die Organisation des Projektes geleitet“, „Ich habe bei dem Meeting den Redner vorge-
stellt“. Dominante Frauen scheinen ihre Dominanz vorrangig durch Handlungen auszu-
drücken, die zum Wohlergehen der ganzen Gruppe beitragen.
Dieser geschlechtsspezifische Unterschied in der Ausdrucksform der Dominanz zeigte
sich auch in einem raffinierten psychologischen Experiment des Persönlichkeitspsycholo-
gen Edwin Megargee (1969). Megargee wollte eine Testsituation im Labor schaffen, in
der er die Auswirkungen von Dominanz auf Führungspositionen untersuchen konnte.
Zunächst übergab er die „California Psychological Inventory Dominance“-Skala an eine
große Anzahl Männer und Frauen, die potentielle Untersuchungsteilnehmer waren. Dann
wählte er unter diesen nur diejenigen Frauen und Männer aus, die auf der Skala entweder
hohe oder niedrige Werte erzielt hatten.
Nach diesem Auswahlverfahren führte Megargee (1969) die Versuchspersonen paarweise
in das Labor, wobei er immer eine sehr dominante Versuchsperson mit einer Person mit
geringer Dominanz zusammenbrachte. Er bildete vier Kombinationen: (1) ein sehr domi-
nanter Mann mit einem wenig dominanten Mann, (2) eine sehr dominante Frau mit einer
wenig dominanten Frau, (3) ein sehr dominanter Mann mit einer wenig dominanten Frau
und (4) eine sehr dominante Frau mit einem wenig dominanten Mann.
Megargee gab jedem Paar eine große Schachtel mit vielen roten, gelben und grünen Mut-
tern, Schrauben und Brechstangen. Den Teilnehmern wurde gesagt, der Zweck der Studie
sei es, den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Führungsqualitäten unter Stress zu
untersuchen. Jedes Paar sollte als Team versuchen, die Schachtel so schnell wie möglich zu
reparieren, wobei Schrauben und Muttern einer bestimmten Farbe entfernt werden und
durch andere Farben ersetzt werden mussten. Doch musste es in jedem Team einen Anfüh-
rer geben, der dem Partner Anweisungen zu geben hatte. Die zweite Person war der Unter-
gebene und hatte lediglich die Aufgabe, die Anweisungen des Anführers zu befolgen. Die
Forscher sagten den Testpersonen, es sei ihnen überlassen, die Rollen zu bestimmen.
Für Megargee war die wichtige Frage, wer der Anführer und wer der Untergebene sein
würde. Er hielt lediglich den Prozentsatz der sehr dominanten Testpersonen fest, die auch
gleichzeitig Anführer wurden. Er fand heraus, dass bei den gleichgeschlechtlichen Paa-
rungen 75% der dominanten Männer und 70% der dominanten Frauen auch die Rolle des
Anführers übernahmen. Bei der Paarung der sehr dominanten Männer mit den wenig
dominanten Frauen übernahmen jedoch in 90% der Fälle die Männer die Führungsrolle.
Das überraschendste Ergebnis zeigte sich bei der Paarung der dominanten Frauen mit den
weniger dominanten Männern. Hier übernahmen nur 20% der Frauen die Führungsrolle.
Für sich genommen könnte man aus diesen Laborergebnissen ablesen, dass die Frauen
unter diesen Bedingungen ihre Dominanz unterdrückten oder dass sich die Männer trotz
ihrer wenig dominanten Haltung genötigt sahen, eine typische Geschlechterrolle und
damit die Verantwortung zu übernehmen. Wie sich jedoch herausstellte, trifft keine dieser
Vermutungen zu. Megargee hatte die Gespräche eines jeden Paares aufgezeichnet, wäh-
rend sie entschieden, wer die Führungsrolle übernehmen sollte. Bei der Analyse der Ton-
bänder kam er zu einem überraschenden Ergebnis: Die dominanten Frauen bestimmten,
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 459
dass ihre wenig dominanten Partner die Anführer sein sollten. Tatsächlich waren es in
91% der Fälle die dominanten Frauen, die bei der Entscheidung das letzte Wort hatten!
Dieses Ergebnis zeigt, dass Frauen in der Situation gemischter Geschlechter ihre Domi-
nanz ganz anders ausdrücken als Männer. Auch nachfolgende Studien ergaben diese
geschlechtsbezogenen Unterschiede beim Ausdruck von Dominanz (z.B. Carbonell,
1984; Davis & Gilbert, 1989; Nyquist & Spence, 1986).
Megargees Studie weist auf einen wichtigen geschlechtsspezifischen Unterschied hin:
Männer neigen dazu, ihre Dominanz durch Handlungen auszudrücken, die sie selbst vor-
anbringen und ihnen Status und Macht einbringen. Frauen orientieren sich eher weniger
daran, selbst nach mehr Ansehen und Dominanz über andere zu streben; sie entscheiden
sich eher dafür, ihre Dominanz für die Ziele der gesamten Gruppe einzusetzen. All diese
Studien stützen zusammengenommen die Hypothese, dass es beim Streben nach Status
geschlechtsbezogene Unterschiede gibt.
Zusammenfassend bestätigen eine Reihe von Befunden die evolutionäre Logik eines
geschlechtsspezifischen Unterschieds bei der Dominanz. Männer, die einflussreiche
Machtpositionen erreichen, nutzen diese eher, um verstärkten sexuellen Zugang zu Frauen
zu erlangen. Männer erzielen auf Skalen der sozialen Dominanz-Orientierung höhere
Werte und vertreten eher Ansichten, die ihre eigene Überlegenheit gegenüber Einzelnen
und anderen Gruppen rechtfertigen. Männer neigen dazu, ihre Dominanz durch egoisti-
sche Handlungen auszudrücken, die ihnen selbst Vorteile bringen und andere unterordnen.
Frauen dagegen drücken ihre Dominanz verstärkt durch prosoziale Handlungen aus, die
sie selbst nicht notwendigerweise über andere erheben. Diese geschlechtsbezogenen
Unterschiede zeigen sich in vielen Bereichen. Männer schreiben in ihren persönlichen
Tagebüchern beispielsweise häufiger über gleichgeschlechtliche Konkurrenz (Cashdan,
1998). Am Arbeitsplatz nehmen Männer durchschnittlich gesehen größere Risiken auf
sich, sie äußern stärker den Wunsch nach Ansehen und sind eher bereit, andere Lebens-
qualitäten, z.B. flexible Arbeitszeit, zu opfern, um beruflich aufzusteigen (Brown, 1998,
2002).
Dominanz-Theorie
Die Evolutionspsychologin Denise Cummins (1998) legte vor kurzem eine Dominanz-
Theorie als Rahmenwerk zur Erklärung vieler kognitiver Fähigkeiten des Menschen vor,
die bisher für Verwirrung gesorgt hatten.
Sie begann mit der Aussage, dass der Überlebenskampf bei Menschen (und Schimpansen)
oft durch Konflikte zwischen den dominanten Vertretern und denjenigen geprägt war, die
versuchten, die Dominanten zu überlisten: „Vor diesem Hintergrund stellt sich die Evolu-
tion des Geistes (minds) als strategisches Wettrüsten dar, bei dem die Waffen die ständig
wachsenden geistigen Fähigkeiten sind, die dazu genutzt werden, die internalen Repräsenta-
tionen anderer nachzuvollziehen und zu manipulieren.“ (Cummins, 1998, S. 37). Die Selek-
tion fördert Strategien, die einem Individuum zu einer dominanten Stellung über andere ver-
helfen; sie wird aber auch die Entwicklung untergeordneter Strategien fördern, um den
Zugang dominanter Individuen zu wichtigen Ressourcen zu unterbinden. Zu diesen Strate-
gien zählen Täuschung, List, falsche Unterordnung, Freundschaft und Manipulation, um
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460 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Zugang zu Ressourcen zu erlangen, die für Überleben und Fortpflanzung wichtig sind.
Untergeordnete männliche Schimpansen versuchen beispielsweise, ihre Erektion zu verste-
cken, wenn ihre „unstandesgemäßen“ sexuellen Kontakte mit einem Weibchen von einem
dominanten Männchen entdeckt werden. Dies legt nahe, dass ein untergebenes Männchen
einen dominanten Rivalen durchschauen und täuschen kann (de Waal, 1988). Cummins
(1998) argumentiert, dass sich diese kognitiven Fähigkeiten, andere durchschauen zu kön-
nen, bei Primaten, darunter auch beim Menschen, entwickelt haben, um zu verhindern, dass
die dominanten Artgenossen exklusiven Zugang zu allen Ressourcen erlangen.
Die Dominanz-Theorie basiert auf zwei Hauptthesen (Cummins, 1998). Zum einen sagt sie
aus, dass der Mensch bereichsspezifische Strategien entwickelt hat, um soziale Normen wie
etwa Dominanz-Hierarchien zu begreifen. Darunter fällt das Verständnis bestimmter
Aspekte wie etwa Erlaubnisse (z.B. wer darf sich mit wem paaren), Verpflichtungen (z.B.
wer muss wen gesellschaftlich unterstützen) und Verbote (z.B. wem ist es verboten, sich
mit wem zu paaren). Zum zweiten geht die Dominanz-Theorie davon aus, dass sich diese
kognitiven Strategien vor und unabhängig von anderen Denkstrategien entwickelt haben.
Cummins (1998) führt mehrere Belege an, um die Dominanz-Theorie zu untermauern. Der
erste bezieht sich darauf, dass Kinder schon sehr früh über Rechte und Pflichten nachdenken,
sich also das so genannte deontische Denken aneignen. Deontisches Denken bezieht sich dar-
auf, was eine Person darf, wozu sie verpflichtet ist und was ihr verboten ist (z.B. bin ich alt
genug, um Alkohol zu trinken?). Diese Denkweise steht dem so genannten indikativen Den-
ken gegenüber, das sich damit befasst, was wahr und was falsch ist (z.B. versteckt sich da
wirklich ein Tiger hinter dem Baum?). Eine Reihe von Studien ergaben, dass Menschen, die
über deontische Regeln nachdenken, spontan eine Strategie verfolgen, die darauf ausgerich-
tet ist, Individuen zu identifizieren, die diese Regeln brechen. Betrachten wir z.B. die deonti-
sche Regel „wer Alkohol trinkt, muss 16 Jahre oder älter sein“, suchen wir ganz automatisch
nach anderen um uns herum, die Alkohol trinken und jünger als 16 aussehen. Wenn wir
dagegen indikative Regeln betrachten, suchen wir spontan nach Beispielen, die diese Regeln
belegen. Bei der Beurteilung der indikativen Regel „alle Eisbären haben weißes Fell“ suchen
wir spontan nach Beispielen, die Eisbären mit weißem Fell zeigen und nicht nach Beispielen,
die Eisbären zeigen, die vielleicht kein weißes Fell haben. Kurz gesagt wendet der Mensch
also zwei verschiedene Denkstrategien an, je nachdem, ob er eine deontische oder eine indi-
kative Regel überprüft. Bei deontischen Regeln sucht er nach Regelverstößen, bei indikativen
Regeln sucht er nach Beispielen, die die Regel bestätigen. Diese unterschiedlichen Denkwei-
sen wurden schon bei erst dreijährigen Kindern nachgewiesen, was bedeutet, dass sie sich
sehr früh im Leben ausbilden (Cummins, 1998). Es ist vielleicht kein Zufall, dass Kinder ab
dem dritten Lebensjahr auch transitive Dominanz-Hierarchien bilden (Hierarchien also, bei
denen, wenn A über B und B über C dann auch gleichzeitig A über C dominiert). Außerdem
können kleine Kinder früher in ihrem Leben über transitive Dominanz-Hierarchien logisch
nachdenken als über Transitivitätsrelationen bei anderen Objekten (Cummins, 1998).
Die Dominanz-Theorie sagt vorher, dass das menschliche Denken sehr stark durch den
gesellschaftlichen Rang beeinflusst wird, und es gibt auch einige empirische Belege, die
dies bestätigen. Die Evolutionspsychologin Linda Mealey zeigte Studienteilnehmern
Fotos von Männern und auch einige biografische Informationen, die etwas über den
gesellschaftlichen Status des jeweiligen Mannes (hoch oder niedrig) sowie seinen Cha-
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 461
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462 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 463
ners“ bezeichnen könnte. Wer sich die Gesichter der Gewinner und der Verlierer in einem
sportlichen Wettkampf genau ansieht, kann dieses Hochgefühl deutlich ablesen. Man geht
davon aus, dass eine positive Stimmung uns eher dazu bringt, weitere Herausforderungen zu
suchen und unsere Gewinnchancen gleichzeitig höher einzuschätzen. Die zweite, damit
zusammenhängende Veränderung bezieht sich auf die zunehmende Hilfeleistung. Psycholo-
gen konnten dokumentieren, dass diejenigen, die selbst in der Statushierarchie aufsteigen,
sich eher freundlich und hilfsbereit anderen gegenüber verhalten (Eisenberg, 1986). Interes-
sant ist, dass es manche Menschen vermeiden, andere um Hilfe zu bitten, denn sie glauben,
das könnte ihr Ansehen in den Augen der anderen mindern (Fisher, Nadler & Whitcher-Ala-
gna, 1982). Außerdem ist belegt, dass Personen mit hohem gesellschaftlichen Ansehen häufi-
ger in Notaufnahmen von Krankenhäusern aushelfen als solche mit geringerem Ansehen
(Brewin, 1988). Zusammenfassend scheint ein Aufstieg in der Rangordnung mit einem ver-
stärkten Hochgefühl und einem hilfsbereiteren Verhalten in Zusammenhang zu stehen.
Wenn man gewinnt, so besagt eine Theorie, genießt man ein Hochgefühl, ist eher bereit anderen zu
helfen und schätzt auch die eigenen Gewinnchancen in zukünftigen Wettbewerben höher ein (oben).
Eine Niederlage dagegen kann Depressionen, soziale Ängste und Neid auslösen (unten).
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464 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Nach der SAHP-Theorie hat es für Stimmung und Gefühle ganz andere Auswirkungen,
wenn man in der gesellschaftlichen Hierarchie abstürzt – dies löst soziale Ängste, Scham,
Wut, Neid und Depression aus. Die soziale Angst eines öffentlichen Redners ist um so
größer, je weitreichender die potentiellen Auswirkungen auf seinen gesellschaftlichen
Status sind. Ein Vortrag vor Studenten im Grundstudium macht einem Professor in der
Regel weniger Angst als ein Referat bei einer internationalen Expertenkonferenz. Soziale
Ängste können also vermutlich als Motivatoren angesehen werden, um einen Statusver-
lust zu vermeiden. Scham ist ein verwandtes Gefühl. Scham kommt meist dann auf, wenn
man nach einer öffentlichen negativen Beurteilung Verachtung und Schmähungen erfährt
und so an Ansehen verliert. Wer sich schämt, fühlt sich klein, unterlegen und verachtens-
wert. Auch die Körpersprache spiegelt diese Gefühle wider; der Betroffene vermeidet
Blickkontakte mit anderen, senkt das Kinn und geht gebückt (Wicker, Payne & Morgan,
1983). Vermutlich motiviert die Scham einen Menschen zu versuchen, gegenwärtig und
zukünftig nicht das Opfer von Verachtung zu werden.
Wut ist eine weitere hypothetische Reaktion auf einen Statusverlust. Sie kann den Betrof-
fenen dazu motivieren, an demjenigen, der für den Statusverlust verantwortlich ist, Rache
zu üben. Die oft zitierte Bemerkung „Keiner, der mir dies antut, kommt ungestraft davon“
könnte ein Beispiel dafür sein, wie Wut und Rache infolge eines Statusverlustes einge-
setzt werden, um Vergeltungsschläge zu rechtfertigen (Gilbert, 1990).
Neid ist eines der am wenigsten erforschten Gefühle in der Psychologie, in der SAHP-
Theorie könnte er jedoch besonders wichtig sein. Der Neid hängt insofern mit dem Rang
zusammen, als Menschen diejenigen beneiden, die über Ressourcen, Häuser, Partner oder
Prestige verfügen, die sie selbst auch haben möchten aber nicht besitzen. Neid könnte uns
dazu motivieren, diejenigen zu imitieren, die das haben, was wir auch möchten. Helden-
verehrungen und die Idealisierung anderer kann eine positive Manifestation dieses Neid-
gefühls sein. Auf der negativen Seite kann der Neid Handlungen bewirken, die anderen,
die mehr haben als wir, schaden sollen, z.B. eine Schmähung ihrer Erfolge oder die Ver-
breitung böser Gerüchte über sie. Neid kann einen Ehemann dazu bringen, die Erfolge
seiner Frau herunterzuspielen, um seinen höheren Rang in der Ehe zu erhalten (Horung,
McCullough & Sugimoto, 1981). In Organisationen kann sich Neid besonders zerstöre-
risch auswirken, z.B. wenn ein Vorgesetzter die Bemühungen seiner Mitarbeiter unter-
gräbt, um zu verhindern, dass sie ihn ausstechen (Gilbert, 1990).
Depression ist die letzte hypothetische emotionale Reaktion auf einen Statusverlust,
obwohl sie auch viele andere Ursachen haben kann, z.B. den Verlust enger Bindungen
(Gilbert, 1990). Depressionen aufgrund eines Statusverlustes können sich einstellen,
wenn man sein Gesicht verliert, gefeuert wird, sich selbst als Belastung für andere emp-
findet oder sonst bei irgendeiner gesellschaftlich wichtigen Aufgabe versagt. Es ist empi-
risch belegt, dass Depression unterwürfiges Verhalten auslöst, das darauf abzielt, andere
zu besänftigen und weitere aggressive Übergriffe zu verhindern (Forrest & Hokanson,
1975). Der Mensch findet aus der Depression heraus, wenn er wieder Arbeit hat oder
irgendeinen anderen Weg findet, um für andere wertvoll zu sein und so ihr Potential
sozialer Aufmerksamkeitserhaltung zu steigern (Gilbert, 1990).
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 465
Zusammengefasst geht die SAHP-Theorie davon aus, dass viele Aspekte des menschli-
chen Gefühlslebens, von der Hochstimmung bis zur Depression, evolutionsbedingte
Merkmale psychologischer Mechanismen sind, die darauf ausgerichtet sind, die adapti-
ven Probleme von Status-Hierarchien zu lösen. Es gibt nicht viele Forschungsarbeiten zur
Überprüfung dieser verschiedenen Hypothesen über die speziellen Funktionen von
Gefühlen, doch wirkt die Theorie rein intuitiv plausibel und ist sehr viel versprechend.
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466 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Bei den Männern ergab sich eine signifikante positive Korrelation zwischen der Gehge-
schwindigkeit und dem Status. Bei den Frauen dagegen war keine signifikante positive
Korrelation abzulesen. Die Ergebnisse stützen die Hypothese des Autors, dass das Geh-
tempo ein geschlechtsbezogenes Statusmerkmal der Männer ist.
1.80
1.70
Gehgeschwindigkeit (m/s)
1.60
1.50
1.40
1.30
1 0 14 22 11 11 20 18 27 23 17 11 11
N
1 6 4 6 25 18 21 15 20 13 5 3 3
3 6 9 12 15
Sozio-ökonomischer Status
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 467
Die Verbindung zwischen der physischen und der sozialen „Größe“ wurde auch experi-
mentell untersucht (Wilson, 1968). In einer Studie wurde ein Mann verschiedenen Zuhö-
rerschaften vorgestellt, wobei ihm dabei jedes Mal ein anderer gesellschaftlicher Rang
zugesprochen wurde – so wurde er als Professor, als Student etc. vorgestellt. Dann bat
man das Publikum, die Körpergröße des Mannes zu schätzen. Zuhörer, denen man den
Mann als gesellschaftlich hochstehende Persönlichkeit vorgestellt hatte, schätzten ihn
größer ein als Zuhörer, die ihn als Vertreter eines geringeren Standes kannten. Selbst bei
Menschen, die wir persönlich kennen, übertreibt unsere geistige Vorstellung bei der Ein-
schätzung der Körpergröße, wenn wir wissen, dass diese Menschen eine hohe gesell-
schaftliche Stellung einnehmen (Dannenmaier & Thumin, 1964).
Studien in den USA ergaben, dass große Männer bevorzugt eingestellt und befördert wer-
den, dass sie besser bezahlt und eher in ein Amt gewählt werden (Gillis, 1982). Große
Männer verdienen mehr, wobei jeweils drei Zentimeter Körpergröße über dem Durch-
schnitt von etwa 1,73 m etwa $ 600 jährlich ausmachen. Bei den amerikanischen Präsi-
dentschaftswahlen des 20. Jahrhunderts gewann in 83% der Fälle der größere Kandidat.
Auch wenn die Menschen wohl die kompliziertesten und raffiniertesten Prestige-Hierar-
chien besitzen, bleibt die reine Körpergröße doch weiterhin ein bestimmender Faktor.
Testosteron und Dominanz. Testosteron ist ein Androgen – Androgene sind die viel-
leicht wichtigste Hormongruppe, die bei einer Reihe von Tieren zur Ausbildung und
Erhaltung „männlicher“ Merkmale beiträgt (Mazur & Booth, 1998). Kastrierten Hähnen
fehlt beispielsweise der rote Kamm sowie die Kehllappen, die ihre reproduktiven Fähig-
keiten signalisieren. Sie krähen nicht, scharen keine Hühner um sich und vermeiden Kon-
frontationen mit Artgenossen. Bei den Menschen gibt es besonders auffällige geschlechts-
bezogene Unterschiede bei den Testosteron-Werten. Männer haben durchschnittlich ein
hunderttausendstel Gramm Testosteron in einem Liter Blut, ganze siebenmal so viel wie
die Frauen (Mazur & Booth, 1998). Zwar wird Testosteron sowohl in der Nebenniere als
auch in den Eierstöcken der Frau produziert, doch die Leydig-Zwischenzellen der männli-
chen Hoden produzieren sehr viel größere Mengen dieses Hormons, was den großen
Unterschied zwischen beiden Geschlechtern bewirkt. Testosteron kann im Blut und im
Speichel gemessen werden.
In der Pubertät wächst die Testosteronproduktion in den Hoden drastisch an, so dass die
Testosteron-Werte um das Zehnfache ansteigen können. Dieser sprunghafte Anstieg sorgt
für all die Veränderungen, die wir mit der Pubertät verbinden: der Penis wächst, die
Stimme wird tiefer, die Muskelmasse vergrößert sich, Gesichts- und Körperbehaarung
nimmt zu und das Interesse am Geschlechtsverkehr erwacht (siehe Kasten 12.1 für einen
kurzen Überblick über die Auswirkungen eines dominanten Gesichts auf Status und
Sexualität).
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468 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Ein dominant wirkendes Gesicht kann ein weiterer Hinweis auf den Status sein. Ein
dominantes Gesicht zeichnet sich durch ein ausgeprägtes Kinn, betonte, geschwun-
gene Augenbrauen und insgesamt muskulöse Gesichtszüge aus. Fehlende Dominanz
zeigt sich dagegen in den genau gegensätzlichen Zügen: ein schwach ausgeprägtes
Kinn, schwach vorhandene Augenbrauen und ein fleischiges Gesicht. Die Evolutions-
psychologen Ulrich Mueller und Allan Mazur (1996) bewerteten die Dominanz der
Gesichtszüge bei 434 West Point-Kadetten und verfolgten anschließend ihre militäri-
sche Karriere. Sie fanden heraus, dass die Anwärter, die dominante Gesichtszüge hat-
ten, meist einen höheren Rang in der Militärakademie erwarben. Auch in der Mitte
ihrer Karriere bestand ein klarer Zusammenhang zwischen dominanten Gesichtszü-
gen und den erreichten Rängen. Das Gleiche galt für Beförderungen später in ihrer
Karriere, über 20 Jahre nachdem die ersten Fotos gemacht worden waren.
In einer weiteren Studie wurde die Dominanz der Gesichtszüge von 58 männlichen
Schülern bewertet, ebenso wie ihre physische Attraktivität und ihre pubertäre Ent-
wicklung (Mazur, Halpern & Udry, 1994). Anschließend füllten die Jungen Frage-
bögen aus, in denen sie über ihre sexuellen Erfahrungen Auskunft geben sollten. Alle
drei Merkmale – dominante Gesichtszüge, physische Attraktivität und pubertäre Ent-
wicklung – wiesen eine positive Korrelation mit vorhandener sexueller Erfahrung und
der Anzahl der Sexualpartner auf. Auch nachdem der Einfluss von Attraktivität und
pubertärer Entwicklung statistisch herauspartialisiert wurde, zeigte sich noch immer
ein direkter Zusammenhang zwischen der Dominanz der Gesichtszüge und der sexu-
ellen Erfahrung. Die Autoren schlossen daraus, dass dominante Gesichtszüge bei
Männern auch vermehrten sexuellen Zugang zu Frauen bedeuten.
Wissenschaftler vermuten schon lange, dass bei einer Reihe von Tierarten die Testoste-
ron-Werte eng mit Dominanz und Status zusammenhängen. In einer Studie wurde bei-
spielsweise rangniedrigen Kühen Testosteron verabreicht (Bouissou, 1978). Anschlie-
ßend stiegen die behandelten Kühe in der Rangordnung der anderen Kühe auf. Als das
Testosteron wieder abgesetzt wurde, fielen sie wieder auf ihren alten Rang zurück. Ein
ähnlicher Effekt zeigte sich auch bei rangniedrigen Hähnen, denen man Testosteron
spritzte: ihre Kämme wurden größer, sie stiegen in der Rangordnung – manchmal sogar
bis ganz an die Spitze (Allee, Collias & Lutherman, 1939).
Der kausale Zusammenhang zwischen Testosteron und einem Statuszuwachs ist beim
Menschen schwieriger nachzuweisen. Das liegt zum Teil daran, dass ethische Überlegun-
gen eine experimentelle Manipulation der menschlichen Testosteron-Werte erschweren.
Bei Häftlingen sowie bei Nicht-Häftlingen besteht eine Korrelation zwischen hohen Tes-
tosteron-Werten und einer Vielzahl dominanter Verhaltensweisen. Hohe Testosteron-
Werte weisen ebenso, besonders bei jungen Männern, eine Korrelation mit verschiedens-
ten rebellischen und antisozialen Handlungen auf (Mazur & Booth, 1998). Da diese Stu-
dien allesamt lediglich Korrelationen erhoben haben, kann man daraus nicht ableiten,
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 469
dass hohe Testosteron-Werte dominantes Verhalten bewirken. Es gibt sogar Belege dafür,
dass der Effekt in genau entgegengesetzter Richtung läuft.
Einer der am umfassendsten dokumentierten Effekte beim Menschen ist die Tatsache, dass
eine Statusveränderung eine Veränderung des Testosteronspiegels bewirkt (Mazur &
Booth, 1998). Bei Sportlern steigt der Testosteron-Wert kurz vor dem Wettkampf an, viel-
leicht damit die Agierenden eher bereit sind, Risiken einzugehen. Vielleicht noch wichti-
ger ist, dass bei den Gewinnern des Wettkampfs der Testosteron-Wert bis zu zwei Stunden
nach dem Spiel weiterhin hoch bleibt, während er bei den Verlierern wieder abfällt. Mit
den Schwankungen der Testosteron-Werte gehen auch Stimmungsschwankungen einher;
so erleben die Gewinner mit hohen Testosteron-Werten ein Hochgefühl, ganz im Gegen-
satz zu den Verlierern. Diese Auswirkungen sind besonders deutlich, wenn die Sportler
den Wettkampf als wichtig erachten.
Ähnliche Effekte konnten auch bei anderen Wettkämpfen außerhalb von Sportplätzen
beobachtet werden, so etwa beim Schach (Mazur, Booth & Dabbs, 1992), bei „Wettbe-
werben“ in Labors, bei denen es um Reaktionszeit ging (Gladue, Boechler & McCaul,
1989) und bei symbolischen Herausforderungen etwa durch verbale Beleidigungen (Nis-
bett, 1993). Die Gewinner zeigen erhöhte Testosteron-Werte, bei den Verlierern sinken
die Werte ab. Diese Auswirkungen von Sieg und Niederlage gehen sogar auf die Sport-
fans über, die sich gar nicht selbst am Wettkampf beteiligen. Als Brasilien bei der Fuß-
ball-Weltmeisterschaft von 1994 Italien besiegte, stieg bei den brasilianischen Fans, die
das Spiel im Fernsehen verfolgten, der Testosteronspiegel, während er bei den italieni-
schen Fans absank (Fielden, Lutter & Dabbs, 1994).
Die evolutionäre Funktion dieser Testosteronschwankungen ist noch nicht bekannt, eine
Vermutung lautet jedoch, dass die Gewinner sich wahrscheinlich sehr bald neuen Herausfor-
derungen stellen müssen, so dass die hohen Testosteron-Werte sie also auf weitere Wett-
kämpfe vorbereiten können. Das Absinken der Testosteron-Werte bei Verlierern kann Ver-
letzungen verhindern, indem es die Betroffenen vor weiteren Konfrontationen
zurückschrecken lässt, bis sich eine bessere Gelegenheit bietet (Mazur & Booth, 1998).
Alternativ können die hohen Testosteron-Werte der Gewinner auch zur Steigerung des
Selbstbewusstseins dienen, sie dazu bringen, einen höheren Rang einzunehmen und viel-
leicht sogar einen verstärkten sexuellen Zugang zu Frauen bewirken. Diese funktionalen
Spekulationen müssen in zukünftiger Forschungsarbeit noch überprüft werden.
Ein eher indirekter Zusammenhang zwischen Testosteron und Dominanz zeigt sich beim
Taille-Hüfte-Verhältnis (waist-to-hip-ratio, WHR) des Mannes. Der WHR ist ein sekundä-
res Geschlechtsmerkmal, das vom Testosteron-Wert abzuhängen scheint (Campbell, Simp-
son, Stewart & Manning, 2002). Männer mit einem hohen WHR haben nicht nur hohe Tes-
tosteron-Werte, sondern sind auch generell gesünder und haben weniger gesundheitliche
Probleme wie Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfälle und bestimmte Krebsarten
(Singh, 2000). In zwei unabhängigen Experimenten schätzten sich Männer mit einem
hohen WHR als selbstbewusster ein und wurden auch von anderen als dominante Füh-
rungspersönlichkeiten beurteilt (Campbell et al., 2002). Diese Ergebnisse könnten wie-
derum auf eine Verbindung zwischen Testosteron und Dominanz beim Mann hinweisen.
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470 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Die Verbindung zwischen Testosteron und Dominanz bzw. Status bei Frauen ist bisher
viel weniger erforscht. Die wenigen durchgeführten Studienarbeiten konnten jedoch nicht
die gleichen Zusammenhänge nachweisen wie bei den Männern. Einige wenige Studien
weisen eine positive Korrelation zwischen Testosteron-Werten der Frau und Anwendung
nicht provozierter Gewalt bei weiblichen Gefangenen aus, andere Studien konnten diese
Verbindung jedoch nicht bestätigen (Mazur & Booth, in Druck). In einer Studie fanden
die Wissenschaftler heraus, dass der Status, gemessen an der Beurteilung durch die
Umwelt bei Frauen mit hohem Testosteronspiegel geringer war, was darauf hindeutet,
dass hier ein gegenteiliger Effekt wie bei den Männern vorliegt (Cashden, 1995). Interes-
santerweise neigten Frauen mit hohen Testosteron-Werten dazu, ihren eigenen Status zu
überschätzen. Also bestand ein Zusammenhang zwischen einem hohen Testosteronspie-
gel und einer hohen Selbsteinschätzung des eigenen Ansehens – dafür aber einer geringen
Bewertung des Status seitens der Umwelt. Weitere Forschungen sind nötig, um die Ver-
bindung zwischen Testosteron und Status bei Frauen zu klären.
Die übergeordneten Schlussfolgerungen aus diesen Forschungsarbeiten müssen also auf
den Mann beschränkt werden und weisen auf einen reziproken Kausalzusammenhang hin
(Dabbs & Ruback, 1988; Mazur & Booth, 1997). Ein hoher Testosteronspiegel des Man-
nes kann dominante Verhaltensweisen auslösen, die in einigen Subkulturen zu einem
erhöhten Status führen. Umgekehrt scheint aber auch ein Aufstieg in der Hierarchie den
Testosteronspiegel zu erhöhen (Bernhardt, 1997). Man kann davon ausgehen, dass
zukünftige Forschungen die evolutionären Funktionen dieser Kausalzusammenhänge
noch klarer herausarbeiten werden.
Serotonin und Dominanz. In jüngster Zeit wurde der Neurotransmitter Serotonin im
Zusammenhang mit Dominanz erforscht (Cowley & Underwood, 1997). Prozac, ein
Medikament, das in den USA häufig zur Behandlung von Depression und Angstzustän-
den eingesetzt wird, wirkt durch eine Erhöhung des Serotoninspiegels im Gehirn.
Die Evolutionswissenschaftler Michael McGuire und Michael Raleigh führten Experi-
mente an grünen Meerkatzen durch, die ergaben, dass Männchen von hohem sozialen
Rang fast doppelt so viel Serotonin im Blut hatten wie rangniedrige Männchen (McGuire
& Troisi, 1998). Wie beim Testosteron kann man auch hier die Kausalkette in zwei Rich-
tungen bilden. Wurden ranghohe Männchen überwältigt, so sank ihr Serotonin-Wert.
Stieg ein rangniedriges Männchen in der Rangordnung auf, stieg sein Serotonin-Wert
stark an. In einer faszinierenden Studie entdeckten McGuire und Raleigh, dass sie den
Serotonin-Wert eines Alpha-Männchens drastisch senken konnten, indem sie ihn einfach
vor einen Einwegspiegel setzten, so dass die anderen Affen ihn nicht sehen konnten und
daher auch kein unterwürfiges Verhalten zeigten. Anscheinend interpretierten die Alpha-
Männchen die fehlenden unterwürfigen Gesten als Statusverlust, weshalb ihr Serotonin-
Wert absank.
In einer weiteren Studie untersuchten McGuire und Raleigh 48 Studenten einer Studen-
tenverbindung, darunter ranghohe und einfache Mitglieder. Sie fanden heraus, dass die
Serotonin-Werte bei den ranghohen Mitgliedern um 25% höher waren als bei normalen
Mitgliedern. In einem amüsanten Test an einer kleineren Auswahl von Testpersonen ana-
lysierten die Forscher daraufhin ihre eigenen Serotonin-Werte und entdeckten, dass
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 471
McGuire (der Laborleiter) um 50% höhere Serotonin-Werte aufwies als Raleigh (der For-
schungsassistent). Zusammenfassend ist der Neurotransmitter Serotonin ebenso wie das
Testosteron eine im Gehirn wirkende Chemikalie, die etwas über die eigene Position
innerhalb der Status-Hierarchie aussagt.
Gesucht: Eine Theorie über die Determinanten der Dominanz. Die oben aufgeführte
kurze Abhandlung deckt nur einige Merkmale ab, die mit Dominanz und gesellschaftli-
chem Status korrelieren. Weitere Eigenschaften, die kulturübergreifend eine solche Kor-
relation aufweisen sind Sportlichkeit, Intelligenz, physische Attraktivität, Humor und ein
gepflegtes Äußeres (Weisfeld, 1997). Es fehlt eine umfassende Theorie, die genau erklä-
ren könnte, was wir an anderen wertschätzen, warum wir es wertschätzen und warum wir
manche Menschen so sehr bewundern, während wir andere ignorieren oder erniedrigen.
Sind die Eigenschaften, die einen hohen Status mit sich bringen, für Männer und Frauen
gleich? Sind sie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleich? Warum ist in man-
chen Subkulturen körperliche Stärke und Härte rangentscheidend, während in anderen
Kulturen Menschen, die diese Eigenschaften aufweisen, als Schläger verachtet werden?
Wie kulturabhängig sind Kriterien für Prestige? Welche psychologischen Mechanismen
haben sich entwickelt, um ein Vorankommen zu erreichen? Gibt es universale Kriterien
für Prestige und können sie im Voraus durch eine evolutionspsychologische Analyse
benannt werden? Diese und andere wichtige Fragen kann eine kulturübergreifende Erfor-
schung von Prestige, Status und Ansehen beantworten (Buss, 1995b).
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472 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
die Gesellschaft anderer zu suchen, soziale Bindungen einzugehen und sich bei anderen
Gruppenmitgliedern einzuschmeicheln. Wurde man nicht wenigstens von einigen Grup-
penmitgliedern akzeptiert, waren Isolation und vielleicht sogar ein frühzeitiger Tod die
Folge, wenn man gezwungen war, ohne den Schutz der Gruppe zu leben. Angesichts der
Tatsache, dass soziale Akzeptanz für das Überleben dringend notwendig war, könnte die
Selektion einen Mechanismus gefördert haben, der ein Individuum dazu befähigt, mitzu-
verfolgen, in welchem Maß es von anderen akzeptiert wird. Dieser Mechanismus ist nach
der Soziometer-Theorie das Selbstwertgefühl. Ein hohes Selbstwertgefühl würde ein
Individuum vermutlich dazu motivieren, andere Gruppenmitglieder um einen Gefallen zu
bitten, bestehende soziale Beziehungen zu verbessern und neue zu knüpfen. Das Selbst-
wertgefühl folgt gemäß der Soziometer-Theorie dem wichtigsten adaptiven Problem –
wie sehr fühle ich mich in eine Gruppe mit einbezogen oder ausgeschlossen.
Eine Reihe empirischer Studien stützen die Soziometer-Theorie. In einer Studie beschrie-
ben die Testpersonen beispielsweise eine vorangegangene gesellschaftliche Begegnung
und bewerteten sie auf zweierlei Weise: (1) wie sehr sie sich von den anderen mit einbe-
zogen oder ausgeschlossen fühlten und (2) wie viel Selbstwertgefühl sie in diesem
Moment empfanden (Leary & Downs, 1995). Die Ergebnisse bestätigten die Vorhersagen
der Soziometer-Theorie. Fühlte man sich durch andere mit einbezogen, war auch gleich-
zeitig das Selbstwertgefühl höher. Fühlte man sich eher ausgeschlossen, war auch das
Selbstwertgefühl geringer.
Man muss nur einen kleinen Schritt machen, um diese Theorie dahingehend auszuweiten,
dass das Selbstwertgefühl auch in direktem Zusammenhang steht mit Prestige, Status und
Reputation, wie Barkow (1989) dies vorschlägt. Danach funktioniert das Selbstwertge-
fühl als psychologischer Mechanismus, der in direktem Zusammenhang steht mit der
Wertschätzung und dem Respekt, die andere uns entgegenbringen. Steigt das Ansehen in
den Augen anderer, so sollte gleichzeitig auch das Selbstwertgefühl steigen. Sinkt das
Ansehen in den Augen anderer, so sollte damit auch das Selbstwertgefühl sinken.
Gemäß dieser erweiterten Version der Soziometer-Theorie übernimmt das Selbstwertge-
fühl mehrere evolutionäre Funktionen. Zunächst könnte sie als Motivationsmechanismus
wirken, der aber nicht nur dazu da ist, Beziehungen zu anderen zu verbessern, wenn deren
Respekt schwindet. Sie könnte den Einzelnen auch dazu motivieren, häufiger oder mehr
Handlungen vorzunehmen, die ihm verstärkt den Respekt anderer einbringt. So gesehen
kann eine genau Verfolgung dessen, wie die anderen uns selbst sehen und welche Ereig-
nisse uns mehr Respekt verschaffen, uns dazu motivieren, unseren tatsächlichen Status
und unser Ansehen zu verbessern oder zu halten.
Eine zweite Funktion des Selbstwertgefühls besteht darin, uns in der Entscheidung anzu-
leiten, wen wir herausfordern und wem wir uns unterordnen sollten. Wenn man weiß, wo
man sich in der Hackordnung befindet, sind das wichtige Informationen darüber, wen
man ungestraft ausnutzen kann und mit wem man sich besser nicht anlegen sollte. Fehl-
einschätzungen des eigenen Selbstwerts hätten zu Verletzungen, Verbannung oder zum
Tod geführt. Die Beurteilung des Selbstwertgefühls ermöglicht eine genaue Bestimmung
der eigenen Position in der sozialen Hierarchie und erleichtert so die Entscheidung,
andere herauszufordern oder sich ihnen unterzuordnen.
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 473
Eine dritte mögliche Funktion des Selbstwertgefühls bezieht sich darauf, dass man damit
auch den eigenen Wert auf dem Partnerschaftsmarkt und somit auch den relativen Part-
nerwert derer, um die man sich als Partner bemüht, einschätzen kann (Kirkpatrick & Ellis,
2001). In einer Studie zur Überprüfung dieser hypothetischen Funktion zeigte man den
männlichen und weiblichen Testpersonen eine Reihe von Fotos. Die abgebildeten Men-
schen unterschieden sich auf zweierlei Weise: sie waren entweder attraktiv oder unattrak-
tiv und sie waren entweder dominant oder nicht dominant (Gutierres, Kenrick & Partch,
1994). Man zeigte den Teilnehmern Fotos und dazugehörige persönliche Informationen
von gleichgeschlechtlichen Menschen und gab vor, sie sollten den Wissenschaftlern hel-
fen, mögliche Formate für einen Partnervermittlungsdienst zu bewerten. Die persönlichen
Informationen wiesen die abgebildeten Personen als entweder dominant oder nicht domi-
nant aus und die beigefügten Fotos zeigten entweder attraktive oder unattraktive Perso-
nen. Anschließend bewerteten die Teilnehmer sich selbst in einer Reihe von Bereichen,
darunter ihren Wert auf dem Partnerschaftsmarkt.
Die Ergebnisse waren verblüffend. Frauen, denen man Fotos von physisch attraktiven
Frauen vorgelegt hatte, schätzten ihren eigenen Partnerwert geringer ein als Frauen,
denen man Fotos von weniger attraktiven Frauen gezeigt hatte. Ob die abgebildete Frau
dominant oder weniger dominant war, hatte keinerlei Einfluss auf die Selbsteinschätzung.
Bei den Männern zeigten sich genau gegensätzliche Ergebnisse. Männer, denen man
Fotos von anderen Männern zeigte, die als sehr dominant beschrieben wurden, bewerte-
ten ihren eigenen Partnerwert geringer als Männer, die Fotos von Männern betrachteten,
die als wenig dominant beschrieben wurden. Die physische Attraktivität der gezeigten
Männer spielte bei der Selbsteinschätzung keine Rolle. Diese Studie stützt die Hypothese,
dass die Selbsteinschätzung auch teilweise mit dem selbst wahrgenommenen Partnerwert
zusammenhängt. Außerdem liefert sie zusätzliche Belege für geschlechtsbezogene Unter-
schiede in wichtigen Bereichen des Partnerwerts.
Ein interessanter Weg, den man in zukünftigen Forschungsarbeiten zur Überprüfung der
Funktionen des Selbstwertgefühls beschreiten könnte, bezieht sich auf Versuche, die
Wahrnehmung anderer zu beeinflussen. Um eine Person, die sich selbstbewusst gibt und
vermittelt, dass sie in der Lage ist, einen Rivalen physisch zu besiegen, wird manchmal
ein großer Bogen gemacht, selbst wenn es keine offensichtlichen physischen Belege für
diese Haltung gibt. Tiere nehmen sich also sozusagen beim Wort (Tiger & Fox, 1971).
Wir neigen zu der Annahme, dass in der Darstellung des eigenen Status und des Selbst-
wertgefühls zumindest ein Stück Wahrheit steckt.
Das ist jedoch nicht immer der Fall. Arrogant, eingebildet, hochnäsig, eitel, affektiert,
anmaßend, überspannt, überheblich – all diese Adjektive beschreiben Selbstdarstellun-
gen, die die Umwelt für falsch und übersteigert hält. Man kann diese Aussagen natürlich
auch einsetzen, um Rivalen schlecht zu machen und einem potentiellen Partner zu vermit-
teln, dass ein Rivale die Ressourcen, die er zu besitzen vorgibt, gar nicht hat, oder dass er
sich selbst und seinen Status falsch darstellt. In weiteren Forschungsarbeiten könnten die
vielen hypothetischen Funktionen des Selbstwertgefühls weiter untersucht werden. So
könnte geklärt werden, wie sich das Selbstwertgefühl von einem Augenblick zum ande-
ren verändern kann und wie der Einzelne versucht, den Eindruck, den andere von seinem
Selbstwertgefühl haben, zu beeinflussen und zu manipulieren (Kirkpatrick & Ellis, 2001).
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474 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 475
Nimmt man eine untergeordnete Position ein, so ist das mit Kosten verbunden. Da hochran-
gige Individuen bekanntermaßen bevorzugten Zugang zu wichtigen Ressourcen haben, die
Überleben und Reproduktion erleichtern, müssen sich die Untergebenen oft mit den kargen
Resten zufrieden geben. Eine Studie über untergeordnetes Verhalten verdeutlicht die mögli-
chen Strategien untergebener Individuen (Salovey und Rodin, 1984). Die Forscher legten
den Teilnehmern ein Feedback vor, welches zeigte, dass sie bei einer Bewertung entschei-
dender Eigenschaften schlechter abschnitten als ein erfolgreicher gleichrangiger Artge-
nosse. Nachdem sie dieses Feedback erhalten hatten, zeigte sich, dass sie ihre erfolgreiche-
ren Konkurrenten verbal beschimpften, dass sie weniger häufig deren Freundschaft suchten
und angaben, sie seien im Umgang mit den erfolgreichen Artgenossen ängstlicher und
deprimierter. Einen erfolgreichen Konkurrenten herabzusetzen, kann dazu führen, dass man
sich besser fühlt, doch sich lediglich besser fühlen reicht für die Qualifikation als evolutio-
näre Funktion von Neid nicht aus. Macht man einen Konkurrenten verbal nieder, kann dies
aber auch noch andere Konsequenzen haben und z.B. dem Ruf des anderen schaden oder
dazu führen, dass man die eigenen Bemühungen auf einen anderen Bereich verlagert. Diese
beiden Konsequenzen reichen für die Qualifikation als evolutionäre Funktion voll aus.
Feather (1994) führte eine Reihe von Studien durch, bei denen er den Teilnehmern Situatio-
nen vorlegte, in denen tall poppies gesellschaftlich scheiterten. Ein akademischer Superstar
versagt z.B. bei einer wichtigen Abschlussprüfung. Feather variierte seine Situationen in
Bezug darauf, ob der vorherige Erfolg gerechtfertigt war oder nicht, ob die Niederlage
gering oder verheerend war und ob der tall poppy seinen Niedergang durch einen eigenen
Fehler selbst verschuldet hatte oder nicht. Außerdem untersuchte er Testpersonen in Austra-
lien und Japan, um zu sehen, ob die Reaktionen auf ein Scheitern eines tall poppy kultur-
übergreifend gleich ausfielen. Einer der entscheidenden Maßstäbe war dabei die Tall
Poppy-Skala, die Aussagen enthielt wie „Es tut gut zu sehen, dass auch erfolgreiche Men-
schen manchmal scheitern“, „Sehr erfolgreichen Menschen steigt ihr Erfolg oft zu Kopf“,
„Sehr erfolgreichen Menschen, die von ganz oben abstürzen, geschieht es recht, in Ungnade
zu fallen“, „Die Erfolgreichen sollten von ihrem hohen Ross heruntersteigen und so sein
wie normale Menschen“, „die tall poppies sollte man auf ihre normale Größe zurechtstut-
zen“, „Man muss den Erfolgreichen manchmal einen Dämpfer verpassen, auch wenn sie
nichts falsch gemacht haben“ (Feather, 1994, S. 41).
In einer ganzen Reihe von Studien entdeckte Feather einige wichtige Bedingungen, unter
denen es Menschen Vergnügen bereitet, einen tall poppy scheitern zu sehen. Zum einen
stieß bei tall poppies, deren hoher Status besonders hervorstach, ihr Niedergang bei den
Testpersonen auf mehr positive Reaktionen. Zum zweiten empfanden die Testpersonen
den Erfolg eines tall poppy als unverdient, bereitete ihnen deren Misserfolg ebenfalls grö-
ßeres Vergnügen. Drittens war Neid das am häufigsten empfundene Gefühl, das die Teil-
nehmer dem tall poppy entgegenbrachten, besonders wenn dieser in einem Bereich
erfolgreich war, der für den Teilnehmer von großer Bedeutung war, z.B. akademische
Leistungen für Studenten. Viertens reagierten japanische Teilnehmer positiver auf den
Misserfolg der tall popppies als australische Testpersonen, was auf einige kulturelle
Unterschiede im Empfinden von Schadenfreude hindeutet. Fünftens freuten sich Men-
schen mit geringem Selbstwertgefühl mehr über das Scheitern der tall poppies als Men-
schen, die über mehr Selbstwertgefühl verfügten.
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476 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Obwohl auch hier noch weitere Studien durchgeführt werden müssen, lassen doch die
vorhandenen Belege darauf schließen, dass eine untergeordnete Strategie darin besteht,
den Niedergang anderer, die einen höheren Status genießen, zu erleichtern und sich über
deren Misserfolge zu freuen. Die Freude, die man angesichts des Misserfolgs des Gegners
empfindet, könnte als motivierender Mechanismus zur Förderung solcher Misserfolge
funktionieren. Da die Evolution aufgrund von Selektion immer auf einer relativen Basis
stattfindet – der eigene Erfolg im Vergleich zum Erfolg anderer – können wir von zwei
allgemeinen Strategien ausgehen, die einen Aufstieg in der Dominanz- und Status-Hierar-
chie bewirken sollen. Die erste ist die eigene Verbesserung, die darauf abzielt, besser zu
sein als die Konkurrenz. Die zweite besteht darin, den Niedergang anderer voranzutrei-
ben. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Menschen beide Strategien anwenden.
Es bedarf sehr viel mehr zusätzlicher Forschungsarbeit, um die untergeordneten Strate-
gien und ihre unterschiedlichen Funktionen zu ergründen (Sloman & Gilbert, 2000). Die
Evolutionspsychologin Lynn O’Connor und ihre Kollegen haben beispielsweise heraus-
gefunden, dass es mindestens zwei unterschiedliche Gefühlszustände gibt, die unterge-
ordnetes Verhalten bewirken: die Angst, selbst zu Schaden zu kommen, und die Angst,
dass ein anderer Schaden nimmt (auf Schuldgefühlen basierendes unterwürfiges Verhal-
ten) (O’Connor, Berry, Weiss, Schweitzer & Sevier, 2000). Um beurteilen zu können, ob
man sich unterordnen sollte, scheint ein sozialer Vergleich besonders wichtig zu sein,
damit untergeordnete Strategien aktiviert werden können (Buunk & Brenninkmeyer,
2000). Außerdem verfügen die Menschen über eine erstaunliche Auswahl an untergege-
ordneten Strategien, darunter die Schaffung einer größeren Distanz zum dominanten Art-
genossen, Verstecken, Flucht, passive Reaktion, Signalisierung von Unterwerfung, Hilfs-
gesuche bei anderen und die Signalisierung freundlichen und kooperativen Verhaltens
(Fournier, Moskowitz & Zuroff, 2002; Gilbert, 2000a, 2000b). Da es zu einem drasti-
schen Prestigeverlust und dadurch auch zu einem Verlust der entsprechenden Ressourcen
führen kann, innerhalb einer Gruppe stigmatisiert oder ausgegrenzt zu werden, können
wir davon ausgehen, dass durch die Selektion Adaptationen herausgebildet worden sind,
die eine Ausgrenzung und Stigmatisierung vermeiden sollen, z.B. ein größeres Maß an
Anpassung (Kurzban & Leary, 2001; Williams, Cheung & Choi, 2000).
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 477
Zusammenfassung
Dieses Kapitel untersucht die evolutionäre Psychologie von Status und sozialer
Dominanz, Phänomene, die in weiten Bereichen der Tierwelt vom Flusskrebs bis hin
zum Menschen zu beobachten sind. Eine Dominanz-Hierarchie bezieht sich auf die
Tatsache, dass einige Individuen innerhalb einer Gruppe dauerhaft mehr Zugang zu
wichtigen Ressourcen – die Überleben und Reproduktion ermöglichen – erhalten als
andere. Die Existenz solcher Hierarchien gibt eine Reihe von adaptiven Problemen
auf, für die Tiere evolutionsbedingte Lösungen entwickelt haben, darunter die Moti-
vation, voran zu kommen, sowie Strategien, um mit einer Unterordnung zurecht zu
kommen. Die Körpergröße ist bei manchen Spezies ein wichtiger bestimmender Fak-
tor von Dominanz, bei anderen Arten, z.B. bei Schimpansen und Menschen spielt die
soziale Fähigkeit, Freunde auf seine Seite zu ziehen, eine zentrale Rolle, um einen
hohen Rang zu erreichen. Hochrangige Tiere erhalten manchmal – wenn auch nicht
immer – bevorzugten Zugang zu wichtigen Ressourcen, die für Überleben und Repro-
duktion entscheidend sind.
Es spricht sehr viel dafür, dass die Selektion beim Mann das Entstehen einer Motiva-
tion für Statusbestrebungen stärker gefördert hat als bei der Frau. Je polygyner das
Partnersystem ist, um so mehr hat es sich für den Reproduktionserfolg der Männer
ausgezahlt, Risiken einzugehen, um in der Hierarchie aufzusteigen, was für Frauen
nicht in diesem Maß gilt. Ein Aufstieg innerhalb dieser Systeme bedeutet historisch
gesehen mehr Ehefrauen, bzw. aus moderner Sicht mehr Sexualpartner. Empirische
Belege stützen diese evolutionäre Hypothese. Kulturübergreifend und über die
gesamte menschliche Geschichte, sogar schon 4000 v. Chr., hatten hochrangige Män-
ner vermehrten sexuellen Zugang zu Ehefrauen, Geliebten und Konkubinen. Kultur-
übergreifend bilden Männer schon ab dem Alter von drei Jahren Hierarchien. Empiri-
sche Daten belegen die Hypothese, dass Männer sich stärker an sozialer Dominanz
orientieren – also eher davon überzeugt sind, dass es gerechtfertigt ist, manchen Men-
schen überlegen zu sein. Frauen sind in der Regel eher egalitär, Männer dagegen hie-
rarchisch eingestellt. Männer und Frauen unterscheiden sich auch darin, durch welche
Handlungen sie ihre Dominanz zeigen. Während Frauen ihrer Dominanz durch pro-
soziale Handlungen Ausdruck geben (z.B. Auseinandersetzung zwischen Gruppen-
mitgliedern schlichten), zeigen sich Männer häufiger dominant, um sich selbst einen
Vorteil zu verschaffen und aufzusteigen (sie bringen z.B. andere dazu, niedere Arbei-
ten zu verrichten, um diese nicht selbst tun zu müssen). Vor die Wahl gestellt, ernen-
nen dominante Frauen häufig die Männer zu Anführern, während dominante Männer
meist die Führungsrolle für sich selbst beanspruchen.
Denise Cummins stellte die Dominanz-Theorie vor, um die kognitiven Mechanismen
zu erklären, die sich entwickelt haben könnten, um sich in Dominanz-Hierarchien
erfolgreich zu bewegen. Die Theorie basiert auf zwei wichtigen Aussagen. Erstens
haben Menschen bereichsspezifische Strategien entwickelt, um über soziale Normen
logisch nachdenken zu können.
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478 Teil 5 Probleme sozialer Gemeinschaften
Darunter fällt das Verständnis für Aspekte wie etwa Erlaubnis (z.B. wer darf wen als
Partner haben), Verpflichtung (z.B. wer muss wen in einer gesellschaftlichen Ausein-
andersetzung unterstützen), und Verbot (z.B. wer darf an dem rituellen Kriegstanz
nicht teilnehmen). Zweitens geht die Theorie davon aus, dass sich diese kognitiven
Strategien vor und unabhängig von anderen Denkstrategien entwickeln. Es gibt fol-
gende empirischen Belege, die diese Theorie stützen: (1) Kinder scheinen schon ab
einem Alter von drei Jahren logisch über Dominanz-Hierarchien und deren transitive
Eigenschaften nachzudenken. (2) Die Menschen erinnern sich eher an die Gesichter
von Betrügern, wenn diese einen geringen gesellschaftlichen Status haben. (3) Die
Menschen neigen dazu, bei rangniedrigen Individuen nach Regelverstößen zu suchen,
wenn sie die Perspektive eines ranghöheren Individuums einnehmen sollen.
Während die Dominanz-Theorie die Denkmechanismen betont, die der Dominanz
zugrunde liegen, sieht die Theorie über das Potential sozialer Aufmerksamkeitserhal-
tung (SAHP) eine Reihe emotionaler Mechanismen vor, die darauf ausgerichtet sind,
die adaptiven Probleme zu lösen, die sich aus einem Leben in einer sozialen Hierar-
chie ergeben. Dazu zählen das Hochgefühl nach einem Statusgewinn, soziale Ängste,
in Situationen, in denen Status erreicht oder verloren werden kann, Scham und Wut
infolge eines Statusverlusts, Neid als Motivation, das zu erreichen, was andere haben,
und Depression, um ein untergeordnetes Verhalten zu erleichtern und weitere
Angriffe von überlegenen Gruppenmitgliedern zu vermeiden.
Dominanz wird durch verschiedene Faktoren bestimmt und angezeigt, darunter eine
aufrechte Haltung, eine gleichmäßige Stimme, direkter Blickkontakt, ein schneller
Gang, bestimmte Gesichtszüge wie etwa ein ausgeprägter Kiefer und körperliche
Größe. Das Hormon Testosteron und der Neurotransmitter Serotonin konnten beide
mit Dominanz in Verbindung gebracht werden, auch wenn der kausale Zusammen-
hang in beiden Fällen unklar ist. Es gibt Belege dafür, dass der Testosteronspiegel
nach einem Sieg steigt, nach einer Niederlage jedoch abfällt. Bei Schimpansen sinkt
der Serotoninspiegel nach einem Statusverlust rapide ab, wenn z.B. Artgenossen ihre
unterwürfigen Begrüßungsgesten unterlassen. Die genaue evolutionäre Funktion von
Testosteron und Serotonin muss noch geklärt werden, doch ein Anstieg beider Stoffe
könnte für die Dominanzerhaltung eine Rolle spielen und ein Absinken beider Werte
könnte Tiere dazu bringen, gefährliche Herausforderungen zu meiden.
Mehrere Theorien haben nahe gelegt, dass das Selbstwertgefühl teilweise in direktem
Zusammenhang mit dem eigenen Status steht. Unser Selbstwertgefühl könnte mindes-
tens drei Funktionen haben: (1) Es könnte uns dazu motivieren, uns einzuschmeicheln
oder uns um unsere sozialen Beziehungen zu kümmern, wenn der Respekt anderer
schwindet. (2) Es könnte uns anleiten, richtig zu beurteilen und zu entscheiden, wen
wir angreifen und wem wir uns unterordnen. (3) Es könnte uns helfen, unseren eigenen
Wert auf dem Partnerschaftsmarkt zu bestimmen. Man kann davon ausgehen, dass
zukünftige Forschungsarbeiten die möglichen Funktionen des Selbstwertgefühls
genauer bestimmen werden.
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Kapitel 12 Status, Prestige und soziale Dominanz 479
Obwohl sich der Großteil dieses Kapitels mit den positiven Seiten der Dominanz befasst,
müssen wir uns auch den negativen Seiten zuwenden. Unsere Vorfahren sahen sich
immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen sie sich unterordnen mussten; also
wäre es sehr überraschend, wenn die Selektion nicht die Evolution bestimmter Mecha-
nismen gefördert hätte, die auf den Umgang mit adaptiven Problemen aufgrund von
Unterordnung ausgerichtet sind. Obwohl dieses Thema noch wenig erforscht wurde,
kann man sagen, dass es zwei hypothetische Strategien der Unterordnung gibt, nämlich
zum einen die deceiving down-Strategie (eine Verminderung des eigenen Selbstwerts,
um Konfrontationen zu vermeiden und leichter in die Rolle des Untergebenen schlüpfen
zu können, ohne sich den Zorn eines dominanten Artgenossen zuzuziehen) und die
Abwertung von tall poppies. Es bedarf kulturübergreifender Studien, um diese Hypothe-
sen und Vermutungen zu überprüfen und eine stabilere Basis für eine vollständigere Evo-
lutionstheorie über Status, Prestige und soziale Dominanz zu schaffen.
Weiterführende Literatur
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Teil 6
Eine integrierte
psychologische
Wissenschaft
In diesem abschließenden Kapitel wird das gesamte Gebiet der Psychologie aus einer evolu-
tionären Perspektive betrachtet. In Kapitel 13 wird aufgezeigt, wie eine evolutionäre Sicht-
weise wichtige Einblicke in jedes Fachgebiet der Psychologie wie das der Kognitions-,
Sozial-, Entwicklungs-, Persönlichkeits-, der klinischen und der Völkerpsychologie geben
kann und kommt zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen disziplinären Grenzen innerhalb
der Psychologie künstlich anmuten. Eine evolutionäre Psychologie widerspricht diesen
Abgrenzungen und schlägt vor, dass sich das Feld der Psychologie an den adaptiven Proble-
men ausrichten sollte, mit denen die Menschen im Verlauf ihrer Evolutionsgeschichte kon-
frontiert wurden.
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Kapitel
Der aufregendste Aspekt der evolutionären Psychologie ist, dass sie einen Rahmen
bildet, in dem Belege und Erklärungen aus Biologie, Anthropologie, Psychologie
und anderen Verhaltenswissenschaften zu einer vereinten Beschreibung menschli-
chen Verhaltens integriert werden.
– Boyer & Heckhausen, 2000, S. 924
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Marsmensch und kommen auf die Erde, um das am häu-
figsten anzutreffende große Säugetier, den Menschen, zu studieren. Sie entdecken, dass es
eine wissenschaftliche Disziplin gibt, die sich dem Studium der Menschen widmet und
Psychologie genannt wird. So besuchen Sie eine Universität, um Psychologen auszuspio-
nieren und herauszufinden, welche Erkenntnisse sie gesammelt haben. Das erste, was
Ihnen auffällt, ist, dass es viele unterschiedliche Psychologen mit unterschiedlichen
Bezeichnungen gibt. Einige nennen sich „Kognitionspsychologen“ und erforschen, wie der
Geist (mind) Informationen verarbeitet. Andere sind „Sozialpsychologen“ und studieren
zwischenmenschliche Interaktionen und Beziehungen. Wiederum andere bezeichnen sich
als „Entwicklungspsychologen“ und konzentrieren sich darauf, wie sich Menschen im
Laufe ihres Lebens psychisch verändern. „Persönlichkeitspsychologen“ konzentrieren sich
vor allem auf die Unterschiede zwischen Individuen, wenige untersuchen auch die
menschliche Natur. Dann gibt es die „Kulturpsychologen“, die ein Schlaglicht auf einige
erstaunliche Unterschiede zwischen individualistischen Kulturen wie den Vereinigten
Staaten und Kollektivgesellschaften wie Japan werfen. Andere sind „klinische Psycholo-
gen“ und erforschen die Funktionsstörungen des Geistes.
Als Marsmensch kommen Ihnen diese disziplinären Unterteilungen recht merkwürdig
vor. Soziales Verhalten beispielsweise erfordert die Verarbeitung von Informationen,
warum ist also die Sozialpsychologie von der kognitiven Psychologie getrennt? Individu-
elle Unterschiede entwickeln sich erst im Lauf der Zeit und viele der wichtigsten indivi-
duellen Unterschiede sind sozialer Natur; warum ist also die Persönlichkeitspsychologie
von der Entwicklungs- und der Sozialpsychologie getrennt? Um Funktionsstörungen des
Geistes zu verstehen, muss man wissen, wie der Geist funktionieren sollte; warum ist also
die klinische Psychologie von den anderen Fachgebieten der Psychologie getrennt?
Trotz dieser seltsam anmutenden Arbeitsteilung der Psychologen sind Sie sicher beeindruckt,
wenn Sie sehen, was bisher entdeckt wurde. Kognitionspsychologen haben beispielsweise
eine faszinierende Ansammlung kognitiver Neigungen und Heuristiken dokumentiert, die
nahe legen, dass der menschliche Geist daran scheitert, nach formalen Regeln der Logik zu
operieren (Tverksy & Kahneman, 1974). Sozialpsychologen haben eine Vielzahl faszinieren-
der Phänomene entdeckt wie die Tatsache, dass Menschen gerne langsam arbeiten, wenn sie
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484 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
ihren Anteil zu einer größer werdenden Gemeinschaft beitragen sollen (Latané, 1981), dass
sie zwar dazu tendieren, das Verdienst für Erfolge in Anspruch zu nehmen, aber anderen die
Schuld zu geben, wenn etwas nicht klappt (Nisbett & Ross, 1980), und dass sie dazu tendie-
ren, einer Autorität zu gehorchen, selbst wenn dies bedeutet, anderen schmerzhafte Elektro-
schocks zuzufügen (Milgram, 1974). Entwicklungspsychologen haben herausgefunden, dass
Kinder bereits im Alter von drei Jahren ein Verständnis dafür entwickeln, dass andere Men-
schen Wünsche haben, dass sie erst im Alter von vier Jahren verstehen, dass Menschen
Überzeugungen haben, und dass sie erst in der Pubertät verstehen, dass Menschen sexuelle
Bedürfnisse haben. Persönlichkeitspsychologen haben faszinierende individuelle Unter-
schiede dokumentiert: einige Menschen sind machiavellistischer oder manipulativer als
andere. Die klinische Psychologie deckte Funktionsstörungen und einige ihrer Eigenschaften
auf: z.B., dass doppelt so viele Frauen wie Männer an Depressionen leiden, dass Schizophre-
nie vererbbar und kaum heilbar ist und dass häufige Phobien wie solche vor Höhe oder
Schlangen durch systematische Desensibilisierung geheilt werden können.
Sie möchten Ihren Kollegen auf dem Mars ein integriertes Verständnis dieser seltsamen
Art, die Homo Sapiens genannt wird, vermitteln und all die wichtigen Einblicke, die die
Psychologen gewonnen haben, mitteilen, nicht aber die disziplinären Unterteilungen, die
Ihnen recht willkürlich vorkommen. Da Evolution durch Selektion der einzig bekannte
Prozess ist, durch den komplexe organische Entwürfe wie der menschliche Geist entwi-
ckelt werden können, scheint die evolutionäre Psychologie die einzige Meta-Theorie zu
sein, die machtvoll genug ist, um all diese Unterdisziplinen zu integrieren. Diese Meta-
Theorie versucht ein vereintes Verständnis der Mechanismen des Geists zu vermitteln, die
diese seltsame Art bipedaler Primaten charakterisieren.
Dieses Kapitel zieht sich von den Einzelheiten zurück und bemüht sich um die Darstel-
lung eines größeren, makroskopischen Bildes der menschlichen Psychologie. Der erste
Abschnitt untersucht die Teildisziplinen der Psychologie und illustriert Möglichkeiten,
wie die evolutionäre Psychologie diese unterstützen kann. Im zweiten Abschnitt wird
argumentiert, dass die Zukunft einer integrierten Psychologie auf der Auflösung traditio-
neller disziplinärer Grenzen beruht.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 485
dass die kognitive Architektur universell (general purpose) und inhaltsfrei (content-free)
ist. Dies bedeutet, es wird angenommen, dass die informationsverarbeitenden Mechanis-
men, die für die Nahrungsauswahl zuständig sind, die gleichen wie die für die Partner-
wahl und die Auswahl des Lebensraumes sind. Diese Universalmechanismen beinhalten
die Fähigkeiten zu denken, zu lernen, zu imitieren, die Verhältnismäßigkeit der Mittel für
ein zu erreichendes Ziel abzuschätzen, Ähnlichkeiten zu berechnen, Konzepte zu formu-
lieren und sich an Dinge zu erinnern. Wie in diesem Buch dokumentiert wurde, sind evo-
lutionäre Psychologen genau der gegenteiligen Ansicht, nämlich, dass der Geist aus einer
großen Anzahl spezialisierter Mechanismen besteht, von denen jeder darauf zugeschnit-
ten ist, ein anderes adaptives Problem zu lösen.
Als Konsequenz der in der kognitiven Psychologie vorherrschenden Annahme eines uni-
versellen informationsverarbeitenden Mechanismus wurde nur wenig Aufmerksamkeit
darauf gerichtet, welche Art von Stimuli in kognitiven Experimenten verwendet werden.
Kognitive Psychologen tendieren dazu, Stimuli auf der Basis einfacher Präsentierbarkeit
und experimenteller Manipulierbarkeit auszuwählen. Dies führt zu Kategorisierungs-
Studien, die Dreiecke, Vierecke und Kreise statt „natürlicher“ Kategorien wie Verwandt-
schaft, Freunde, Feinde oder essbare Dinge verwenden. Tatsächlich haben viele kognitive
Psychologen absichtlich künstliche Stimuli ausgewählt, da sie sich von dem verunreinigten
„Inhalt“ lösen wollen, mit dem die Studienteilnehmer Erfahrung haben könnten. Hunderte
von Experimenten wurden durchgeführt, in denen „sinnlose Silben“ verwendet wurden,
um Erinnerungsprozesse zu untersuchen, da die Forscher der Meinung waren, dass inhalts-
reiche Wörter die Ergebnisse „kontaminieren“ würden. Die Verwendung künstlicher,
inhaltsfreier Stimuli ist sinnvoll, wenn der Geist tatsächlich ein universeller Informations-
verarbeiter ist. Dies nützt aber wenig, wenn kognitive Mechanismen spezialisiert sind,
Informationen bestimmter Aufgaben zu verarbeiten.
Wie bereits in Kapitel 2 diskutiert, wirft die Annahme eines universellen Mechanismus
mindestens zwei wesentliche Probleme auf: (1) Was eine erfolgreiche adaptive Lösung aus-
macht, unterscheidet sich von Funktionsbereich zu Funktionsbereich – die Qualitäten, die
für erfolgreiche Nahrungsauswahl benötigt werden, unterscheiden sich von denen, die man
für eine erfolgreiche Partnerwahl benötigt und (2) die Anzahl der möglichen Verhaltenswei-
sen, die durch allgemeine Mechanismen entstehen, ist nahezu grenzenlos und der Organis-
mus hätte somit keine Möglichkeit, die erfolgreichen adaptiven Lösungen aus der Flut
erfolgloser herauszufinden (das Problem der kombinatorischen Explosion wie in Kapitel 2
diskutiert).
Eine zweite Hauptannahme der traditionellen kognitiven Psychologie ist der funktionelle
Agnostizismus – die Ansicht, dass informationsverarbeitende Mechanismen ohne Wissen
über die adaptiven Probleme untersucht werden können, für die sie entwickelt wurden. Im
Gegensatz dazu betreibt die evolutionäre Psychologie das Studium der menschlichen
Kognition mit funktioneller Analyse. So wie wir die Leber nicht verstehen können, wenn
wir nicht wissen, worin ihre Aufgabe besteht (Giftstoffe auszufiltern), so können wir
gemäß der Auffassung der evolutionären Psychologen nicht verstehen, wie Menschen
kategorisieren, denken, Urteile fällen und Dinge im Gedächtnis speichern und wieder
abrufen, ohne die Funktionen der kognitiven Mechanismen zu verstehen, auf denen diese
Aktivitäten basieren.
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486 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 487
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488 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Schlussfolgerung akzeptieren, wenn auch nur aus dem Grund, dass unsere Vorfahren mit
hunderten von adaptiven Überlebens- und Reproduktionsproblemen konfrontiert waren.
Alle Bankkauffrauen
feministische
Bankkauf-
frauen
Tooby und Cosmides (1998) argumentieren, dass eine evolutionäre Perspektive ein Parado-
xon darstellt, verglichen mit der Ansicht, dass Menschen kognitive Neigungen besitzen.
Menschen lösen routiniert komplexe natürliche Aufgaben, von denen viele nicht in künstli-
chen Modellen der Intelligenz konstruiert werden konnten. In Bezug auf das Sehvermögen,
die Erkennung von Objekten, die Induktion der Grammatik und Sprachwahrnehmung über-
treffen Menschen spielend die Leistung künstlicher Systeme, obwohl die Wissenschaftler mit
allen Werkzeugen der modernen Logik und formalen statistischen Entscheidungstheorien
ausgestattet sind (Tooby & Cosmides, 1998). Das Paradoxon ist dieses: Wenn Menschen der-
art fehleranfällige kognitive Mechanismen aufweisen, wie können sie dann komplexe Prob-
leme lösen, an denen jedes künstliche System, das man entwickeln kann, scheitert?
Tooby & Cosmides argumentieren, dass dieses Paradoxon mithilfe einer sorgfältigen evo-
lutionspsychologischen Analyse erklärt werden kann: „So wie in der Antike die Griechen
Nicht-Griechen als Barbaren bezeichneten, weil diese schlecht Griechisch sprachen (und
ihre Aussprache sich für griechische Ohren wie „ba-ba-ba“ anhörte), so könnten wir nun
die Leistungen des menschlichen Geistes verkennen, weil unsere Kriterien für die Erken-
nung anspruchsvoller Leistungen beschränkt sind.“ (Tooby & Cosmides, 1998, S. 4). Sie
sprechen sich für eine evolutionäre Theorie kognitiver Mechanismen aus, die ecological
rationality (ökologische Rationalität) genannt wird. Im Lauf der Evolution wies die
menschliche Umwelt bestimmte statistische Regelmäßigkeiten auf: Dem Regen folgte oft
Donner, wütende Schreie führten manchmal zu Gewalt, aus verlängertem Augenkontakt
ergab sich manchmal Sex, kam man einer Schlange zu nahe, wurde man gebissen und so
weiter. Diese statistischen Regelmäßigkeiten nennt man ökologische Struktur. Ökologische
Rationalität besteht aus im Laufe der Zeit entstandenen Mechanismen, die ökologische
Entwurfsmerkmale enthalten, welche diese ökologische Struktur nutzen, um adaptive Pro-
bleme leichter lösen zu können.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 489
Anders gesagt: die Gestalt und Form kognitiver Mechanismen ist auf wiederkehrende sta-
tistische Regelmäßigkeiten in der Umwelt unserer Vorfahren abgestimmt. Wir haben z.B.
Angst vor Schlangen und nicht vor Steckdosen entwickelt, weil es eine wiederkehrende
statistische Regelmäßigkeit zwischen Schlangen und Nerven schädigenden oder tödli-
chen Konsequenzen gab. Steckdosen jedoch sind eine relativ neue Erfindung, die sich
daher noch nicht nachhaltig verankern konnte. Problemlösungsstrategien könnten also,
kurz gesagt, perfekt dazu geeignet sein, bestimmte adaptive Probleme zu lösen, die sich
im Lauf der evolutionären Geschichte wiederholten, während sie völlig ungeeignet sein
können, künstliche oder neue Probleme zu lösen. Wenn das vorliegende Problem und das
Problem, für das der Mechanismus entwickelt wurde, nicht zusammenpassen, kann dies
zu Fehlern führen.
Tooby und Cosmides (1998) gehen noch einen Schritt weiter. Inhaltsunabhängige Theo-
rien der formalen Logik, die die Menschen nach Ansicht der Wissenschaftler anwenden
sollen, eignen sich nur unzureichend zur Lösung adaptiver Probleme. Die Welt ist voller
logisch willkürlicher Beziehungen: Dung ist für Menschen potentiell gefährlich, dient
aber den Mistkäfern als Heimstatt. Die Anwendung formaler Logik kann somit nicht das
adaptive Problem der Menschen lösen, den Verzehr von Mist zu vermeiden. Das Problem
kann nur durch einen inhaltsspezifischen Mechanismus gelöst werden, der im Lauf der
Evolution aufgrund der wiederkehrenden statistischen Regelmäßigkeiten, mit denen
unsere Vorfahren konfrontiert waren, entwickelt wurde. Die Beurteilung menschlicher
Leistungen anhand der Ergebnisse, die durch formale mathematische und statistische
Theorien gewonnen werden, so Tooby und Cosmides, kann damit verglichen werden, die
Gewinner eines Turniers im Bogenschießen „nicht dadurch zu beurteilen, wer das Ziel am
häufigsten getroffen hat, sondern wer nach Ansicht der Jury beim Zielen die beste Hal-
tung einnahm.“ (1998, S. 14).
Die Lösung adaptiver Probleme, bei der unsere Vorfahren recht erfolgreich gewesen sein
müssen, da sie sonst nicht unsere Vorfahren geworden wären, hängt immer von drei
Bestandteilen ab: (1) dem Ziel, das erreicht werden soll (das Problem, das gelöst werden
muss), (2) den Materialien, die dafür vorhanden sind und (3) dem Kontext, in den das Prob-
lem eingebettet ist. Es ist unmöglich, eine einzige „rationale“ Methode zu finden, die alle
Probleme lösen kann und inhaltsunabhängig ist. Das Kriterium, durch das die „Richtigkeit“
der Lösungen eingeschätzt wird, ist evolutionär bedingt: Die Entscheidungen, die durch
den kognitiven Mechanismus getroffen wurden, führten normalerweise zu besserem Über-
leben und erhöhten die Reproduktion in der Umwelt unserer Vorfahren – verglichen mit
alternativen Entwürfen, die zu der Zeit vorhanden waren. Was aus dem Blickwinkel der
Selektion zählt, ist nicht Wahrheit, Validität oder logische Konsistenz, sondern reprodukti-
ver Erfolg: „Die Umwelt unserer Vorfahren und deren Leben bildeten das Versuchsfeld, in
dem die alternativen Entwürfe kognitiver Instrumente gegeneinander ausgetestet wurden.“
(Tooby & Cosmides, 1998, S. 29).
Bevor wir zu dem Schluss kommen, dass die menschlichen kognitiven Mechanismen mit
Neigungen und Beurteilungsfehlern durchsetzt sind, ist es notwendig zu fragen, welche
adaptiven Probleme die durch die Evolution hervorgebrachten kognitiven Mechanismen
lösen sollten und was aus einer evolutionären Perspektive eine „angemessene Beurtei-
lung“ oder „erfolgreiche Schlussfolgerung“ ausmacht. Wenn Menschen Schwierigkeiten
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490 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
haben, nachts die Farbe ihrer Autos auf Parkplätzen, die mit Natriumdampflampen
beleuchtet sind, zu erkennen, so kommen wir nicht zu dem Schluss, dass unser visuelles
System fehlerhaft ist. Unsere Augen haben sich entwickelt, um die Farbe von Gegenstän-
den unter natürlichem und nicht unter künstlichem Licht wahrzunehmen (Shepard, 1992).
Viele der Forschungsprogramme, die „Neigungen“ diverser Urteile dokumentiert haben, setz-
ten künstliche, evolutionär einmalige experimentelle Stimuli ein, die analog zu den erwähnten
Natriumdampflampen sind. In vielen Studien werden die Teilnehmer beispielsweise aufgefor-
dert, Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen zu treffen, die auf einem einzigen Ereignis basieren
(Gigerenzer, 1991, 1998). „Verlässliche numerische Daten über die Wahrscheinlichkeit eines
Ereignisses waren im Pleistozän selten oder unbekannt, eine Schlussfolgerung, die durch die
relativ geringe Häufigkeit von Zahlenangaben in modernen Jäger-Sammler-Gesellschaften
bestätigt wird“ (Tooby & Cosmides, 1998, S. 40). Eine Frau kann nicht zu 35 Prozent
schwanger sein. Entweder ist sie schwanger oder sie ist es nicht. Wahrscheinlichkeiten
machen daher kaum Sinn, wenn sie auf einen einzigen Fall angewandt werden.
Der menschliche Geist ist jedoch hervorragend geeignet, die Häufigkeit von Ereignissen
zu speichern: Ich ging achtmal in das Tal; wie oft fand ich Beeren? Wie oft wurde ich
zurückgewiesen, als ich die letzten drei Male meinen Arm um einen potentiellen Partner
gelegt habe? Wenn einige Mechanismen des menschlichen Geistes dazu entwickelt wur-
den, die Häufigkeit von Ereignissen zu speichern und nicht die Einzelfallwahrscheinlich-
keit, dann präsentieren Experimente, die Studienteilnehmer dazu auffordern, Wahrschein-
lichkeiten von Einzelfällen zu errechnen, künstliche und evolutionär neue Stimuli analog
zur Untersuchung des Sehvermögens unter Natriumdampflampen. Lassen Sie uns nun
zwei Forschungsprogramme untersuchen, die auf evolutionärer kognitiver Psychologie
basieren.
Häufigkeitsdarstellungen und Urteile unter Unsicherheit. Gibt es Belege dafür, dass
kognitive Mechanismen entworfen wurden, um die Häufigkeit von Ereignissen zu spei-
chern? Cosmides und Tooby (1996) bringen die Häufigkeits-Hypothese (frequentist hypo-
theses) vor: Einige Mechanismen des logischen Denkens beim Menschen entstanden, um
Informationen über die Häufigkeit als Input aufzunehmen und als Output Informationen
über die Häufigkeit zu erzeugen. Einige Vorteile der Häufigkeitsdarstellung sind (1) dass
sie einer Person erlauben, die Anzahl der Ereignisse zu speichern, auf denen die Beurtei-
lung basierte (z.B. wie oft ging ich in den letzten zwei Monaten in das Tal, um nach Beeren
zu suchen?), (2) eine Person ist in der Lage, ihre „Datenbank“ zu vergrößern, wenn neue
Ereignisse und Informationen dazukommen (z.B. die Hinzufügung von Informationen
über den dritten Monat, in dem in dem Tal nach Beeren gesucht wird) und (3) sie erlauben
es einer Person, neue Referenzklassen zu bilden, nachdem die Ereignisse erlebt und
gemerkt wurden, und ermöglichen damit, die „Datenbank“ je nach Bedarf zu reorganisie-
ren (z.B. sich zu erinnern, dass die Häufigkeit des Findens von Beeren im Tal davon
abhängig war, ob man im Frühling oder im Herbst dort war). Häufigkeitsdarstellungen
können wichtigen Input für Problemlösungs- und Entscheidungsmechanismen liefern.
Betrachten wir folgendes Beispiel – das so genannte medizinische Diagnose-Problem:
„Wenn ein Test, durch den eine Krankheit erkannt werden kann, deren Prävalenz 1/1000 ist,
eine Falsch-positiv-Rate von 5% aufweist [d.h. bei 5% derjenigen, die die Krankheit nicht
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 491
haben, zeigt der Test deren Vorliegen an], wie groß ist dann die Chance, dass eine Person mit
einem positiven Testergebnis tatsächlich an der Krankheit leidet, wenn angenommen wird,
dass nichts über die Symptome der Person bekannt ist? ______ %“ (Cosmides & Tooby,
1996, S. 21). Bei einer Stichprobe von Experten der Harvard Medical School beantworten
nur 18 Prozent die Frage mit 2%, was nach den meisten Interpretationen dieses Problems die
„richtige“ Antwort ist. Ein Großteil, nämlich 45 Prozent der Experten, antworteten mit 95%,
was nahe legt, dass sie die Informationen über die Basisraten der Krankheit ignoriert haben.
Aber wie sieht die Sache aus, wenn man das Problem auf Basis der Häufigkeitsinforma-
tion präsentiert? Das ist genau das, was Cosmides und Tooby (1996) taten:
Einer von 1.000 Amerikanern leidet an der Krankheit X. Ein Test zur Erkennung der
Krankheit X wurde entwickelt. Jedes Mal, wenn der Test an einer erkrankten Person
durchgeführt wird, fällt der Test positiv aus (d.h. die „Richtig-positiv-Rate“ beträgt
100%). Aber manchmal zeigt der Test auch dann ein positives Ergebnis an, wenn er an
einer völlig gesunden Person durchgeführt wird. Genauer gesagt, von 1.000 völlig ge-
sunden Menschen erhalten 50 ein positives Testergebnis (d.h. die „Falsch-positiv-Rate“
beträgt 5%).
Stellen Sie sich nun vor, man hat eine zufällige Stichprobe mit 1.000 Amerikanern zu-
sammengestellt, die durch ein Zufallsverfahren ausgesucht wurden. Denjenigen, die
die Zufallsstichprobe zusammenstellten, lagen keine Informationen über den Gesund-
heitszustand dieser Menschen vor. Auf der Basis der oben genannten Informationen:
Wie viele der Menschen, die einen positiven Befund erhalten, leiden tatsächlich an
dieser Krankheit? ___ von ___ (S. 24).
Die richtige Antwort lautet: etwa 2%.
Im Gegensatz zu dem ursprünglichen medizinischen Diagnose-Problem, gaben hier 76
Prozent der Studienteilnehmer (Studenten in Stanford) die richtige Antwort, während
lediglich 12 Prozent auf die richtige Lösung kamen, wenn das Problem in der ursprüngli-
chen Form präsentiert wurde. Wird die Information in einem Format präsentiert, das Häu-
figkeiten enthält, erhöht sich die Leistung dramatisch. Aber stellen 76% richtiger Antwor-
ten eine Art oberes Limit bei Fragestellungen dieser Art dar?
Ein Grund für die Annahme, dass sich die Leistung noch steigern lässt, liegt in der Tatsa-
che, dass die Information in Schriftform übermittelt wurde, die von Menschen erst seit
etwa fünftausend Jahren verwendet wird. Wie sieht es aus, wenn die Studienteilnehmer
die Information in visueller Form darstellen sollen?
Um zu prüfen, ob sich die Leistung der Teilnehmer verbessern würde, wenn die Informa-
tion visuell präsentiert wird, verwendeten Cosmides und Tooby (1996) eine Fragestel-
lung, die fast identisch mit der oben genannten war, fügten aber einer zufälligen Stich-
probe mit Menschen, die auf die Krankheit getestet wurden, visuelle Abbildungen hinzu
sowie die folgende Instruktion, wie diese zu interpretieren waren:
Die unten abgebildeten 100 Quadrate repräsentieren eine zufällige Stichprobe von
100 Amerikanern. Jedes Quadrat stellt eine Person dar.
Unter Verwendung dieser Information bitten wir Sie, die weiter oben gegebenen In-
formationen darzustellen. Um anzuzeigen, dass eine Person an der Krankheit leidet,
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492 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
fordern wir Sie auf, einen Kreis um das entsprechende Quadrat zu zeichnen. Um anzu-
zeigen, dass eine Person positiv auf die Krankheit getestet wurde, sollen Sie das ent-
sprechende Quadrat ausmalen. Gegeben die oben genannten Informationen: (1)
Zeichnen Sie einen Kreis um die Anzahl der Menschen, die an der Krankheit leiden.
(2) Füllen Sie die Quadrate aus, die Menschen darstellen, die positiv auf die Krank-
heit getestet wurden. (3) Wie viele der Menschen, die positiv auf die Krankheit getes-
tet wurden, sind tatsächlich an der Krankheit erkrankt? _____ von _____ (S. 34).
Die Ergebnisse dieser Studie sowie der vorherigen werden in Abbildung 13.2 gezeigt.
Erstaunlicherweise kamen 92 Prozent der Teilnehmer auf die richtige Antwort, als die
Information bildlich dargestellt werden sollte. Wird die Information verbal in Form von
Häufigkeiten präsentiert, kommen drei Viertel der Teilnehmer auf die richtige Antwort;
wird die Häufigkeitsdarstellung jedoch außerdem visuell veranschaulicht, kommen fast
alle Teilnehmer auf die richtige Antwort.
Diese Ergebnisse lassen sich wie folgt interpretieren; Menschen ignorieren bei Urteilen die
Basisraten nicht, solange diese auf eine Art dargestellt werden, die der Art von Input ent-
spricht, den unsere Vorfahren verarbeiten konnten. Cosmides und Tooby (1996) argumentie-
ren nicht, dass alle kognitiven Mechanismen dazu entwickelt wurden, Informationen über die
Häufigkeit von Ereignissen zu verarbeiten. Vielmehr behaupten sie, dass einige Arten der Ent-
scheidungsfindung, die unter Bedingungen der Unsicherheit stattfinden, der Verarbeitung von
Häufigkeitsinformationen bedürfen. Die Bereiche, die Informationen über die Häufigkeit von
Ereignissen benötigen, sind diejenigen, in denen sich die Informationen im Laufe des Lebens
einer Person oder über mehrere Generationen hinweg schnell verändern – Bereiche wie die
Auffindung von Großwild, die Verteilung essbarer Pflanzen und die Ortung von Raubtieren.
Ortsgebundene Stichproben aus Ereignissen im Lauf des Lebens einer Person sind notwendig,
da ortsgebundene Häufigkeiten die beste Grundlage für Vorhersagen bieten.
100
90
Nicht-Frequentistisch
92
Prozent richtiger Antworten
80 Frequentistisch
70 76
60
50
40
30
20 Frequentistisch
10 12 Nicht-Frequentistisch
0
Original Verbal Aktiv
Bildlich
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 493
Insgesamt stellen diese Ergebnisse eine Herausforderung für die vorherrschenden kogni-
tiven Ansichten dar, dass die Problemlösefähigkeit des Menschen mit Fehlern und Nei-
gungen durchsetzt ist (Cummins & Allen, 1998). Evolutionspsychologische Analysen
sind bei der Identifizierung adaptiver Probleme hilfreich, zu deren Lösung der menschli-
che Geist entwickelt wurde. Dies beinhaltet ein Verständnis der Informationsformate, die
Menschen verarbeiten können. Die Durchführung von Experimenten, die Informations-
formate verwenden, die Menschen auch fähig sind zu verarbeiten, liefern ein unterschied-
liches Bild über die kognitiven Fähigkeiten der Menschen bei Urteilen unter Unsicherhei-
ten (siehe auch Wang, 1996).
Das Bild kognitiver Mechanismen, das durch diese Denkweise dargestellt wird, stellt
einen Unterschied zu dem vorherrschenden Bild genereller Mechanismen und grober
Heuristiken dar. Statt einer einzigen allgemeinen Intelligenz verfügen Menschen über
mehrere Intelligenzformen. Statt einer allgemeinen Fähigkeit des logischen Denkens, ver-
fügen Menschen über viele spezialisierte Fähigkeiten, abhängig von der Natur des adapti-
ven Problems, das durch die Selektion gelöst werden sollte. Statt einer allgemeinen
Fähigkeit zu lernen, zu imitieren, Mittel-Zweck-Beziehungen zu kalkulieren, Ähnlichkei-
ten zu berechnen, Konzepte zu bilden, sich an Dinge zu erinnern und Repräsentativität zu
berechnen, schlägt die evolutionäre Psychologie vor, dass der menschliche Geist mit
komplexen und problemspezifischen kognitiven Mechanismen ausgefüllt ist, von denen
jeder zur Lösung unterschiedlicher adaptiver Probleme entstand. Da viele der wichtigsten
adaptiven Probleme, denen unsere Vorfahren gegenüberstanden, sozialer Natur waren,
kann das Studium der menschlichen Kognition nicht vom Studium sozialer Interaktionen
getrennt werden: „Die zugrunde liegenden Mechanismen, die auf der kognitiven Ebene
beschreibbar sind, organisieren alle Gedanken und das Verhalten – nicht nur Wissenser-
werb – und deshalb muss die kognitive Psychologie ihren Kompetenzbereich erweitern,
um sie einzuschließen.“ (Cosmides & Tooby, 1994b, S. 105).
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494 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Ist Sprache eine Adaptation oder ein Nebenprodukt? In dieser Debatte stehen sich
zwei Seiten gegenüber. Die eine Seite wird von dem berühmten Linguisten Noam
Chomsky und dem verstorbenen Paläontologen Stephen Jay Gould vertreten. Sie argu-
mentierten, dass Sprache keine Adaptation, sondern ein Nebenprodukt oder ein Nebenef-
fekt des gewaltigen Wachstums des menschlichen Gehirns darstellt (Chomsky, 1991;
Gould, 1987). Chomsky und Gould erkennen an, dass das Wachstum des Gehirns selbst
aus der natürlichen Selektion resultiert. Ihr Argument lautet, dass Sprache spontan als
einer der vielen Nebeneffekte entstand, nachdem das Gehirn seine gegenwärtige Größe
und Komplexität erreicht hatte. Wenn man Milliarden von Neutronen in den kleinen
Raum packt, der durch den Schädel begrenzt wird, materialisiert sich die Sprache ganz
von alleine. Dies ist mit der Hitze vergleichbar, die durch eine Leselampe erzeugt wird.
Man kann keine Lampe erfinden, die Licht gibt, ohne als Nebenprodukt Hitze zu erzeu-
gen (siehe Kapitel 2). Sprache ist für das große menschliche Gehirn wie Hitze für die
Leselampe – ein Produkt, das sich ergibt, aber für seine Funktion oder seinen Zweck
nicht zentral ist. Wenn diese Erklärung auf Basis der Lampe klar, im Fall der Sprache
aber etwas mysteriös erscheint, dann deswegen, weil die Gesetze der Physik bekannt
sind, nach denen Hitze als Nebenprodukt entsteht, aber das Gesetz der Physik, nach dem
Sprache aus eng zusammengepackten Neutronen entstehen soll, noch nicht formuliert
wurde. Einige finden das Argument von Chomsky und Gould recht mysteriös. Trotz des
Standpunktes, dass Sprache keine Adaptation ist, die durch die natürliche Selektion ent-
stand, behauptet Chomsky, dass die der Sprache zugrunde liegende Grammatik angebo-
ren und nicht erworben und universell in allen Menschen vorhanden ist.
Das andere Ende dieses konzeptionellen Spektrums wird von dem evolutionären Psycho-
logen Steven Pinker angeführt. Er definiert Sprache als eine Adaptation par excellence –
entstanden durch die natürliche Selektion für die Kommunikation von Informationen
(Pinker & Bloom, 1990; Pinker, 1994). Pinker argumentiert, dass die Tiefenstruktur der
Grammatik für die Funktion der Kommunikation zu gut entworfen ist, um nur ein zufälli-
ges Nebenprodukt großer Gehirne zu sein. Sie enthält Elemente, die universell in allen
Sprachen vorkommen: die wichtigsten lexikalischen Kategorien wie Substantive, Verben,
Adjektive und Präpositionen und Regeln, die die Struktur von Sätzen bestimmen. Die
Regeln der linearen Ordnung geben an, welche Wörter an welcher Stelle stehen müssen,
um die richtige Aussage auszudrücken (z.B. „Hund beißt Mann“ unterscheidet sich von
„Mann beißt Hund“). Alle Sprachen beinhalten Verb-Affixe, die die temporale Einord-
nung des Ereignisses signalisieren (in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft) und
viele andere wichtige und universelle Komponenten.
Pinker deutet darauf hin, dass Kinder schon früh im Leben, normalerweise im Alter von
drei Jahren, ohne formellen Unterricht oder Instruktionen komplexe grammatikalische
Sätze sprechen können. Sie befolgen dabei subtile Grammatikregeln, die in ihrer Umwelt
nicht offensichtlich sind. Zudem ist Sprache mit bestimmten Gehirnregionen, dem Werni-
cke- und Broca-Zentrum verbunden und Schäden in diesen Regionen führen zu einer
Beeinträchtigung der Sprache. Der vokale Bereich der Menschen, im Gegensatz zu dem
anderer Primaten, scheint speziell dafür entwickelt zu sein, eine Vielzahl von Geräuschen
zu erzeugen, die für Sprache erforderlich sind wie beispielsweise der Kehlkopf, der tief
im Rachen lokalisiert ist. Schließlich zeigt die auditive Wahrnehmung – unsere Mecha-
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 495
nismen zum Hören von Geräuschen – präzise zusätzliche Spezialisierungen, die es uns
ermöglichen, Sprachgeräusche anderer Menschen zu entschlüsseln. Zählt man all diese
Punkte zusammen, so sagen sie nach Pinker aus, dass Sprache eine Adaptation darstellt,
ähnlich wie die Echo-Ortung der Fledermäuse, die Fühler der Insekten oder die stereo-
skopische Sicht der Affen. Sprache zeigt universelle Komplexitäten des Entwurfs für die
Kommunikation von Informationen und die einzig bekannte Erklärung für die Ursprünge
komplexer organischer Strukturen ist die Evolution durch die natürliche Selektion (Pinker
& Bloom, 1990). Pinker behauptet, dass Sprache einen „Instinkt“ in dem Sinne darstellt,
dass „Menschen ihre Sprache nutzen können ebenso wie Spinnen Netze zu spinnen wis-
sen. ... Sprache ist eine biologische Adaptation, um Informationen zu kommunizieren.“
(Pinker, 1994, S. 18-19).
Wann genau Sprache entstand, werden wir wahrscheinlich niemals genau wissen. Einige
datieren die Ursprünge auf etwa vierzig- oder fünfzigtausend Jahre zurück, was etwa mit
der Entwicklung von Kunst, Werkzeugen, Technologie und Artefakten, wie in Kapitel 1
diskutiert, korrespondiert. Andere datieren den Ursprung der Sprache auf etwa eine halbe
Million Jahre zurück. Andere wiederum schlagen vor, dass Sprache mit dem Homo erec-
tus vor etwa zwei Millionen Jahren entstand. Unabhängig davon, wann sie entstand, was
vielleicht niemals geklärt werden wird, lautet eine dringendere und möglicherweise
beantwortbare Frage, warum sich Sprache entwickelte.
Zur Lösung welcher adaptiver Probleme entwickelte sich die Sprache? Die vorherr-
schende Theorie über die Funktion der Sprache lautet, dass sie sich entwickelte, um die
Kommunikation, den Austausch von Informationen zwischen Individuen, zu vereinfachen
(Pinker, 1994). Informationsaustausch konnte bei unzähligen Aufgaben hilfreich sein:
Freunde und Familie vor Gefahr zu warnen, Verbündete darüber zu informieren, wo sie
reife Beeren finden können, die Koordination einer Koalition für die Jagd oder den Krieg,
Anweisungen für den Bau von Unterkünften, Werkzeugen oder Waffen zu erteilen und vie-
les mehr. Innerhalb des letzten Jahrzehnts wurden drei konkurrierende Theorien über die
Funktion der Sprache vorgeschlagen, die alle soziale Funktionen beinhalten.
Die erste ist die social gossip hypothesis (soziale Tratsch-Hypothese) (Dunbar, 1996).
Nach dieser Hypothese entwickelte sich Sprache, um Bindungen in großen Gemeinschaf-
ten zu vereinfachen. Der Evolutionswissenschaftler Robin Dunbar argumentiert, dass sich
Sprache entwickelte, um im exponentiell komplexen Netzwerk sozialer Beziehungen auf
dem Laufenden zu bleiben: wer hat Sex mit wem, wer hat wen betrogen, wem kann man
ein Geheimnis anvertrauen, wer ist ein guter Freund oder Koalitionspartner, welche
Allianzen drohen zu zerbrechen und wer hat welchen Ruf. Dunbar argumentiert, dass
Sprache eine Form des „sozialen Entlausens“ darstellt. Mit der zunehmenden Größe einer
Gruppe war es unmöglich, die erforderliche Zeit aufzubringen, um seine Verbündeten zu
entlausen, wie dies unter Schimpansen üblich ist. Sprache entwickelte sich, um den sozia-
len Zusammenhalt großer Gruppen durch Tratsch in seiner allgemeinsten Form zu för-
dern, durch einen Informationsaustausch darüber, wer was tut.
Eine weitere Idee über den Ursprung und die Funktion von Sprache ist die social contract
hypothesis (Hypothese des sozialen Vertrags) (Deacon, 1997). Nach dieser Hypothese
nahmen die Partnerprobleme mit dem Aufkommen der Großwildjagd immer mehr zu.
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496 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Männer mussten ihre Partnerinnen alleine lassen während sie auf der Jagd waren und
riskierten damit Untreue und boten Angriffsfläche zur Ausnutzung. Nach dieser Idee ent-
wickelte sich Sprache, um Eheverträge zu vereinfachen. Männer und Frauen konnten
öffentlich ihre Partnerbindung bekannt machen und so einander und jedem in der Gruppe
signalisieren, dass der Partner für andere tabu ist. Diese Hypothese weist viele Unge-
reimtheiten auf: Sie kann weder erklären, wie sich große geschlossene Gemeinschaften
gebildet haben, noch, warum andere Arten Partnerprobleme lösen können ohne auf Spra-
che zurückzugreifen, und sie kann auch nicht erklären, warum Eheverträge so oft schei-
tern (Barrett, Dunbar & Lycett, 2002).
Eine dritte Hypothese wurde nach der Hauptperson der „Geschichten aus Tausendundei-
ner Nacht“ die Scheherazade-Hypothese genannt (Miller, 2000). Um zu verhindern, dass
sie getötet wird, ergötzte Scheherazade den König mit unterhaltsamen Geschichten, so
dass er jeden Morgen entschied, sie doch nicht töten zu lassen. Das Argument lautet, dass
das große menschliche Gehirn im Wesentlichen wie das Rad des Pfaus ist, ein sexuell
selektiertes Organ, das sich entwickelte, um potentiellen Partnern herausragende Fitness
zu signalisieren. Indem man potentielle Partner mit Humor, Geist, exotischen Geschich-
ten und Wortmagie blendete, hatten diejenigen mit überlegenen Sprachfähigkeiten Vor-
teile gegenüber ihren nuschelnden, nach Worten suchenden Konkurrenten.
Obwohl diese Hypothesen manchmal diskutiert werden, als ob sie in Konkurrenz zuein-
ander stünden oder sich widersprechen würden, ist es auch möglich, dass sich die Sprache
im Lauf der Zeit entwickelte, um mehrere adaptive Probleme zu lösen, was immer auch
den auslösenden Impuls darstellte. Sprache wird zum Austausch von Informationen über
die physische wie auch die soziale Welt angewandt (Cartwright, 2000) und so sollte die
vorherrschende Theorie der Informationskommunikation nicht verworfen werden. Nach-
dem sich Sprache entwickelt hatte, gab es keinen Grund anzunehmen, dass die Selektion
die Verwendung der Sprache auf ihre ursprüngliche Funktion begrenzt hätte. Die Sprache
entwickelte sich weiter und wurde für soziale Bindungen, die Überwachung von Betrü-
gern, das Umwerben von Partnern, die Bildung von Eheverträgen und die Vereinbarung
von Friedensverträgen mit benachbarten Gruppen angewandt. Man kann mit Sprache
andere beeinflussen und manipulieren, was „machiavellistische Intelligenz“ genannt
wurde (Byrne & Whiten, 1988). Zudem wurde empirisch dokumentiert, dass Personen
die Sprache regelmäßig zur Manipulation ihres Ansehens bei Partnern benutzen und die
Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen versuchen, indem sie diese abwerten (Buss & Ded-
den, 1990; Schmitt & Buss, 1996).
Zusammenfassend kann man sagen, dass – obwohl anfängliche Formulierungen die Kom-
munikation oder den Informationsaustausch als die evolutionsbedingte Funktion der Spra-
che betont haben – es wahrscheinlich ist, dass sich die Sprache anschließend weiterentwi-
ckelte und eingesetzt wurde, um eine Vielzahl sozialer adaptiver Probleme zu lösen. Dies
beschreibt ein Schlüsselthema dieses Kapitels: Obwohl Sprache, geschichtlich gesehen, als
Unterdisziplin der kognitiven Psychologie angesehen wird, kann sie nicht von der Sozial-
psychologie, der wir uns nun widmen, getrennt werden.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 497
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498 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
einfügen. Die evolutionäre Psychologie bildet den fehlenden Rahmen, um die empiri-
schen Entdeckungen der Sozialpsychologie theoretisch zu verankern. Zwei bedeutende
Wege zur Entwicklung der Sozialpsychologie sind: (1) Kapital schlagen aus evolutionä-
ren Theorien der sozialen Interaktionen und (2) die Anwendung evolutionärer Psycholo-
gie als Heuristik oder Leitfaden zur Entdeckung wichtiger sozialer Probleme.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 499
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500 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Die meisten Menschen haben das Gefühl, dass Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung,
Inzest und Kindesmisshandlung moralisch falsch sind. Aber was sind die Ursachen für
diese moralischen Ansichten? Historische Ansätze zur Moral wurden von „rationalen“ The-
orien dominiert, in denen Menschen durch moralisches Denken zu einer solchen Einschät-
zung kommen (Haidt, 2001). Es wird vermutet, dass wir mittels Logik und Rationalität rich-
tig und falsch, Verletzung und Missetat, Gerechtigkeit und Fairness in die Waagschale
werfen und so zur moralisch richtigen Antwort gelangen. Kürzlich forderte der Psychologe
Jon Haidt diese Ansicht heraus und argumentierte stattdessen, dass Menschen moralische
Emotionen entwickelt haben, die schnelle, automatische Einschätzungen erzeugen. Erst
wenn wir gezwungen sind, unsere moralische Einstellung zu erklären oder zu rationalisie-
ren, greifen wir nach dem Strohhalm des logischen Denkens, von dem wir hoffen, dass
unsere Einschätzung unterstützt wird. Betrachten wir folgendes moralische Dilemma:
Julie und Mark sind Geschwister. In den Sommerferien reisen sie zusammen durch
Frankreich. Eines Abends übernachten sie in einer Hütte am Strand. Sie beschließen,
dass es interessant sein und Spaß machen könnte, miteinander zu schlafen. Zumindest
wäre es für sie beide eine neue Erfahrung. Julie nahm sowieso die Pille und Mark be-
nutzte zusätzlich ein Kondom, um ganz sicher zu sein. Sie genossen es, miteinander zu
schlafen, beschlossen jedoch, es nicht zu wiederholen. Sie bewahrten sich diese Nacht
als ein besonderes Geheimnis, wodurch sie sich noch enger miteinander verbunden
fühlten. War es für die beiden in Ordnung, Sex zu haben? (Haidt, 2001, S. 814)
Die meisten Menschen sind der Ansicht, dass es für Julie und Mark falsch war, Inzest zu
begehen. Aber wenn sie aufgefordert werden, dies moralisch zu begründen, haben sie
Schwierigkeiten. Einige beschwören die genetischen Gefahren der Inzucht herauf, erin-
nern sich dann aber, dass verhütet wurde. Einige suchen nach psychologischen Schäden,
obwohl klar ist, dass weder Julie noch Mark verletzt wurden. Wenn sie gedrängt werden,
sagen die Teilnehmer schließlich meist Sätze wie „Ich weiß nicht, ich kann es nicht erklä-
ren, ich weiß einfach, dass es falsch ist“ (Haidt, 2001, S. 814).
Haidt fand bei verschiedenen anderen Szenarien, die Menschen als unangenehm wahr-
nahmen, die aber kein klares Opfer aufweisen, ähnliche Reaktionen. Hier ein weiteres
Beispiel: „Der Hund einer Familie wurde von einem Auto vor dem Haus der Familie
überfahren. Die Familie hatte gehört, dass Hundefleisch eine Delikatesse sei und so
schnitten sie den Körper des Hundes auf, kochten ihn und aßen ihn zum Abendessen.“
Wieder fanden die meisten Menschen diese Handlung moralisch abstoßend, obwohl sie
Schwierigkeiten hatten, die zugrunde liegende Argumentationskette zu artikulieren. Eine
plausible Erklärung dieses Phänomens ist, dass Menschen moralische Emotionen entwi-
ckelt haben. Nach dieser Ansicht entwickelte sich der Widerwille gegen Inzucht, um sie
zu verhindern, und wird als Reaktion auf den Sex zwischen Julie und Mark herauf-
beschworen (Lieberman, Tooby & Cosmides, 2003). Der Ekel, den Menschen empfinden,
wenn sie daran denken, dass Menschen ihren Haushund essen, könnte eine evolutionsbe-
dingte Emotion darstellen, die den Verzehr biologisch kontaminierter Dinge verhindert
und als „Wächter des Mundes“ entwickelt wurde (Haidt, 2003). Verdorbenes Fleisch und
Fäkalien lösen vergleichbare Ekelreaktionen aus.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 501
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502 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Kooperation und Reziprozität, zu dem die Bestrafung von Betrügern gehört, um den
Zusammenbruch von vorteilhafter Gegenseitigkeit zu vermeiden und (3) die Evolution von
Fürsorge – der adaptive Wert von Aufopferung, Sympathie, Großzügigkeit gegenüber Ver-
bündeten, Freunden und Verwandten (Krebs, 1998). Forscher moralischer Emotionen soll-
ten jedoch den möglicherweise existierenden grundlegenden Geschlechtsunterschieden bei
moralischen Emotionen Beachtung schenken. Die evolutionäre Psychologin Shelly Taylor
hat beispielsweise dokumentiert, dass Frauen auf Stress häufig mit tending (Fürsorge) und
befriending (sich annehmen) reagieren – dem Schutz und der Pflege von Nachkommen und
der Aufrechterhaltung eines integrierten Netzwerks enger zwischenmenschlicher Beziehun-
gen (Taylor, Klein, Lewis, Gruenewald, Gurung & Updegraff, 2000). Für Männer dagegen
ist es wahrscheinlicher, als Reaktion auf Stress zu kämpfen oder zu fliehen.
Moralische Emotionen scheinen eher intuitiv zu erfolgen und eher automatische Motiva-
toren als gut durchdachte Entscheidungen zu sein. Wie der Philosoph David Hume
notierte „Vernunft ist ... der Sklave der Leidenschaften“ (Hume, 1969/1739, S. 462).
Obwohl Moral traditionell zur kognitiven Psychologie gehört, kann sie nicht von den
sozialen adaptiven Problemen getrennt werden, für die sie entwickelt wurde. Wie Jon
Haidt abschließt: „Moral erweist sich als würdevoll und erhebt sich, da sie uns alle mit
etwas verbindet, das größer ist als wir selbst.“ (Haidt, 2003, S. 25)
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 503
verdrängt haben, die aus egoistischeren Individuen bestanden. Diese Wiederbelebung der
Gruppenselektion wird manchmal auch mehrschichtige Selektionstheorie genannt, um anzu-
erkennen, dass die Selektion auf vielen Ebenen operieren kann, zu denen Individuen, Grup-
pen innerhalb von Arten und selbst größere Einheiten wie aus vielen Arten zusammenge-
setzte Ökosysteme gehören.
Ist die mehrschichtige Selektionstheorie auch nur ansatzweise gültig, so würde dies grundle-
gende Auswirkungen auf die evolutionäre Sozialpsychologie haben, indem auf Adaptationen
der Gruppenebene hingewiesen wird, die Forschern, die sich auf Adaptationen auf der Ebene
des individuellen Organismus konzentriert haben, eventuell entgangen sind (z.B. altruistische
Selbstaufopferung für die Gruppe, wenn es sich um Nicht-Verwandte handelt). Viele Biolo-
gen und evolutionäre Psychologen stehen dieser neuen Gruppenselektion skeptisch gegenü-
ber (z.B. Cronk, 1994; Dawkins, 1994; Dennett, 1994). Sie argumentieren, dass die Bedin-
gungen, die erforderlich sind, damit die Gruppenselektion Durchschlagskraft besitzt,
insbesondere bei Menschen selten gegeben sind. Angesichts der Tatsache, dass Menschen
innerhalb von Gruppen stark miteinander konkurrieren und dass Gruppen oft starke Verände-
rungen aufweisen, Mitglieder sich von Gruppen absetzen und neue Gruppen mit neuen Kom-
binationen bilden, erreichen Individuen nur selten die hohen Ebenen des „geteilten Schick-
sals“ innerhalb einer Gruppe, die die Gruppenselektion ermöglichen würde.
Die Frage, ob Wilson und Sober oder ihre Kritiker Recht haben bezüglich der Macht und
Bedeutung der Gruppenselektion, ist letzten Endes eine empirische Frage. Zumindest
können die Fragen um die Gruppenselektion zu neuen Entdeckungen in der menschlichen
Sozialpsychologie führen, selbst wenn sich langfristig gesehen, wie George Williams vor-
hersah, die Gruppenselektion als die „schwächere Kraft“ herausstellen sollte.
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504 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 505
lösen, funktionieren durch Prinzipien, die sich von Mechanismen unterscheiden, die mit
physikalischen Einheiten zu tun haben. Es liegen Belege vor, dass diese Mechanismen
kulturübergreifend etwa im gleichen Alter auftreten. Selektive Beeinträchtigungen
bestimmter Gehirnregionen liefern neurologische Hinweise, die ebenfalls darauf hindeu-
ten, dass es sich hier um einen spezifischen Mechanismus handelt.
Die Entwicklungsgeschichte der Mechanismen der Theorie des Geistes könnte sich
jedoch als weitaus komplexer herausstellen. Es wurde spekuliert, dass die Mechanismen
der Theorie des Geistes umfangreicher sind als bisher vorgeschlagen oder erforscht
wurde (Buss, 1996b). Diese Spekulation basiert auf der Annahme, dass Theorien des
Geistes verschiedene Arten sozialer adaptiver Probleme lösen müssen. Frauen beispiels-
weise entwickelten eine „Theorie über den Geist von Männern“, der sich von ihrer „The-
orie des Geistes von Frauen“ unterscheidet, da die adaptiven Probleme der Frauen davon
abhängen, ob sie mit einem Mann oder einer Frau interagieren (z.B. Schlussfolgerungen
über die sexuellen Wünsche des anderen) (Haselton & Buss, 2000).
In der Pubertät gewinnen Frauen Ideen über die spezifischen Wünsche und Überzeugungen
von Männern, z.B., dass einige Männer im Bereich der Sexualität und Partnerschaft „nur
das eine wollen“. Ein Teil der postpubertären Theorien der Frauen über den Geist der Män-
ner, die auf dieser Hypothese basieren, beinhaltet auch den Wunsch der Männer nach Gele-
genheitssex ohne Verpflichtung. Die Theorie des Geistes von Männern in diesem spekulati-
ven Beispiel ist nicht Teil der Theorien der Frauen über den Geist von Männern, solange die
Frauen noch nicht in der Pubertät sind, ist nicht Teil der Theorie von Frauen über den Geist
anderer Frauen und ist nicht Teil der Theorien der Männer über den Geist von Frauen. Eine
Vorhersage, die auf dieser Hypothese basiert, lautet, dass diese inhaltsspezifischen Merk-
male der Theorien des Geistes von Frauen – nämlich spezifisches entwicklungsbedingtes
Auftauchen und eine spezifische Gruppe von Menschen, für die sie zutrifft – sich so entwi-
ckelt hat, da sie unseren weiblichen Vorfahren bei der Lösung eines spezifischen sozialen
adaptiven Problems geholfen hat: der Wachsamkeit vor einem vorzeitigen sexuellen Ver-
hältnis, welches in der Umwelt unserer Vorfahren zu einer ungewollten oder unpassenden
Schwangerschaft ohne einen Mann, der zu den elterlichen Investitionen beiträgt, führen
konnte.
Die soziale Welt enthält eine unendliche Anzahl von Ereignissen und Eigenschaften,
denen man Aufmerksamkeit schenken könnte. Frauen könnten Theorien über den Geist
von Männern in Bezug auf deren Vorliebe für Zucker, Fett, Salz und Protein oder ihre
Präferenzen für Eichen gegenüber Ahornbäumen aufstellen. Eine evolutionspsychologi-
sche Analyse besagt jedoch, dass die Theorien der Frauen über den Geist von Männern
die Tendenz aufweisen, eine bestimmte Klassifikation von Wünschen und Überzeugun-
gen zu enthalten: die, die zur Lösung sozialer adaptiver Probleme relevant sind, wenn
man mit Männern zu tun hat. Kurz gesagt, entscheiden die psychologischen Mechanis-
men von Frauen über die Merkmale ihrer sozialen Umwelt, denen sie Aufmerksamkeit
schenken und über die sie Schlussfolgerungen ziehen und Theorien aufstellen.
Das theoretische Grundprinzip für die Entwicklung von Theorien des Geistes liegt darin
begründet, das Verhalten anderer vorhersagbar zu machen. Genaue Schlussfolgerungen
über die Wünsche und Überzeugungen anderer ermöglichen einer Person deren Verhalten
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506 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
erfolgreicher vorherzusagen, als dies der Fall wäre, wenn sie solche Schlussfolgerungen
nicht ziehen könnte. Da Männer und Frauen, zumindest im Bereich der Sexualität und der
Partnersuche verschiedene Wünsche und Überzeugungen haben, wäre es überraschend,
wenn unsere Theorien des Geistes auf diese Unterschiede keine Rücksicht nehmen wür-
den. Da Männer und Frauen in Bezug auf das andere Geschlecht unterschiedlichen adapti-
ven Problemen gegenüberstehen, wäre es zudem erstaunlich, wenn sich deren Theorien
über den Geist des anderen Geschlechts gleichen würden. Da postpubertäre Frauen im
Vergleich zu vorpubertären Mädchen unterschiedlichen adaptiven Problemen gegenüber-
stehen, wenn sie mit Männern zu tun haben, wäre es ebenso erstaunlich, wenn die Theo-
rien des Geistes diesen wichtigen Veränderungen in der Entwicklung nicht Rechnung tra-
gen würden.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 507
Alle Theorien über Umwelteinflüsse – die eben genannte eingeschlossen – basieren letzt-
endlich auf evolutionsbedingten psychologischen Mechanismen, gleichgültig, ob diese
als solche anerkannt werden (Tooby & Cosmides, 1990). Im Gegensatz zu den Meinun-
gen, die noch an falschen Dichotomien wie Natur versus Versorgung (nature versus nur-
ture) oder Genetik versus Umwelt festhalten, gehen Theorien über Umwelteinflüsse not-
wendigerweise von der Evidenz evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen aus
(Tooby & Cosmides, 1990). In diesem speziellen Fall sind die impliziten psychologi-
schen Mechanismen besonders darauf ausgerichtet, Informationen über die Anwesenheit
und die Zuverlässigkeit väterlicher Ressourcen als Input heranzuziehen, diesen Input mit-
hilfe bestimmter evolutionsbedingter Entscheidungsregeln zu verarbeiten, ein oder zwei
potentielle psychologische Modelle der sozialen Welt zu entwickeln und als Output die-
ses Mechanismus eine von zwei alternativen Partnerstrategien zu verfolgen.
Zwei wichtige Schlüsse lassen sich aus dieser Entwicklungstheorie ziehen (Belsky et al.,
1991). Zum einen liegen die Variationen zwischen den Individuen nicht in einzelnen Cha-
rakterzügen oder Dimensionen, sondern stellen eine kohärente Konstellation kovariierender
Merkmale dar, darunter die reproduktive Physiologie (z.B. frühes Einsetzen der ersten
Regelblutung), psychologische Modelle der sozialen Welt (z.B. Wahrnehmung anderer als
nicht vertrauenswürdig) und freizügiges Verhalten (z.B. wechselnde sexuelle Beziehungen).
Zum zweiten sind die individuellen Unterschiede, die sich aus der frühen Prägung durch
Erfahrung ergeben, adaptiver Natur, d.h. sie sind das Ergebnis evolutionsbedingter Mecha-
nismen, die die soziale Umwelt bewerten und aus dem vorhandenen Angebot eine Strate-
gie auswählen. In einem Fall ergab sich der reproduktive Erfolg historisch gesehen aus
einer hohen Reproduktionsrate, eventuell begleitet von einem gleichzeitigen Rückgang
von Überleben und Reproduktion eines Nachkommen. In einem anderen Fall ergab sich
der reproduktive Erfolg historisch gesehen aus einer geringeren Reproduktionsrate,
geprägt durch hohe Investitionen in das Überleben und die Reproduktion weniger Nach-
kommen. Verschiedene Individuen sahen sich ganz verschiedenen Umwelten gegenüber,
in denen sie ihre Nachkommen großzogen. Unterschiedliche äußere Bedingungen im
Laufe der Evolutionsgeschichte des Menschen haben höchstwahrscheinlich dazu geführt,
dass die Selektion die Entwicklung flexibler Mechanismen förderte, die als Input die
Eigenschaften der Umwelt in Bezug auf die Aufzucht der Nachkommen als wichtigen
Hinweis auf die zu erwartende Umwelt für den Erwachsenen heranzog. Siehe Hirsch
(1996) für einen vollständigen Überblick über Sozialisation und Vaterschaft.
Bindungstheorie und Theorie der Lebensgeschichte. Die evolutionären Psychologen
James Chisholm (1996) und Jay Belsky (1997) sprechen sich beide für eine Integration
der Theorie der Lebensgeschichte (Levins, 1968) und der Bindungstheorie (Bowlby,
1969) aus, die davon ausgeht, dass diese individuellen Unterschiede adaptiv geprägt sind
und wahrscheinlich die große Variabilität der Umwelten bei der Aufzucht des Nachwuch-
ses widerspiegeln. Chisholm beginnt seine Argumentation mit der Theorie der Lebensge-
schichte, der Einsicht, dass Lebenszyklen evolutionsbedingte adaptive Strategien darstel-
len. Ein Kernprinzip dieser Theorie ist die Zuteilung von Bemühungen (Levins, 1968).
Individuen haben nur begrenzte Zeit und Ressourcen, deshalb müssen sie sich entschei-
den, wie sie diese auf die verschiedenen Fitness-Komponenten aufteilen. Die Komponen-
ten des reproduktiven Erfolgs, z.B. Überleben, Wachstum, Paarung und Elternschaft ste-
Persönliches Exemplar von Herr Hans Wurst vom 27.04.2011, Lesen & Drucken
508 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
hen oft in Konflikt miteinander. Verwendet man große Anstrengungen auf eine
Komponente, so schließt das meist Anstrengungen bezüglich einer anderen Komponente
aus – „Tradeoffs‘‘ (Kompromisse) sind notwendig. Verwendet man große Anstrengung
darauf, weitere Partner anzuwerben, so geschieht dies auf Kosten der Zeit und Energie,
die man in die Aufzucht des Nachwuchses investieren könnte. Nach dieser Theorie hat
die natürliche Selektion also Entscheidungsregeln hervorgebracht, die je nach spezifi-
schem Kontext zu einer veränderten Verteilung von Ressourcen auf die verschiedenen
Komponenten führen. Strategien sind also „Folgeerscheinungen funktional integrierter
anatomischer, physiologischer, psychologischer und entwicklungsbezogener Mechanis-
men zur Optimierung des Tradeoff zwischen den Fitness-Komponenten im Laufe des
Lebenszyklus.“ (Chisholm, 1996; siehe auch Charnov, 1993; Hill, 1993; Stearns, 1992).
Einer der wichtigsten Tradeoffs besteht zwischen gegenwärtiger und zukünftiger Repro-
duktion. Eine vermehrte unmittelbare Reproduktion geht immer auf Kosten zukünftiger
Reproduktion. Wenn Ressourcen nur begrenzt oder nicht planbar vorhanden sind, könnte
es sich nach Chisholm unter bestimmten Umständen auszahlen, die Reproduktion zu
erhöhen und die Investitionen in bestimmte Nachkommen zu verringern. Chisholm argu-
mentiert weiter, dass die Psychologie der Bindung aus einer Reihe evolutionsbedingter
Mechanismen besteht, die dazu dienen, diese Verteilungsentscheidungen zu treffen.
Gemäß Chisholms Theorie war die vorgeschichtliche Umwelt, in der sich diese Mecha-
nismen entwickelten, weder so rosig noch so sicher, wie viele Bindungstheoretiker dies
behaupten. Risiken und Unsicherheiten hatten historisch gesehen viele Ursachen: unsi-
chere Nahrungsversorgung, die Launen von Klima und Wetter, Krankheiten, Parasiten,
Feinde und – vielleicht am wichtigsten – andere bestimmende Faktoren wie etwa die
Eltern. Chisholm argumentiert, dass die sexuelle Strategie der Eltern, darunter Quantität
und Qualität ihrer Investitionen in die Nachkommen, vielleicht die adaptiv gesehen signi-
fikanteste Dimension der kindlichen Umwelt dargestellt haben könnte.
Abweichungen von der sicheren Bindung stellen so gesehen also erfahrungsbedingte
Prägungen aufgrund immer wiederkehrender Bedrohungen für Überleben und Wachstum
des Kindes dar – eine Unfähigkeit oder die fehlende Bereitschaft der Eltern, ausreichend
in ihren Nachwuchs zu investieren. Die vermeidende Bindung (das Kind zeigt sich den
Eltern gegenüber gleichgültig) stellt eine Adaptation auf die fehlende Investitionsbereit-
schaft der Eltern dar, wenn z.B. die Eltern eine kurzfristige Partnerstrategie verfolgen und
nur wenig in ihre Nachkommen investieren. Dagegen ist die ängstliche/ambivalente
Bindung (bei der sich das Kind nervös, ängstlich und unsicher zeigt) eine Adaptation auf
die Unfähigkeit der Eltern, zu investieren – wenn z.B. die Mutter selbst gereizt, ängstlich,
überarbeitet, hungrig oder erschöpft ist. Nach Belsky (1997) führte die sichere Bindung
zur Förderung einer Strategie stark investierender Elternschaft, die vermeidende Bindung
führte zu einer Förderung eines opportunistischen Stils im Umgang mit anderen, der sich
durch geringe elterliche Investitionen auszeichnete und die ängstliche/ambivalente Bin-
dung entwickelte sich zur Förderung des Stils der „Helfer im Nest“, wobei größere Kin-
der zu Hause blieben, um bei der Erziehung ihrer Geschwister zu helfen.
Da diese Theorien alle noch sehr jung sind, konnten die genauen Merkmale der zugrunde
liegenden psychologischen Mechanismen bisher noch nicht eindeutig festgelegt werden.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 509
Chisholm möchte mit seiner Theorie wohl nicht sagen, dass ein Kind tatsächlich Rück-
schlüsse auf die Absicht der Eltern (fehlende Investitionsbereitschaft) und deren Fähigkei-
ten (Investitionsvermögen) ziehen kann. Vielmehr erkennt das Kind Verhaltensweisen der
Eltern, die sich diesen unterschiedlichen Einstellungen probabilistisch zuordnen lassen und
die dann zur Aktivierung eines aus der Auswahl der drei Bindungsstile führen. Im nächsten
Jahrzehnt sollte sich die Forschung stärker auf die genauen Eigenschaften der psychologi-
schen Mechanismen konzentrieren, die diesen Bindungsarten zugrunde liegen.
Stellen Bindungsstile frühe umweltbedingte Prägungen dar oder reflektieren sie vererbbare
individuelle Unterschiede, wie durch einige Forschungsarbeiten belegt (Bailey, Kirk, Zhu
Dunne & Martin, 2000; Goldsmith & Harmon, 1994)? Bleiben individuelle Bindungsunter-
schiede über das ganze Leben hin stabil? Lassen sich die zugrunde liegenden psychologi-
schen Bindungsmechanismen mit den spezifischen Eigenschaften der adaptiven Probleme
koordinieren, die sich aufgrund jeder alternativen Strategie stellen? Diese Fragen müssen in
weiterer konzeptioneller und empirischer Arbeit geklärt werden. Dennoch zeigten neuere
Studien, dass ein frühes Einsetzen der ersten Periode tatsächlich mit einer unglücklichen
Ehe der Eltern und einer verstärkten Zurückweisung durch den Vater sowie mit einer früh
einsetzenden sexuellen Aktivität in Verbindung gebracht werden kann. Dies weist stark auf
die Gültigkeit der Theorie der frühen Bindung hin, die zur Ausbildung verschiedener sexu-
eller Strategien im Erwachsenenalter führt (Kim, Smith & Palermiti, 1997), obwohl sich
dies auch mit einer Interpretation reiner Vererbung vereinbaren ließe.
Zusammengefasst stellen die Theorien des Geistes, elterliche Sozialisation und Bindungsstile
eine kleine Auswahl der Wege dar, mittels derer die evolutionäre Entwicklungspsychologie
zeitlich bedingte Veränderungen innerhalb des menschlichen Lebens zu erklären versucht.
Andere Wege beziehen sich z.B. auf die verlängerte Unreife und den Spieltrieb in der mensch-
lichen Entwicklung (Bjorklund, 1997), die Motivation von Kindern, sich mit Gleichaltrigen in
Gruppen zusammenzutun (MacDonald, 1996), die Entwicklung hemmender Mechanismen
wie etwa verzögerter Dank oder sexueller Rückzug (Bjorklund & Kiel, 1996), die evolutionä-
ren Aspekte der Adoleszenz, z.B. Partnerkonkurrenz und pubertäre Rituale (Surbey, 1998;
Weisfeld, 1997; Weisfeld & Billings, 1988), sexuell bestimmte Sozialisationspraktiken (Low,
1989) und die Auswirkungen verschiedener Bindungsstile auf die romantischen Beziehungen
Erwachsener (Kirkpatrick, 1998). Letztendlich muss eine umfassende evolutionäre Entwick-
lungspsychologie die artentypischen, geschlechtsspezifischen und individuell differenzierten
Veränderungen innerhalb der Lebensdauer eines adaptiven Problems sowie die aktivierten
psychologischen Mechanismen erklären können.
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510 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
male der menschlichen Natur lieferten einen Großteil des „Kerns“, um den herum die
großen Persönlichkeitstheorien konstruiert wurden.
Andererseits geht es in der Persönlichkeitspsychologie auch darum, wie sich Menschen
dauerhaft unterscheiden. Ein Großteil der aktuellen Persönlichkeitsforschung befasst sich
mit Fragen wie: In welchen Hauptpunkten unterscheiden sich die Menschen voneinan-
der? Woher stammen diese individuellen Unterschiede? Was sind die psychologischen
und physiologischen Korrelate dieser Unterschiede? Welche Folgen haben bestimmte
individuelle Unterschiede in Bezug auf soziale Interaktion, Psychopathologie, Wohlerge-
hen und den Lebensverlauf?
Meist konzentrieren sich Theorien und Forschungen der evolutionären Psychologie auf
artentypische psychologische Mechanismen, wie sie bisher in diesem Buch behandelt wur-
den. Individuelle Unterschiede werden dagegen in der Regel vernachlässigt und stellen für
evolutionäre Psychologen eine größere Herausforderung dar (Buss & Greiling, 1999; Mac-
Donald, 1995; Tooby & Cosmides, 1990; Wilson, 1994). Auch Evolutionsbiologen befass-
ten sich bisher meist mit artentypischen Adaptationen und vernachlässigten individuelle
Unterschiede, außer in ihrer Funktion als Lieferanten der Rohmaterialien, auf die die
natürliche Selektion wirken kann. Individuelle Unterschiede, besonders die vererbbaren,
werden oft in die zweite Reihe zurückgedrängt, denn man geht davon aus, dass sie vor-
nehmlich durch nicht selektive Kräfte wie zufällige Mutationen, entstanden sind (Tooby &
Cosmides, 1990; Wilson, 1994). Genetische Unterschiede werden oft als „Zufalls-
rauschen“ oder „genetischer Abfall“ angesehen, zu dem es in einer Population genau des-
halb kommt, weil man annimmt, dass diese Unterschiede nicht mit dem Kern des evolutio-
nären Prozesses in Beziehung stehen: der Adaptation und der natürlichen Selektion
(Thiessen, 1972). So gesehen sind vererbbare individuelle Unterschiede für artentypische
Adaptationen das, was unterschiedliche Kabelfarben beim Motor eines Autos für seine
funktionstragenden Komponenten sind: Man kann die Kabelfarben beliebig variieren,
ohne dass dies die Funktionsweise des Motors beeinträchtigt (Tooby & Cosmides, 1990).
Nimmt man sich die wissenschaftliche Einheit als vernünftiges Gesamtziel vor (Wilson,
1998), so sind diese verschiedenen Konzeptualisierungen schwer zu vereinbaren. Die natürli-
che Selektion neigt ja dazu, genetische Variabilität innerhalb einer Population zu verringern,
indem einige Gene dauerhaft bevorzugt, andere dagegen verdrängt werden. Warum ergibt
sich aus genetischen Verhaltensstudien immer wieder eine mäßige Vererbbarkeit persönli-
cher Veranlagungen (Plomin et al., 1997)? Wenn individuelle Unterschiede tatsächlich von
Adaptationen und natürlicher Selektion unabhängig sind, warum lassen sich dann zuverläs-
sig Verbindungen zu Aktivitäten feststellen, die eng mit dem reproduktiven Erfolg zusam-
menhängen, wie etwa Überleben und Sexualität? Individuelle Unterschiede im äußeren
Erscheinungsbild stehen beispielsweise im Zusammenhang mit Unterschieden beim sexuel-
len Zugang zu Partnern (Eysenck, 1976). Pflichtbewusstsein hängt bekanntermaßen mit
Erfolgen in Beruf und Status zusammen (Kyl-Heku & Buss, 1996). Impulsivität wird mit
außerehelichen Affären (Buss & Shackelford, 1997a) und höheren Sterberaten (Friedman et
al., 1995) in Verbindung gebracht. Wenn die individuellen Unterschiede, die Persönlichkeits-
psychologen untersuchen, zuverlässig mit reproduktiv relevanten Phänomenen, z.B. Status,
Sexualität und sogar Überleben in Verbindung gebracht werden können, spielen sie vielleicht
in der evolutionären Psychologie des Menschen eine größere Rolle als bisher angenommen.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 511
Die evolutionäre Psychologie bemüht sich jetzt um Wege, individuelle Unterschiede und
artentypische psychologische Mechanismen in ein einheitliches konzeptionelles Rahmen-
werk zu integrieren (z.B. Bailey, 1998; Buss & Greiling, 1999; Gangestad & Simpson, 1990;
MacDonald, 1995; Wilson, 1994). Dabei gibt es mehrere viel versprechende Ansätze.
Individuelle Unterschiede können eine ganze Reihe vererbbarer und nicht vererbbarer
Ursachen haben. Belege aus genetischen Verhaltensstudien der Persönlichkeit weisen
stark darauf hin, dass beide Ursachen wichtig sind. Persönlichkeitsmerkmale zeigen in
der Regel eine moderate Vererbbarkeit, die meist zwischen 30 und 50% liegt (Plomin,
DeFries & McClearn, 1990). Zugleich liefern diese Studien überzeugende Belege, dass
Abweichungen zu 50 bis 70% umweltbedingte Ursachen haben. Im Folgenden sind
einige Vorschläge zur Untersuchung adaptiv geformter individueller Unterschiede, basie-
rend auf umweltbedingten und vererbten Ursachen sowie auf Interaktionen dieser beiden
Ursachen aufgeführt (Bailey, 1998; Bouchard & Loehlin, 2001; Buss & Greiling, 1999).
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512 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Gleichgültig, ob Sulloways Argumentation nun bis ins kleinste Detail korrekt ist, das Beispiel
illustriert in jedem Fall eine strategische Nischenspezialisierung. Individuelle Unterschiede
sind adaptiv geformt, basieren aber nicht auf vererbbaren individuellen Unterschieden. Viel-
mehr gibt die Geburtsreihenfolge, ein nicht vererbbarer individueller Unterschied, den Input
(vermutlich durch die Interaktion mit Familienmitgliedern) für einen artentypischen Mecha-
nismus, der die strategische Nischenspezialisierung beeinflusst. Vererbbare individuelle
Unterschiede können ebenfalls Input für solche artentypischen evolutionsbedingten psycho-
logischen Mechanismen liefern. Sie können sich auch als Folge der strategischen Nischen-
spezialisierung entwickeln – Möglichkeiten, denen wir uns nunmehr zuwenden.
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 513
Wenn man annimmt, dass Gesichtszüge, die uns dominant und attraktiv aussehen lassen,
teilweise vererbbar sind, so kann man weiter spekulieren, dass Männer über einen evolu-
tionsbedingten psychologischen Mechanismus verfügen, der darauf ausgerichtet ist,
einzuschätzen, wie dominant und attraktiv man wirkt. „Wirkt man sehr dominant und
attraktiv, sollte man eine kurzfristige sexuelle Strategie verfolgen, andernfalls eher eine
langfristige.“ In diesem Beispiel lassen sich natürlich andere Variablen wie etwa Testoste-
ron nicht ausschließen, die gleichzeitig das Gesicht dominanter wirken lassen und für
einen stärkeren Sexualtrieb sorgen.
Nach der Vorstellung der evolutionsbedingten Beurteilungsmechanismen zur Einschät-
zung der eigenen vererbbaren Eigenschaften sind stabile individuelle Unterschiede bei
der Verfolgung einer kurzfristigen und einer langfristigen sexuellen Strategie also nicht
direkt vererbbar. Sie stellen stattdessen adaptive individuelle Unterschiede auf der Basis
der Beurteilung vererbbarer Informationen dar. Wir können davon ausgehen, dass weitere
Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der evolutionären Persönlichkeitspsychologie die
genauen Eigenschaften der evolutionsbedingten Beurteilungsmechanismen ans Licht
bringen werden.
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514 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
sexuellen Zugang zu den Eiern der Weibchen, weil sie aufgrund ihres kleinen Wuchses
nicht entdeckt werden, und die Imitatoren erlangen Zugang, weil sie wie Weibchen ausse-
hen und dadurch Aggressionen der elterlichen Männchen vermeiden. Doch je mehr
Imitatoren es gibt, desto weniger erfolgreich sind sie, denn ihre Existenz hängt von den
elterlichen Männchen ab, die Eindringlinge vom Nest fernhalten. Je mehr Imitatoren und
Schleicher es gibt, desto weniger werden die elterlichen Typen, so dass diese parasitären
Strategien immer schwieriger werden. Vererbbare alternative Strategien innerhalb der
Geschlechter werden durch den Prozess der häufigkeitsabhängigen Selektion erhalten.
Theoretisch können diese vererbbaren individuellen Unterschiede durch die häufigkeits-
abhängige Selektion zeitlich unbegrenzt innerhalb einer Population bestehen bleiben, im
Unterschied zum Prozess der zielgerichteten Selektion, die in der Regel vererbbare Varia-
tionen verdrängt.
Die evolutionäre Psychologin Linda Mealey (1995) führte eine Theorie der Psychopathie
ein, die auf der häufigkeitsabhängigen Selektion basiert. Psychopathie (manchmal auch
Soziopathie oder antisoziale Persönlichkeitsstörung genannt) ist eine Reihe von Charakter-
eigenschaften, die durch unverantwortliches und unzuverlässiges Handeln, Egozentrik,
Impulsivität und eine Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen zu führen, gekennzeichnet sind.
Charakteristisch sind auch ein oberflächlicher sozialer Charme und ein Defizit an sozialen
Emotionen wie Liebe, Schamgefühl, Schuld und Mitgefühl (Cleckley, 1982). Psychopathen
verfolgen eine betrügerische oder „täuschende“ Strategie in ihren sozialen Interaktionen.
Psychopathie kommt bei Männern häufiger vor als bei Frauen, erstere sind zu drei bis vier
Prozent, letztere nur zu weniger als einem Prozent betroffen (Mealey, 1995).
Psychopathen verfolgen eine soziale Strategie, die durch die Ausbeutung der Reziprozi-
tätsmechanismen anderer gekennzeichnet ist. Nachdem sie zunächst ihre Kooperation
vortäuschen, werden sie dann meist abtrünnig. Diese betrügerische Strategie könnte von
Männern angewendet werden, die ihre Konkurrenten in einer traditionellen Statushierar-
chie nicht überflügeln können (Mealey, 1995).
Nach dieser Theorie kann eine psychopathische Strategie durch die häufigkeitsabhängige
Selektion aufrecht erhalten werden. Je größer die Zahl der Betrüger, wodurch auch der
Schaden für die kooperativen Opfer zunimmt, um so stärker werden sich vermutlich
psychologische Mechanismen entwickeln, die darauf abzielen, diese Betrüger zu entlar-
ven und ihnen Kosten aufzuerlegen. Je mehr Psychopathen es also gibt, um so geringer ist
der durchschnittliche Ertrag dieser Strategie. Solange es noch nicht zu viele Psychopa-
then gibt, können sich diese jedoch in einer Population halten, die vorwiegend aus koope-
rativen Mitgliedern besteht (Mealey, 1995).
Es gibt – wenn auch indirekte – Belege, die mit Mealeys Theorie der Psychopathie im
Einklang sind. Zum einen legen genetische Verhaltensstudien nahe, dass Psychopathie
möglicherweise moderat vererbbar ist (Willerman, Loehlin & Horn, 1992). Zum zweiten
scheinen manche Psychopathen eine ausbeutende, kurzfristige sexuelle Strategie zu ver-
folgen und dies könnte der wichtigste Weg sein, auf dem sich psychopathische Gene ver-
mehren oder erhalten bleiben (Rowe, 1995). Psychopathische Männer neigen eher zu
sexueller Frühreife, sie haben mit mehr Frauen Geschlechtsverkehr, haben mehr uneheli-
che Kinder und trennen sich auch häufiger von ihren Ehefrauen als nicht psychopathische
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 515
Männer (Rowe, 1995). Man könnte davon ausgehen, dass diese kurzfristige, opportunisti-
sche, ausbeutende sexuelle Strategie in Populationen verstärkt vorkommt, die durch hohe
Mobilität gekennzeichnet sind, denn hier wäre der Schaden durch eine schlechte Reputa-
tion, die durch das Verfolgen einer solchen Strategie entsteht, eher gering (Wilson, 1995).
Diese Theorie bietet einige Angriffspunkte. So ist z.B. eine Frage, ob Psychopathie einen
Typus oder ein Kontinuum darstellt (Baldwin, 1995), ob sie häufig genug auftritt, um von
der häufigkeitsabhängigen Selektion erhalten zu werden, und ob sie ein relativ neu entwi-
ckeltes Phänomen moderner Populationen oder eine uralte evolutionsbedingte Strategie
ist (Wilson, 1995).
Trotz dieser Probleme verdeutlicht Mealeys Theorie der Psychopathie die Möglichkeit,
dass vererbbare alternative Strategien durch die häufigkeitsabhängige Selektion erhalten
werden können. Die häufigkeitsabhängige Selektion bietet eine mögliche Erklärung für
die Integration der kumulativen Ergebnisse der genetischen Verhaltensstudien (z.B. Wil-
lerman, Loehlin & Horn, 1992) und der Erkenntnisse über die sexuellen Strategien, die
offenbar von Psychopathen verfolgt werden (Rowe, 1995), mit einer evolutionären Ana-
lyse der individuellen adaptiven Unterschiede.
Zusammengefasst bietet die evolutionäre Psychologie einen breiten Rahmen für die
Betrachtung einer ganzen Reihe individueller Unterschiede. Diese Unterschiede können
sich aufgrund früher Erfahrungen mit der Umwelt entwickeln, z.B. der (fehlenden) Prä-
senz des Vaters. Dadurch kann sich die Entwicklung eines Individuums zu bestimmten
adaptiven Strategien verlagern. Unterschiede können sich auch durch verschiedene
Umwelten im Erwachsenenalter ergeben, die immer wieder einen bestimmten Mechanis-
mus aktivieren. Unterschiede entwickeln sich auch durch verschiedene Nischenauswahl.
Außerdem können diese Unterschiede die Folge einer häufigkeitsabhängigen Selektion
sein. Diese Ursachen für individuelle Unterschiede sind eine viel versprechende Grund-
lage für eine wahrlich integrative Persönlichkeitstheorie, die grundlegende Prämissen
über die menschliche Natur sowie über die wesentlichen Unterschiede zwischen Indivi-
duen enthält.
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516 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
zeitig auch ihren Lesern unterstellen. Das Diagnostische und Statistische Handbuch der
Mentalen Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; American
Psychiatric Association, 1994) bietet auch tatsächlich ein solches Modell einer mentalen
Störung in der Abhandlung der Begriffe, die zur Definition einer Störung verwendet wer-
den, darunter mangelnde Kontrolle, Benachteiligung, Unflexibilität und Unvernunft.
Wenn ausdrückliche Kriterien mentaler Störungen festgelegt werden, sind dies oft einfa-
che heuristische Regeln, z.B. Anzeichen subjektiver Verzweiflung, Merkwürdigkeit, sozi-
aler Schädlichkeit und Ineffizienz (z.B. American Psychiatric Association, 1994).
Die evolutionäre Psychologie bietet die Möglichkeit, diesen intuitiven Ansätzen zu ent-
fliehen, indem sie strengere und ausdrücklichere Prinzipien liefert, die über die Präsenz
einer Störung entscheiden (siehe Buss et al., 1997; Wakefield, 1992). Wurde ein evolu-
tionsbedingter psychologischer Mechanismus einmal beschrieben und seine Funktion
einmal richtig zugeordnet, so existiert damit ein klares Kriterium zur Festlegung einer
Fehlfunktion: Eine Fehlfunktion liegt vor, wenn der Mechanismus nicht so funktioniert,
wie er in den Situationen sollte, in denen er laut seinem Entwurf wirken sollte. Eine Fehl-
funktion evolutionsbedingter Mechanismen wäre z.B. angezeigt, wenn das Blut nach
einer Verletzung nicht gerinnen würde, wenn man bei äußerlicher Hitzeeinwirkung nicht
schwitzen würde oder wenn sich der Muskel im Kehlkopf beim Schlucken von Nahrung
nicht schließen würde, um den Weg in die Lungen zu verschließen.
Nach der gegenwärtigen Definition einer Fehlfunktion können evolutionsbedingte
Mechanismen drei verschiedene Fehler aufweisen: (1) Der Mechanismus wird nicht akti-
viert, wenn das jeweils relevante adaptive Problem auftritt (man sieht z.B. eine gefährli-
che Schlange, die anzugreifen droht, doch es setzt keine Angst oder Fluchtreaktion ein);
(2) der Mechanismus wird in Situationen aktiviert, für die er entwurfsmäßig nicht ausge-
legt war (man fühlt sich z.B. zu den falschen Personen sexuell hingezogen, etwa zu nahen
genetischen Verwandten); (3) der Mechanismus lässt sich nicht wie entwurfsmäßig fest-
gelegt mit anderen Mechanismen koordinieren (die Selbsteinschätzung des Partnerwerts
führt uns nicht zu den Menschen hin, auf die wir unsere Partnerwahlbemühungen richten
sollten).
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 517
Zufällige genetische Abweichungen können ebenso die Ursache für manche fehlerhaften
Mechanismen sein. Obwohl die natürliche Selektion in der Regel artentypische evolu-
tionsbedingte Mechanismen hervorbringt, könnten sich auch vererbbare Variationen
innerhalb der oberflächlichen Merkmale dieser Mechanismen erhalten. Augen, Herz und
Lungen funktionieren bei fast allen Menschen gleich, doch die strukturelle Form dieser
Mechanismen unterliegt gewissen individuellen Unterschieden (so kann sich die Form
der Lungen z.B. leicht unterscheiden). Eine solche Abweichung hat für die Selektion
meist keine Bedeutung. In seltenen Fällen können solche genetischen Abweichungen
jedoch gehäuft auftreten und dadurch Mechanismusfehler auslösen. Diese Abweichungen
richten keinen Schaden an, wenn sie einzeln auftreten, in seltenen Kombinationen können
sie jedoch Fehlfunktionen auslösen. Einige Forscher haben die Vermutung geäußert, dass
seltene genetische Paarungen bestimmten Formen der Schizophrenie zugrunde liegen
könnten (Gottesman, 1991).
Eine weitere Ursache für Variationen liegt in den Mutationen. Obwohl Mutationen auch
diejenigen Abweichungen bewirken, die notwendig sind, damit sich die natürliche Selek-
tion vollziehen kann, sind isolierte Mutationen der Funktionalität doch selten zuträglich,
sie können sogar schädlich sein und zu Mechanismusfehlern führen (Tooby & Cosmides,
1990; 1992). Dennoch könnte es geschehen, dass Forscher und klinische Psychologen
fehlerhafte Mechanismen nicht als Fehlfunktionen erkennen. Sie müssen sich nicht in
Form von seltsamem Verhalten, persönlicher Verzweiflung, der Unfähigkeit, sich um sich
selbst zu kümmern, oder sozialer Schädigung manifestieren. In manchen Fällen können
Fehlfunktionen das Leben angenehmer machen, so z.B., wenn der evolutionsbedingte
Mechanismus, der Angst und Depression reguliert, nicht mehr ordnungsgemäß funktio-
niert. In anderen Fällen führen fehlerhafte Mechanismen aber auch zu erheblichen per-
sönlichen Schwierigkeiten und Schädigungen und werden daher von Forschern und klini-
schen Psychologen erkannt, behandelt und weiter beobachtet. Die Schlussfolgerung aus
dieser Analyse soll jedoch nicht sein, dass nur die drei oben genannten Kategorien der
Fehlfunktion von Psychologen behandelt werden sollten. Vielmehr sollen sie als Rah-
menwerk für die klinische Forschung dienen und dazu beitragen, die lange herrschende
Verwirrung darüber aufzuklären, was tatsächlich als Fehlfunktion zu bezeichnen ist und
wie man diese angesichts ihrer Ursachen behandeln kann.
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518 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
drastisch von der Umwelt ab, die einen Großteil der Evolutionsgeschichte des Menschen
prägte. Ein evolutionsbedingter Mechanismus könnte genau so funktionieren, wie er planmä-
ßig angelegt wurde, weil sich aber die Umwelt verändert hat, könnte das Ergebnis trotzdem
nicht adaptiv erscheinen. Eine Diskrepanz zwischen der urzeitlichen und der modernen
Umwelt könnte einige Eigenschaften von adaptiven Problemen verändern oder sie könnte
dafür sorgen, dass ein adaptives Problem in unserer heutigen Umgebung irrelevant wird.
Auf psychologischer Ebene könnten die Menschen Mechanismen entwickelt haben, die
darauf ausgerichtet sind, ihren eigenen Partnerwert im Vergleich zu Individuen in ihrer
Umwelt zu beurteilen. Wahrscheinlich gab es zur Zeit unserer Vorfahren nur relativ kleine
Gruppen von etwa 50 bis 100 Menschen, die zusammenlebten (Tooby & DeVore, 1987).
So ließ sich der relative Partnerwert ziemlich genau bestimmen. Eine Folge dieser genauen
Bestimmung könnte gewesen sein, dass sich die Partnerbemühungen des Einzelnen ver-
stärkt auf potentielle Kandidaten im Bereich des eigenen Partnerwerts konzentrierten. In
unserer gegenwärtigen Umwelt sind die Bevölkerungszahlen dagegen weit höher und die
Bilder, denen wir durch die Medien (besonders Fernsehen und Internet) ausgesetzt sind,
könnten einen völlig neuen Vergleichsmaßstab darstellen. Fotomodelle und Schauspiele-
rinnen sind z.B. meist sehr attraktiv. Zwar stellen besonders hübsche Frauen nur einen
geringen Bruchteil der Gesamtbevölkerung, doch Bilder solcher Frauen begegnen uns in
irreführender Häufigkeit. Dies kann dazu führen, dass Frauen ihren eigenen Partnerwert
im Vergleich zu Konkurrentinnen innerhalb ihrer lokalen Umwelt künstlich als zu gering
einschätzen. Dies wiederum kann den intrasexuellen Wettbewerb unter den Frauen verstär-
ken oder sie dazu bringen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um ihre eigene Attraktivi-
tät zu steigern (Buss, 1996a). In Extremfällen können Frauen sogar ein gestörtes Körper-
bild oder Essstörungen wie etwa Bulimie, Magersucht oder Depressionen entwickeln.
Insgesamt gesehen können Diskrepanzen zwischen urzeitlichen und modernen Kontexten
psychologische Probleme hervorrufen. Diese sollte man aber nicht als Fehlfunktionen im
evolutionären Sinne sehen, denn die evolutionsbedingten Mechanismen funktionieren ja
noch immer in der Weise, in der sie ursprünglich ausgelegt wurden.
Eine zweite Problemquelle ergibt sich möglicherweise aus den normalen Fehlern, die mit
der „durchschnittlichen“ Funktionsweise der Mechanismen einhergehen. Alle Mechanis-
men funktionieren, weil innerhalb der beispielhaften Auswahl der Gegebenheiten der
urzeitlichen Umwelt die Vorteile dieser Mechanismen durchschnittlich gesehen deren
Nachteile überwogen, nicht weil sie in jeder Situation funktionieren. Da die evolutionsbe-
dingten Mechanismen auf der Basis ihrer „durchschnittlichen“ Auswirkungen ausgewählt
werden, kann ein voll funktionierender Mechanismus viele Fehler haben, die aber nicht
zwangsläufig auf Fehlfunktionen hinweisen (Schlager, 1995). Ein gefährliches Tier hinter
einem Baum zu vermuten, obwohl gar keines da ist, und sexuelle Absichten zu unterstel-
len, die gar nicht vorhanden sind – dies sind zwar Fehler, aber vielleicht keine Fehlfunkti-
onen, weil durchschnittlich gesehen die Schwelle für die Wahrnehmung dieser Phäno-
mene zu einer höheren inklusiven Fitness geführt hat als alternative Schwellen. Solche
normalen Fehler müssen von echten Fehlfunktionen unterschieden werden. Dies kann
man dadurch erreichen, dass man spezifische adaptive Probleme formuliert und die Kos-
ten und Nutzen festlegt, die mit der Lösung dieser Probleme verbunden sind. Wenn
unsere männlichen Vorfahren beispielsweise weibliches sexuelles Interesse unterstellten,
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 519
könnten die Nachteile, die durch eine falsche positive Unterstellung entstanden sind
(sexuelles Interesse wird unterstellt, obwohl es nicht vorhanden ist), möglicherweise
geringer gewesen sein als die Nachteile, die durch eine falsche negative Unterstellung
entstanden sind (sexuelles Interesse wird nicht unterstellt, obwohl es vorhanden ist).
Dadurch sinkt die Schwelle der sexuellen Unterstellung verglichen mit der maximalen
Treffsicherheit (Haselton & Buss, 2000). Insgesamt gesehen kann das, was zunächst wie
eine Störung aussieht, einfach nur die normale Funktionsweise eines evolutionsbedingten
Mechanismus sein, der Fehler produziert, weil er darauf ausgelegt ist, adaptive Probleme
„durchschnittlich“ zu sehen und nicht in jedem Fall erfolgreich zu lösen.
Eine dritte Ursache für Probleme, die man oft fälschlicherweise als Störungen interpre-
tiert, bezieht sich auf das subjektive Leiden aufgrund der normalen Arbeitsweise funktio-
nierender Mechanismen. Viele unserer evolutionsbedingten psychologischen Mechanis-
men führen zu Ergebnissen, die subjektiv Leid verursachen (Buss, 2000b). So sind
schätzungsweise 10% aller jungen Amerikaner depressiv. Da die Depression so weit ver-
breitet und der Trauer so nahe ist, wird sie als zuverlässige Folgeerscheinung eines erleb-
ten Verlustes (von Geld, eines Partners, von Ansehen) ausgelegt (Nesse, 2000; Nesse &
Williams, 1994; Price & Sloman, 1987). Auch wenn eine Depression für die Betroffenen
ein extrem frustrierendes Gefühl ist, so kann dieser emotionale Schmerz doch auch adap-
tive Funktionen haben. Erstens hilft uns die depressive Stimmung dabei, uns von einem
gescheiterten Unternehmen zu lösen, das uns nur Verluste bereitet, so dass wir uns auf
Neues konzentrieren können. Zweitens wird dadurch unserem „blinden“ menschlichen
Optimismus ein Ende gesetzt und wir können unsere Ziele objektiver einschätzen (Nesse
& Williams, 1994; Stevens & Price, 1996).
Auch die Angst verursacht subjektives Leid, ist aber dennoch das Ergebnis der normalen
Arbeitsweise eines funktionalen Mechanismus, der angesichts einer Bedrohung unser
Denken, unser Verhalten und unsere Physiologie zu unserem Vorteil verändert (Nesse &
Williams, 1994). Er macht uns vorsichtig und wachsam in Bezug auf mögliche physische
oder soziale Gefahren. Eine Stressreaktion ist zwar nützlich, aber auch aufwändig (exzes-
siver Kalorienverbrauch, Gewebeschäden); deshalb muss es einen Grund dafür geben,
dass es so häufig zu ängstlichen Reaktionen kommt. Aus evolutionärer Sicht liegt die
Antwort auf der Hand: Bei 100 potentiell gefährlichen Situationen ist ein Todesfall kost-
spieliger als 99-mal falscher Alarm (Nesse & Williams, 1994).
Panikattacken könnten einen funktionalen Bestandteil unseres Angstsystems darstellen,
der uns vor speziellen Gefahren eines Angriffs schützen soll. Die Gegebenheiten, die bei
uns Panik auslösen, sind bestens geeignet für die evolutionsbedingte Funktion, uns ange-
sichts einer drohenden Gefahr zu schützen: Panik kann entstehen, wenn wir uns auf wei-
ten, offenen Plätzen befinden, wenn wir alleine und weit von zu Hause entfernt sind und
wenn wir uns an Orten befinden, wo wir schon einmal große Angst hatten. Panik ist eine
Schutzreaktion gegen eine besondere Form der Bedrohung; eine fehlerhafte Regulierung
der Panik führt zur Panikstörung (Nesse, 1990).
Zusammengefasst hilft uns die evolutionäre Psychologie zu verstehen, warum wir nega-
tive Stimmungen erleben. Subjektives Leid stellt nicht immer zwangsläufig eine klinische
Störung dar, sondern kann einfach ein Zeichen dafür sein, dass ein evolutionsbedingter
psychologischer Mechanismus richtig funktioniert.
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520 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Eine vierte Quelle für Probleme tut sich bei sozial unerwünschtem Verhalten aufgrund der
normalen Arbeitsweise funktionaler Mechanismen auf. Einige evolutionsbedingte Mecha-
nismen führen zu Verhaltensweisen, die gesellschaftlich nicht erwünscht sind. Die Psycho-
pathie ist ein Beispiel. Zwar sind Psychopathen im medizinischen Sinn nicht behindert, sie
gelten aber dennoch als krank, weil sie sich über soziale Normen hinwegsetzen, die das
kooperative Miteinander regeln. Psychopathen könnten aber tatsächlich solche Verhaltens-
weisen zeigen, die durch die normale Funktionsweise eines Mechanismus zustande kom-
men, der darauf ausgerichtet ist, in speziellen urzeitlichen Kontexten betrügerisches Verhal-
ten zu fördern. Wenn es z.B. keine dauerhaften sozialen Interaktionen geben sollte, so
konnten erfolgreiche Betrüger die Vorteile einiger unfairer Interaktionen innerhalb einer
bestimmten Gruppe für sich verbuchen, bevor sie dafür zahlen mussten (und z.B. zu einer
anderen Gruppe übergehen mussten), weil ihr betrügerisches Verhalten entlarvt wurde
(Harpending & Sobus, 1987). Psychopathen scheinen verschiedene Verhaltensweisen und
Züge aufzuweisen, die die Auswirkungen eines entwickelten Betrügermechanismus sind.
Diese Züge und Verhaltensweisen beinhalten plötzliche Änderungen in Planung, Charme,
Mobilität, Promiskuität und dem Gebrauch von Pseudonymen (Harpending & Sobus, 1987;
Lykken, 1995). Es überrascht nicht, dass uns die evolutionäre Psychologie zu verstehen
hilft, warum psychopathisches Verhalten als sozial unerwünscht gilt: unsere eigenen repro-
duktiven Interessen sind dadurch in Gefahr. Durch die evolutionäre Psychologie können wir
auch verstehen, warum wir potentiellen Betrügern gegenüber so misstrauisch sind: Wir
besitzen evolutionsbedingte Mechanismen, die unsere eigenen Interessen schützen sollen.
Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern, darunter auch Kindsmord, sind sozial
zu verurteilende Verhaltensweisen, die durch die normale Arbeitsweise von Mechanis-
men ausgelöst werden könnten, die darauf ausgerichtet sind, die Investition von Ressour-
cen in Nicht-Verwandte zu reduzieren (Daly & Wilson, 1988). So ist Stiefelternschaft der
beste alleinige Prädiktor für Kindesmisshandlung. In England berichtete Scott (1973),
dass bei über der Hälfte von 20 Fällen, in denen Babys geschlagen wurden, ein Stiefvater
beteiligt war, obwohl zu diesem Zeitpunkt nur 1% der Babys in der allgemeinen Bevölke-
rung bei einem Stiefvater aufwuchs. Mit anderen Worten ist für Kleinkinder und Kinder,
die bei Stiefeltern leben, die Gefahren misshandelt zu werden, mehr als 40-mal höher als
für Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Nach Daly und Wilson (1988) ist
die Ambiguität der Situation der Stiefeltern nicht auf fehlendes Wissen über ihre Rolle
zurückzuführen, sondern vielmehr auf einen echten Interessenskonflikt innerhalb der
Stieffamilie, der unglücklicherweise zu einer Misshandlung oder Vernachlässigung eines
nicht verwandten Kindes führen kann.
Die Auswirkungen einer Zusammenführung der evolutionären und der klinischen
Psychologie sind tief greifender Natur (Glantz & Pearce, 1989; McGuire & Troisi, 1998;
Sloman & Gilbert, 2000; Stevens & Price, 1996). Versteht man den Entwurf von irgend
etwas richtig, so hat man erheblich bessere Chancen, dieses wieder in Ordnung zu bringen,
wenn es kaputt geht. Deshalb bringen wir unser Auto in die Werkstatt – wir wissen nur, wie
man es fährt, der Mechaniker aber weiß mehr darüber, wie es genau aufgebaut ist und wie
seine Mechanismen funktionieren sollten. Eine evolutionäre Perspektive leitet uns an und
sagt uns, wann wir eingreifen sollen. In manchen Fällen behandeln wir vielleicht nur die
Symptome wie Angst oder Depression und nicht die Ursache (Nesse, 1990, 1991; Nesse &
Williams, 1994). Wenn wir diese Symptome beheben, können wir dadurch einen natürli-
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 521
chen Heilungsprozess behindern. Dies ist vergleichbar mit der Behandlung von Fieber oder
Husten: Das sind Mechanismen, die der Bekämpfung einer Infektion oder der Entfernung
einer fremden Materie aus dem Atemwegssystem dienen. Wenn wir Fieber oder Husten
behandeln, können wir damit unter Umständen das gesamte System beeinträchtigen. Ähn-
lich könnte auch eine medikamentöse Behandlung von Depression oder Angst (z.B. durch
Prozac – in Deutschland Ritalin) an der grundlegenden Ursache dieser Phänomene vorbei
gehen (Nesse & Williams, 1994). Zusammengefasst kann die evolutionäre Psychologie viel
versprechende neue und tief greifende Einblicke in die klinische Psychologie bieten.
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522 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Evozierte Kultur
Alle evolutionsbedingten Mechanismen reagieren auf Umweltbedingungen: die Pupillen
im Auge, die Schweißdrüsen, sexuelle Erregung und Eifersucht sind einige offensichtliche
Beispiele für solche Mechanismen. Evozierte Kultur bezieht sich auf Phänomene, die in
manchen Gruppen häufiger ausgelöst werden als in anderen, da die äußerlichen Bedingun-
gen verschieden sind. Die Tatsache, dass Kalifornier meist stärker gebräunt sind als Men-
schen aus Oregon, scheint widerzuspiegeln, dass man in beiden Staaten unterschiedlich
starker und häufiger Sonneneinstrahlung ausgesetzt ist. Solche „kulturellen Unterschiede“
sind durch die Verbindung eines universellen evolutionären Mechanismus kombiniert mit
je nach Gruppe ideal unterschiedlichem Input in den Mechanismus zu erklären.
Ein konkretes potentielles Beispiel für eine evozierte Kultur findet sich in den Verhaltens-
mustern der kooperativen Nahrungsteilung zwischen verschiedenen Gruppen von Jägern
und Sammlern (Cosmides & Tooby, 1992). Verschiedene Nahrungsmittelgruppen variie-
ren unterschiedlich in ihrer Verteilung. Beim Stamm der Ache in Paraguay ist Fleisch zum
Beispiel ein sehr variables Nahrungsmittel. An einem beliebigen Tag stehen die Chancen,
dass ein Jäger mit einer Fleischbeute nach Hause kommt, nur bei 60%. An einem
bestimmten Tag hat ein Jäger Erfolg, während ein anderer mit leeren Händen zurück-
kommt. Gesammelte Nahrung dagegen ist weniger variabel, denn hier hängt der Ertrag
eher von den Bemühungen des Sammlers ab.
Ein Aspekt, der die Menschen zum Teilen der Nahrung innerhalb der Gemeinschaft veran-
lasst, scheint die hohe Variabilität der Nahrungsressourcen zu sein (Cosmides & Tooby,
1992). Ist die Variabilität groß, bietet das Teilen enorme Vorteile. Heute teilen wir unser
Fleisch mit einem Freund, der Pech bei der Jagd hatte, doch schon nächste Woche können
wir die Nutznießer dieses reziproken Verhaltens sein, wenn wir nämlich bei der Jagd leer
ausgegangen sind. Die Vorteile eines kooperativen Teilens von Nahrungsmitteln hoher Vari-
abilität werden noch verstärkt durch die Tatsache, dass eine Person nur eine bestimmte
Menge an Fleisch essen kann – würgt man trotzdem mehr hinunter, ist das kaum von Vor-
teil. Ist die Variabilität dagegen gering, so hat Teilen wenig Vorteile. Da die Menge der
gesammelten Nahrung von den Anstrengungen des Einzelnen abhängt, so bedeutet Teilen
nur, dass diejenigen, die hart gearbeitet haben, denen etwas abgeben, die faul waren.
Die Ache teilen ihr Fleisch mit der Gemeinschaft. Die Jäger geben ihre Beute bei einem
„Verteiler“ ab, der den einzelnen Familien dann verschiedene Stücke zuteilt, die sich meist
nach der Größe der Familie richten. Im gleichen Stamm wird jedoch gesammelte Nahrung
nicht mit anderen geteilt, die nicht zur Familie gehören. Am anderen Ende der Welt, in der
Kalahariwüste fand die Evolutionsforscherin Elizabeth Cashdan (1989) heraus, dass
einige San-Gruppen egalitärer sind als andere, und dass diese kulturellen Unterschiede
eng mit der Variabilität des Nahrungsangebotes zusammenhängen. Das Angebot bei den
!Kung San ist sehr variabel und sie teilen auch meist miteinander. Es gilt als eine der größ-
ten Beleidigungen, als stinge (Geizhals) bezeichnet zu werden, und wer seine Nahrung
nicht teilt, nimmt eine empfindliche Schädigung seines Rufs in Kauf. Bei den Gana San ist
dagegen die Nahrungsversorgung nicht variabel; sie neigen eher dazu, ihre Nahrung zu
horten und teilen nur selten mit anderen außerhalb ihrer Familie. Diese Beispiele zeigen,
dass externe Bedingungen, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind, bei unterschiedlichen
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 523
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524 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Übertragene Kultur
Übertragene Kultur stellt ein weiteres Phänomen dar, das einer Erklärung bedarf. Über-
tragene Kultur bezieht sich auf Ideen und Vorstellungen, die ursprünglich in mindestens
einem Gehirn existieren und durch Beobachtung oder Interaktion an andere weitergege-
ben werden (Tooby & Cosmides, 1992). Die Hula-Hoop-Welle, Stil- und Modeverände-
rungen, der Glaube an außerirdisches Leben sowie Witze, die von einem zum anderen
weitergegeben werden, sind Beispiele für übertragene Kultur. Diese Phänomene erfor-
dern die Existenz spezieller Inferenz-Mechanismen bei den „Empfängern“, die diese
Repräsentationen in ihrem Denken wieder herstellen.
Die Existenz spezieller Inferenz-Mechanismen ist aus evolutionspsychologischer Sicht für
die Erklärung der übertragenen Kultur ausschlaggebend. Da „Informationen“ von anderen
Individuen in unbegrenzter Menge in der eigenen gesellschaftlichen Gruppe weitergege-
ben werden, konkurriert eine potentiell unendlich große Auswahl von Ideen um die
begrenzte Aufmerksamkeitsspanne des Menschen. Evolutionsbedingte psychologische
Mechanismen des Empfängers müssen diese Ideenflut durchforsten und nur eine kleinere
Auswahl zur psychologischen Rekonstruktion auswählen. Die Auswahl, die selektiv auf-
genommen und internal rekonstruiert wird, hängt von der jeweils individuellen Basis der
psychologischen Mechanismen ab. Die übertragene Kultur ruht also wie die evozierte Kul-
tur auf einem Fundament evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen.
Momentan wissen wir nicht, wie diese Mechanismen aussehen, wir kennen aber einige
ihrer Eigenschaften. Sie müssen Verfahren beinhalten, die einigen Ideen selektive Auf-
merksamkeit widmen, andere aber ignorieren; manche erhalten eine selektive Kodierung,
andere werden vergessen; schließlich werden manche selektiv an andere übertragen,
andere dagegen nicht. Diese Mechanismen enthalten vermutlich reichlich Inhalte, die über
die Relevanz für die jeweilige Person entscheiden – die Relevanz der Ideen in Bezug auf
Bereiche, die in einer urzeitlichen Umwelt die Fitness beeinflusst hätten.
Betrachten wir die Tendenz der Menschen, den Kleidungsstil hoch angesehener Mitglie-
der ihrer lokalen sozialen Gruppen oder von Gruppen, zu denen sie gerne gehören wür-
den, zu imitieren. Diese kulturellen Phänomene sind Beispiele für übertragene Kultur. Sie
stützen sich aber auf ein Fundament evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen,
die die Menschen dazu bringen, hoch Angesehenen mehr Aufmerksamkeit zu widmen als
Menschen mit geringem Status, sich ihren Kleidungsstil einzuprägen und diese Erinne-
rung dann beim Kleiderkauf wieder abzurufen, etc.
Eine vollständige Erklärung übertragener Kultur basiert letztendlich nicht nur auf den
psychologischen Mechanismen von Menschen, die die „Empfänger“ kultureller Reprä-
sentationen anderer sind. Sie basiert auch auf dem Verständnis der Mechanismen derer,
die kulturelle Vorstellungen aktiv übertragen. Wie Allport und Postman schon vor langer
Zeit anmerkten: „Es ist das starke persönliche Interesse der übertragenden Personen, das
Gerüchte in Gang setzt und sie sich immer weiter verbreiten lässt.“ (1947, S. 314). Die
absichtliche Verbreitung von Gerüchten ist ein ideales Beispiel für übertragene Kultur.
Um ein Gerücht zu verstehen, muss man außerdem die Motivation und die Interessen der-
jenigen verstehen, die für die Verbreitung des Gerüchts verantwortlich sind (z.B. einen
Rivalen schlecht machen um seinen/ihren empfundenen Partnerwert zu senken).
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 525
Nicht alle Gerüchte prägen sich gleich gut ein und werden in gleichem Maß weitergetra-
gen. Ein und dasselbe Gerücht wird auch nicht von allen in der gleichen Weise im
Gedächtnis gespeichert, die es hören. Nehmen wir folgendes Gerücht: „John ist nur dar-
auf aus, Frauen auszunutzen und würde mit fast jeder schlafen.“ Bei der Bewertung die-
ses Gerüchts sorgen unsere psychologischen Mechanismen zweifellos dafür, dass wir uns
selektiv bestimmten Aspekten zuwenden. Kommt das Gerücht von einem von Johns Kon-
kurrenten oder Feinden? Wenn ja wird man die Information vielleicht abtun und nicht
weiter verbreiten. Stammt das Gerücht von dem Vater oder Bruder einer Frau, die John
umwirbt, deren Ziel es ist, sie vor Männern zu schützen, die sie ausnutzen? Stammt es
von einer Frau, die eigentlich selbst an John interessiert ist und das Gerücht verbreitet, um
andere Frauen davon abzuhalten, sich mit ihm einzulassen? Die Interessen der Menschen,
die Gerüchte in die Welt setzen, können bestimmend dafür sein, welche Gerüchte von
wem weiterverbreitet werden. Die Interessen und Absichten der Quelle eines Gerüchts
sind sehr wichtig, um zu bestimmen, wie viel Aufmerksamkeit man ihm schenkt, ob man
es sich merkt und es – vielleicht mit vorhersagbaren Verzerrungen – an andere weitergibt.
Diese Erklärung für kulturelle Phänomene ist natürlich unvollständig und vereinfacht. Sie
reicht aber aus, um folgende Schlüsse zu ziehen: (1) „Kultur“ ist kein autonomer kausaler
Träger, der mit der „Biologie“ um Erklärungsgewalt konkurriert; (2) kulturelle Unter-
schiede – lokale gruppen-interne Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Gruppen –
sind Phänomene, die erklärt werden müssen; sie sind selbst keine Erklärung für kulturelle
Phänomene; (3) kulturelle Phänomene können zweckmäßig in Arten wie etwa in evo-
zierte und übertragene Kultur unterteilt werden; (4) Erklärungen für evozierte Kultur
erfordern ein Fundament evolutionsbedingter psychologischer Mechanismen, ohne das es
keine unterschiedlich aktivierte kulturelle Vielfalt geben würde; (5) übertragene Kultur
basiert ebenso auf evolutionsbedingten psychologischen Mechanismen, die beeinflussen,
welchen Ideen wir Aufmerksamkeit widmen, welche wir im Gedächtnis speichern, wie-
der hervorholen und an andere weitergeben.
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526 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
als Beispiel an, der mit hunderten von Fans Affären hatte und in vier verschiedenen Län-
dern Kinder zeugte, bevor er mit 27 an einer Überdosis Drogen starb. Er nannte auch die
zahllosen sexuellen Affären von Pablo Picasso, Charlie Chaplin und Honoré de Balzac.
Miller schließt: „Wie jeder Teenager weiß und wie die meisten Psychologen vergessen,
erhöhen solche kulturellen Vorführungen den sexuellen Zugang.“ (Miller, 1998, S. 119).
Die Vorführungshypothese kann viele bekannte Tatsachen über die Verhaltensmuster kul-
tureller Zurschaustellungen erklären. Zunächst kann sie geschlechtsbezogene Unter-
schiede bei der Herstellung kultureller Produkte erklären. Historisch gesehen haben Män-
ner in einer großen Vielfalt an Kulturen mehr Kunst, Musik und Literatur geschaffen als
Frauen. Frauen hatten demnach durch kulturelle Zurschaustellung weniger Vorteile, ein-
fach weil erhöhter kurzfristiger sexueller Zugang für sie nur selten ein angestrebtes Ziel
war (siehe Kapitel 6). Frauen sind eher daran interessiert, „Werbung im kleinen Kreis“ zu
betreiben, wie Miller es nennt, d.h. sie stellen ihre Leistungen einem oder wenigen Män-
nern mit langfristigen Zielen vor und zielen nicht auf die große Masse und kurzfristige
Beziehungen ab. Er führt hier die Scheherazade-Strategie auf, benannt nach der Frau, die
erfolgreich ihre eigene Hinrichtung verhinderte und die Aufmerksamkeit und Investition
des Königs jahrelang für sich einnahm, indem sie 1001 Nacht lang faszinierende
Geschichten erzählte. Die Vorführungshypothese erklärt also geschlechtsbezogene Unter-
schiede in Bezug auf Art und Ausmaß der Bemühungen um kulturelle Zurschaustellung.
Die Vorführungshypothese kann auch die Altersverteilung bei kulturellen Vorführungen
erklären. Viele wichtige Kunstwerke und Musikstücke werden von Männern im jungen
Erwachsenenalter geschaffen – dies ist genau die Zeit, in der Männer sich verstärkt mit
intrasexuellem Partnerwettbewerb beschäftigen (siehe Abbildung 13.4). Je älter die Män-
ner werden und je mehr sich ihre Anstrengungen auf die Rolle des Vaters und des Groß-
vaters verlagern, um so weniger faszinierende kulturelle Werke schaffen sie.
Die Vorführungshypothese liefert auch eine Erklärung dafür, warum Kunstwerke, Musik-
stücke oder literarische Werke mit sozialem Status und Ressourcen in Zusammenhang
stehen. Wie der evolutionäre Psychologe Steven Pinker beobachtete: „Welchen besseren
Beweis gibt es dafür, dass man genug Geld hat, als es für Zeitvertreib und Kunststücke
auszugeben, die zwar nicht den Magen füllen oder den Regen abhalten, aber wertvolle
Ressourcen, jahrelange Übung, die Beherrschung schwieriger Texte oder einen engen
Umgang mit der Elite erfordern. … Menschen finden Würde in den Anzeichen einer
ehrenhaften, sinnlosen Existenz, die allen niederen Arbeiten enthoben ist.“ (Pinker, 1997,
S. 522-523). Kurz gesagt scheint die Vorführungshypothese die Alters- und Geschlechts-
Verteilung kultureller Produktionen zu erklären.
Die Vorführungshypothese kann allerdings einige andere Faktoren über Kunst, Musik und
Literatur nicht erklären. Erstens kann sie den Inhalt dieser kulturellen Produkte nicht erklä-
ren. Warum finden Menschen einige Lieder bewegend, bleiben anderen gegenüber jedoch
gleichgültig? Warum sind Shakespeares Stücke für manche faszinierend, während die Stü-
cke so vieler anderer Autoren langweilig scheinen? Warum locken manche Filme Millionen
von Besuchern in die Kinos, während andere kläglich floppen? Eine vollständige Kulturthe-
orie muss auch die Inhalte kultureller Produkte und nicht nur ihre Alters- und Geschlechts-
Verteilung erklären können. Zweitens kann die Vorführungshypothese nicht erklären, warum
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 527
einige Menschen so übermäßig viel Zeit damit verbringen, ganz alleine Kunst, Musik und
Literatur zu genießen – in Situationen, in denen es nicht um Zurschaustellung geht.
In einem zweiten Ansatz zur Erklärung von Kultur legt Pinker eine allgemeine Antwort auf
diese Fragen vor, auch wenn sie spekulativ ist. Er geht davon aus, dass die Antwort nicht in
spezifischen Adaptationen für Kunst, Musik und Literatur liegt, sondern vielmehr in den
evolutionsbedingten Mechanismen, die das Gehirn zu anderen Zwecken entwickelt hat, die
„Menschen Gefallen finden lassen an Formen, Farben und Klängen und Witzen und
Geschichten und Mythen.“ (1997, S. 523). Ein Mechanismus der Farberkennung, z.B., der
darauf ausgelegt ist, reifes Obst zu erkennen, kann durch das Malen eines Bildes, das diese
Muster imitiert, zum Vergnügen aktiviert werden. Psychologische Vorlieben für Hinweise
auf fruchtbare Frauen können durch Zeichnungen, Fotos, Filme und freizügige Magazine
ausgenutzt werden, die die Muster imitieren, welche den Mechanismus ursprünglich aus-
lösten. Wie man künstliche Drogen schaffen kann, die unser Lustzentrum anregen sollen,
so kann man auch Kunst, Musik und Literatur schaffen, um eine Reihe evolutionsbedingter
psychologischer Mechanismen anzusprechen. Nach dieser Hypothese haben die Menschen
keine speziellen Adaptationen entwickelt, um Kunst, Musik, Literatur und andere Kultur-
produkte hervorzubringen. Sie haben vielmehr gelernt, bestehende Mechanismen künstlich
zu aktivieren, indem sie kulturelle Produkte schaffen, die die anregende Wirkung, auf die
die Mechanismen ursprünglich ausgelegt waren, kopieren. Solche kulturellen Aktivitäten
sind also keine Adaptationen, sondern vielmehr nicht adaptive Nebenprodukte.
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528 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
Abstrakte Kunst besteht z.B. oft aus Punkten, parallelen Linien, Kreisen, Quadraten, Spi-
ralen und Farbspritzern, die zufällig genau die anregenden Symbole imitieren, die Wahr-
nehmungsforscher als sehr wichtig für die Erkennung von Objekten und Oberflächen
bezeichnen, mit denen Menschen umgehen müssen, so dass sie uns als angenehm erschei-
nen (Pinker, 1997). Bilder und Landschaften, die wir dagegen als eintönig empfinden,
aktivieren Mechanismen in uns, die eine Umgebung als bar jeglicher Ressourcen erschei-
nen lassen. Faszinierende Kunstwerke imitieren also eine Umgebung mit reichlich Res-
sourcen, der man gerne seine Aufmerksamkeit widmet.
Auch bei der Musik argumentiert Pinker ähnlich: „Ich gehe davon aus, Musik sei hörbarer
Käsekuchen, eine köstliche Kreation, um die empfindlichen Punkte von mindestens sechs
unserer geistigen Bereiche anzuregen.“ (1997, S. 534). Unter diese mentalen Dimensionen
fallen Sprache (z.B. Liedertexte), hörbare Szenenanalyse (wir müssen z.B. Geräusche her-
ausfiltern, die von unterschiedlichen Quellen stammen, z.B. den Ruf eines Tieres in einem
lauten Wald), emotionale Rufe (z.B. werden Wimmern, Weinen, Stöhnen und Jubeln als
Metaphern für musikalische Passagen eingesetzt), Selektion des Lebensraums (z.B. Donner,
rauschendes Wasser, Knurren und andere Geräusche, die eine sichere oder unsichere
Umwelt signalisieren) und motorische Kontrolle (z.B. Rhythmus, ein universaler Bestand-
teil von Musik, imitiert die motorische Beherrschung, die für eine Reihe von Aufgaben nötig
ist, darunter Laufen und Springen, und signalisiert Merkmale wie Dringlichkeit, Faulheit
und Vertrauen). Nach dieser Hypothese gefallen uns also solche Musikstücke, die natürliche
Erreger imitieren, die unsere evolutionsbedingten Mechanismen verarbeiten können.
Eine ähnliche Argumentation lässt sich auch auf Literatur und Filme anwenden. Worte, Hand-
lungsstränge und Geschichten, die komisch oder tragisch sind, können angenehme Empfin-
dungen auslösen, indem sie eine Reihe evolutionsbedingter Mechanismen ansprechen. Wahr-
scheinlich ist es kein Zufall, dass die meisten erfolgreichen Romane und Filme, z.B. Titanic
oder Vom Winde verweht, Muster von intrasexueller Konkurrenz, Partnerwahl, Romantik und
lebensbedrohlichen feindlichen Naturgewalten enthalten. Pinker stellte fest: „Wenn wir in ein
Buch oder einen Film versunken sind, dann sehen wir atemberaubende Landschaften, begeg-
nen wichtigen Menschen, verlieben uns in wunderbare Männer oder Frauen, beschützen
unsere Lieben, erreichen Unmögliches und besiegen hinterhältige Feinde. Nicht schlecht, was
wir für sieben Dollar fünfzig bekommen!“ (Pinker, 1997, S. 539).
Eine Analyse von 37 üblichen Handlungssträngen zeigte, dass sich die meisten durch eines
von vier Themen definieren ließen: Liebe, Sex, persönliche Bedrohung oder Bedrohung für
die Familie des Helden (Caroll, 1995). Beispiele sind „falsch verstandene Eifersucht“ (z.B.
Shakespeares Othello) und „die Entdeckung, dass ein geliebter Mensch unehrlich (untreu)
war“ (eines der häufigsten Themen in Romanen und Filmen). Sex und Gewalt sind durch
die gesamte menschliche Geschichte hindurch die bestimmenden Themen in der Literatur.
Nach dieser Hypothese erschaffen und konsumieren die Menschen Kulturprodukte wie
Gemälde, Skulpturen, Romane und Filme nicht, weil diese kulturellen Aktivitäten selbst
Adaptationen sind, sondern vielmehr weil ihre Formen und Inhalte künstlich Adaptationen
aktivieren, die sich aus anderen Gründen entwickelt haben. In diesem Sinne leben wir also
mit einem urzeitlichen Gehirn in einer modernen Welt voller evolutionär noch nie da gewe-
sener Anregungen. Die Kulturmuster, die wir schaffen und konsumieren, könnten – auch
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Kapitel 13 In Richtung einer geeinten evolutionären Psychologie 529
wenn sie selbst keine Adaptationen sind – über die menschliche evolutionäre Psychologie
ebenso viel oder mehr aussagen als die am besten geplanten psychologischen Experimente.
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530 Teil 6 Eine integrierte psychologische Wissenschaft
sibelsten Probleme definiert, die mit Überleben und Reproduktion zusammenhängen. Die
meisten adaptiven Probleme blieben bisher unerforscht, ein Großteil der psychologischen
Lösungen unentdeckt. Wir können durchaus davon ausgehen, dass die ersten Wissenschaft-
ler, die diese unbekannten Gebiete beschreiten, mit reicher Beute zurückkehren werden.
Tatsächlich konzentrieren sich bedeutende Psychologen wie Daphne Bugental, Michael
Gazzaniga, Stan Klein, Paul Rozin, und Shelly Taylor in ihrer Arbeit zunehmend auf die
Prinzipien einer evolutionären Psychologie und machen dabei interessante neue Entdeckun-
gen (z.B. Bugental, 2000; Klein et al., 2002; Rozin, 2000; Taylor et al., 2000).
Die evolutionäre Psychologie bietet das konzeptionelle Rüstzeug an, um den fragmentari-
schen Zustand der gegenwärtigen psychologischen Wissenschaft hinter sich zu lassen, die
Psychologie mit den übrigen Wissenschaften des Lebens zu verbinden und so eine groß
angelegte wissenschaftliche Integration auf den Weg zu bringen. Die evolutionäre Psycho-
logie liefert einige der wichtigsten Werkzeuge, um die Geheimnisse darüber zu lüften, wo
die Menschen herkamen und wie sie zu dem wurden, was sie heute sind – und sie kann die
geistigen Mechanismen erklären, die definieren, was es bedeutet, Mensch zu sein.
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Corbis; S. 56: USDA / Animal and Plant Health Inspection Service; S. 68: Inc. Stephen
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Namens- und Sachregister
A gleichgeschlechtliche 377
in der Schule 369, 379
Aasfresser-Hypothese 126 intrasexuelle 370
Abwesenheit des Vaters und kurzfristige Kontext-Spezifität der 372
Affären 249 Opfer von 370, 373, 382
Adaptation zur Aufdeckung von Betrügern sexuelle 323, 416, 420
349 um Rivalen Aufwendungen zu verur-
Adaptation(en) sachen 370
artentypische 509 um Status und Macht zu erhöhen 371
Begriff der 44 verbale 370, 376, 380
bei Kindern 137 vererbbare 512
evolutionärer Prozess und 68 zur Abschreckung von Rivalen 371
Funktionen 67 zur Verhinderung sexueller Untreue 372
Kosten der 45 Agoraphobie 135–136
natürliche Auslese und 39 Aharon, Itzhak 202
Nebenprodukte von 70 Alcock, John 259
psychologische 74 Alexander, Richard 448
Theorien und Ursprünge 68 Alkohol 115
zur Krankheitsbekämpfung 140 Allesfresser 111
Adaptationen 36 Allgeier, Elizabeth 180
Adaptive Funktion 67 Allport, G. W. 524
Adaptive Konservatismus Hypothese 138 Alter
Adaptive Probleme 100 die Macht der natürlichen Selektion und
des Überlebens 109 das siehe Jugend
Entwicklung von 504 und Heiratsentscheidungen 195, 217
Klassifikationen 101 und Partner-Präferenzen 165, 185–186
Organisation 103 und reproduktiver Wert 193
Adrenalin 134 Vergleich von jüngeren und älteren
Aggression Frauen 95
adaptive Muster der 377 Altruismus 293
als Adaptation 368 auf Leben und Tod 304
als Verteidigung gegen einen Angriff 370 aufrichtiger 350
Androhung von 369 Aufwand durch 352
auslösende Kontexte 384 bei anderen Arten 301
Auswirkungen auf die Reputation 370– elterliche Investition und 302
371 Entwicklung von 352
bei Frauen 386, 389 Gesamtfitness-Theorie und 293, 299–
bei Kindern 373 300
bei Männern 368–369, 371, 374, 384, Muster 303–304
389, 396 Probleme des 336
bei Schimpansen 367, 390 reziproker 336
geschlechtsbezogene Unterschiede 377 und Freundschaft 352
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586 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 587
D
E
Dabbs, James 186
Daly, Martin 258, 264–265, 269–271, 273, Edwards, C.P. 455
276, 278, 280, 288, 319–320, 324–325, Edwards, Donald 450
375, 377, 381, 402, 435–436, 453, 520 Ehe
Dankbarkeit 501 Liebe und 176
Darwin, Charles 23–24, 26, 28, 134, 223, Männer auf der Suche nach 191
296, 328 Männer mit Ressourcen und 214
Darwinistische Medizin 140 mit älteren Männern 189
und Alterspräferenzen 217
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588 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 589
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590 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 591
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592 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 593
L Medienbilder 215
Medizinisches Diagnose-Problem 490
La Cerra, Peggy 176–177 Megargee, Edwin 458
Lagervorlieben 130 Mehrschichtige Selektionstheorie 502
Lamarck, Jean Pierre Antoine de Monet de Mendel, Gregor 34
24 Menschen
Landschaftsvorlieben 130 archäologische Belege für 52
Langlois, Judith 200 Meilensteine in der Entstehung des
Larsen, Randy 160 modernen 46
Lebensdaten 99 multiregionale Ursprünge des 51
Lebenserhaltende Instinkte 54 Menschliche Erzeugnisse, als Datenquellen
Lebensraum-Präferenzen 131 99
Lesbische Frauen 213 Menschliche Natur siehe Evolutionsbedingte
Partner-Präferenzen 186 psychologische Mechanismen 82
Leslie, Allen 504 bei allen Arten 82
Liebe Theorien über die 68
kulturübergreifende Studie der 175 Kern der 82
und Bindungswille 174 Menstruationszyklus
und Ehe 176 und Partnerpräferenzen 181
weibliche Partner-Präferenzen und 174 und Vorlieben für Gesichter 174
Lorenz, Konrad 35 Mentale Störungen 515
Low, Bobbi 99 Metapher der Informationsverarbeitung 60
Luis, S. 205 Mikroorganismen 114
Miller, Geoffrey 525
Missbrauch in der Ehe 389
M Modell des familiären Nutzens 322
Maccoby, Elenor 455 Modell ökologischer Zwänge 321
MacDonald, K. 91 Moderne Synthese 33
Malamuth, Neil 420 Moko dude 195
Malinowski, Bronislaw 199 Monogamie 160
Malthus, Thomas 27 Moore, C. 350
Mann, Janet 274 Moralische Emotionen 500
Männliche Jugend, Syndrom der 381 Moralisches Dilemma 499–500
Marks, Isaac 133 Mord
Marlow, F. 205 an Eltern 289
Marlow, Frank 269 an Jugendlichen 288
Marr, David 486 durch Männer 374
Maskuline Gesichter, Partner-Präferenzen für geschlechtliche Unterschiede bei 374–
181 375, 400
Maskuline Züge, Partner-Präferenzen für gleichgeschlechtlicher 288, 374
174 in der Ehe 389, 435
Maslow, Abraham 509 Opfer von 382, 384
Mazur, Allan 468 Risiko 275
McGuire, Michael 470 Mueller, Ulrich 468
Mead, Margaret 57 Multiregionale Hypothese (MRC) 51
Mealey, Linda 460, 514–515 Multiregionale Ursprünge 51
Mechanismen-Fehler, Ursachen für 516 Muscarella, Frank 186
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594 Namens- und Sachregister
Musik Ovulation
Evolution von 525 Festelung durch den Mann 208
Mutationen 72, 517 Hautveränderung 208
Mütter Partner-Präferenz des Mannes für 207
elterliche Fürsorge durch 259 und geringeres WHR 208
Liebe zu Kindern 258 verborgene 208
weibliches sexuelles Interesse und 208
N
P
Nahrungsauswahl 110
Aasfresser-Hypothese 126 Packer, Craig 342
Adaptationen zum Sammeln und Jagen Paläoanthropologie 102
128 Paläoarchäologie 102
Alkohol und Obst 115 Palmer, Craig 397
antimikrobielle Hypothese 114 Panikattacken 519
bei Ratten 111 Paradoxon der Banken 353
bei schwangeren Frauen 116 Parasiten-Theorie 153
beim Menschen 112 Partnerbindung, Taktiken der 429
Jagd-Hypothese 118 Einkommen und Statusstreben des
kulturelle Unterschiede bei der 112, 117 Ehemanns 434
Sammler-Hypothese 123 Geschlechtsunterschiede bei 429
vegetarische Ernährung 118 Kontexte der Intensität der 432
Nahrungsknappheit 113 Partner-Deprivations-Hypothese 420
Natürliche Auslese, Theorie der 26 Partnermanipulation
Adaptation und 39 Hypothese der 243
Rolle der, in der Evolutionstheorie 30 Partner-Präferenzen
Natürliche Selektion, Theorie der 69 asexuelle und sexuelle Fortpflanzung und
Neandertaler 23, 48, 50 152
Nebenprodukte von Adaptationen 72 bei nicht-menschlichen Arten 170
Neid 475 Partner-Präferenzen der Frau
Neophobie 111 Auswirkungen auf das Partner-Verhalten
Neuhoff, John 137 184
Nischenauswahl 511, 515 Evolution der 152
für ältere Männer 165
für athletische Fähigkeiten 169
O für die Bereitschaft, in Kinder zu
O’Connor, Lynn 476 investieren 176
Ödipus-Komplex 287 für Ehrgeiz und Fleiß 167
Öffentliche Aufzeichnungen 99 für gesellschaftlichen Status 163
Ökologische Rationalität 488 für Gesundheit und gutes Aussehen 171
Ökologische Struktur 488 für körperlichen Schutz 170
Onkel, Investitionen durch 317 für wirtschaftliche Ressourcen 158
Operante Konditionierung 56 Inhalte der 157
Opportunitätskosten, Hypothese der 262 Kontexteffekte der 178
Orgasmus 239 langfristig 151
Östrus 193, 451 Liebe und Bindungswille und 174
Out-of-Africa-Theorie (OOA) 51 theoretischer Hintergrund der 152
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Namens- und Sachregister 595
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596 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 597
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598 Namens- und Sachregister
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Namens- und Sachregister 599
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Psychologie
16., aktualisierte Auflage
Zum Buch:
Der »Zimbardo« gibt einen umfassenden Einstieg in die verschiedenen Bereiche der
Psychologie. Dabei wird Psychologie als Wissenschaft verstanden, um hierauf auf-
bauend die Anwendungsbereiche für das tägliche Leben darzustellen. Schwerpunkte
liegen auf der Sozial- und Kognitionspsychologie. Durch die verständliche und
anschauliche Darstellungsweise bietet das Buch einen geeigneten Einstieg und dient
als hervorragendes Nachschlagewerk für die Grundlagen der Psychologie.
ISBN: 3-8273-7056-6
€ 49,95 [D], sFr 83,50
ca. 900 Seiten
ps psychologie
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Einführung in die Test- und
Fragebogenkonstruktion
Markus Bühner
Zum Buch:
Die Grundlagen der Testtheorie sowie der Methoden zur Fragebogenerstellung werden in
diesem Buch einfach, also ohne aufwändige Abteilung von Formeln dargestellt. Anhand
mit SPSS durchgerechneter Beispiele kann das Wissen angewandt und erprobt werden.
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Vermittlung der klassischen Testtheorie, die
probabilistische Testtheorie wird nur überblicksweise dargestellt. Diese Gewichtung ergibt
sich aus der Tatsache, dass ca. 95 % der handelsüblichen Tests nach der klassischen
Testtheorie konzipiert sind.
ISBN: 3-8273-7083-3
€ 24,95 [D], sFr 42,50
298 Seiten
ps methoden/diagnostik
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Physiologische Psychologie
Neil R. Carlson
Zum Buch:
Die biologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens werden in diesem Buch
anschaulich und leicht nachvollziehbar erklärt. Die aktuelle Auflage des weit verbreiteten
Standardwerks von Carlson berücksichtigt die neuesten Forschungsergebnisse auf dem
sich rasant entwickelnden Feld der Neurowissenschaft und der Physiologischen
Psychologie. Die dynamische Interaktion zwischen Biologie und Verhalten wird hierbei
klar und verständlich sichtbar gemacht.
ISBN: 3-8273-7087-6
€ 59,95; sFr 99,50
ca. 850 Seiten
ps biologische psychologie
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Persönlichkeitspsychologie
und Differentielle Psychologie
Zum Buch:
Dieses international erfolgreiche Lehrbuch zur Persönlichkeitspsychologie bietet einen
kompletten Überblick über die klassischen Persönlichkeitstheorien und integriert die
aktuellsten Forschungsergebnisse. Die für das alltägliche Leben relevante empirische
Evidenz der Theorien wird an allen Stellen des Buches deutlich herausgestellt. Die Theo-
rien werden anhand der fundamentalen Aspekte der Persönlichkeit erklärt: psychoanaly-
tisch, biologisch, behavioristisch, kognitiv, merkmalsbezogen, humanistisch-existenziell,
situativ/interaktionistisch und bezüglich der Ich-Perspektive.
ISBN: 3-8273-7105-8
€ 49,95; sFr 83,50
ps persönlichkeitspsychologie ca. 700 Seiten
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