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Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.

Schopenhauer
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
2. Auflage
Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.)

Schopenhauer-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Daniel Schubbe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften
der FernUniversität in Hagen, Vorstandsmitglied
der Schopenhauer-Gesellschaft.
Matthias Koßler ist apl. Professor für Philosophie
an der Universität Mainz, Leiter der
Schopenhauer-Forschungsstelle, geschäftsführender
Herausgeber des Schopenhauer-Jahrbuchs und Präsident
der Schopenhauer-Gesellschaft.

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Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage  VII 9 Parerga und Paralipomena  120


Vorwort zur ersten Auflage  VIII 9.1 »Skitze einer Geschichte der Lehre vom
Idealen und Realen«  Valentin Pluder  120
9.2 »Fragmente zur Geschichte der ­Philosophie« 
I Leben Konstantin Alogas  124
9.3 »Ueber die Universitäts-Philosophie« 
1 Die Familie Schopenhauer  Robert Zimmer  2 Matthias Koßler  128
2 ›Europäische Erziehung‹ und das Leiden 9.4 »Transscendente Spekulation über die
an der Welt  Robert Zimmer  8 anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal
3 Akademische Karriere und das Verhältnis zur des Einzelnen«  Stephan Atzert  132
akademischen ­Philosophie  Robert Zimmer  13 9.5 »Versuch über das Geistersehn und
was damit zusammenhängt« 
Damir Barbarić  134
II Werk 9.6 »Aphorismen zur Lebensweisheit« 
Heinz Gerd Ingenkamp  136
4 Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom 9.7 Der zweite Band der Parerga und
zureichenden Grunde  Paralipomena 
Matteo Vincenzo d’Alfonso  20 Matteo Vincenzo d’Alfonso  140
5 Ueber das Sehn und die Farben  10 Spätwerk und Nachgelassenes  150
Olaf Breidbach  33 10.1 Der handschriftliche Nachlass und der junge
6 Die Welt als Wille und Vorstellung  40 Schopenhauer  Yasuo Kamata  150
6.1 Zur Entwicklung des Hauptwerks  10.2 Logik und »Eristische Dialektik« 
Matthias Koßler / Maurizio Morini  40 Jens Lemanski  160
6.2 Konzeptionelle Probleme und Interpreta­ 10.3 Die Berliner Vorlesungen: Schopenhauer
tionsansätze der Welt als Wille und Vor- als Dozent  Thomas Regehly  169
stellung  Jens Lemanski / Daniel Schubbe  43 10.4 Briefe  Domenico M. Fazio / 
6.3 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie  Matthias Koßler  179
Dieter Birnbacher  51 10.5 Die Übersetzung von Graciáns ­
6.4 Metaphysik  Friedhelm Decher  60 Handorakel  Elena Cantarino  181
6.5 Ästhetik  Brigitte Scheer  68
6.6 Ethik  Oliver Hallich  80
6.7 »Kritik der Kantischen Philosophie«  III Einflüsse und Kontext
Margit Ruffing  92
7 Ueber den Willen in der Natur  11 Asiatische Philosophien und Religionen 
Martin Morgenstern  98 Urs App  186
8 Die beiden Grundprobleme der Ethik  106 12 Platon  Heinz Gerd Ingenkamp  192
8.1 »Preisschrift über die Freiheit des Willens«  13 Philosophie des Mittelalters 
Dieter Birnbacher  106 Matthias Koßler  196
8.2 »Preisschrift über die Grundlage der Moral«  14 Christentum und Mystik  Jens Lemanski  200
Dieter Birnbacher  113 15 Moralistik  Robert Zimmer  207
16 Baruch de Spinoza  Ortrun Schulz  210
VI Inhalt

17 Immanuel Kant  Matthias Koßler /  37 Phänomenologie  Daniel Schmicking  339
Margit Ruffing  215 38 Analytische Philosophie  Wolfgang Weimer  345
18 Jakob Friedrich Fries, Gottlob Ernst Schulze, 39 Existenzphilosophie  Daniel Schubbe  350
Friedrich Heinrich Jacobi  Valentin Pluder  221 40 Hermeneutik  Daniel Schubbe  357
19 Johann Wolfgang von Goethe  41 Philosophische Anthropologie 
Theda Rehbock  226 Gabriele Neuhäuser  362
20 Johann Gottlieb Fichte  42 Kritische Theorie  Michael Jeske  368
Alessandro Novembre  231 43 Neurophilosophie  Dirk Göhmann  375
21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel  44 Tierethik  Dieter Birnbacher  379
Matthias Koßler  238
22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling  C Kunst
Sebastian Schwenzfeuer  242 45 Literatur  Søren R. Fauth / 
23 Medizin: Naturphilosophie und Experimental- Børge Kristiansen  384
physiologie  Jürgen Brunner  248 46 Bildende Kunst  Martina Koniczek  398
24 Romantik  Søren R. Fauth  256 47 Musik  Günter Zöller  404

D Rezeption in einzelnen Ländern


IV Wirkung 48 USA  Christa Buschendorf  409
49 Italien  Fabio Ciracì  414
A Personen 50 Großbritannien  David Woods  421
25 Ludwig Feuerbach  Michael Jeske  264 51 Frankreich  Arnaud François  427
26 Søren Kierkegaard  Philipp Schwab  271 52 Indien  Michael Gerhard  433
27 Die ›Schopenhauer-Schule‹ 
Domenico M. Fazio  276
28 Voluntarismus im Anschluss an Schopenhauer: V Hilfsmittel
Philipp Mainländer, Julius Bahnsen, Eduard von
Hartmann  Winfried H. Müller-Seyfarth  282 53 Werkausgaben (Auswahl)  438
29 Wilhelm Dilthey  Sarah Kohl /  54 Auswahlbibliographie  439
Daniel Schubbe  288 55 Institutionen der Schopenhauer-Forschung  440
30 Friedrich Nietzsche  Barbara Neymeyr  293 56 Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben 
31 Sigmund Freud  Günter Gödde  305 Stefan Kirschke  441
32 Georg Simmel  Sarah Kohl  314
33 Henri Bergson  Arnaud François  318
34 Carl Gustav Jung  Martin Liebscher  324 VI Anhang

B Philosophische Strömungen / Wissenschaften Zitierweise  468


35 Geometrie  Jens Lemanski  329 Autorinnen und Autoren  469
36 ›Evolutionstheorie‹  Jens Lemanski  334 Personenregister  472
Vorwort zur zweiten Auflage

Das Schopenhauer-Handbuch erscheint in einer ak- erweitert wurden und infolgedessen neue Titel erhal-
tualisierten und erweiterten Auflage. Wir freuen uns, ten haben, nämlich »Logik und ›Eristische Dialektik‹«
dass dieses Handbuch eine derart große Resonanz er- (Jens Lemanski) sowie »Medizin: Naturphilosophie
fährt und als hilfreiche Unterstützung bei der Beschäf- und Experimentalphysiologie« (Jürgen Brunner).
tigung mit der Philosophie Schopenhauers angenom- Auch der Beitrag zu »Nietzsche« (Barbara Neymeyr)
men wird – einer Philosophie, deren Bedeutung nicht wurde um einen interessanten Abschnitt erweitert.
nur in systematischer Perspektive, sondern auch für Die vielfältigen Aktualisierungen und Ergänzungen
die Philosophie- und allgemeine Ideen- und Geistes- der Bibliographien zeigen, dass die Schopenhauerfor-
geschichte gerne unterschätzt wurde und wird. schung derzeit sehr lebendig ist und immer wieder
Für die vorliegende zweite Auflage sind nicht nur neue Felder eröffnet.
Fehler korrigiert sowie Aktualisierungen und Ergän- Wir danken den Autorinnen und Autoren für das
zungen vorgenommen, sondern auch vier neue Bei- Engagement, mit dem sie durch die Prüfung, Über-
träge hinzugefügt worden. Mit den Artikeln zur »An- arbeitung oder Neufassung der Artikel die Entstehung
thropologie« (Gabriele Neuhäuser), »Evolutionstheo- der zweiten Auflage unterstützt haben. Ein besonderer
rie« (Jens Lemanski), »Geometrie« (Jens Lemanski) Dank gilt Franziska Remeika und Ferdinand Pöhl-
und »Tierethik« (Dieter Birnbacher) ist es gelungen, mann vom Verlag J. B. Metzler für das hervorragende
insbesondere den Blick auf die Wirkungsgeschichte Lektorat und die Betreuung der Herstellung.
Schopenhauers zu vertiefen. Hervorzuheben ist auch,
dass die Kapitel 10.2 und 23 im Vergleich zu den ur- Mainz und Hagen im Oktober 2017
sprünglichen Artikeln der ersten Auflage beträchtlich Matthias Koßler und Daniel Schubbe
Vorwort zur ersten Auflage

Es liegt in der Natur eines Handbuchs, dass es zwar die oder Bezugspunkt gewürdigt oder er wird systema-
größtmögliche Breite und Tiefe eines Themas wieder- tisch auch dort übergangen, wo Anknüpfungen nahe-
geben möchte, dies aber immer unter dem Vorbehalt liegen. Es findet sich daher im vierten Kapitel auch ei-
pragmatisch schneller und nützlicher Handhabung, ne Vielzahl an ›verpassten Gesprächen‹, die zwar kei-
das heißt erforderlicher Kürze, tun muss. Dies führt ne direkte Wirkung zur Grundlage haben, aber den-
dazu, dass Themen notwendigerweise auf der Strecke noch deutlich machen, dass eine Auseinandersetzung
bleiben. Die Herausgeber des vorliegenden Schopen- mit Schopenhauer hätte fruchtbar sein können.
hauer-Handbuchs hoffen, dieses Problem auf zweierlei Das fünfte Kapitel bietet abschließend Hilfsmittel
Weise abgemildert zu haben: Zum einen durch eine für die Forschung, wobei insbesondere die Konkor-
sinnvolle Auswahl der Themen, die sowohl dem Laien danz von Stefan Kirschke hervorgehoben werden soll.
als auch dem Kenner einen guten Überblick über die Da es nach wie vor keine Kritische Gesamtausgabe der
Philosophie Schopenhauers geben sollen, zum ande- Werke Schopenhauers gibt, ist die Forschung auf eine
ren durch die Bereitstellung von geeigneten ›Sprung- Vielzahl verschiedener Ausgaben angewiesen, die
brettern‹, die jeweils schnell Anknüpfungspunkte für letztlich alle ihre Mängel haben. Die hier vorgelegte
weitergehende Lektüre und Forschung ermöglichen. Konkordanz hilft daher zumindest, die unterschiedli-
Besonders das dritte und vierte Kapitel (»Einflüsse chen Werke zu vergleichen.
und Kontext« und »Wirkung«) erforderten die Aus- Wir danken den beteiligten Autorinnen und Auto-
wahl von Schwerpunkten. Die Lektüre Schopenhau- ren ausdrücklich für ihr Engagement und die Ausdau-
ers ist historisch, systematisch und kulturell breit an- er, die sie diesem Projekt entgegengebracht haben.
gelegt gewesen, entsprechend vielfältig sind die jewei- Frau Hechtfischer und Frau Remeika danken wir
ligen Einflüsse. Auf der anderen Seite gehört Schopen- herzlich für das ausgezeichnete Lektorat und die kom-
hauer auch zu den wirkungsmächtigen Vertretern petente Begleitung der Fertigstellung.
seines Faches, die nicht nur in die Philosophie, son-
dern auch in viele andere Disziplinen hinein gewirkt Mainz und Hagen im Juni 2014
haben. Interessanterweise wird Schopenhauer aber Matthias Koßler und Daniel Schubbe
nicht immer als entsprechende Inspirationsquelle
I Leben
1 Die Familie Schopenhauer Die Schopenhauers sind im Danziger Umland als
Ackerbauern bereits im 15. Jahrhundert nachweisbar.
Herkunft und Stand
Arthur Schopenhauers Urgroßvater väterlicherseits,
Arthur Schopenhauer war ein Patriziersohn: Er ent- Johann Schopenhauer aus Petershagen (geb. 1670),
stammt dem gebildeten, politisch eigenständigen und war der erste gelernte Kaufmann der Familie. Er wur-
finanziell unabhängigen Stadtbürgertum. Das hieraus de im Jahr 1695 Danziger Bürger und pachtete 1708
erwachsene Selbstbewusstsein, von niemandem ab- bis 1724 zusammen mit seinem Bruder Simon die
hängig und niemandem untertan zu sein, war Teil sei- Stadtdomäne Stutthof. Sein Sohn Andreas, der
ner Familienkultur und prägte sowohl sein soziales Großvater Arthur Schopenhauers (geb. 1720), be-
Auftreten als auch den Gestus seiner Schriften. gründete den Wohlstand der Familie und erwarb den
Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 Ruf eines »Danziger Fuggers«. Er besaß u. a. zwei
als Sohn des Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhau- Stadthäuser in Danzig und ein Landgut in Ohra. Auch
er und seiner Frau Johanna Schopenhauer, geb. Tro- als Mäzen der Künste machte er sich in der Stadt einen
siener, in Danzig geboren. Eine lange Geschichte bür- Namen. 1745 heiratete er Anna Renata Soermanns,
gerlichen Freiheitsstrebens prägte die Geschichte sei- die Tochter des niederländischen Gesandten in Dan-
ner Geburtsstadt. Danzig war von 1454 bis zur Anne- zig. Schopenhauers Großmutter väterlicherseits
xion durch Preußen 1793 eine Freie Stadt unter brachte in die Ehe ein erhebliches Vermögen, aber
Oberhoheit der polnischen Krone und genoss weit- auch eine Neigung zur psychischen Instabilität,
gehende Autonomie. Über Jahrhunderte der Hanse Angstzuständen und Depression ein, die sich bei
zugehörig und ein Drehkreuz des Ostseehandels, hat- mehreren ihrer Nachkommen, auch bei Schopenhau-
te sie sich im Verlauf ihrer Geschichte eine republika- ers Vater und bei Schopenhauer selbst bemerkbar ma-
nische Verfassung gegeben und auch das Recht erhal- chen sollte. Auf die Großmutter gründet sich aber
ten, eigene diplomatische Vertretungen zu entsenden. auch der mehrfach von Arthur Schopenhauer
Danzig war eine offene, kosmopolitische und multi- geäußerte Stolz, von niederländischen Vorfahren ab-
ethnische Stadt, doch beherrscht wurde sie von einem zustammen.
deutschsprachigen Patriziat. Ihm gehörten auch die Von den, zum Teil früh verstorbenen, fünfzehn
Familie und die Vorfahren Schopenhauers an. Beide Kindern des Andreas und der Anna Renata Schopen-
Eltern entstammten alteingesessenen und angesehe- hauer war Heinrich Floris (geb. 1747), der spätere Va-
nen Danziger Kaufmannsfamilien, waren jedoch in ih- ter Schopenhauers, der zweitälteste. Ab 1770 über-
rem sozialen Rang nicht ganz gleichwertig. Heinrich nahm er zusammen mit seinem ein Jahr jüngeren
Floris Schopenhauer, dessen Vorfahren schon seit dem Bruder Johann Friedrich gemeinsam das väterliche
17. Jahrhundert in Danzig ansässig waren, gehörte Unternehmen. Als der langjährige Junggeselle mit
dem zahlenmäßig eng begrenzten Ratsherrenkollegi- knapp vierzig Jahren ans Heiraten denkt, ist er einer
um, dem eigentlichen Machtzentrum, an und besaß der ersten Handelsherren der Stadt, ein geschäftstüch-
überdies den vom polnischen König verliehenen Hof- tiger Kaufmann mit Kontakten nach West- und Ost-
rattitel. Neben den Ratsherren und dem Schöffenkolle- europa, ein stolzer Republikaner und ein gebildeter
gium gab es aber auch noch eine Vertretung für den Mann, bei dem sich pietistische Strenge mit aus-
etwas weniger einflussreichen Mittelstand, die so- gesprochener Weltoffenheit verbindet. Er besaß meh-
genannte »Dritte Ordnung«. Sie repräsentierte die in- rere Schiffe, eine Stadtwohnung in der Danziger Hei-
nerstädtische Opposition gegen das alteingesessene ligengeistgasse, sowie als Landgut einen der großen
Patriziat. In ihr hatte auch Johanna Schopenhauers Va- Pelonker Höfe in Oliva, nordwestlich von Danzig.
ter, Christian Heinrich Trosiener, einen Sitz. Erst Später fielen ihm noch Einnahmen aus dem von sei-
durch eine 1761 durchgeführte politische Reform hat- nem Vater hinterlassenen Landgut in Ohra zu.
ten die Mitglieder der »Dritten Ordnung« Zugang zum Politisch gehörte der Voltaire-Leser Heinrich Floris
Stadtrat erhalten, wodurch auch Schopenhauers zu den Unterstützern einer aufklärerischen Reform-
Schwiegervater die Stellung eines Ratsherrn erhielt. politik. Gegenüber Preußen und seinem König Fried-
1  Die Familie Schopenhauer 3

rich II., der schon früh ein Auge auf Danzig geworfen
Die engere Familie bis zum Tod des Vaters 1805
hatte, hegte er wie sein Vater eine ausgesprochene Ab-
neigung. Als Friedrich II. ihm anlässlich eines Besuchs Schopenhauers Eltern, Heinrich Floris Schopenhauer
1773 in Berlin die preußische Staatsbürgerschaft und und Johanna Trosiener, heirateten am 16. Mai 1785 in
unbegrenzte Niederlassungsfreiheit in Preußen anbot, der Danziger Kirche »Aller Gottes Engel«. Es war eine
machte er davon keinen Gebrauch. Für ihn war der standesgemäße Vernunftehe, der keine tiefe emotio-
Wappenspruch der Familie Schopenhauer verpflich- nale Bindung zugrunde lag. Republikanischer Bürger-
tend: »Point de bonheur sans liberté« – »Kein Glück stolz und eine der Aufklärung verpflichtete fortschritt-
ohne Freiheit«. Als Heinrich Floris Schopenhauer liche politische Grundhaltung prägte die Gesinnung
1785 um die Hand der zwanzig Jahre jüngeren Johanna beider Eltern. So weigerte sich Johanna bei einem Auf-
Trosiener anhielt, wurde dies von der Familie Trosie- enthalt der Schopenhauers in Bad Pyrmont im Jahr
ner durchaus als Ehre und als Möglichkeit zum weite- 1787, die Bekanntschaft der Herzogin von Braun-
ren sozialen Aufstieg angesehen. Heinrich Floris Scho- schweig zu machen, weil von ihr als bürgerlicher Frau
penhauer galt als einer der besten Partien der Stadt. der Kniefall erwartet wurde. Der Ausbruch der Fran-
Christian Heinrich Trosiener (geb. 1730), Schopen- zösischen Revolution wurde in der Familie begrüßt,
hauers Großvater mütterlicherseits, hatte bereits einen das preußische Annexionsstreben dagegen mit
sozialen Aufstieg hinter sich. Er war der erste Kauf- großem Misstrauen betrachtet. Als politisches Vorbild
mann der Familie und der erste, der sich in Danzig an- galt sowohl Heinrich Floris als auch seiner Frau der
gesiedelt hatte. Auch sein Haus befand sich in der Hei- britische Parlamentarismus.
ligengeistgasse. Sein Vater, der Schuhmacher Christian Der weltanschaulichen Harmonie zwischen den El-
Trosiener, war in dem Dorf Altschottland im Danziger tern standen Disharmonien im Alltag und in den ge-
Umland ansässig. Dessen Vater wiederum hatte sich sellschaftlichen Lebensbedürfnissen gegenüber. Dies
aus Ostpreußen hier angesiedelt. Seine um fünfzehn war einerseits dem unterschiedlichen Alter der beiden
Jahre jüngere Frau Elisabeth Trosiener (geb. 1745) war Ehepartner geschuldet, aber auch unterschiedlichen
die Tochter des Apothekers Georg Lehmann und des- persönlichen Interessen und Mentalitäten. Heinrich
sen Frau Susanna Concordia Lehmann, geborene Neu- Floris konzentrierte sich auf seine Geschäftstätigkei-
mann. 1788, im Geburtsjahr Arthur Schopenhauers, ten und deren standesgemäßer Repräsentation. Er
pachtete Christian Heinrich Trosiener den Gutshof neigte, vor allem in späteren Jahren, zu Depressionen
Stutthof, den bereits Schopenhauers Urgroßvater vä- und privater Isolation. Seine junge Frau dagegen sehn-
terlicherseits in Pacht gehabt hatte. Auch er gehörte zu te sich nach einem interessanten, abwechslungsrei-
den angesehenen Bürgern Danzigs. Zeitweise übte er chen und kulturell befruchtenden Gesellschaftsleben.
die Funktion des Fischereiquartiermeisters und Vor- In den ersten, noch in Danzig verbrachten Jahren der
stehers der Johanniskirche aus. Ehe hielt sich Johanna mit ihrem 1788 geborenen
Schopenhauers Mutter, Johanna Trosiener, wurde Sohn Arthur häufig in den Landgütern Oliva und
1766 als ältestes überlebendes Kind geboren. Ihr folg- Stutthof auf. Gäste waren selten. Häusliche Pflichten
ten noch drei weitere Schwestern, Elisabeth Charlotte, und Erziehungsaufgaben füllten sie nicht aus. Als Hö-
Anna und Julia Dorothea. Johanna erhielt eine für die hepunkte empfand sie lediglich die gemeinsam unter-
damalige Zeit sehr gründliche und vielseitige Bildung nommenen Reisen, wie die, die sie während ihrer ers-
und erwarb u. a. umfassende Kenntnisse in Kunst und ten Schwangerschaft 1787 nach England unternah-
Literatur. Dies betraf auch das Erlernen von Fremd- men. Johanna langweilte sich in ihrer Ehe.
sprachen. Über ihr Kindermädchen lernte sie Pol- Kurz vor der Einnahme Danzigs durch preußische
nisch, in der Kinderschule der Familie Chodowiecki Truppen siedelten die Schopenhauers 1793 nach
Französisch. Dr. Jameson, ein aus Edinburgh zugezo- Hamburg über. Das Haus in der Heiligengeistgasse
gener Geistlicher, der die englische Gemeinde in Dan- wurde verkauft. Verwandte beider Seiten sowie ein
zig betreute, vermittelte ihr ausgezeichnete Kenntnis- Teil der Vermögenswerte blieben jedoch in Danzig.
se im Englischen und führte sie in die englische Lite- 1797 wurde in Hamburg die Tochter Louise Adelaide
ratur ein. Ihr Wunsch, Malerin zu werden, wurde ihr Lavinia geboren, im Familien- und Bekanntenkreis
als Mädchen allerdings verwehrt. Dennoch blieb Jo- »Adele« genannt. In Hamburg wurde deutlich, dass
hanna Schopenhauer ihr Leben lang den Künsten und sich die beiden Eheleute zunehmend auseinander ent-
der Literatur eng verbunden und gab diese Verbun- wickelten. Heinrich Floris Schopenhauer durchlebte
denheit auch an ihren Sohn weiter. eine Periode des geistigen und körperlichen Verfalls,
4 I Leben

während Johanna ein offenes Haus hielt, Verbindun- nungspotential aufgebaut hatte. Vor allem zwischen
gen zum Kulturleben knüpfte und bestrebt war, in die Mutter und Sohn entstand ein Graben. Während Ar-
gute Gesellschaft Hamburgs Eingang zu finden. thur zuvor unter der Strenge und emotionalen Distanz
Die elterliche Erziehung vermittelte dem Sohn, des Vaters gelitten hatte, sprach er fortan von ihm nur
durch Reisen, soziale Kontakte und ausgedehnte Lek- noch voller Hochachtung als dem Mann, dem er die
türe, einen über die standesgemäßen Fähigkeiten weit Grundlagen für seine spätere Philosophenexistenz
hinausgehenden kulturellen Horizont (s. Kap. 2). Doch verdanke. Der Mutter warf er nun vor, den Vater an
es mangelte ihr an emotionaler Wärme. Auch wurde den seinem Lebensende im Stich gelassen zu haben: »Mei-
geistigen Neigungen Arthurs nur bedingt Rechnung ge- ne Mutter«, so äußerte er in späteren Jahren, »gab Ge-
tragen. Der Vater beabsichtigte von Anfang an, seinen sellschaften, während er in Einsamkeit verging, und
Sohn zu seinem Nachfolger zu erziehen. Er schickte ihn amüsierte sich, während er bittere Qualen litt« (Gespr,
in die für Kaufmannskinder eingerichteten Schulen 152). Das entstandene Ressentiment gegen die Mutter
und ließ ihn im Kontor befreundeter Kaufleute ausbil- sollte das Verhältnis beider bis zum Tode Johanna
den. Er wachte auch streng über den Erwerb gesell- Schopenhauers bestimmen.
schaftlicher Fähigkeiten, die diesem Ziel dienten, so die
Vervollkommnung der Handschrift, eine gerade Kör-
Die Geschichte der Familie 1805–1838
perhaltung und die Fähigkeit, gesellschaftlichen Um-
gang in einer angenehmen und verbindlichen Form zu Während zu Lebzeiten des Vaters sich das Leben der Fa-
pflegen. Dabei litt der Sohn unter der Strenge des Vaters. milie noch ganz im bürgerlich kaufmännischen Milieu
Zu den positiv prägenden Erfahrungen seiner Kind- abspielte, traten nach dessen Tod die intellektuellen und
heit und Jugend gehörten für den jungen Schopenhau- künstlerischen Interessen der verbliebenen Schopen-
er die Auslandsaufenthalte. Dazu zählen nicht nur die hauers in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sich das Bild ei-
gemeinsam mit den Eltern unternommenen Reisen, ner Familie von schwierigen und zugleich hochbegab-
sondern auch der beinahe zweijährige Aufenthalt bei ten Charakteren, die alle, zu unterschiedlichen Zeiten
Geschäftsfreunden des Vaters, der Familie Grégoire de und mit unterschiedlicher Nachhaltigkeit, durch intel-
Blésimaire im französischen Le Havre, von 1797 bis lektuelle Leistungen hervortraten, sich aber auch im
1799. Hier liegt auch eine wichtige Komponente der Strudel persönlicher und finanzieller Zwistigkeiten das
europäischen Erziehung Schopenhauers (s. Kap. 2). Leben gegenseitig schwer machten. Insgesamt liest sich
Die Teilnahme an der großen, von den Eltern unter- die Familiengeschichte nach 1805 »wie die eines kata-
nommenen Europareise 1803 bis 1804 verknüpfte der strophalen Zerfalls« (Lütkehaus 1998, 11).
Vater allerdings mit der Bedingung, dass Arthur sich Johanna Schopenhauer begann nach dem Tode ih-
nun endgültig für die Kaufmannslehre entscheiden res Mannes ein neues Leben. Sie strebte nun eine Exis-
sollte. Der junge Arthur Schopenhauer ging darauf ein, tenz an, in der sie ihre künstlerischen und gesellschaft-
doch seine Wünsche entsprachen nicht denen des Va- lichen Bedürfnisse verwirklichen konnte. Sie ließ das
ters. Er fühlte sich in die falsche Richtung gedrängt und Haus der Familie in Hamburg verkaufen und das Scho-
entwickelte schon sehr früh das Bedürfnis, die Gelehr- penhauersche Unternehmen aus dem Handelsregister
tenlaufbahn einzuschlagen. Auch in seinem öffent- löschen. Sie erkundete mögliche neue Wohnorte und
lichen Auftreten entsprach er nicht den elterlichen Er- zog schließlich 1806 nach Weimar, wo die befriedi-
wartungen. Von heftigem und aufbrausendem Charak- gendste und erfolgreichste Zeit ihres Lebens begann.
ter, neigte er dazu, apodiktische Urteile zu fällen und Johanna, die nun den Hofratstitel ihres Mannes führte,
Auseinandersetzungen zu provozieren. wurde Gastgeberin eines Salons, in dem sich regel-
Im Jahr 1805 riss der Tod des Vaters die Familie aus- mäßig die Elite der Weimarer Kultur traf und dessen
einander. Heinrich Floris Schopenhauer, krank, de- Mittelpunkt Goethe wurde. Auch machte sie sich in
pressiv und isoliert, stürzte sich aus einem Speicher- den kommenden Jahren einen Namen als Reiseschrift-
fenster seines Hauses. Sein Freitod wurde nach außen stellerin und Romanautorin. Ihr bedeutendster, auch
als Unfall hingestellt, seine Tochter Adele erfuhr erst heute noch gedruckter Roman Gabriele (1819/20) ist
im Erwachsenenalter die wahre Todesursache. Der von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre inspiriert.
Tod des Vaters setzte eine Zäsur in der Familien- Die damals erst neunjährige Adele Schopenhauer
geschichte und beendete mehrere Generationen der lebte weiterhin im Haushalt der Mutter. Für sie wurde
Schopenhauerschen Kaufmanns- und Patrizierdynas- Weimar zur eigentlichen Heimat. Sie befreundete sich
tie. Er hinterließ eine Familie, in der sich viel Span- eng mit Ottilie von Pogwisch, der späteren Schwieger-
1  Die Familie Schopenhauer 5

tochter Goethes, und sah Goethe wie einen Ersatz- Am 22. Mai 1814 verließ Arthur Schopenhauer
vater an. Weimar und siedelte für vier Jahre nach Dresden über,
Arthur Schopenhauer blieb zunächst in Hamburg wo sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung
und setzte zähneknirschend seine Kaufmannsausbil- entstand. Im September 1818 begab er sich auf seine
dung fort. Er fühlte sich durch sein Versprechen ge- erste Italienreise, die er allerdings im Frühjahr 1819
genüber dem Vater gebunden. Erst 1807 bricht er mit abbrechen musste, weil die Familie von der Insolvenz
Einverständnis der Mutter die Lehre ab, um das Abitur des Danziger Handelshauses Muhl erschüttert wurde.
nachzuholen und sich auf die lange gewünschte Ge- Die unterschiedlichen Reaktionen der Familienmit-
lehrtenlaufbahn hin zu orientieren. Er besucht einige glieder auf diese finanzielle Katastrophe vertieften den
Monate das Gymnasium in Gotha, das er nach einem Riss innerhalb der Familie.
Konflikt mit dem Lehrkörper jedoch verlässt. Auf die Mutter und Tochter hatten bei Muhl ihr gesamtes
1809 abgelegte Gymnasialprüfung wird er von nun an verbliebenes Kapitalvermögen angelegt, wobei es sich
in Weimar durch Privatlehrer vorbereitet. in Wahrheit nur noch um Adeles Anteil handelte, da
Aus Heinrich Floris’ Vermögen erbten Johanna der mütterliche Teil bereits verbraucht war. Arthur
und jedes ihrer Kinder jeweils ein Drittel. Johanna war lediglich mit einem Drittel seines Kapitals betrof-
verwaltete das Erbe bis zur Volljährigkeit der Kinder fen. Während sich Mutter und Tochter auf einen Ver-
treuhänderisch. Dazu gehörten auch Zinseinkünfte gleich einließen, bei dem sie 70 % ihres Vermögens
von ererbten Landgütern in Danzig. Querelen um Jo- verloren, verweigerte Arthur den Vergleich und konn-
hannas Umgang mit dem Vermögen, um die Danziger te schließlich seinen Anteil vollständig retten. Obwohl
Verwalter und das bei dortigen Geschäftsfreunden an- Mutter und Tochter bei Muhl noch eine kleine Leib-
gelegte Geld sollten die Familienbeziehungen über rente aushandeln konnten, bedeutete die Muhlsche
Jahrzehnte bestimmen. Insolvenz für sie einen finanziellen Absturz und ein
Mit Erreichen der Volljährigkeit 1809 erhielt Arthur erhebliches Absinken ihres Lebensstandards.
Schopenhauer von seiner Mutter die Verfügung über Zu diesem Zeitpunkt lief der innerfamiliäre Kon-
seinen Vermögensanteil. Die Zinseinkünfte aus den takt nur noch über einen Briefwechsel zwischen Bru-
Danziger Gütern wurden zunächst weiterhin über sie der und Schwester. Adele Schopenhauer, intellektuell
abgewickelt. Ebenso behielt sie noch die Verfügung über ebenso begabt wie Mutter und Bruder und mit großen
den Anteil ihrer Tochter. Zu diesem Zeitpunkt lebte die künstlerischen Fähigkeiten ausgestattet, ist die eigent-
Mutter bereits über ihre Verhältnisse und hatte einen lich tragische Figur der Familie. Zerrieben zwischen
großen Teil ihres eigenen Vermögensanteils ausgege- einer Mutter, die auf Pump lebte, das Vermögen ihrer
ben. Im Gegensatz zu seiner Schwester Adele hat Arthur Tochter und damit deren Mitgift verschleuderte, und
Schopenhauer dem Umgang der Mutter mit dem Ver- einem Bruder, der die Schwester misstrauisch auf Dis-
mögen von Anfang an misstraut und sich hartnäckig tanz hielt, vermochte sie nicht, ein selbstbestimmtes
für seine eigenen finanziellen Interessen eingesetzt. Leben zu führen und einen Platz in der Gesellschaft
Nach vierjährigem Studium in Göttingen und Ber- einzunehmen, der ihren Fähigkeiten und Bedürfnis-
lin und anschließender Promotion an der Universität sen entsprach. Wie dieser, neigte sie zu psychischer In-
Jena (s. Kap. 3) kehrt Arthur Schopenhauer im Herbst stabilität und Depressionen.
1813 nach Weimar zurück und nimmt, auf Bitten der Adele war im Streit zwischen Mutter und Bruder an
Mutter, Wohnung in deren Haus. Dort brechen die der Seite der Mutter geblieben, versuchte aber, auch
schwelenden Konflikte zwischen Mutter und Sohn of- ohne Wissen der Mutter, mit dem Bruder in Kontakt
fen aus. Streitpunkte sind vor allem die Anwesenheit zu bleiben. Während der ersten Italienreise kam es zur
des Schriftstellers und Weimarer Regierungsrats Mül- brieflichen Annäherung zwischen den beiden Ge-
ler von Gerstenbergk im Hause der Mutter und der schwistern. Adele, die Italienisch gelernt hatte, eine ei-
von Arthur erhobene Vorwurf, die Mutter veruntreue gene Reise aus finanziellen Gründen aber nicht unter-
das väterliche Erbe. Nach einer heftigen persönlichen nehmen konnte, war an Arthurs Erfahrungen mit der
Auseinandersetzung kommt es im Mai 1814 zum end- Kunst und Kultur des Landes leidenschaftlich interes-
gültigen Bruch zwischen Mutter und Sohn, die sich siert. 1820 besuchte sie ihren Bruder in Berlin. Durch
beide nie mehr wiedersehen sollten. Bis 1818 und Arthurs Misstrauen jedoch, geschürt von der Annah-
dann wieder in den frühen 1830er Jahren gab es zwi- me, sie stehe mit ihren finanziellen Interessen mit der
schen beiden noch Briefverkehr, in dem es jedoch Mutter im Einvernehmen, fühlte sie sich gekränkt und
meist um Vermögensfragen ging. zog sich wieder zurück.
6 I Leben

Aber auch in den frühen 1820er Jahren, als der Bru- führte Adele den Haushalt der Mutter und hatte die
der in Berlin vergeblich versuchte, den Weg einer aka- Kontrolle über die täglichen Ausgaben. Ihre Haltung
demischen Karriere einzuschlagen, um sich ein weiteres zur Mutter war in dem Maße kritischer geworden, in
finanzielles Standbein zu schaffen (s. Kap. 3), und auch dem sie Einblick in deren finanzielle Haushaltsfüh-
nach seiner zweiten Italienreise, die zwischen Mai 1822 rung gewonnen hatte. Ihre ›Scheinwohlhabenheit‹,
und Mai 1823 stattfand, versuchte Adele immer wieder, d. h. der nach außen demonstrierte Anschein von
ihrem Bruder näher zu kommen und ein Treffen zu ar- Wohlstand bei gleichzeitiger Armut, bedrückte ihr Le-
rangieren. Arthur Schopenhauer hat diese Bemühun- ben ebenso wie die Tatsache, dass der Bruder jede
gen seiner Schwester regelmäßig abgewehrt. Zwischen menschliche Annäherung verweigerte. Durch kleine-
1824 und 1831, für Arthur Schopenhauer eine Zeit ge- re Publikationen, Übersetzungsarbeiten und den Ver-
prägt von zahlreichen Ortswechseln, öffentlicher Miss- kauf von Wertgegenständen versuchte Adele, die von
achtung, akademischer Erfolglosigkeit, Liebesenttäu- der Mutter angehäuften Schulden abzubauen. Auch
schungen und Depressionen, ist kein Briefverkehr mehr in dem zwischen 1832 und 1835 wieder aufgenom-
zwischen den Geschwistern nachgewiesen. menen Briefverkehr zwischen Mutter und Sohn ste-
Der Kontakt zwischen Arthur Schopenhauer und hen die Vermögenseinnahmen, insbesondere die Ein-
seiner Familie wurde erst wieder aufgenommen, künfte aus den Danziger Besitzungen, im Mittelpunkt.
nachdem Johanna und Adele Schopenhauer von Thü- Arthur Schopenhauer hat hartnäckig, und häufig zu
ringen an den Rhein gezogen waren und Arthur sich Recht, sowohl an der Korrektheit der Mutter als auch
seinerseits in Frankfurt niedergelassen hatte. Finan- an der der Danziger Vermögensverwalter gezweifelt.
zielle Gründe hatten Mutter und Schwester 1829 be- In den gesamten 1830er Jahren überschattete Geld-
wogen, den Weimarer Haushalt aufzugeben. Adeles not die Lage von Mutter und Schwester, bis beide
Verbindung zu der vermögenden Kunstsammlerin schließlich vor dem finanziellen Bankrott standen. Die
Sybille Mertens-Schaaffhausen eröffnete die Möglich- Wohnung in Bonn war zu teuer geworden. Johanna
keit, im Sommer das Landhaus von Sybille Mertens in und Adele Schopenhauer vermissten Weimar. Für Jo-
Unkel am Rhein, den »Zehnthof«, zu beziehen. Den hanna war dies der Ort ihrer gesellschaftlich glänzends-
Winter verbrachte man jeweils in Bonn. ten Zeit und für Adele die eigentliche Heimat. Bereits
Im September 1831 war Arthur Schopenhauer in 1835 hatte Adele an ihren Bruder geschrieben: »Ich
Frankfurt eingetroffen. Kurz darauf nahm er wieder muß in Thüringen leben, nur dort ist mir wohl« (Lütke-
brieflichen Kontakt zur Schwester auf, deren erster haus 1998, 369). Auf Johannas Bitten hin gewährte ih-
nachgewiesener Brief aus Bonn von Oktober 1831 da- nen der Weimarer Großherzog 1837 eine kleine Pensi-
tiert. Geplagt von alten und neuen Krankheiten, von on, offenbar jedoch mit der Auflage, dass sie sich in Jena
dem Bewusstsein, dass seine akademische Karriere und nicht in Weimar ansiedeln sollten. Im Herbst 1837
gescheitert (s. Kap. 3) und sein Werk unbeachtet ge- siedeln die beiden Frauen nach Jena um. Adele Scho-
blieben war, teilte Arthur Adele seine verzweifelte La- penhauer blieb, ungeachtet aller emotionalen Distanz,
ge mit. Diese hatte ihrerseits mit der Möglichkeit eines bis zum Tod der Mutter an deren Seite. Als Johanna
glücklichen Lebens abgeschlossen. Sie litt am Leben nach einem Schlaganfall gebrechlicher wurde, pflegte
und fühlte sich, wie sie es selbst formulierte, ›unbe- sie sie. Johanna Schopenhauer starb am 16. April 1838.
nutzt‹: »Ich lebe ungern, scheue das Alter, scheue die Als späten Versuch der Wiedergutmachung gegenüber
mir gewiß bestimmte Lebenseinsamkeit« (Lütkehaus Adele hatte sie ihr gesamtes Restvermögen ihrer Toch-
1998, 319) schrieb sie 1831 an ihren Bruder. In An- ter vermacht und damit ihren Sohn enterbt. Doch sie
betracht ihrer prekären finanziellen Lage hatte sie mit hinterließ nur Schulden. Arthur Schopenhauer kam
34 Jahren kaum noch Heiratschancen. Versuche und nicht zur Beerdigung, doch bewahrte er in seiner
Angebote der Schwester, man könne sich treffen, um Frankfurter Wohnung ein Ölbild seiner Mutter sowie
vielleicht sogar ein gemeinsames Leben ins Auge zu zwei ihrer Bücher aus der Zeit vor ihrem Zerwürfnis.
fassen, blockte Arthur wiederum ab.
Im Gegensatz dazu stand Johanna Schopenhauer
Das Ende der Familie Schopenhauer: 1838–1860
Anfang der dreißiger Jahre auf der Höhe ihres literari-
schen Ruhms. Ihre Werke wurden 1831 im Verlag Wie der Tod des Vaters für die Mutter, so war der Tod
Brockhaus in 24 Bänden veröffentlicht. Die Einnah- der Mutter für die Tochter eine Befreiung. Adele trug
men aus dem Verkauf konnten jedoch die finanzielle in den folgenden Jahren die Schulden der Mutter ab
Lage der beiden Frauen kaum verbessern. Inzwischen und trat zunehmend mit eigenen literarischen Arbei-
1  Die Familie Schopenhauer 7

ten an die Öffentlichkeit. Ihre Begabung war vielfältig. tens. Obwohl Arthur Schopenhauer an dem Begräb-
Schon in Weimar war sie als eine Meisterin des Sche- nis seiner Schwester nicht teilnahm, hat er ihren Tod
renschnitts anerkannt. Nun veröffentlichte sie zahlrei- bedauert. Sie war diejenige in der Familie, die ihm
che Aufsätze zur Kunst, Opernlibrettos, Novellen, Ro- letztlich am nächsten stand, auch wenn er sie auf Dis-
mane sowie eine Sammlung von Haus-, Wald- und tanz gehalten hatte.
Feldmärchen (1844). 1845 erschien ihr Roman Anna. Arthur Schopenhauers grandioses philosophisches
An den literarischen Erfolg der Mutter, deren nicht Werk ist auf den Trümmern einer zerrütteten Familie
vollendete Memoiren sie herausgab, konnte sie jedoch entstanden, die mit seinem Tod 1860 endgültig erlosch.
nicht heranreichen. Auch von den näheren Danziger Verwandten lebte kei-
Mit Sybille Mertens hatte sie endlich auch jenen ner mehr. »Du wirst der letzte der Abenceragen« (Lüt-
Menschen gefunden, von dem sie voll angenommen kehaus 1998, 430), hatte ihm schon die Schwester in
wurde. Bei ihr legte sie auch den kleinen Rest von Ver- Anspielung auf Chateaubriand prophezeit. Die eigenen
mögen an, der ihr nach Abbau der mütterlichen Schul- Erfahrungen waren eine Ursache dafür, dass Schopen-
den geblieben war. Überschattet wurden ihre letzten hauer die Gründung einer Familie für eine Form der
Jahre durch einen sich verschlimmernden Unterleibs- Fremdbestimmung und für unvereinbar mit einer phi-
krebs. Als die Krankheit 1844 endgültig ausbrach, gab losophischen Existenz hielt: »Zu dem, was einer hat«,
sie ihre Wohnung in Jena auf und zog für drei Jahre schreibt er in den »Aphorismen zur Lebensweisheit«,
nach Italien, wo sich auch Sybille die meiste Zeit auf- »habe ich Frau und Kinder nicht gerechnet; da er von
hielt. In der dortigen deutschen Gelehrten- und Intel- diesen vielmehr gehabt wird« (P I, 374).
lektuellenszene wurde sie eine bekannte Figur. Die Be-
schäftigung mit Kunst wurde ihr Hauptanliegen. Literatur
Adele und Arthur Schopenhauer blieben in den Bergmann, Ulrike: Johanna Schopenhauer – »Lebe und sei so
1840er Jahren brieflich in Verbindung. Neben dem glücklich als Du kannst«. Leipzig 2004.
Büch, Gabriele: Alles Leben ist Traum – Adele Schopenhauer.
unvermeidlichen Thema der familiären Vermögens- Berlin 2002.
verwaltung wurde nun auch Adeles Krankheit zum Cartwright, David E.: Schopenhauer. A Biography. New York
Thema. Arthur Schopenhauer hat dennoch seine 2010.
Schwester nie zu nah an sich herangelassen, obwohl Detemple, Siegfried u. a.: Die Schopenhauer-Welt. Ausstel-
diese großes Verständnis für das Werk des Bruders lungskatalog der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz.
Frankfurt a. M. 1988.
entwickelte, den sie als »tiefen, heiligen Denker« (Lüt-
Hübscher, Arthur: Adele an Arthur Schopenhauer. Unbe-
kehaus 1998, 458 f.) bezeichnete und dessen Mitleids- kannte Briefe I. In: Schopenhauer-Jahrbuch 58 (1977),
ethik sie unterstützte. Sie besuchte ihn 1842 in Frank- 133–186.
furt, wo er sich, nach einem Jahr in Mannheim, seit Hübscher, Arthur: Adele an Arthur Schopenhauer. Unbe-
1833 endgültig und für den Rest seines Lebens nieder- kannte Briefe II. In: Schopenhauer-Jahrbuch 59 (1978),
gelassen hatte. Es sollte einer von zwei Besuchen im 110–165.
Lütkehaus, Ludger (Hg.): Die Schopenhauers. Der Familien-
letzten Lebensjahrzehnt der Schwester bleiben. 1849, briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und
kurz vor ihrem Tod, hat sie den Bruder noch einmal Johanna Schopenhauer [1991]. München 1998.
besucht und mit ihm Testamentarisches besprochen. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
Arthur hatte sich ganz auf das Leben eines vom eige- Philosophie. Eine Biographie. München 1987.
nen Vermögen lebenden Privatiers eingestellt. Eine zu Schopenhauer, Adele: Tagebuch einer Einsamen. München
1985.
enge räumliche Nähe zur Schwester betrachtete er als
Schopenhauer, Johanna: Im Wechsel der Zeiten, im Gedränge
Störung. Sein vorrangiges Lebensinteresse war sein der Welt. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe [Ihr
Werk und dessen finanzielle Absicherung – mensch- glücklichen Augen. Jugenderinnerungen, Tagebücher,
liche Bindungen standen dahinter zurück. Briefe. Berlin (DDR) 1979]. Düsseldorf/Zürich 2000.
Adele Schopenhauer zog in den letzten beiden Jah- Siegler, Hans Georg: Der heimatlose Arthur Schopenhauer.
ren ihres Lebens wieder nach Bonn und wurde dort Jugendjahre zwischen Danzig, Hamburg, Weimar. Düssel-
dorf 1994.
von Sybille Mertens gepflegt. Sie starb am 25. August
Steidele, Angela: Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer
1849. Ihr Begräbnis in Bonn fiel auf den 100. Geburts- und Sybille Mertens. Berlin/Frankfurt a. M. 2010.
tag Goethes. Adele vermachte ihrem Bruder verschie- Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer
dene Gegenstände aus dem Familieneigentum und Weltbürger. München 2010.
Teile ihres Geldvermögens. Die Abwicklung ihrer
Robert Zimmer
Erbschaftsangelegenheiten übernahm Sybille Mer-
8 I Leben

2 ›Europäische Erziehung‹ und das lektuellen, auf eine theoretische, akademische Ausbil-
Leiden an der Welt dung ausgerichtet war. Verbunden mit der Absicht, den
Sohn zum Erben und Nachfolger des Schopenhauer-
schen Handelshauses zu erziehen, war es zunächst das
Die elterliche und schulische Erziehung
Bemühen des Vaters, ihn zu einem gewandten und ge-
Der junge Arthur Schopenhauer besaß zum einen­ bildeten Gesellschaftsmenschen zu machen. Dem ang-
eine außerordentlich ausgeprägte Sensibilität für lophilen Vater schwebte das Bild des erfolgreichen Ge-
menschliche Leiderfahrung, die noch verstärkt wurde schäftsmanns mit dem Profil eines englischen Gentle-
durch eine von väterlicher Seite ererbte Disposition zu man vor. Der Sohn sollte ein Mann von Welt werden.
Angstzuständen und Depressionen. Der junge Arthur Schopenhauer lernte Reiten,
Zum anderen erlebte der junge Schopenhauer im Tanzen, Fechten, Schwimmen und das Musizieren auf
Elternhaus eine große Offenheit gegenüber kulturel- der Flöte, dazu die Umgangsformen der höheren
len Einflüssen aus Westeuropa, die auch seine eigene Stände. Er wurde vom Vater ermahnt, sich bei Tisch
Einstellung prägen sollte. Anders als die meisten zeit- gerade zu halten, um nicht als »verkleideter Schuster
genössischen Philosophen in Deutschland hat Arthur oder Schneider« zu gelten (Lütkehaus 1998, 64), sich
Schopenhauer eine Erziehung genossen, die, begüns- sprachlich vollendet auszudrücken und eine korrekte
tigt durch mehrere Reisen und Ortswechsel, weit über Handschrift einzuüben. Auf Reisen sollte er Tagebuch
den nationalen kulturellen Horizont hinausging und führen und den Eltern brieflich Bericht erstatten.
ihm Erfahrungen zugänglich machte, die nicht auf das Aber auch Literatur, Kunst und Theater gehörten früh
beschränkt blieben, was in einer normalen schu- zum elterlichen Erziehungsprogramm. Allerdings
lischen und häuslichen Erziehung vermittelt werden wurde der junge Arthur Schopenhauer immer wieder
konnte. Der junge Schopenhauer wurde früh mit der ermahnt, der schönen Literatur nicht zu viel Gewicht
Welt konfrontiert – mit dem Leben und der Kultur der beizumessen. Kunsterfahrung war standesgemäßer
europäischen Nachbarn ebenso wie mit den Schatten- Dekor und sollte als Repertoire in der gesellschaftli-
seiten des Lebens. Er verdankte dies nicht zuletzt der chen Konversation zur Verfügung stehen. Doch nicht
kulturellen Aufgeschlossenheit seiner Eltern. Gelehrsamkeit war gewünscht, sondern Weltläufig-
Schopenhauers Eltern, beide aus begüterten Danzi- keit, Gewandtheit und Sinn für Nützlichkeit.
ger Kaufmannsfamilien stammend (s. Kap. 1), sym- Die europäische Ausrichtung dieser Erziehung
pathisierten mit dem Denken der Aufklärung und wa- wird vor allem über kulturelle Erfahrungen, über
ren kulturell nach Westeuropa, insbesondere nach Fremdsprachen und über Reisen vermittelt. Bereits
England hin orientiert. Sie öffneten ihrem Sohn schon zur Zeit der ersten Schwangerschaft seiner Frau hatte
sehr früh den Blick für die gesamteuropäische Kultur. das Ehepaar Schopenhauer von November 1887 bis
Andererseits machten sich in der Erziehung des Va- Februar 1888 eine Englandreise unternommen. Hein-
ters, in der Schule, aber auch in der Lektüreerfahrung rich Floris Schopenhauer erwog ernsthaft den Gedan-
pietistische Einflüsse geltend, die einem pessimisti- ken, seinen Sohn in England zur Welt bringen zu las-
schen und resignativen Weltbild Vorschub leisteten sen, damit er die dortige Staatsbürgerschaft erhalten
und die Empfänglichkeit für Leiderfahrung förderten. könne. Dass er sich schließlich anders entschied und
Philosophisch bestätigt wurde dies in späteren Jahren noch rechtzeitig vor der Geburt nach Danzig zurück-
noch durch die Bekanntschaft mit indischem Denken, kehrte, hat sein Sohn später immer bedauert.
die Arthur Schopenhauer in jenen Jahren machte, als Beide Eltern verfolgten die politischen und literari-
er bereits an seinem Hauptwerk arbeitete und seinem schen Entwicklungen des späten 18. Jahrhunderts mit
Denken eine systematische Form gab. All dies führte Aufmerksamkeit. Sie sympathisierten mit den Errun-
dazu, dass Schopenhauers intellektuelles Profil eine genschaften der konstitutionellen Monarchie in Eng-
doppelte Prägung erfuhr: Sein metaphysischer Pessi- land ebenso wie mit der Französischen Revolution.
mismus war zeit seines Lebens von einem kulturellen Heinrich Floris Schopenhauer, der Vater, galt als pas-
Kosmopolitismus begleitet. sionierter Voltaire-Leser, die Mutter, Johanna Scho-
Grundlage der Weltläufigkeit Schopenhauers war ei- penhauer, war in ihrer Kindheit früh mit der zeitge-
ne, wie seine Mutter es in einem Brief von 1807 formu- nössischen englischen Literatur, darunter Swift und
lierte, »elegante Erziehung« (Lütkehaus 1998, 149), die Sterne, vertraut geworden. Sie besaß besonders gute
auf Standesbewusstsein und Lebenstüchtigkeit, und Kenntnisse des Englischen, da sie als junges Mädchen
nicht, wie bei vielen zeitgenössischen deutschen Intel- vom Prediger der Danziger englischen Gemeinde,
2  ›Europäische Erziehung‹ und das Leiden an der Welt 9

Dr. Jameson, in dessen Muttersprache und in eng- Arthur Schopenhauer lernt auf dieser Reise die
lischer Literatur unterrichtet worden war. großen europäischen Metropolen wie Amsterdam,
Der junge Arthur Schopenhauer konnte auch erste London, Paris und Wien nicht nur mit ihrem Kunst-
Fremdsprachenkenntnisse bereits von seinen Eltern und Kulturleben, sondern auch in ihrer Alltagskultur
erhalten. Französisch, die damalige lingua franca der kennen. Von besonderer Bedeutung für seine Be-
gebildeten Stände, sprachen und schrieben beide El- kanntschaft mit der englischen Gesellschaft und Kul-
tern. So waren es für den jungen Arthur Schopenhau- tur war dabei der dreimonatige Besuch eines eng-
er nicht die Grundsprachen der akademischen Welt, lischen Internats, dem »Eagle House« des Reverend
Griechisch und Latein, die er zuerst erlernt, sondern Lancaster in Wimbledon. Wie das Französische lernt
die lebenden Sprachen der europäischen Nachbarn, er bei dieser Gelegenheit auch das Englische im Land
Französisch und Englisch. Auch seine Lesegewohn- selbst perfekt sprechen und schreiben, eine damals
heiten wurden auf diese Art bereits in jungen Jahren keineswegs selbstverständliche Fähigkeit, die sich
europäisch ausgerichtet. Er verfolgte noch viele Jahre Schopenhauer in späteren Jahren immer wieder zu-
später das Projekt, Laurence Sterne ins Deutsche zu nutze machte. So wurde er zu einem regelmäßigen Le-
übersetzen. ser der englischen Presse, las englische Bücher im Ori-
Dass Schopenhauer Englisch und Französisch flie­ ginal und bot sich bei Verlagen als Übersetzer an.
ßend sprechen und schreiben lernte, verdankt er je- Noch wichtiger jedoch war eine grundlegende anglo-
doch vor allem ausgedehnten Auslandsaufenthalten. phile kulturelle Orientierung, die er sein Leben lang
1797 nahm Heinrich Floris seinen Sohn auf eine nach beibehielt. Arthur Schopenhauer suchte, sowohl auf
Frankreich und England führende Geschäftsreise mit Reisen als auch in Deutschland selbst, immer die
und setzte ihn bei französischen Geschäftsfreunden in Kommunikation mit Engländern und beurteilte auch
Le Havre ab, der Familie Grégoire de Blésimaire. Hier die kulturelle Landschaft in Deutschland von einer
bleibt der junge Arthur Schopenhauer zwei Jahre lang, den englischen Erfahrungen entnommenen Außen-
taucht in die französische Zivilisation ein, wird auf perspektive her.
Französisch unterrichtet und liest französische Litera- Nach Beendigung des Internatsbesuchs setzte der
tur. Auf diese Weise lernt er die Sprache perfekt. Zu- junge Arthur Schopenhauer die große Europareise ge-
dem macht er, trotz der Wirren der napoleonischen meinsam mit seinen Eltern fort, wobei er auch mehr-
Kriege, positive Erfahrungen mit der französischen fach Zeuge von Armut, Grausamkeit und Leid wurde
Zivilisation. Die französische Gastfamilie vermittelt – in einem Europa, dessen Unterschichten Lebens-
ihm jene emotionale Wärme, die er im eigenen Eltern- bedingungen unterworfen waren, die den Verhältnis-
haus nicht erlebt hatte. Mit dem gleichaltrigen Sohn sen in der Dritten Welt zu Beginn des 21. Jahrhun-
der Familie, Anthime, liest er gemeinsam französische derts entsprachen. Hier machte er Erfahrungen, die
Autoren und knüpft mit ihm eine Freundschaft, die dazu beitrugen, sein späteres pessimistisches Weltbild
bis ins Alter halten sollte. zu grundieren. In London wird er Zeuge einer Hin-
Es war die erste längere Auslandserfahrung, die Ar- richtung, das Amphitheater von Nîmes ruft in ihm
thur Schopenhauer schon in sehr frühem Alter mach- »den Gedanken an die Tausende längst verwester
te, aber es war keineswegs die letzte. Nach seiner Menschen herbey« (Schopenhauer 1987, 133), die
Rückkehr unternahmen die Eltern mit dem Sohn eine diese Ruinen in der Vergangenheit betreten haben. Im
vergleichsweise kleinere Reise, die sie von Juli bis Ok- südfranzösischen Toulon prägt sich ihm das Bild der
tober 1800 nach Mitteldeutschland und Böhmen angeketteten Galeerensträflinge ein. Gerade dieses Er-
führte. Die für Schopenhauer prägendste und längste lebnis wird Schopenhauer nie vergessen und Jahre
Reise ging von März 1803 bis August 1804 wiederum später zur Geburtsstunde seines metaphysischen Pes-
ins westeuropäische Ausland. Sie führte über die Nie- simismus ausdeuten: »In meinem 17ten Jahre, ohne
derlande zu einem längeren Aufenthalt in England alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des
und von dort wieder nach Kontinentaleuropa, über Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als
Frankreich, die Schweiz, Österreich, Böhmen zurück er Alter, Krankheit, Schmerz und Tod erblickte [...]
nach Deutschland. Um an ihr teilnehmen zu können, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines
hatte der Sohn seinem Vater versprechen müssen, den allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber die eines
Kaufmannsberuf zu erlernen und auf sein Vorhaben, Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am
sich auf ein akademisches Studium vorzubereiten, zu Anblick ihrer Qual sich zu weiden [...]« (HN IV (1),
verzichten. 96). Ob der damals 17-Jährige sich tatsächlich schon
10 I Leben

in der Nachfolge Buddhas sah, ist im Nachhinein Da lieg ich in Fesseln« (HN I, 1) deutet er Sexualität
schwer zu entscheiden. Tatsache ist jedoch, dass der bereits als im Gewand der Lust erfahrenes Leiden, als
junge Arthur Schopenhauer, im Gegensatz zu seiner eine Form der existentiellen Abhängigkeit, die in sei-
Mutter, seine Aufmerksamkeit während der Reise im- ner Willensmetaphysik philosophischen Ausdruck
mer wieder auf die menschliche Leidenserfahrung finden sollte.
und auf das Thema ›Vergänglichkeit‹ lenkt.
Nachdem die Familie 1793 von Danzig nach Ham-
Reisen und Bildungserfahrungen nach 1807
burg gezogen war, wird Arthur Schopenhauer von sei-
nem Vater in die Hamburger Privatschule des Dr. Run- Das Jahr 1807 markiert auf Schopenhauers Erzie-
ge geschickt, ein wohlhabenden Kaufmannssöhnen hungsweg eine Zäsur. Es ist das Jahr, in dem ihm end-
vorbehaltenes Erziehungsinstitut. Johann Heinrich lich erlaubt wird, die ungeliebte Kaufmannsausbil-
Christian Runge war im Geiste des Franckeschen Pie- dung abzubrechen und einen akademischen Ausbil-
tismus in Halle ausgebildet worden und brachte an dungsweg einzuschlagen. Erst in seinem 19. Lebens-
seine Hamburger Schule den Geist einer aufgeklärten jahr kann er sich diesen lange gehegten Wunsch mit
Volksbildung mit, verbunden mit einem pietistischen Zustimmung seiner Mutter erfüllen (s. Kap. 3). Inner-
Humanismus, der Religion als praktisches Moralbe- halb von zwei Jahren holt er das Abitur nach. 1809
wusstsein verstand. schreibt er sich zum Studium der Medizin und Natur-
Eine Verbindung von praktischer Moralität und wissenschaften an der Universität Göttingen ein. Von
gleichzeitiger Weltdistanz kommt auch beispielhaft im 1811 bis 1813 studiert er Philosophie an der Berliner
Werk des »Wandsbeker Boten« Matthias Claudius Universität und schließt 1813 mit einer an der Univer-
zum Ausdruck, den Arthur Schopenhauer über seinen sität Jena eingereichten Dissertation ab. In dieser Zeit
Vater kennenlernt. Dieser schenkt ihm die kleine 1799 holt er die klassische Bildung, insbesondere die Kennt-
erschienene Broschüre An meinen Sohn J., die Matthias nis des Griechischen und Lateinischen, so gründlich
Claudius für seinen Sohn Johannes geschrieben hatte, nach, dass er sich in den alten Sprachen vollendet
ein kleines Brevier von Lebensregeln im pietistischen schriftlich ausdrücken konnte.
Geist, das sich noch in Schopenhauers Nachlass fand. Dabei hat er seine naturwissenschaftlichen und an-
Auch ein Bild des Matthias Claudius hing in der Frank- thropologischen Studien auch durch außerakademi-
furter Wohnung des alten Schopenhauer. sche Erfahrungen zu ergänzen versucht. So besuchte
Claudius wird für den jungen Schopenhauer in ei- er im Winter 1812/13 mehrfach die Berliner Charité,
ner Phase wichtig, in der er befürchten muss, dass sei- um sich ein Bild von psychiatrischen Patienten in der
ne geistigen Interessen und seine Sehnsucht nach ei- damaligen »melancholischen Station« zu machen.
ner intellektuellen Existenz den Wünschen des Vaters Wie im Falle der Touloner Galeerensträflinge war er
zum Opfer fallen werden, der ihn als Nachfolger in der vom Los dieser Menschen tief betroffen, die sich teil-
Leitung seines Handelshauses vorgesehen hatte. Er ist weise ihrer Situation voll bewusst waren und auch
in keiner Weise mit sich im Reinen und spiegelt sein schriftliche Aufzeichnungen hinterließen. Er nahm zu
Leiden an der Welt in der Literaturerfahrung. In die- einzelnen von ihnen persönlich Kontakt auf, wie zu
sem Zusammenhang steht auch seine intensive Lektü- dem Patienten Haefner, dem er eine Bibel schenkte.
re der Romantiker, insbesondere Tiecks und Wacken- Für den Studenten Schopenhauer hatte diese Erfah-
roders. So wird Weltdistanz vermischt mit romanti- rung durchaus auch eine persönliche Komponente, da
schem Weltschmerz zu einem Grundgefühl des ju- er in seiner väterlichen Familie den Ausbruch psy-
gendlichen Arthur Schopenhauer: »Nichts soll Stand chischer Krankheiten und Depressionen in jeder Ge-
halten im vergänglichen Leben [...] Alles löst sich auf neration beobachten konnte. Anknüpfend an solche
im Strohm der Zeit [...] Es wird mit nichts Ernst im Erfahrungen rückte das menschliche Leiden ins Zen-
Leben: weil der Staub es nicht werth ist« (Lütkehaus trum seiner Metaphysik und Ethik.
1998, 115), schreibt der 18-Jährige 1806 an seine Mut- Sensibilität und Leidensanschauung hatten also die
ter in Weimar. Fundamente einer pessimistischen philosophischen
Die pessimistische Grundstimmung wird durch die Weltdeutung längst gelegt, als Schopenhauers Welt-
ersten sexuellen Erfahrungen nicht korrigiert, son- distanz noch vor Erscheinen seines Hauptwerkes Die
dern verstärkt. Schopenhauer erlebt sie als Kontroll- Welt als Wille und Vorstellung 1818 eine entscheidende
verlust und als Herabsinken in kreatürliche Ohn- Fundierung in der Begegnung mit ostasiatischer Phi-
macht. In dem frühen Gedicht »O Wollust, o Hölle [...] losophie und Religion erfuhr.
2  ›Europäische Erziehung‹ und das Leiden an der Welt 11

Schopenhauer hatte bereits während seines Studi- Ausdruck der Erkenntnis der metaphysischen Ein-
ums erste Kenntnisse der indischen Kultur erhalten heit des Willens.
(s. Kap. 3; 11). Nach Abschluss seiner Promotion, wäh- Schopenhauer hat auch nach Fertigstellung von Die
rend seines Aufenthalts in Weimar 1813/14, begann er, Welt als Wille und Vorstellung sowohl seine kosmopoli-
u. a. durch Anregung des Reußischen Rats Friedrich tische ›europäische‹ Orientierung als auch seine pessi-
Majer, sich intensiver mit indischer Religion und ins- mistische Weltsicht fortlaufend mit neuen Bildungs-
besondere mit dem sogenannten Oupnek’hat, der von erfahrungen, u. a. durch Reisen, das Erlernen von
dem Franzosen Anquetil-Duperron vorgelegten latei- Sprachen und durch Lektüre, komplementiert. Seinen
nischen Übersetzung der Upanischaden, zu beschäfti- europäischen Bildungshorizont erweitert er durch die
gen. Es handelte sich um eine Übersetzung, die sich intensive Beschäftigung mit zwei weiteren europäi-
selbst wieder auf eine persische Übertragung des ur- schen Kulturen: Das Italienische erlernt er auf zwei
sprünglichen Sanskrit-Textes stützte und die Upa- ausgedehnten Italienreisen, die er jeweils zwischen
nischaden in buddhistischem Gewand präsentierte. 1818 und 1819 und zwischen 1822 und 1823 unter-
Auf diesem Weg wurde Schopenhauer mit Grund- nahm. Neben dem Besuch der antiken Stätten wurde
gedanken des Hinduismus und des Buddhismus be- dabei vor allem die Begegnung mit dem Werk Giaco-
kannt, deren Kern für ihn die moralische Deutung der mo Leopardis wichtig, den er als einen der großen eu-
Welt als einen erlösungsbedürftigen Ort des Leidens ropäischen Pessimisten neben sich selbst gelten ließ.
und ihre erkenntnistheoretische Deutung als ein Ort 1825, als Schopenhauer in Berlin lebte und vergeb-
der Täuschung war. Diese pessimistische Deutung lich eine akademische Karriere anstrebte (s. Kap. 3),
floss ebenso in seine Philosophie ein wie die Forde- begann er außerdem, Spanisch zu lernen. Grund da-
rung, durch Kontemplation, Weltdistanz, Mitleid und für war, dass er die wichtigen Autoren des spanischen
Askese den Zirkel des Leidens zu überwinden, den Siglo de Oro im Original lesen wollte, so u. a. Calderón,
Schleier der Individuation zu lüften und zur Einheit al- der sowohl im Kreis der Jenenser Frühromantiker als
ler Lebewesen vorzudringen. auch im Weimar Goethes hoch geschätzt wurde und
Über das Studium von Fachzeitschriften, u. a. der den er als Pessimisten im christlichen Gewand las.
Asiatic Researches, und Fachliteratur erweitert Scho- Noch folgenreicher war allerdings die Begegnung mit
penhauer in den kommenden Jahren seine Kenntnis dem Pessimismus Baltasar Graciáns, den er zum Lieb-
östlicher Weisheitslehren, insbesondere des Buddhis- lingsautor erkor. Schopenhauer übersetzte in den fol-
mus. Im Alter hat er sich selbst als »Buddhaist« be- genden Jahren Graciáns Oráculo manual und Teile des
zeichnet und eine vergoldete Buddhastatue für seine allegorischen Romans El Criticón. Gracián wurde für
Wohnung erworben. In den Augen der Zeitgenossen Schopenhauer nicht nur wegen seiner pessimistischen
galt er als der »Buddha von Frankfurt«. In der Aus- Weltsicht, sondern auch als Vertreter der Tradition
einandersetzung mit den östlichen Weisheitslehren der Moralistik wichtig, der ihn zur Entwicklung einer
findet Schopenhauers »Leiden an der Welt« ihre end- pragmatischen Klugheitslehre in den Aphorismen zur
gültige ideologische Grundierung, die durch das Stu- Lebensweisheit anregte (s. Kap. 9.6; 15).
dium europäischer Mystiker wie Madame de Guyon, Schopenhauer bewegte sich gleichermaßen in der
Meister Eckhart oder des »Franckforters«, des Autors englischen, französischen, spanischen und italie-
der Theologia Deutsch, ergänzt wurde. Schopenhauer nischen Literatur und Philosophie. Dabei blieben
nahm für sich in Anspruch, den rationalen Kern Mystik, Moralistik und Aufklärung auf europäischer
der u. a. im Buddhismus und der christlichen Mys- Ebene drei der für ihn einflussreichsten ideen-
tik formulierten pessimistischen Weltdeutung erst- geschichtlichen Entwicklungen. Unter den Aufklärern
mals philosophisch zur Klarheit gebracht zu haben: waren es in England Hume, in Frankreich Voltaire
»Buddha, Eckhardt und ich«, so schrieb er 1856, und Rousseau, die er am höchsten schätzte. In seiner
»lehren im Wesentlichen das Selbe, Eckhardt in den Berliner Zeit verfolgte er u. a. das Projekt, englische
Fesseln der christlichen Mythologie. Im Buddhais- Werke wie Sternes Tristram Shandy und religionsphi-
mus liegen die selben Gedanken, unverkümmert losophische Schriften Humes zu übersetzen. Als regel-
durch solche Mythologie, daher einfach und klar, so- mäßiger Leser der europäischen Presse wie der Times
weit eine Religion klar sein kann. Bei mir ist volle blieb er kulturell ein Europäer, der die deutsche kul-
Klarheit« (HN IV (2), 29). Die im Tat twam asi turelle Szene mit der Distanz des Kosmopoliten be-
(»Dies bist du«) ausgedrückte Grundeinheit aller Le- trachtete. Er lese »wenig deutsches« (GBr, 413) be-
bewesen war für ihn wie die Seelenwanderungslehre schied er noch in einem Brief von 1857.
12 I Leben

Seine in Kindheit und Jugend erfahrene »elegante Tier mit Leiden verbunden waren. Sein ganzes Er-
Erziehung« hatte zudem zur Folge, dass Schopenhauer wachsenenleben hindurch hielt er Pudel. Jedem davon
sich auch in seinem Lebensstil von der professoralen gab er den Beinamen »Atman« und betonte dadurch
Existenz der meisten deutschen Philosophen abhob. dessen enge Beziehung zur buddhistischen Weltseele.
Er wurde nie ein reiner Stubengelehrter, sondern blieb, Schopenhauer gehörte auch zu den Mitbegründern
ästhetisch vielseitig interessiert, immer Teil einer urba- des Frankfurter Tierschutzvereins und unterstützte
nen, kunst- und kulturrezipierenden Öffentlichkeit. andere Tierschutzvereine im In- und Ausland. Sein
Sein Auftreten war immer das eines Mannes aus dem Leiden an der Welt und deren philosophische Aus-
gehobenen Bürgertum. Zwar fiel es ihm von früher Ju- deutung machten ihn zu einem auf Weltüberwindung,
gend an schwer, sein cholerisches Temperament zu zü- aber auch auf Leidenslinderung ausgerichteten Weis-
geln und zuweilen den Rahmen der Höflichkeit zu heitslehrer, der damit auch zu einem Anreger ökologi-
wahren. Doch noch im Alter wird Schopenhauer von schen Denkens wurde.
Zeitgenossen und Besuchern als ein, wenn auch etwas
altmodischer, »Herr« wahrgenommen, der perfekt im Literatur
Stile des späten 18. Jahrhundert gekleidet ist und die App, Urs: Schopenhauers Begegnung mit dem Buddhismus.
Kunst der Konversation beherrscht. In der Philosophie In: Schopenhauer-Jahrbuch 79 (1998), 35–58.
App, Urs: Schopenhauer’s Initial Encounter with Indian
seiner Zeit war Schopenhauer ein Solitär, in seiner kul- Thought. In: Schopenhauer-Jahrbuch 87 (2006), 35–76.
turellen Orientierung und seinem sozialen Auftreten Cartwright, David E.: Schopenhauer. A Biography. Cam-
blieb er ein Mann von Welt. bridge 2010.
Doch auch seine pessimistische Weltdeutung hatte Hübscher, Arthur: Jugendjahre in Hamburg. In: Schopen-
lebenspraktische Konsequenzen. So einzelgängerisch hauer-Jahrbuch 51 (1970), 3–21.
Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer:
seine Existenz auf den ersten Blick erscheinen mag, so
Gestern – Heute – Morgen. Bonn 31987.
führte die Anschauung des Leides doch zu einer um- Klamp, Gerhard: Schopenhauer als Europäer und Weltbür-
fassenden und auch tätigen Solidarität mit anderen ger. In: Schopenhauer-Jahrbuch 34 (1951/52), 48–54.
Lebewesen. Lütkehaus, Ludger (Hg.): Die Schopenhauers. Der Familien-
Aus der Überzeugung, dass alle Wesen miteinander briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und
in einer tieferen Einheit verbunden sind, alle Wesen Johanna Schopenhauer [1991]. München 1998.
Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
im Leiden vereint und jede moralisch gute oder
Philosophie. Eine Biographie. München 1987.
schlechte Handlung jedes andere Wesen mitbetrifft, Schopenhauer, Arthur: Reise-Tagebücher. Hg. von Ludger
hat Schopenhauer ein enges Verhältnis zu Tieren und Lütkehaus. Zürich 1987.
zum Tierschutz entwickelt. Im Zusammenhang mit Schopenhauer, Johanna: Reise durch England und Schott-
seiner Beschäftigung mit indischer Philosophie no- land. Frankfurt a. M. 1980.
tierte er bereits 1826: »Das Thier, das du jetzt tödtest Schopenhauer, Johanna: Promenaden unter südlicher Sonne.
Die Reise durch Frankreich 1804. Wien 1993.
bist du selbst, bist es jetzt« (HN III, 281). Die christli- Stollberg, Jochen (Hg.): »das Tier, das du jetzt tötest, bist du
che Auffassung, der Mensch sei zur Herrschaft über selbst...«. Arthur Schopenhauer und Indien. Begleitbuch zur
die Natur bestimmt und Tiere müssten als vernunft- Ausstellung anlässlich der Buchmesse 2006. Frankfurt a. M.
lose Wesen zweiter Klasse angesehen werden, lehnte 2006.
er strikt ab. Tiere waren für ihn Mitleidende an der Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer
Weltbürger. München 2010.
Welt. Deshalb wandte er sich vehement gegen alle
Handlungen und Tierversuche, die für das betreffende Robert Zimmer
3  Akademische Karriere und das Verhältnis zur akademischen ­Philosophie 13

3 Akademische Karriere und das demischen Welt ignoriert wurde, begann seine Hal-
Verhältnis zur akademischen ­ tung gegenüber der Universitätsphilosophie eine radi-
kale und polemische Form anzunehmen.
Philosophie
Akademisches Studium
Arthur Schopenhauer hat, von seiner Dissertation ab-
gesehen, sein Werk außerhalb der akademischen Insti- Schopenhauer war von seinem Vater ursprünglich für
tutionen und weitgehend unbeachtet von ihnen ge- den Kaufmannsberuf bestimmt worden (s. Kap. 1).
schaffen. Die Bedeutung der akademischen Welt für Seine in Hamburg auf der Privatschule des Johann
die Verbreitung von Philosophie konnte aber in einem Heinrich Christian Runge (s. Kap. 2) erworbene
Land, in dem es bis 1871 kein nationales kulturelles Schulbildung war auf praktische Fähigkeiten hin ori-
Zentrum und keine in nationalen Medien gebündelte entiert. So waren kaufmännisches Rechnen und neue-
kritische Öffentlichkeit gab, kaum überschätzt werden. re Fremdsprachen Teil des Schulcurriculums, nicht je-
Die weitaus überwiegende Zahl der bedeutenden doch die klassischen Bildungssprachen Griechisch
deutschen Philosophen des späten 18. und des 19. Jahr- und Latein. Der junge Schopenhauer hatte jedoch
hunderts waren Professoren im akademischen Dienst. schon sehr früh seinen Eltern gegenüber den Wunsch
Dies trifft insbesondere auf Kant, die Vertreter des geäußert, die Gelehrtenlaufbahn einschlagen zu dür-
Deutschen Idealismus, Fichte, Schelling, Hegel und fen, musste aber zunächst eine Kaufmannslehre be-
deren Schüler zu, also Vertreter jener philosophischen ginnen. Erst nach dem Tode des Vaters wurde dem
Richtungen, die die öffentlichen Debatten bestimm- 19-Jährigen mit Hilfe der inzwischen von Hamburg
ten. Die akademische Welt war in Deutschland das Fo- nach Weimar umgesiedelten Mutter die Möglichkeit
rum, das die Rezeption von Philosophie maßgeblich gegeben, den gewünschten akademischen Weg ein-
bestimmte. zuschlagen. Von 1807 bis 1809 hat Schopenhauer, in
Arthur Schopenhauer hingegen gilt als der Philo- einem nach kurzer Zeit abgebrochenen Aufenthalt am
soph, der wie kein anderer die akademische Philoso- Gymnasium in Gotha, vor allem aber mit Hilfe von
phie und ihre Vertreter aggressiv attackiert und diskre- Privatlehrern in Gotha und Weimar, die Grundlagen
ditiert hat. In einer Zeit, in der Staat und Kirche noch für ein aufzunehmendes Studium nachgeholt.
nicht getrennt waren und die christlichen Konfessio- Er folgte zunächst der mütterlichen Empfehlung,
nen und Landeskirchen noch großen Einfluss auf die entweder Medizin oder Jura zu studieren, um später
ideologische Ausrichtung der staatlichen Bildungs- einen Brotberuf ergreifen zu können. Zum Winter-
institutionen ausübten, sah Schopenhauer, der den jü- semester 1809/1810 schrieb er sich im Fach Medizin
disch-christlichen Monotheismus radikal ablehnte, die an der Universität Göttingen ein. Die 1734 gegründete
akademische Philosophie in einem unauflösbaren Di- Georgia Augusta galt als eine der fortschrittlichsten
lemma. Kern des Schopenhauerschen Vorwurfs, wie Universitäten im deutschsprachigen Raum und hatte
er ihn u. a. in seiner berühmten Abhandlung »Ueber vor allem auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ei-
die Universitäts-Philosophie« (s. Kap. 9.3) formulierte, nen hervorragenden Ruf. Hier lehrte u. a. Johann
war, die akademische Philosophie sei ab ovo korrum- Friedrich Blumenbach, der »Praeceptor Germaniae«
piert. Sie könne nicht der ihr eigenen Aufgabe der un- der Naturwissenschaften, Professor für Medizin und
bestechlichen Wahrheitssuche nachgehen, weil sie Mitglied der britischen Royal Society, der auch als der
vom Staat finanziert werde und sich dadurch an die Er- Begründer der Zoologie und Anthropologie gilt, aber
wartung der Obrigkeit verkauft habe, die christliche auch der Philosoph Gottlob Ernst Schulze, einer der
Lehrmeinung rational zu stützen. »In Folge hievon wichtigsten Kritiker des philosophischen Idealismus.
wird«, so Schopenhauer, »so lange die Kirche besteht, Schulze hatte mit seinem 1792 erschienenen Aeneside-
auf den Universitäten stets nur eine solche Philosophie mus eine viel beachtete Auseinandersetzung mit dem
gelehrt werden dürfen, welche [...] doch im Grunde transzendentalen Idealismus Kants vorgelegt. Fichtes
und in der Hauptsache nichts Anderes, als eine Para- Rezension dieses Buches wurde zu einer der Initial-
phrase und Apologie der Landesreligion ist« (P I, zündungen des Deutschen Idealismus.
150 f.). Dennoch hat Schopenhauer, vor allem aus Schopenhauer absolvierte in den vier Göttinger Se-
Gründen der Existenzsicherung, zeitweise selbst ernst- mestern ein naturwissenschaftliches Studium Ge-
haft versucht, an der Universität Fuß zu fassen. Erst als nerale, besuchte aber auch Veranstaltungen zur Phi-
dies scheiterte und sein Werk weiterhin von der aka- losophie und Geschichte. Für die Entwicklung der
14 I Leben

Schopenhauerschen Philosophie ist entscheidend, denen Fichte seine Philosophie präsentierte. Er ver-
dass sie auf einem intensiven Studium der empiri- sieht die Kollegmitschrift mit zahlreichen Randbe-
schen Wissenschaften aufbaut und sich nicht, wie u. a. merkungen, in denen seine zunehmende Distanz zu
bei Schelling oder Hegel, aus theologischen Denk- Fichte sichtbar wird. Er hört zwar auch Veranstaltun-
mustern entwickelt hat. Im Wintersemester 1809/10 gen zu Platon und zur Nordischen Poesie, doch es sind
hörte er u. a. »Naturgeschichte und Mineralogie« bei weiterhin die empirischen Wissenschaften, denen er
Johann Friedrich Blumenbach, »Anatomie« bei Adolf viel Zeit widmet. Er hört Experimentalchemie bei
Friedrich Hempel und »Geschichte der Kreuzzüge« Martin Heinrich Klaproth, über Elektromagnetismus
bei dem Historiker und Ethnographen Arnold Her- bei Paul Ermann und Ornithologie bei Martin Hin-
mann Ludwig Heeren. Im Sommersemester 1810 rich Lichtenstein. Spätestens seit diesem Zeitpunkt
folgten »Chemie« bei Friedrich Strohmeyer, »Physik« datiert Schopenhauers Beschäftigung mit Galvanis-
bei Johann Tobias Mayer und »Botanik« bei Schrader. mus und Magnetismus, mit denen er sich auch später
Im Wintersemester 1810/11 kamen »Physische Astro- im Zusammenhang mit seinem Willensbegriff aus-
nomie und Metereologie« bei Mayer und »Verglei- einandersetzte.
chende Anatomie« bei Blumenbach hinzu. Im Sommersemester 1812 setzt Schopenhauer ei-
Ab dem Wintersemester 1810/11 begann Schopen- nen geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt. Er be-
hauer, bei Gottlob Ernst Schulze Vorlesungen über sucht mehrere Veranstaltungen Friedrich August
Metaphysik und Psychologie zu hören. Schulze weckte Wolfs zur griechischen und römischen Literatur sowie
endgültig Schopenhauers Interesse an der Philoso- eine Vorlesung »Zur Geschichte der Philosophie wäh-
phie. Er empfahl ihm, mit dem Studium Platons und rend der Zeit des Christenthums« bei Schleiermacher.
Kants zu beginnen und prägte damit Schopenhauers Auch August Boeckhs Kolleg über Platon hat er, wenn
Blick auf die Philosophiegeschichte nachhaltig. Auch auch nicht regelmäßig, besucht. Zu den nachgewiese-
ist Schopenhauer über Schulze auf Fichte aufmerksam nen naturwissenschaftlichen Veranstaltungen dieses
geworden. Im Sommersemester 1811, seinem letzten Semesters gehören die Vorlesung über »Geognosie«
Göttinger Semester, hört Schopenhauer Schulzes bei Christian Samuel Weiß sowie »Zoologie« und
»Grundsätze der allgemeinen Logik«. Er belegt außer- »Entomologie« bei Lichtenstein.
dem »Physiologie« bei Blumenbach, »Reichsgeschich- Mit Fichte als akademischem Lehrer hatte er inzwi-
te« bei Lüder und »Ethnographie« bei Arnold Heeren. schen abgeschlossen. Für das Wintersemester 1812/13
Heeren war ein in Deutschland anerkannter Fach- ist noch einmal eine von einem Kommilitonen über-
mann für asiatische Kulturen. In seinem Ethnogra- nommene Kollegnachschrift zu Fichtes Rechts- und
phiekurs hat Schopenhauer erste Kenntnisse über die Sittenlehre erhalten, die mit Schopenhauers sarkas-
indische Gesellschaft erhalten, wenn auch indische tischen Randglossen versehen ist. Schopenhauer hat
Philosophie und Religion nicht im Mittelpunkt stan- zu diesem Zeitpunkt sowohl mit einer optimistischen
den (s. Kap. 2). Sicht der menschlichen Entwicklung und der Mensch-
Nach vier Semestern entschloss sich Schopenhauer, heitsgeschichte, als auch mit der christlichen Gottes-
Philosophie zum Hauptstudium zu machen. Angeregt vorstellung gebrochen. Fichte wird für ihn ein Beispiel
durch die Reputation Fichtes, der damals im Zenith jener von ihm geschmähten akademischen Philoso-
seines Ruhms stand, wechselte er zum Wintersemes- phen bleiben, die die Philosophie dazu benutzen, der
ter 1811/12 auf die noch junge, 1809 gegründete Berli- Religion ein rationales Mäntelchen umzuhängen.
ner Universität, deren Rektor Fichte inzwischen ge- Die einzige geisteswissenschaftliche Veranstaltung,
worden war. Schopenhauer betrieb aber auch hier die Schopenhauer im Wintersemester 1812/13 be-
seine Studien auf einer thematisch sehr breiten Basis sucht, ist die über »Griechische Alterthümer« bei
und nutzte das von renommierten, an die neue Uni- Wolf. Ansonsten widmet er sich wieder ganz den Na-
versität berufenen Fachgelehrten wie dem Zoologen turwissenschaften: »Physik« bei Ernst Gottfried Fi-
Martin Hinrich Lichtenstein, dem Altertumsforscher scher, »Astronomie« bei Johann Elert Bode und »All-
Friedrich August Wolf oder dem Theologen Friedrich gemeine Physiologie« bei Johann Horkel.
Schleiermacher vorgelegte Lehrangebot. Schopenhauers Studium fällt in die politisch turbu-
Im Wintersemester 1811/12 beginnt er sein Studi- lente Zeit der napoleonischen Kriege und der politi-
um der Fichteschen Wissenschaftslehre mit dem Kol- schen Neuordnung in Deutschland, in der auch die
leg »Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns und die Universitäten politisiert wurden. Doch Schopenhauer
Wissenschaftslehre«, eine der vielen Variationen, in betrachtete diese Ereignisse, sowohl während seines
3  Akademische Karriere und das Verhältnis zur akademischen ­Philosophie 15

Studiums als auch nachher, als Zaungast. Es gibt keine und Vorstellung. Im Mai 1818 schließt er bei Brock-
Zeugnisse dafür, dass er an diesen Ereignissen aktiv haus einen Vertrag über 800 Exemplare des Buches ab
teilnahm. Er war ein fleißiger und politisch in keiner und bricht im September 1818 zu einer Italienreise
Weise engagierter Student, der in einer Zeit, die durch auf. Die finanziellen Turbulenzen, in die die Familie
nationale Emotionen aufgeladen war, sich ganz der 1819 durch die Insolvenz des Danziger Handelshauses
Lektüre und dem Studium widmete. An antifranzösi- Muhl gestürzt wurde (s. Kap. 1), veranlassten ihn al-
schen Kundgebungen der Studenten in Göttingen, da- lerdings, Pläne für eine bürgerliche Existenz als Hoch-
mals Teil des von Napoleon geschaffenen Königreichs schullehrer zu schmieden, um sich zusätzliche Ein-
Westphalen, beteiligte er sich ebenso wenig wie an der nahmequellen zu verschaffen. Dass er nun den Kon-
nationalen Begeisterung, die an der Berliner Univer- takt zur Universität eher gezwungenermaßen und aus
sität den Befreiungskriegen voranging. rein pekuniären Gründen sucht, wird in einem Brief
Es waren jedoch genau diese politischen Ereignisse, an Muhl klar, in dem er dessen Zahlungsunfähigkeit
die Schopenhauers Besuch von Lehrveranstaltungen für die Lage verantwortlich macht, die ihn zwinge,
an der Universität nicht nur unterbrachen, sondern Philosophie gegen Bezahlung zu lehren: »Ihre Sto-
beendeten. Bereits das Sommersemester 1813 konnte ckung«, so Schopenhauer an Muhl am 28. Februar
nicht mehr ordnungsgemäß durchgeführt werden, so 1820, »zwingt mich mit meinem Wissen Handel zu
dass das Wintersemester 1812/13 das letzte Semester treiben« (GBr, 61).
wurde, in dem Schopenhauer Veranstaltungen an der Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr nach
Universität besuchte. Deutschland zieht er im Juni 1819 über Ernst Anton
Im März 1813 war in Preußen bereits der Land- Lewald, einen alten Studienfreund, der inzwischen in
sturm einberufen worden, um die aus Russland heim- Heidelberg lehrte, Erkundigungen über die Möglich-
kehrenden Truppen Napoleons zu bekämpfen. Im keit ein, sich an der dortigen Universität als Privatdo-
Mai 1813 flieht Schopenhauer die politisch aufgelade- zent zu etablieren. Ebenso wendet er sich an seinen al-
ne Situation in Berlin, geht zunächst nach Dresden, ten akademischen Lehrer Blumenbach in Göttingen
kurze Zeit später zur Mutter nach Weimar und quar- und an Lichtenstein in Berlin. Letzteren hatte er auch
tiert sich schließlich im Juni 1813 im Gasthaus »Zum in Weimar in privatem Rahmen kennengelernt. Lich-
Ritter« in Rudolstadt ein. Dort, versorgt mit Büchern tensteins Antwort ermutigt ihn, einen Versuch in Ber-
aus der Herzoglichen Weimarischen Bibliothek, ver- lin zu machen, wo, anders als z. B. in Heidelberg, keine
fasst er in wenigen Monaten seine Dissertation Ueber zusätzliche Habilitationsarbeit gefordert wurde, son-
die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden dern lediglich eine Probevorlesung, die in einer dis-
Grunde. Wegen der kriegerischen Auseinanderset- putatio pro venia legendi verteidigt werden musste.
zungen auf dem Weg nach Berlin und der dortigen Am 31. Dezember 1819 richtete Schopenhauer ein
unsicheren politischen Lage sendet er am 24. Septem- Habilitationsgesuch mit beigefügtem Lebenslauf an
ber 1813 die Dissertation an Heinrich Abraham Karl den Dekan der Berliner philosophischen Fakultät, Au-
Eichstätt, den Dekan der nahen Universität Jena. Von gust Boeckh. Er bittet diesen außerdem, ihn bereits für
dort erhält er am 13. Oktober 1813 das Doktordiplom das Sommersemester 1820 in den Vorlesungskatalog
mit der Bewertung »magna cum laude«. Die Disserta- aufzunehmen und seine Veranstaltung genau zu jener
tion ließ er in der Rudolstädter Druckerei Juncker in Zeit anzusetzen, in der Hegel auch seine Hauptvor-
500 Exemplaren drucken. lesung hielt – eine Forderung, die sich als unklug und
für seine akademische Karriere hinderlich erweisen
sollte.
Versuch einer akademischen Karriere
Schopenhauers Probevorlesung wurde für den
Im Anschluss an die Promotion unterbrach Schopen- 23. März 1820, 13 Uhr angesetzt. Thema waren die
hauer für einige Jahre den unmittelbaren Kontakt zur vier Arten von Ursachen, die auch im Mittelpunkt sei-
Universität. Finanziell war er inzwischen von den Ein- ner Dissertation gestanden hatten. Dem Habilitati-
künften einer akademischen Lehrtätigkeit unabhän- onsausschuss unter Vorsitz von Boeckh gehörten u. a.
gig, da er seit 1809 von seiner Mutter die Verfügung auch Hegel und Lichtenstein an. Mit Hegel kam es zu
über seinen Anteil des väterlichen Erbes erhalten hat- einem kleineren Disput über den Begriff des »Motivs«
te. So siedelte er nach dem endgültigen Zerwürfnis und der »animalischen Funktionen«, bei dem Scho-
mit der Mutter (s. Kap. 1) 1814 nach Dresden über penhauer durch Lichtenstein unterstützt wurde. Trotz
und verfasste dort sein großes Werk Die Welt als Wille des Disputs wurde ihm die venia legendi erteilt, vor-
16 I Leben

behaltlich einer weiteren von Schopenhauer diesmal schlugen ebenfalls fehl. 1827 erkundigte sich Scho-
öffentlich zu haltenden Probevorlesung, die noch im penhauer, zunächst über Friedrich Wilhelm Tiersch,
März 1820 stattfand. dann auf eigene Faust, nach Möglichkeiten einer Do-
Schopenhauer durfte nun an der Universität leh- zentur in Würzburg. Die von der Würzburger Univer-
ren, musste aber Zuhörer finden, die bereit waren, für sität eingeholten Informationen über ihn waren je-
die Teilnahme an seinen Veranstaltungen zu bezahlen. doch ungünstig. Sowohl der bayrische Gesandte in
Für das Sommersemester 1820 kündigte er im Lekti- Berlin, der Graf von Luxburg, als auch Karl von Savig-
onskatalog an, »universam philosophiam seu doctri- ny, der Schopenhauer noch aus seiner Berliner Zeit
nam de essentia mundi et mente humana« zu behan- kannte, vermittelten negative Eindrücke seiner Per-
deln. Die Veranstaltung fand, vor lediglich fünf Zuhö- son, wenn sie auch nichts über Schopenhauers Phi-
rern, an sechs Wochentagen statt. Im folgenden Win- losophie sagen konnten. Auch das in einem Schreiben
tersemester kündigte er eine Veranstaltung unter dem an Georg Friedrich Creutzer 1828 geäußerte Ansin-
gleichen Titel, diesmal fünfstündig an. Sie kam wegen nen, die Chancen in Heidelberg noch einmal zu son-
mangelnder Zuhörerschaft nicht zustande. Ebenso er- dieren, führte zu nichts. Schopenhauer blieb noch drei
ging es den angekündigten Veranstaltungen für die Jahre in Berlin, bis ihn die Cholera 1831 endgültig aus
folgenden drei Semester. Formal gehörte Schopen- der Stadt vertrieb.
hauer 24 Semester lang der Berliner Universität an.
Doch die vom Wintersemester 1826/27 bis zum Win-
Die Abwendung von der Universität und der Uni-
tersemester 1831/32 angekündigte Vorlesung über
versitätsphilosophie
»Die Grundlegung der Philosophie oder die Theorie
der gesammten Erkenntnis« kam nie mehr zustande. Schopenhauers akademische Karriere war nicht nur
So war sein erster Anlauf an der Berliner Universität daran gescheitert, dass eine hegelianisch dominierte
trotz erfolgreicher Habilitation gescheitert. Arthur Universitätsphilosophie ihn ignorierte. Auf seiner Seite
Schopenhauer hat in den 1820er Jahren noch mehr- trugen auch fehlende soziale Netzwerke und ein sozial
fach versucht, auch außerhalb Berlins akademisch Fuß ungeschicktes Auftreten dazu bei. Der ehemalige Hege-
zu fassen, auch nachdem sich seine finanzielle Lage lianer Karl Fortlage, selbst bestallter Philosophiepro-
wieder so gefestigt hatte, dass er auf ein zusätzliches fessor, hat später die Unwilligkeit der akademischen
Einkommen nicht mehr angewiesen war. Im Herbst Philosophie zugegeben, sich mit dem »Kernbeißer«
1821 stand er kurz vor einer Berufung in Gießen, doch Schopenhauer auseinanderzusetzen (GBr, 583).
diese ging an Joseph Hillebrand. 1823 bewarb sich Mit der endgültigen Übersiedlung nach Frankfurt
Schopenhauer mit Unterstützung Goethes, aber den- am Main 1833 hatte Schopenhauer die Hoffnung auf
noch vergeblich, in Jena, wo man Jakob Friedrich Fries eine akademische Karriere endgültig aufgegeben, zu-
aus politischen Gründen suspendiert hatte. Nach dem mal auch sein Werk nur sehr wenige Rezensionen
Vorlesungsdebakel in Berlin hatte er beschlossen, die hervorgerufen hatte. Die andauernde Nichtbeach-
Stadt für einige Zeit zu verlassen. Bereits im Januar tung seines Werks in der akademischen Öffentlich-
1822 kündigt er seiner Schwester an, er werde den keit verbitterte ihn zusehends und färbte auch seinen
Sommer in Dresden verbringen, »denn hier habe ich Blick auf die akademische Philosophie. In Erwartung
doch keine Zuhörer und habe seit 1 1/2 Jahren nicht einer baldigen zweiten und ergänzten Auflage seines
gelesen« (Lütkehaus 1998, 316). Im Mai 1822 bricht er Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung hatte
zu seiner zweiten Italienreise auf. Nach weiteren mehr- Schopenhauer bereits seit 1821 Entwürfe für eine
monatigen, von Krankheit geprägten Aufenthalten neue Vorrede verfasst, in denen der Ton gegen die
u. a. in München und Bad Gastein kehrt Schopenhauer akademische Philosophie zunehmend schärfer wird.
1825 nach Berlin zurück, um noch einmal den Versuch 1825 beklagt er sich, er sei der einzige Leser seines
zu unternehmen, sich als Dozent an der Universität Werks gewesen, »denn die Leutchen vom Fach auf
zu etablieren. Vom Wintersemester 1826/27 bis zum den Universitäten sind nicht für Leser zu rechnen«
Wintersemester 1831/32 hat Schopenhauer, immer ge- (HN III, 199).
nau zu der Zeit, in der Hegel sein Hauptkolleg las, re- Ab 1832 fokussiert sich Schopenhauers Polemik
gelmäßige Vorlesungen über die »prima philosophia« zusehends und explizit auf den Stand der Philosophie-
angeboten. Keine davon fand statt. professoren. Den Tenor seiner Haltung gegenüber der
Mehrfache Versuche in den späten 1820er Jahren akademischen Philosophie, die sich in seiner zweiten
einen Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten, Lebenshälfte verfestigte, formulierte er in seinem
3  Akademische Karriere und das Verhältnis zur akademischen ­Philosophie 17

Cholerabuch: »Man wird schon ein Mal einsehn, ten. Beiden hatte er in den Jahren 1837/38 jeweils eine
welch ein radikaler Unterschied ist zwischen einem Preisschrift zur Moralphilosophie (Ȇber die Frei-
Philosophen, dessen letzter Zweck die Wahrheit, und heit des Willens«/»Über die Grundlage der Moral«,
einem, dessen letzter Zweck die Professur ist« (HN IV s. Kap. 8) zukommen lassen. Die norwegische Aka-
(1), 97). Schopenhauer sieht sich auf der Seite der un- demie zeichnete ihn aus und verlieh ihm die Mitglied-
korrumpierten Wahrheitssucher gegenüber einer schaft, während die dänische seinen Beitrag u. a. mit
Phalanx bezahlter Lohndiener, die »von« der Philoso- dem Hinweis ablehnte, er habe »summos philoso-
phie, aber nicht »für« die Philosophie lebt. Es ist die phos« – gemeint sind die Vertreter des Deutschen
Philosophie Hegels und seiner Nachfolger, in der sich Idealismus – abschätzig behandelt. Während er nie
für ihn eine akademisch korrumpierte Philosophie im versäumte, die norwegische Sozietät zu rühmen und
Dienste der Staatsideologie idealtypisch verkörpert, seine Mitgliedschaft plakativ herauszustellen, warf er
während er sich selbst, als der in seinen Augen bedeu- der dänischen vor, die Wahrheit unterdrückt und dem
tendste Philosoph der Zeit und legitime Nachfolger »Ruhm der Windbeutel und Scharlatane« (E, XL) ge-
Kants, von der akademischen Welt bewusst ignoriert dient zu haben. Akademische Reaktionen auf sein
und verfolgt fühlt. In der schließlich 1844 veröffent- Werk waren ihm keineswegs gleichgültig.
lichten Vorrede zur zweiten Auflage der Welt als Wille
und Vorstellung fasst er die Gründe für seine ableh-
Späte Würdigungen
nende Haltung gegenüber der akademischen Philoso-
phie noch einmal zusammen: »Machen nun die Re- Schopenhauers Philosophie hat nie die Universitäten
gierungen die Philosophie zum Staatszwecke; so sehn dominiert. Doch wurde er im letzten Jahrzehnt seines
andererseits die Gelehrten in philosophischen Profes- Lebens, seit dem Erscheinen der Parerga und Paralipo-
suren ein Gewerbe« (W I, XVIII). Seine eigene Phi- mena 1851, zunehmend auch von der akademischen
losophie sei hingegen explizit nicht darauf eingerich- Welt wahrgenommen. Diejenigen, die dem Deutschen
tet, »daß man von ihr leben könne« (W I, XXVII). Es Idealismus nahestanden, blieben allerdings kritisch.
ist dies der Grundton, der auch Essays wie »Ueber die So kritisierte ihn Rosenkranz 1854 in dem in der Deut-
Universitäts-Philosophie« (s. Kap. 9.3) und »Ueber schen Wochenschrift erschienenen Aufsatz »Zur Cha-
Gelehrsamkeit und Gelehrte« beherrscht. rakteristik Schopenhauers«. Ludwig Noack, ein junger
Dennoch hat Schopenhauer auch in der Frankfur- Gießener Privatdozent, der zwischen Theologie und
ter Zeit den Kontakt mit Hegelianern nicht ganz ge- Philosophie hin- und herpendelte, sah in seinem zwei-
mieden und er blieb auch für akademische Anerken- bändigen Schelling und die Philosophie der Romantik
nungen keineswegs unempfänglich. 1837 wendet er von 1859 Schopenhauer weiterhin in der direkten
sich an die Königsberger Herausgeber einer geplanten Nachfolge Fichtes und Schellings. Doch das Schweige-
neuen Kant-Ausgabe, Karl Rosenkranz und Wilhelm kartell war gebrochen. Schopenhauer wurde zuneh-
Schubert, und fordert sie auf, die erste, nach Schopen- mend zum Gegenstand der Lehre und zum Thema von
hauers Meinung unverfälschte Version der Kritik der Preisschriften und Philosophiegeschichten. Karl Fort-
reinen Vernunft abzudrucken und kenntlich zu ma- lage, Lehrstuhlinhaber in Heidelberg, diskutierte ihn
chen. Als Rosenkranz seine Vorschläge weitgehend ausführlich in seiner 1852 erschienenen Genetischen
berücksichtigt, fühlt Schopenhauer sich seit Jahren Geschichte der Philosophie seit Kant. 1856 schrieb die
zum ersten Mal von der akademischen Community Universität Leipzig einen Essaywettbewerb über die
anerkannt und spricht dem »Geehrtesten Herrn Pro- Philosophie Schopenhauers aus, den der Theologiestu-
fessor« artig seinen »herzlichen Dank« aus – auch dent Rudolf Seydel gewann. Während Schopenhauer
wenn er sich in einem Brief vom 25. September 1837 Seydels Beitrag als ›Machwerk‹ ablehnte, gewann er in
die Bemerkung nicht hatte verkneifen können, er hof- dem Autor eines anderen Beitrags mit dem Titel Die
fe, dass Rosenkranz »das wankende Gebäude der He- Schopenhauersche Philosophie in ihren Grundzügen
gelei verlassen« (GBr, 169) werde. dargestellt und beleuchtet, dem jungen Jurastudenten
Exemplarisch für Schopenhauers Schwanken zwi- Carl Georg Bähr, einen seiner treuesten und von ihm
schen einer aggressiven Polemik gegen die hegelia- hoch geschätzten Anhänger (s. Kap. 27). Er lobte die
nisch dominierte Universitätsphilosophie einerseits Schrift als »die erste gründliche Diskussion meiner
und einem Streben nach akademischer Anerkennung Lehre« (GBr, 409). 1857 schließlich wurden sowohl in
andererseits ist sein Verhalten gegenüber der norwe- Bonn als auch in Breslau Lehrveranstaltungen über die
gischen bzw. der dänischen Sozietät der Wissenschaf- Schopenhauersche Philosophie abgehalten.
18 I Leben

Dennoch hat Schopenhauer bis zum Ende seines Hübscher, Arthur: Schopenhauer als Hochschullehrer. In:
Lebens aus seiner Verachtung für die von Staat und Schopenhauer-Jahrbuch 39 (1958), 172–175.
Kirche domestizierten Professoren keinen Hehl ge- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Bonn 31987.
Jimenez, Camillo: Tagebuch eines Ehrgeizigen. Arthur Scho-
macht und sich über deren Versorgungsmentalität penhauers Studienjahre in Berlin (11.8.2006). In: http://
mokiert, die er als ›Stallfütterung‹ bezeichnet. »Blicke www.avinus-magazin.eu/2006/08/11/jimenez-schopen
ich zurück«, so schrieb er am 21. März 1856 an den hauers-studienjahre/ (9.7.2014).
»Erzevangelisten« unter seinen Anhängern, Julius Koßler, Matthias: Philosophie im Auftrage der Natur und
Frauenstädt, »so sehe ich, wie meine Philosophie ganz Philosophie im Auftrage der Regierung – Schopenhauers
Kritik der Universitätsphilosophie. In: Schopenhauer-Jahr-
allein durch Nicht-Professoren dem Publiko bekannt
buch 94 (2013), 217–228.
geworden und mein Ruhm durch sie entstanden ist« Lütkehaus, Ludger (Hg.): Die Schopenhauers. Der Familien-
(GBr, 389). Entsprechend rekrutiert sich die Mehrzahl briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und
seiner Anhängerschaft bis heute aus der außerakade- Johanna Schopenhauer [1991]. München 1998.
mischen Leserschaft. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
Philosophie. Eine Biographie. München 1987.
Segala, Marco: Einführung: Auf den Schultern eines Riesen.
Literatur
Arthur Schopenhauer als Student Johann Friedrich Blu-
Cartwright, David E.: Schopenhauer. A Biography. New York
menbachs. In: Jochen Stollberg/Böker, Wolfgang (Hg.):
2010.
»... die Kunst zu sehn«. Arthur Schopenhauers Mitschriften
d’Alfonso, Matteo Vincenzo: Schopenhauers Kollegnach-
der Vorlesungen Johann Friedrich Blumenbachs (1809–
schriften der Metaphysik- und Psychologievorlesungen von
1811) (= Schriften zur Göttinger Universitätsgeschichte,
G. E. Schulze (Göttingen 1810–11). Würzburg 2008.
Bd. 3). Göttingen 2013, 13–40.
Estermann, Alfred: Arthur Schopenhauer. Szenen aus der
Umgebung seiner Philosophie. Frankfurt a. M./Leipzig Robert Zimmer
2000.
II Werk
4 Ueber die vierfache Wurzel des 1813 (vgl. HN I, 55–67). Andere Materialien befinden
Satzes vom zureichenden Grunde sich in den zeitgenössischen Kommentarheften zu
den Werken Schellings und Kants. Er brachte die Ar-
beit innerhalb weniger Monate zu Ende und legte sie
Die Studienjahre
der Universität Jena mit dem Titel Ueber die vierfache
Schopenhauers Dissertation Ueber die vierfache Wur- Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde vor. Am
zel des Satzes vom zureichenden Grunde ist der Schluss- 2. Oktober 1813 erlangte er so den Doktortitel in ab-
akt im Studium des jungen Philosophen. Schopen- sentia, und der Text wurde – mit dem Datum des vo-
hauer schrieb sich 1809 an der medizinischen Fakultät rigen Jahres – im Januar 1814 veröffentlicht. Das Ma-
der Universität Göttingen ein, entschied sich aber sehr nuskript der Dissertation und eventuelle vorbereiten-
bald – auch unter dem Einfluss des Professors für Me- de Fassungen sind verlorengegangen.
taphysik, empirische Psychologie und Logik Gottlob Unter den Bekannten, welchen er eine Kopie seiner
Ernst Schulze (1761–1833) – für die Philosophie. 1811 Arbeit zukommen ließ, befinden sich Schulze – wel-
beschloss Schopenhauer, nach Berlin zu ziehen, um cher das Buch rezensierte – und Goethe. Zusätzlich zu
die Vorlesungen von Johann Gottlieb Fichte (1762– dieser Rezension entstanden zwei weitere (vgl. Piper
1814), der Spitzenfigur der neugegründeten Univer- 1916, 167–186). Goethe war seinerseits dermaßen be-
sität in der preußischen Hauptstadt, zu hören. eindruckt von der Dissertation des Sohnes seiner
Schopenhauer war ein guter Kenner des Fichte- Freundin Johanna Schopenhauer – deren literari-
schen Denkens, hatte fast alle seine Werke gelesen und schen Salon er seit Jahren regelmäßig frequentierte –,
kannte sogar in groben Zügen den Inhalt der Berliner dass er wünschte, sich privat mit dem jungen Philoso-
Lehrveranstaltungen; diese hatte Schulze auf der Basis phen unterhalten zu können. Daraus entstanden re-
der Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse gelmäßige Treffen von Schopenhauer und Goethe, im
(1810), ein Büchlein, welches die Schlussvorlesung Zuge derer Goethe dem jungen Freund auch seine Ex-
aus Fichtes erstem Berliner Kurs wiedergab, in seinem perimente zur Farbenlehre zeigte (s. Kap. 19), und
Metaphysikkurs vorgestellt. Nach einer ersten Phase welche sich über den ganzen Winter 1813/14 hinzo-
gebündelter Aufmerksamkeit für die Vorlesungs- gen. Aus diesen Gesprächen entstand, nachdem Scho-
inhalte zeigt Schopenhauer eine wachsende Enttäu- penhauer infolge eines letzten heftigen Streits mit sei-
schung, die in Hohnsprüche auf dem Rand der Vor- ner Mutter nach Dresden gezogen war, seine Studie
lesungsnotizen mündet. Ueber das Sehn und die Farben (1816) (s. Kap. 5).
Neben den Vorlesungen Fichtes nahm Schopen-
hauer an verschiedenen Kursen teil, sowohl bei Na-
Die beiden Ausgaben (1813 und 1847)
turwissenschaftlern als auch bei Geisteswissenschaft-
lern und insbesondere beim Philosophen und Religi- Es existieren zwei Fassungen der Schrift Ueber die
onswissenschaftler Friedrich Schleiermacher (1768– vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde,
1834). In dieser Zeit hatte er darüber hinaus die die inhaltlich weitgehend miteinander übereinstim-
Möglichkeit, seine Kenntnisse der kantischen Phi- men und sich trotzdem in vielerlei Hinsicht voneinan-
losophie zu vertiefen und sowohl die Philosophie von der unterscheiden. Drei Jahre nachdem er die zweite
dessen beiden idealistischen Erben Fichte und Schel- Fassung von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844)
ling, als auch jene von deren Gegnern Jakob Friedrich in Druck gegeben hatte, legte sich der sechzigjährige
Fries (1773–1843) und Friedrich Heinrich Jacobi Schopenhauer – der damals schon seit über fünfzehn
(1743–1819) zu kritisieren. Bei Kriegsausbruch zog er Jahren in Frankfurt lebt – seine Dissertation abermals
sich in den kleinen Ort Rudolstadt zurück, um die für vor, um sie mit weitreichenden Umarbeitungen und in
den Erwerb des Doktortitels der Philosophie notwen- verdoppeltem Umfang erneut zu veröffentlichen. Er
dige Dissertation zu verfassen. Eine erste kohärente selbst kommentierte den eigenen Umgang mit seinem
Reihe von Reflexionen über das Thema der Disserta- Jugendtext mit folgenden Worten: »Mancher [wird
tion findet man im letzten Berliner Heft, Bogen L, von vielleicht] den Eindruck davon erhalten [...], wie wenn
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 21

ein Alter das Buch eines jungen Mannes vorliest, je-


Die Entstehung der Dissertation
doch es öfter sinken läßt, um sich in eigenen Exkursen
über das Thema zu ergehn« (G, VI). Seit der Veröffentlichung der Manuskripte der Berliner
Seitdem zirkulierte sowohl in Deutschland als auch und Dresdner Periode – zunächst durch Frauenstädt
im Ausland vor allem diese zweite Fassung und erst und später durch Hübscher – interpretierte man in der
1912 wurde die erste Niederschrift, dank der Werk- Forschung die Jahre unmittelbar vor und nach der Dis-
ausgabe von Paul Deussen, wieder veröffentlicht. Am sertation als jenen Zeitraum, in dem Schopenhauer ei-
Ende des Kapitels wird noch auf die Unterschiede zwi- ne erste Form von »Erlösungslehre« ausarbeitet, die
schen den beiden Versionen in einem Absatz ein- um den – anschließend fallengelassenen – Begriff des
gegangen werden, der der vergleichenden Analyse ›besseren Bewusstseins‹ kreist. Zeitlich gesehen stellt
beider Texte gewidmet ist, um so die Auswirkungen die Dissertation den Abschluss dieser ersten Schaf-
des schon vollendeten Systems auf die in der Vierfa- fensphase dar. Trotzdem wird in dieser Arbeit nur ein
chen Wurzel dargestellten methodologischen Prämis- Teil der vielen Themen behandelt, die für den jungen
sen deutlich zu machen. Philosophen wichtig waren, und zwar der auf das ›em-
In diesem Kapitel wird die Darstellung der The- pirische Bewusstsein‹ bezogene, während all das posi-
men der Dissertation vorzugsweise nach der ersten tive Potential, das die Theorie des ›besseren Bewusst-
Ausgabe durchgeführt, und zwar aus zwei verschiede- seins‹ bot und das das Subjekt mit dem Schönen und
nen Gründen: einem historischen und einem syste- Guten verbindet, hier absichtlich ausgeschlossen wird.
matischen. Vom historischen Standpunkt aus muss ›Besseres Bewusstsein‹ ist wahrscheinlich ein Ter-
man nämlich bedenken, dass Schopenhauer mehr als minus, der dem Begriff des ›höheren Bewusstseins‹
dreißig Jahre lang eine Veränderung der Inhalte des nachempfunden ist, wie ihn Fichte in der Sittenlehre
Werkes nicht für nötig hielt, das er schon in der ersten und in seinen Vorlesungen über die »Tatsachen des
Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung als Bewusstseins« (vgl. HN II, 26, 348) verwendet. Aber
Pflichtlektüre für das richtige Verständnis des eige- im Gegensatz zum Fichteschen ›höheren Bewusst-
nen Systems empfohlen hatte. In systematischer Hin- sein‹ ist das ›bessere Bewusstsein‹ in keiner Weise mit
sicht ist die Tatsache bedeutsam, dass Schopenhauer der theoretischen Tätigkeit verknüpft, denn es offen-
weder sein System noch seine Theorie des Willens bart sich nur in der ästhetischen Kontemplation oder
ausformuliert hatte, als er seine Dissertation verfasste. in der moralischen Handlung. Es handelt sich um ein
Da seine Überarbeitung von 1847 mit dem spezifi- Vermögen, durch welches das Subjekt das Übersinn-
schen Ziel durchgeführt wurde, die epistemologi- liche in seinen weltlichen Ausprägungen erfassen
schen Grundlagen des Systems angesichts der Theorie kann. Dieses ist dem ›empirischen Bewusstsein‹ ent-
des Willens zu aktualisieren, erscheint es besser, zu- gegengesetzt, das sich auf den Bereich bezieht, in dem
erst die Reflexion über das Prinzip vom zureichenden wir unsere theoretischen Vermögen – Sinnlichkeit,
Grunde in Angriff zu nehmen, wobei man von den Verstand und Vernunft – ausüben; letztere binden uns
Inhalten des Systems zunächst absieht, um erst in ei- an die phänomenale Welt von Raum und Zeit, indem
nem zweiten Schritt zu überprüfen, in welchem Maße sie die Vorstellungen vom Objekt bilden und verwal-
diese Grundlagen von einer Neuinterpretation berei- ten. Der Begriff des ›besseren Bewusstseins‹ ver-
chert werden können, welche die Willensmetaphysik schwindet aus Schopenhauers Notizen gegen Ende
mitberücksichtigt. Die Darstellung der ersten Aus- 1814, und obwohl Schopenhauer den erlösenden
gabe ermöglicht es also, den Wert zu betrachten, den Wert bewahrt, den Kunst und Moralität für den
die Untersuchung des Prinzips vom zureichenden Mensch besitzen, ist er in Die Welt als Wille und Vor-
Grunde für die Genese des Systems innehat, somit stellung nicht mehr zu finden.
auch ihre Rolle als Einführung in das System. Einer Man hat daraus gefolgert (vgl. Kamata 1988), dass
Analyse der zweiten Ausgabe käme dagegen eher die Schopenhauer sich eben anlässlich der Niederschrift
Funktion zu, darzustellen, wie das System die alte Ab- der Dissertation – in der die Formulierung nicht auf-
handlung über das Prinzip vom zureichenden Grun- taucht – von diesem Begriff distanziert hat. Umge-
de bestätigt oder widerruft. kehrt hat man aber auch die Hypothese aufgestellt,
dass Schopenhauer während seiner Arbeit an der Dis-
sertation den Begriff des ›besseren Bewusstseins‹
nicht ablegt, sondern sich eher für eine tiefgehende
Untersuchung von dessen Pendant – dem ›empiri-
22 II Werk

schen Bewusstsein‹ – entscheidet, um in erster Instanz bau in Schwierigkeiten geriet. Das hatte schließlich
die epistemologischen Strukturen der Empirie zu ana- Aenesidemus-Schulze – der Göttinger Lehrer Scho-
lysieren (vgl. De Cian 2002). Die Dissertation würde penhauers – in seiner Kritik an Kant und Reinhold ans
nämlich noch vollständig zu einer gespaltenen Sicht Licht gebracht. Aber bereits Maimon und Jacobi hat-
auf die Welt gehören, deretwegen Schopenhauer ge- ten – zusammen mit der Problematik des Begriffs vom
zwungen ist »das Beste im Menschen, ja dasjenige wo- Ding an sich – in verschiedenen Hinsichten auf die
gegen die ganze übrige Welt sich verhält wie ein Schat- zweideutige Rolle aufmerksam gemacht, die die Kate-
ten im Traum« (Diss, 132) momentan von seiner Un- gorie der Kausalität bei Kant spielt. Diese Debatte hat-
tersuchung auszuschließen. Für die beim Verfassen te gut zwanzig Jahre zuvor den Fichteschen Idealismus
der Dissertation verwendete Methode gilt also die und somit schließlich die Systeme von Schelling und
Vorgabe, die er im Berliner Kommentar der Fichte- Hegel mit angestoßen. Es erscheint daher fast sicher,
Lektüre notiert hatte: »So wird der wahre Kriticismus dass Schopenhauers Ablehnung der idealistischen
das beßre Bewußtseyn trennen von dem empirischen, Wendung des Kritizismus – dessen Geburtsstunde ge-
wie das Gold aus dem Erz, wird es rein hinstellen ohne nau die Verneinung des Dings an sich und die Deduk-
alle Beimengung von Sinnlichkeit oder Verstand [...]: tion der Kategorien aus der Aktualität des Ichs war –
dann wird er das empirische auch rein erhalten, nach ihn dazu zwingt, die Kategorie der Kausalität und ihre
seinen Verschiedenheiten klassifiziren« (HN II, 360). für die Welt der Vorstellung konstitutive Funktion neu
Deshalb wird Schopenhauer den Begriff des ›bes- zu definieren. In den Reflexionen, die die Nieder-
seren Bewusstseins‹ erst ungefähr ein Jahr nach der schrift der Dissertation vorbereiten und begleiten, ist
Veröffentlichung der Dissertation definitiv ad acta le- ein klares Anzeichen dafür die Tatsache, dass die ers-
gen, zu einer Zeit, in der er im Willen den metaphysi- ten Notizen über die begriffliche Verwechslung des
schen Grund der Welt erkennt und die Gleichwertig- kausalen Verhältnisses mit dem Verhältnis zwischen
keit von Wille und Ding an sich formuliert (vgl. HN I, Grund und Folge genau in den Kommentaren zu den
§ 278, 169; De Cian 2002). Dies wird der theoretische Werken von Kant und Schelling auftreten (vgl. HN II,
Angelpunkt sein, der dem noch auszuarbeitenden 272–273, 317–318, 336).
System Einheit verleihen wird (vgl. Decher 1996). Weniger voraussehbar ist die Radikalität, mit der
Trotz der berühmten Notiz von 1813 – einer der letz- sich Schopenhauer entscheidet, das Problem in An-
ten aus Berlin –, die seine ›Schwangerschaft‹ mit ei- griff zu nehmen, und die zur eindeutigen Originalität
nem System ankündigt (vgl. HN I, § 92, 55), ist dessen der gefundenen Lösungen führt. Er zeigt in der Dis-
Geburt noch weit entfernt. Einstweilen muss sich der sertation in der Tat eine außergewöhnliche ana-
junge Schopenhauer mit der Niederschrift einer »Ele- lytisch-systematische Begabung, deren Hauptergeb-
mentarphilosophie« begnügen (vgl. G, V), in der er nisse folgende sind: die Neubestimmung der kanti-
die erkenntnistheoretische Struktur der Welt als bloße schen Kausalitätskategorie, die Erneuerung der For-
Vorstellung darstellt. men des logischen Vernunftbegriffs, eine Reihe
unerwarteter Folgen auf der Ebene der Geometrie
und der Arithmetik und schließlich die ebenso ori-
Die Wahl des Themas
ginelle wie radikale Formulierung einer neuen Theo-
Dass Schopenhauer – der sich schon in den Jahren an rie der Motivation als Grundlage des menschlichen
der Universität deutlich in Richtung einer Wiederauf- Handelns. Die Tatsache, dass er die produktive Fähig-
nahme und Vertiefung der transzendentalen Perspek- keit des gesamten Spektrums der menschlichen Ver-
tive Kants orientiert hat – dem Problem der Kausalität mögen – Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft und Wol-
seine Abschlussarbeit widmet, ist nicht wirklich über- len – vollständig auf vier Aspekte eines einzigen, ka-
raschend. Kant war von der Kausalität ausgegangen tegorialen Prinzips zurückführen konnte, stellt eine
mit dem Ziel, ihren Wert als a priori gültigen gegen die Vorgehensweise dar, die die Schrift Ueber die vierfa-
empiristische Kritik Humes zu verteidigen und damit che Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde auf-
die Geltung der modernen Wissenschaften zu retten. grund ihres innovativen Potentials in epistemologi-
Und es war wiederum aufgrund der Kausalität, und scher Hinsicht in die Nähe der kantischen Dissertatio
zwar besonders im Falle der transzendenten Anwen- de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et princi-
dung, die Kant davon in der Bestimmung des Verhält- piis rückt. Es ist nicht überraschend, dass Schopen-
nisses zwischen Ding an sich und Erscheinung ge- hauer genau auf diesen Boden seine systematische
macht zu haben schien, dass der kantische Systemauf- Sicht gründen kann, ebenso wie Kant die Kritik der
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 23

reinen Vernunft (1781) auf der Basis der Dissertatio erlaubt, welche Schopenhauer als »Mutter aller Wis-
von 1770 entwickeln konnte. senschaften« (Diss, 7) bezeichnet. Nur der Satz vom
zureichenden Grunde gewährleistet, dass die Verbin-
dung unserer Erkenntnisse die Form eines wissen-
Die Struktur des Textes
schaftlichen Systems aufweist, so dass umgekehrt der
In der ursprünglichen Fassung von 1813 ist die Vierfa- Mangel an Strenge in seiner Anwendung unmittelbar
che Wurzel ein handliches Bändchen, das in acht Kapi- zu einem Mangel an Wissenschaftlichkeit führt.
tel unterteilt ist, die 59 Paragraphen enthalten. Das Um von einer provisorischen Bestimmung dieses
Werk setzt sich aus drei Teilen zusammen: einem ein- Gesetzes auszugehen, wählt Schopenhauer die Formel
leitenden Abschnitt (Kap. 1–3, §§ 1–17), bestehend aus des Leibnizianers Wolff: »Nihil est sine ratione cur poti-
Problemstellung sowie Darstellung und Kritik bisheri- us sit quam non sit. Nichts ist ohne Grund warum es
ger Abhandlungen des Themas durch andere Philoso- sey« (Diss, 7). Für den Satz vom Grund kann außer-
phen; einem zentralen Abschnitt (Kap. 4–7, §§ 18–49), dem nach Schopenhauer kein Beweis vorgebracht
in dem die Untersuchung des Themas im eigentlichen werden, da die Gültigkeit jedes Beweises auf ihm be-
Sinne durchgeführt wird, das heißt die Abhandlung ruht, so dass dieser die Voraussetzung der Beweisbar-
der vier Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grun- keit ist und seinerseits nicht bewiesen werden kann.
de, von denen jede als zuständig für die Verbindung Schopenhauer lässt dann die verschiedenen Ansätze
einer bestimmten Klasse von Vorstellungen dargestellt Revue passieren, in denen man von diesem Gesetz in
wird; und aus einem abschließenden Kapitel (Kap. 8, der gesamten philosophischen Tradition Gebrauch ge-
§§ 50–59), in dem Schopenhauer eine Reihe von Meta- macht oder es explizit behandelt hat. Seine schon kurz
reflexionen über die durchgeführte Untersuchung so- gehaltenen Argumente zusammenzufassend, lässt sich
wie die daraus folgenden Resultate präsentiert. sagen: Die aristotelische Unterscheidung der Gründe
oder Prinzipien (archai) hält Schopenhauer für voll-
ends willkürlich; als richtig aufgestellt beurteilt er hin-
Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes,
gegen dasjenige Axiom der scholastischen Philoso-
Erkundung der historischen Tradition und ihrer
phie, nach dem Nichts ohne Ursache sei, dieses bleibe
Mängel
aber in seinen Gründen unerforscht; er bemerkt, dass
Die Dissertation beginnt mit einer Erinnerung an die Descartes und Spinoza den Begriff der Ursache nicht
methodologischen Empfehlungen der beiden Haupt- deutlich von jenem des Grundes unterschieden haben,
leitfiguren Schopenhauers, Platon und Kant, in der obwohl sie beide häufig benutzen; bis schließlich durch
Philosophie nach den Gesetzen der Homogenität – Leibniz der Satz vom zureichenden Grunde deutlich
entia praeter necessitatem non sunt multiplicanda als »Grundsatz aller Erkenntniß« definiert werde.
(›man darf die Anzahl der seienden Wesenheiten Leibniz führe außerdem als erster eine klare Unter-
nicht unnötigerweise vergrößern‹ [Übers. nach Lud- scheidung zwischen zwei Anwendungen des Satzes
ger Lütkehaus]) – und der Spezifikation – entium va- ein: dem Verhältnis von Ursache und Wirkung und
rietates non temere esse minuendas (›man darf die dem Verhältnis von Grund und Folge. Wolff, der sei-
Mannigfaltigkeit der seienden Wesenheiten nicht nerseits nach Schopenhauer auch einiges verwechselt,
grundlos vermindern‹ [Übers. nach Ludger Lütke- übernimmt die Leibnizsche Unterteilung und unter-
haus]) – vorzugehen. Diese stellt Schopenhauer gleich scheidet – anhand der Analyse des Begriffs von princi-
als transzendentale Regeln des Erkennens dar. Ins- pium als id quod in se continet rationem alterius, d. h.
besondere sei das Gesetz der Spezifikation nicht er- etwas, das in sich den Grund eines anderen hat – drei
schöpfend auf den Satz vom zureichenden Grunde an- Prinzipien: die eigentliche sogenannte Ursache, das
gewendet worden. Es sei nämlich weder bemerkt wor- principium fiendi, das Prinzip des logischen Schlusses,
den, in welchem Maße die verschiedenen Bereiche der auch principium cognoscendi genannt, und schließlich
Anwendung dieses Satzes zur Bestimmung seiner be- ein drittes Prinzip, das für die bestimmten Eigenschaf-
sonderen Formen beitragen, noch die Tatsache, dass ten der Dinge verantwortlich ist und deshalb als princi-
diese Formen von Mal zu Mal von einem jeweils ande- pium essendi gilt. Diese Analyse bleibt für Schopen-
ren Erkenntnisvermögen geleitet werden. Und das hauer trotzdem ungenügend, da Wolff einerseits das
trotz der besonderen Bedeutung des Satzes vom zurei- Motiv einer Handlung, das er causa impulsiva oder ra-
chenden Grunde, die darin liegt, dass nur seine richti- tio voluntatem determinans nennt, nicht von der physi-
ge Anwendung eine Antwort auf die Frage ›Warum‹ schen Ursache unterscheidet, während er andererseits
24 II Werk

unter dem Namen des principium essendi etwas iso- ner bestimmten Handlung. Als Antwort bringt man
liert, was hingegen zur Welt der physischen Eigen- Gründe vor, welche genau genommen weder mit me-
schaften der Objekte gehört und somit mit vollem chanischen Ursachen noch mit einem Erkenntnis-
Recht in den Bereich der Kausalität fallen sollte. Ande- grund identifizierbar sind: Einerseits kann man aus
re Überlegungen wie die von Baumgarten, Lambert, keiner vorgebrachten Ursache einfach auf mecha-
Reimarus und Platner nehmen bisherige Unterschei- nische Weise irgendeine Entscheidung folgen lassen,
dungen ohne Erneuerung auf, bzw. tragen für Scho- andererseits haben aber die Entscheidungen ihren
penhauer mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung bei. Wert nicht im Bereich des Erkennens, sondern in dem
Kant schließlich, dem Schopenhauer hier das Ver- der Realität. Diese zwei Beispiele sollen zeigen, dass
dienst zuerkennt, die formale Logik von der Metaphy- der Satz der Spezifikation bislang nur unzureichend
sik (d. h. der Transzendentalen Logik) getrennt zu ha- auf den Satz vom Grunde angewendet wurde.
ben, unterscheide nur implizit die Anwendungen des Die Vorzüge und die Grenzen dieser historiographi-
Satzes vom zureichenden Grunde. Denn in der Logik schen Erkundung hat Rudolf Laun sehr gut gezeigt.
bestimme er den Satz vom zureichenden Grunde als Insbesondere hat er auf eine gewisse Einseitigkeit in
»Kriterium der äußern logischen Wahrheit oder der der Abhandlung des aristotelischen Standpunkts, so-
Rationabilität der Erkenntniß« (Diss, 18), während er wie auf die Übergehung von Crusius’ Entwurf der Noth-
in der Transzendentalen Logik den Satz als »Princip wendigen Veernunftwahrheiten (1745 und 1766) auf-
der Kausalität« (ebd.) auftreten lässt. Obwohl also merksam gemacht: »[Diese] fällt umso mehr ins Ge-
Kant den Unterschied beider Aspekte anerkenne, ver- wicht, als gerade dasjenige, was Schopenhauer in erster
wirre er sie durch die Art seiner Analyse wieder. Es Linie als Neues in seiner Arbeit betrachtet, die Lehre
handele sich übrigens um eine Ungenauigkeit, auf die vom Grunde des Seins, sich in ähnlicher Weise bereits
schon Schulze und Maimon hingewiesen hätten und bei Crusius findet« (Laun 1956, 36). Ein Mangel, für
die erst in den Logiklehrbüchern der kantischen Schü- den auch die Tatsache eine Rolle spielt, dass Schopen-
ler korrigiert wurde, vor allem in dem von Kiesewet- hauer seltsamerweise die Habilitationsschrift Kants
ter, der den ersten als logischen und den zweiten als Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova
realen Grund bestimme. dilucidatio von 1755 nicht zur Kenntnis genommen
Das Ergebnis dieser historischen Übersicht ist, dass hat, in der Kant bereits Crusius’ Standpunkt lobte.
im besten Fall allein zwei Formen des Satzes vom zu- Aber der Wert der Dissertation geht weit über die
reichenden Grunde richtig erkannt wurden – Er- einfache Unterscheidung der vier Formen oder über
kenntnisgrund und Ursache. Dazu meint Schopenhau- ihre Neubestimmung hinaus. Er besteht in der Dar-
er zwei weitere Fälle erkannt zu haben, in denen die stellung der transzendentalen Funktion des Satzes
Frage ›Warum?‹ berechtigterweise gestellt werden vom zureichenden Grunde und dessen Fähigkeit,
könne, ohne dass man auf diese durch Anführen eines dank seiner vier Wurzeln die ganze Welt der Erfah-
Erkenntnisgrundes oder durch Vorbringen einer Ursa- rung des erkennenden Subjekts zu begründen und
che antworten könne. Zum Beispiel kann der Grund, ausführlich zu gliedern. Nur innerhalb der vom Kriti-
aus dem in einem Dreieck auf die Gleichwinkligkeit zismus eröffneten transzendentalen Perspektive erhält
notwendigerweise die Gleichseitigkeit folgt, nicht diese Unterscheidung ihr ganzes Gewicht. Und so
mithilfe der Kausalität beschrieben werden: Denn, da kann Schopenhauer, als er zwölf Jahre nach der Ver-
im reinen Raum keine Veränderung stattfindet, kann öffentlichung seiner Abhandlung Kenntnis von Crusi-
man in ihm auch kein Verhältnis von Ursache und us’ Text erhält, diesbezüglich in seinem Manuskript-
Wirkung auffinden. Aber auch vor einem Erkenntnis- buch »Foliant« die Worte des Aelius Donatus notie-
grund steht man hier nicht, denn es geht gar nicht um ren: »Pereant qui ante nos nostra dixerunt« (›es mögen
einen rein begrifflichen Zusammenhang. Die notwen- wohl diejenigen sterben, die vor uns das, was wir sa-
dige Verbindung zwischen Gleichwinkligkeit und gen, schon mal sagten‹) (HN III, Foliant II, 297–298).
Gleichseitigkeit muss daher an anderer Stelle gesucht
werden, und zwar in der Seinsmodalität des Dreiecks.
Die vierfache Wurzel des Satzes vom
Nur weil das Dreieck genau so und nicht anders ist,
zureichenden Grunde
besteht ein bestimmtes Verhältnis zwischen Winkeln
und Seiten, und dieses Verhältnis betrifft diese selbst, »Unser Bewußtseyn, so weit es als Sinnlichkeit, Ver-
ihr reines Existieren im Raum. stand, Vernunft erscheint, zerfällt in Subjekt und Ob-
Ein wiederum anderer Fall betrifft das ›Warum‹ ei- jekt, und enthält, bis dahin, nichts außerdem. Objekt
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 25

für das Subjekt seyn, und unsre Vorstellung seyn, ist welche die physische Welt darstellen und Kants De-
dasselbe. [...] Aber nichts für sich Bestehendes und Un- finition zufolge »sowohl das Materiale als [auch] das
abhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Formale der sinnlichen Erscheinung [begreifen]. [...]
kann Objekt für uns werden: sondern alle unsre Vor- Sie sind, was die objektive reale Welt genannt wird«
stellungen stehn in einer gesetzmäßigen und der Form (ebd.). Form dieser Gegenstände sind Raum und Zeit:
nach a priori bestimmbaren Verbindung. Diese Verbin- Raum, da nur in diesem die Gleichzeitigkeit und dann
dung ist diejenige Art der Relation, welche der Satz auch die Dauer möglich ist; Zeit, weil nur in dieser die
vom zureichenden Grund allgemein genommen aus- Veränderung und daher auch die Abfolge der Zustän-
drückt« (Diss, 18). de stattfindet. Das Vermögen, das solch eine Synthese
von Raum und Zeit als radikal heterogener Elemente
Mit diesen Worten resümiert Schopenhauer sowohl erlaubt, ist der Verstand. Dank ihm, der allein den Ob-
die grundlegenden Annahmen als auch die These sei- jekten Existenz verleihe, herrsche in dieser Klasse von
ner Dissertation. Die erste erkenntnistheoretische Vorstellungen das Prinzip vom zureichenden Grunde
Annahme ist die des transzendentalen Idealismus: In des Werdens, die eigentliche Kausalität. Schopenhau-
seiner Formulierung klingt noch die Reinholdsche er bemerkt, dass die kausale Reihenfolge nicht zwi-
Definition der Vorstellung als jene elementare Tatsa- schen einzelnen Objekten gilt, sondern zwischen Zu-
che des Bewusstseins mit, in welchem Subjekt und ständen, das heißt zwischen Konfigurationen komple-
Objekt sich gleichzeitig voneinander unterscheiden xer Vorstellungen (in Bezug auf neuere Ansätze vgl.
und miteinander in Verbindung treten. In der Formu- Brunner 2008, 47 ff.), betont aber die Veränderung,
lierung der folgenden Annahmen aber zeigt Schopen- ein Zusammentreffen bestimmter Voraussetzungen.
hauer, dass er sich dem Idealismus viel weitergehen- Eine Verbrennung beispielsweise geschieht im Zuge
der als Reinhold anschließt. Die zweite lautet nämlich, des Zusammentreffens bestimmter Voraussetzungen,
dass die Welt der Objekte völlig mit der Welt der Vor- welche den Übergang von einem Zustand A in einen
stellungen übereinstimmt: Das Objekt ist die Vorstel- Zustand B herbeiführen: Hierunter fallen u. a. die An-
lung. Die dritte negiert, dass es Vorstellungen vom wesenheit von Sauerstoff und einer Wärmequelle –
Ganzen geben kann, losgelöst von einer Kette von aber keines dieser beiden Elemente kann für sich al-
Verbindungen mit anderen Vorstellungen. Schopen- lein genommen als Ursache der Verbrennung gelten,
hauer behauptet somit, dass jedes Objekt – egal wel- da nach Schopenhauer nur der ganze Zustand A ins-
cher Art – immer mit einem anderen Objekt durch ei- gesamt die Verbrennung als seine notwendige Wir-
ne Relation verbunden ist, die vom Satz vom zurei- kung bestimmt.
chenden Grunde in einer seiner Formen bestimmt Die Tatsache, dass Vorstellungen dieser Klasse für
wird. Der Begriff eines Absoluten, als etwas, was voll- das Subjekt reale Objekte sind und nicht bloße Phan-
ständig von jeder kausalen oder logischen Kette los- tasmen, d. h. rein aus unserer Einbildungskraft ge-
gelöst wäre, ist insofern absurd. Schließlich bestimmt schöpfte Bilder, hängt ihrerseits auch von der Anwen-
Schopenhauer auf der Basis der traditionellen Unter- dung des Kausalitätsprinzips ab. Vollständige Vorstel-
teilung unseres Erkenntnisvermögens in Sinnlichkeit, lungen stehen nämlich in einem kausalen Verhält-
Verstand und Vernunft, drei verschiedene Klassen nis zu einer besonderen Vorstellung – der unseres
von Vorstellungen, oder Objekten, die in Verbindung Leibes, den Schopenhauer als unmittelbares Objekt
gesetzt werden dank jeweils einer besonderen Form beschreibt. Im Wachsein ist nämlich der Leib für un-
des principium rationis sufficientis. Eine vierte Klasse ser Bewusstsein unmittelbar anwesend, jede andere
besteht allein aus dem wollenden Subjekt, dessen Ent- Vorstellung hingegen ist dies nur in vermittelter Wei-
scheidungen wiederum einer vierten Wurzel des Sat- se, also in einer irgendwie gearteten Verbindung zum
zes vom Grunde unterworfen sind. Leib. Der Verstand schreibt also einer Vorstellung ob-
jektive Existenz in Raum und Zeit zu, indem er unbe-
wusst das Prinzip vom zureichenden Grunde des
Das Prinzip vom zureichenden Grunde des
Werdens auf die Beziehung zwischen dieser Vorstel-
Werdens. Die objektive Welt unserer Erfahrung
lung und der unmittelbaren Vorstellung unseres Lei-
und der Verstand
bes anwendet. Dementsprechend werden auch die
Die erste Klasse von Objekten ist die »der vollständi- Veränderungen der Sinne – wobei die Vorstellungen
gen, das Ganze einer Erfahrung ausmachenden Vor- in Zusammenhang mit diesen auftreten – als Wirkun-
stellungen« (Diss, 21). Das sind jene Vorstellungen, gen einer äußerlichen Ursache auf den ›eigenen‹ Leib
26 II Werk

interpretiert. Dank dieser ständigen Anwendung des leiten kann; dies kann gleichermaßen sowohl durch
Kausalitätsprinzips nehmen wir eine uns äußerliche einen Blick vom Dach bis zur Grundmauer als auch
Welt als Ansammlung realer Gegenstände wahr, an- umgekehrt geschehen. Diese Operationen rufen zwei
statt nur Veränderungen eines einzigen Objekts – un- Reihenfolgen von Vorstellungen ins Leben, die die
seres Leibes – festzustellen. Es ist schließlich das Be- gleiche Erfahrung betreffen, einen gleichen Wert an
wusstsein jener kausalen Verbindung zwischen dem Realität haben, aber umgekehrt verlaufen und daher
Leib und den anderen Vorstellungen, das es uns er- für Kant in einer willkürlichen Weise gebildet sein
laubt, auch das Wachsein vom Traum zu unterschei- müssen. Die objektive Apprehension erläuterte Kant
den. Der Fluss von Vorstellungen in diesen beiden Zu- hingegen durch die Beobachtung eines Schiffes, wel-
ständen würde sich nämlich in der Art und Weise des ches vom Strom eines Flusses getragen wird. Hier ver-
einfachen Aufeinanderfolgens der Vorstellungen im läuft die Reihe der Vorstellungen ausschließlich vom
Bewusstsein gar nicht unterscheiden. Das Einzige, höheren Punkt des Flusses zum niedrigeren und nur
was sich dabei verändert, ist die Möglichkeit, eine kau- in der Phantasie kann man die Objektivität dieser Rei-
sale Verbindung zwischen den einzelnen Vorstellun- henfolge umkehren, d. h. das Schiff aufwärts fahren
gen und dem Leib zu stiften; denn im Wachsein kön- lassen. Die Objektivität der Folge wäre nämlich nach
nen wir uns diese Verbindung stets wieder ins Be- Kant durch den Beitrag der Kategorie der Kausalität
wusstsein rufen, im Schlaf jedoch nicht. abgesichert, die die jeweiligen Vorstellungen in einer
Analog zum Traum erzeugt auch die absichtliche festen Folge aneinander reiht, während die Reihenfol-
Wiedergabe der Vorstellungen durch die Einbildungs- ge bezüglich der Apprehension des Hauses das Ergeb-
kraft einen Fluss von Vorstellungen, die mit unserem nis einer willkürlich vom Subjekt durchführten Syn-
Leib nicht in kausaler Verbindung stehen: die Phan- these sei. Schopenhauer hält diesen von Kant gemach-
tasmen. Da es sich um willkürliche Erzeugnisse han- ten Unterschied für falsch. Denn in beiden Beispielen
delt, ist ihr Auftreten und Aufeinanderfolgen dennoch wäre eine objektive Veränderung zu beobachten, mit
nicht der Kausalität unterworfen, sondern einer ande- dem einzigen Unterschied, dass im Fall des Schiffes
ren Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, die auf dem Fluss, diese Veränderung zwischen zwei ver-
Schopenhauer später darlegt, nämlich der Motivation. mittelten Objekten – Schiff und Strom – besteht, wäh-
Schließlich widmet sich ein langer Paragraph aus rend sie im Fall des Hauses zwischen einem vermittel-
dem Kapitel über den Satz des zureichenden Grundes ten Objekt, dem Haus, und dem unmittelbaren Ob-
des Werdens einer gründlichen Kritik der kantischen jekt, dem Auge, das es beobachtet, stattfindet. Diese
Kategorie der Kausalität. Es handelt sich dabei um ei- beiden Folgen haben daher denselben objektiven
ne erste Reihe von Einwänden gegen die Kategorien- Wert und die Kausalität spielt keine Rolle in der Be-
lehre Kants, die Schopenhauer innerhalb weniger Jah- stimmung der Reihenfolge ihrer Apprehension.
re im berühmten Anhang mit dem Titel »Kritik der Die falsche Einschätzung Kants beruht, wie Scho-
Kantischen Philosophie« von Die Welt als Wille und penhauer darlegt, auf der unkorrekten Annahme, dass
Vorstellung erarbeiten wird (s. Kap. 6.7). die Reihenfolge der Vorstellungen ausschließlich in
Hier beschränkt er sich darauf, Kants Beweis der zwei Weisen stattfinden könne: entweder nach einer
Apriorität der Kausalität anzugreifen, der in der Kritik objektiven Regel, der Kausalität, oder nach einer sub-
der reinen Vernunft als einziges Kriterium a priori fun- jektiven, bzw. rein willkürlichen. Schopenhauer er-
giert, um eine bestimmte Folge festzulegen. Schopen- gänzt hingegen, dass es auch eine dritte Möglichkeit
hauer kritisiert Kant, weil dieser einerseits die Kausa- gibt, die Kant nicht in Betracht zieht, nämlich die zu-
lität zu sehr intellektualisiert habe und weil er ande- fällige Reihenfolge zweier Ereignisse. Es handelt sich
rerseits geschlossen habe, dass in jeder vom zeitlichen um unsere zeitlich aufeinanderfolgende objektive
Gesichtspunkt her objektiv bestimmten Folge die Vor- Wahrnehmung objektiv unabhängiger Ereignisse.
stellungen mit der Kategorie der Ursache in Verbin- Schopenhauer nennt als Beispiel die Apprehension
dung stehen müssten. Man kann die Kritik Schopen- der Reihenfolge des Sich-Lösens eines Dachziegels
hauers am besten verstehen, wenn man sie an dem und meines Heraustretens aus der Tür, so dass dieser
Beispiel betrachtet, das Kant vorbringt, um die objekti- meinen Kopf trifft. Zwischen dem Lösen des Ziegels
ve Apprehension der Reihe der Vorstellungen von der und meinem Heraustreten aus der Tür gibt es eindeu-
subjektiven zu unterscheiden. Die subjektive Appre- tig keine kausale Verbindung, dennoch bleibt die Rei-
hension wird durch die Abfolge der Vorstellungen er- henfolge der Vorstellungen nicht subjektiv, d. h., sie ist
läutert, die man aus der Beobachtung eines Hauses ab- nicht durch einen willkürlichen Willensakt von mir
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 27

erzeugt worden, denn sonst hätte ich sie gerne ganz wird ein fragliches auf ein unumstrittenes Urteil zu-
anders bestimmt und dabei meinen Kopf gerettet. rückgeführt, das den zureichenden Grund der Wahr-
heit des ersteren darstellt. Schopenhauer, der sich auf
seine Logikstudien bei Schulze und auf die Lehr-
Das Prinzip vom zureichenden Grunde des
bücher der kantischen Logik stützt, stellt hier in nuce
Erkennens. Die Begriffe und die Vernunft
seine Theorie des Schlusses dar, die er in Die Welt als
Die zweite Klasse der Vorstellungen ist die der Begrif- Wille und Vorstellung detaillierter ausführen wird.
fe. Diese werden durch Abstraktion von den vollstän- Diese Theorie beruht auf der Interpretation des Be-
digen, empirischen Vorstellungen gewonnen, indem griffs als diejenige Menge von Vorstellungen, die eine
deren individuelle Eigenschaften fallengelassen wer- bestimmte Eigenschaft aufweisen. Die Zurückfüh-
den, um nur ihre allgemeinen Züge zu bewahren. rung von einem Urteil auf ein anderes hängt für Scho-
Schopenhauer bezeichnet sie als Vorstellungen von penhauer mit der ›Subsumption‹ der entsprechenden
Vorstellungen, weil sie in der Lage sind, individuelle Begriffe untereinander zusammen.
Vorstellungen zu repräsentieren, indem sie deren Empirische Wahrheit besitzt hingegen das Urteil,
Platz im Gedankengang übernehmen. Die Begriffe wenn sein Fundament die Erfahrung ist. Dazu muss
können anschließend zu Urteilen verknüpft, und letz- man sich versichern, dass die zwischen den Begriffen
tere können ihrerseits zu Schlüssen verkettet werden. ausgedrückten Verhältnisse mit den zwischen den Ge-
Darin besteht das Denken, und die Vernunft ist das genständen existierenden Verbindungen überein-
Vermögen, das sowohl für die Erschaffung der Begrif- stimmen. Daher müssen nach Schopenhauer ebenso
fe, als auch für ihre Verbindung zu Urteilen bis hin zu viele Arten der Verknüpfung zwischen Begriffen wie
Schlüssen zuständig ist. Diese kommt nur dem Men- zwischen Vorstellungen existieren, die bei Kant durch
schen zu, während der Verstand – wenngleich weniger die Kategorien und ihren Zusammenhang mit der Ur-
entwickelt – auch bei Tieren zu finden ist. Um Begriffe teilstafel zum Ausdruck gebracht werden.
zu verbinden und aufzubewahren, bedient sich die Man kann hier den Unterschied zwischen der kanti-
Vernunft der Sprache, die daher ihr direkter Ausdruck schen Kategorie der Kausalität und dem Prinzip vom
ist. Zwar ist es aufgrund ihrer geringeren Menge an zureichenden Grunde des Werdens bei Schopenhauer
Merkmalen viel leichter, im Denken anstatt vollstän- deutlich erkennen. Die kantische Kategorie der Kausa-
diger Vorstellungen Begriffe zu verarbeiten, aber diese lität wird nach Schopenhauer tatsächlich nur zu einer
sind nie in der Lage, unsere Erkenntnis zu bereichern, begrifflichen Kopie der Kausalität als Prinzip vom zu-
da sie nur Derivate der intuitiven Verstandeserkennt- reichenden Grunde des Werdens. Letzteres stellt Ver-
nis sind. Schließlich ist der richtige Umgang mit den bindungen zwischen vollständigen, dem Ganzen der
Begriffen die Grundlage der Wissenschaften, welche Erfahrung zugehörigen Vorstellungen her und verleiht
aus ihnen und aus der Wiedergabe ihrer korrekten diesen Verbindungen außerdem durch die Herstellung
Verknüpfungen bestehen. einer kausalen Verbindung zwischen ihnen und unse-
Ziel der Wissenschaften ist es, zwischen Begriffen rem Leib die Existenz als Objekte in der realen Welt;
notwendige Verbindungen herzustellen, wodurch wah- die Kategorie der Kausalität verbindet dagegen nur Be-
re Urteile formuliert werden können. Die Wahrheit ei- griffe, das heißt abstrakte Vorstellungen in der Welt
nes Urteils hängt nun von einer besonderen Form des der Erkenntnis. Was diesen Punkt angeht, wird Scho-
Prinzips vom zureichenden Grunde ab, welche die penhauer in der Revision von 1847 eine tiefgreifende
richtige Verbindung zwischen Begriffen gewährleistet: Veränderung vornehmen, indem er die gesamte kanti-
Es ist das Prinzip vom zureichenden Grunde des Erken- sche Kategorientafel abwerten und die Kausalität als
nens, welches es erlaubt, diese Notwendigkeit zu stiften einzige wahre Kategorie bewahren wird. Für eine aus-
und die Frage zu beantworten, warum ein gewisses Ur- führliche Darstellung der Kritik an der kantischen
teil wahr ist. Je nachdem, ob die Antwort auf ein ande- Auffassung der Kategorien, die in der Dissertation nur
res Urteil oder auf einen empirischen Zustand oder auf implizit vorgetragen wird, muss man aber bis 1819
die Prinzipien der Logik oder schließlich auf das meta- zum besagten Anhang von Die Welt als Wille und Vor-
physische Prinzip des zureichenden Grundes verweist, stellung warten.
definiert Schopenhauer die Wahrheit jenes Urteils als Als dritten möglichen Grund eines wahren Urteils
logisch, empirisch, metalogisch oder metaphysisch. führt Schopenhauer die Voraussetzungen jeder mög-
Logisch oder formell ist die Wahrheit eines Urteils, lichen Erfahrung an. Es handelt sich um die einzigen
wenn sie auf einem Schluss beruht. In diesem Fall synthetischen Urteile a priori, wie die Axiome der
28 II Werk

Geometrie und die Urteile der Arithmetik, oder auch sieren, in der die Geometrie seit Euklid praktiziert
die Urteile »[n]ichts geschieht ohne Ursache« oder und gelehrt wurde. Da sie mit Gegenständen der rei-
»[z]wischen Ruhe und Bewegung ist kein Mittel- nen Anschauung zu tun hat, sollte das Ziel dieser Wis-
zustand« (Diss, 57). In Schopenhauers Klassifizierung senschaft in der anschaulichen Darstellung der not-
haben diese Urteile metaphysische Wahrheit. wendigen Verbindungen zwischen Teilen des Raumes
Schließlich können auch die Gesetze, die die Vo- bestehen, weshalb auch die Demonstration der Eigen-
raussetzungen des Denkens bilden, als Grund der schaften ihrer Figuren ohne Begriffe und allein mit-
Wahrheit eines Urteils gelten und stellen somit die me- hilfe der Anschauung durchgeführt werden sollte. Da-
talogische Wahrheit dar. Schopenhauer listet vier Ge- gegen sind die Sätze der Geometrie – also die Theo-
setze auf, die historisch zwar induktiv gewonnen wor- reme –, von den Axiomen abgesehen, traditionell de-
den sind, aber wider die man unmöglich denken kann: duziert, also in begrifflicher Weise bewiesen. Damit
stützt sich allerdings diese Wissenschaft auf den Satz
»1) ein Subjekt ist gleich der Summe seiner Prädikate, vom zureichenden Grunde des Erkennens und stellt
oder a = a; 2) Keinem Subjekt kommt ein Prädikat zu, eher eine Verbindung zwischen geometrischen Be-
welches ihm widerspricht, oder a = –a = 0; 3) Von jeden griffen dar, als eine Anschauung der wirklichen Eigen-
zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten schaften geometrischer Körper. In der Geometrie
muß jedem Subjekt eines zukommen; 4) Die Wahrheit führt dies nach Schopenhauer aber dazu, dass man
ist die Beziehung eines Urtheils auf etwas außer ihm. zwar die Überzeugung hat, dass sich etwas so verhält,
Dieses letztere ist eben der Satz vom zureichenden nicht aber die Einsicht, warum. Letzteres bewirkt nur
Grunde des Erkennens« (Diss, 57). die Erkenntnis des »Seynsgrundes« über die Anschau-
ung. Es war diese allgemeine Aufwertung der An-
schauung – für Schopenhauer die einzige Quelle wah-
Das Prinzip vom zureichenden Grunde des Seins.
rer Erkenntnis, auf die in jedem Fall das begriffliche
Die reinen Anschauungen von Raum und Zeit, die
Element zurückzuführen sei – die Goethe so positiv
Mathematik und die Geometrie
beeindruckte.
Als dritte Klasse der für das Subjekt bestehenden Ob-
jekte identifiziert Schopenhauer den formalen Teil der
Das Prinzip vom zureichenden Grunde des
vollständigen Vorstellungen, d. h. »die a priori gegebe-
Handelns. Motiv, Charakter und Wollen
nen Anschauungen der Formen des äußern und in-
nern Sinnes, des Raums und der Zeit« (Diss, 62). In Die letzte Klasse von Objekten wird nur durch ein ein-
der Zeit ist jeder Augenblick durch die Reihenfolge al- ziges Element gebildet – das Subjekt des Wollens. Das
ler vorherigen bestimmt und trägt dazu bei, alle fol- erkennende Subjekt selbst, insofern es nicht erkenn-
genden zu bestimmen. Gleichfalls bestimmt im Raum bar ist, denn es kann in keiner Weise zum Objekt ge-
die Lage jedes seiner Teile – Punkte, Linien, Flächen, macht werden, kann sich selbst nur als wollendes er-
Volumen – eindeutig jeglichen anderen Teil und wird kennen. Schopenhauer erklärt, dass der Satz ›Ich er-
von diesen aufgrund eines Analogons der Reziprozität kenne‹ analytisch sei und über das bloße ›Ich‹ hinaus
bestimmt. Aus diesem Grund hängen die Eigenschaf- nichts aussage. Auch die Tatsache, dass man in unse-
ten der räumlichen Figuren ausschließlich davon ab, rem erkennenden Ich verschiedene Vermögen wie
dass sie so und nicht anders aussehen. Schopenhauer Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft unterscheiden
bezeichnet den Satz, der die gegenseitigen Verhältnis- kann, stellt keine Ausnahme dar. Solche Vermögen
se der Teile der Zeit und des Raumes regelt, als Satz sind das bloß subjektive Korrelat bestimmter Klassen
vom Grunde des Seins. von Objekten, die durch Induktion erkannt werden
Genau darauf gründen sich die beiden Wissen- und keine Qualitäten des vom erkannten Objekt un-
schaften der Arithmetik und der Geometrie. Wenn er abhängig gedachten Ichs sind.
auf die zeitliche Reihenfolge angewendet wird, ruft Im Gegensatz dazu ist der Satz ›Ich will‹ synthe-
der Satz vom Grunde des Seins die Reihenfolge der tisch a posteriori, denn er wird formuliert dank der
Zahlen und die Arithmetik als Disziplin ihrer Verbin- inneren Erfahrung, die wir über die willentlichen Be-
dungen ins Leben, während aus seiner Anwendung wegungen unseres Leibes machen. Nun wirken die
auf räumliche Objekte die Geometrie als Wissenschaft Willensakte auf die Gegenstände der äußerlichen
von deren Eigenschaften entsteht. Schopenhauer hat Welt durch die willkürlichen (d. h. vom Willen voll-
hier Gelegenheit, gegen die Art und Weise zu polemi- zogenen) Bewegungen unseres Leibes ein und erzeu-
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 29

gen so Wirkungen, die sich in die von der Kausalität ums immer in fragmentarischer Art und Weise und
beherrschte Vorstellungskette eingliedern. Dies ist nie als kontinuierlicher Fluss erscheinen:
aber nicht der Fall für unser Wollen a parte priori, d. h.
den Grund der Entscheidung, so und nicht anders zu »Das Motiv ist also dem empirischen Charakter zurei-
handeln. Denn wenn wir jemanden fragen, warum er chender Grund des Handelns. Doch sind die Umstände,
eine bestimmte Handlung vollzogen hat, wird uns sei- welche eben Motive zum Handeln werden, nicht Ursa-
ne einfache Darstellung eines der Handlung voraus- che dieses als ihrer Wirkung, weil die Handlung nicht
gehenden Zustands wohl nicht reichen: Diese kann aus ihnen, sondern aus dem von ihnen sollicitirten em-
nämlich nicht in eindeutiger Weise seinen Entschluss pirischen Charakter erfolgt, welcher selbst nichts un-
begründen, so und nicht anders zu handeln. Vielmehr mittelbar Wahrnehmbares, sondern eben nur wieder
bleibt bei jeder Entscheidung – mit irgendeinem ihr aus den Handlungen zu Erschließendes und unvoll-
vorangehenden Stand der Dinge – die Gewissheit, kommen Zusammenzusetzendes ist« (Diss, 78).
dass er anders hätte handeln können, wenn er es nur
gewollt hätte. Für unsere willentlichen Handlungen Um dieses Phänomen zu veranschaulichen, verwendet
erklärt also die Beschreibung des vorausgehenden Schopenhauer eine Analogie zum Brechungsgesetz der
Zustands nicht die Entscheidung, eine gewisse Hand- Optik. Das Treffen eines gewissen Motivs auf den Cha-
lung tatsächlich zu vollbringen, sondern vielleicht rakter erzeugt eine Wirkung, welche gleich der Wir-
bestenfalls den Wunsch, sie zu unternehmen. Der kung ist, die ein Lichtstrahl erzeugt, wenn er einen
Grund einer willentlichen Handlung muss also an- bunten Körper trifft und von diesem nur partiell reflek-
ders bestimmt werden, es muss ein besonderes Prin- tiert wird, so dass dieser nur das Spektrum wiedergibt,
zip vom zureichenden Grunde des Handelns geben, das mit seiner Farbe übereinstimmt. Wenn wir tatsäch-
welches als Gesetz der Motivation gilt. lich den Charakter eines Subjekts genau erkennen
Um dann zu erklären, wie das Motiv in spezifischer könnten, dann wären wir im Falle der Kenntnis der auf
Weise auf das individuelle Wollen wirkt, greift Scho- dieses einwirkenden Motive in der Lage, jede seiner
penhauer zur kantischen Charaktertheorie, die ur- Handlungen einwandfrei und mit der gleichen Gesetz-
sprünglich in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt mäßigkeit vorauszusehen, mit der wir in der Welt der
und schon von Schelling in seiner Freiheitsschrift Objekte anhand bestimmter Ursachen das Auftreten
(1809) wieder aufgenommen wurde. Kant definierte bestimmter Wirkungen unfehlbar voraussehen.
als intelligiblen Charakter die Bestimmung des Cha- Diese Analogie hat aber nur einen partiellen Wert, da
rakters eines jeden Individuums an sich, außerhalb wir beim menschlichen Handeln keine Phänomene be-
der Zeit und des Raumes, und bezeichnete als empiri- obachten, die in die Welt der Gesetzmäßigkeit fallen,
schen Charakter die Manifestation des ersteren Cha- sondern den Bereich der Freiheit berühren, die ein Fak-
rakters in Raum und Zeit, das heißt jene Reihe von tum ohne Grund darstellt. Die einzige Orientierung, die
Handlungen, die jeder im Anschluss an bestimmte wir besitzen, beschränkt sich daher auf die allgemeinen
Gründe von Mal zu Mal vollzieht. Es ist aber die Inter- Hinweise, die die empirische Psychologie uns bietet, ei-
pretation Schellings (und Fries’) dieser Theorie Kants, ne Sammlung von Informationen über die gemein-
die für Schopenhauer besonders wichtig war, denn sie samen charakterlichen Züge verschiedener Subjekte.
erlaubte ihm, dem intelligiblen Charakter eine stärke- Ihr Nutzen ist aber nicht epistemologischer, sondern le-
re ontologische Färbung in Form »[eines] außer der diglich pragmatischer Art, sie hilft uns, die Handlungen
Zeit liegende[n] universale[n] Willensakt[s]« (Diss, eines bestimmten Menschen in nur allgemeiner Weise
76) zu geben (vgl. Koßler 1995; Hühn 1998). Infolge- vorauszusehen, basierend darauf, wie dieser – oder an-
dessen besitzt jedes Individuum einen eindeutig be- dere, die mit ähnlichen Eigenschaften ausgestattet sind
stimmten Charakter, der – wenn ein bestimmtes Mo- – in der Vergangenheit schon gehandelt hat.
tiv vorliegt – es dazu führt, unweigerlich in einer be- Schließlich behandelt Schopenhauer die Kausalität,
stimmten Weise zu handeln. Wenn man ein zweites die das Wollen auch auf das erkennende Subjekt in der
Mal vor denselben Voraussetzungen stehen würde, Form von willentlicher Reproduktion von Vorstellun-
würde deshalb auch jeder wiederum genau dieselben gen und Gedankenreihen ausübt. Hier wirkt das Ge-
Entscheidungen treffen. Der empirische Charakter ist setz der Motivation in Gestalt der Ideenassoziation.
nur aus der Handlungsweise eines jeden erkennbar, er Man könnte zwar den Eindruck gewinnen, dass das
zeigt sich nicht dem inneren Sinn und bleibt etwas Erscheinen solcher phantastischer Vorstellungen los-
Unerkennbares, da die Handlungen eines Individu- gelöst von jeglicher Verbindung auftritt, sofern wir
30 II Werk

nicht auf den Willensakt achten, der ihrem Wiederauf- Möglichkeit, die Begriffe von Grund-Folge und Prin-
treten unterliegt. Aber die Ideenassoziation beruht ih- cip-Principiat in einem weiterhin unbestimmten bis
rerseits auf der Tatsache, dass jede Vorstellung in unse- transzendenten Sinne zu benutzen.
rem Geist in uns den Wunsch hervorruft, vergangene, Aus diesem ersten Ergebnis folgert Schopenhauer
ihr ähnliche Vorstellungen zurückzurufen, um unsere das zweite, wesentlich wichtigere: dass man nicht mehr
Erkenntnis zu bereichern. Diese »Uebungsfähigkeit« vom Grund schlechthin sprechen darf, außer im abs-
der zunehmend einfacheren »Vergegenwärtigung von trakten Sinne. Somit sollte einer der Schlüsselbegriffe
Vorstellungen« (Diss, 84 f.) nennt Schopenhauer Ge- der idealistischen Philosophie, zusammen mit dem
dächtnis. Dieses sorgt nicht etwa dafür, dass in unseren Begriff des Absoluten, dessen Verwendung Schopen-
Geist jedes Mal wieder die gleiche Vorstellung zurück- hauer in seinen nachfolgenden Schriften überaus bis-
gerufen wird; das Gedächtnis ist vielmehr die Fähig- sig ironisieren wird, aus dem philosophischen, wissen-
keit, diese Vorstellung jedes Mal im Ganzen nochmals schaftlich begründeten Gespräch verbannt werden.
zu erzeugen. Das wird im Übrigen durch die Tatsache
bestätigt, dass die vom Gedächtnis reproduzierten
Die zweite Auflage der Dissertation
Vorstellungen sich voneinander leicht unterscheiden
im Jahre 1847
und ein erinnertes Bild auf lange Sicht vom Original
sehr verschieden sein kann. Die zweite Auflage der Vierfachen Wurzel wird erst
Die letzten Objekte, die Schopenhauer behandelt, vierunddreißig Jahre nach der ersten veröffentlicht, zu
sind die Gefühle, die Zuneigungen und die Leiden- einer Zeit, als Schopenhauer sich nach Frankfurt zu-
schaften, die von ihm auf zwei Bereiche zurückgeführt rückgezogen hatte und dort ein geregeltes Leben als
werden: körperliche Gefühle, wie Schmerz und Lust, Privatgelehrter führte. Der Umfang des Werks ver-
und Willensakte, wie »Begierde, Furcht, Haß, Zorn, doppelt sich im Vergleich zur ersten Ausgabe, und ob-
Betrübniß, Freude und alle ähnlichen [...] [die] ein wohl sich die Hauptbegriffe anscheinend nicht ge-
heftiges Wollen, daß etwas geschehe oder nicht ge- ändert haben, zeigt der Vergleich der beiden Fas-
schehe, sind« (Diss, 83). Von Leidenschaften redet sungen – ebenso wie die einfache Durchsicht von
man schließlich, wenn das wollende Subjekt beim Schopenhauers persönlicher Kopie der Erstausgabe –
Empfinden eines Gefühls nicht in der Lage ist, es eine große Menge an Korrekturen und Eingriffen. De-
durch das Heraufbeschwören seines Gegenteils zu ren Hauptzweck ist die Rechtfertigung der Vierfachen
kontrollieren, und sich aufgrund dessen sein Wille als Wurzel als Einleitung zu Die Welt als Wille und Vorstel-
völlig dem Gefühl unterworfen erweist. lung und somit die Herstellung der Kompatibilität von
Schopenhauers »Elementarphilosophie« mit der Me-
taphysik des Willens sowie mit der »Erlösungslehre«,
Zwei Hauptresultate
die im System dargestellt werden.
Im abschließenden Paragraphen, in dem die beiden Die Änderungen kann man in vier Bereiche unter-
Hauptresultate der Dissertation dargestellt werden, teilen. Eine erste Serie von Ergänzungen muss auf die
zeigt sich insbesondere die polemische Absicht seiner persönliche Biographie des Philosophen zurück-
Arbeit gegenüber den zeitgenössischen Idealisten, vor geführt werden, unter anderem auf die tiefe Enttäu-
allem Fichte und Schelling. Tatsächlich ist es sein schung, die er in Bezug auf die Intellektuellen seiner
Wunsch, dass von nun an die Philosophen erklären, Zeit entwickelte und auf die ›Philosophieprofessoren‹
welchen der vier Typen sie meinen, wenn sie über Ver- insbesondere. Dies beruht auf dem Scheitern seiner
hältnisse der Abhängigkeit, Ursache oder Grund spre- akademischen Bemühungen in Berlin, auf der
chen; so würden sie dann diese Begriffe nur in deren Schmach, dass seine »Preisschrift über die Grundlage
Zuständigkeitsbereich benutzen. Alle vier Formen des der Moral« nicht mit einem Preis ausgezeichnet wur-
Satzes vom zureichenden Grunde finden nämlich ihre de (obwohl er als einziger an der Ausschreibung teil-
Anwendung ausschließlich innerhalb der phänome- genommen hatte), sowie auf der seiner Meinung nach
nalen Welt der Vorstellungen, und außerhalb dieses verschwörungsartigen Nichtbeachtung, die seine Phi-
Bereichs ist die Verwendung dieses Prinzips transzen- losophie erfuhr. Auf diese Sachverhalte gründen sich
dent und daher sinnwidrig. Bereits Kant beging – wie die heftigen – und in der ersten Ausgabe überhaupt
schon Aenesidemus-Schulze gezeigt hatte – diesen nicht vorkommenden – Schmähreden, die er an die
Fehler, indem er von dem Ding an sich als Grund der auf Kant folgenden Philosophen Fichte, Schelling und
Erscheinung sprach. Dies eröffnete den Idealisten die Hegel sowie allgemein an alle professionellen Philoso-
4  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 31

phen richtet, die er ohne Ausnahme als Söldner der Schopenhauer die Theorie der ›Steigerung‹ in die Dis-
staatlichen Macht und Diener der religiösen Ideologie sertation ein, die er auf die Arten anwendet, in denen
darstellt. 1813 beschränkte sich die Polemik – wenn- sich die Kausalität offenbart. Diese wird übrigens jetzt
gleich durchzogen von subtilem Sarkasmus – auf den auch zur eigentlichen Form des Satzes vom zureichen-
Bereich der Lehre, während sie nun in persönliche Be- den Grunde, so dass sie stellenweise fast ein Synonym
leidigungen ausufert, deren Übermaß Schopenhauer für diesen zu sein scheint: In der mechanischen Welt
so bewusst war, dass er vor der Veröffentlichung einen ist sie bloß mechanische Kausalität, im Pflanzenreich
Rechtsanwalt konsultierte, um keine rechtlichen Kon- erscheint sie als Reiz, in der Tierwelt als Erregung und
sequenzen zu riskieren. erhebt sich schließlich in der Menschenwelt – die mit
Eine zweite Gruppe von Ergänzungen stammt aus Vernunft versehen ist – zum Motiv. Somit verliert al-
den Untersuchungen, die Schopenhauer in diesen lerdings der Satz vom zureichenden Grunde still-
Jahren durchgeführt hatte und die ihm erlaubten, die schweigend eine seiner vier Wurzeln.
historische Darstellung des Satzes vom zureichenden Weiter übernimmt Schopenhauer aus Die beiden
Grunde zu vervollständigen. Es erscheint ein ganzer Grundprobleme der Ethik (1841) die strenge Determi-
Paragraph über Hume, der Spinoza gewidmete Para- niertheit des Handelns, während er sich im § 46 der
graph wird vertieft, und schließlich überarbeitet Scho- ersten Auflage darüber nur in einer Anspielung und
penhauer teilweise sein Urteil über Leibniz und Wolff; im Grunde zweideutig geäußert hatte. 1813 wurde
nach wie vor fehlt jedoch die Erwähnung Crusius’, ob- über die Notwendigkeit der empirischen Handlung
wohl Schopenhauer 1826 dessen Entwurf der noth- gesprochen und zwar mittels der Verortung der Frei-
wendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den zufäl- heit in einer besonderen Sphäre – die dennoch nicht
ligen entgegengesetzt werden (vgl. HN III, Foliant II, die Sphäre des Dinges an sich ist. In der zweiten Aus-
297–298) gelesen hatte und dies auch am Rande seines gabe verweist Schopenhauer diesbezüglich hingegen
Handexemplars notierte. auf seine »Preisschrift über die Freiheit des Willens«.
Eine dritte Kategorie der Änderungen und Verbes- Die vierte, und vielleicht wichtigste Art von Ein-
serungen entspringt aus der Vertiefung einiger be- griffen schließlich betrifft speziell die Neuinterpretati-
sonderer Aspekte der Theorie von der Entstehung der on der Bedeutung des Satzes vom zureichenden Grun-
Vorstellungen, die er in verschiedenen Werken um- de in Bezug auf die Theorie des Willens, insbesondere
formuliert hatte. Aus der Schrift Ueber das Sehn und was seine vierte Wurzel angeht – dem Gesetz der Mo-
die Farben (1816) nimmt er die physiologisch-trans- tivation in seinem Verhältnis zum empirischen Cha-
zendentale Analyse des Auftretens der Bilder im Ge- rakter. Die Tatsache, dass es sich hier um den Satz vom
hirn wieder auf, die es ihm erlaubt, seine Theorie des zureichenden Grunde hinsichtlich des menschlichen
Verstandesschlusses erfolgreich zu erläutern, um die Willens handelt – das heißt um jene Ausprägung, in
Welt der Erfahrung darzulegen. Der Verstand mache welcher der Wille, die metaphysische Grundlage der
schon dann einen unbewussten Gebrauch vom Satz Welt, sich ohne Schleier erkennt –, ermöglicht es
vom zureichenden Grunde des Werdens, wenn er die Schopenhauer nun, den Wert des Motivs umzuinter-
Vorstellungen eines stehenden Objekts aus dem Bild pretieren. An dieser Stelle liegt das Gesetz der Motiva-
aufbaut, das im Auge spiegelverkehrt auf die Netz- tion nicht mehr auf der gleichen Ebene wie die ande-
haut projiziert wird. Darüber hinaus werden in der ren drei Formen des Satzes vom zureichenden Grun-
Ausgabe von 1847 alle Kategorien bis auf die der de, sondern es wird neu bestimmt als »von innen ge-
Kausalität verworfen; eine Kritik, die sich schon in sehn[e]« (G, 145) Kausalität. Wenngleich das Motiv
den Manuskripten von 1814 ankündigte. Dement- als autonome Wurzel verschwindet, wird es anderer-
sprechend kommt in Ueber das Sehn und die Farben seits diejenige Form des zureichenden Grundes, die
nur die Kausalität vor, und in der »Kritik der Kanti- uns im eigentlichen Sinne den Mechanismus des Wil-
schen Philosophie« (1818) wurde allen Kategorien lens offenbart (vgl. Koßler 2008).
bis auf die Kausalität jegliche Funktion ausdrücklich
abgesprochen. Inzwischen hat sich auch die Bedeu- Literatur
tung der Materie verändert: 1813 war sie die »Wahr- Boll, Karl F.: Das Verhältnis der ersten und zweiten Auflage
nehmbarkeit« von Raum und Zeit (Diss, 21), wäh- der Schopenhauerschen Dissertation »Über die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«. Ein Beitrag
rend sie 1847 zur »Kausalität überhaupt und sonst zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Phi-
nichts« wird (G, 82). losophie. Diss. Rostock 1924.
Aus Ueber den Willen in der Natur (1836) führt
32 II Werk

Brunner, Jürgen: Schopenhauers Kausalitätstheorie. Teil I: hauer. In: European Journal of Philosophy 16/2 (2008),
Empirische Ereigniskausalität und transzendentale 230–250.
Akteurskausalität. In: Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008), Laun, Rudolf: Der Satz vom Grunde. Ein System der Erkennt-
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d’Alfonso, Matteo V.: Schopenhauers Kollegnachschriften der Novembre, Alessandro: Die Dissertation 1813 als Einleitung
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Decher, Friedhelm: Das »bessere Bewusstsein«. Zur Funk- 133–146.
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De Cian, Nicoletta: Redenzione, colpa, salvezza. All’origine Schopenhauer-Gesellschaft 5 (1916), 167–186.
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Hühn, Lore: Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit raison suffisante. Édition complète (1813–1847). Textes
Schellings und Schopenhauers. In: Christian Iber/ traduits et annotés par F.-X. Chenet. Introduits et com-
Romano Pocai (Hg.): Selbstbesinnung der philosophischen mentés par F.-X. Chenet et M. Piclin. Paris 1991.
Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Tielsch, Elfriede: Vergleich der ersten mit der zweiten Auf-
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München 1988. White, Frank C.: The Fourfold Root. In: Christopher Jana-
Koßler, Matthias: Empirischer und intelligibler Charakter: way (Hg.): The Cambridge Companion to Schopenhauer.
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Koßler, Matthias: Life is but a Mirror: On the Connection Matteo Vincenzo d’Alfonso
between Ethics, Metaphysics and Character in Schopen- (aus dem Italienischen übersetzt von Ilaria Massari)
5  Ueber das Sehn und die Farben 33

5 Ueber das Sehn und die Farben sein Studium der Medizin. Ausgewiesen sind – allein
im Bereich des Naturwissens – Besuche der Vorlesun-
Schopenhauers Farbenlehre steht in der Nachfolge gen zur Medizin, Anatomie und Physik; er hört bei
Goethes (s. Kap. 19). Von Goethe selbst in dessen Ge- Blumenbach Naturgeschichte und Mineralogie, bei
dankengebäude eingeführt, beginnt dessen Schüler Thibaut Mathematik. Weiter hört er Chemie, Botanik,
Schopenhauer allerdings nur zu bald – und zum Ver- vergleichende Anatomie, physische Astronomie, Phy-
druss seines Lehrmeisters – den Goetheschen Ansatz sik und Physiologie und wechselt dann 1811 nach
in einem Punkt konsequent weiterzuverfolgen. Die Berlin, wo aber die Philosophie seinen Studienplan
Subjektivität des Betrachtens, die bei Goethe noch in bestimmt. Schopenhauer stand also auf dem natur-
Koinzidenz eines Naturwesens mit einer Natur ge- wissenschaftlichen Niveau seiner Zeit. Er führt denn
dacht ist, löst sich bei Schopenhauer aber in das Na- auch ein Verfahren der Farbanalyse an, das mittels der
turale des die Natur betrachtenden Wesens auf: »Könn- Demonstration, im Experiment, im expliziten Sinne
te man«, schreibt er, »nur solchen Herren begreiflich vor Augen geführt wird. Seine Vorstellung, über Farb-
machen, daß zwischen ihnen und dem wirklichen We- expositionen die Komplementärfarben zu besehen,
sen der Dinge ihr Gehirn steht, wie eine Mauer, wes- setzt er für seine darauffolgenden theoretischen
halb es weiter Umwege bedarf, um nur einigermaaßen Schlussfolgerungen voraus: Er demonstriert im Expe-
dahinter zu kommen« (F, VI). Diese Grundthese gibt riment und nutzt die Pathologie, um so in der Analyse
den Ansatz und die Essenz der Schopenhauerschen des Effekts der Fehlfunktionen ein Funktionsver-
Farbenlehre. Hier ist von Schopenhauer, vor dem Hin- ständnis zu erarbeiten. Das Licht in seiner Farbigkeit
tergrund der Physiologie der Jahre um 1818, die Idee ist demnach – nach all diesen Demonstrationen – für
einer vom Gehirn bedienten Interpretation dessen, ihn nicht an sich, sondern nach den Funktionswerten
was uns die Sinnesorgane zeigen, ausformuliert. Scho- des dieses Licht erfahrenden Organs, der Retina, dar-
penhauer steht dabei in der expliziten Tradition einer zustellen. Das Nachbild, das, was erscheint, wenn wir
wissenschaftlichen Anthropologie, wie sie die Medizi- über Minuten auf eine Farbfläche gestarrt haben, die
ner seiner Zeit ausweisen: der Idee, ein physikalisches uns dann entzogen wird, demonstriert, dass das, was
Prinzip des Wahrnehmens und, darüber, der Hirn- wir sehen, nicht einfach ein Spiegel dessen ist, was uns
funktionen annehmen zu können. In diesem wird umgibt. Vielmehr ist das, was wir sehen, Resultat einer
dann erfahrbar, was es bedeutet, zu erfahren, und was Verarbeitungsfunktion, die durch solch intelligente
ein aus der Erfahrung getragenes Denken auszeichnet, Experimente, wie sie Schopenhauer ansetzt, als solche
das ja an einen Leib gebunden ist und sich in seiner Ra- demaskiert und in ihrer Funktionalität entschlüsselt
tionalität eben nach den hierdurch vorgegebenen zu werden vermag. Das, was wir sehen, ist – so Scho-
Strukturierungen auszeichnet. Person, Emotion und penhauer – zunächst das, was wir im Kopfe haben. In-
Kognition schienen so vor aller Einsicht in die zellular- soweit wird die Farbenlehre zu einer aussagekräftigen
physiologische Organisation der Verrechnungseigen- Präambel seines Generalkonzepts von einer Welt als
heiten des Gehirns ausbuchstabierbar zu werden. Die Wille und Vorstellung.
zelluläre Organisation des Hirngewebes war noch un- Entsprechend wird seine Naturlehre aus der Dar-
bekannt. Ganglienkörper wurden zwar schon in den stellung des in den Sinnen dem Verstand Offerierten
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beschrieben, bestimmt und ist so nicht einfach nach Maßgabe der
so bei Carl Gustav Carus und Jan E. Purkinje, ein Ver- ›äußeren‹ Natur, sondern nach Maßgabe der Natur des
ständnis der Zellfunktionen erwuchs aber erst sehr viel Geistes vorgestellt. Damit ist die fundamentale Diffe-
später. Damit war eine funktionelle Interpretation der renz zu Goethe offenkundig: Nicht das Phänomen,
neuronalen Gewebeorganisation und ein Verständnis sondern das sich phänomenal imaginierende Ich gibt
der Organisation der Reizaufnahme im Auge begrenzt die Natur, die nach Schopenhauer für uns einsichtig
auf eine präzise Darstellung der optischen Eigenschaf- ist. So steht dann in der Tat das Gehirn nicht nur zwi-
ten des lichtbrechenden Organs, dessen Okulomoto- schen der Anschauung und der Welt, sondern auch
rik, Fragen der topologischen Repräsentation von zwischen Schopenhauer und Goethe.
Bildprojektionen auf dem Augenhintergrund und et- Schopenhauer sieht das Subjektive der Farben –
waige Darstellungen der Konsequenzen von Schädi- und hierin gibt er Goethe gegen Newton recht. Farbe
gungen dieses Organs. – so folgt Schopenhauer Goethe – ist in ihrer ihr eige-
Schopenhauer war in diesem Bereich wohlaus- nen Qualität zunächst ein Erfahrungsphänomen.
gebildet. Am 9. Oktober 1809 begann er in Göttingen Schließlich ist sie auch nach Goethe in ihrem ihr eige-
34 II Werk

nen Wert erst im Auge abgebildet. Dabei ist sie dann ner Farbenlehre bekannt machte. Schon Anfang 1814
aber nach Goethe etwas, das an sich dem Auge vor- entstanden, etwa in einer Diskussion um die Darstel-
gesetzt ist. Farbe ist damit für ihn so zwar etwas, das lung des Weißen, inhaltliche Differenzen, die das Ver-
nach der Abbildung im Auge zu erfassen ist – damit hältnis von Lehrer und Schüler zerrütteten. Schon am
aber für dieses die Welt in der ihr eigenen, derart un- 9. Januar 1814 wird Goethe in seinen Tagebucheintra-
serem Erfahren vermittelten Phänomenologie verfüg- gungen deutlich: Bezogen auf Schopenhauer schreibt
bar macht. Insoweit ist die Farbe als das, was sie nach er: »als Jüngling anmaßlich und stutzig«. So musste es
dem Erfahrungswert ist, in dem wir sie finden und aus Goethe wohl sehen. Denn Schopenhauer moder-
dem heraus wir sie bewerten, an sich darzustellen. nisierte die Idee des von Goethe noch umfassend um-
Diese Einsicht interpretiert Schopenhauer nun aber in griffenen Subjekts zum Subjektiven im Sinne der wis-
sehr eigener Weise. Das Subjektive, in dem sich nach senschaftlichen Anthropologie und begriff den Bezug
Goethe das Ich als Teil der Welt zu dieser Welt als et- von Subjekt und Welt schlicht auf der Ebene einer
was, in dem es sich befindet, verhält, und so in sich Physiologie.
das, was ist, widerspiegelt, kocht Schopenhauer ein. Schopenhauer selbst war die damit getroffene Ein-
Das Subjektive ist ihm schlicht die physiologisch ver- grenzung und der damit aufgeworfene Graben wohl
ortete Erfahrungsbestimmtheit der Species Mensch kaum einsichtig. Im Tunnelblick der eigenen Theorie-
im Gefüge der diesen affizierenden, aber an sich gar folgerungen befangen, schreibt er am 11. November
nicht zugänglichen Elemente eines Außenraums. Die- 1815 an Goethe:
ser wird nach Schopenhauer erst im Erfahrungskon-
text des Ichs zu einer Welt. Insoweit ist Welt eben als »Meine Theorie verhält sich zu Ihrem Werke völlig wie
Wille und Vorstellung. Auch das Farbige ist demnach die Frucht zum Baum. – Was aber diese Theorie beitra-
nicht an sich, als Phänomen der Welt, sondern nur als gen kann Ihrer Farbenlehre Gültigkeit und Anerken-
Produkt, als Vorstellung von der Welt, zu beschreiben. nung zu verschaffen, das möchte nicht wenig seyn [...].
Soweit streicht Schopenhauer das ›Urphänomen‹ Jene alte Burg [die Lehre Newtons] haben Sie von allen
Goethes. Das Farbige, das in seiner Materialität die Ar- Seiten berannt und stark angegriffen: der Kundige
beit eines Künstler bestimmt oder den Designer an Re- sieht sie wanken und weiß daß sie fallen muß: aber die
zepturen bindet, mittels derer er die Färbung eines Ge- Invaliden drinnen wollen nicht kapituliren« (GBr, 21).
webes ebenso wie die Wirkung einer Glasur vorab zu
bestimmen vermag, interessiert ihn nicht. Es war aber Goethe bekommt folglich auch das Manuskript der
diese ›Natur‹ der Farbe, von der Goethe ausging und in von Schopenhauer fortentwickelten Farbenlehre zuge-
der er an einen ganzen Kanon von Schriften zum Um- sandt, doch bleibt eine weitergehende Reaktion zu-
gang und zur Bewertung der Farben anschloss. Für uns nächst aus: Schopenhauers Schrift erscheint im Mai
heute ist dieser Kontext, der von Goethe in seiner Aus- 1816 bei Hartknoch in Leipzig. Sie blieb – so Schopen-
einandersetzung mit Newton selbst kaum eingehender hauer selbst – zunächst weitgehend unbeachtet, doch
expliziert wurde, eingehender zu rekonstruieren, um konnte Schopenhauer in seinen letzten Lebensjahren,
den Goetheschen Ansatz neu verständlich zu machen. in denen die Öffentlichkeit überhaupt erst auf seine
Schließlich zeigt sich Goethe als Sachwalter einer eige- Philosophie reagierte, auch diese inzwischen fast ver-
nen Tradition der Farberfahrungen, mit der er selbst gessene Farbenlehre noch einmal edieren. 1854 schrieb
durch seine Studien der Mineralien und deren Nut- er: »Inzwischen habe ich vierzig Jahre Zeit gehabt,
zung bestens vertraut war. Das Kolorit eben nicht nur meine Farbentheorie auf alle Weise und bei mannigfal-
einer Malerei, sondern auch der Proben der von ihm tigen Anlässen zu prüfen« (F, IV). Schon zuvor hatte
untersuchten Natur, war ihm schon lange – und immer Schopenhauer versucht – zuerst in seiner 1830 erschie-
wieder neu – Thema. Die erste, in Jena erarbeitete mi- nenen erweiterten Übersetzung ins Lateinische, die er
neralogische Handreichung des von ihm protegierten in der Hoffnung auf eine internationale Rezeption sei-
Johann G. Lenz, in der die Mineralien nach ihren Far- ner Ideen unternahm (Theoria colorum physiologica
ben klassifiziert sind, exemplifiziert, wie hier an Goe- eademque primaria), dann 1851 im zweiten Band sei-
thes Universität diese Phänomene systematisiert und ner Parerga und Paralipomena – seine Ideen zur Far-
expliziert wurden. benlehre noch weiter zu konsolidieren. Und, wie bei
Schopenhauer kam, nach seinen Studien, im No- ihm üblich, erschien das, was er vormals gedacht hatte,
vember 1813 zu näherer Bekanntschaft mit Goethe, ihm nunmehr auch nach reiflicher Überlegung schlicht
der ihn selbst in einer Art Exklusivunterricht mit sei- approbiert, und so offerierte er 1854 eine durch Ergän-
5  Ueber das Sehn und die Farben 35

zungen, nicht aber durch umfassende Exkurse oder nach, dass es für die Farbwahrnehmung verschiedene
Korrekturen erweiterte zweite Auflage seines Werkes. Typen mit der für jeden Sensorentyp charakteristi-
Das Auge, das hier, wie bei Goethe, zu dem Organ schen Spektralwertfunktion gibt, deren Maximum je-
wird, in dem sich die Welt abbildet, ist Schopenhauer weils in einem bestimmten Spektralbereich liegt. Da-
aber nicht einfach sonnenhaft, sondern als ein physio- bei gab dann – ganz wie dies im vorliegenden Text
logisch zu kennzeichnendes Organ begriffen. Die für auch Schopenhauer unternimmt – die Darstellung von
die Bildperzeption sensible Schicht, die Retina, ist in Farbfehlsichten das Material zu einer Identifikation
der Naturkunde um 1820 aber noch nicht eingehender und Darstellung der Extensität etwaiger Farbsicht-
verstanden. Die für die funktionale Interpretation tie- komponenten.
rischer Gewebe zentrale Zelltheorie erwächst erst En- Gegen die Helmholtzsche Vorstellung setzte Ewald
de der 1830er Jahre und ist letztlich erst mit der Rezep- Hering in den 1870er Jahren seine Vierfarbentheorie,
tion von Virchows Zellularpathologie Ende der 1850er nach der jeweils eine der miteinander verkoppelten
Jahre wirklich akzeptiert. Insofern ist denn auch die Gegenfarben Rot-Grün, Blau-Gelb und Weiß-Schwarz
Rolle der Nervenzelle unverstanden. Weiterhin exis- registriert und ans Hirn vermittelt wurde. Dazwischen
tieren keine Vorstellungen über die funktionelle Orga- stand Johannes Müllers Theorie der spezifischen Sin-
nisation des Reiz aufnehmenden Gewebes. Allerdings nesenergien, der zufolge die verschiedenen Sinnesqua-
formulierte Thomas Young schon 1811 die Hypothese, litäten als solche in unterschiedlicher Kennung ins
dass das Auge drei verschiedene Typen von Reiz auf- Hirn vermittelt würden. Vor einer eingehenden Ana-
nehmenden Strukturen besitze, von denen jede auf ei- lyse der Zellularphysiologie der Rezeptoren und der
ne der drei Primärfarben Blau, Grün und Rot reagiert, deren Erregung weiterleitenden Nervenzellen war hier
und dass die übrigen Farbqualitäten durch additive ein physiologisch basiertes Verständnis auf eine exakte
Mischung unterschiedlicher Primärfarben erzeugt Darstellung der Phänomenologie des Wahrnehmens,
werden. Schopenhauer erwähnt diese Vorstellungen speziell auch auf eine entsprechende Analyse der Sin-
nicht. Allerdings entspricht dieser Vorstellung zumin- neserfahrungen selbst, angewiesen.
dest vom Ansatz her die Goethesche Auffassung der Die von Schopenhauer so eindringlich an den Be-
drei Grundfarben Gelb, Rot und Blau, aus denen durch ginn seiner Darlegungen gestellte Forderung, die Er-
Mischung jede weitere Farbe hergestellt werden kann. fahrung der Nachbilder nicht nur theoretisch zu rezi-
Abgestuft über die Bildung der Mischfarben zwischen pieren, sondern selbst zu erfahren, um so die Intensi-
zwei dieser Grundfarben, die sich dann zur dritten je- tät eines entsprechenden Eigenlebens der physiologi-
weils als Komplementärfarbe verhalten, erhält Goethe schen Reaktion sich selbst explizit vor Augen zu
einen Farbkreis, in dem die Verhältnisse der Farben führen, zeigt, dass sich Schopenhauer dieser Forde-
zueinander bestimmt sind. Damit entwickelt Goethe rung selbst stellt. Es ist diese Erfahrung einer nach
eine umfassende Phänomenologie der Farbe, in der er Wegfall des Reizes zu registrierenden Reaktion, die
nun Farbwahrnehmung und Farbqualitäten nicht ein- abgestimmt auf den Eingangsreiz erscheint, ihn aber
fach nur als Fragmentierungen eines Lichtteilchenge- nicht reproduziert, sondern nunmehr nach dessen
füges, sondern als in sich stehende Qualitäten begreift. Wegfall eine spezifische Komplementärreaktion er-
Das ist denn auch der Ansatz seines massiven Vor- kennen lässt, die Schopenhauer die Physiologie des
gehens gegen die Newtonsche Theorie, in der Farbe – Farbempfindens selbst empfindbar macht. Schopen-
seiner Auffassung nach – letztlich nur als Resultat ei- hauer registriert eine Reaktion, die die Physiologie des
ner Entmischung einer an sich dann nicht weiter inte- Rezeptors erfahrbar macht. Er deutet das Nachbild als
ressierenden Qualität nebeneinandergesetzter Qualia Resultat einer Anstrengung. Wie für ihn Licht und das
(der Lichtkorpuskeln), aber eben nicht als der den in ihm gesehene Weiße als maximale Intensivierung
Wahrnehmungsforscher interessierende Farbwert ge- einer Lichtempfindung gedeutet und entsprechend
sehen wurde. Im Sinne einer Darstellung optischer Ge- das Schwarze als Fehlen einer Aktivierung des Auges
setzmäßigkeiten bleibt so auch die faktisch mögliche beschrieben wird, so sind die Farbwerte in ihrer jewei-
Analyse auf der Ebene von Strahlengangsdarstellun- ligen Helligkeit als relative Wahrnehmungsintensitä-
gen und – ganz auch im Sinne der Goetheschen und ten zu verstehen. Wenn auf das helle Gelb im Nachbild
späteren Schopenhauerschen Versuche – anzusetzen- das dunkle Violett folgt, so wird im Violett deutlich,
den Darlegungen über Spektralempfindlichkeiten und dass die um einen Wert x gegenüber dem Maximum
dadurch verständlich zu machenden Reaktionen des (mit 100 %) einer möglichen Aktivierung geschwäch-
Auges. Helmholtz wies dann in den 1850er Jahren te Wahrnehmungskraft des Auges so ermüdet ist, dass
36 II Werk

es nunmehr in einem weiteren Aufmerken zunächst ten Datensätze zu einem Bild zusammensetzt, dass
nur noch den Restbestand der ihm verfügbaren Ener- erst der Verstand – d. h. die physiologisch zu begrei-
gie – das heißt den Wert 100 minus x – zu aktivieren fende Interaktion der Reize verrechnenden Elemente
vermag. Die anderen in der vorigen Wahrnehmung – aus den angereichten Sinnesdaten ein Bild der Welt
verbrauchten Energiebestände müssen sich erst wie- konstruiert. So ist auch die Welt der Sinne eine Welt
der aufbauen. So lange bleibt das Nachbild bestehen. der Vor-Stellungen. Entsprechend ist die Farbe zu-
Im Extrem der Hell-Dunkel-Kontraste haben wir nächst nichts als eine »besonders modificirte Thätig-
denn auch eine Inversion eines schwarz-weißen Bildes keit« (F, 19) der Retina. »›Der Körper ist roth‹« – so
im Nachbild, das sich in seinem dunklen Teil gegebe- schreibt er – »bedeutet, daß er im Auge die rothe Farbe
nenfalls dann sogar über eine Folge vom Schwarzen bewirkt« (F, 20). Schließlich, so Schopenhauer weiter,
und Violetten in helle Farbnachwirkungen auflöst. sind die Sinne »bloß die Ausgangspunkte dieser An-
Damit stehen die Farbwerte in einer eben auch quanti- schauung der Welt. Ihre Modifikationen sind daher
tativen Beziehung zueinander, und der Farbkreis Goe- vor aller Anschauung gegeben« (F, 19). Das Auge rea-
thes, der sich nach den Mischungsverhältnissen be- giert – so Schopenhauer – in Bipartitionen. Es sieht
stimmt sah, ist nunmehr in der von Schopenhauer das volle Licht und blickt ins Weiße, oder es sieht gar
dargelegten physiologischen Gesetzmäßigkeit auch nichts, bleibt demnach auch ohne jede Affektion und
quantitativ zu beschreiben. Darauf ist noch einmal zu- verbleibt so in Finsternis. Farbe ist dann ein relativer
rückzukommen. Wert solchen Affiziert-Werdens, nicht in der vollen
Farben sind für Schopenhauer also Empfindungs- Intensität des Lichtes, aber in einer bestimmten Quali-
werte, die nach Maßgabe der Funktion des physiologi- tät dieses Ganzen, das Auge maximal Affizierenden.
schen Apparates definiert sind und so die Welt nach Farbe ist damit zu beschreiben als ein Ansprechen des
Maßgabe von deren intrinsischen Reaktionsvorgaben Auges auf diesen Teil des Lichtes, der im Auge immer
des Reiz aufnehmenden Apparates als Anschauung wieder auf das Ganze hin ergänzt, und in dieser so in
konstituieren, und dabei gilt: »Alle Anschauung ist ei- Blick auf das mögliche Ganze festzustellenden Partiti-
ne intellektuelle« (F, 7). D. h. nach Schopenhauer: on als in sich bestimmter Wert erkannt ist. Farbe in
ihrer so zu findenden Bestimmtheit gewinnt ihren
»Zur Anschauung, d. i. zum Erkennen eines Objekts, Farbwert in solcher Differenz als das Komplement ei-
kommt es allererst dadurch, daß der Verstand jeden nes Ganzen. Aus der so möglichen Ergänzbarkeit auf
Eindruck, den der Leib erhält, auf seine Ursache be- dieses Ganze gewinnt es einen quantitativen Wert, der
zieht, diese im a priori angeschaueten Raum dahin ver- die Farbe dann auch als Farbwert in ein Empfindungs-
setzt, von wo die Wirkung ausgeht, und so die Ursache gefüge einordnet: »Das die volle Einwirkung des
als wirkend, als wirklich, d. h. als eine Vorstellung der Lichts empfangende Auge äußert also die volle Thätig-
selben Art und Klasse, wie der Leib ist, anerkennt« (F, 7). keit der Retina«: Das Auge sieht entweder eine flirren-
de, spiegelnde Oberfläche, oder, wenn die das Licht re-
Und damit gilt dann: »Die Anschauung also, die Er- flektierenden Körper dieses klare Glänzende leicht
kenntniß von Objekten, von einer objektiven Welt, ist dispergieren lassen, so entsteht Weiß – als Farbein-
das Werk des Verstandes« (F, 8). Entsprechend kon- druck. »Mit Abwesenheit des Lichtes, oder Finsterniß,
statiert er: »Demnach könnte auch der Gehörnerv tritt [dagegen] Unthätigkeit der Retina ein« (F, 23).
sehn und der Augennerv hören, sobald der äußere Diesem Funktionswert korrespondiert das Schwarze.
Apparat beider seine Stelle vertauschte« (F, 9). Womit Schopenhauer unterscheidet Abstufungen in der
er sich 1854 explizit gegen die Auffassung von Johan- Intensität solcher Aktivierung und kommt so zu der
nes Müller stellt: Schließlich sei »die Modifikation, Darstellung der »intensiv geteilten Thätigkeit der Reti-
welche die Sinne durch solche Einwirkung erleiden, na« (F, 24), in der er die Abstufungen der Aktivierung
noch keine Anschauung, sondern [es] ist erst der Stoff, vom Weißen zum Schwarzen über das Graue (in ver-
den der Verstand in Anschauung umwandelt« (F, 9). schiedener Intensität) beschreibt, wobei nun das
Und so gibt es denn auch ohne Verstand nur die Emp- Nachbild einer solchen Reizung zeigt, dass nicht ein-
findung »einer sehr mannigfaltigen Affektion seiner fach eine Intensität des Außenraumes aufgenommen
Retina« (F, 9). Diese ist nach Maßgabe der ihr eigenen und ins Zentralhirn weitergeleitet wird. Die Nachbil-
Verrechnungsmöglichkeiten zu erfassen. Für Scho- der deutet Schopenhauer schließlich als Resultat der
penhauer zeigt sich so etwa in der Raumwahrneh- physiologischen Tätigkeit der Retina. Das durch ein
mung, in der das Hirn die aus zwei Augen übermittel- längeres Ansprechen erschöpfte, vorab gereizte Feld
5  Ueber das Sehn und die Farben 37

der Retina ist bei einer neuen Bildwahrnehmung zu- nicht irre machen, daß Violett, da es zwischen Roth,
nächst nur insoweit zu reizen, wie es noch Energien das 1/2 ist, und Blau, das 1/3 ist, in der Mitte liegt,
verfügbar hat. Das Nachbild entspricht also in einem doch nur 1/4 seyn soll: es ist hier wie in der Chemie:
umgekehrt proportionalen Verhältnis der vormaligen aus den Bestandtheilen läßt sich die Qualität der Zu-
Abbildungsintensität. Die maximal gereizte Retina er- sammensetzung nicht vorhersagen« (F, 30 f.). »Violett«
scheint denn auch im ersten Moment des Nachbildes – so Schopenhauer – »ist die dunkelste aller Farben,
als Schwarz. Sie ist durch ihre vorherige Tätigkeit ma- obgleich es aus zwei hellern, als es selbst ist, entsteht;
ximal erschöpft und kann nun nicht mehr in neue Tä- daher es auch, sobald es nach einer oder der andern
tigkeit versetzt werden. Sie ist für den Moment not- Seite sich neigt, heller wird. Dies gilt von keiner andern
wendig untätig. Übertrage ich diese Idee nun auch auf Farbe: Orange wird heller, wenn es zum Gelben, dunk-
die Qualitäten der verschiedenen Erregungszustände, ler, wenn es zum Rothen sich neigt; Grün, heller nach
so gewinnt sich die Farbwahrnehmung insgesamt als der gelben, dunkler nach der blauen Seite; Gelb, als die
eine Darstellung von Verhältnisbestimmungen der hellste aller Farben, thut umgekehrt das Selbe, was
das Auge erreichenden Reizungen, die nach Maßgabe sein Komplement, das Violett: es wird nämlich dunkler,
der ihm vorgegebenen Reaktionsräume dann nicht es mag sich zur orangen oder zur grünen Seite neigen.
nur einen Eindruck, sondern gleichsam eine Art von – Aus der Annahme eines solchen, in ganzen und den
Relationalität des möglichen Bildeindruckes im Sinne ersten Zahlen ausdrückbaren Verhältnisses, und zwar
einer Bestimmtheit des ihm möglichen sensorischen allein daraus, erklärt es sich vollkommen, warum Gelb,
Ansprechens darzustellen erlaubt. Mit dieser Darstel- Orange, Roth, Grün, Blau, Violett feste und ausgezeich-
lung sind wir so im Kern der Schopenhauerschen Far- nete Punkte im sonst völlig stetigen und unendlich nü-
benlehre, die nur deshalb so komplex erscheint, da er ancirten Farbenkreise, wie ihn der Aequator der Run-
sie aus der bloßen Darstellung der Phänomenologie ge’schen Farbenkugel darstellt, sind« (F, 31).
des Erfahrens und nicht aufgrund einer weder ihm
noch seinen Zeitgenossen möglichen Einsicht in die Entsprechend sind diese in einen Ordnungszusam-
Funktionsmorphologie der Retina aufzubauen suchte. menhang einzubinden; dabei erlaubt es die Beobach-
Er verbleibt denn auch in Bildern und beschreibt an- tung, die Zuordnung der Farbwerte aufzuweisen und
hand der Empfindungen, die z. B. ein auf einer Hand sie in ihrem relativen Verhältnis zueinander zu bestim-
verdampfender Tropfen von Schwefeläther induziert, men, so »daß in ihnen die Bipartition der Thätigkeit
wie die Hand eben nur an der Stelle abkühlt, an der der Retina sich in den einfachsten Brüchen darstellt.
dieser Tropfen aufliegt. Gerade so, wie auf der Tonleiter [...] als Prime, Sekun-
Das Rationale der so darzulegenden Ansicht ent- de, Terz u. s. w.« (F, 31). Die Farbe ist demnach also
spricht dabei dem je vorhergehenden physiologischen »qualitativ getheilte Thätigkeit der Retina. [...] die Zahl
Prozess. Dieser ist nur mittels der Erfahrung aufzulö- der möglichen Farben [ist dabei hinsichtlich ihrer
sen, d. h. hier speziell aus der Anschauung der Farb- möglichen Mischungsverhältnisse] unendlich«, wobei
wahrnehmung. Dabei zeigt sich für ihn in der Darstel- aber jede »nach ihrer Erscheinung, ihr im Auge zu-
lung des Komplementärkontrastes eine relative Bezie- rückgebliebenes Komplement zur vollen Thätigkeit der
hung der Farbwerte aufeinander, die gegebenenfalls Retina« (F, 32) bringt. Damit gibt die Zuordnung des
noch um einen je zuzugebenden Grauwert zu ergän- Weißen und des Schwarzen das Funktionsmodell für
zen sind, nach denen sich dann die Farbwerte ganz im die Ordnung der verschiedenen Farbwerte. Diese sind
Sinne der Rungeschen Farbkugeln ordnen lassen. Da- nach dem Wert ihrer relativen Abstimmung auf ihr je-
bei werden in dieser Zuordnung die Farben in ihrem weiliges Komplement in eine Ordnung zu bringen. In-
jeweiligen Verhältnis zueinander auch bemessbar: soweit sind diese Farbwerte auch nicht abgeleitet, son-
Der Schattenwert der Farben ist bei Rot und Grün dern als gegebene Grundlagen einer Farbdarstellung
identisch – das expliziert Schopenhauer anhand der durch das Auge »gewissermaaßen a priori erkannt« (F,
Analyse der Rot-Grün-Blindheit. 33). Dieses Apriori besteht nun aber in der angebore-
nen Verrechnungseigenschaft des Organs, das eben in
»Wie nämlich Roth und Grün die beiden völlig gleichen seiner im Komplementärkontrast darstellbaren Ab-
qualitativen Hälften der Thätigkeit der Retina sind, so stimmung nicht nur die Farbe überhaupt, sondern die
ist Orange 2/3 dieser Thätigkeit, und sein Komplement einzelne Farbe in ihrer Zuordnung und dabei als eine
Blau nur 1/3; Gelb ist 3/4 der vollen Thätigkeit, und quantitativ bestimmbare Zuordnung in einen Erfah-
sein Komplement Violett nur 1/4. Es darf uns hiebei rungsordnungszusammenhang der Farbintensitäten
38 II Werk

einbindet. Diesen bestimmt Schopenhauer als ein so Schopenhauer daraus, dass die chemischen Farben in
auch quantitativ darzustellendes Verhältnis. Es ist da- ihrer materiellen Bindung etwas wesentlich Trübes an-
bei das relative Helle einer Farbe, in dem diese in der genommen haben, und so können sie sich denn auch
Zuordnung zur anderen Farbe steht. Dadurch, dass nicht zum Weißen, sondern nur zu einem eingetrüb-
sich die Komplementärfarben in einer derart quantifi- ten Weißen überlagern. Zu gewinnen wäre so besten-
zierbaren Hinsicht zueinander und miteinander ver- falls ein Grauwert. Dieses ›Trübe‹ der chemischen Far-
halten, gewinnt Schopenhauer für sie eine auch relative ben erklärt sich Schopenhauer wie folgt:
Ordnung. Grün und Rot – das zeigt ihm auch die Pa-
thologie des Rot-Grün-Blinden – sind in ihrem Hellig- »Eine allgemeine Erklärung der chemischen Farben
keitswert einander entsprechend. Sie verhalten sich wie scheint mir in Folgendem zu liegen. Licht und Wärme
1 zu 1, und sind demnach bezogen auf das Maximum sind Metamorphosen von einander. Die Sonnenstrah-
des möglichen Farbeindruckes, des Weißen, jeweils als len sind kalt, so lange sie leuchten: erst wann sie, auf
1/2 der maximal insgesamt zu erfahrenden Farbinten- undurchsichtige Körper treffend, zu leuchten aufhören,
sität zu bewerten. Blau und Orange stehen in ihrem verwandelt sich ihr Licht in Wärme [...]. Die, nach Be-
Dunkel- respektive Helligkeitswert zwischen Grün schaffenheit eines Körpers, speciell modificirte Weise,
und Violett zum einen, und Rot und Gelb zum ande- wie er das auf ihn fallende Licht in Wärme verwandelt,
ren, wohingegen Violett und Gelb jeweils den maxima- ist, für unser Auge, seine chemische Farbe« (F, 76 f.).
len Farbgegensatz im Bereich der zueinander komple-
mentären Farben darstellen. Entsprechend unterteilt Chemische Farben sind ihm denn auch »eine eigen­
Schopenhauer sein Schema der Tätigkeit der Retina in thümliche Modifikation der Oberfläche der Körper«
drei Farbenpaare (s. Tabelle unten). (F, 74). Diese sei so fein, dass sie nur in der Farbver-
Er beschreibt in dieser Bipartition der Farben eine änderung zu registrieren sei: So werde Zinnober nach
diesen eigene Polarität, die nun nicht ein prinzipielles Sublimation feuerrot. Und es zeigen sich für Schopen-
Naturverhältnis, sondern die jeweils aus der Erfah- hauer in den so rasch wechselnden Farben von Indi-
rung abzuleitende Bestimmtheit des physiologischen katorflüssigkeiten oder in den Farbwechseln bei Pflan-
Verhältnisses der die Farbe abbildenden Verrech- ze und Tier solch feine Variationen der Farbverände-
nungsstruktur darstellt. Diese relative Farbintensität, rungen eingefangen.
die von Schopenhauer so genannte »schattige Natur Schließlich führt er in einer längeren Passage Be-
der Farbe«, beschreibt derart die Tätigkeit der Retina funde zu pathologischen Farbwahrnehmungen an,
»der Intensität nach« (F, 37). Insoweit ist für ihn die um von daher seine Darstellung zur Physiologie der
Farbe dann wesentlich ein »Schattenartiges« (F, 38). Farbwahrnehmung zu unterstützen. Dabei lässt sich
Der Bezug oder besser die Abgrenzung zu Newton das in solcher Farbblindheit erhaltene Bild für ihn
ist damit eindeutig. Es ist nicht die Auftrennung eines auch noch einmal direkt, in einem technischen Ver-
physikalisch in seiner Farbigkeit darzustellenden fahren, vor Augen führen: Die Daguerrotypie, so
Lichtes, es ist vielmehr die relative Perzeptibilität des Schopenhauer, ist jenes technische Verfahren einer
Lichtes, über die sich die Farbordnung und damit die bloß quantitativen Registratur von Lichtdifferenzen;
relative Bestimmung der Farbwerte erschließt. Damit sie zeigt dann auch direkt augenfällig »alles Sichtbare
ergibt sich nun aber auch ein spezielles Problem, die [...] nur nicht die Farbe« (F, 65) und belegt so für ihn
Frage der Herstellung des Weißen aus Farbe. Nach auch noch einmal indirekt, dass die Bestimmtheit des
Schopenhauer werden die jeweils polaren Bereiche perzipierenden Organs die relative Farbintensität des
der Farbe sich immer zum Weißen ergänzen. Es ist Beobachtbaren als physiologisch nachzuzeichnende
nicht einfach die Facette der prismatischen Vielfalt, es Reaktion interpretiert.
ist immer das Komplement der bipartierten Farben in Der Farbwert ist also ein physiologisch qualifizier-
seiner Gesamtintensität, auf 100 % seiner Intensität ter Schattenwert. Das, was sich hier relativ bestimmt,
und damit zum Weißen ergänzt. ist damit an ein die Sensorik Ansprechendes gebun-
Nun wird solch ein Weiß in der Mischung der che- den, das dann von dieser aber nach dessen Maßgabe
mischen Farben nicht erreicht. Dies erklärt sich nach als Farbe identifiziert, das heißt im Kontinuum der

Schwarz Violett Blau Grün Roth Orange Gelb Weiß


0 1/4 1/3 1/2 1/2 2/3 3/4 1
5  Ueber das Sehn und die Farben 39

möglichen relativen Retinatätigkeiten als Intensität Chance, mit der Physiologie über die Details des so
wahrgenommen und darin als Farbe bestimmt ist. Der möglichen Bildes der Erfahrung zu ringen, hat Scho-
Farbwert erscheint als Schattenwert. Das Blaue in sei- penhauer nicht genutzt – und vielleicht auch nicht
nem Verhältnis zum Gelb bestimmt sich nicht mehr nutzen wollen. Ist ihm doch das Exemplum einer
aus der Polarität einer grundsätzlichen Anlage der der Welt, die sich in dieser Form nach den uns eigenen
Farbe eigenen Materialität, sondern überführt sich Vorstellbarkeiten konstituiert, auch in ihrer Abstrakti-
nach Schopenhauer in der qualitativen Abstufung der on zureichend, um nun von den Sinnen zu der Frage
dem Rezeptor möglichen Bestimmungsverhältnisse der Konstitution und der Objektivierung des Vorstel-
in eine objektivierbare Farbordnung. Die Farbe wird lens überhaupt vorzustoßen.
darin zu einer Vorstellung, die in ihrer Intensität zwar
durch das Sonnenhafte des Auges, d. h. für Schopen- Literatur
hauer dessen physiologische Prädisposition, bestimmt Breidbach, Olaf: Goethes Naturverständnis. München 2011.
ist. Das Hirn steht so in der Tat vor der Welt. Die Kon- Burwick, Frederick: The Damnation of Newton: Goethe’s
Color Theory and Romantic Perception. Berlin 1986.
sequenz dieser Bestimmung einer Welt als Vorstellung Elie, Maurice: Sur la lumière et les couleurs. In: Schopen-
ist die Konsequenz einer neurophysiologischen Dar- hauer-Jahrbuch 53 (1972), 114–123.
stellung der Wahrnehmung, die das, was die Sinne an Finger, Stanley: Origins of Neuroscience. New York 1994.
das Verrechnungsgefüge herantragen, als Komposit Grigenti, Fabio: Natura e rappresentazione. Genesi e struttura
der dem Organ eigenen Möglichkeiten bestimmt. Das della natura in Arthur Schopenhauer. Napoli 2000.
Hübscher, Arthur: Um Schopenhauers Farbenlehre. Ein
Weltbild mit seinen Qualifizierungen und den erfah-
Brief und ein Bericht. In: Schopenhauer-Jahrbuch 31
rungsbezogenen Zuordnungen ist insoweit eine Pro- (1944), 83–90.
jektion nach Maßgabe der Affektionen, aber in den Hübscher, Arthur: Arthur Schopenhauer. Ein Lebensbild.
Formen des physiologisch verstandenen inneren Sin- In: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von
nes. Die Farbe wird mit ihrer greifbaren Pathophysio- Arthur Hübscher. Wiesbaden 1966, 29–142.
logie für Schopenhauer so zum Testfall seiner Philoso- Regenspurger, Katja/van Zantwijk, Temilo (Hg.): Wissen-
schaftliche Anthropologie um 1800? Stuttgart 2005.
phie, die den Erfahrungswert als Resultat der ein-
Sachs-Hombach, Klaus: Philosophische Psychologie im
fachen Grundbestimmtheit des Erfahrenden ausweist. 19. Jahrhundert. Ihre Entstehung und Problemgeschichte.
Ganz im Sinne Goethes bleibt der Erfahrende dabei in Freiburg 1993.
seiner Natur, die für Schopenhauer dann aber schlicht Wagner, Karl: Goethes Farbenlehre und Schopenhauers
immer seine physiologische ist. Farbentheorie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 22 (1935),
Der Grundansatz, den Schopenhauer in seiner Far- 92–176.
benlehre offeriert, ist 1816 formuliert, die weiteren Olaf Breidbach
Jahrzehnte werden für Verdeutlichungen genutzt. Die
40 II Werk

6 Die Welt als Wille und Vorstellung Schopenhauers, denn dort – besonders bei den Par-
erga und Paralipomena – sind die Unterschiede zwi-
6.1 Zur Entwicklung des Hauptwerks schen der Ausgabe letzter Hand und den posthumen
Ausgaben mit den Zusätzen meist noch gravierender.
Die Welt als Wille und Vorstellung entstand in den Jah- Die Welt als Wille und Vorstellung wurde immerhin
ren 1814 bis 1818 in Dresden und erschien im Dezem- 1919 einmal in einer vorbildlichen Edition von Otto
ber 1818 mit der Jahreszahl 1819 bei Brockhaus in Weiß vorgelegt, der nicht nur die Varianten der ver-
Leipzig. Unmittelbar nachdem das Hauptwerk er- schiedenen Auflagen genau verzeichnete, sondern
schienen war, habilitierte sich Schopenhauer mit sei- auch alle Zusätze aus den Handexemplaren Schopen-
nem Buch an der Berliner Universität und wurde dort hauers verwendete und kenntlich machte. Diese Aus-
Privatdozent. Für seine Vorlesungen arbeitete er die gabe, die als Teil einer niemals fertiggestellten Ge-
darin niedergelegte Philosophie didaktisch und auch samtausgabe der Werke Schopenhauers konzipiert
inhaltlich aus (s. Kap. 10.3). Schon bald zog er eine war, fand zwar seinerzeit Anerkennung, aber weder
zweite Auflage des Werks in Erwägung, doch auf- gingen die Resultate der Editionsarbeit in die nachfol-
grund der fehlenden Resonanz war der Verleger abge- genden Editionen ein und wurden in diesem Zusam-
neigt, und das Vorhaben musste immer wieder ver- menhang überprüft (vgl. Lütkehaus 2006, 26; Hüb-
schoben werden. Von 1821 an finden sich im Nachlass scher 1946, 383) noch wurden sie philosophisch aus-
Entwürfe zu Vorreden zu einer zweiten Auflage des gewertet. Eine partielle Überprüfung ergab indessen,
Hauptwerks – sieben allein bis zur Ankunft in Frank- dass auch diese Ausgabe unvollständig ist. Die Hand-
furt 1833 –, die zum einen die zunehmende Verbitte- exemplare sind übrigens heute noch erhalten und
rung gegenüber den ihn ignorierenden Zeitgenossen werden in sechs Bänden an der Fondation Bodmer in
dokumentieren, zum anderen die immer wieder ent- Cologny in der Schweiz aufbewahrt.
täuschte, aber ungebrochen bleibende Erwartung ei- Aufgrund dieser unbefriedigenden Editionslage
ner breiten Wirkung seiner Philosophie. In diesem existiert bis heute keine vergleichende Untersuchung
Vertrauen hat Schopenhauer in seinen Manuskript- zu den drei Auflagen von Schopenhauers Hauptwerk.
büchern Reflexionen, Beobachtungen, Exkurse ge- Im Folgenden können daher nur allgemeine Aussagen
sammelt, die viel später in die zweite Auflage der Welt getroffen werden, deren Überprüfung im Einzelnen
als Wille und Vorstellung als deren zweiter Band ein- noch aussteht. Um die Entwicklung des Hauptwerks
gehen sollten. Erst 1844 war es so weit, und die um detailliert nachzeichnen zu können, müssen neben
diesen Band erweiterte und auch im ersten Band er- den drei Auflagen auch Schopenhauers Handexempla-
heblich überarbeitete zweite Auflage erschien. Noch re, die Vorlesungsmanuskripte und der handschriftli-
einmal erweitert wurde die Welt als Wille und Vorstel- che Nachlass berücksichtigt werden. Die auffälligste
lung schließlich in dritter Auflage 1859 – von Scho- Veränderung besteht zweifellos darin, dass die zweite
penhauer noch selbst veröffentlicht. Auflage einen zweiten Band erhalten hat, der, wie ge-
Alle heute im Umlauf befindlichen Ausgaben ge- sagt, aus den Notizen und Entwürfen der seit der ers-
ben den Text der dritten Auflage wieder, häufig auch ten Auflage verstrichenen 25 Jahre hervorgegangen ist.
mit den Zusätzen, die Julius Frauenstädt in seiner Schopenhauer selbst hat sich in den Vorreden zu
posthumen Gesamtausgabe aus Schopenhauers Hand- den späteren Auflagen zu Veränderungen geäußert.
exemplar und Notizen hinzugefügt hatte. Für die wis- Zur zweiten Auflage schreibt er, die Modifikationen im
senschaftliche Bearbeitung der Welt als Wille und Vor- ersten Band, der den Text des ursprünglichen ganzen
stellung ist das von großem Nachteil, zumal die erheb- Werks enthält, beträfen »theils nur Nebendinge« (W I,
lichen Veränderungen in den späteren Auflagen nicht XXI), meist bestünden sie aber in kurzen erläuternden
kenntlich gemacht sind und Variantenverzeichnisse – Zusätzen. Lediglich der die »Kritik der Kantischen
wenn überhaupt vorhanden – unvollständig sind. Philosophie« enthaltende Anhang habe »bedeutende
Wenn die erste Auflage von Die Welt als Wille und Vor- Berichtigungen und ausführliche Zusätze erhalten«
stellung nicht noch vorhanden wäre (sie wurde 1988 (ebd.). Wenn Schopenhauer betont, dass die Verände-
von Rudolf Malter als Faksimile herausgegeben, auch rungen im Haupttext des ersten Bandes nur unwesent-
dieses ist aber längst vergriffen), wäre der ursprüng- lich seien, so ist seine Begründung für die Zugabe eines
liche Text nicht rekonstruierbar. Es fehlt immer noch zweiten Bandes mitzubedenken. Er bezieht sich dabei
eine zuverlässige historisch-kritische Ausgabe. Das auf Unterschiede im Stil, in der »Darstellungsweise
gilt übrigens noch mehr von den übrigen Werken und im Ton des Vortrags« (ebd.), die sich seit der Ab-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 41

fassung in der Jugendzeit so stark geändert hätten, dass lisches Handeln, also auf die Tugenden der Gerechtig-
durch Umarbeitung kein einheitlicher Text mehr ent- keit und Menschenliebe bezogen waren, durch »Mo-
stehen könne. Soweit es möglich war, hat er den ur- ral« und »moralisch« ersetzte (vgl. Koßler 1999, 391).
sprünglichen Wortlaut beibehalten wollen, auch wenn Die Änderungen, die Schopenhauer an dem An-
er nun manches »ganz anders ausdrücken würde« hang »Kritik der Kantischen Philosophie« vorgenom-
(W I, XXII). Es ist klar, dass sich ›ganz anders aus- men hat, sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass er
zudrücken‹ in philosophischen Texten durchaus gra- frühestens im Jahr 1826 die erste Auflage von Kants
vierendere Folgen haben kann, als es hier den Ein- Kritik der reinen Vernunft kennengelernt hatte. Da für
druck erweckt. Schopenhauer ist indessen davon über- ihn die Überarbeitung Kants »einen verstümmelten,
zeugt, dass sich die nötigen Klarstellungen dem Leser verdorbenen, gewissermaaßen unächten Text« (W I,
durch die Lektüre des zweiten Bandes von selbst er- 516) hervorgebracht hatte, musste die Entdeckung des
geben. Umgekehrt bezieht sich der zweite Band mit ursprünglichen Textes zu Modifikationen seiner Kri-
seinen einzelnen Kapiteln als Ergänzung unmittelbar tik an Kant führen, die an anderer Stelle behandelt
auf bestimmte Teile des ersten, der aus diesem Grunde werden (s. Kap. 6.7; 17).
auch eine neue Einteilung in Paragraphen erhielt. Einen Hinweis darauf, dass möglicherweise Teile
Demnach verhalten sich beide Bände derart ergänzend aus dem zweiten Band mehr enthalten als bloße Aus-
zueinander, »daß nicht bloß jeder Band Das enthält, führungen und gründlichere Durcharbeitungen des
was der andere nicht hat, sondern auch, daß die Vor- im ersten Band Dargelegten, könnte man in dem Um-
züge des einen gerade in Dem bestehn, was dem ande- stand erblicken, dass bei manchen Kapiteln kein Ver-
ren abgeht« (ebd.). Dabei kommt dem ersten Band der weis auf entsprechende Paragraphen des ersten Ban-
Entwurf des Ganzen in seinem systematischen Zusam- des zu finden sind. Das betrifft die Kapitel »Von den
menhang zu, dem zweiten dagegen die ausführlichere wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts«,
Begründung und Entwicklung der einzelnen Teile. »Von der Materie«, »Transzendente Betrachtungen
Wie man diese Zuordnung zu bewerten hat, hängt mit über den Willen als Ding an sich«, »Vom Instinkt und
dem schwierigen Problem der Methodologie Scho- Kunsttrieb«, »Leben der Gattung«, »Erblichkeit der
penhauers zusammen (s. Kap. 6.2). Er selbst gibt im- Eigenschaften«, »Metaphysik der Geschlechtsliebe«,
merhin doch einen Hinweis auf den Vorrang des ers- »Die Heilsordnung« und »Epiphilosophie«. Cum gra-
ten Bandes, wenn er empfiehlt, ihn wenigstens einmal no salis lässt sich aus diesen Themen ersehen, dass
gelesen zu haben, bevor man an die Lektüre des zwei- Schopenhauer das Verhältnis zwischen seiner Phi-
ten geht (vgl. W I, XXIII). Andererseits hebt er – aus losophie und den Naturwissenschaften zumindest in
verständlichen Gründen – in seinem Gesuch an den besonderem Maße beschäftigt hat. Schon in der
Verleger Brockhaus um den Druck einer zweiten Auf- Schrift Ueber den Willen in der Natur von 1836, die
lage die »bedeutende[n] Vorzüge« des zweiten Bandes zwischen der ersten und der zweiten Auflage des
vor dem ersten hervor, zu dem sich jener verhalte, »wie Hauptwerks erschienen war, war es ihm ein Anliegen,
das ausgemalte Bild zur bloßen Skitze« (GBr, 195). In die Übereinstimmung seiner Lehre mit den rasant
der Vorrede zur dritten Auflage schließlich betont fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erkennt-
Schopenhauer, er habe die zweite nur um weitere Zu- nissen nachzuweisen (s. Kap. 7). Zugleich zeigen die
sätze bereichert, zu denen eigentlich die Gedanken ge- im Vergleich mit der ersten Auflage wesentlich präzi-
hörten, die zuvor im zweiten Band der Parerga und Pa- seren Ausführungen über seine philosophische Me-
ralipomena veröffentlicht worden waren. thode mit dem Anspruch auf eine ›immanente‹ Meta-
Freilich sind diese Ausführungen des Autors nicht physik in den Kapiteln »Ueber das metaphysische Be-
ausschlaggebend für die Frage nach den tatsächlichen dürfniß des Menschen« und »Epiphilosophie« des
Entwicklungen und Modifikationen innerhalb des zweiten Bandes des Hauptwerks, dass sich Schopen-
Hauptwerks. Eine in der Forschung seit langem beste- hauer um eine genauere Bestimmung des Anspruchs
hende Diskussion betrifft mögliche Veränderungen in der Philosophie gegenüber und dennoch im Einklang
Schopenhauers Materiebegriff und in seiner Stellung mit den Naturwissenschaften bemühte.
zum Materialismus (vgl. Cornill 1856, 60 ff.; Volkelt Sieht man von der »Kritik der Kantischen Philoso-
1923, 84 ff.; Schmidt 2004, 129 f.). Als eine bemerkens- phie« ab, so lassen sich drei Bereiche festhalten, in de-
werte Modifikation wurde auch festgestellt, dass Scho- nen die Modifikationen der späteren Auflagen über ei-
penhauer ab der zweiten Auflage die Begriffe »Ethik« ne bloße Ergänzung bzw. ausführlichere Darstellung
und »ethisch« an allen Stellen, an denen sie auf mora- des in der ersten Auflage Vorgebrachten hinauszuge-
42 II Werk

hen scheinen: (1) der Vorstellungsbegriff, (2) das Ver- Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden
hältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft und Zusammenhang bewährt« (W II, 202 f.).
(3) die Behandlung der Materie. 3) In Bezug auf die Auffassung der Materie findet
1) Das Wort ›Vorstellung‹, das Kant eher unspezi- sich ihre grundlegende Bestimmung als die Verknüp-
fisch verwendet, spielt in Schopenhauers System eine fung von Raum und Zeit durch den Verstand schon in
zentrale Rolle in verschiedenen Teilen seiner Lehre. der ersten Auflage von 1819. Allerdings scheint es, als
Im Hinblick darauf hat er in der zweiten Auflage sei- ob damit die Erörterung des Materiebegriffs noch
nes Hauptwerks bei der Bestimmung der Vorstellung nicht abgeschlossen war, denn es finden sich zu dieser
vieles vertieft und erläutert. Ausführlichere Behand- Zeit auch abweichende Fassungen. Erst in der zweiten
lung in diesem Zusammenhang erhielten das Verhält- Auflage werden diese verschiedenen Ansätze klarer
nis der anschauenden zur abstrakten Erkenntnis, die differenziert und in einen umfassenden metaphysi-
Bestimmung von Vernunft und Verstand, die Lehre schen Rahmen gestellt. »Die Lehre von der Materie ist
von der empirischen Anschauung und die Funktions- ein besonders schwieriges und dunkles Stück der
weise der Vernunft (z. B. spielt der Syllogismus in der Schopenhauerschen Erkenntnistheorie. Die Materie
ersten Auflage eine geringere Rolle; s. Kap. 10.2). bietet bei Schopenhauer mehrere Anblicke dar je
Im Allgemeinen kann man sagen, dass Schopen- nach dem Gesichtswinkel, unter dem man sich ihr
hauer, obwohl er betont, die kantische Unterscheidung nähert« (Volkelt 1984, 382). Diese Schwierigkeit und
zwischen Erscheinung und Ding an sich beizubehal- Dunkelheit hängt nicht nur damit zusammen, dass
ten, eine radikale Veränderung der transzendentalen Schopenhauer das Thema im Lauf der Jahre aus ver-
Methode vornimmt, die in der zweiten Auflage akzen- schiedenen Perspektiven betrachtet, sondern auch
tuiert wird. Diese Neufassung des Transzendentalis- damit, dass er auf verschiedene Quellen zurückgegrif-
mus kann man als »physiologische Orientierung« fen hat. Letzteres zeigt sich sowohl in den vielen Be-
(Mandelbaum 1980) des Philosophieverständnisses zugnahmen auf die klassisch-aristotelische Lehre als
Schopenhauers kennzeichnen, die bereits in dem Werk auch auf die Lehren über die Materie bei Giordano
Ueber den Willen in der Natur bemerkbar ist. Bruno und Plotin. Das Problem der Materie ist in den
Es ist bezeichnend, dass das zweite Buch im zweiten Kapiteln 1 (»Die Lehre von der anschaulichen Vor-
Band des Hauptwerks (»Die Objektivation des Wil- stellung«) und 4 (»Von der Erkenntnis a priori«) der
lens«, d. h. die ausgebildete Willensmetaphysik) den zweiten Auflage behandelt, besonders ausführlich
Teil der Lehre ausmacht, der am stärksten verändert und gründlich aber im Kapitel  24 (»Von der Mate-
wurde. Das Problem, das Schopenhauer hier zu lösen rie«), das nicht auf bestimmte Teile des ersten Bandes
hat, ist eine neue Begründung der Naturphilosophie, referiert. Das deutet darauf hin, dass die Materie in
nachdem er Schellings Projekt derselben für un- Schopenhauers System immer wichtiger wird, bis zu
zulänglich erklärt hatte (vgl. Segala 2009, 258–348). dem Punkt, an dem sie zum Anknüpfungspunkt des
2) In diesem Zusammenhang stellt sich auch die empirischen Teils unserer Erkenntnis an den der rei-
Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft nen und der apriorischen wird:
und Philosophie. Dieses Problem wird besonders im
Kapitel  17 »Ueber das metaphysische Bedürfniß des »Demzufolge ist die Materie Dasjenige, wodurch der
Menschen« behandelt. Einerseits wird die Forderung Wille, der das innere Wesen der Dinge ausmacht, in die
erhoben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse seien Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar wird. In
die »berichtigte Darlegung des Problems der Metaphy- diesem Sinne ist also die Materie die bloße Sichtbar-
sik, [...] daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne keit des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit
zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründli- der Welt als Vorstellung« (W II, 349).
che, klare und zusammenhängende Kenntniß aller
Zweige der Naturwissenschaft sich erworben zu ha- Die Auseinandersetzung mit dem Materialismus ist
ben« (W II, 198). Andererseits ist die Aufgabe der Phi- ein weiterer Aspekt in Schopenhauers Behandlung
losophie die Entzifferung der Welt, und die Metaphy- der Materie. Er verwarf schon in der ersten Auflage
sik soll ihr Kriterium der Wahrheit im Hinblick auf ei- den Materialismus, d. h. die Auffassung von der Mate-
nen Zusammenhang, den die Wissenschaften nicht rie als ontologische Struktur der Wirklichkeit. Man
gewährleisten, haben (vgl. Mollowitz 1989): »Das muss bei all dem daran erinnern, dass die Verände-
Ganze der Erfahrung gleiche einer Geheimschrift, rung in den späteren Auflagen nicht nur in den Zusät-
und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren zen im zweiten Band bestehen, sondern dass auch vie-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 43

le Formulierungen des ersten Bandes erst in den nach- 6.2 Konzeptionelle Probleme und Inter-
folgenden Auflagen hinzugefügt wurden. Die Ent- pretationsansätze der Welt als Wille und
wicklung der Naturwissenschaften und der Physik, Vorstellung
die vor allem in den 1820er und 30er Jahren des neun-
zehnten Jahrhunderts aufgetreten ist, führt bei Scho- Nicht nur der Inhalt und die Argumentation des ers-
penhauer zu einer starken Reaktion gegen das reduk- ten Bandes von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt
tionistische Denken. Die Widerlegung des Materialis- als Wille und Vorstellung (= WWV) sind ausschlag-
mus, unter welchem Schopenhauer den mechanis- gebend für ein Verständnis des Werks, sondern auch
tischen Materialismus versteht, zeigt sich in den der Aufbau, die Gliederung, die Argumentationsform
späteren Auflagen in der Ablehnung der Atomtheorie. und die Systematisierung. Allerdings herrscht in der
Ein Teil der Sekundärliteratur sieht Schopenhauer Forschung hinsichtlich der strukturellen Interpretati-
aber als einen Denker mit starken materialistischen on kein Einvernehmen. Im Wesentlichen drehen sich
Tendenzen an (vgl. Schmidt 2004), so dass sein Platz die Diskussionen um vier Fragen oder Konfliktfelder:
in der philosophiehistorischen Entwicklung noch ge- (1) Wie ist Schopenhauers Hinweis zu verstehen, dass
nauer zu bestimmen ist. sein Werk einen einzigen Gedanken mitteilt? Welche
Rolle spielt dieser für das Werk? (2) Wie hängen die
Literatur einzelnen Bücher der WWV zusammen? Architekto-
Cornill, Adolph: Arthur Schopenhauer als Übergangsform nisch, systematisch, organisch? (3) In welchem Ver-
von einer idealistischen in eine realistische Weltanschau- hältnis steht das Werk zum Leser und zur Welt? Nor-
ung. Heidelberg 1856.
Hübscher, Arthur: Die kritische Schopenhauer-Ausgabe. In:
mativ in Bezug auf den Leser oder deskriptiv in Bezug
Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1946), 380–387. auf die Welt? (4) Wie verhält es sich mit den oft bean-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral. standeten Widersprüchen und Aporien im Werk? Fol-
Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund- gen Sie einem Konzept oder sind sie Denkfehler?
legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho- Die folgenden Darstellungen sollen die verschiede-
penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
nen Positionen, die in den Diskussionen aufgetaucht
Würzburg 1999.
Lütkehaus, Ludger: Einleitung zu Schopenhauers Werken sind, konturieren und einen Überblick über zum Teil
nach den Ausgaben letzter Hand. In: Arthur Schopen- alte, aber nach wie vor ungelöste Probleme der Scho-
hauer: Werke in fünf Bänden. Beibuch. Hg. von Ludger penhauer-Forschung geben.
Lütkehaus. Frankfurt a. M. 2006, 7–34.
Mandelbaum, Maurice: The Physiological Orientation of
Schopenhauer’s Epistemology. In: Michael Fox (Hg.): Der eine Gedanke
Schopenhauer. His Philosophical Achievement. Sussex
1980, 50–67. Gleich im zweiten Satz der Vorrede zur ersten Auflage
Mollowitz, Gerhard: Bewährung aus-sich-selbst als Krite- der WWV findet sich eine Formulierung, die eine brei-
rium der philosophischen Wahrheit. In: Schopenhauer- te Kontroverse bestimmt: »Was durch dasselbe [das
Jahrbuch 70 (1989), 205–225. Buch; J. L./D. S.] mitgetheilt werden soll, ist ein ein-
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
ziger Gedanke« (W 1, V). Obgleich das Werk nur einen
wissenschaft. Bonn 1985.
Morini, Maurizio: Trascendentalismo e immantismo nelle tre Gedanken artikuliere – so Schopenhauer weiter –, las-
edizioni del Mondo come volontà e rappresentazione di se sich dieser nur mittels Zergliederung in vier Teile –
Arthur Schopenhauer. Macerata 2017. die vier »Bücher« des ersten Bandes – mitteilen; aller-
Schmidt, Alfred: Schopenhauer und der Materialismus. In: dings habe man sich nach Schopenhauer »zu hüten,
Ders.: Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über nicht über die nothwendig abzuhandelnden Einzelhei-
die Philosophie Schopenhauers (1960–2003). Frankfurt
ten den Hauptgedanken dem sie angehören und die
a. M. 2004, 105–149.
Segala, Marco: Schopenhauer, la filosofia, le scienze. Pisa Fortschreitung der ganzen Darstellung aus den Augen
2009. zu verlieren« (W 1, VIII; vgl. auch HN I, 386 f.). Da
Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlich- Schopenhauer nirgends eine explizite Formulierung
keit, seine Lehre, sein Glaube. Stuttgart 51923. derart anbietet, dass der eine Gedanke dieses oder
Volkelt, Johannes: Korrelativismus und Materialismus. In: jenes sei (vgl. Atwell 1995, 18; Janaway 1999, 4), so
Volker Spierling (Hg.): Materialien zu Schopenhauers »Die
Welt als Wille und Vorstellung«. Frankfurt a. M. 1984, 371–
scheint es eine in der Forschung allerdings umstrittene
386. Interpretationsleistung zu bleiben, diesen Gedanken
zu finden und als solchen zu erläutern. Dabei könnte es
Matthias Koßler / Maurizio Morini – wie Rudolf Malter vermerkt – nicht unwichtig sein,
44 II Werk

zwischen Sätzen und Gedanken zu unterscheiden; der menfassung einzufangen, aber, inwiefern sie Stellen
eine Gedanke sei »obzwar selber kein Satz, nur in Sät- im Werk Schopenhauers integrieren kann, die beto-
zen, bestehend aus abstrakten Vorstellungen, präsent« nen, dass zwischen den mitgeteilten Gedanken als Tei-
(Malter 1991, 47). Im Wesentlichen lassen sich in der le des einen Gedankens und dem einen Gedanken
Forschung drei Positionen voneinander unterscheiden selbst zu unterscheiden ist (vgl. HN I, 387). Zu fragen
(zur Diskussion des »einen Gedankens« im franzö- wäre also, ob die Annahmen der erwähnten Autoren
sischsprachigen Raum s. Kap. 51): zutreffen, dass erstens der eine Gedanke abstrakt und
direkt mitteilbar ist und zweitens in der Zusammen-
1) Eine weit verbreitete Lesart versteht den einen Ge- fassung der einzelnen Werkteile besteht (vgl. Schubbe
danken als eine Art inhaltliches Extrakt der zentralen 2010, 51 f.).
Lehrstücke der WWV, dem sich über eine pointierte
Zusammenfassung nahekommen lässt. So versteht 2) Einer anderen Lesart zufolge ist die Mitteilung eines
Rudolf Malter den einen Gedanken über den Satz: einzigen Gedankens zwar ebenfalls zentrales Ziel der
»[D]ie Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens« WWV, allerdings leugnet diese Lesart die Möglich-
(W I, 526 (Lü); vgl. Malter 2010, 32). Dieser Satz lässt keit, den einen Gedanken in einem Satz zusammen-
sich auf eine Äußerung Schopenhauers zurückbezie- zufassen oder aus der WWV zu extrahieren. Vielmehr
hen, die sich auf 1817 datiert in seinen Manuskripten verweise das Werk auf den einen Gedanken: Dem
finden lässt (»Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zu- Werk ist somit gleichsam ein performativer Zug zu ei-
sammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist gen. So betont beispielsweise Matthias Koßler mit
die Selbsterkenntniß des Willens«, HN I, 462) und Blick auf die »Thebenmetapher« (s. u.), dass der eine
schließlich – wie zitiert – auch Eingang in das Haupt- Gedanke »im Mittelpunkt der sich kreuzenden, je-
werk gefunden hat. Wolfgang Weimer erweitert diese doch nicht ineinanderlaufenden Richtungen zu su-
Bestimmung des einen Gedankens noch um den Zu- chen ist« (2006, 375). Von einer explizit performativen
satz: »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens Deutung des einen Gedankens spricht Daniel Schub-
von seiner Leidhaftigkeit. Dieses Leiden kann in Stu- be. Die Vorgabe des einen Gedankens hat in seiner
fen aufgehoben werden« (Weimer 1995, 17). Volker Aussprache selbst die Aufgabe, die vier Perspektiven
Spierling sieht den einen Gedanken in der Formulie- des Werkes, die sich in den vier Büchern bieten, zu
rung ausgedrückt, dass »diese Welt, in der wir leben bündeln. Demzufolge verbürgt der eine Gedanke
und sind, ihrem ganzen Wesen nach, durch und durch nicht einen Inhalt, sondern die Einheit des Werks
Wille und zugleich durch und durch Vorstellung ist« selbst. Die verschiedenen Perspektiven der vier Bü-
(W I, 227 (Lü); vgl. Spierling 1998, 63). Einen anderen cher der WWV auf die Mensch-Welt-Bezogenheit
Kandidaten für den einen Gedanken sieht beispiels- werden durch den einen Gedanken derart zusammen-
weise Jochem Hennigfeld (2006, 465) in dem als gehalten, dass dieser vielmehr die »Gemeinsamkeit
Grundsatz interpretierten Schopenhauerschen Lem- der verschiedenen Perspektiven oder Wirklichkeits-
ma: »Der Wille als das Ding an sich macht das innere, bereiche« verbürgt (Schubbe 2010, 195). Der eine Ge-
wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus« danke ist somit auf theoretischer Ebene eine Art Pa-
(W II, 232 (Lü)). rallelbegriff zur Welt, in der ebenfalls die einzelnen
John Atwell merkt hinsichtlich des Versuchs einer auszulegenden und zu beschreibenden Gehalte ge-
Formulierung des einen Gedankens an, dass auch die meinsam vorliegen.
entscheidenden Erkenntnisse des dritten und vierten
Buches berücksichtigt werden müssen (vgl. Atwell 3) Eine dritte Lesart lokalisiert dagegen die von Scho-
1995, 30; Janaway 1999, 5). Nachdem er einige Kandi- penhauer vorgegebene und für die Erfassung des ei-
daten und deren Konsequenzen diskutiert hat, kommt nen Gedankens maßgebende Zielsetzung der WWV
er schließlich zu der Formulierung: »The double-si- nicht in der Vorrede, sondern erst am Ende von § 15.
ded world is the striving of the will to become fully Die Vorrede stellt mit dem »einen Gedanken« nur ein
conscious of itself so that, recoiling in horror at its in- Traditionsargument dar, das zum einen aus der bis-
ner, self-divisive nature, it may annul itself and thereby lang noch ungenügend erforschten Ideengeschichte
its self-affirmation, and then reach salvation« (Atwell des einen Gedankens von beispielsweise Descartes,
1995, 31). Spinoza, Jacobi oder Fichte übernommen wurde (vgl.
Fraglich ist bei dieser ersten Lesart, die versucht Lemanski 2011, 316; Koßler 2006) und das zum ande-
den einen Gedanken über eine inhaltliche Zusam- ren nur für die Beantwortung der Frage, wie das Buch
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 45

zu lesen ist, instrumentalisiert wird. Die eigentliche chen, in welchem immer ein Theil den andern trägt,
Zielsetzung Schopenhauers finde man dagegen in nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich
§ 15: Schopenhauer erklärt dort, dass es die Aufgabe alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel ge-
seiner Philosophie sei, »alles Mannigfaltige der Welt tragen wird, ohne zu tragen. Hingegen ein einziger Ge-
überhaupt, seinem Wesen nach, in wenige abstrakte danke muß, so umfassend er auch seyn mag, die voll-
Begriffe zusammengefaßt, dem Wissen zu überlie- kommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum
fern« (W I, 131 (Lü)). Er beruft sich dabei, wie auch Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so
bei der Parallelstelle in der Ethik (vgl. W I, 494 (Lü)), muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile
auf Francis Bacon und bekennt sich somit sowohl zu ein organischer, d. h. ein solcher seyn, wo jeder Theil
einem empirischen Ansatz (vgl. Koßler 1999) als auch ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen ge-
zu einer neuzeitlich-aufklärerischen Tradition, die das halten wird [...]« (W I, 7).
philosophische Buch über die Welt an die Stelle der Bi-
bel setzt (vgl. Blumenberg 1986, bes. Kap. VIII). Obgleich es kontrovers ist, ob Schopenhauer den Be-
Die Zielsetzung, d. h. die »vollständige Wieder- griff ›System‹ synonym zu ›architektonisch‹ und als
holung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrak- Gegenbegriff zu ›organisch‹ (vgl. Schubbe 2010, 50)
ten Begriffen« (W I, 131 (Lü)), verdeutlicht sich in ei- oder ob er ›System‹ als Oberbegriff für die beiden kon-
ner Analogie: Wenn der »Erkenntnißgrund« für die trären Teilbegriffe ›architektonisch‹ oder ›organisch‹
philosophischen Urteile »unmittelbar die Welt selbst« verwendet (vgl. Strub 2011, 106; ferner Bloch 1985,
(W I, 131) sei und diese durch die WWV abgespiegelt 369), lässt sich festhalten, dass in beiden Fällen ›archi-
werde, dann umfasst »Welt« als höchster Begriff (con- tektonisch‹ die Gegenmetapher zu ›organisch‹ bleibt,
ceptus summus) alle anderen Begriffe der WWV (con- so dass wir im Folgenden nur diese Dichotomie ver-
ceptus inferiores) ebenso wie auch die reale-unmittel- wenden. Somit lässt sich generell sagen: Schopenhau-
bare Welt alle anderen Entitäten in sich umfasst (vgl. er möchte sein Werk explizit nicht als Architektur ver-
Lemanski 2017). Ähnlich bringt für Arthur Hübscher standen wissen, sondern als Organismus. Der Unter-
auch schon der Titel »Die Welt als Wille und Vorstel- schied: Während die Architektur nach Schopenhauer
lung« den einen Gedanken »auf eine kurze Formel«: linear konstruiert ist, trägt in einem Organismus jeder
Er »kommt, in jeder Zeile gegenwärtig, in vier Bü- Teil den anderen, sie sind aufeinander verwiesen.
chern wie in vier symphonischen Sätzen zur allseiti- Schopenhauer versteht sein Werk also so, dass der
gen Entfaltung« (Hübscher 1952, 69). Sieht man auf letzte Teil ebenso den ersten trägt, wie der erste den
die letzten Sätze von § 15, so findet man eine Verbin- letzten. Die Zergliederung des Werks in vier Teile liegt
dung der beiden zuletzt genannten Ansätze: Wille und nach Schopenhauer somit nicht in der Sache, sondern
Vorstellung inklusive der darunter enthaltenen Glie- in der Problematik ihrer Mitteilung: Da nach ihm ein
der sind allesamt Teilbegriffe des Begriffs ›Welt‹, d. h. Buch eben eine erste und letzte Zeile haben müsse,
in dessen Begriffsumfang enthalten. Als höchster Be- bliebe kein anderer Weg, aber dies dürfe nicht mit
griff soll somit hier der Weltbegriff zwischen den an dem Gegenstand, mit dem einen Gedanken selbst ver-
sich widersprüchlichen Dichotomien vermitteln; »ih- wechselt werden. Dadurch kommt es nach Schopen-
re Harmonie zu einander, vermöge welcher sie sogar hauer zwangsläufig zu einem Widerspruch zwischen
zur Einheit eines Gedankens zusammenfließen, [...] Inhalt und Form (vgl. W I, 8 (Lü)), der aber mit einer
entspringt aus der Harmonie und Einheit der an- (mindestens) zweimaligen Lektüre des Buches be-
schaulichen Welt selbst« (W I, 132 (Lü)). hoben werden könne.
Allerdings wird in der neueren Forschung dis-
kutiert, ob der Widerspruch zwischen Inhalt und Form
Architektonik, System oder Organismus?
nicht weitreichendere Konsequenzen hat, als Schopen-
Die Forschungskontroverse, wie der Zusammenhang hauer einzugestehen bereit ist. So hebt Martin Booms
der vier Bücher der WWV zu verstehen ist, eröffnet (vgl. Booms 2003, 141–146) hervor, dass es bei Scho-
sich an den drei Metaphern ›Architektur‹, ›System‹ penhauer zwei unterschiedliche Selbsteinschätzungen
und ›Organismus‹, die im Kontext des einen Gedan- bezüglich der Anfangsproblematik gibt: Zum einen ist
kens auftauchen: dies die berühmte Thebenanalogie aus dem Jahr 1841
(vgl. E, 327 f. (Lü), häufig auch »Thebenmetapher«),
»Ein System von Gedanken muß allemal einen archi- derzufolge der Einstieg in Schopenhauers Philosophie
tektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen sol- beliebig sei, da man von überall zum Mittelpunkt kom-
46 II Werk

men könne; zum anderen ist dies der im zweiten Band Begriff wie ›Welt‹ bis beispielsweise zu den konkreten
der Parerga und Paralipomena formulierte Gedanke, Vernunftdefinitionen von ›Lachen‹, ›Witz‹ und ›Narr-
dass »jede Philosophie anzuheben [hat] mit Unter- heit‹ (vgl. W I, 102 f. (Lü)) reicht. Aufgrund dieser stu-
suchung des Erkenntnißvermögens, seiner Formen fenförmigen Begriffsstruktur, die sich durch die ganze
und Gesetze, wie auch der Gültigkeit und der Schran- WWV hindurchzieht, ist es ratsam, anhand einschlä-
ken derselben« (P II, 24 f. (Lü)). Nach Booms kommt es giger Stellen zu verfolgen, dass Schopenhauer mit der
damit bereits am Anfang zu einer antinomischen Ver- Architekturmetapher eine aus Allgemeinbegriffen
wicklung – er spricht von einer Methodenantinomie –, und Prinzipien nur ableitende Philosophie kritisiert
da die eine Bestimmung die andere ausschließt. Mehr (vgl. W I, 130 (Lü)), wie er sie exemplarisch für die
noch: Nach Booms ist die Form inhaltsprägend, so dass Neuzeit bei Spinoza oder Wolff sieht (vgl. Strub 2011,
der Beginn mit der Erkenntnislehre – die er transzen- 106 f.). Die Begriffsstruktur der WWV ist somit eine
dentalistisch interpretiert – derart theorieinitiierend der bedeutenden Leistungen des Werks, aber sie kann
wirkt, dass Schopenhauers Philosophie insgesamt zu nur ein Gesamtresultat und nicht die Methode der
einer Transzendentalphilosophie wird. Die Primärstel- WWV sein, da Schopenhauer sonst wiederum an Spi-
lung der Erkenntnislehre werde damit zu einer Fun- noza und Wolff anknüpfen würde. Die genaue Struk-
damentalstellung. Für Booms trägt die Anfangsproble- tur ist in der gegenwärtigen Forschung noch nicht
matik entscheidend zur Frage nach einer Charakteri- ausgearbeitet (vgl. Lemanski 2017).
sierung des Werks insgesamt bei. b) Die Forschung hat sich hingegen bislang intensi-
Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit von ver mit der Themenstruktur beschäftigt, die einerseits
Form und Inhalt fragt Schubbe gegenüber Booms zu- für die noch genauer zu untersuchende Linearität von
nächst danach, was denn bei Schopenhauer über- Bedeutung ist, andererseits sich teilweise der Archi-
haupt als Inhalt und Form bestimmt werden soll (vgl. tekturmetapher dadurch annähert, dass sie die Positi-
Schubbe 2010, 25–31). Indem Schubbe den deskripti- on bestimmter Themen innerhalb des Werks festsetzt:
ven Charakter der Erkenntnislehre und den von Scho- Wie am Beispiel von Booms bereits gezeigt, steht von
penhauer herausgestellten didaktischen Sinn des Be- einigen Interpreten die Behauptung im Raum, dass
ginns mit der Erkenntnislehre betont, versucht er zu der Anfang der WWV mit der Erkenntnislehre nicht
zeigen, dass der Erkenntnislehre weder ein Begrün- ohne weiteres beliebig sei, da »[j]eder transzendente
dungsstatus zukommt, noch diese die Form des Werks Dogmatismus [...] vermieden werden« soll (Spierling
festlegt; vielmehr müsse die Gesamtform des Werks 1998, 49), bzw. weil sie »das Teilstück der Darstellung
als die Form angesehen werden, von der der Inhalt des prozessualen Geschehens [ist], wodurch dieses
nicht abstrahiert werden kann. Da Schubbe zwischen Geschehen eröffnet wird« (Malter 1991, 53). Ebenso
dem performativ-indirekten einen Gedanken und festgesetzt erscheint für viele Interpreten der Schluss
vielen direkten Gedanken unterscheidet, liegen für der WWV. Besonders einschlägig für diese Position
ihn die Thebenanalogie und die Anfangsbestimmtheit war Franz Rosenzweigs Rede von der Schopenhauer-
schlicht auf verschiedenen Ebenen: Die Thebenanalo- schen Innovation eines »systemerzeugten Heiligen
gie bezieht sich auf den einen Gedanken, die didak- des Schlußteils«, der »den Systembogen schloß, wirk-
tisch verstandene Anfangsbestimmtheit auf die direk- lich als Schlußstein schloß, nicht etwa als ethisches
ten Gedanken, durch die hindurch der eine Gedanke Schmuckstück oder Anhängsel ergänzte« (Rosen-
im günstigen Fall provoziert wird. zweig 1921, 8 f.). Eduard von Hartmann spricht eben-
Doch zurück zur Frage, was für die Metapher der falls von einer Hervorhebung des Nichts, die von
Architektonik (1) oder des Organismus (2) spricht. Schopenhauer »wiederholentlich und mit Nachdruck
als der Gipfel nicht nur seiner Ethik, sondern auch sei-
1) Trotz der expliziten Vereinnahmung der Organis- nes ganzen philosophischen Systems bezeichnet wor-
musmetapher für sein Werk findet man (a) bei Scho- den« ist (Hartmann 1924, 54). Schopenhauers Religi-
penhauer selbst (vgl. z. B. W II, 420 (Lü)) und (b) in onsphilosophie, der Heilige und das Nichts werden, so
der Forschung eine Annäherung an die Architektur- Hans Zint, somit zum »leuchtenden Schlußpunkt sei-
metapher. ner ganz Philosophie« (Zint 1930, 63). Insofern weist
a) Die meisten gesperrt gesetzten Allgemeinbegrif- auch Gerhard Klamp darauf hin, dass das dritte Buch
fe in der WWV bilden eine der klassischen Begriffs- nur eine »Vorschule« für die »eindrucksvolle[n]
logik entsprechende hierarchische Struktur (vgl. z. B. Schlusspartien« (Klamp 1960, 83) des vierten Buchs
W II, 76 (Lü); VN I, 259–276), die vom abstraktesten sein könne. Das feste Themenarrangement ausgehend
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 47

von der Erkenntnistheorie bis hin zur ›mystischen und dessen Flucht ins Nichts beschreibt, so war es für
Ontologie‹ geht bei den meisten Forschern mit einem viele Interpreten naheliegend, dass der Autor seinem
linearen Verständnis des Aufbaus der WWV einher. Leser »zumuthe[.], den Willen zum Leben [...] zu ver-
Ein anderes architektonisches Bild, das die Position neinen« (Weigelt 1855, 156). Daher erklärt auch Paul
der Ethik festsetzt, kann aber auch mit der Theben­ Deussen, dass Schopenhauers Ethik zuletzt doch »ei-
analogie erreicht werden, wenn man auf das Verhältnis ne Imperativische Form hat. Sie liegt für ihn darin,
von Peripherie und Zentrum rekurriert: Johann Au- dass er die Verneinung des Willens zum Leben der Be-
gust Becker (vgl. Becker 1883, 4) und Karl Werner Wil- jahung durchweg als das Höhere, Bessere gegenüber-
helm (vgl. Wilhelm 1994, 10) interpretieren die The­ stellt« (Deussen 1917, 555). Allerdings wird in diesem
ben­analogie so, dass die ersten drei Bücher der WWV Zitat eine Differenz verwischt, die anderen Interpre-
periphere Zugangswege bilden, alle Zugänge aber zum ten zufolge einen »Zwischenweg« zwischen einer nor-
zentralen Kern führen, welcher die Ethik im letzten mativen oder deskriptiven Lesart aufzeigen kann: Es
Buch sei. ist durchaus möglich, einzuräumen, dass Schopen-
hauer sein Werk deskriptiv verstanden wissen will,
2) An die Vereinnahmung der Organismusmetapher aber dennoch den Figuren der Weltüberwindung ei-
für sein Werk halten sich sowohl (a) Schopenhauer nen wertvolleren, höheren Status einräumt als den Le-
selbst an vielen Stellen als auch (b) in jüngerer Zeit im- bensbejahern. Eine solche axiologische Lesart ist wer-
mer mehr Forscher. tend, aber nicht präskriptiv. Eine deskriptive Lesart ist
a) Schopenhauer selbst hebt hervor: Wenn man hingegen weder normativ noch axiologisch. Da sich
den einen Gedanken »von verschiedenen Seiten be- die drei Lesarten am deutlichsten in der Interpretation
trachtet, zeigt er sich als Das, was man Metaphysik, der Schopenhauerschen Willensverneinung zeigen,
Das, was man Ethik und Das, was man Aesthetik ge- kann man orientierungsweise festhalten:
nannt hat« (W I, 7 (Lü)).
b) Aus diesem Grund, meint Robert Jan Berg, gebe (1) Normative Interpretation: Schopenhauer will sei-
es »prinzipiell beliebige Zugangswege« (Berg 2003, 99) nen Leser von der Willensverneinung überzeu-
in den Organismus des Werks. Obwohl Schopenhauer gen, so dass dieser sie praktisch umsetzt.
im ersten Buch der WWV die Welt als Wille aus der (2) Axiologische Interpretation: Schopenhauer be-
Welt als Vorstellung argumentativ entwickelt, könnte schreibt die Willensverneinung nur, bewertet sie
ein Leser doch ebenso gut mit dem zweiten Buch be- aber als besser im Vergleich zur Lebensbejahung.
ginnen, da Schopenhauer dort anders herum auch die (3) Deskriptive Interpretation: Schopenhauer be-
Welt als Vorstellung aus der Welt als Wille genetisch schreibt Willensverneinung und -bejahung nur
erklärt und beide Bücher sich somit wechselseitig er- und zwar beide gleichwertig.
gänzen, also die Priorität der jeweiligen ›Welt‹ nur
durch die Methodik des Themas – Erkenntnistheorie Das von Schopenhauer nicht verwendete, aber in der
oder Naturphilosophie – entschieden wird. Die belie- Forschung intensiv diskutierte Reizwort ›Soteriologie‹
bige Stellung der Schlusspassagen wird zudem durch (bzw. Erlösungslehre, ferner: Befreiungslehre) fällt in
die Neuformulierung der WWV in den Vorlesungen den Bereich der Willensverneinung und kann daher
Schopenhauers deutlich, in der Schopenhauer nicht (1) normativ, (2) axiologisch oder aber (3) deskriptiv
mit »Nichts«, sondern mit einem metaphilosophi- interpretiert werden. Prinzipiell divergieren aber alle
schen Thema endet (vgl. VN IV, 271 ff.). Innerhalb der drei Lesarten auch an anderen Fragestellungen, bei-
organischen Lesart wäre somit auch eine alternative spielsweise an der Interpretation von Idealismus und
Fassung der WWV denkbar, die nicht mit der Vernei- Empirismus im ersten Buch der WWV.
nung, sondern mit der Bejahung des Willens endet. Zu den Vertretern einer axiologischen Interpretati-
on der Soteriologie könnte man Malter zählen, dem-
zufolge das Hauptwerk als ein vom Autor beschriebe-
Die WWV: Normatives, axiologisches oder
ner Prozess der Befreiung zu verstehen ist: »Die for-
deskriptives Gedankengebäude?
melhafte Nennung des einen Gedankens indiziert ei-
Sehr früh hat die architektonische Festsetzung und nen Prozeß: den Prozeß, in welchem die Befreiung des
Fokussierung auf das Ende der WWV die lineare In- Subjekts von seiner negativen Befindlichkeit stattfin-
terpretation mit einer normativen gekoppelt: Wenn det« (Malter 1991, 52). Der Fortgang erfolgt nach
Schopenhauer am Ende seines Werks den Asketen Malter über verschiedene Krisen bis zur Erlösung:
48 II Werk

»Die Philosophie Schopenhauers kann sich nur deswe- covery of what the world is, disclosure of the world’s
gen als Soteriologie [...] artikulieren, weil das befrei- essence« (De Cian/Segala 2002, 31). Jens Lemanski
end-erlösende Moment schon ursprünglich im Subjekt versucht in diesem Zusammenhang zu zeigen, dass
angelegt ist. Nachzuzeichnen, wie es zu seiner Aktivie- die normative Interpretation, die die WWV auch im
rung kommt und wie der Wille – trotz seiner ihm eige- deutschen Sprachraum als negatives, pessimistisches
nen Substantialität – das Subjekt nicht mehr be- und lebensverneinendes Werk deutet, selbst durch
stimmt, ist das Ziel, auf das hin sich das Schopenhau- Schopenhauers Spätschriften und Überarbeitungen
ersche System dank des Transzendentalismus, der es begünstigt wurde und sich aufgrund der Fehlinterpre-
leitet, bewegt« (Malter 1991, 55). tationen Mainländers, Hartmanns und besonders
Nietzsches in der Philosophiegeschichte etablieren
Hieran sieht man, dass der Zusammenhang zwischen konnte. Deutlich wird dies Lemanski zufolge an der
›Transzendentalismus‹ (Leitgedanke) und ›Erlösungs- sogenannten »Weigelt-Becker-Kontroverse«, in der
lehre‹ (Ziel) zu einer linearen Interpretation des Schopenhauer und seine engsten Schüler in den
Werks führt. Die zielgerichtete Interpretation Malters 1850er Jahren sich selbst gegen die linear-normative
schränkt den Ausdruck ›Soteriologie‹ auf eine norma- Lesart wehren und zur Deutlichkeit der Erstauflage
tive oder axiologische Interpretation ein, da auch Mal- der WWV zurückfinden, in der die Abspiegelung der
ter zwischen den beiden Interpretationsrichtungen Welt stärker heraussticht als im Spätwerk (vgl. Le-
schwankt. Entsprechende Konnotationen finden sich manski 2013, 153–161).
auch bei Alfred Schmidt: »Resignation ist die schwer Einen weiteren Gegenpart findet die linear-soterio-
beschreibbare Grundstimmung, in die Schopenhau- logische Interpretation in einer morphologischen Les-
ers Denken einmündet« (Schmidt 1986, 75). Die Me- art (vgl. Schubbe 2010 und 2012). Nach dieser sind die
tapher des »Einmündens« drückt hier eben diese Ziel- in den vier Büchern der WWV explizierten Erkennt-
gerichtetheit aus, die entweder eine Prävalenz der nisformen und Mensch-Welt-Beziehungen erkennt-
Willensverneinung ausdrücken kann (axiologisch) nistheoretisch und ontologisch als gleichrangig zu be-
oder eine Lenkung zu derselben bewirken soll (nor- trachten (vgl. Schubbe 2012).
mativ). Ein Verständnis des Werks im Zeichen einer Allerdings könnte es sein, dass die Rede von einer
Linearität und Normativität oder Axiologie speist sich reinen Deskriptivität der WWV noch von einer ande-
somit vor allem aus einer spezifischen Interpretation ren Seite als der einer normativen oder axiologischen
des Stils, des Kontextes der Schlusspasssagen und aus Lesart eingeschränkt werden muss: Da Schopenhauer
späteren Selbstaussagen Schopenhauers. Komple- in Bezug auf seine Metaphysik nicht nur von einer Be-
mentär zur axiologischen oder normativen Soteriolo- schreibung der Welt spricht, sondern auch von ihrer
gie in der Ethik, die besonders in der deutschsprachi- Auslegung (s. Kap. 40), knüpft sich hier die schließlich
gen Forschung diskutiert wird (Stichwort: ›Erlösung auch im Kontext der Phänomenologie und Herme-
durch Erkenntnis‹), wird in der spanisch- und beson- neutik viel diskutierte Frage an, inwiefern ›Beschrei-
ders in der englischsprachigen Forschung eine axiolo- bung‹ und ›Auslegung‹ sich gegenseitig ausschließen
gische oder normative Befreiungslehre in der Ästhetik oder aufeinander verweisen.
diskutiert (Stichwort: ›art as liberation‹).
Vertreter einer rein deskriptiven Lesart berufen
Widersprüche und Aporien in der WWV
sich dagegen vor allem auf die Anfangspassagen des
vierten Buchs der WWV, in denen Schopenhauer er- Sehr früh – so bereits 1819 von einem anonymen Re-
klärt, dass auch seine Ethik nur theoretisch-betrach- zensenten – wurde in der Schopenhauer-Rezeption
tend bleibt und nichts vorzuschreiben empfiehlt (W I, auf Aporien oder Widersprüche in der WWV auf-
357 f. (Lü)). Für Koßler ist dies der Grund von einer merksam gemacht. Diese Diskussion durchzieht die
»empirischen Ethik« zu sprechen und mehrfach zu Schopenhauer-Forschung bis in die Gegenwart, wobei
betonen, dass Schopenhauer auch »Ethik nicht prae- auffällt, dass weder Einigkeit darüber herrscht, welche
skriptiv, sondern ›deskriptiv‹ versteht« (1999, 434). Sachverhalte denn als ›Widersprüche‹ anerkannt wer-
Nicoletta De Cian und Marco Segala behaupten, dass den sollen, noch wie diesbezüglich terminologisch
besonders die englischsprachige Schopenhauer-For- verfahren werden soll – so ist beispielsweise von Wi-
schung eine simplifizierte und verzerrte Interpretati- dersprüchen, Aporien, Antinomien und Zirkeln die
on und Rezeptionsgeschichte beschworen hat, wäh- Rede. Zudem lassen sich verschiedene Einschätzun-
rend Schopenhauers hauptsächliches Ziel lautet: »dis- gen und Bewertungen der Problematik finden, die
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 49

sich grob in vier Gruppen einteilen lassen (zu einer er ein Philosoph, »der besonnen reflektiert, der der
Zusammenstellung von Autoren, die sich zu dem The- Differenz von Begriff und Sache methodisch ein-
ma geäußert haben vgl. Malter 1991, 48, Anm. 25; zur gedenk bleibt, der dem apriorisch-idealistischen Iden-
folgenden Systematisierung vgl. auch Booms 2003, titätsdenken Einhalt gebietet« (Spierling 1998, 240).
23 f.): Während einige Interpreten die ›Widersprüche‹ Im Anschluss an die Rede von der »vergessenen
bei Schopenhauer als Missverständnisse der Ankläger Dialektik« hat Matthias Koßler den Versuch unter-
zu entlarven versuchen bzw. diese wohlwollend hinter nommen, anhand eines Vergleichs mit Hegels Phäno-
den Leistungen Schopenhauers zurücktreten sehen menologie des Geistes eine implizite, durch die Wider-
(z. B. Hübscher 1988, 254–265), lesen andere Interpre- sprüche hindurchgehende spekulativ-dialektische
ten die ›Widersprüche‹ als Ausdruck einer misslun- Entwicklung in der WWV nachzuweisen, die in der
genen Theorie (z. B. Booms 2003; Hösle 2002, 78). »Erfahrung des Charakters« kulminiert (vgl. Koßler
Während diese beiden Gruppen trotz ihrer Divergen- 1990 und 2002).
zen die ›Widersprüche‹ einheitlich als negativ oder In neuerer Zeit ist das Problem der Aporien ins-
problematisch erachten, lässt sich eine dritte Gruppe besondere von Booms, Kai Haucke und Schubbe auf-
identifizieren, die diese als konstitutiven, positiven gegriffen worden (zu den folgenden Ausführungen
Bestandteil des Denkens Schopenhauers versteht vgl. Bernardy/Schubbe 2011, 250 ff.). Martin Booms
(vgl. z. B. Spierling 1998, 223–240; Schubbe 2010). Ei- (vgl. Booms 2003) radikalisiert die transzendentalisti-
ne vierte Gruppe bilden diejenigen, die die begriff- sche Lesart Rudolf Malters, indem er die verschiede-
lichen Widersprüche in der WWV als Abbild einer nen transzendentalen Ebenen, die Malter bei Scho-
realen Widersprüchlichkeit in der Welt auffassen (vgl. penhauer ausgemacht hat, zu einem Transzendentalis-
Haucke 2007; Lemanski 2013, 170 ff.). mus verbindet. Allerdings handelt es sich nach Booms
Die jüngere Forschung ist wesentlich durch den Zu- – darin wird seine pejorative Bewertung der Aporetik
gang zu diesem Problem geprägt, den Volker Spierling sichtbar – um einen fehlerhaften Transzendentalis-
1977 mit seiner Dissertation Schopenhauers transzen- mus, der sich aus einem Missverständnis der Philoso-
dentalidealistisches Selbstmißverständnis in die Diskus- phie Kants seitens Schopenhauers ergibt. Aus einer
sion eingebracht und nachfolgend wiederholt auf- falschen Konzeption des Transzendentalismus im ers-
gegriffen und präzisiert hat. Im Kern dieses Ansatzes, ten Buch ergibt sich eine Aporetik zwischen subjekti-
der zugleich einen Blick auf die Gesamtkonzeption der vistischen und materialistischen Aspekten. Die drei
WWV eröffnet, macht Spierling auf sich wiederholen- folgenden Bücher des Hauptwerks versuchen nach
de Stellen im Gesamtwerk Schopenhauers aufmerk- Booms nichts anderes als den jeweiligen Bruch im
sam, an denen dieser davon spricht, dass jeder Gedan- nächsten Buch wieder aufzuheben. Da der Fehler sich
ke in der Philosophie gleichsam durch einen Perspek- aber auf jeder Ebene wiederhole, erzeuge jedes Buch
tivenwechsel in seiner Einseitigkeit kompensiert wer- einen neuen Versuch, bis das Werk – derart in sich
den müsse (vgl. z. B. P II, 39 (Lü)). Mit diesem Hinweis selbst verwickelt – schließlich im Nichts endend sich
versucht Spierling zu zeigen, dass das Werk Schopen- selbst erlöse (vgl. Booms 2003, 153).
hauers an drei entscheidenden Stellen eben jene Form Der zweite hier vorzustellende Versuch, sich der
der Kompensation – die von Spierling sogenannten Aporetik in Schopenhauers Hauptwerk im Sinne einer
»Kopernikanischen Drehwenden« – aufweist, und die Gesamtinterpretation des Werks zu nähern, ist der
›Widersprüche‹ vielmehr methodologisch als »Stand- von Kai Haucke (vgl. Haucke 2007). Wie Haucke zu
punktwechsel« im Sinne einer »vergessenen Dialektik« zeigen versucht, ist die grundlegende Aporie bei Scho-
(so ein Teil des Untertitels von Spierling 1977) zu ver- penhauer in seinem Pessimismus zu suchen. Dieser ist
stehen sind. Die Wechsel zwischen Materialismus und nur zu verstehen, wenn man seine beiden Bestandteile
Idealismus, zwischen metaphysischer und hermeneu- – nämlich einen Maximalismus und einen Aktivismus
tischer Betrachtung des Dinges an sich und des Lebens – berücksichtige: Überzogene Erwartungshaltung
als zu bejahend und verneinend – so die drei »Dreh- kombiniert mit dem Anspruch, diese auch erreichen
wenden« nach Spierling – lassen sich damit als kon- zu können. Gerade aber weil diese Kombination fak-
zeptionelle Figuren des Aufbaus der WWV verstehen. tisch nicht gelingen kann, komme es bei Schopenhau-
Der konstitutiv-positive Sinn der Drehwenden besteht er zu einem Umschlag von Allmacht in Ohnmacht,
für Spierling darin, dass diese einer Ambivalenz Rech- aus dem sich die einzelnen Aporien ergeben. Ihren
nung tragen, die es vermeiden hilft, einen absoluten Sinn erhalten die Aporien in der »Wunschlogik«
Standpunkt zu postulieren. Vielmehr sei Schopenhau- (Haucke 2007, 109) des Pessimismus.
50 II Werk

Wie bereits erwähnt, versucht Schubbe im An- digen und allgemeiner Metaphysik. Betrachtungen in kri-
schluss an Spierling den Aporien einen systemati- tischem Anschluss an Schopenhauer. In: Ders. (Hg.):
schen Status zu verleihen (vgl. Schubbe 2010). Im Metaphysik. Herausforderungen und Möglichkeiten. Stutt-
gart-Bad Cannstatt 2002, 59–97.
Zentrum seiner Auslegung steht der Versuch, Scho- Hübscher, Arthur: Schopenhauer. Biographie eines Weltbil-
penhauers Philosophie nicht von den in den einzelnen des. Stuttgart 1952.
Büchern explizierten Polen (Subjekt, Objekt; Selbst- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer:
bewusstsein/Leib, Ding an sich; reines Subjekt des Er- Gestern – Heute – Morgen. Bonn 1988.
kennens, Idee; Mitleidender, Leidender) her zu lesen, Janaway, Christopher: Introduction. In: Ders. (Hg.): The
Cambridge Companion to Schopenhauer. Cambridge 1999,
sondern von den Beziehungen zwischen diesen Polen:
1–17.
Korrelation, Analogie, Kontemplation und Mitleid. Klamp, Gerhard: Die Architektonik im Gesamtwerk Scho-
Im Mittelpunkt steht somit ein »Zwischen«, aus dem penhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 41 (1960), 82–97.
die einzelnen Pole erwachsen. Die Aporien zeigen sich Koßler, Matthias: Substantielles Wissen und subjektives Han-
schließlich als Figuren, die dieses Zwischen deutlich deln, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopen-
werden lassen sollen. Indem die Aporien Grenzen der hauer. Frankfurt a. M. 1990.
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
jeweiligen Position aufzeigen, weisen sie über diese hi- Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
naus in einen Bereich, der sich sprachlich-begrifflich legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
oder propositional nicht oder nur eingeschränkt ver- penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
deutlichen lässt. Wie bei Spierling werden die Aporien Würzburg 1999.
so zu einem Bestandteil der Explikationsform des Koßler, Matthias: Die Philosophie Schopenhauers als Erfah-
rung des Charakters. In: Dieter Birnbacher/Andreas
Werks.
Lorenz/Leon Miodonski (Hg.): Schopenhauer im Kontext.
Deutsch-polnisches Schopenhauer-Symposium 2000. Würz-
Literatur burg 2002, 91–110.
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Becker, Johann Karl: Briefwechsel zwischen Arthur Schopen- und Schopenhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezei-
hauer und Johann August Becker. Leipzig 1883. ten. Leipzig 2006, 365–379.
Berg, Robert Jan: Objektiver Idealismus und Voluntarismus Koßler, Matthias: Die eine Anschauung – der eine Gedanke.
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burg 2003. Hühn (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang
Bernardy, Jörg/Schubbe, Daniel: Aktuelle Ansätze und The- vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling). Würzburg
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6  Die Welt als Wille und Vorstellung 51

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Spierling, Volker: Schopenhauers transzendentalidealistisches heitsgehalt zu beurteilen sind. Aber diese Wahrheit
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Leben und Werk. Leipzig 1998. nen es um propositionale Wahrheit geht, bedient sich
Strub, Christian: Weltzusammenhänge. Kettenkonzepte in Schopenhauer – wie die moderne Erkenntnistheorie –
der europäischen Philosophie. Würzburg 2011. vorwiegend einer normativen Sprache. Die Frage lau-
Weigelt, G[eorg Christian]: Zur Geschichte der neueren Phi- tet hier: An welchen Maßstäben müssen sich Erkennt-
losophie. Populäre Vorträge. Hamburg 1855.
Weimer, Wolfgang: Ist eine Deutung der Welt als Wille und
nisansprüche messen lassen? Sobald es um Erkenntnis
Vorstellung heute noch möglich? In: Schopenhauer-Jahr- als Erlösung geht, bedient sich Schopenhauer einer
buch 76 (1995), 11–51. vorwiegend psychologischen Sprache: Wie stellen sich
Wilhelm, Karl Werner: Zwischen Allwissenheitslehre und die zu erreichenden Erkenntniszustände dar und wie
Verzweiflung. Der Ort der Religion in der Philosophie Scho- kommen sie zustande? Wie Kant und die Philosophie
penhauers. Hildesheim 1994.
seiner Zeit generell trennt Schopenhauer dabei nicht
Zint, Hans: Das Religiöse bei Schopenhauer. In: Jahrbuch
der Schopenhauer-Gesellschaft 17 (1930), 3–76. ganz konsequent zwischen den normativen und den
psychologischen Aufgabenstellungen der Erkenntnis-
Jens Lemanski / Daniel Schubbe theorie. Die Frage nach den Maßstäben der Erkenntnis
wird nicht immer unterschieden von der Frage, wie Er-
kenntnis – in ihren verschiedenen Arten – de facto
6.3 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie funktioniert. Und noch in einem weiteren Punkt, der
die Darstellung seiner Erkenntnistheorie erschwert, la-
Schopenhauers Erkenntnis- und Wissenschaftstheo- boriert Schopenhauers Erkenntnistheorie an einer Hy-
rie ist kein einheitlicher und zusammenhängender pothek seines Lehrmeisters Kant, der engen Verzah-
Entwurf. Wie seine Philosophie insgesamt weist sie nung von Erkenntnistheorie und Metaphysik. Auch
Ambivalenzen und Unentschiedenheiten auf, begrün- bei Schopenhauer wird Erkenntnis von vornherein in
det in der Mittlerstellung dieser Philosophie zwischen einen metaphysischen Rahmen gestellt und mit Über-
der kantischen Transzendentalphilosophie und einem legungen zum metaphysischen Verhältnis zwischen
neuen Typus von Philosophie, dem einer auf die Exis- Ich, Welt und Wesen der Welt verbunden.
tenzphilosophie vorausweisenden Welt-Hermeneu- Im Folgenden seien zunächst die Züge von Scho-
tik. Auf der einen Seite übernimmt Schopenhauer von penhauers Erkenntniskonzeption genannt, die er von
Kant den transzendentalphilosophischen Rahmen Kant – zumeist leicht modifiziert – übernimmt. Im
und stellt die a priori und unabhängig von der Erfah- Anschluss wende ich mich dann den für Schopen-
rung zu erkennenden »Bedingungen der Möglich- hauer eigentümlichen Aspekten seiner Erkenntnis-
keit« der Erfahrung in den Mittelpunkt. Auf der ande- theorie sowie seiner Wissenschaftstheorie zu. Gerade
ren Seite erweitert er diesen Rahmen um weitere Er- mit der letzteren macht Schopenhauer einen großen
kenntnisarten intuitiver Art, auf die er zur Begrün- Schritt über Kant hinaus und kommt zu Einsichten,
dung der Willensmetaphysik nicht verzichten kann: die gemeinhin erst späteren Denkern zugeschrieben
die Selbsterkenntnis des Subjekts als Wille, die Er- werden.
kenntnis der Welt als Ausprägung (»Objektivierung«)
des »Willens«, nicht zuletzt diejenigen Formen der Er-
Das Erbe Kants
kenntnis, von denen er die Erlösung aus der Tretmüh-
le des Willens erhofft. Für Schopenhauer wie für Hume und Kant unter-
Die Vielfalt der »Erkenntnisformen« in Schopen- scheiden sich die Kriterien, aber auch die Quellen und
hauers Philosophie (vgl. Schubbe 2012, 364 ff.) bedingt Verfahrensweisen der einzelnen Erkenntnisarten, und
eine entsprechende Vielgestaltigkeit seiner Theorie der zwar nach ihren Gegenständen und den Arten von
52 II Werk

Wahrheit und Wissen, auf die sie jeweils zielen. Das Logik auf Aussagen beliebiger Art anwendbar, vor al-
heißt nicht, dass es nicht auch einige allgemeine Merk- lem auch auf aus der Anschauung gewonnene empiri-
male der Erkenntnis gibt. Diese Gemeinsamkeiten sche Aussagen. Die Axiome, von denen sie ausgeht,
sind allerdings mehr oder weniger formal. So geht sind nicht notwendig ihrerseits apriorischer Art.
Schopenhauer wie Kant davon aus, dass Erkenntnis Schopenhauer geht sogar so weit, das axiomatische
eine Bewusstseinsleistung ist und dass das Subjekt der System, bei dem eine Vielzahl von Aussagen aus einer
Erkenntnis (die Person, das Ich) notwendig bewusst begrenzten Zahl von Prämissen abgeleitet wird, zum
ist. Eine unbewusste Erkenntnis lässt auch Schopen- schlechthinnigen Modell und Ideal der empirischen
hauer, der Philosoph des Unbewussten, nicht zu. Au- Wissenschaft zu erklären. Erst in ihrer abstrakten Ge-
ßerdem teilt Schopenhauer die Annahme seiner Vor- stalt, als System, in dem das Einzelne und Konkrete
gänger, dass Erkenntnis jedes Mal eine Relation zwi- aus »obersten Sätzen« (W I, 75) abgeleitet werden
schen einem Erkenntnissubjekt und einem Erkennt- kann, erreichen wissenschaftliche Theorien die Voll-
nisobjekt ist, wobei sich dieses Verhältnis allerdings ständigkeit, die sie über das stets bruchstückhafte All-
verschieden darstellt, je nachdem, ob es sich bei den tagswissen erhebt: »Die Vollkommenheit einer Wis-
Objekten um analytische Sachverhalte handelt (wie in senschaft als solcher, d. h. der Form nach, besteht da-
der Logik), um transzendentale (wie in der nach den rin, dass so viel wie möglich Subordination und wenig
Bedingungen der Erfahrung überhaupt fragenden Koordination der Sätze sei« (W I, 75 f.). Die Folge da-
Transzendentalphilosophie) oder um empirische (wie von ist, dass Schopenhauer Wissenschaften wie die
in den Wissenschaften). Physik, die eine solche axiomatische Behandlung zu-
Die auffälligsten Übereinstimmungen mit Kant lassen, deutlich höher bewertet als Wissenschaften
zeigen sich bei Schopenhauer in drei Punkten: in dem, wie die Geschichtswissenschaft, die überwiegend Ein-
was er über die für die Logik und für die Transzenden- zeltatsachen und ihre Hintergründe erforschen und
talphilosophie zuständigen Erkenntnisarten zu sagen insofern hinter dem Ideal des durchstrukturierten
hat sowie in seiner konstruktivistischen Theorie der Systems zurückbleiben. Zwar betont Schopenhauer
Wahrnehmung empirischer Sachverhalte. immer wieder den unersetzlichen Wert der Anschau-
Die Logik hat es für Schopenhauer mit analytischen ung, sowohl bei den a priori erkennbaren Wahrheiten
Relationen zwischen Aussagen zu tun, und zwar mit- der Mathematik als auch bei den empirischen Wahr-
hilfe deduktiver Ableitungs- und Schlussregeln. Inso- heiten der Naturwissenschaften (»Die ganze Welt der
fern sei die Logik nicht nur gänzlich a priori, sondern Reflexion ruht auf der anschaulichen als ihrem Grun-
sogar »abgeschlossen«, »in sich vollendet« und »voll- de des Erkennens«, W I, 48 f.). Aber seine Forderung,
kommen sicher« (W I, 55). Allerdings führe eine Ab- mathematische Begründungen so weit wie möglich
leitung, auch wenn sie gültig ist, nur dann zu wahren durch anschauliche Begründungen zu ersetzen, be-
Aussagen, wenn auch die Voraussetzungen, mit denen zieht sich, sieht man genauer hin, durchweg auf den
sie operiert, wahr sind. Eine logisch gültige Schluss- Aspekt der Vermittlung und nicht auf die systemati-
folgerung ist insofern nur dann ein Beweis, wenn un- sche Begründung. So sollen etwa die Wahrheiten der
abhängig die Wahrheit der Prämissen gesichert ist. Geometrie im Unterricht vorzugsweise nicht mithilfe
Dass die Logik »vollkommen sicher« ist, heißt aller- ihrer Ableitung aus der euklidischen Axiomatik, son-
dings auch, dass sie keinerlei neuen Gehalte hervor- dern aus der unmittelbaren Anschauung erklärt wer-
bringt. Sie arbeitet stets nur das heraus, was an Gehal- den, oder die Fallgesetze aus der anschaulichen De-
ten in den Prämissen – möglicherweise verborgen – monstration ihrer konkreten Erscheinungsformen
enthalten ist. Sie erweitert die Erkenntnis über die Er- statt durch ihre Ableitung aus den Newtonschen Axio-
kenntnis der Prämissen hinaus nur in dem Sinne, dass men. Zu einem wirklichen Verständnis eines Lehrsat-
sie explizit macht, was vorher implizit war. zes bedürfen wir in der Regel einer anschaulicheren
Daraus ergeben sich zwei wichtige und von Scho- Erklärung, als sie eine logische Ableitung aus den
penhauer immer wieder betonte Folgerungen: Erstens Axiomen bieten kann. Diese bleibt eine »Krücke für
kann die Logik, da ihre Erkenntnis stets nur Relatio- gesunde Beine« (W I, 86). Das durch wie immer über-
nen betrifft, nicht selbst die Voraussetzungen begrün- zeugende Einzelbefunde erreichte Wissen ist jedoch
den, von denen sie ausgehen muss. Diese müssen an- noch kein eigentliches wissenschaftliches Wissen.
derweitig begründet sein, etwa, wie in der Logik Dieses erfordert für Schopenhauer zwingend die logi-
selbst, in unmittelbar evidenten Sätzen wie dem Satz sche Zurückführung des Einzelnen auf die obersten
vom ausgeschlossenen Widerspruch. Zweitens ist die Grundsätze.
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 53

Kant ist Schopenhauer auch in seiner Darstellung rerseits folgt, dass, soweit das Kausalprinzip auf die
des transzendentalen Wissens verpflichtet. Transzen- Welt der Erfahrung begrenzt ist, eine Metaphysik, die
dentales Wissen bezieht sich auf a priori erkennbare die Erfahrungswelt übersteigen will, auf kausale Er-
Wahrheiten, die gleichzeitig synthetisch sind, insofern klärungen verzichten muss. Soweit sie darauf zielt,
sich bei ihnen die Folgerungen nicht aus den implizi- die Existenz und Beschaffenheit der Erfahrungswelt
ten Gehalten ihrer Voraussetzungen ergeben, sondern als Ganzer zu erklären, muss sie sich anderer, nicht-
diesen Gehalt erweitern und etwas über die Erfah- kausaler Formen der Erklärung bedienen. Auch die
rungswelt aussagen. Als Aussagen über die grund- Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und
legenden Strukturen der Erfahrungswelt sind sie zu- seinen Gegenständen kann nicht als ein Kausalver-
gleich für jede Art von empirischem Wissen verbind- hältnis gedacht werden, schon deshalb, weil das Sub-
lich. Dazu gehören für Schopenhauer sowohl die jekt der Erkenntnis notwendig außerhalb der Welt
raumzeitliche Struktur der Erfahrungswelt (das »prin- der »Vorstellungen« und damit außerhalb des An-
cipium individuationis«) als auch das Kausalprinzip, wendungsbereichs der Kausalität liegt: »Das erken-
verstanden als das Prinzip, dass jede Veränderung ei- nende und bewußte Ich [...] hat [...] nur eine beding-
ne Ursache hat, aus der sie mit Notwendigkeit folgt te, ja eigentlich bloß scheinbare Realität« (W II,
(wobei »Veränderung« bei Schopenhauer so zu ver- 314 f.). Wir müssen es aus logischen Gründen anneh-
stehen ist, dass ausnahmsweise die gleichförmige Be- men, da es eine formale Voraussetzung jeder Er-
wegung eines Körpers im Raum keine Veränderung, kenntnis ist. Aber seinem Wesen nach ist es un-
sondern lediglich die Änderung seiner Bewegungsart erkennbar. Ebenso wenig lässt es eine Erkenntnis da-
oder -richtung eine Veränderung bedeutet). Erkannt rüber zu, in welcher Weise es am Prozess der Er-
werden diese Prinzipien nach Schopenhauer auf- kenntnis beteiligt ist.
grund ihrer Evidenz: »Die Apriorität eines Theils der An Kants theoretische Philosophie knüpft auch
menschlichen Erkenntniß wird von ihr [der Metaphy- Schopenhauers kausale Theorie der Wahrnehmung an,
sik] als eine gegebene Thatsache aufgefasst« (W II, nach der das von uns scheinbar unmittelbar Wahr-
201). Ebenso wenig, wie wir eine unräumliche und genommene auf unbewusst vollzogene Kausalschlüs-
unzeitliche Erfahrungswelt denken können, sollen wir se zurückgeht. Wie für Kant ist das, was sich in der
uns auch eine Welt ohne die universale Geltung des Anschauung darbietet, das Ergebnis von komplexen
Kausalprinzips denken können. Zur Erklärung greift Konstruktionsleistungen (»Synthesis«), mit denen der
Schopenhauer auf den kantischen transzendentalen Verstand (für Schopenhauer weniger das Vermögen
Idealismus zurück: Die Sicherheit darüber, dass die des Urteilens als des Wahrnehmens) das Material der
Grundstruktur der Erfahrungswelt nicht anders sein unmittelbar gegebenen Empfindungen zu einer ge-
kann, als wir sie vorfinden, liege in ihrem »subjektiven ordneten und verständlichen Welt formt. Insofern
Ursprung« (ebd.), darin, dass die Formen der Welt in spricht Schopenhauer von der »Intellektualität der
uns selbst, in unserem Erkenntnisapparat angelegt empirischen Anschauung«. Anders als Kant deutet
sind und wir diese in den Strukturen der Welt ledig- Schopenhauer diesen Prozess jedoch als dem wissen-
lich widergespiegelt finden. schaftlichen Verfahren analog, mit dem von den Wir-
Die Reichweite der transzendentalen Erkenntnis kungen (den Symptomen, den Phänomenen, den In-
ist bei Schopenhauer wie bei Kant auf die formalen dizien) auf die zugrundeliegende Ursache geschlossen
Aspekte der Erfahrungswelt beschränkt. Aus den wird. So »schließt« der Verstand aus dem auf der Reti-
transzendentalen Wahrheiten lassen sich weder em- na umgekehrten Bild der Gegenstände auf ihre tat-
pirische Erkenntnisse im Einzelnen noch Folgerun- sächliche Lage, von dem zweidimensionalen Abbild
gen für den Bereich der Transzendenz ziehen. Den- der Gegenstände im Auge auf ihre dreidimensionale
noch wirkt sich die transzendentale Geltung des Kau- Gestalt, von den sich aus verschiedenen Perspektiven
salprinzips gravierend sowohl auf das empirische bietenden Ansichten eines Gegenstands auf dessen
Wissen wie auf etwaige metaphysische Überlegungen Einheit und von seiner scheinbaren Größe auf seine
aus. So herrscht für Schopenhauer in der gesamten wirkliche Größe bzw. seine Entfernung vom Wahr-
Erfahrungswelt ein strenger Determinismus. Jedes nehmenden (vgl. G, 58 ff.). Daraus, dass sich der Ver-
Ereignis der Erfahrungswelt einschließlich der Welt stand bei der Konstitution der Anschauung – obgleich
der psychischen Phänomene lässt sich im Prinzip auf unbewusst – kausaler Schlüsse bedient, glaubt Scho-
eine vorangehende Ursache zurückführen, aus der sie penhauer im Übrigen – fälschlicherweise – eine zu-
nach Naturgesetzen folgt. Für die Metaphysik ande- sätzliche Begründung für die Apriorität des Kausal-
54 II Werk

prinzips ableiten zu können: Da wir die Gegenstände Die Leistungen des Verstands in diesem Sinn erfolgen
bereits mithilfe von Kausalschlüssen wahrnehmen, weitgehend unbewusst. In unserem Bewusstsein fin-
könnten diese gar nicht anders als durchgängig kausal den wir von Anfang an das vom Gehirn zugerichtete
geordnet sein (vgl. G, 52). Produkt vor. Entsprechend besteht das Ausgangs-
material der Synthesis nicht mehr – wie bei Kant – aus
ungeordneten »Empfindungen«, sondern aus den
Über den Transzendentalismus hinaus
physischen Reizungen der Sinnesorgane. Der Ver-
Kant hatte den Verstand als das Vermögen definiert, stand »erschafft« die Welt der materiellen Gegenstän-
auf das in der Anschauung Gegebene Begriffe an- de, indem er die empfangenen Sinnesreizungen kausal
zuwenden und diese zu Urteilen zu verbinden. Scho- interpretiert und die verursachenden Gegenstände
penhauer definiert den Begriff des Verstands radikal aus ihren Wirkungen erschließt. Die Beteiligung leib-
um, nicht nur dadurch, dass er ihn als die Fähigkeit licher Faktoren geht bei Schopenhauer aber noch ei-
erklärt, Gegenstände in der Welt wahrzunehmen, nen Schritt weiter. Der jeweils eigene Körper ist an je-
sondern auch durch eine im Rahmen von Kants der Sinneswahrnehmung nicht nur als »Schaltstelle«
Transzendentalphilosophie undenkbare Naturalisie- zwischen Sinnesreizung und Gegenstandswahrneh-
rung. Indem Schopenhauer den kantischen Begriff mung beteiligt, sondern auch als »unmittelbares Ob-
des Verstands naturalisiert, überführt er die Trans- jekt« (W I, 13). Zumindest teilweise sollen die mit der
zendentalphilosophie in etwas mit ihr radikal Unver- Wahrnehmung erfolgenden Veränderungen des Lei-
einbares, eine durch und durch naturalistische Er- bes auch zum Gegenstand eines »unmittelbaren Be-
kenntnistheorie. Zwar behält Schopenhauer die wußtseyns« (W I, 23) werden können, so dass wir bei
grundlegende Intuition Kants bei, dass die raumzeit- allen oder zumindest einigen Wahrnehmungsakten –
lich und kausal geordnete Erscheinungswelt erst auch bei denen, die sich auf unsere inneren Erlebnisse
durch eine Reihe von »synthetischen« Leistungen des richten (vgl. W I, 121) – die damit einhergehenden
Subjekts zustande kommt. Aber während Kant diese leiblichen Vollzüge als Hintergrundphänomene mit-
Leistungen einem mysteriösen »transzendentalen empfinden. Auf diese Weise übernimmt der Leib nicht
Subjekt« zuschreibt, das, da es allererst Raum und nur in Schopenhauers Anthropologie, sondern auch
Zeit konstituiert, außerhalb von Raum und Zeit ge- in seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie ei-
dacht werden muss, schreibt Schopenhauer die für ne Schlüsselrolle (vgl. Dörpinghaus 2000).
die Wahrnehmung erforderlichen synthetischen Schopenhauers Erkenntnistheorie vollzieht mit der
Leistungen dem empirischen Gehirn als natural-phy- Naturalisierung der kantischen Synthesis einen ent-
siologische Vorgänge zu (s. Kap. 43). Das »Subjekt« schiedenen, wenn auch von ihm niemals vollständig
der transzendentalen Leistungen ist für Schopenhau- reflektierten Schritt vom Idealismus zum Realismus.
er nichts anderes als das Gehirn, d. h. ein Teil des Innerhalb einer idealistischen Metaphysik und Er-
leibhaftigen Menschen. In diesem Sinn kommt »Ver- kenntnistheorie führt die Idee, die Konstitution der
stand«, da er nicht mehr an die Fähigkeit zu begriff- Wahrnehmungswelt dem Gehirn zuzuweisen, zwangs-
lichem Denken gebunden ist, auch Tieren zu, die läufig zum »Gehirnparadox« – dem Paradox, dass ein
zwar über Wahrnehmungen, aber nicht über Begriffe Teil der Erfahrungswelt, das Gehirn, zugleich als Be-
verfügen (vgl. W I, 24 ff.). Nicht das Bewusstsein oder dingung der Möglichkeit der gesamten Erfahrungs-
ein wie immer geartetes hinter dem Bewusstsein ste- welt fungieren soll. Die Naturalisierung des Verstands
hendes transzendentales Subjekt verarbeitet die gege- geht bei Schopenhauer dabei Hand in Hand mit einer
benen Daten zu artikulierter Anschauung, sondern funktional-biologischen Erklärung seiner Entstehung:
das Gehirn: Der Verstand (»Intellekt«) sei eine »Frucht, ein Pro-
dukt, ja, insofern ein Parasit des übrigen Organismus«,
»Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles der »dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch
Materielle [...] ist ein nur höchst mittelbar und beding- dient, dass es die Verhältnisse desselben zur Außen-
terweise Gegebenes, demnach nur relativ Vorhande- welt regulirt« (W II, 224).
nes: denn es ist durchgegangen durch die Maschinerie Eine ähnlich naturalistisch-funktionalistische Um-
und Fabrikation des Gehirns und also eingegangen in deutung wie das Vermögen des Verstands erfährt bei
deren Formen, Zeit, Raum und Kausalität, vermöge Schopenhauer das Vermögen der Vernunft, ein Ver-
welcher allererst es sich darstellt als ausgedehnt im mögen, das Schopenhauer – wie zuvor Hume – zur
Raum und wirkend in der Zeit« (W I, 33). Gänze auf die analytische Erkenntnis beschränkt. Ab-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 55

weichend von der gesamten rationalistischen wie auch vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht [...] ur-
von der kantischen Philosophie ordnet Schopenhauer sprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum
der Vernunft nicht nur eine sehr begrenzte Reichwei- Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als ei-
te, sondern auch einen zutiefst unselbständigen und ne bloße mechané, ein Mittel zur Erhaltung des Indivi-
lediglich abgeleiteten Status zu. Schopenhauers na- duums und der Art, so gut wie jedes Organ des Lei-
turalistische Sicht der Vernunft erinnert nicht von un- bes« (W I, 181). Dieses Mittel bleibt unauslöschlich
gefähr an die Ansätze der modernen evolutionären mit den Spuren seiner Entstehung behaftet: »Ur-
Erkenntnistheorie. Unter dem Einfluss der französi- sprünglich also zum Dienste des Willens, zur Voll-
schen Materialisten nähert sich Schopenhauer der bringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch
darwinistischen Sichtweise von der Emergenz der fast durchgängig gänzlich dienstbar« (ebd.). Noch die
Vernunft als Ergebnis der Rivalität um knappe Über- scheinbar kältesten und reifsten Erkenntnisprozesse
lebensressourcen und Fortpflanzungschancen. Nicht sind imprägniert von – zumeist unbewussten – Wil-
anders als die physischen Fähigkeiten sei die Vernunft lensregungen und Gefühlen, etwa als Wunschdenken,
ein Mittel der blinden Natur zur Gewährleistung der Vorurteile und Ideologien (vgl. Birnbacher 1996). Ob-
Erhaltung und Fortpflanzung ihrer Wesen. Unter ähn- jektivität – die vollständige Befreiung des Kognitiven
lich funktionalen Aspekten sieht Schopenhauer die vom Emotionalen – ist eine seltene Ausnahmeerschei-
Emergenz des Bewusstseins. Auch das Bewusstsein nung. Die Fähigkeit, den Willen – die Affekte – mit-
und die gesamte Vorstellungswelt sei nur deshalb ent- hilfe der Vernunft in Schach zu halten ist »die ganz ex-
standen, weil sie auf einer bestimmten Entwicklungs- ceptionelle [...], die man als Genie bezeichnet« (W II,
stufe der Natur zur Erhaltung des Individuums und 247). In diesem Zitat deutet sich bereits etwas für
der Gattung unerlässlich waren (vgl. W I, 179). Schopenhauers Philosophie hochgradig Bezeichnen-
Einen bloß sekundären Status verleiht Schopen- des an: Für ihn fällt die Ehre der Objektivität am ehes-
hauer der Vernunft aber auch hinsichtlich ihrer Leis- ten der ästhetischen und philosophischen Kontempla-
tungsfähigkeit als Erkenntnisorgan. Als Vermögen tion zu – nicht, wie für viele Erkenntnistheoretiker
der Erfassung der logischen Beziehungen zwischen nach ihm, der Wissenschaft.
Begriffen und Urteilen ist sie zur Gewinnung ihres
Materials auf die Anschauung angewiesen. Sie ist
Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft
»weiblicher Natur: Sie kann nur geben, nachdem sie
empfangen hat« (W I, 59). Aussagen über eine mögli- Auch wenn Schopenhauer dem Rang nach die Er-
che Welt jenseits der Erfahrung liegen ebenso jenseits kenntnisleistungen der Wissenschaft denen der Phi-
ihres Horizonts wie die Kenntnis oder Konstitution ei- losophie und Kunst nachordnet, wertet er sie doch als
nes »Sittengesetzes«. Aber auch in ihrem angestamm- unerlässliche Vorstufe und Eingangsbedingung zur
ten Bereich vermag sie sich nur in höchst begrenztem Philosophie: Niemand solle sich an die Metaphysik
Maße Respekt zu verschaffen. Als evolutionäres Pro- wagen, »ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine,
dukt des »Willens« ist sie auch dann noch Werkzeug doch gründliche, klare und zusammenhängende
unbewusster Willensstrebungen, wenn sie sich über Kenntniß aller Zweige der Naturwissenschaft sich er-
die Anfechtungen des Bedürfnisses erhaben dünkt. worben zu haben« (W II, 198). Der naturwissen-
Nicht die Vernunft steuert unsere Gefühle, sondern schaftlich gebildete Schopenhauer schätzt dabei nicht
die Gefühle haben die Vernunft im Griff – erkennbar nur die Naturwissenschaften insgesamt höher als die
an der Gewalt, die wir uns antun müssen, wenn wir ei- Geisteswissenschaften (und insbesondere die Ge-
nen Affekt durch Erkenntnis korrigieren wollen (vgl. schichtswissenschaft, die »zwar ein Wissen, aber keine
W II, 236). Das späteste Produkt der Evolution ist Wissenschaft«, W I, 75, sei). Auch seine Wissen-
auch das schwächste. Affekte und Wille verhalten sich, schaftstheorie ist eindeutig am Modell der Naturwis-
so Schopenhauer in einem einprägsamen Bild, zur senschaften orientiert. Das zeigt sich bereits daran,
Vernunft wie »der starke Blinde, der den sehenden dass er zwar die Aufgabenstellung der Wissenschaft
Gelähmten auf den Schultern trägt« (W II, 233). sowohl in der Beschreibung als auch in der Erklärung
Diese funktional-anthropologische Sichtweise der anschaulich gegebenen Phänomene sieht, die we-
wendet Schopenhauer auch auf die Erkenntnis als sentlichere Funktion dessen, was er »induktive Me-
Ganze an. Wie die Vernunft ist die Erkenntnis ins- thode« nennt, jedoch allein in der Erklärung der Ein-
gesamt ein Notbehelf der Evolution, das Überleben ih- zelbeobachtungen durch allgemeine Gesetzeshypo-
rer Geschöpfe zu sichern: »Die Erkenntniß überhaupt, thesen. Wie sich bereits in seiner Bevorzugung der
56 II Werk

axiomatischen Methode in den Wissenschaften an- ist die Wahrheit hier auch nie unbedingt gewiß« (W I,
deutet, ist für ihn das Paradigma der Wissenschaft die 92). Andererseits können sie durch einen einzigen
nomologische Wissenschaft, die Naturgesetze (Scho- Fall, der ihnen nicht entspricht, widerlegt werden: »So
penhauer spricht zumeist von »Naturkräften«) ermit- sehr viel leichter ist widerlegen, als beweisen, umwer-
telt und diese auf die Erklärung und Prognose von fen, als aufstellen« (W II, 117; vgl. Morgenstern 1985,
konkreten Phänomenen anwendet. Naturerkenntnis 159). Schopenhauer sieht allerdings richtig, dass ein
ist für Schopenhauer primär Gesetzeserkenntnis und negatives Ergebnis nicht in jedem Fall zur Aufgabe
die Zurückführung des Einzelnen aufs Allgemeine, der überprüften Gesetzeshypothese zwingt. Bei jeder
des Einzelfalls aufs Prinzip und in diesem Sinne der scheinbaren Falsifikation einer Gesetzeshypothese
Folge auf ihren Grund: »Alle empirische Anschauung bleibt der Ausweg, eine falsche Prognose auf die »Ver-
und der größte Theil aller Erfahrung [geht] [...] von schiedenheit der Umstände« zurückzuführen und an-
der Folge zum Grunde« (W I, 92). zunehmen, dass nicht alle im Vordersatz der Gesetzes-
In seiner Theorie der induktiven Methode verwen- hypothese aufgeführten Faktoren realisiert waren. Es
det Schopenhauer den Ausdruck »Induktion« in zwei- sei Aufgabe der wissenschaftlichen Urteilskraft zu ent-
facher Weise (vgl. W I, 79; Morgenstern 1985, 160): scheiden, »ob eine Verschiedenheit der Erscheinung
Induktion besteht zunächst in der Erzeugung von Ge- von einer Verschiedenheit der Kraft [der Gesetze],
setzeshypothesen auf dem Hintergrund der Beobach- oder nur von Verschiedenheit der Umstände, unter
tung von Einzeltatsachen. Dies erfolgt auf zweierlei denen die Kraft sich äußert, herrührt« (W I, 166).
Weise, einerseits durch die Verallgemeinerung der Schopenhauers Wissenschaftstheorie nimmt zahl-
stets begrenzten Zahl von Einzelbeobachtungen zu ei- reiche Elemente der modernen, insbesondere durch
ner allgemeinen Gesetzeshypothese (also durch einen den Falsifikationismus Poppers geprägten Wissen-
»Induktionsschluss«, der »Zusammenfassung des in schaftstheorie vorweg. So sieht Schopenhauer wie
vielen Anschauungen Gegebenen in ein richtiges un- Popper den Prozess der Wissenschaft als sukzessive
mittelbar begründetes Urtheil«, W I, 79), andererseits Annäherung an die Wahrheit, paradigmatisch in der
durch »Versuch und Irrtum«: durch den Versuch, eine sukzessiven Verbesserung und Vereinheitlichung der
Reihe von zunächst unklar zusammenhängenden Theorien der Planetenbewegung von Kopernikus bis
Einzelbeobachtungen durch eine einheitliche, typi- Newton (vgl. W I, 80). Erstaunlicher noch ist Schopen-
scherweise mathematische Konstruktion abzubilden, hauers Vorwegnahme vieler Details der modernen
so wie es Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton in Theorie der kausalen Erklärung. Dazu gehört erstens,
Bezug auf die Planetenbewegungen getan haben (vgl. dass Schopenhauer ausschließlich Ereignisse (genau-
W I, 80). »Induktion« nennt Schopenhauer aber auch er: Veränderungen) als kausale Relata gelten lässt,
den zweiten Schritt: die gezielte Überprüfung der auf- während Kant (ähnlich wie Hume) den Kausalitäts-
gestellten Gesetzeshypothesen an weiteren Erfahrun- begriff unterschiedslos auf Veränderungen, Dinge,
gen als denen, die zu ihrer Formulierung geführt ha- Handlungen und Zustände angewendet hatte (vgl.
ben, wobei Schopenhauer wie die moderne Wissen- Brunner 2008, 47). Kausalgesetze (»Naturkräfte«) sind
schaftstheorie von »Bestätigung« (W I, 79) spricht. Es zwar für kausale Erklärungen unabdingbar, überneh-
reicht nicht, Gesetzeshypothesen aufzustellen, die die men selbst aber keine kausale Funktion. Ursächlich für
verfügbaren Beobachtungen zutreffend beschreiben. ein Wirkungsereignis sind stets nur die vorangehen-
Wenn Gesetzeshypothesen ihrer Aufgabe genügen den Veränderungen, nicht die Gesetze, nach denen sie
sollen, über die Beschreibung hinaus Erklärungen für wirken. Zweitens ist Kausalität für Schopenhauer an
die beobachteten Phänomene zu liefern sowie verläss- Gesetzlichkeit gebunden. Sobald zwei Einzelereignisse
liche Prognosen über erst in der Zukunft liegende Er- kausal aufeinander bezogen werden, wird implizit das
eignisse und Beobachtungen, bedürfen sie weiterer Bestehen eines naturgesetzlichen Zusammenhangs be-
Überprüfung. Dabei verlieren gut bestätigte Gesetzes- hauptet (vgl. ebd., 46). Drittens konzipiert Schopen-
aussagen, auch dann, wenn sie »in der Praxis die Stelle hauer die kausale Erklärung unverkennbar im Sinne
der Gewißheit einnehmen« (W I, 92) nicht ihren des später so genannten Hempel-Oppenheim-Mo-
grundsätzlich hypothetischen Charakter. Schon des- dells: Jede kausale Erklärung bedarf zweier Elemente,
halb, weil sie so allgemein formuliert sind, dass sie einer Aussage über ein ursächliches Ereignis und eines
auch für zukünftige Fälle Geltung beanspruchen, las- Kausalgesetzes, das die Beziehung zwischen Ursache
sen sie sich niemals vollständig verifizieren: »Da die und Wirkung formuliert. Erst aus beiden Elementen
Fälle [...] nie vollständig beisammen seyn können, so zusammen folgt eine entsprechende Aussage über das
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 57

zu erklärende oder zu prognostizierende Folgeereig- zugleich physisch erklärbar und auch wieder nicht
nis. Entsprechend versteht Schopenhauer – allerdings physisch erklärbar sei (vgl. W II, 193). Selbst noch das
nicht immer ganz konsequent – »Ursache« als das, was Denken sei einerseits physikalisch erklärbar, da es
John Stuart Mill später »complete cause« oder »Ge- nach Schopenhauer mit einem Gehirnprozess zusam-
samtursache« genannt hat, als kausal hinreichende – menfällt. Aber andererseits bleibe letztlich auch das,
aber nicht notwendig auch kausal notwendige – Ge- was derartige physikalische Erklärungen voraussetzen
samtheit der zusammen das Wirkungsereignis herbei- (z. B. Expansion, Undurchdringlichkeit, Beweglich-
führenden Bedingungen (vgl. G, 35). keit, Härte) »dunkel« (ebd.), eine »qualitas occulta«
Historische Bedeutsamkeit kommt Schopenhauers (W I, 96). Auch hinsichtlich ihrer Motivationen beste-
Wissenschaftstheorie vor allem dadurch zu, dass er hen zwischen Wissenschaft und Metaphysik keine
die induktive Methode über den Bereich der Wissen- tiefgreifenden Differenzen. In der Metaphysik ist das-
schaft hinaus erweitert und das Modell einer Meta- selbe Bemühen um Aufhellung des Woher und Wa-
physik entwirft, die sich wissenschaftsanaloger Me- rum der Erscheinungen am Werk, das sich auch in den
thoden bedient. Was eine solche Metaphysik mit der Wissenschaften betätigt, nur dass es sich in der Meta-
Wissenschaft verbindet, ist ihr hypothetischer, nie- physik in größerem Umfang intuitiver und spekula-
mals in Gewissheit übergehender und zwangsläufig tiver Mittel bedient. Die methodologischen Bedin-
vorläufiger Charakter. Dieses Modell einer »indukti- gungen, denen eine derartige »Vermutungsmetaphy-
ven Metaphysik«, wie Oswald Külpe es später genannt sik« genügen muss, hat Schopenhauer in Kapitel I des
hat, finden wir auch bei späteren Denkern des 19. Jahr- zweiten Bands der Parerga und Paralipomena, »Ueber
hunderts wie Hermann Lotze, Gustav Theodor Fech- Philosophie und ihre Methode« (P II, 10 ff.; vgl. Birn-
ner und Eduard von Hartmann (vgl. Morgenstern bacher 1988, 9 ff.), entwickelt. Es sind dies Mitteilbar-
1987, 606 ff.), später dann u. a. bei Alfred N. White- keit, Rationalität, Hypothetizität, Revidierbarkeit und
head (vgl. Birnbacher 2018) und Karl R. Popper. Auch Unvollständigkeit (eine in vielem ähnliche Liste findet
in diesem Punkt macht Schopenhauer einen mutigen sich später bei Whitehead, 1974, 55 ff.). Ebenso wenig
Schritt über Kant hinaus. Für Kant war die Metaphy- wie die Wissenschaft vermag die Metaphysik Letzt-
sik vom Begriff her eine apriorische Disziplin und an erklärungen zu liefern, die keine Frage offen lassen:
apodiktische Gewissheit gebunden. Die Grundfrage
seiner theoretischen Philosophie war, wie eine Meta- »Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum
physik als Wissenschaft möglich sein könne. Scho- sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont
penhauers Idee einer »induktiven« Metaphysik zufol- von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lö-
ge fallen die Grenzen der Wissenschaft nicht notwen- sung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß
dig mit den Grenzen der (methodisch verfahrenden) von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erschei-
Metaphysik zusammen. Während die Wissenschaft nungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle
die innerweltlichen, natürlichen Bedingungen der unsere Erkenntnißformen angelegt« (W II, 206).
Phänomene aufsucht, zielt die Metaphysik auf die
Strukturen jenseits der erfahrbaren Welt, durch die
»Philosophische Wahrheit«
die natürlichen Bedingungen ihrerseits bedingt sind.
Wie die Wissenschaft hat die Metaphysik die Aufgabe, Schopenhauer liegt es fern, die Kriterien, die er für ei-
Erklärungen zu liefern, die Phänomene verständlich ne induktive Metaphysik fordert, uneingeschränkt
zu machen. Im Unterschied zur Wissenschaft setzen auch für seine eigene Willensmetaphysik gelten zu las-
ihre Erklärungsbemühungen aber erst da ein, wo die sen. Hierin liegt eine der zentralen erkenntnistheo-
Erklärungen der Wissenschaft aufhören. Die Meta- retischen Ambivalenzen seiner Philosophie. Es ist
physik soll die Wissenschaft ergänzen, indem sie sich nicht zu verkennen, dass der Grad der Gewissheit, den
diejenigen Fragen vornimmt, die die Wissenschaft er für seine Deutung der Welt als Ganzer als Ausfor-
notwendig unbeantwortet lässt, u. a. die Frage nach mung eines übergreifenden »Willens« beansprucht,
dem Ursprung und Wesen der Welt als Ganzer sowie die von seiner Konzeption einer »Vermutungsmeta-
die Frage nach Wesen und Ursprung der Naturgesetze physik« vorgesehenen Grenzen der Erkennbarkeit
(der »Naturkräfte«), die zwar in allen wissenschaftli- deutlich überschreitet. In der Tat soll es neben der lo-
chen Erklärungen vorausgesetzt werden, aber ihrer- gischen, der transzendentalen und der empirischen
seits von der Wissenschaft nicht erklärt werden. Inso- Wahrheit eine weitere Art von Wahrheit geben, die sui
fern meint Schopenhauer sagen zu können, dass alles generis ist und von Schopenhauer mit dem Namen
58 II Werk

»philosophische Wahrheit« (W I, 122) belegt wird. Annäherung ausdrücklich: Die Methode der Meta-
Die Erkenntnis, die zu dieser Wahrheit führt, soll physik sei »der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft
»ganz eigener Art« sein: eine unmittelbare, weder verwandt« (W II, 140). Wie beim Künstler zeigt sich
durch logisch noch durch empirisch begründete die Genialität des Philosophen für Schopenhauer
Schlussfolgerungen vermittelte Form von Intuition nicht in diskursiven, sondern in intuitiven Fähigkei-
(vgl. ebd.). Unter diese Form von Erkenntnis fallen so ten: »Nicht dem Warum gehe der Philosoph nach, wie
gut wie alle Kernthesen seiner Metaphysik: die These, der Physiker, Historiker und Mathematiker, sondern
dass wir, wenn wir introspektiv in uns hineinsehen, er betrachte bloß das Was, lege es in Begriffen nieder
wir uns unserer selbst am unmittelbarsten als Wollen- (die ihm sind wie der Marmor dem Bildner), indem er
de, als Willenssubjekte gewahr werden; die These von es sondert und ordnet, jedes nach seiner treu die Welt
der Identität der Willensregungen mit leiblichen Pro- wiederholend, in Begriffen, wie der Maler auf der
zessen; schließlich die kühne Deutung der Gesamtheit Leinwand« (HN I, 154 Anm.). Die richtige Deutung
der Erfahrungswelt als Manifestation (»Objektivati- der Phänomene misst sich daran, dass sich aus ihnen
on«) desselben Willens, den wir in uns spüren, mit der ein Sinn – ein positiver oder ein negativer – ablesen
Folge, dass sich so unser – typischerweise »romanti- lässt. Ihr Kriterium ist nicht die Korrespondenz mit
sches« – Gefühl erklärt, mit dem Ganzen der Welt ver- den Tatsachen, sondern die adäquate Wiedergabe des
traut zu sein und mit allen Wesen, zumindest den le- Eindrucks, den ein moralisch und ästhetisch sensibler
benden, eine basale Wesensgleichheit zu empfinden. Beobachter von der Welt empfängt, wie die Welt auf
Bei Schopenhauer finden sich nur wenige Erläute- ihn wirkt. Entscheidend ist, dass die auf die »philoso-
rungen zu der Methode, derer er sich bei der Begrün- phische Wahrheit« zielende Intuition dasjenige in den
dung der Willensmetaphysik bedient. Eindeutig ist Erscheinungen erfasst, was »mächtig«, »bedeutend«
allerdings, dass diese Methode weder mit der der und »deutlich« ist (W I, 149), d. h. was den Menschen
Transzendentalphilosophie noch mit der der Wissen- beeindruckt, ihn interessiert, ihn nicht nur kognitiv,
schaften zusammenfällt. Während es in der Transzen- sondern auch affektiv anspricht. Ein weiteres Kriteri-
dentalphilosophie um die Formen der Erfahrungs- um – das die so verstandene Metaphysik mit der Wis-
welt geht, geht es der Willensmetaphysik um den In- senschaft teilt – ist Kohärenz. Wie die Kunst soll die
halt der Erfahrung (vgl. W I, 144). Und bereits der Metaphysik danach trachten, die Phänomene in einer
Name, den Schopenhauer dem »Willen« gibt, näm- einheitlichen, zusammenhängenden Weise zu be-
lich »Ding an sich«, zeigt, dass es sich hier um etwas schreiben, sie auf ein zentrales Organisationsprinzip
handelt, das für die Erkenntnismethoden der Wissen- als ihren Kern zurückzuführen. Die verwirrende und
schaft unzugänglich ist. Auch unterscheidet sich diese rätselhafte Vielfalt der Phänomene, die uns in der Welt
Art metaphysischer Erkenntnis sowohl von der logi- begegnen, ist für Schopenhauer ein Rätsel, eine Ge-
schen als auch der empirischen Erkenntnisart da- heimschrift (vgl. W II, 202), die entziffert werden
durch, dass sie weder deduktiv noch kausal verfährt muss, wenn sie in ihrer Bedeutung erfasst und ver-
(keiner Variante des »Satzes vom Grunde« folgt). Ihre ständlich gemacht werden soll. Kohärenz ist der Maß-
Verfahrensweise ist am ehesten als hermeneutisch zu stab, der darüber entscheidet, welcher Schlüssel das
kennzeichnen (vgl. Schubbe 2010, 43 ff.; s. Kap. 40). Rätsel am besten auflöst: »Das gefundene Wort eines
Worauf sie zielt, ist keine propositionale Wahrheit, Räthsels erweist sich als das rechte dadurch, daß alle
sondern Sinnverstehen. Ziel der Metaphysik ist nicht Aussagen desselben zu ihm passen« (W II, 206).
die Ermittlung von Tatsachen, sondern die Erfassung
des »Sinnes und Gehaltes« (W II, 204) der Welt. Inso-
Erkenntnis als Zustand und Vollzug
fern gehe diese »nie eigentlich über die Erfahrung hi-
naus, sondern eröffnet nur das wahre Verständniß Außer der hermeneutischen Erkenntnisform der Me-
der in ihr vorliegenden Welt« (ebd.), wobei Schopen- taphysik kennt Schopenhauer noch zwei weitere For-
hauer sogar so weit geht, sie kurzerhand als »Erfah- men der Erkenntnis, die über die dem »Satz vom
rungswissenschaft« zu charakterisieren – Erfahrung Grund« folgende logische und kausale Erkenntnis hi-
dabei allerdings nicht als einzelne Erfahrung, son- nausgehen: die Erkenntnis der platonischen Ideen in
dern als »das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung« der ästhetischen Kontemplation und die mit der
(ebd.) verstanden. Selbstverneinung des Willens einhergehende Er-
Damit nähert sich die Erkenntnisart der Metaphy- kenntnis der letztlichen All-Einheit aller Wesen. Beide
sik der der Kunst an. Schopenhauer bestätigt diese Erkenntnisformen haben gemeinsam, dass sie nicht
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 59

wie die Logik und die kausale Erklärung lediglich Re- wird von sich selbst und dem Gedanken an das eigene
lationen zu erkennen erlauben und »nichts weiter, als Ich weggezogen, »verliert« (W I, 210) sich an den Ge-
das Verhältniß einer Vorstellung zur anderen kennen« genstand, überwindet auf diese Weise die Spaltung
(W I, 34) lehren. Beiden ist eigentümlich, dass sie sich zwischen Subjekt und Objekt und erlebt diesen Zu-
auf das Wesen der Dinge selbst richten. Eine weitere stand als »Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereini-
Gemeinsamkeit ist, dass es sich bei ihnen beiden um gung mit Gott« (W I, 485). Da mit dem Subjekt zu-
nicht-propositionale Erkenntnisformen handelt und gleich das Objekt verschwindet, ist dieses nicht mehr
dass ihr Sinn und Wert nicht in dem Erwerb von Wis- eindeutig zu charakterisieren. Deshalb schwankt
sen über Sachverhalte, d. h. in ihren Ergebnissen liegt, Schopenhauer auch, ob er diesen Zustand überhaupt
sondern in ihrer inhärenten Qualität als Zustände und noch Erkenntnis nennen soll. Einerseits ist er Er-
Vollzüge. Darin sind sie (wie bereits Schopenhauers kenntnis insofern, als die Erlösung bzw. die Begeg-
Benennung »platonische Idee« nahelegt) sowohl der nung mit der Idee nicht mehr von der »überlegten
platonischen Ideenschau als auch der aristotelischen Willkür«, dem intentionalen Handeln, religiös ge-
theoria verwandt, der Betrachtung der ewigen Wahr- sprochen: von den »Werken« abhängt (W I, 482). An-
heiten um ihrer selbst (und nicht um eines irgendwie dererseits ist er, indem die Subjekt-Objekt-Differenz
gearteten Ergebnisses) willen (vgl. Hamlyn 1999, 56). aufgehoben (und der Gehalt dieser Erfahrung nicht
Mit der Erkenntnis der platonischen Ideen und der mehr mitteilbar) ist, »nicht eigentlich Erkenntniß zu
Erkenntnis der All-Einheit der Welt als Wille zeichnet nennen« (W I, 485). Als eine Form visionärer Er-
Schopenhauer insofern zwei Formen von Erkenntnis kenntnis geht er über das, was üblicherweise Erkennt-
aus, bei denen es – mit Russell gesprochen – eher um nis genannt wird, ein Stück weit hinaus.
ein knowledge by acquaintance als um ein knowledge
by description geht (vgl. Schubbe 2012, 374 f.). Aus- Literatur
schlaggebend bei dem ersteren ist die Bekanntschaft Birnbacher, Dieter: Induktion oder Expression? Zu Scho-
mit etwas, bei dem letzteren das Wissen über etwas. penhauers Metaphilosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch
69 (1988), 7–19.
Beide sind weitgehend unabhängig voneinander. Man Birnbacher, Dieter: Schopenhauer als Ideologiekritiker. In:
kann mit etwas gut bekannt sein, ohne viel über es zu Ders. (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegen-
wissen. Andererseits kann man viel über etwas wissen, wart. Würzburg 1996, 45–58.
ohne mit ihm bekannt zu sein. Wesentlich für die Birnbacher, Dieter: Whitehead und die Tradition der induk-
nicht-propositionalen Wissensformen ist die Präsenz tiven Metaphysik. In: Christoph Kann/Dennis Sölch
(Hg.): Whitehead und Russell. Freiburg/München 2018
des Gegenstands, die konkrete Begegnung mit ihm in
(im Erscheinen).
der Erfahrung. Die Kenntnis des Gegenstands muss Brunner, Jürgen: Schopenhauers Kausalitätstheorie. Teil I:
unmittelbar sein. Sie muss auf einer konkreten Wahr- Empirische Ereigniskausalität und transzendentale
nehmung beruhen und nicht nur auf Hörensagen. Das Akteurskausalität. In: Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008),
bedeutet allerdings nicht, dass diese Kenntnis nicht 41–64.
durchaus in anderer Hinsicht vermittelt sein kann Dörpinghaus, Andreas: Der Leib als Schlüssel zur Welt. Zur
Bedeutung und Funktion des Leibes in der Philosophie
oder sogar muss. So ist die Erkenntnis der plato-
Arthur Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 81
nischen Ideen – der idealisierten Prototypen des (2000), 15–32.
Wirklichen als Gegenstände der Kunst – nicht denk- Hamlyn, David: Schopenhauer and knowledge. In: Christo-
bar ohne die Kenntnis des Mediums (etwa der bild- pher Janaway (Hg.): The Cambridge Companion to Scho-
lichen Darstellungen), in denen diese Idealisierungen penhauer. Cambridge 1999, 44–62.
jeweils – mehr oder minder vollkommen – zur Er- Langnickel, Robert: Schopenhauers Theorie der empiri-
schen Vorstellung: Eine zu Unrecht vergessene Wahrneh-
scheinung kommen. Der vollkommene Körper von mungstheorie? In: Schopenhauer-Jahrbuch 93 (2012),
Michelangelos David bedarf des Marmors, aus dem er 221–238.
geformt ist, um Wirklichkeit zu werden. Auch die Ein- Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi-
sicht in die Nichtigkeit der Welt im Zustand der Wil- losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
lensverneinung, in der das »Rad des Ixion« (W I, 231) statt 1991.
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
stillstellenden Kontemplation, ist in gewisser Weise
wissenschaft. Aprioritätslehre und Methodenlehre als
vermittelt, nämlich durch die intensive Bekanntschaft Grenzziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Bonn
mit der Welt als Unheilszusammenhang. Obwohl Vo- 1985.
raussetzungen dieser Erkenntnisformen, rücken diese Morgenstern, Martin: Schopenhauers Begriff der Metaphy-
doch beide Male in den Hintergrund: Das Subjekt sik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahr-
60 II Werk

hunderts. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 41 existiert nur als meine Vorstellung; eine anderweitige
(1987), 592–612. Realität kann ihr nicht zugesprochen werden. Dieser
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik mögliche Einwand ist von Schopenhauer nicht unbe-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010.
Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis. Ein morpholo-
rücksichtigt gelassen worden. Er führt zwei Argumen-
gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/ te gegen ihn ins Feld.
Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe Erstens sieht er die Welt als Vorstellung als durch-
fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. gängig relativ an. Diese »Relativität« (W I, 41) zeigt
Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. sich ihm in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist die vor-
Gießen 2012, 359–385.
gestellte Welt relativ auf ein erkennendes Subjekt. Zum
Whitehead, Alfred N.: Die Funktion der Vernunft [1929].
Stuttgart 1974. anderen unterliegt die Welt als Objekt dem Satz vom
Grunde: Für jede Erscheinung, die in der Vorstellung
Dieter Birnbacher gegeben ist, muss sich ein Grund angeben lassen, wa-
rum sie ist. Die in diesen zwei Hinsichten deutlich wer-
dende Relativität soll laut Schopenhauer nun darauf
6.4 Metaphysik hinweisen, dass die Welt als Vorstellung gleichsam nur
die »äußere Seite der Welt« (W I, 36) ist und dass ihr
Schopenhauer bekennt sich im ersten Buch der Welt innerster Kern etwas von der Vorstellung grundsätz-
als Wille und Vorstellung zu der idealistischen Grund- lich Verschiedenes sein muss. Dieses Argument ist je-
ansicht, der zufolge die Welt meine Vorstellung, also doch nicht sonderlich stichhaltig, denn es setzt schon
Objekt in Beziehung auf ein sie erkennendes Subjekt das voraus, wohin erst noch geführt werden soll: näm-
ist. Zu Beginn des zweiten Buchs akzentuiert er nun, lich dass es ein Ansich der Welt gibt, dessen Erschei-
diese »erste Thatsache des Bewußtseyns« (W I, 40) nung in der Anschauung als Vorstellung gegeben ist.
deute auf ein Problem hin. Denn wenn die Welt nichts Zweitens: Dass die Welt noch mehr sein muss als
anderes als meine Vorstellung ist, dann drängt sich mein bloßes Vorstellungsprodukt, legt sich für Scho-
doch der Verdacht auf, dass sie nur Schein, dass sie ein penhauer allein schon deswegen nahe, weil wir ein
bloßes Phantasma, ein leeres Phantomgebilde sein »Interesse« an unseren Vorstellungen nehmen und
könnte. Wodurch unterschiede sich das erkennende ihre »Bedeutung« fühlen. Denn, wie er hervorhebt,
Subjekt dann von einem Träumenden, dem im Traum die uns in der Vorstellung gegebenen »Bilder« ziehen
Phantasiegestalten und Chimären vorgegaukelt wer- nicht »völlig fremd und nichtssagend« an uns vorü-
den? Dieses Problem wird Schopenhauer zum Anlass, ber, sondern sprechen uns »unmittelbar« an (W I,
der Frage nachzugehen, ob die Welt, außer dass sie 113). Bloß die Frage ist: Wie gelangt man über die
Vorstellung ist, nicht noch etwas anderes, von der Vor- »gefühlte Bedeutung« der Vorstellungen (ebd.) zu de-
stellung Verschiedenes ist. Hierbei ist für ihn die An- ren realem Inhalt? Wie kommt man von den Erschei-
nahme leitend, dass die Dinge, die uns in der An- nungen zur Welt an sich? Ein Weg ist von vornherein
schauung als Vorstellungen gegeben sind, über sich versperrt: Wie die Dinge an sich selbst beschaffen
hinausweisen zu dem, was sie an sich selbst, das heißt sind, kann nicht am Leitfaden des Satzes vom Grunde
unabhängig davon, dass das Subjekt sie vorstellt, sind. aufgefunden werden, denn dieser ist auf den Bereich
Diese Annahme hat ihre Wurzel in der kantischen Un- der Erscheinungen eingeschränkt und kann infol-
terscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Kant gedessen nicht herangezogen werden, wenn Auf-
verneinte bekanntlich die Möglichkeit der Erkenntnis schluss erlangt werden soll über das, was außerhalb
der Dinge an sich. Schopenhauer hingegen nimmt für dieses Bereichs liegt.
sich in Anspruch, in Die Welt als Wille und Vorstellung Also wendet sich Schopenhauer der philosophi-
das Ding an sich »in seinem Verhältniß zur Erschei- schen Tradition sowie der Mathematik und den Natur-
nung« (GBr, 291; zu dieser Einschränkung vgl. auch wissenschaften zu und befragt sie daraufhin, ob sie
W II, 228) bestimmt und bezeichnet zu haben. In die- Aufschluss geben können über die Bedeutung der Vor-
sem Sinne versteht er seine Philosophie als Fortfüh- stellungen. Was nun zunächst die Philosophie an-
rung der kantischen. betrifft, so räumt Schopenhauer ein, dass die verschie-
Ein Idealist Berkeleyscher Prägung könnte gegen denen Schulen – von einigen wenigen Ausnahmen ab-
Schopenhauers Auffassung die Frage stellen: Wieso gesehen – darin übereinkommen, dass sie ein Objekt
weisen die Vorstellungen über sich hinaus zu etwas, annehmen, das der Vorstellung zugrunde liegen soll,
was von der Vorstellung verschieden ist? Die Welt ihr aber doch ähnlich ist. Für Schopenhauer jedoch
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 61

sind ›Objekt‹ und ›Vorstellung‹ austauschbare Begriffe, Objekt unter Objekten. Als solcher unterliegt er, wie
setzt doch jedes Objekt ein Subjekt voraus und bleibt alle Objekte, den Gesetzen der phänomenalen Welt,
somit Vorstellung. Folglich ist der erhoffte Aufschluss allem voran dem Satz vom Grunde. Darüber hinaus
von der traditionellen Philosophie nicht zu erlangen. erfahre, erlebe ich meinen Leib andererseits auf eine
Auch die Mathematik vermag nicht weiterzuhelfen, noch ganz andere Weise: nämlich als »Wille«, der, wie
denn sie betrachtet die Vorstellungen nur insofern, als Schopenhauer meint, das »Jedem unmittelbar Be-
sie Raum und Zeit füllen, das heißt insofern sie Grö- kannte« ist (W I, 119). Schopenhauer gelangt zu dieser
ßen sind. Die Mathematik setzt lediglich Größen mit- Einsicht im Ausgang von den »willkürlichen Bewe-
einander in Beziehung; sie stellt aber nicht einmal die gungen dieses Leibes«. Diese sind für ihn nichts ande-
Frage, ob es etwas von den Vorstellungen Verschiede- res als die »Sichtbarkeit der einzelnen Willensakte«
nes geben könne. (W I, 126), in denen sich »mein Wille selbst überhaupt
Eben so wenig wie die Mathematik vermögen die und im Ganzen« ausspricht (W I, 127).
Naturwissenschaften den gesuchten Aufschluss über Mit dem Gegebensein des Leibes als Wille gibt
die Bedeutung der Vorstellung zu liefern. Schopenhau- Schopenhauer also zu verstehen: Die einzelnen Bewe-
er unterscheidet zwei große Gattungen der Naturwis- gungen des Leibes sind Erscheinungen, sind Aus-
senschaften: die Morphologie und die Ätiologie. Der druck von einzelnen Willensakten. Diese Willensakte
Morphologie (gr. morphé: Form, Gestalt) geht es um ihrerseits sind nun keine bloß subjektiven Phantas-
die Beschreibung von Formen und Gestalten, die Ätio- men, sondern müssen als in den Bewegungen des Lei-
logie (gr. aitia: Grund, Ursache) betreibt Ursachenfor- bes in die Erscheinung tretende Akte meines Willens
schung und versucht die Veränderungen zu erklären, überhaupt angesehen werden. Was mir so in der Vor-
die sich in der Natur antreffen lassen. Sie ist auf die Re- stellung als leibliche Bewegung gegeben ist, enthüllt
gel aus, gemäß der auf einen Zustand der Materie not- sich demzufolge seiner inneren Seite nach als Wille.
wendig ein bestimmter anderer erfolgt. Sie unter- Daher kann Schopenhauer mit gutem Grund von ei-
nimmt es mithin, Kausalerklärungen der Natur zu ge- ner »Identität« (W I, 121) von Leib und Wille spre-
ben und Naturgesetze aufzustellen. Nun zeigt sich für chen, einer Identität, die er in vierfacher Hinsicht ent-
Schopenhauer, dass die Morphologie den erhofften faltet (vgl. W I, 119 ff.). Erstens ist jeder Willensakt so-
Aufschluss nicht zu geben vermag, denn sie führt in ih- fort und unausbleiblich auch eine Bewegung des Lei-
ren genealogischen Aufzählungen, also in ihrer Auf- bes. Man kann den Akt, wie Schopenhauer festhält,
stellung von Stammbäumen der Lebewesen, immer »nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzuneh-
nur Vorstellungen vor. Auch die Befragung der Ätiolo- men, daß er als Bewegung des Leibes erscheint« (W I,
gie führt zu einem negativen Ergebnis: Sie legt dar, wie 119). Schopenhauer unterscheidet streng zwischen
ein bestimmter Zustand der Materie einen anderen Wünschen und Wollen. Umgekehrt ist zweitens jede
herbeiführt und sieht damit ihre Aufgabe als beendet Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch
an. Folglich gibt auch sie keinen Aufschluss über das Einwirkung auf den Willen. Ist sie dem Willen zu-
Wesen und die Bedeutung der vorgestellten Erschei- wider, erlebt man sie als »Schmerz«; ist sie ihm hin-
nungen. Sie hat zwar einen Namen für das, was die ma- gegen gemäß, als »Wohlbehagen« und »Wollust« (W I,
teriellen Veränderungen bewirkt – nämlich ›Natur- 120). Zudem wirkt drittens jede heftige und über-
kraft‹; diese zu erklären liegt allerdings außerhalb ihres mäßige Bewegung des Willens ganz unmittelbar auf
Gebiets und wird von ihr auch gar nicht versucht. den Leib und seine vitalen Funktionen ein. Und vier-
Um dennoch die Frage nach der Bedeutung der tens schließlich ist die Erkenntnis, die ich von meinem
Vorstellungen beantworten zu können, schlägt Scho- Willen habe, von der meines Leibes gar nicht zu tren-
penhauer einen bis dato völlig neuartigen Weg ein. nen. Mein Leib, sagt Schopenhauer, ist die Bedingung
Dieser Weg führt bei ihm über den Leib (vgl. Schön- der Erkenntnis meines Willens, denn ich kann diesen
dorf 1982; Tiemersma 1995; Dörpinghaus 2000; Dörf- Willen ohne meinen Leib doch eigentlich gar nicht
linger 2002; Jeske/Koßler 2012). Damit rückt er eine vorstellen.
Entität ins Zentrum der Betrachtung, die in der Was in der Vorstellung als Bewegung des Leibes ge-
abendländischen Philosophie bislang mehr als stief- geben ist, enthüllt sich mithin seiner inneren Seite
mütterlich behandelt worden ist. Der Leib, so betont nach als Wille. Mein Leib als ganzer ist »mein sichtbar
Schopenhauer, ist auf zweifache Weise gegeben; wir gewordener Wille«, ist »mein Wille selbst« (W I, 128).
haben eine zweifache Erfahrung von ihm. Einerseits Oder wie Schopenhauer mit einem von ihm geprägten
nämlich ist er mir gegeben als Vorstellung, also als Begriff auch sagt: Der Leib ist die »Objektität des Wil-
62 II Werk

lens« (W I, 120), ist das Sichtbarwerden oder Sichdar- hat, was gar nicht Vorstellung ist, sondern ein von die-
stellen des Willens in der Erscheinungswelt. Aus dieser ser toto genere Verschiedenes: Wille«. Aufgrund ihrer
so verstandenen Identität von Leib und Wille leitet Sonderstellung nennt Schopenhauer sie daher »ϰατ’
Schopenhauer ab, die Teile des Leibes müssten den εξοχην philosophische Wahrheit« (W I, 122).
»Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich ma- Offensichtlich ist sich Schopenhauer des Sachver-
nifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sicht- halts bewusst gewesen, dass er hiermit das aufgezeigte
bare Ausdruck derselben seyn« (W I, 129). Als Bei- Problem nicht gelöst, sondern nur mit einem Begriff
spiele führt er an: Zähne, Schlund und Darmkanal sei- zugedeckt hat. Denn anders wäre es kaum zu erklären,
en der objektivierte Hunger, die Genitalien der objekti- dass er in Kap. 18 des zweiten Bandes der Welt als Wille
vierte Geschlechtstrieb, und die greifenden Hände und und Vorstellung erneut darauf zu sprechen kommt und
die raschen Füße entsprächen dem schon mehr mittel- eine etwas modifizierte Antwort anbietet. Dort stimmt
baren Streben des Willens, welches sie darstellen. er insoweit mit Kant überein, als er es als unmöglich
Schopenhauers Vorgehen, den Leib zur Erkennt- ansieht, das Ding an sich objektiv erkennen zu können,
nisbedingung des Willens zu machen, wirft ein Pro- denn das hieße »etwas Widersprechendes verlangen.
blem auf. Zu der Erkenntnis des Willens gelangt das Alles Objektive ist Vorstellung, mithin Erscheinung, ja
Subjekt Schopenhauer zufolge unmittelbar, betont er bloßes Gehirnphänomen«. Folglich, schließt Schopen-
doch, der Wille sei das »Jedem unmittelbar Bekannte« hauer, kann das Ding an sich »nur ganz unmittelbar ins
(W I, 119). Hiermit stellt er darauf ab, die Erkenntnis Bewußtseyn kommen, nämlich dadurch, daß es selbst
des Willens sei nicht durch Anschauung vermittelt. sich seiner bewußt wird« (W II, 219). Die innere Er-
Vielmehr, so seine Überlegung, wird die Identität von kenntnis ist zwar frei von den Formen des Raumes und
Leib und Wille im unmittelbaren Bewusstwerden des der Kausalität, nicht jedoch von der der Zeit. Deshalb
Willens erfasst. Dieser Akt des Bewusstwerdens des ist der Wille dem Subjekt immer nur in der Sukzession
Willens ist ein unmittelbares, gleichsam ›inneres‹ Er- der einzelnen Willensakte gegeben. Insofern stimmt
kennen, das die Entgegensetzung von Subjekt und Schopenhauer hier noch mit der vorhin skizzierten,
Objekt von sich ausschließt, ist die unmittelbare Ge- von ihm ursprünglich vertretenen Auffassung überein.
wissheit, welche jeder von seinem Willen hat. Die so Sprach er jedoch im ersten Band vom Willen aus-
verstandene Erkenntnis des Willens kann nach Scho- drücklich als dem jeden unmittelbar Bekannten, so
penhauer immer nur nachgewiesen, im Sinne von nimmt er im zweiten Band eine Einschränkung vor,
›aufgezeigt‹ werden. Niemals jedoch, so hebt er her- wenn er statt von ›unmittelbar‹ von ›unmittelbarer‹
vor, könne man sie beweisen, »d. h. als unmittelbare spricht. Zwar gibt die innere Wahrnehmung, wie er
Erkenntniß aus einer andern unmittelbarern« (W I, festhält, keine »erschöpfende und adäquate Erkennt-
122) ableiten. Damit stellt sich die Frage nach ihrem niß des Dinges an sich« (W II, 220). Gleichwohl aber
Wahrheitsgehalt. ist diese Wahrnehmung, »in der wir die Regungen und
Dem Schopenhauerschen Wahrheitsbegriff liegt Akte des eigenen Willens erkennen«, so betont er nun,
das Verständnis von Wahrheit als »Beziehung eines »bei Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der
Urtheils auf etwas von ihm Verschiedenes, das sein Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die
Grund genannt wird« (G, 105), zugrunde. Die Bezie- Erscheinung tritt, und in größter Nähe vom erkennen-
hung eines Urteils auf seinen zureichenden Grund den Subjekt beleuchtet wird« (W II, 220 f.).
teilt sich nach Schopenhauer in vier Arten auf. Diesen Der erkannten Identität von Leib und Wille kommt
vier Arten entsprechend verzweigt sich Wahrheit vier- für den Fortgang der Schopenhauerschen Überlegun-
fach in logische, empirische, transzendentale und me- gen eine heuristische Funktion zu, soll sie doch dazu
talogische Wahrheit (vgl. G, §§ 30–33). Diesen vier- verhelfen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was
fach entfalteten Wahrheitsbegriff nun kann die Er- ist die Welt, außer dass sie meine Vorstellung ist?
kenntnis des Willens nicht für sich in Anspruch neh- Schopenhauers Überlegungen schlagen folgenden
men, »denn sie ist nicht [...] die Beziehung einer Weg ein. Die anhand des Leibes gewonnene Erkennt-
abstrakten Vorstellung auf eine andere Vorstellung, nis des Willens will er als einen »Schlüssel« zum We-
oder auf die nothwendige Form des intuitiven, oder sen aller uns in der Welt begegnenden Erscheinungen
des abstrakten Vorstellens«. Vielmehr wird die Er- gebrauchen. Das besagt nichts weniger, als dass Scho-
kenntnis des Willens von Schopenhauer begriffen als penhauer alle – streng genommen wirklich alle – Ob-
»die Beziehung eines Urtheils auf das Verhältnis, wel- jekte, die uns als unsere Vorstellungen gegeben, aber
ches eine anschauliche Vorstellung, der Leib, zu dem nicht unser Leib sind, »nach Analogie« des Leibes be-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 63

urteilen will (W I, 125). Auch wenn Schopenhauer Einzig im Ausgang vom Menschen erschließt sich uns
hier von einer Analogie spricht, so hat diese analogi- die Natur, erschließt sich uns die Welt. »Seit den ältes-
sche Beurteilung bei ihm doch keineswegs den Cha- ten Zeiten«, hält Schopenhauer fest, hatte man »den
rakter eines bloßen ›Als-ob‹. Vielmehr will er die da- Menschen als Mikrokosmos angesprochen. Ich«,
mit vorgenommene Übertragung und Ausdehnung fährt er fort, »habe den Satz umgekehrt und die Welt
des Willensbegriffs auf die Welt insgesamt als notwen- als Makranthropos nachgewiesen; sofern Wille und
dige Annahme verstanden wissen. Vom Ansatz seines Vorstellung ihr wie sein Wesen erschöpft« (W II, 739;
Konzepts her kann das ja auch gar nicht anders sein, vgl. Decher 1992).
denn über die Vorstellung und den Willen hinaus ist Aufgrund ihrer methodischen Vorgehensweise füh-
uns ja nichts außerdem gegeben! »Außer dem Willen ren die Naturwissenschaften laut Schopenhauer nie
und der Vorstellung«, schreibt Schopenhauer, »ist uns zum letzten Grund ihrer Forschungsobjekte (vgl. Mor-
gar nichts bekannt noch denkbar. [...] Wir können da- genstern 1985). So versucht beispielsweise die Physik
her eine anderweitige Realität, um sie der Körperwelt die Erscheinungen zu erklären anhand des Kausalitäts-
beizulegen, nirgends finden« (ebd.). gesetzes. In der Kette der Ursachen und Wirkungen
Diese Übertragung der Erkenntnis des Willens aber ist – soll das Gesetz der Kausalität sich nicht selbst
vom Menschen auf die Welt insgesamt soll durch aufheben – ein erster Anfang dieser Kette nie zu errei-
»fortgesetzte Reflexion« (W I, 131) geleistet werden. chen, so dass die naturwissenschaftlichen Erklärungs-
Die fortgesetzte Reflexion bringt die Erkenntnis der versuche auf einen unendlichen Regress hinauslaufen
Erscheinungen und die unmittelbare Gewissheit, wel- (vgl. W II, 191). Dazu kommt für Schopenhauer: Alle
che jeder von seinem Willen hat, zusammen und er- Erklärungen aus Ursachen beruhen letztlich auf einem
öffnet damit die Möglichkeit, zu erkennen, dass eben- Unerklärbaren. Denn die Tatsache, dass eine Ursache
so wie in den Bewegungen des Leibes auch in der Viel- eine Wirkung zeitigt, wird »zurückgeführt auf ein Na-
zahl der Naturerscheinungen es der eine und selbe turgesetz und dieses endlich auf eine Naturkraft, wel-
Wille ist, der erscheint. Zwar tritt der Wille im Selbst- che nun als das schlechthin Unerklärliche stehn bleibt«
bewusstsein am deutlichsten zutage, aber durch die (W II, 195; ähnlich W I, 145 ff.; N, 4). Über dieses
fortgesetzte Reflexion wird das erkennende Subjekt schlechthin Unerklärliche führt die naturwissen-
dahin geführt, »auch die Kraft, welche in der Pflanze schaftliche Erklärung nicht hinaus. Sie muss es als un-
treibt und vegetirt, ja die Kraft, durch welche der Krys­ erklärbar hinnehmen und sich dabei bescheiden, denn
tall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol auch wenn es den Naturwissenschaften im Laufe der
wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung he- Zeit gelungen ist, eine Vielzahl von Naturkräften auf
terogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den einige wenige zurückzuführen, kann das nach Scho-
Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Su- penhauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese
chen, Trennen und Vereinen erscheint, ja zuletzt sogar ›Urkräfte‹ letztlich als qualitates occultae stehen blei-
die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, ben müssen (vgl. W I, 149; W II, 191). Daher bildet die
den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht« Deutung der Welt im Ausgang vom Willen als dem un-
(ebd.), als identisch anzusehen mit dem Willen, der mittelbar Bekannten für Schopenhauer die »einzige
dem erkennenden Subjekt unmittelbar bekannt ist. enge Pforte zur Wahrheit« (W II, 219). Da die Natur-
Demnach sind alle Erscheinungen, die das erkennen- wissenschaften diese Pforte nicht durchschreiten, ge-
de Subjekt vorstellt, verschieden nur qua Erscheinun- langen sie nicht auf den Weg, der zur letztgültigen
gen; ihr inneres Wesen hingegen ist in allen das eine Deutung und Erklärung der Welt führt, derzufolge
und selbe: Wille. Oder anders gesagt: Die Welt mit der sich die Kräfte der Natur als Wille enthüllen. Diese von
Vielzahl ihrer Erscheinungen ist die Sichtbarwerdung Schopenhauer gelieferte Erklärung geht, indem sie,
oder Objektivation des Willens. ausgehend vom Menschen, Aufschluss gibt über das
Mittels dieser Leib-Welt-Analogie kommt Scho- innere Wesen der Dinge und der Welt, über die physi-
penhauer seiner Forderung nach, wir müssten die kalische Erklärung der Erscheinungen hinaus. Für
Natur verstehen lernen aus uns selbst und nicht um- Schopenhauer ist dies eine metaphysische Erklärung
gekehrt uns selbst aus der Natur (vgl. W II, 219). (vgl. W I, 167; Morgenstern 1986; 1987; 1988; Malter
Nicht aufgrund der Erkenntnis der Naturerscheinun- 1988; Zöller 1996; Dürr 2003).
gen, die uns die Naturwissenschaft liefert, können wir Der Metaphysik weist er als Aufgabe die Zusam-
Erkenntnisse über das Wesen des Menschen gewin- menfügung von äußerer und innerer Erfahrung sowie
nen. Vielmehr gilt für ihn gerade das Umgekehrte. die Deutung des so verstandenen Ganzen zu. Damit
64 II Werk

ist Metaphysik, wie er sie versteht und konzipiert, »ein jektiviert. Ist demnach die Einheit des Willens zu ver-
Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußern, stehen als ein aus der Vielheit abgezogenes Abstrak-
wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über tum? Eine so verstandene Einheit des Willens weist
diese die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns Schopenhauer zurück. Der Wille ist einer, weil er
liefert, niedergelegt in deutliche Begriffe« (W II, 204). außerhalb von Raum und Zeit, mithin außerhalb des
Eine so verstandene Metaphysik, schreibt er, »bleibt principium individuationis, also außerhalb der Mög-
daher immanent und wird nicht transzendent. Denn lichkeit der Vielheit liegt. »Er selbst ist Einer«, schreibt
sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern Schopenhauer, »jedoch nicht«, wie er sogleich hervor-
bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben« hebt, »wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im
(W II, 203; zu Interpretationen der Metaphysik Scho- Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt wird: noch
penhauers, die diese methodologisch als »herme- auch, wie ein Begriff Eins ist, der nur durch Abstrakti-
neutisch« auffassen, vgl. u. a. Schubbe 2010; s. auch on von der Vielheit entstanden ist: sondern er ist Eines
Kap. 40). Die Metaphysik reißt sich von der Erfahrung als das, was außer Zeit und Raum, dem principio in-
nie ganz los, sofern sie in der inneren und äußeren Er- dividuationis, d. i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt«
fahrung fundiert ist. Sie geht gleichzeitig aber über die (W I, 134).
Erfahrung hinaus, indem sie diese nach Analogie des Mit der Einheit des Willens ist für Schopenhauer
Leibes deutet und den Willen als »das Ansich der ge- zugleich dessen Unteilbarkeit gegeben. Weil alle Viel-
sammten Natur« erkennt (W I, 155). Während Kant in heit nur in Raum und Zeit liegt, der Wille an sich da-
der Kritik der reinen Vernunft die Erkennbarkeit der von aber nicht berührt wird, bleibt er der Vielheit un-
Dinge an sich abstritt (vgl. KrV, A 190), nimmt Scho- geachtet unteilbar. »Nicht ist etwan«, führt Schopen-
penhauer demgegenüber für sich in Anspruch, das hauer aus, »ein kleinerer Theil von ihm im Stein, ein
Ding an sich mit der erwähnten Einschränkung er- größerer im Menschen: da das Verhältniß von Theil
kannt und bezeichnet zu haben. Geradezu lapidar er- und Ganzem ausschließlich dem Raume angehört
klärt er: »Kanten war es = x, mir Wille« (P II, 96). Und und keinen Sinn mehr hat, sobald man von dieser An-
der Wille allein ist das Ding an sich (vgl. W I, 131). schauungsform abgegangen ist; sondern auch das
Schopenhauer schließt also die Möglichkeit, dass in Mehr und Minder trifft nur die Erscheinung; d. i. die
den Erscheinungen etwas anderes erscheinen könne Sichtbarkeit, die Objektivation: von dieser ist ein hö-
als der Wille, dezidiert aus. herer Grad in der Pflanze, als im Stein; im Thier ein
Als das Ding an sich, als das Ansich der gesamten höherer als in der Pflanze« (W I, 152). Demzufolge
Natur nun unterscheidet sich der Wille von seiner Er- manifestiert sich der Wille in jeder seiner Erscheinun-
scheinung und ist völlig frei von deren Formen (vgl. gen ganz und ungeteilt. Infolgedessen kann Schopen-
W I, 134). Dies bedeutet zunächst, dass er nicht von hauer von der »numerischen Identität des innern We-
dem Auseinanderfallen in Subjekt und Objekt berührt sens alles Lebenden« (W II, 700) sprechen. Der Wille
wird. Das besagt für Schopenhauer insbesondere: Er als das Ansich der Welt ist numerisch einer. Deshalb
kann nicht erkannt werden als ein dem Subjekt ent- vermag er sich »eben so ganz und eben so sehr in einer
gegenstehendes Objekt. Es bedeutet ferner, dass der Eiche wie in Millionen« (W I, 153) zu offenbaren.
Wille nicht in Raum und Zeit ist und nicht am Leitfa- Wenn es dergestalt ein Wille ist, der in allen Teilen
den des Kausalitätsprinzips erkannt werden kann. Für der Natur erscheint, dann resultiert daraus die Über-
den Willen als Ding an sich lässt sich demnach kein einstimmung aller Objektivationen (vgl. W I, 190 ff.),
Grund angeben, warum er ist. Insofern ist er »grund- und diese macht für Schopenhauer sowohl die innere
los« (W I, 162). Grundlossein ist für Schopenhauer ei- als auch die äußere Zweckmäßigkeit aller Naturwesen
ne Bedeutung von Freiheit (vgl. z. B. W I, 337). Der unleugbar (vgl. W I, 184; W II, 372 ff.). »Angemessen
Wille als Ding an sich ist daher als frei zu bezeichnen darum«, hält er fest, »ist jede Pflanze ihrem Boden
(zu dem sich damit stellenden Problem der mensch- und Himmelsstrich, jedes Thier seinem Element und
lichen Willensfreiheit s. Kap. 8.1). Verschiedensein der Beute, die seine Nahrung werden soll, ist auch ir-
von seiner Erscheinung bedeutet schließlich, dass der gendwie einigermaßen geschützt gegen seinen natür-
Wille an sich jegliche Vielheit von sich abweist. Folg- lichen Verfolger; [...] und so bis auf die speciellsten
lich muss er gedacht werden als »einer« (W I, 152). und erstaunlichsten äußeren Zweckmäßigkeiten he-
Wie indessen ist diese Einheit des Willens zu ver- rab« (W I, 190). Was so von dem Verhältnis der an-
stehen? Vorgestellt werden doch immer nur die vielen organischen Teile der Natur zu den organischen bzw.
einzelnen Erscheinungen, in denen sich der Wille ob- von dem der organischen zueinander gilt, nämlich
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 65

dass durch dieses Verhältnis »die Erhaltung der ge- jegliche Erkenntnis seiner selbst. Auf der nächsthöhe-
sammten organischen Natur oder auch einzelner ren Stufe stellt sich der Wille dar »im stummen und
Thiergattungen« ermöglicht wird »und daher als Mit- stillen Leben einer bloßen Pflanzenwelt« (P II, 152).
tel zu diesem Zweck unserer Beurtheilung entgegen- Auch hier ist er lediglich als blinder und dumpfer
tritt« (W I, 184), gilt nach Schopenhauer in gleichem Drang aktiv, »noch völlig erkenntnisloß, als finstere
Maße von dem Verhältnis der Teile im einzelnen Or- treibende Kraft« (W I, 178). Gleiches gilt vom »vegeta-
ganismus: Aus der »Uebereinstimmung aller Theile tiven Theil« animalischen Lebens, welches die dritte
eines einzelnen Organismus« geht »die Erhaltung des- große Objektivationsstufe darstellt. Und die vierte
selben und seiner Gattung« hervor, welches »als Stufe seiner Objektivation erreicht der Wille im Men-
Zweck jener Anordnung sich darstellt« (ebd.). Innere schen. Auf diese Weise, so könnte man sagen, arbeitet
und äußere Zweckmäßigkeit in der Natur resultieren sich der Wille gleichsam Stufe um Stufe empor: Aus
so gesehen aus der Identität des Willens in allen seinen dem blinden, dumpfen, erkenntnis- und bewusstlosen
Erscheinungen. Weil es in allen Naturprodukten der Willen wird am Ende ein von Erkenntnis und Be-
eine und selbe Wille ist, der in ihnen sich objektiviert, wusstsein begleiteter Wille. Im Menschen als der
stimmen alle Teile der organischen Wesen überein, höchsten Stufe hat sich der Wille gleichsam »ein Licht
sind alle Naturprodukte aufeinander ausgerichtet, angezündet« (W I, 179), das heißt differenzierte Er-
passen sie sich gegenseitig an und kommen sie sich so kenntnisorgane und -kräfte geschaffen.
weit wie möglich entgegen. Allerdings haben solche Die Herausbildung dieser Erkenntniskräfte ergibt
Zweckmäßigkeiten für Schopenhauer nur insoweit sich für Schopenhauer aus ihrer primären Funktion,
Geltung, als es für die Erhaltung der Welt und der in die Erhaltung des Menschen sicherzustellen. Sie sind
ihr lebenden Wesen vonnöten ist. Jene Harmonie, so demnach biologisch bedingt, weil nämlich überlebens-
stellt er nämlich klar, gehe nur so weit, dass sie den Be- notwendig. In den unteren Bereichen der scala naturae
stand der Welt und ihrer Wesen möglich macht, wel- erhalten sich die Lebewesen, indem sie sich, auf Reize
che ohne sie längst untergegangen wären. Folglich er- reagierend, die notwendige Nahrung einverleiben. Im
streckt sie sich nur auf den Bestand der Spezies und Zuge der Ausbildung höherer Stufen tritt die Indivi-
der allgemeinen Lebensbedingungen, nicht hingegen dualität der Lebewesen immer deutlicher hervor, bis
auf den der Individuen (vgl. W I, 192). sie im Menschen ihren höchsten Ausprägungsgrad er-
Bei all dem ist sich Schopenhauer darüber im Kla- reicht. Dabei wird auch die zur Selbsterhaltung un-
ren, dass er eine Erweiterung des Begriffs ›Wille‹ vor- abdingbare Nahrung eine speziellere. Zudem kann auf
genommen hat (vgl. W I, 132), wenn er etwa den Kris- dieser hohen Entwicklungsstufe der Eintritt eines Rei-
tall oder den Magneten, anorganische Erscheinungen zes nicht abgewartet werden – die Häufigkeit der auf
also, als Erscheinungen des Willens deutet. Für ge- Reize erfolgenden Nahrungsaufnahme wäre nämlich
wöhnlich nämlich wird, wie Schopenhauer keines- zu gering. Also muss das höher entwickelte Lebewesen
wegs verkennt, unter ›Wille‹ der von Erkenntnis gelei- seine Nahrung selbst aufsuchen und auswählen. Zu
tete, nach Motiven und unter Leitung der Vernunft diesem Zweck hat der Wille differenzierte Erkenntnis-
sich äußernde Wille verstanden. Für Schopenhauer strukturen hervorgebracht, hat er sich im Laufe der
jedoch ist dies »nur die deutlichste Erscheinung des höherstufigen Entwicklung einen »Intellekt« geschaf-
Willens« (ebd.). fen. Von dieser Warte aus betrachtet ist der Intellekt
Was die von Schopenhauer vorgenommene Erwei- zunächst einmal ein bloßes Hilfsmittel zur Erhaltung
terung des Willensbegriffs konkret bedeutet, lässt sich des Individuums und der Art wie jedes andere Körper-
am besten durch eine Betrachtung der Art und Weise, organ auch (vgl. W I, 181).
wie der Wille sich in der Welt objektiviert, veranschau- Aber der Wille hat es nicht bei dieser lebenserhal-
lichen. Und zwar objektiviert er sich in der Welt auf tenden Funktion der Erkenntnis und der Erkenntnis-
vier großen Stufen, die Schopenhauer auch im Sinne organe belassen. Vielmehr hat er zudem im Menschen
einer zeitlichen Aufeinanderfolge begreift (vgl. P II, über die anschauliche Erkenntnis hinaus eine abstrak-
151 ff.), so dass man – nebenbei angemerkt – bei ihm te, das ist die Vernunft, erzeugt, um ihn durch eine
Ansätze eines evolutionären Denkens findet. Die ers- »doppelte Erkenntniß« (W I, 180) zu erleuchten. Die-
te, unterste Stufe der Objektivation des Willens bilden se abstrakte Erkenntnis begreift Schopenhauer als ei-
die Kräfte der anorganischen Natur. Hier wirkt der ne »höhere Potenz« der anschaulichen, als eine »Re-
Wille »blind, dumpf, einseitig und unveränderlich« flexion« jener, als »das Vermögen abstrakter Begriffe«
(W I, 141), hier fehlt ihm also jegliches Bewusstsein, (ebd.). Mit Hilfe dieser abstrakten Erkenntnis wird
66 II Werk

der Mensch zur Besonnenheit befähigt, das heißt mit jedoch so, dass sie das Wesen der niedrigeren auf eine
Hilfe der Vernunft vermag er, sich die Vergangenheit untergeordnete Weise bestehen lässt, indem sie »ein
präsent zu halten, für die Zukunft zu planen, sich von höher potenzirtes Analogon« (W I, 173) davon in sich
der Gegenwart zu lösen, die Sorge für seine Existenz aufnimmt. Die jeweils niedrigere Stufe wäre dann in
zu übernehmen und sich der eigenen Willensent- der nächst höheren aufgehoben. Auf dieser höheren
scheidungen als solcher deutlich bewusst zu werden Stufe wiederholt sich der Streit der Erscheinungen un-
(vgl. ebd.). tereinander von Neuem, so dass aufs Ganze gesehen
Allerdings hat das Licht, das der Wille sich mittels ein Streben nach immer höherer Objektivation er-
dieser Erkenntniskräfte angezündet hat, auch Schat- kennbar wird, bis am Ende im Menschen die ›Spitze
tenseiten, wird doch mit der Vernunft der Irrtum der Pyramide‹ (W I, 182) erreicht wird.
möglich. Mit dem Eintritt der Vernunft, so legt Scho- Dieses Streben nach immer höherer Objektivation
penhauer dar, geht die Sicherheit und Untrüglichkeit begreift Schopenhauer als Kampf, denn der Wille ver-
der Willensäußerungen fast ganz verloren: Der In- mag auf einer höheren Stufe nur durch Übermächti-
stinkt tritt mehr und mehr zurück, und die Über- gung der niedrigeren in Erscheinung zu treten. So er-
legung, die abstrakte Denktätigkeit, die ihn ersetzen weist sich der Stufenbau der Natur von seiner dyna-
soll, gebiert »Schwanken und Unsicherheit«, wodurch mischen Seite her als Resultat eines Kampfes um
in vielen Fällen die adäquate Objektivation des Wil- Übermächtigung und Überwältigung, mithin eines
lens durch Taten verhindert wird (vgl. ebd., 180 f.). Kampfes um Macht (hieran konnte Nietzsche mit sei-
Dergestalt wertet Schopenhauer die Herausbildung ner Konzeption des Willens zur Macht anschließen;
von Intellekt und Vernunft durchaus ambivalent. Ei- vgl. Decher 1984; s. Kap. 30). Dazu kommt: Wenn die
nerseits sind sie unabdingbar zum Überleben des jeweils höhere Stufe ein Analogon der überwältigten
Menschen. Andererseits bringen sie die unerwünsch- in sich aufgehoben hat, dann bleibt die Eigenart der
te Begleiterscheinung mit sich, dass Hand in Hand mit übermächtigten erhalten. Auch sie strebt nach wie vor
ihnen der Irrtum heraufkommt, wodurch der Mensch danach, ihr Wesen adäquat zu äußern. Das lässt sich
anfällig wird für Täuschung, Manipulation und Ver- beispielsweise am menschlichen Organismus studie-
führung (vgl. Decher 2011, 154 ff.). ren, denn in diesem findet ein dauernder Kampf ge-
Gleichwohl gilt es zu sehen: Mit Hilfe dieser Er- gen die vielen physischen und chemischen Kräfte
kenntniskräfte vermag sich der Wille sein eigenes We- statt, die als niedrigere Stufen ein früheres Recht auf
sen zum deutlichsten Bewusstsein zu bringen und zu jene Materie haben. Indem so die höheren Objektiva-
erkennen, was dasjenige ist, das er will. Dieses ist die tionsstufen nur sind durch Übermächtigung und
Welt, ist das Leben. Anders gewendet: Die Welt oder Überwältigung der niedrigeren und schwächeren,
das Leben ist der sich in den Formen aller Erschei- gleichwohl aber im Tod eben diese schwächeren Ob-
nung, Raum und Zeit, objektivierende eine Wille. Die jektivationen, die physischen und chemischen Kräfte,
Welt ist so gleichsam der »Spiegel«, in den der Wille wieder die Oberhand gewinnen, wird deutlich, dass
blickt und in dem er in den unzähligen Erscheinungen die Welt als Wille nichts anderes ist als eine ständige
immer nur sich selbst gespiegelt findet. Daher ist es, Selbstentzweiung, ja streng genommen Selbstzerflei-
wie Schopenhauer festhält, »einerlei und nur ein Pleo- schung des Willens (vgl. May 1949/50). Der Wille,
nasmus, wenn wir, statt schlechthin zu sagen ›der Wil- stellt Schopenhauer in lakonischer Kürze klar, zehrt
le‹, sagen ›der Wille zum Leben‹« (W I, 323 f.). »durchgängig an sich selber« und ist »in verschiede-
Die mit der Willensobjektivation gegebene vierfa- nen Gestalten seine eigene Nahrung« (W I, 173).
che Stufung der Welt erfolgt für Schopenhauer mit In seinen 1820 in Berlin gehaltenen Vorlesungen
Notwendigkeit, denn sie entspringt daraus, »daß der hat Schopenhauer diesen Sachverhalt mit einer Reihe
Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts von instruktiven, der Natur entnommenen Beispielen
daist und er ein hungriger Wille ist« (W I, 183), das zu illustrieren versucht. Pars pro toto sei das folgende
heißt ein steter Drang, ein unermüdliches Streben angeführt: »Sie wissen«, trägt Schopenhauer vor,
nach Dasein. Dieser Sachverhalt lässt sich bereits auf
der Ebene des Anorganischen feststellen, denn schon »daß die Fortpflanzung der Armpolypen so geschieht,
hier geraten die Erscheinungen des Willens miteinan- daß das Junge als Zweig aus dem Alten hervorwächst
der in Konflikt, indem jede sich der vorhandenen Ma- und nachher sich von ihm absondert. Aber während es
terie bemächtigen will. Aus diesem Streit geht als Re- noch auf dem Alten als Sprößling festsitzt, hascht es
sultat die Erscheinung einer höheren Stufe hervor – schon nach Beute mit seinen Armen und da geräth es
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 67

oft mit dem Alten in Streit über die Beute, so sehr, daß 118). Je nachdem, wie man hier den Schwerpunkt
eines sie dem andern aus dem Maule reißt. Ein ein- setzt, ergibt sich ein anderes Bild der Metaphysik: als
faches deutliches Beispiel des Widerstreites der Er- Fundament oder Ergänzung der Betrachtung der Welt
scheinungen des Willens zum Leben gegen einander! als Vorstellung.
So ists in der ganzen Natur« (VN II, 175 f.).
Literatur
Dieser an sich selber zehrende Wille kennt kein end- Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine
gültiges Ziel, ist »ein endloses Streben« (W I, 195), Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg/
Amsterdam 1984.
dem eine dauernde, letztgültige Befriedigung versagt Decher, Friedhelm: Arthur Schopenhauer. Die Welt als
bleiben muss. Durchaus kennt er vorläufige Ziele; aber »Makranthropos«. In: Ders./Jochem Hennigfeld (Hg.):
jedes, das er erreicht hat, ist ihm »stets nur der Aus- Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Würz-
gangspunkt eines neuen Strebens« (W I, 365). Wo ihn burg 1992, 95–108.
Erkenntnis beleuchtet, weiß der Wille, was er jetzt und Decher, Friedhelm: Die rosarote Brille. Warum unsere Wahr-
nehmung von der Welt trügt. Darmstadt 22011.
hier will. Nie aber weiß er, was er überhaupt will: »je-
Dörflinger, Bernd: Schopenhauers Philosophie des Leibes.
der einzelne Akt hat einen Zweck; das gesamte Wollen In: Schopenhauer-Jahrbuch 83 (2002), 43–85.
keinen« (W I, 196). Da nun auch wir Menschen in den Dörpinghaus, Andreas: Der Leib als Schlüssel zur Welt. Zur
Stufengang der Objektivationen des Willens einbezo- Bedeutung der Funktion des Leibes in der Philosophie
gen sind, müssen auch wir wohl oder übel damit le- Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 81 (2000),
ben, dass auch in uns dessen nie endgültig zu befriedi- 15–32.
Dürr, Thomas: Schopenhauers Grundlegung der Willens-
gende Daseinsgier nicht zur Ruhe kommt. Die daraus
metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 84 (2003),
resultierende Dramatik und Tragik menschlichen Da- 91–119.
seins entfaltet Schopenhauer im vierten Buch der Welt Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781]. In: Ders.:
als Wille und Vorstellung (s. Kap. 6.6). Werke in sechs Bänden. Bd. II. Hg. von Wilhelm Weische-
Schopenhauers Metaphysik ist von einer Reihe von del. Darmstadt 1983 [KrV].
Problemen begleitet. So hat beispielsweise Volker Kisner, Manja: Der Wille und das Ding an sich. Schopenhau-
ers Willensmetaphysik in ihrem Bezug zu Kants kritischer
Spierling darauf hingewiesen (vgl. u. a. Spierling 1998, Philosophie und dem nachkantischen Idealismus. Würz-
230 f.), dass es in Bezug auf die Bestimmung des »Din- burg 2016.
ges an sich« bei Schopenhauer zu einem Standpunkt- Jeske, Michael/Koßler, Matthias: Philosophie des Leibes. Die
wechsel kommt, insofern er zum einen dieses als un- Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach. Würzburg
erkennbar und den Willen nur näherungsweise als 2012.
Malter, Rudolf: Wesen und Grund. Schopenhauers Konzep-
Entzifferung desselben versteht, zum anderen aber
tion eines neuen Typs von Metaphysik. In: Schopenhauer-
auch den Willen in einem absoluten Sinn als Ding an Jahrbuch 69 (1988), 29–40.
sich bezeichnet. Dieser »Standpunktwechsel« hat zu Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilo­
einer Vielzahl von Interpretationen geführt, die vom sophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
Vorwurf des Widerspruchs über terminologische Dif- statt 1990.
ferenzierungen bis hin zu einer systematischen oder May, Eduard: Schopenhauers Lehre von der Selbstentzwei-
ung des Willens. In: Schopenhauer-Jahrbuch 33 (1949/50),
methodologischen Rollenzuweisung innerhalb des 1–9.
Werks reichen (s. Kap. 6.2). Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
Eine weitere Frage, die in der Forschung umstritten wissenschaft. Bonn 1985.
ist, bezieht sich darauf, ob die Differenz zwischen der Morgenstern, Martin: Die Grenzen der Naturwissenschaft
Welt als Vorstellung und der Welt als Wille als eine und die Aufgabe der Metaphysik bei Schopenhauer. In:
Schopenhauer-Jahrbuch 67 (1986), 71–93.
Zwei-Welten- oder Zwei-Aspekte-Lehre zu verstehen
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Begriff der Metaphy-
ist (vgl. Schubbe 2010a, 195, Anm. 554). Diese Proble- sik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahr-
matik speist sich u. a. aus Schopenhauers nicht ein- hunderts. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41/4
deutiger Selbstcharakterisierung seiner Metaphysik: (1987), 592–612.
So finden sich Stellen, die die Metaphysik als ein Un- Morgenstern, Martin: Schopenhauers Grundlegung der
ternehmen kennzeichnen, herauszufinden, was »hin- Metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 57–66.
Schöndorf, Harald: Der Leib im Denken Schopenhauers und
ter« der Welt steckt (vgl. u. a. W II, 180). Einen ande- Fichtes. München 1982.
ren Akzent setzen hingegen Stellen, mit denen Scho- Schubbe, Daniel: Der doppelte Bruch mit der philosophi-
penhauer die Metaphysik unter die Leitfrage stellt, »ob schen Tradition – Schopenhauers Metaphysik. In: Michael
diese Welt nichts weiter, als Vorstellung sei« (W I, Fleiter (Hg.): Die Wahrheit ist nackt am Schönsten. Arthur
68 II Werk

Schopenhauers philosophische Provokation. Frankfurt a. M. Beiträge. In Hinsicht auf den metaphysischen Ansatz
2010, 119–127. erweist sich Schopenhauer als ein Spätberufener in-
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik mitten der arbeitsteiligen wissenschaftlichen For-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010a.
Spierling, Volker: Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in
schung des 19. Jahrhunderts. Das heißt aber nicht,
Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1998. dass Schopenhauer die einzelwissenschaftliche For-
Tiemersma, Douwe: Der Leib als Wille und Vorstellung. schung in ihrer Bedeutung unterschätzt. Er sieht ihre
Struktur und Grenzen der Schopenhauerschen Philoso- Fruchtbarkeit vor allem dann, wenn sie sich der Erfas-
phie des Leibes. In: Schopenhauer-Studien 5 (1995), 163– sung der Wirklichkeit auf dem Weg der Anschauung
172.
nähert, wie dies bei Goethe der Fall war (s. Kap. 19).
Zöller, Günter: Schopenhauer und das Problem der Meta-
physik. Kritische Überlegungen zu Rudolf Malters Deu- Unter Anschauung versteht Schopenhauer mehr als
tung. In: Schopenhauer-Jahrbuch 77 (1996), 51–64. die bloße Wahrnehmung. Er unterstellt einen an-
schauenden Verstand, der die Wahrnehmung bereits
Friedhelm Decher deutend verarbeitet (s. Kap. 6.3). Die Wissenschaften
tun dies gemäß den Varianten des Satzes vom Grund
und gelangen dabei zur Feststellung der Relationen
6.5 Ästhetik unter den Erscheinungen bzw. den Dingen, nicht aber
zur Einsicht in das Wesen der Dinge, um die sich die
Der besondere Status der ›Ästhetik‹ in
Metaphysik bemüht. Mit den Konzepten einer Meta-
Schopenhauers System
physik des Schönen, bzw. einer Metaphysik der Kunst,
Einen philosophischen Diskurs über die Künste, die behandelt Schopenhauer, strukturell betrachtet, die
Künstler und besondere sinnliche Eigenschaften wie Mitte seines Systems, von der aus sowohl neue zusätz-
z. B. das Schöne und das Erhabene nennen wir für ge- liche Einsichten in der Rückschau auf seine Erkennt-
wöhnlich eine Ästhetik, vor allem dann, wenn dieser nislehre als auch in der Vorausschau auf seine Ethik
Diskurs Teil eines systematisch aufgebauten Philoso- möglich werden. Die Stimmigkeit des Systems hängt
phems ist. Arthur Schopenhauer hat zwar im dritten wesentlich von diesen Bezügen ab, denn Schopenhau-
Buch seines Hauptwerks und in den späteren Ergän- er vertritt eine organismische Konzeption seines Sys-
zungen hierzu, also in einem umfangreichen Teil sei- tems, für die eigentlich nur eine ganzheitliche Be-
nes Systems, die Kunst behandelt – die Künstlerper- trachtung angemessen wäre (s. Kap. 6.2). In der Vor-
sönlichkeit und die ästhetischen Eigenschaften –, aber rede zur 1. Auflage seines Hauptwerks erklärt er, dass
der herkömmliche Name ›Ästhetik‹ für die Behand- in diesem Werk in Wahrheit nur »ein einziger Gedan-
lung dieser Gegenstände will in diesem Fall nicht ke« entwickelt werde, dessen Darstellung in Buchform
recht passen. Anders nämlich als in den meisten phi- allerdings notgedrungen die Reihung von Teilen er-
losophischen Systemen wird hier die ›Ästhetik‹ nicht fordere, obwohl diese sich allesamt gegenseitig be-
allein durch Hinwendung zu einem bestimmten wei- dingten (vgl. W I, VIII).
teren Gegenstandsbereich motiviert, dessen Behand- Trotz dieser selbstkritischen Überlegungen Scho-
lung auch fehlen könnte, weil er lediglich in einem ad- penhauers scheint doch die Mittelstellung der ›Ästhe-
ditiven Verhältnis zum übrigen System steht und die- tik‹ mit der Darlegung der eigentlichen, tiefsten und
ses nicht modifiziert. Die uneigentlich so genannte wahrhaftesten Erkenntnis, nämlich der Schau der Ide-
›Ästhetik‹ in Schopenhauers Werk ist aus der Sicht des en, überzeugend gewählt, denn von hier aus gibt es die
Autors vielmehr eine »Metaphysik des Schönen« (VN stärksten Ausstrahlungen in alle Richtungen des Sys-
III, 37; W II, 331 u. ö.), die kein Additum des übrigen tems, das ja auf der Überzeugung ruht, dass der vorzu-
Systems ist, sondern dessen integraler, unabdingbarer tragende »einzige Gedanke« inhaltlich lauten kann:
Bestandteil, ohne den weder die Erkenntnislehre noch »Die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens« (W I,
die Ethik dieses Philosophen hinreichend verstanden 485). Es geht also überall um die Formen und Grade
werden können. der Erkenntnisweisen der Welt. Dieses systematische
Schopenhauers Metaphysik des Schönen unter- Interesse ist auch in Schopenhauers ›Ästhetik‹ vorherr-
steht, wie das Werk insgesamt, der totalisierenden, schend, ohne eine Geringachtung der vielen ästheti-
systembildenden Fragestellung: Was ist diese Welt? schen Einzelbeobachtungen daraus folgern zu müssen.
Was ist das Wesen der Welt? Durch die Beantwortung Schopenhauers Philosophie ist durch eine beson-
dieser Frage von Seiten der Kunst und des Schönen er- dere Hochschätzung der Anschauung gekennzeich-
wartet sich Schopenhauer authentische, folgenreiche net. Im Begriff ›Anschauung‹ zielt sie sowohl auf die
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 69

Methode des Anschauungserwerbs wie auch auf den tik‹, d. h. der Metaphysik des Schönen. Schopenhauer
gewonnenen Gegenstand, das Anschauliche oder das selbst weist darauf hin, dass auch seine Ethik von der
zur Anschauung Gebrachte. Es versteht sich, dass das hier maßgeblich entwickelten Konzeption der An-
Konzept der Anschauung für die ›Ästhetik‹ von be- schauung ausgeht und betont, dass »die Erkenntniß,
sonderer Bedeutung ist, und so sind schon Schopen- aus welcher die Verneinung des Willens hervorgeht,
hauers Äußerungen hierzu in seiner Erkenntnis- und eine intuitive ist und keine abstrakte« (W I, 453). Nur
Wissenschaftslehre aufschlussreich für die später in eine solche sei auch in der Lage, unmittelbar die ent-
der ›Ästhetik‹ zu erörternde Funktion der ›reinen An- sprechende Tat oder Verhaltensweise auszulösen (vgl.
schauung‹. Es ist wichtig, dass die als fundamental an- W II, 83). Auch das ethisch so bedeutsame Gefühl des
zusetzende Tätigkeit der Anschauung, schon als em- Mitleids gründet in der Anschauung, d. h. in der intui-
pirische Anschauung, nicht in der bloßen Hinnahme tiven Erkenntnis des Leidens der Kreaturen, nicht in
des Angeschauten liegt, sondern bereits in der An- begrifflicher Argumentation über ihren Zustand oder
wendung von und der Sensibilität für die Strukturen in Regeln der Moral.
des Wirklichen. Es geht dabei um das Erkennen eines Der Vorrang der Anschauung vor dem begriff-
an ihm selbst nicht sinnlichen Gestaltungsmoments, lichen Denken, wie ihn Schopenhauer in seiner Er-
nämlich der Kausalität, deren Auffassung die An- kenntnislehre und Ethik vertritt, erhält seine Bekräfti-
schauung, d. h. der anschauende Verstand, a priori gung und Bewährung im vollen Sinne in der ›Ästhe-
mächtig ist. Dies führt Schopenhauer zu dem Grund- tik‹, denn hier wird das Schöne als eine ›Erkenntnis-
satz: »Alle Anschauung« ist »intellektual« (W I, 13) art‹ bestimmt, aber nicht als irgendeine Form der
und bereitet darauf vor, in der Metaphysik des Schö- Erkenntnis, sondern als die tiefste Art des Erkennens,
nen von der Erkenntnis der Ideen durch die reine An- nämlich als reine Anschauung des Wesens oder der
schauung zu erfahren. Auch die Ideen können als Idee der Dinge. Damit kommt der ›Ästhetik‹ im Sys-
strukturbildende Faktoren der Wirklichkeit verstan- temganzen eine ungewöhnlich hohe Bedeutung zu,
den werden und sich Schopenhauer zufolge in der rei- denn sie findet Schopenhauer zufolge auf dem Weg ei-
nen Kontemplation zeigen. nes anschauungsbezogenen Philosophierens den
Im ersten Buch seines Hauptwerks betont Schopen- Schlüssel zum gesuchten Wesen der Dinge.
hauer den originären, authentischen und verlässlichen
Charakter der Anschauung und kontrastiert ihn mit
Die Idee als ›Hauptgegenstand‹ von
der Abkünftigkeit der Begriffe, die jeden möglichen
Schopenhauers ›Ästhetik‹
Gehalt aus der Anschauung herleiten müssten (vgl.
W I, 41). Während dies hier noch klingt wie die An- Aus Schopenhauers Willensmetaphysik (s. Kap. 6.4)
erkennung der Anschauung als Fundament wissen- geht hervor, dass der natürlicherweise vom Willen be-
schaftlicher Redlichkeit, wie sie der Empirist David stimmte Mensch kaum eine Chance hat, der Anschau-
Hume gefordert hat, weisen andere Äußerungen schon ung um ihrer selbst willen nachzugehen. Er verharrt
deutlich auf den Selbstwert der Anschauung und die für gewöhnlich nur so lange bei der Anschauung, als es
Überlegenheit der Anschauung über die Reflexion hin. ihm um die Auswahl der Gegenstände seines Begeh-
In der Vorwegnahme des emphatischen Konzepts der rens geht oder um die Feststellung der Relationen un-
Anschauung, das Schopenhauer in der Metaphysik des ter den Dingen. Ein rein objektives Interesse an dem in
Schönen entwickelt, erklärt er in seiner Erkenntnisleh- der Anschauung Gegebenen liegt fast allen Menschen
re: »Die Anschauung ist sich selber genug; daher was fern, »weil ihr Erkennen immer an den Dienst des Wil-
rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie lens gebunden bleibt« (VN III, 95 f.). Diese Abhängig-
das ächte Kunstwerk, niemals falsch seyn, noch durch keit des Intellekts von den Willensregungen des Men-
irgend eine Zeit widerlegt werden kann denn es giebt schen führt Schopenhauer darauf zurück, dass ent-
keine Meinung, sondern die Sache selbst« (W I, 41 f.). wicklungsgeschichtlich betrachtet der Intellekt als ein
Die Anschauung soll also nicht nur die Quelle aller Er- Instrument des Willens aus diesem selbst hervor-
kenntnis, sondern, als reine Anschauung, sogar selbst gegangen sei, um die Bedürfnisse des Willens leichter
die Erkenntnis schlechthin sein (vgl. W II, 83), wie zu befriedigen. Eine der Schwierigkeiten in Schopen-
Schopenhauer in dem späteren Zusatz zum ersten hauers System liegt darin zu verstehen, dass sich in be-
Buch seines Hauptwerks ausführt. sonderen Fällen der Intellekt dennoch vom Willen
Damit erfährt der emphatische Begriff der An- emanzipieren kann. Schopenhauer erklärt dies mit der
schauung seine Bewährung wesentlich in der ›Ästhe- Vorstellung eines Überschussphänomens: Bestimmte
70 II Werk

Individuen sind von Natur aus mit einem solchen Schopenhauer nimmt für seine Ausdeutung der
Grad an Intellekt, bzw. ›Gehirnkraft‹, ausgestattet, dass platonischen Idee in Anspruch, sie nicht zu mystifizie-
nur ein Teil davon zur Dienstbarkeit am Willen benö- ren und sie nicht auf dogmatische Weise als eine trans-
tigt wird. Ein »Ueberschuß der Erkenntniß wird nun zendente Entität zu veranschlagen. Sie ist vielmehr
frei« (VN III, 68) und ermöglicht die Abwendung vom Vorstellung, wenngleich das empirische Wissen über-
willensbestimmten Ich und die völlige Hingabe an das schreitend. Wenn man Schopenhauers metaphysi-
zu erkennende Objekt. Schopenhauer sieht hierin das scher Hypothese folgt, der Weltprozess sei die Selbst-
Kennzeichen der Genialität. Er nennt sie »die Fähig- erkenntnis des Willens, so stellen die Ideen einen ers-
keit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die An- ten Ansatz des Willens dar, sich selbst Objekt werden
schauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ur- zu können, dies aber noch, ohne sich in Raum und
sprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Zeit auslegen zu müssen, sondern nur in unbewegte
Dienste zu entziehn« (W I, 218 f.). Diese geniale Bega- Prägeformen, die je für bestimmte Stufen der Objekti-
bung beobachtet Schopenhauer bei den Künstlern und vation des Willens maßgeblich sein sollen. Die Ent-
den großen Philosophen. Trotz der unterschiedlichen äußerung des Willens bleibt also hier noch im Forma-
Darstellungsmittel von Kunst und Philosophie unter- len, Ungegenständlichen. Schopenhauer nennt sie die
stellt Schopenhauer ein beide Disziplinen auszeich- adäquate Objektität des Willens je nach den Stufen
nendes Erkenntnisverfahren. Er erklärt, dass »die Fä- seiner Bewusstwerdung. Diesen objektiven Gesichts-
higkeit zur Philosophie eben darin besteht, worein Pla- punkt der Idee entwickelt Schopenhauer in seiner Me-
to sie setzte, im Erkennen des Einen im Vielen und des taphysik des Willens. Da aber in jeder Erkenntnis eine
Vielen im Einen« (W I, 98) und dies bei Schopenhauer Korrelation von Subjekt und Objekt herrschen muss
wie bei Platon mit deutlichem Vorrang des Einen vor und die Ideen erkannt werden, wenn auch nur von
dem Vielen. den genialischen Menschen, so bedarf es einer Auffas-
Es zeigt sich in Schopenhauers ›Ästhetik‹, dass die sungsmöglichkeit des Subjekts für diese anschauli-
hier beschriebene »Fähigkeit zur Philosophie« auch chen, aber nicht unmittelbar sinnlichen Formen, die
die Fähigkeit der Kunst ist; nur verfolgt sie das ge- Schopenhauer als die platonischen Ideen bezeichnet.
meinsame Ziel mit anderen Methoden. Auch der Phi- Diese Auffassung nennt Schopenhauer die reine
losoph muss wie der Künstler in der Lage sein, einen oder ästhetische Kontemplation. Gemeint ist eine sol-
Reichtum an Anschauungswissen zu erwerben und in che Steigerung und Intensivierung der Anschauung
der reinen Anschauung das Eine (die Idee) im Vielen bei der Betrachtung von Naturdingen, dass das Objekt
zu erkennen. Sowohl das Eine wie das Viele überträgt das Bewusstsein so völlig einnimmt, dass das Subjekt
er als Philosoph in abstrakte Begriffe, während der mit ihm in geradezu mystische Vereinigung gelangt,
Künstler dazu fähig ist, die in reiner Anschauung er- mit ihm Eins wird und sein Selbst, d. h. seinen Willen,
fasste Idee in einem sinnlichen Gebilde zur Darstel- darüber vergisst. Der Motor für diese Intensivierung
lung zu bringen. Dies kann aus Schopenhauers Sicht der Anschauung ist Schopenhauer zufolge das rein
umso eher gelingen, als in seinem Konzept der Idee objektive Interesse, eine Erkenntnisintensität, die den
ein anschauliches Allgemeines gedacht ist, das im pla- genialen oder zumindest kongenialen Menschen vor-
tonischen Sinn das Urbild vieler möglicher Abbilder behalten ist und stets nur auf Augenblicke gelingt, in
ist. Daher fügt Schopenhauer dem Begriff der Idee fast denen alles subjektive Interesse und das willentliche
überall das Prädikat ›Platonisch‹ bei und vertraut da- Verfolgen eines Ziels verabschiedet ist. In diesen Au-
bei auf das rechte, d. h. ursprüngliche Verständnis von genblicken entspricht das rein erkennende Subjekt,
idea und eidos als schaubare Gestalt. Damit wird die das seinen Willen aufkündigt und sein Erkennen nicht
umgangssprachliche Verflachung des Ausdrucks mehr nach dem Satz vom Grund ausrichtet, indem es
›Idee‹ abgewehrt, aber auch jegliche Nähe der Idee der Idee gewahr wird, nicht mehr dem Individuum,
zum Begriff vermieden. Die hohe Bedeutung des Ide- sondern »ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitlo-
enkonzepts betont Schopenhauer, wenn er erklärt: ses Subjekt der Erkenntniß« (W I, 210 f.). Dies ist Scho-
»Die Platonische Idee« mache den »Hauptgegenstand penhauer zufolge nur dadurch möglich, dass »durch
des dritten Buchs« (W I, 48), also der ›Ästhetik‹ aus. die Kraft des Geistes gehoben«, der in reiner Kontem-
Mit diesen Worten weist Schopenhauer schon im ers- plation Befindliche »die ganze Macht seines Geistes
ten Buch auf den Gegenstand voraus, durch den sein der Anschauung hingiebt« (W I, 210). Die Ausfüh-
Argument über die Sonderstellung der Anschauung rungen Schopenhauers zu diesem außergewöhnli-
erst völlig eingelöst werden soll. chen Ereignis der Selbstüberwindung und des Sich-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 71

Offenbarens der Idee oder des Typus einer Klasse von Schönen, wenn er erklärt: »Der Zustand des reinen völ-
Dingen sind von solcher stilistischer Eindringlichkeit, lig willenlosen Erkennens ist es auch ganz allein, der
dass sie sich von selbst als die Schlüsselpassage der uns ein Beispiel giebt, von der Möglichkeit eines Da-
›Ästhetik‹ darbieten und den Vorrang des metaphysi- seyns, das nicht im Wollen besteht, wie unser jetziges«
schen vor dem ästhetischen Interesse des Autors be- (VN III, 96).
zeugen. Zugleich bewährt sich die früher schon be-
hauptete Vorrangstellung der Anschauung vor der Be-
Der Doppelaspekt des Schönen und das ­
griffsarbeit, indem die in der Erkenntnislehre fest-
Verhältnis von ›Ästhetik‹ und Hermeneutik
gestellte Intellektualisierung der Anschauung hier zur
Vergeistigung der Anschauung im Sinne mystischer Der in jeder philosophischen Ästhetik zentrale Begriff
Schau gesteigert wird. des Schönen lässt sich in Schopenhauers ›Ästhetik‹
Schopenhauers Metaphysik (und seine Lebens- erst im Anschluss an seine Ideenlehre terminologisch
erfahrung) lehrt die strikte Korrelation von Willens- genau entwickeln. So ist auch Schopenhauers Ent-
bestimmtheit und Leiden. Wenn in der ästhetischen scheidung, das dritte Buch seines Hauptwerks wie
Kontemplation wenigstens auf Zeit eine Aufhebung auch die zugehörige Vorlesung als »Metaphysik des
der Willensherrschaft über den Menschen erreicht Schönen« zu bezeichnen, wohl begründet, denn zu-
werden kann, so erfährt sich das rein erkennende Sub- nächst muss die Möglichkeit der reinen ästhetischen
jekt zugleich als »schmerzlos« und ohne Bedingtheit Betrachtung mit der in ihr ermöglichten Schau der
durch die Zeit. Dieser, einer Erlösung gleichkommen- Ideen vorgetragen werden, wenn Schopenhauers Be-
de Zustand, in dem sich die Idee als Wesen des Dinges stimmung des Schönen verständlich werden soll.
»offenbart«, hat mit seinen Momenten der Befreiung Schopenhauer lässt nicht nur in seiner Erkenntnis-
und des Heilbringens eher Verwandtschaft mit religiö- lehre, sondern auch in seiner ›Ästhetik‹ die Position
ser Erfahrung als mit der traditionellen Vorstellung der kritischen Transzendentalphilosophie Kants wirk-
von ästhetischem Genuss an der gegebenen sinnlichen sam werden. Eine Bestimmung des Schönen ›an sich‹
Qualität der Dinge. In der Tat führt Schopenhauer die ist daher unmöglich geworden. Sowohl Kant wie
aus der ästhetischen Kontemplation hervorgehende Schopenhauer sehen im Schönen oder in der Schön-
»Freude« auch primär auf die Entlastung vom Willens- heit nicht länger eine Zuschreibung von dogmatisch
druck zurück und auf die befreiende Erkenntnis der bestimmbaren Eigenschaften an Produkte der Kunst
Ideen, die das wahrhaft Seiende bedeuten. Unter dieser oder der Natur. Vielmehr muss die Fähigkeit des Sub-
Entlastung tritt »Ruhe im Anschauen, Befriedigung in jekts zur Empfindung und Wertung des Schönen mit
der Gegenwart« ein (W I, 411), also ein Zustand, der veranschlagt werden. In dieser Forderung vereinen
normalerweise durch die Begehrungen und das Stre- sich aus Schopenhauers Sicht transzendentale und
beverhalten des Willens vereitelt wird. Schopenhauer hermeneutische Voraussetzungen für die Schönheits-
weist auf das Außergewöhnliche der ästhetischen Kon- erfahrung. Kant hatte die Subjektivierung des Schö-
templation hin, das darin besteht, dass ein vom Willen nen schon so weit vorangetrieben, dass er in seiner
Abkünftiges, der Intellekt (das Akzidenz), die Herr- Kritik der Urteilskraft sagen konnte: »Schönheit ist
schaft über das Grundständige, den Willen (die Sub- kein Begriff vom Objekt« (KdU, § 38, 152 Anm.). Für
stanz) gewinnt. Das Ungewöhnliche dieser Begeben- Schopenhauer hat das Schöne dagegen sowohl eine
heit erklärt ihre Seltenheit. Systematisch hoch bedeut- subjektive wie auch eine objektive Voraussetzung.
sam ist Schopenhauers Feststellung, dass der Zustand Während Kant das Schöne als Ausweis des begriffs-
der ästhetischen Kontemplation eine »Analogie und losen Wohlgefallens anlässlich reflektierender Beur-
sogar Verwandtschaft« mit der »Verneinung des Wil- teilung und Schätzung von Dingen der Natur und der
lens« (W II, 422) aufweist. Hier ergibt sich ein Erklä- Kunst dargelegt hatte, bei denen allenfalls eine Vorstu-
rungsmoment für das in Schopenhauers Ethik behan- fe der Erkenntnis, nämlich deren subjektive Kom-
delte Verhältnis von Erkenntnis und Resignation und ponenten als eine »Erkenntnis überhaupt« zutage trat,
für die außergewöhnlichen Existenzen des Asketen erklärt Schopenhauer das Schöne als eine »ganz be-
und des Heiligen (s. Kap. 6.6), die sich in der Vernei- sondere Erkenntnißart« (VN III, 38). Zu deren sub-
nung des Willens üben. Die hohe ethische und genauer jektiver Bedingung erläutert Schopenhauer: »Indem
soteriologische Bedeutung der Möglichkeit willensrei- wir einen Gegenstand schön nennen, sprechen wir da-
ner ästhetischer Betrachtung betont Schopenhauer im durch aus, daß er Objekt unserer ästhetischen Be-
Rahmen seiner Vorlesung über Die Metaphysik des trachtung ist« (W I, 247). Zu dieser ästhetischen Kon-
72 II Werk

templation gehört, wie dargelegt, dass das Subjekt sich Naturprozess ein Darstellungsgeschehen ist, einsich-
nicht mehr als Individuum bewusst wird, sondern tig für diejenigen, die ihn in rein kontemplativer An-
sich zum willenlosen reinen Subjekt des Erkennens schauung betrachten. Am Beispiel der rein objektiven
verändert. Zugleich wandelt sich auch das Objekt die- Betrachtung der Natur durch die genialen Land-
ses Erkenntnisprozesses in der Weise, »daß wir im Ge- schaftsmaler und die Maler der Stillleben setzt Scho-
genstande nicht das einzelne Ding, sondern eine Idee penhauer deren absichtslose Hinwendung zu den Na-
erkennen. [...] Denn die Idee und das reine Subjekt des turdingen mit dem Verhalten der Liebe, dem bedin-
Erkennens treten als nothwendige Korrelata immer gungslosen Seinlassen des Gegenübers, gleich (vgl.
zugleich ins Bewußtseyn« (W I, 247). W I, 257 ff.). In dieser Betrachtung ›sprechen‹ die Din-
Wenn Schopenhauer in seiner Vorlesung erklärt: ge und geben die ihnen zugrundeliegenden Ideen
»Wir betrachten [...] das Schöne als eine Erkenntniß preis. Der Typus einer Gattung von Dingen, d. h. das
in uns, eine ganz besondere Erkenntnißart« (VN III, Charakteristische, wird dabei gestalthaft deutlich.
38), so ist nun deutlich geworden, dass die Erkennt- Diese Anschaubarkeit des Wahren, nämlich des Typi-
nisart eine intuitive, ganzheitliche Auffassung von et- schen der Entäußerung des Willens auf einer be-
was sinnlich Gegebenem ist, das aber nicht selbst stimmten Stufe, ist für den Schauenden die Erkennt-
schon das erkannte Objekt ist, sondern in der reinen nis der Ideen, bzw. des Schönen. Bei Erfüllung des
ästhetischen Anschauung quasi transparent wird hin- subjektiv-objektiven Doppelaspekts des Schönen
sichtlich des im äußeren Objekt sich auswirkenden können alle Dinge prinzipiell schön sein, »denn in je-
Wesens oder der Idee. Die Erkenntnisart ist also, kurz dem Falle ist das Objekt der ästhetischen Betrachtung
gefasst, ein Schauen der Ideen, und eben dies, die nicht das einzelne Ding, sondern die in demselben zur
Schaubarkeit der Idee, ist das Schöne. Das Schauen Offenbarung strebende Idee« (W I, 246).
selbst ist der Modus des Erkennens der Idee. Schopenhauers Auffassung des Schönen lehnt sich
Schopenhauer betont in solchem Kontext, dass die deutlich an die große Tradition neuplatonischer
Idee, von Zeit und Raum völlig enthoben, gleichwohl Schönheitslehre an, wie sie durch Plotin schon in der
aber anschaulich sei, »denn nicht die mir vorschwe- Antike einsetzte, im christlichen Mittelalter mit der
bende räumliche Gestalt, sondern der Ausdruck, die Theologie kompatibel gemacht wurde und in der ita-
reine Bedeutung derselben, ihr innerstes Wesen, das lienischen Renaissance einen Höhepunkt durch die
sich mir aufschließt und mich anspricht, ist eigentlich Verbindung mit der Kunsttheorie erreichte. Wenn
die Idee« (W II, 247). Nach dieser Erläuterung wird Schopenhauer annimmt, dass die Schönheit der Din-
Schopenhauers Charakterisierung der ästhetischen ge im Bereich von Natur und Kunst durch den mög-
Erkenntnis als »Erkenntniß in uns« besser verständ- lichst reinen Ausdruck ihres Wesens, also der Idee, ge-
lich. Die Rede vom »Ausdruck« der Idee, von ihrem steigert werde, so folgt er mit dieser Bestimmung der
Sich-Aufschließen und ihrem Anspruch weist darauf Schönheit genau der neu-platonischen Idea-Lehre des
hin, dass es sich bei dieser »Erkenntniß in uns« we- Marsilio Ficino, eines führenden Vertreters des Neu-
sentlich um einen Verstehensprozess, weniger um ei- Platonismus der Renaissance. Ficino formuliert in
ne punktuelle Einsicht handeln muss. klarer Anlehnung an Plotin, die Schönheit sei die
Generell lässt sich in Schopenhauers Werk eine en- »deutlichere Ähnlichkeit der Körper mit den Ideen«
ge Beziehung zwischen Ästhetik und Hermeneutik (zit. nach Panofsky 1960, 28, 92). Analog erklärt Scho-
beobachten. Auch wurde mit Bezug auf Schopenhauer penhauer diejenigen Dinge für besonders schön er-
mit Recht von einer »hermeneutischen Verschiebung scheinend, die ihre zugrundeliegende Idee klar zum
der Philosophie« (Schubbe 2010, 43–49 und passim) Ausdruck bringen, ihr also möglichst ähnlich werden.
überhaupt gesprochen (s. Kap. 40). Trotz der von Daher kann er auch sagen, das Schöne sei eine »Er-
Schopenhauer vollzogenen transzendentalphiloso- kenntnißart« (VN III, 38), denn die als schön wahr-
phischen Wende ist die Erkenntnis nicht in dem Maße genommenen Dinge geben in reiner ästhetischer An-
als Konstruktion gedacht wie bei Kant, sondern weit- schauung ihr Wesen, d. h. die Idee, zu erkennen.
gehend als Prozess des Deutens, Verstehens und Sein- Schopenhauers Metaphysik des Schönen lässt deut-
lassens auf der Grundlage empirischer und reiner An- lich werden, dass das Schöne keinen im engeren Sinn
schauung. In ausdrücklicher Anlehnung an den Mys- ästhetischen Eigenwert besitzt. Es hat seine hohe Be-
tiker Jakob Böhme, der eine Art Natursprache ver- deutung vielmehr durch sein Erscheinen-Lassen der
anschlagt, in der die Dinge ihre innere Gestalt Idee. So wird auch bei Schopenhauers Einzelbeobach-
offenbaren, geht Schopenhauer davon aus, dass der tungen über Kunstwerke einsichtig, dass er ihre Schön-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 73

heit nach dem Grad des Ausdrucks der in ihnen jeweils unkünstlerisch ab. Ein Schlüsselbegriff für die Bewer-
zur Darstellung gebrachten Ideen bemisst, nicht nach tung des Sinnlichen ist bei Schopenhauer das ›Bedeut-
Kunst- oder Schönheitsregeln irgendeiner Art. Scho- same‹ an dem sinnlichen Material. Nur dort, wo sein
penhauer verfährt bei der Konzeption des Schönen Ausdruck durch Artikulation Bedeutung gewinnt, ist
zwar undogmatisch, und auch in diesem Sinn nicht-äs- es auch in der Lage, die Idee zur Darstellung zu brin-
thetisch, aber nicht kriterienlos, denn das Kriterium gen. Das Ausdrucksverstehen sowohl an Produkten
des Schönen ist die Anschaubarkeit des Wahren, des der Natur wie an denen der Kunst verankert Schopen-
Wesens bzw. der Idee der Dinge in Natur und Kunst. hauer letztlich in seiner Metaphysik des Willens: So-
Schön sind die Dinge, deren Wesen klar hervortritt. wohl der Naturbetrachter wie der Kunstkenner haben
Die große Kunst kann die Offenbarung des Wesens ein Gegenüber, das Objektivation des Willens ist, so
durch die ihr je eigenen Verfahren und Materialien be- wie sie selbst »das Ansich der Natur, der sich objekti-
fördern, über die aber allein das künstlerische Genie vierende Wille, selbst sind« (W I, 262). Mit Bezug auf
und nicht der Philosoph oder ›Kunstrichter‹ zu befin- Empedokles weist Schopenhauer darauf hin, dass hier
den hat. Nach Schopenhauers eigenen Kriterien für das Gleiches von Gleichem erkannt werde, ein Prinzip,
metaphysisch gedeutete Schöne könnte Picassos Guer- das Schopenhauer von seinem metaphysischen An-
nica als schön bezeichnet werden, weil es das Grauen satz her teilt, da er den Weltprozess als einen Prozess
des Krieges unmittelbar zur Anschauung bringt und des Sich-selbst-Begreifens des Willens ansieht.
damit das Wesen der Kriege überhaupt erkennen lässt. Für die Verschränkung von ›Ästhetik‹ und Herme-
Dem Kriegerischen schlechthin als einer Naturmacht neutik gibt Schopenhauer ein eindrucksvolles Beispiel
kann im Sinne Schopenhauers eine Idee zugesprochen im Rahmen seiner Wissenschaftslehre. Den Verste-
werden als Wesensausdruck des mit sich selbst ent- hens- und Deutungscharakter anschauungsgebunde-
zweiten Willens oder als »unvergängliche Gestalt« ner Erkenntnis, wie sie in ästhetischer Betrachtung
(W I, 578 f.) des als tragisch konzipierten Weltlaufs. vorliegt, erläutert Schopenhauer unter anderem an
Nicht zuletzt bei der Vergegenwärtigung dieses dem Verfahren der Physiognomik. Er behandelt sie im
oder ähnlicher Beispiele lässt sich fragen, was es mit Kontext seiner Kritik an der spezifischen Beschrän-
der ›ästhetischen Freude‹ oder sogar dem ›Genuss‹ bei kung begrifflicher Erkenntnis, die er vom Erkennen
der reinen ästhetischen Kontemplation auf sich hat. durch Anschauung absetzt, bei dem es um die Er-
Mancher Interpret der Philosophie Schopenhauers kenntnis der »signatura rerum« und um »die feinen
sieht in der Freude am Schönen, die Schopenhauer Modifikationen des Anschaulichen« (W I, 67) gehe.
hervorhebt, einen Widerspruch zu seiner pessimisti- Am Beispiel der Deutung des Ausdrucks eines
schen Grundhaltung, die doch eigentlich jede Affir- menschlichen Antlitzes wird Schopenhauers Gewich-
mation des Bestehenden ausschließe (vgl. Schmidt tung nichtbegrifflichen Erkennens, hier des Aus-
2005, 11, 17). Schopenhauer erklärt, dass die »ästheti- druck-Verstehens, deutlich. Die Physiognomik liefert
sche Freude [...] der Hauptsache nach, ganz im subjek- wie die ›Ästhetik‹ Beispiele für die enge Beziehung
tiven Grunde des ästhetischen Wohlgefallens wurzelt von Schönheit und Erkenntnis. In einer Anmerkung,
und Freude über das reine Erkennen und seine Wege die Schopenhauer über den Erkenntnisgewinn der
ist« (W I, 236). Diese Erkenntnisfreude ist eine intel- Physiognomik macht, die für ihn eine Mittelstellung
lektualisierte Freude, bei der man kaum mehr von zwischen Wissenschaft und Metaphysik einnimmt,
Empfindung sprechen kann, denn das reine Subjekt charakterisiert er die in einem menschlichen Antlitz
der ästhetischen Kontemplation ist sich seines Leibes aufscheinende Schönheit »als Angemessenheit zu
nicht mehr bewusst. Schopenhauer konzipiert offen- dem Typus der Menschheit« (W I, 68 Anm.). Hier be-
sichtlich einen Intellekt, der nicht in purer Ratio auf- stätigt sich für Schopenhauer die Konzeption des
geht, sondern so etwas wie ein Selbstgefühl besitzt. Schönen als Anschaubarkeit des Wahren, hier des
Entscheidend ist für Schopenhauer, dass es bei der äs- wahren, alle menschlichen Individuen prägenden Ty-
thetischen Freude um die Freude an der Erkenntnis, pus. Das Schöne erweist sich als Anschauung eines
nicht um die Freude an sinnlicher Brillanz oder tech- Allgemeinen mit Hilfe einer individuellen Erschei-
nischer Perfektion als solcher geht, wie unter anderem nung, die zum Repräsentanten der Idee geworden ist
aus seinen Bemerkungen über gewisse Auswüchse der und damit als schön empfunden wird.
Stilllebenmalerei der Niederländer hervorgeht. Wo Schopenhauers terminologisch erarbeiteter Begriff
die Opulenz des Sinnlichen einen Eigenwert präten- des Schönen ist allein anzuwenden auf die in reiner äs-
diert, lehnt Schopenhauer das entsprechende Werk als thetischer Kontemplation sich offenbarende Idee, d. h.
74 II Werk

auf die Schaubarkeit des Wahren, auf die sich selbst im des Lichts und Schattens und der Ton des ganzen Bil-
willensfreien Schauen anschaulich präsentierende Er- des« (W II, 481 f.). In anderen Kunstgattungen lassen
kenntnis. Damit wird ausgesprochen, dass die ent- sich Äquivalente für diese Mittel zur Entfaltung des
scheidende Erkenntnis, nämlich die des Wesens der empirisch Schönen finden. Ihr Effekt ist »nicht das
Dinge, nicht aus einer willentlichen Anstrengung, Wesentliche, aber das zuerst und unmittelbar Wirken-
sondern aus der intensivierten Aufnahmebereitschaft de« (W II, 482). Indem Schopenhauer dem empirisch
und Hingabe des Menschen hervorgeht, in deren Ge- Schönen eine propädeutische Funktion zuerkennt – es
folge sich das Schöne plötzlich, »mit Einem Schlage« erleichtert das Hineinfinden in die reine ästhetische
(W I, 211), von ihm selbst her auftut. Der Gedanke, Kontemplation –, hat er einen theoretisch plausiblen
dass das Schöne sich wesentlich von ihm selbst her Bezug zwischen dem metaphysisch-apriorisch Schö-
zeigt, ist eine wichtige Annahme in Platons Dialog nen und dem Schönen der Erfahrung hergestellt.
Phaidros, auf den Schopenhauer des Öfteren in sei- Der späte Schopenhauer hat sich nicht gescheut, an
nem Werk hinweist. In diesem Dialog wird ein My- die Etymologie des Ausdrucks ›schön‹ eine metaphy-
thos von der Ideenschau der menschlichen Seele vor sische Spekulation im Sinne seiner eigenen Theorie
ihrer Inkarnation erzählt. In dem Reigen der Ideen, anzuschließen: »›Schön‹ ist, ohne Zweifel, verwandt
dem die Seele zuschaut, wird die Idee der Schönheit mit dem Englischen to shew und wäre demnach
als die »Hervorleuchtendste« (250c–e) bezeichnet, shewy, schaulich, what shews well, was sich gut zeigt,
wodurch auch in allen schönheitlichen Gebilden das sich gut ausnimmt, also das deutlich hervortretende
Schöne »durch den deutlichsten unserer Sinne« Anschauliche, mithin der deutliche Ausdruck bedeut-
[durch das Auge] vermittelt werde (ebd.). Das Schöne samer (Platonischer) Ideen« (P II, 451).
befördert also offensichtlich die Schau der Ideen, so- Die zweite üblicherweise zentrale Kategorie der Äs-
fern es um die sichtbaren Dinge geht. Die Überzeu- thetik, das Erhabene, erfährt im Vergleich zum Schö-
gung, dass das empirisch Schöne den Weg zur Erfas- nen bei Schopenhauer eine recht knappe Behandlung.
sung der Ideen erleichtert, findet sich auch in anderen Das liegt nicht an einer Geringschätzung dieser Emp-
Dialogen Platons, nicht zuletzt im Symposion. Für findung im Gefolge der reinen ästhetischen Betrach-
Schopenhauer ist dieser Gedanke in dem Moment tung als vielmehr an der weitgehenden systemati-
ausschlaggebend, in dem man sich fragen muss, in schen Äquivalenz der subjektiven Seite dieses Zu-
welchem Verhältnis der strenge, apriorische Begriff stands sowohl beim Schönen wie beim Erhabenen. In
des Schönen zum ästhetischen Prädikat ›schön‹ bzw. beiden Fällen kommt es bei der reinen ästhetischen
zu den umgangssprachlichen Gebrauchsweisen von Kontemplation zu einer Selbstüberwindung, d. h. zu
›schön‹ steht. In Schopenhauers Einzelbeobachtungen einem Ausschalten jeder Bedrängung durch den Wil-
über Naturerscheinungen oder Kunstwerke werden len und zu der vollen Konzentration auf das rein Ob-
diese gebräuchlichen Versionen von ›schön‹ reichlich jektive bei der Betrachtung des Gegenstands. Eine
angewandt. Es ist offensichtlich, dass die Macht der Differenz bei den beiden Empfindungsqualitäten tritt
Umgangssprache auch in den ästhetischen Diskurs hi- jedoch dadurch ein, dass es sich beim Erhabenen um
neinreicht. Schopenhauer belässt es jedoch nicht bei solche Gegenstände handelt, die das Wollen bzw. das
einem beziehungslosen Nebeneinander von termino- Nicht-Wollen unmittelbar herausfordern, sei es durch
logisch bestimmtem Schönheitsbegriff und den vor- Bedrohung der leiblichen Unversehrtheit oder starker
theoretisch verwandten Begriffen des Schönen. Am Einwirkung auf das Affektleben des Menschen, wie es
Beispiel der Malerei erörtert er eine »untergeordnete beim Trauerspiel der Fall sein kann. Es muss also bei
Art der Schönheit« (W II, 482), die dazu geeignet sei, scheinbar überwältigenden Natureindrücken wie
den Betrachter durch spezifische Mittel der Malkunst auch Darstellungen der Kunst die ästhetische Distanz
leichter in den Zustand der reinen willenlosen Kon- gewahrt werden können, was beim Erhabenen einer
templation gelangen zu lassen. Wenngleich Schopen- gewissen Anstrengung und stärkerer Selbstkontrolle
hauer hier von einer »untergeordneten Art« des Schö- bedarf, bei der der allgemeine Willensanspruch, dem
nen spricht, weil es nicht schon Resultat der Ideen- der Mensch qua leiblichem Wesen ausgesetzt ist, stets
schau ist, so billigt er diesen künstlerischen Mitteln im Bewusstsein bleibt, während beim Schönen die
der Malerei durchaus »eine davon unabhängige und »untergeordnete Art« des empirisch wahrgenom-
für sich gehende Schönheit zu« (W II, 481). Beispiel- menen Schönen den Betrachter fast »unmerklich« in
haft sind ihm die »Harmonie der Farben, das Wohl- den Zustand ästhetischer Betrachtung hinüberleitet
gefällige der Gruppierung, die günstige Vertheilung und der Willensdruck völlig aus dem Bewusstsein
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 75

weicht (vgl. W I, 238). Schopenhauer beschränkt sich und der Kunstproduzenten erkennen und behaupten.
auf eine relativ kurze Erörterung des Erhabenen, weil Schopenhauer selbst traut sich diese genialische Re-
dasjenige, was ihn aus systematischen Gründen inte- konstruktion zu und ist durch intuitives Erkennen da-
ressiert, nämlich die Möglichkeit der reinen ästheti- von überzeugt, dass der sich selbst bewusst werdende
schen Kontemplation, bei beiden Empfindungen Wille im Künstler und dessen Kreationen eine ent-
gleichartig begründet werden kann. Entscheidend ist scheidende hohe Stufe seiner Objektivation oder
in beiden Fällen das Sich-über-den-Willen-Erheben- Selbsterkenntnis erreicht, weil es hier um die Erkennt-
Können, das einmal fast unbewusst, das andere Mal nis und Darstellung (oder Mitteilung) der unmittel-
bewusst vollzogen wird. In der ästhetischen Literatur baren Objektität des Willens, nämlich der Ideen geht.
vor Schopenhauer, vor allem im angelsächsischen Be- Das oben so rigoros, weil ausschließlich auf diese
reich (Burke, Hutcheson, Hume) und auch bei Kant Weise bestimmte Ziel der Kunst scheint sie auf die im-
hat man sich noch viel mehr für die psychologische mer gleiche Aufgabe, nämlich die Darstellung der
Differenz beider ästhetischer Gefühle interessiert, ins- selbst zeitlosen Ideen zu verpflichten. Kann die Kunst
besondere auch für die zwiespältige Gefühlslage beim dann überhaupt etwas anderes als Traditionspflege
Erhabenen. sein? Kann das Neue, das uns im Leben begegnet,
überhaupt für sie zum Gegenstand werden? Schopen-
hauers Antwort hierauf könnte lauten, dass es bei den
Die Kunst und die Künstlerpersönlichkeit
eigentlichen Gegenständen der künstlerischen Dar-
Unter Schopenhauers zahlreichen Charakterisierun- stellung, die ja zeitenthoben sind, in der Tat kein Neu-
gen der Kunst findet sich eine Bestimmung geradezu es geben kann, wohl aber bei den Darstellungsmitteln
rigoristischer Art. Ihr voran steht nicht von ungefähr und Methoden, die das Schauen der Idee ermöglichen
ein knappes Resümee über die Erkenntnismöglichkeit und erleichtern sollen. Vor allem bei der Auswahl des
der Wissenschaften mit dem Fazit, dass sämtliche ih- empirisch Schönen, das als idealer Repräsentant sei-
rer Disziplinen mit den verschiedenen Gestaltungen ner Gattung die Idee aufscheinen lassen soll, ist eine
des Satzes vom Grunde operieren und hierbei allein größtmögliche Vielfalt denkbar.
bei den Erscheinungen und deren Relationen verblei- In Schopenhauers Definitionsversuch wird die
ben. Zum Wesentlichen der Welt, den Ideen, finden Kunst als »Werk des Genius« bezeichnet. Was aber ist
sie mit ihrem Erkenntnisverfahren keinen Zugang. Genialität abgesehen davon, dass sie angeboren ist?
Gegen dieses Versagen der Wissenschaften stellt Zur weiteren Erläuterung führt Schopenhauer aus,
Schopenhauer die als höherrangig erachtete Erkennt- Genialität sei »nichts Anderes, als die vollkommenste
nisart, die zur Betrachtung des wahren Gehalts der Er- Objektivität« (W I, 218). Das »rein objektive Interes-
scheinungen, dem Wesentlichen der Welt vordringt se« wurde von Schopenhauer schon zur Erklärung der
und es zur Darstellung bringt: »Es ist die Kunst, das Möglichkeit der reinen ästhetischen Kontemplation
Werk des Genius [...] Ihr einziger Ursprung ist die Er- vorgestellt und als außergewöhnliche und seltene Ei-
kenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung die- genschaft der Menschen bezeichnet. Das völlige Auf-
ser Erkenntniß« (W I, 217). Zum einen verleiht die Ge- gehen des Subjekts in der Betrachtung seines Gegen-
genstellung zur Wissenschaft der Kunst ein Moment stands, das völlige Vergessenkönnen der Willens-
des Reaktiven, das ihre Selbständigkeit einschränkt, bestimmtheit des Menschen waren ebenso plötzlich
zum andern schaltet Schopenhauers rigoristische De- wie selten sich ereignende Zustände, die nicht unbe-
finition von Ursprung und Ziel jede Bedeutung der dingt zu kreativen Handlungen führten. Das Genie
Geschichtlichkeit der Kunst aus. Selbstverständlich ist dagegen sieht Schopenhauer dadurch ausgezeichnet,
sich Schopenhauer bewusst, dass dasjenige, was in der dass es »eben in der überwiegenden Fähigkeit zu sol-
Neuzeit Kunst genannt wird, auch andere Funktionen cher Kontemplation« (W I, 218) besteht. Es löst die
erfüllt hat als die in seiner Definition dekretierte. Die Erkenntnis völlig vom Dienst des Willens ab, ist sich
geschichtliche Entwicklung erreicht aus Schopenhau- seiner Persönlichkeit nicht mehr bewusst, sondern
ers Sicht jedoch nur eine ›äußere Bedeutsamkeit‹ und wird zum »rein erkennenden Subjekt«, bzw. »klaren
bleibt den Zufällen unterworfen. Eine verbindliche Be- Weltauge«. Was aber für den Künstler, bzw. das Genie,
gründung der Möglichkeit und Wirklichkeit der Kunst das Entscheidende ist: Dies geschieht »nicht auf Au-
ist nur von ihren genialen Schöpfern und der genia- genblicke: sondern so anhaltend und mit so viel Be-
lischen Rekonstruktion ihres Schaffens zu erwarten. sonnenheit, als nöthig ist, um das Aufgefaßte durch
Nur dies lässt die ›innere Bedeutsamkeit‹ der Kunst überlegte Kunst zu wiederholen« (W I, 219). Es wird
76 II Werk

deutlich, dass beim Genie schon in der ästhetischen Schopenhauer wie zuvor schon Kant den Künstlern
Kontemplation ein kreativer Impuls ausgelöst wird, Genialität zusprechen, folgert Schopenhauer nicht
der danach verlangt, die reine Anschauung bis zur ebenso wie Kant hieraus die völlige Ablehnung des Mi-
Reife einer, wenn auch noch vagen, Vorstellung der mesis-Konzepts für die künstlerische Produktion.
Wiedergabe des Geschauten auszudehnen. Kant hatte erklärt: »Darin ist jedermann einig, daß Ge-
Der von Schopenhauer reklamierte »einzige Ur- nie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegenzuset-
sprung« der Kunst liegt in dieser genialischen Kon- zen sei« (KdU, § 47, 161). Sofern es bei der Nach-
templation mit der Erkenntnis der Ideen. Zum ein- ahmung um imitatio geht, ist Schopenhauer gleicher
zigen Ziel der Kunst erklärt Schopenhauer die »Mit­ Meinung. Seinen Unmut hierüber drückt er durch die
theilung« dieser Erkenntnis. Bei der Verfolgung dieses Kritik an der Wachsbildnerei aus. Das pure Nachbil-
Ziels stellen sich jedoch etliche Probleme ein, die dem den der individuellen äußeren Form führt im Effekt
Rezipienten von Schopenhauers Kunsttheorie Ver- zum Grauen über die leichenhaften Figuren, die aus
ständnisschwierigkeiten bereiten können. Es stellt diesem Prozess hervorgehen. Schopenhauer kennt je-
sich die Frage, mit welcher Art künstlerischer Tätig- doch eine Nachahmung höherer Ordnung, die sich
keit der Schritt von der kontemplativen Auffassung nicht auf die individuelle Erscheinung der Naturdinge
der Ideen zu ihrer ›Übertragung‹ (dies sei eine mög- oder Artefakte bezieht, sondern auf die gestaltbilden-
lichst neutrale Bezeichnung) in das Kunstwerk voll- den Ideen in den Gattungen des Seienden, deren Dar-
zogen wird. Schopenhauer benutzt einen ganzen Ka- stellung Schopenhauer als den Zweck der Künste an-
talog von Ausdrücken, die diese Arbeit des Künstlers sieht. Das tiefere Verständnis der künstlerischen Mi-
bezeichnen sollen. Es ist unter anderem die Rede vom mesis, wie es sich bei Aristoteles und Thomas von
Wiederholen der zuvor aufgefassten Ideen, vom Spie- Aquin findet, hatte das ars imitatur naturam ohnehin
geln, vom Mitteilen, vom Abbilden und vom Darstel- nicht als bloße Nachbildung von Naturgegenständen
len. Die künstlerische Antwort auf das Erlebnis der äs- verstanden, sondern als methodische Anleitung, so zu
thetischen Kontemplation, zu der das Genie sich he- verfahren wie die Natur, die gewisse Mittel zum Errei-
rausgefordert fühlt, steht unter der Bedingung, im chen eines Zwecks einsetzt (vgl. Panofsky 1960, 22). In
Medium der Anschauung zu verbleiben, denn »die der Kunsttheorie des Mittelalters wurde das Prinzip
Ideen [...] sind wesentlich ein Anschauliches und da- des ars imitatur naturam als Nachahmung des Produk-
her, in seinen nähern Bestimmungen, Unerschöpf- tionsverfahrens der Natur und nicht als Nachahmung
liches. Die Mittheilung eines solchen kann daher nur von individuellen Gegebenheiten verstanden. Fasst
auf dem Wege der Anschauung geschehen, welches man die Ideen bei Schopenhauer einmal als generative
der der Kunst ist« (W II, 466). Kräfte für die Erzeugung und Erkennbarkeit von Indi-
Unter den von Schopenhauer angebotenen Begrif- viduen einer bestimmten Gattung auf (Schopenhauer
fen zur Bezeichnung der künstlerischen Produktion, spricht vom Urbild-Abbild-Verhältnis), so nimmt er
die eine Konsequenz aus der ästhetischen Kontempla- das letztlich auf Aristoteles zurückgehende Prinzip in
tion ist, scheint der Begriff der Darstellung am ehesten einer platonistischen Variante auf. Das Modell einer
tauglich. Es geht darum, dem Geschauten in einem Erkenntnis durch Abbildlichkeit verwendet Schopen-
selbst geschaffenen Anschauungskontext eine erkenn- hauer in der Konsequenz seiner Hochschätzung der
bare Existenz zu verschaffen, mit andern Worten: sol- Anschauung nicht nur für die Künste, mit Ausnahme
che sinnlichen Gebilde zu schaffen, die den zuvor ge- der Musik, sondern auch für die Philosophie: »Das
schauten Idealtypus klar zum Ausdruck bringen. Aus ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich
Schopenhauers Sicht führt dies zu einer leichteren Auf- in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektiertes
fassung der Ideen als dies unter äußeren Naturbedin- Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begrif-
gungen der Fall wäre. Dass damit bereits das Kunst- fen der Vernunft niederzulegen; dieses und nichts an-
schöne bei Schopenhauer einen höheren Rang einnäh- deres ist Philosophie« (W I, 453).
me als das Naturschöne, sei hier nicht behauptet, denn Auch der Philosoph muss sich zunächst der An-
es gibt in seinem Werk Schilderungen des Naturschö- schauung hingeben, um das Wesen (die Ideen) der
nen, die geradezu das vollkommen Schöne feiern. Weltinhalte zu erfassen, muss aber dann, anders als
Mit der Aufgabe des Künstlers zur Darstellung der der Künstler, die Transponierung des Geschauten in
Ideen ergibt sich für den Interpreten das Problem, den Begriff leisten. Die Kategorie des »reflektierten
Schopenhauers Position in Bezug auf die traditionelle Abbilds«, mit dem der Philosoph sich des Wirklich-
Mimesis-Konzeption zu klären. Obgleich sowohl keitsbezugs seines Denkens versichert, könnte auch
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 77

für den Künstler eine Hilfsvorstellung für die Mög- nischen Idee klarmacht, dass es hier um eine ganz
lichkeit sein, das in der reinen Kontemplation Ge- grundsätzliche Strukturbestimmung der Idee gehen
schaute zunächst zu bewahren und dann in eigener soll. Das anschauliche Moment ist durch die Phantasie
Produktion anschaulich zu machen. Das »reflektierte abgedeckt. Sie vertritt auch das potentiell Viele, in
Abbild« kann aus der von Schopenhauer immer wie- dem die Idee sich verkörpern und ausdrücken kann;
der hervorgehobenen notwendigen Besonnenheit des die Vernunft, als Vermögen der Vereinheitlichung im
Künstlers hervorgehen. Unter ›Besonnenheit des Begriff, vertritt dagegen das Eins-Sein der Idee, wobei
Künstlers‹ versteht Schopenhauer unter anderem die die Vernunft offensichtlich auch das Einheitliche der
Fähigkeit, »das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu Gestalt, nicht nur der Zahl, schätzen kann.
wiederholen« (W I, 219), wobei der Begriff »wieder- Schopenhauers grundsätzliche Äußerung über die
holen« zu inhaltsleer und blass bleibt, um die Leistung platonische Idee spielt auch auf sein Konzept der um-
des Künstlers zu würdigen. Das »reflektierte Abbild«, fassenden gemeinsamen Aufgabe von Philosophie
das gewissermaßen zwischenzeitlich stillgestellt wird, und Kunst an, die darin besteht, die wahren Verhält-
muss sich dann in der künstlerischen Darstellung der nisse zwischen Einheit und Vielheit zu erkennen. Das
Idee wieder verflüssigen, denn die Idee ist »un- Eine, das bedeutsam wird für das Viele, bezeichnet die
erschöpflich« und voller Lebendigkeit, weil sie in un- Denkbewegung der Philosophie, es bezeichnet aber
endlich vielen Verkörperungen auftreten kann. Diese auch das Anschauungsgeschehen zwischen apriori-
ihre Möglichkeit wird der Phantasie des Künstlers und scher und empirischer Anschauung.
des Betrachters bewusst und gehört notwendig zur Er- Schopenhauers Satz über die Möglichkeit der plato-
kenntnis der Ideen wie auch zur Sensibilisierung für nischen Ideen ist auch eine Hilfe für die Abwehr von
die Kunst. Für die Darstellungsweise des Künstlers be- Missverständnissen hinsichtlich des Status der Ideen.
deutet das, dass sein anschauliches Gebilde nicht pla- Werden sie als transzendente Entitäten missinterpre-
kativ und mit quasi behauptendem Gestus daher tiert, so ist die ›Sperre‹ des heutigen Lesers gegenüber
kommen darf, sondern genügend Raum für die Phan- der ›Ästhetik‹ Schopenhauers nicht zu überwinden.
tasie lassen muss, mit der man sich stets auch andere Was Schopenhauer selbst anbietet, sind die plato-
Verwirklichungen der Idee soll vorstellen können. nischen Ideen als Vorstellungen einer rein anschauli-
Die Phantasie ist für den Künstler von höchster Be- chen und damit künstlerisch fruchtbaren Auslegung
deutung, denn die vorrangige Erkenntnisweise der der Welt. Zu einer vorurteilsfreien Lektüre ermutigen
Anschauung scheint das Genie allein auf die Ideen die zahlreichen Beispiele der sehr produktiven Rezep-
von augenblicklich Gegenwärtigem festzulegen. Diese tion dieser Ästhetik durch Künstler aller Kunstgattun-
vermeintliche Einschränkung wird durch die Kraft gen, die den durch Thomas Mann vergebenen Ehren-
der Phantasie aufgehoben. Sie erweitert den Horizont titel einer »Künstlerästhetik« rechtfertige (s. Kap. IV.C).
»weit über die Wirklichkeit« hinaus auf das Mögliche,
das in imaginären Bildern ins Bewusstsein tritt (W I,
Die Sonderstellung der Musik
219). Die herausragende Bedeutung, die Schopenhau-
er der Phantasie zuspricht, wird nicht erst bei der Dar- Die stärkste Zustimmung erfuhr Schopenhauers Phi-
stellungsproblematik der Ideen offenbar, sondern ist losophie der Kunst von Seiten der Komponisten und
schon mit der grundsätzlichen Konzeption der Idee Musiker, die sich durch Schopenhauers Metaphysik
verbunden. Schopenhauer spricht von der plato- der Musik in ihrer eigenen Musikerfahrung bestätigt
nischen Idee im Sinne einer Vorstellung, »welche sahen (s. Kap. 47), vielleicht aber auch der Verführung
durch den Verein von Phantasie und Vernunft mög- durch Schopenhauers Apotheose der Musik erlagen
lich wird« (W I, 48). Mit der Phantasie als dem Bild- (vgl. Adamy 1980, 72). Er nannte die Musik eine
vermögen und dem Vermögen des Imaginierens hat- »überaus herrliche Kunst« (W I, 302) und eine »wun-
ten die meisten Interpreten Schopenhauers hier kein derbare Kunst« (W I, 303). Dabei erweist sich Scho-
Problem, wohl aber mit dem Erfordernis der Ver- penhauers ›Ästhetik‹ zunächst als ungenügend für die
nunft, um die platonische Idee zu konzipieren, nach- philosophische Deutung des Wesens der Musik, denn
dem in Schopenhauers Erkenntnis- und Wissen- in ihrer Sprache der Töne geht es gar nicht um die
schaftslehre die Vernunft fast bis auf das Niveau ihrer Darstellung der Ideen bestimmter Erscheinungen in
Unterbewertung durch die Empiristen herabgewür- der Welt. Das Urbild-Abbild-Paradigma, welches das
digt worden ist. Es ist jedoch hilfreich, wenn man sich Verfahren der übrigen Künste begründet, scheint die-
bei der obigen Definition der Möglichkeit der plato- ser ›ungegenständlichen‹ Kunst nicht gemäß zu sein.
78 II Werk

Ein ähnliches Problem hatte sich auch schon bei mungen, wie sie das Erleben der konkreten Ereignisse
Schopenhauers Behandlung der Architektur ergeben, und Dinge der Welt begleiten. Sie sind vertraut, ohne
deren Produktionen er nur sehr bedingt als Darstel- bezeichnet werden zu können. Diese Vorstellungen,
lung von Ideen bestimmter Gegenstandsbereiche an- die Schopenhauer andernorts auch »primäre« Vor-
sehen konnte. Schopenhauer half sich mit der Feststel- stellungen nennt (W II, 76), verbleiben im Fall der
lung, hier würden statt der Ideen von Gegenständen Musikrezeption ganz im Modus des sinnlichen Nach-
die Ideen der wesentlichen Qualitäten der Materie, al- empfindens und der unbestimmten Bilder. Der ideale
so der Naturkräfte, zur Darstellung kommen. Im Fall Musikhörer erzeugt dabei nicht in sich selbst die Af-
der schönen Baukunst nämlich Schwere und Starrheit, fekte und Leidenschaften, deren Ausdruck ihm die
deren widersprüchliche Energien dort zu einem au- Musik vermittelt, sondern bleibt ein rein Erkennen-
genscheinlichen Ausgleich im Verhältnis von Stütze der, der quasi die »Quintessenz« der jeweiligen Ge-
und Last gelangen müssten. fühlslagen sich bildhaft vergegenwärtigt (vgl. W II,
Während Schopenhauer in der Architektur die Er- 516). In der Musik wird so etwas wie die Grundierung
fahrung der Schönheit mit der reinen Anschauung der bestimmter Gefühle ausgedrückt. Diese Möglichkeit
Ideen von Naturkräften begründet, die auch schon im der Musik, das Wesen der bewegten Innerlichkeit zu
rohen Material herrschen, muss er einräumen, dass gestalten, nähert sich dem Verfahren der übrigen
die Musik in ihrem tonalen Material keine Ideen zur Künste, die Ideen darzustellen. Im Erkennen der Ge-
Darstellung bringt. Damit kommt ihr unmittelbar ei- fühle als solcher durch die Musik Hörenden wird das
ne Sonderstellung zu. Schopenhauer betont, dass »im Individuationsprinzip überwunden, eine wichtige Vo-
systematischen Zusammenhang« seiner bisherigen raussetzung für alles ethische Handeln.
Darstellung »gar keine Stelle für sie passend war« Die musikalischen Vorstellungen werden vom Ver-
(W I, 302; vgl. VN III, 214), ein erstaunliches Ein- stand nicht vergegenständlicht und erlauben keine
geständnis für einen Philosophen, dem so viel an der Übersetzung in den abstrakten Begriff. Bei der Musik
Einheitlichkeit des Systems liegt. Es wird sich erwei- sind daher der Philosophie deutlichere Grenzen der
sen, dass nur im Analogieverfahren oder im Paralle- theoretischen Bearbeitung gesetzt als bei den bilden-
lismus zu den anderen Künsten und schließlich durch den Künsten, philosophisch kann sie von der Musik
Bezugnahme auf den grundlegenden »einen Gedan- nur als Metaphysik handeln (vgl. W I, 312 f.), denn an-
ken« (s. Kap. 6.2) die auffallende Sonderstellung der stelle gegenständlicher Erfahrung ist der Musik Hö-
Musik begründet werden kann. Auch versucht Scho- rende auf seine innere Empfindung verwiesen. In die-
penhauer die systembedingte Lücke zwischen der ser inneren Wahrnehmung löst sich zugleich mit dem
Tonkunst und den anderen Künsten durch einen Be- Fluss der Töne die Begrenzung eines bestimmbaren
richt über sein eigenes exzeptionelles Musikverstehen Objektiven auf. Ähnlich wie in dem Prozess des füh-
zu schließen (vgl. W I, 303 f.): Aus einem in völliger lenden Erkennens, in dem Schopenhauer zufolge das
Hingabe verlaufenen Musikhören, bei dem offenbar Innere des Menschen als Wille zum Bewusstsein
alles Individuelle des Hörenden aus dem Bewusstsein kommt (vgl. W I, 121 f.), wird in einer empfindenden
verschwunden war, kehrt dieser zur Reflexion zurück Rezeption der Musik deren Dynamik und universale
und gewinnt, noch unter dem Eindruck des völligen Ausdruckskraft zum Erfühlen der Gestimmtheit des
Aufgegangenseins in der Musik, die Überzeugung, Willens schlechthin. In der Musik verleiht der Wille
dass auch sie ein nachbildliches Verhältnis zur Welt Schopenhauer zufolge noch vor aller Objektivation
habe, aber zu ihr nicht als Summe von Erscheinungen, sich selbst unmittelbaren Ausdruck. In dieser Unge-
sondern zu ihrem Ansich, das heißt zum Willen. Es teiltheit ist er zugleich Ausdruck oder Abbild der Welt.
geht also um »ein Verhältniß der Musik, als einer Vor- Mit der Musik thematisiert Schopenhauer den
stellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn Ausdruck der unerschöpflichen Quelle aller Transfor-
kann« (ebd., 303). Diese Konstellation scheint selbst mationen der Willensenergie selbst, aus der die Ideen
Schopenhauers transzendentalphilosophische Ein- als adäquate Objektivationen des Willens erst hervor-
sicht außer Kraft setzen zu wollen. Wie lässt sich gehen sollen. Somit vereinigt er in seiner Metaphysik
gleichwohl Schopenhauers Intention nachvollziehen? der Künste ein statisches Konzept des wahrhaft Seien-
Die sinnlichen Eindrücke der Musik erzeugen im den (die Idee) mit einem bewegten, ursprünglicheren
Rezipienten unmittelbar Vorstellungen, jedoch nicht des Energieflusses. Letzteres ist eine Vorstellung eher
Vorstellungen von Objekten, sondern von den we- der asiatischen (vor allem chinesischen) Metaphysik,
sentlichen Atmosphären, Gefühlslagen und Stim- während die alteuropäische, griechische Metaphysik
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 79

die Vorstellung der zeitlosen Idee als ratio essendi des springen der Ideen, hin zum Willen selbst zu ermögli-
Seienden und der Kunst im Besonderen favorisiert chen. Schopenhauer warnt allerdings davor, diese
(vgl. Jullien 2012 passim). So gewinnt Schopenhauer und andere Analogien zwischen den bildenden Küns-
einen doppelten Begriff des Schönen, zum einen das ten und der Musik als zu direkt einzuschätzen, »da sie
Schöne der Form, das sich anschaulich veräußern lässt nie die Erscheinung, sondern allein das innere We-
und zum andern das Schöne des Miteinanders der Be- sen, das Ansich aller Erscheinung, den Willen selbst,
wegungsimpulse, das im inneren Gefühl aufgenom- ausspricht« (W I, 308).
men und wohl verstanden wird, aber unsagbar bleibt. Gemessen an dem einen Gedanken, der Schopen-
Unter diesen Voraussetzungen nennt Schopenhauer hauers gesamte Metaphysik bestimmen und entfalten
auch die Musik trotz ihrer Sonderstellung »eine schö- soll, nämlich die Überzeugung: »Die Welt ist die
ne Kunst« (W I, 302), das heißt, es muss mit ihr die Selbsterkenntnis des Willens« (W I, 485), lässt sich sa-
Möglichkeit gegeben sein, ein Erkennen im Modus gen, dass in der Musik ein erstes Zu-sich-selbst-Kom-
der Anschauung zu erlangen. Inwiefern geben Töne, men des kosmischen Willens in seinem irrationalen
Rhythmus und Melodien der Musik zwar keine Ideen, Streben ausgedrückt sei und zwar in einem perma-
aber gleichwohl ein Inhaltliches, das nicht Erschei- nenten Bewegtwerden zwischen den Polen von Wohl
nung ist, als Selbstausdruck des Willens zu erkennen? und Wehe, wie es auch der individuelle Wille erlebt.
Schopenhauer sucht den Verstehensprozess bei der Der geniale Komponist leistet es, diese gesamte Ge-
Musikrezeption wie bei der Aufnahme anderer Kunst- fühlswelt in eine musikalische Ordnung, das heißt in
werke durch eine Analogie mit verbalsprachlichem eine nicht-signifizierende Sprache, zu versetzen und
Verstehen zu erläutern. Während in Schopenhauers sie damit für sich selbst und die Rezipienten erkenn-
Einschätzung »Worte [...] für die Musik eine fremde bar zu machen. Dieses Erkennen beschreibt Schopen-
Zugabe« (W II, 512) sind, kommen die nicht-signifi- hauer wie ein Wiedererkennen, weil der Ausdruck
kativen Momente der Sprache, also vor allem Laut-, vertrauter Gefühle im Medium der Töne keine Ver-
Bewegungs- und Ausdruckqualitäten, in der Musik fremdung durch Diskursivität erfährt, sondern der
voll zum Tragen. Der späte Schopenhauer resümiert Gefühlsausdruck der inneren Willensnatur bleibt.
nochmals die schon im Hauptwerk herausgestellten Schopenhauers Philosophie der Musik ist wesent-
Momente der Allgemeinverständlichkeit der Musik lich Metaphysik der Musik, womit auch gesagt werden
und hebt hervor, dass dieses Verstehen ganz und gar soll, dass der doktrinäre Teil seiner Musiktheorie eher
auf der Ansprechbarkeit und Empfindsamkeit des Ge- unwesentlich, das heißt zeitgebunden, dogmatisch
fühls eines jeden Menschen beruht: und übermäßig bemüht ist, die metaphysische Aus-
legung der Musik als anschlussfähig an gängige Mu-
»Die Musik ist die wahre allgemeine Sprache, die man siklehren zu erweisen.
überall versteht. [...] Jedoch redet sie nicht von Dingen,
sondern von lauter Wohl und Wehe, als welche die al- Literatur
leinigen Realitäten für den Willen sind: darum spricht Adamy, Bernhard: Schopenhauer und einige Komponisten.
sie so sehr zum Herzen, während sie dem Kopfe unmit- In: Schopenhauer Jahrbuch 61 (1980), 70–89.
Baum, Günther/Birnbacher, Dieter (Hg.): Schopenhauer und
telbar nichts zu sagen hat« (P II, 457).
die Künste. Göttingen 2005.
Jacquette, Dale (Hg.): Schopenhauer, philosophy, and the arts.
Schopenhauer hatte schon im Hauptwerk betont, dass Cambridge 1996.
die Menschen in der Musik »das tiefste Innere unsers Jullien, Francois: Die fremdartige Idee des Schönen. Wien
Wesens zur Sprache gebracht sehn« (W I, 302). Das 2012 (frz. 2010).
Jung, Joachim: Die Bewertungskriterien in der Ästhetik Scho-
tiefste Innere der Menschen, ihr Wesen, ist erklärter-
penhauers. Diss. Mainz 1985.
maßen der Wille. Korfmacher, Wolfgang: Ideen und Ideenerkenntnis in der
Schopenhauer hatte diejenigen Werke der bilden- ästhetischen Theorie Arthur Schopenhauers. Pfaffenweiler
den Kunst als besonders schön angesehen, deren 1992.
sinnliche Gestalt eine Art Durchlässigkeit zur Idee, Koßler, Matthias: Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhe-
zum Wesen des dargestellten Gegenstandes gewährte, tik Arthur Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 83
(2002), 119–133.
aber mehr noch scheint die Musik durch ihren Rück- Koßler, Matthias (Hg.): Musik als Wille und Welt. Schopen-
zug aus dem Raum und durch das monistische Mate- hauers Philosophie der Musik. Würzburg 2011.
rial der Töne eine vergleichbare, wenn nicht stärkere Malter, Rudolf: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philoso-
Durchlässigkeit hin zum Wesen, nämlich im Über- phie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988.
80 II Werk

Neymeyr, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität. auf den Ursprung einer als gegeben vorausgesetzten
Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont moralischen Handlung – sofern damit gesagt ist, dass
seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996. eine Handlung dann und nur dann als moralische gel-
Panofsky, Erwin: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der
älteren Kunsttheorie [1924]. Berlin 21960.
ten kann, wenn sie diesen Ursprung aufweist – eine
Pothast, Ulrich: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über notwendige und hinreichende Bedingung für die Mo-
Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch ralität der Handlung und somit ein Kriterium mora-
Samuel Beckett. Frankfurt a. M. 1982. lischen Handelns benannt. So ist für Schopenhauer
Schmidt, Alfred: Wesen, Ort und Funktion der Kunst in der Mitleid nicht nur der Entstehungsgrund moralischer
Philosophie Schopenhauers. In: Baum/Birnbacher 2005,
Handlungen, sondern auch Kriterium der Moralität.
11–55.
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik Es erstaunt daher nicht, dass Schopenhauers Ethik,
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010. seiner programmatisch verkündeten normativen Abs-
Wilhelm, Karl Werner: Zwischen Allwissenheitslehre und tinenz zum Trotz, von häufig hochgradig emotional
Verzweiflung. Der Ort der Religion in der Philosophie Scho- gefärbten moralischen Stellungnahmen wertender
penhauers. Hildesheim 1994. oder normativer Art durchzogen ist: Da der von der
Brigitte Scheer Ethik zu erklärende und zu deutende Phänomen-
bereich sich nicht anders als mittels inhaltlicher mora-
lischer Aussagen erfassen lässt, ist – und hierüber soll-
te die Bezeichnung der Schopenhauerschen Ethik als
6.6 Ethik deskriptiv nicht hinwegtäuschen – eine Beschreibung
der Erfahrungswelt für Schopenhauer notwendig
Schopenhauers Ethikverständnis
auch expressiv, d. h. Ausdruck moralischer Wertun-
In genauer Entsprechung zu dem für die Willensmeta- gen und normativer Überzeugungen.
physik grundlegenden Ansatz einer hermeneutischen
– also die Erfahrungswelt als Text deutenden und sie
Freiheit und Notwendigkeit
erklärenden – Metaphysik charakterisiert Schopen-
hauer auch sein Vorgehen im Bereich der Ethik als Eine vorherrschende moralische Intuition besagt, dass
deutend und erklärend (vgl. W I, 321): Aufgabe der moralische Verantwortlichkeit Freiheit voraussetzt.
Ethik ist es demnach nicht, moralische Sollensforde- Daraus ergibt sich als eine zentrale Frage einer jeden
rungen zu formulieren, sondern vielmehr, das als gege- Ethik diejenige, ob der Mensch frei ist oder seine
ben vorausgesetzte Phänomen der Moral zu rekon- Handlungen determiniert sind. Schopenhauer beant-
struieren und zu systematisieren, es durch Rückfüh- wortet diese Frage in Die Welt als Wille und Vorstel-
rung auf seine Ursprünge moralpsychologisch zu er- lung, ausführlicher dann in der »Preisschrift über die
klären und im Kontext der Willensmetaphysik auf Freiheit des Willens« (s. Kap. 8.1), im Sinne einer Ver-
seine metaphysische Bedeutung hin zu befragen. Scho- einbarkeitstheorie, behauptet also die Möglichkeit des
penhauers Ethik wird daher häufig als eine deskriptive Zusammenbestehens von Freiheit und Notwendig-
Ethik eingestuft (vgl. z. B. Malter 1991, 393) und als sol- keit. Anders als Hume, der in seiner klassischen Vari-
che sowohl von der deontologischen Ethik Kants als ante des Kompatibilismus zu zeigen versucht, dass die
auch von konsequentialistischen, insbesondere utilita- Notwendigkeit der Willensakte mit Handlungsfrei-
ristischen Ethiken als den beiden wichtigsten Theorie- heit, also der Abwesenheit von Zwängen, kompatibel
strängen der normativen Ethik abgegrenzt. ist (vgl. Hume 1984, Abschn. VII und VIII), lokalisiert
Auch für eine Ethik, die ihre Aufgabe in der Deu- Schopenhauer jedoch Freiheit und Notwendigkeit auf
tung und Erklärung des Moralphänomens sieht, ist je- verschiedenen Ebenen: Der metaphysische Wille ist,
doch die Frage nach den Kriterien moralischen Han- als außerhalb von Raum und Zeit stehend und dem
delns, die gemeinhin der normativen Ethik zugeord- Satz vom Grunde nicht unterworfen, frei; der in den
net wird, unabweisbar. Zum einen nämlich gilt, dass, Erscheinungen objektivierte Wille hingegen befindet
wenn das Phänomen der Moral als gegeben voraus- sich in Kausalrelationen und ist determiniert. Jede
gesetzt werden soll, moralische Handlungen zunächst menschliche Handlung findet mit naturgesetzlicher
einmal spezifiziert und von nicht-moralischen abge- Notwendigkeit statt.
grenzt werden müssen; das aber erfordert eine Aus- Als handlungsdeterminierende Faktoren setzt
sage darüber, ›was das Moralische ist‹, die als solche Schopenhauer dabei die auf den Menschen einwir-
nicht wertfrei ist. Zum anderen ist mit dem Hinweis kenden Motive und seinen Charakter an, aus deren
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 81

Zusammentreffen die Handlung »ganz nothwendig und infolgedessen Verantwortungszuschreibungen


hervorgeht« (W I, 340). Unter »Motiven« versteht ›instrumentalistisch‹, also als soziale Regulations-
Schopenhauer also nicht – wie in der jüngeren Hand- mechanismen auffassen, hält Schopenhauer damit am
lungstheorie üblich – Erklärungsmuster für Handlun- stärkeren Verständnis menschlicher Verantwortlich-
gen, sondern Gegenstände, die als (anschauliche oder keit fest: Diese liegt nur vor, wenn Handlungen Per-
abstrakte) Vorstellungen gegeben sind. In Bezug auf sonen als ihre eigenen und freien Handlungen zu-
den Charakterbegriff unterscheidet er, an Kant an- geschrieben werden können. Um diese Verantwort-
knüpfend, zwischen dem empirischen und dem intel- lichkeit im intelligiblen Charakter verankern zu kön-
ligiblen Charakter. Der empirische Charakter ist der- nen, muss dieser als – vorpersonal – gewählt aufgefasst
jenige, der sich uns durch Erfahrung enthüllt; der in- werden (vgl. E, 96). Die Schwierigkeit dieser Kon-
telligible Charakter hingegen, dessen determinierte struktion besteht – abgesehen von ihrer Bindung an
Erscheinung der empirische ist, wird als Ausdruck des kontroverse willensmetaphysische Prämissen – darin,
metaphysischen Willens, also eines »außerzeitliche[n] dass unklar ist, wer als Subjekt dieses Wahlaktes nam-
Willensaktes« (W I, 355) aufgefasst; er legt fest, »was haft gemacht werden kann. Offensichtlich kann es sich
der Mensch eigentlich und überhaupt will« (W I, 347). dabei nicht um das empirische Subjekt handeln. Ver-
Während in der aristotelischen, in jüngerer Zeit z. B. mutlich wird man, analog zur Figur der ›Wendung des
von Ryle (vgl. Ryle 1969) fortgeführten Tradition der Willens gegen sich selbst‹ bei der Willensverneinung,
Charakterbegriff als bloße Abstraktion aus Hand- diese vorpersonale Wahl als eine Art Selbstobjektivie-
lungsbeschreibungen interpretiert und angenommen rung des metaphysischen Willens auffassen müssen
wird, dass Charaktereigenschaften vollständig von (s. Kap. 8.1) – womit dann aber personale Verantwort-
Handlungen abhängen (»esse sequitur operari«), fasst lichkeit gerade nicht begründet wäre.
Schopenhauer den intelligiblen Charakter als hand- Für die Determiniertheit des Willens im Bereich
lungsvorgelagert auf: Was der Mensch tut, lässt sich der Erscheinungen, also der willentlichen mensch-
aus dem erklären, was er ist (»operari sequitur esse«). lichen Handlungen, führt Schopenhauer im Haupt-
Anders als der empirische und der intelligible Charak- werk drei Argumente an:
ter ist die dritte von Schopenhauer angesetzte Form
des Charakters, der erworbene Charakter, keine 1) Der Wille im Bereich der Erscheinungen steht not-
Handlungsdisposition und erklärt keine Handlungen; wendig in Kausalrelationen. »Verursacht sein« und
es handelt sich vielmehr um die Kenntnis des eigenen »notwendig sein« aber sind nach Schopenhauer
empirischen Charakters: Wer einen erworbenen Cha- »durchaus identisch« und »Wechselbegriffe« (W I,
rakter hat, ein ›Mensch von Charakter‹ ist, ›weiß, was 338); daher sei alles, was verursacht ist, auch notwen-
er will‹, ist sich über seine Neigungen, Stärken und dig. Diese Gleichsetzung von »verursacht sein« und
Schwächen bewusst und wird sich entsprechend zu »notwendig sein« ist keinesfalls selbstverständlich;
verhalten wissen. gerade in der jüngeren Diskussion zur Willensfreiheit
Warum schreibt Schopenhauer dem Menschen ei- wird zunehmend die Möglichkeit erwogen, dass es
nen intelligiblen Charakter zu? Der Grund hierfür nicht-determinierende Handlungsursachen geben
wird im Hauptwerk nur angedeutet, in der »Preis- könnte (vgl. hierzu Keil 2007, 39–42); insbesonde-
schrift« (E, 93 f.) hingegen ausführlich erläutert: Er re Handlungsgründe scheinen Kandidaten hierfür
liegt im Bewusstsein der Verantwortlichkeit für eigene zu sein.
Taten, welches voraussetzt, dass wir »jede einzelne
That [der Person] dem freien Willen zuschreiben« 2) Den »Schein einer empirischen Freiheit des Wil-
(W I, 340) können. Der intelligible Charakter ver- lens« (W I, 342) erklärt Schopenhauer damit, dass uns
bürgt diese Möglichkeit: Er ist frei, weil der Wille als unser Charakter als determinierender Faktor unseres
Ding an sich, dessen Ausdruck der intelligible Cha- Handelns entweder gar nicht oder erst nach der Hand-
rakter ist, frei ist. Für Schopenhauer ist also das lung epistemisch zugänglich ist. Der intelligible Cha-
Sprachspiel der Verantwortlichkeit an Freiheitsunter- rakter tritt, weil er der in einem Individuum erschei-
stellungen gebunden: Soll jenes aufrechterhalten wer- nende Wille als Ding an sich ist, überhaupt nicht in
den, muss auch an diesen festgehalten werden. Anders den Erkenntnisbereich des Intellekts (W I, 342 f.). Der
als in den auf Hume zurückgehenden kompatibilisti- empirische Charakter andererseits ist uns erst a poste-
schen Theorien, die fast durchweg für eine Entkoppe- riori, d. h. nach unseren Entscheidungen, epistemisch
lung von Verantwortlichkeit und Freiheit plädieren zugänglich. So könnten wir im Januar darüber nach-
82 II Werk

denken, ob wir uns im Juli für eine Urlaubsreise in die Charakter für angeboren und unveränderlich: Velle
Berge oder für eine Großstadtreise entscheiden wer- non discitur. Scheinbare Änderungen des Charakters
den. Wie wir uns im Juli tatsächlich entscheiden wer- werden von ihm auf Änderungen der Motive zurück-
den, hängt von unserem intelligiblen Charakter ab, geführt, die durch das Medium der Erkenntnis auf
der uns aber grundsätzlich nicht zugänglich ist. Unse- den Menschen einwirken: Nicht das Wollen ändert
ren empirischen Charakter werden wir erst nach der sich, sondern, bedingt durch die Einwirkung anderer
Entscheidung im Juli kennen, da wir erst an unseren Motive, das Handeln. So könnte jemand einen Mord
Taten erkennen, was wir wollen. Weil uns also zum begehen wollen, sich aber hiervon durch den Gedan-
früheren Zeitpunkt weder intelligibler noch empiri- ken abhalten lassen, dass ihm eine empfindliche Strafe
scher Charakter zugänglich sind, werden wir uns, so droht. Die Tatsache, dass er unter dem Eindruck sei-
Schopenhauer, zu diesem Zeitpunkt (fälschlich) für ner möglichen Bestrafung von seinem Plan Abstand
frei halten. Damit ist sicherlich kein zwingendes Ar- nimmt, ließe nach Schopenhauer nicht den Schluss
gument für den Determinismus formuliert, aber ei- darauf zu, dass er diesen nicht mehr ausführen will,
nes, dass geeignet ist, ein allzu naives Vertrauen in un- sondern nur darauf, dass sein Handeln sich unter dem
sere vorphilosophische Unterstellung menschlicher Eindruck des neuen Motivs (der vorgestellten Strafe)
Willensfreiheit zu untergraben: Es könnte sein, dass geändert hat. Da beim Menschen – anders als beim
die determinierenden Faktoren unseres Handelns uns Tier, auf das nur anschauliche Vorstellungen als Moti-
aus prinzipiellen Gründen epistemisch nicht zugäng- ve wirken können – auch abstrakte Vorstellungen als
lich sind. Motive wirken können, ist sein Handeln ungleich
komplexer und schwerer berechenbar als das des Tie-
3) Angedeutet wird auch ein drittes, für die sprach- res; dies ändert nichts daran, dass »was der Mensch ei-
analytische Debatte um Willensfreiheit im 20. Jahr- gentlich und überhaupt will« (W I, 347) konstant
hundert zentrales Argument (vgl. W I, 343; ausführ- bleibt. Schopenhauers Festhalten an der These von der
licher E, 41–44): Selbst wenn die Überzeugung, dass Unveränderlichkeit des Charakters führt jedoch auch
wir anders hätten handeln können – auf die wir uns im zu einigen Forcierungen, wie insbesondere seine
Alltagsverständnis zu berufen pflegen, um Willens- kaum überzeugende Erklärung des Phänomens der
freiheit zu begründen – wahr ist, heißt das nicht, dass Reue zeigt: Während wir Reue im Allgemeinen gerade
wir frei gehandelt hätten, denn es könnte sein, dass das als Indikator für eine Veränderung des Wollens auf-
›Können‹ in dem Satz »Ich hätte anders handeln kön- fassen – der reuige Täter ist jemand, der jetzt etwas
nen« ›falls-gebunden‹ ist, d. h. dass dieser Satz aus- fundamental anderes will als der Täter und der ent-
zubuchstabieren ist als »Ich hätte anders handeln kön- sprechend andere Handlungsdispositionen hat als die
nen, falls X der Fall gewesen wäre«, und die im Kon- frühere Person –, bestimmt Schopenhauer sie als Ein-
ditionalsatz genannten Bedingungen können ihrer- sicht darin, dass ich »etwas Anderes that, als meinem
seits determiniert sein. Schopenhauer plädiert, eine Willen gemäß war« (W I, 349). Damit werden be-
spätere Debatte zwischen G. E. Moore und Austin stimmte Formen des Bedauerns darüber, dass man ei-
(vgl. hierzu Pothast 1978, 137–200) andeutungsweise gentlich Gewolltes nicht getan hat, erfasst, aber das
antizipierend, für eine konditionale Analyse von Phänomen der Reue wird verfehlt, da der Reuige er-
›Können‹, um zu zeigen, dass die auf die Wahrheit des kennt, dass das, was er einst getan hat, seinem frühe-
Satzes »Ich hätte anders handeln können« insistieren- ren Willen durchaus gemäß war, sich aber jetzt von
de Auffassung des Alltagsverstandes nicht ausrei- diesem distanziert.
chend ist, um Freiheit zu beweisen; sie lässt außer So eindeutig deterministisch die Argumentation
Acht, dass diese Aussage wahr sein, aber das ›Können‹ Schopenhauers in Bezug auf menschliche Handlun-
selbst durch Faktoren, die ihrerseits determiniert sind, gen auch ist, scheint er doch an mindestens zwei Stel-
restringiert sein könnte. len diesen Determinismus einzuschränken. Zum ei-
nen billigt er dem Menschen, der im Gegensatz zum
Wenn der Charakter gemäß dem Prinzip operari se- Tiere auch von abstrakten Vorstellungen als Motiven
quitur esse Handlungen gesetzesmäßig erklären soll, geleitet werden kann, eine Wahlentscheidung zwi-
kann er nicht in Abhängigkeit von Handlungen variie- schen den Motiven zu. Allerdings ist der Stellenwert
ren, sondern muss konstant sein (vgl. Koßler 2002, dieser »Wahlentscheidung« unklar. Wenn es sich um
93). Schopenhauer, dessen Charakterlehre eine aus- eine genuine Wahl, also eine Vorzugsentscheidung
geprägt nativistische Tendenz hat, erklärt daher den zwischen mindestens zwei Alternativen, handeln soll,
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 83

wird damit ein Freiheitsspielraum zugestanden, der mus – notwendig eintretenden Handlung führen. Die
mit einem Determinismus schwer in Einklang zu Determination unserer Handlungen ändert also
bringen ist. Es fragt sich dann, ob diese Wahl nicht – nichts daran, dass wir uns notwendig für frei halten
im Rahmen des Determinismus konsequent – ihrer- müssen, weil wir uns entscheiden müssen, eben diese
seits als determiniert zu gelten hat, so dass der Ein- Handlungen herbeizuführen.
druck, dass wir zwischen verschiedenen Motiven
wählen könnten, als ebenso illusionär einzustufen ist
Philosophischer Pessimismus
wie derjenige der Willensfreiheit. Wenn andererseits
kein Freiheitsspielraum zugestanden werden soll, son- Dem Etikett ›philosophischer Pessimismus‹ verdankt
dern der Mensch lediglich »Kampfplatz des Konflikts Schopenhauers Philosophie einen Großteil ihrer Po-
der Motive ist« (W I, 355), »davon das stärkere ihn pularität. Schopenhauers Pessimismus formuliert eine
dann mit Nothwendigkeit bestimmt« (W I, 351), Antwort auf die Frage nach dem Wert des Lebens (vgl.
scheint der Ausdruck »Wahlentscheidung« zur Be- Janaway 1999a, 318). Er besagt im Kern, dass das Le-
zeichnung dieses Motivkonflikts irreführend. Mögli- ben »etwas ist, das besser nicht wäre« (W II, 662), und
cherweise lässt sich Schopenhauers Hinweis auf die dass das Nichtsein dem Dasein vorzuziehen ist (W II,
Möglichkeit einer Wahlentscheidung wie folgt verste- 661). Zur Begründung dieser Ansicht, die auch in der
hen: Spezifikum des Menschen ist, dass er durch Ur- jüngeren philosophischen Diskussion Anhänger fin-
sachen einer bestimmten Art, nämlich durch »Grün- det (vgl. z. B. Benatar 2006), werden im Wesentlichen
de« (W I, 351), die er als besser oder schlechter, mehr die folgenden Behauptungen angeführt:
oder weniger überzeugend einstufen kann, bestimmt
werden kann, und dies rechtfertigt es, ihm die Mög- (1) Alles Leben ist Leiden.
lichkeit einer »Wahlentscheidung« zuzusprechen. Um (2) Individuelles Glück ist unmöglich.
von einer (eingeschränkten) Freiheit im Bereich (3) Die Nutzenbilanz eines jeden Lebens ist negativ.
menschlichen Handelns sprechen zu können, wäre (4) Angesichts der bloßen Existenz von Übel und
demnach weder Akausalität noch eine spezifische Ak- Leiden ist das Dasein abzulehnen.
teurskausalität erforderlich, sondern lediglich, dass
bestimmte Kausalfaktoren – eben Gründe – eine Die erste These wird aus der schon im zweiten Buch
Handlung determinieren (vgl. hierzu auch E, 33–36). des Hauptwerks fixierten Bedeutung der Ausdrücke
Noch in anderer Hinsicht schränkt Schopenhauer »Wille« und »Leiden« abgeleitet. Der Anwendungs-
einen strengen Determinismus ein. Er streitet ab, dass bereich des Ausdrucks »Wille« war mit dem Analo-
die Unveränderlichkeit des Charakters es überflüssig gieschluss in § 19 über den Bereich der mit Bewusst-
mache, sich um dessen Besserung zu bemühen: Man sein ausgestatteten und zu intentionalen Akten be-
müsse sich um die Besserung des eigenen Charakters fähigten Wesen hinaus auf die gesamte Vorstellungs-
bemühen, weil die Tatsache, dass man dies tue, eben welt ausgedehnt worden, so dass »die Welt« – nicht
Teil der Ursachen dafür sei, dass die Handlung als Pro- nur die bewusstseinsfähigen Wesen in ihr – als Wille
dukt von Motiv und Charakter dann notwendig statt- aufgefasst werden konnte. Gilt aber die Welt als Wille
finde. Da wir unseren Charakter erst a posteriori, aus und gilt weiterhin, wie Schopenhauer definitorisch
unseren Handlungen, erkennen, können wir ihm festsetzt, jede »Hemmung des Willens durch ein Hin-
auch nicht »vorgreifen«, sondern müssen genau das dernis, welches sich zwischen ihn und sein einstwei-
tun, was wir später als Teil einer notwendig zur Hand- liges Ziel stellt« (W I, 365), als Leiden, so ist auch Lei-
lung führenden Ursachenkette erkennen werden. In den nicht notwendig empfundenes Leiden. Schopen-
diesen Ausführungen kann man ein Argument ange- hauers Ethik ist eine Leidensethik in dem Sinne, dass
deutet sehen, das im 20. Jahrhundert von Vertretern sie die Welt als Leidensgeschehen auffasst. Ebenso wie
des epistemischen Indeterminismus formuliert wird die Welt auch dort Wille ist, wo keinerlei Intentionali-
(vgl. bes. MacKay 1978): Wenn, wie der Determinis- tät oder Bewusstsein vorliegt, ist das Dasein auch dort
mus behauptet, unsere Handlungen determiniert Leiden, wo dieses nicht als solches empfunden wird.
sind, ändert dies nichts daran, dass diese Handlungen Allerdings bedeutet dies – worüber Schopenhauers
von unseren Entscheidungen abhängen und wir diese suggestive Verwendung des Leidensbegriffs leicht
nicht an eine Schicksalsmacht »delegieren« können. hinwegtäuscht –, dass die Frage, wieso dieses Leidens-
Die Entscheidungen sind Teil der Kausalkette, die geschehen nicht sein soll, als eine offene, d. h. nicht-
dann zu der – unter Voraussetzung des Determinis- triviale und nicht bereits durch die Bedeutung des
84 II Werk

Ausdrucks ›Leiden‹ beantwortete Frage anzusehen ist. den kann, streitet Schopenhauer nicht ab (vgl. W I,
Aus der Annahme, dass alles Leben Leiden ist, folgt, 376). Damit provoziert er den Einwand, dass indivi-
setzt man Schopenhauers weiten Leidensbegriff vo- duelles Lebensglück statt von der Anzahl und Dauer
raus, weder, dass Leben nicht sein sollte, noch auch von Glücksmomenten von deren Intensität abhängen
nur, dass Leiden beseitigt oder gelindert werden sollte. und dass eine kurzzeitige Glücksempfindung derma-
Sie ist kompatibel mit einer trotzigen Lebens- und Lei- ßen intensiv sein könnte, dass das vorhergehende Lei-
densbejahung, etwa im Sinne von Nietzsches »Jasagen den durch sie kompensiert wird. Zweitens beruht
ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, Schopenhauers Analyse auf der Annahme, dass wir,
zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins wenn wir etwas erstreben, notwendig der intellektua-
selbst« (Geburt der Tragödie, § 2; KSA 6, 311). Ein phi- listischen Illusion anheimfallen würden, dass wir es
losophischer Pessimismus wird also durch (1) allein erstreben würden, weil es von unserem Wollen un-
nicht begründet. abhängige Werteigenschaften besitzt. Es ist aber nicht
Das Argument für These (2) entwickelt Schopen- ersichtlich, warum wir dieser Illusion anheimfallen
hauer konsequent aus seiner Anthropologie, ins- müssten. Häufig empfinden wir das Streben selbst als
besondere der Behauptung eines Primats des Wollens positiv und beglückend (vgl. Janaway 1999a, 333;
gegenüber dem Erkennen (vgl. W II, Kap. 19). Es lässt Birnbacher 2009, 106 f.; Soll 2012, 303; kritisch hierzu
sich wie folgt rekonstruieren: Da der Mensch ein pri- in Anknüpfung an Schopenhauer: Benatar 2006, 76–
mär wollendes, erst sekundär erkennendes Wesen ist, 81). Jemand kann z. B. illusionslos der Tatsache ins
liegt der Grund dafür, dass wir bestimmte Dinge an- Auge blicken, dass die Erreichung eines lang erstreb-
streben, nicht darin, dass wir zunächst erkennen wür- ten beruflichen Ziels ihm kein langandauerndes Glück
den, dass sie Werteigenschaften hätten, die ihnen un- bescheren wird, aber das Erstreben dieses Ziels und
abhängig von unserem Wollen zukämen; vielmehr gilt die Überwindung von Hindernissen auf dem Weg zu
umgekehrt, dass sie uns wertvoll erscheinen, weil wir seiner Erreichung als beglückend empfinden. Drittens
sie wollen, also ihren Besitz wünschen. Wenn aber ein nimmt Schopenhauer an, dass Güter und Vorteile –
begehrtes Objekt erlangt wird, entschwindet damit etwa Jugend, Gesundheit und Freiheit – uns, solange
auch das Begehren. Ein Wunsch, der erfüllt wird, hört sie präsent sind, nicht bewusst sind, sondern nur,
auf zu existieren, weil wir diesen Wunsch nur solange wenn wir ihrer ermangeln, d. h. wenn wir sie entweder
besitzen, wie er nicht erfüllt wird. Also entschwindet erstreben, also noch nicht besitzen, oder wenn wir sie
mit der Erfüllung eines Wunsches auch genau das, was verloren haben, also nicht mehr besitzen. Glück, so
das gewünschte Objekt wertvoll erscheinen ließ. Wo drückt es Schopenhauer aus, ist wesentlich negativ
wir erreichen, was wir erstrebten, verliert dieses Ob- (vgl. W I, 376). Gegenstand einer Glücksempfindung
jekt seinen Reiz, denn es erschien uns nur deswegen könne nur die Aufhebung eines Mangels sein, aber
wertvoll, weil wir es erstrebten, und nur solange, wie nicht das Gut selbst, dessen wir ermangeln. Das
wir es begehrten: »Das Ziel war nur scheinbar: der Be- stimmt jedoch nur eingeschränkt: Selbst wenn wir be-
sitz nimmt den Reiz weg« (WI, 370). Statt einer stimmte Güter, sofern wir sie besitzen, nicht aktual
Glücksempfindung kann daher nach der Erfüllung ei- wahrnehmen, können wir uns ihrer dennoch – zu-
nes Wunsches nur entweder ein neues Wollen ent- mindest dispositional – bewusst sein. Der Gesunde
stehen oder aber Langeweile eintreten; letztere be- nimmt zwar im Allgemeinen seine Gesundheit nicht
schreibt Schopenhauer eindringlich als einen Zu- in gleicher Weise wahr wie deren Einschränkung oder
stand, in dem die Dinge uns farblos und uninteressant Verlust, aber er kann sich des Besitzes dieses Gutes
erscheinen, eben weil wir sie nicht mehr erstreben. So durchaus in dem Sinne bewusst sein, dass ihn Stim-
ist das Leben des Menschen, das mit Glücksverspre- mungen wie Dankbarkeit oder Zufriedenheit mit der
chungen lockt, die es nicht einhalten kann, ein »Pen- eigenen Lebenssituation auch dann begleiten, wenn er
deln zwischen Schmerz und Langeweile« (W I, 368), das fragliche Gut nicht aktual wahrnimmt.
ein »fortgesetzter Betrug« (W II, 657). These (3) wird als »Bestätigung a posteriori« (W I,
Schopenhauers Leugnung von Glück ist mit min- 382) der in (2) aufgestellten Behauptung über die Un-
destens drei Problemen konfrontiert: Erstens zeigt er möglichkeit des Glücks aufgefasst. »Das Leben«, so
keinesfalls die Unmöglichkeit von Glück, sondern al- Schopenhauer, sei auch für den Einzelnen »ein Ge-
lenfalls die Unmöglichkeit andauernden Glücks (vgl. schäft, das nicht die Kosten deckt« (W II, 658), und
Soll 2012, 304–306). Dass die Erfüllung eines Begeh- wohl niemand würde am Ende seines Lebens aufrich-
rens zumindest kurzzeitig als Glück empfunden wer- tig wünschen können, es noch einmal durchzuma-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 85

chen (W I, 382). Dies ist eine empirische Behauptung, rische Verneinung der Optimismusthese zu einer
und sie ist, in dieser Allgemeinheit – auf jedes Leben konträren verschärft. Die Annahme, dass die Welt die
bezogen – formuliert, empirisch sehr unplausibel. Ih- schlechteste aller möglichen Welten sei, ist allerdings
re Begründung würde erfordern, die Selbstauskunft – wenngleich Schopenhauer sie durch kosmologische
zumindest einiger Individuen, die von ihrem Leben und biologische Erwägungen zu stützen versucht (vgl.
behaupten würden, dass es eine positive Nutzenbilanz W II, 669–671) – intuitiv ebenso wenig einleuchtend
aufweist, als irrig nachzuweisen. Zudem wird mit ihr wie diejenige, dass sie die beste aller möglichen sei, da
ausgeblendet, dass der Wert des Lebens sich an ande- zu jedem Weltzustand sowohl ein besserer als auch ein
ren Faktoren bemessen könnte als der individuellen schlechterer zumindest denkbar ist. Die Mahnung,
Nutzenbilanz. Auch ein Leben mit einer negativen das Leiden in der Welt ernstzunehmen, kann daher
Nutzenbilanz könnte insgesamt als positiv eingestuft schwerlich die Hauptthese des philosophischen Pessi-
werden, etwa weil in ihm von der Empfindung des mismus begründen, dass die Welt schlechthin nicht
Subjekts ganz unabhängige Werte – z. B. Erkenntnis sein sollte.
oder die Produktion eines Kunstwerks – realisiert
wurden. Schopenhauers Eudämonismus, d. h. die he-
Unvergänglichkeit
donistische Wertbasis seiner Ethik (vgl. Janaway
1999a, 334; Birnbacher 2009, 93), die erstmals von Die pessimistische Stoßrichtung der Ethik Schopen-
Nietzsche kritisiert wurde (vgl. Gemes/Janaway 2012, hauers wird nicht dadurch abgeschwächt, dass diese
290 f.), lässt ihn die Möglichkeit ignorieren, dass ein auch eine Lehre der »Unzerstörbarkeit unseres We-
Leben als Ganzes auch dann als glücklich eingestuft sens« durch den Tod beinhaltet. Deren Kernaussage
werden könnte, wenn in ihm die Momente subjekti- ist, dass der Tod nur dem Bereich der Erscheinungen
ven Unglücks diejenigen des Glücks überwiegen. zugehört, der Wille als Ding an sich hiervon jedoch
Die in (4) ausgedrückte Überzeugung, dass die unberührt bleibt. Zwar ist das Leben des Individuums
Welt angesichts der bloßen Existenz des Übels nicht als »stetes Sterben« auf den Tod als dessen Ziel- und
gerechtfertigt sei, richtet sich, mit polemischem Bezug Endpunkt bezogen (W I, 367). Der Tod des Individu-
vor allem auf Leibnizens Theodizee, gegen den Ver- ums steht jedoch in zeitlichen Relationen, ist also dem
such, vorhandenes Leiden als notwendig zur För- Bereich der Erscheinungen zugeordnet. Der Wille als
derung eines überindividuellen Gesamtglücks zu Ding an sich hingegen steht außerhalb von Zeit und
rechtfertigen. Solche leidensquantifizierenden Argu- Raum und ist insofern »ewig«. Er wird vom Tod nicht
mente lehnt Schopenhauer ab, denn »dass Tausende berührt: Unser Wesenskern, der metaphysische Wille,
in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die ist unvergänglich (vgl. hierzu z. B. Jacquette 1999,
Angst und Todesmarter eines Einzigen auf« (W II, 293–300).
661). Den Versuch, vorhandenes Leiden dadurch zu Aus zwei Gründen ist diese Unvergänglichkeitsthe-
relativieren, dass es als einem Gesamtglück zuträglich se mit keinerlei Trostfunktion verbunden. Zum einen
nachgewiesen wird, sieht er als kennzeichnend für geht mit ihr kein Gedanke an individuelle Seelen-
den philosophischen Optimismus an, den er eben unsterblichkeit einher, weshalb Schopenhauer den
deswegen als eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart« »prahlerischen Namen der Unsterblichkeit« (W II,
(W I, 385), als einen Zynismus gegenüber individuel- 551) zur Bezeichnung dieses Theoriebestandteils ab-
lem Leiden, brandmarkt. So verstanden, läuft These lehnt. Die Unvergänglichkeit des Willens als Ding an
(4) auf einen Appell hinaus, das vorhandene Leiden sich fällt für das Individuum mit der Fortdauer der
der Welt nüchtern und illusionslos zur Kenntnis zu Außenwelt zusammen, und aus der Einsicht hierin
nehmen (vgl. Birnbacher 2009, 92 f.). lässt sich keine Hoffnung auf individuelles Fortleben
Allerdings ist damit nicht gezeigt, dass die Welt gewinnen. Sie bietet auch keinen Trost für den Ego-
grundsätzlich nicht sein sollte, sondern allenfalls, dass ismus des Individuums, da sie nichts daran ändert,
sie so, wie sie ist – angesichts des in ihr vorhandenen dass die Erfüllung individueller Interessen und Wün-
Leidens –, nicht sein sollte. Es kennzeichnet Schopen- sche mit dem Tod des Individuums unterbunden wird
hauers Neigung zu rhetorischer Überspitzung, dass er (vgl. W I, 333). Zudem bietet Schopenhauers Unver-
von der Verneinung der Leibnizschen These, die Welt gänglichkeitslehre keinen Ansatzpunkt dafür, gerade
sei die beste aller möglichen Welten, recht umstands- in der Auflösung der Individualität durch den Tod
los zu derjenigen übergeht, dass sie die schlechteste al- und dem Überdauern des überindividuellen Wesens-
ler möglichen Welten sei, und damit die kontradikto- kerns, des Willens als Ding an sich, einen Trost zu er-
86 II Werk

blicken. Da der Wille als Ding an sich bei Schopen- nach die Tendenz, sein Wollen auf Kosten des Wohl-
hauer als ziel- und zweckloses Streben negativ kon- ergehens der anderen durchzusetzen und in deren
notiert und als Urgrund des Leidensgeschehens gera- Willensbestrebungen einzugreifen. Grundlage dieser
de zu verneinen ist, ist sein Überdauern frei von jeder sozialanthropologischen Annahme ist die erkenntnis-
Heilsversprechung. Das Fortbestehen des Wesens- theoretische These, dass dem Individuum die anderen
kerns des Menschen angesichts seines individuellen Individuen im Normalfall nur Erscheinungen, Objek-
Untergangs enthält daher nichts Hoffnungsvolles. te unter anderen Objekten sind und deren Wohlerge-
hen und Leiden daher für das eigene Handeln stets ge-
ringere Bedeutung haben als das eigene. Nur in dem
Bejahung des Willens und Staatsphilosophie
Ausmaß, in dem das Individuationsprinzip durch-
Die Ausdrücke »Bejahung des Willens zum Leben« schaut wird und die anderen Individuen nicht mehr
und »Verneinung des Willens zum Leben« werden nur als Erscheinungen, sondern als ›Ich noch einmal‹
von Schopenhauer in einem sehr eigenwilligen Sinne wahrgenommen werden, kann der Egoismus über-
verwendet. Während man intuitiv dazu neigt, den da- wunden werden.
mit bezeichneten Gegensatz als konträren aufzufassen Die These, dass der Mensch von Natur aus ein ego-
– also einen Zwischenbereich anzusetzen, in dem man istisches, auf die Förderung des eigenen Wohls auch
dem Willen zum Leben weder bejahend noch vernei- auf Kosten des Wohls der anderen bedachtes Wesen
nend, sondern z. B. in der Haltung der Indifferenz ist, erinnert an die pessimistische Sozialanthropolo-
oder der Ironie gegenübertreten kann –, wird er bei gie, die Hobbes – auf den sich Schopenhauer in die-
Schopenhauer als kontradiktorischer verstanden, so sem Zusammenhang zustimmend beruft (W I, 393,
dass gilt, dass wir den Willen zum Leben notwendig 408) – seiner Staatsphilosophie zugrunde legt. Auch
entweder bejahen oder verneinen: tertium non datur. die im § 62 dargestellte Staats- und Rechtsphilosophie
Diese strikte Dichotomisierung ergibt sich aus den Schopenhauers bewegt sich weitgehend in den Spuren
willensmetaphysischen Prämissen der Schopenhauer- der von Hobbes entwickelten kontraktualistischen
schen Ethik, da es auch hier zu Wollen oder Nicht- Theorie, wenngleich die Rechtfertigungsfigur des Ver-
Wollen keine Alternative gibt. Zudem versteht man trags bei Schopenhauer nicht die gleiche zentrale Rol-
unter »Bejahung« im Allgemeinen eine – mehr oder le spielt wie im klassischen Kontraktualismus. Das
minder reflektierte – Einstellung oder Haltung zu Grundanliegen des Kontraktualismus ist es nach-
dem, was bejaht wird. Schopenhauer hingegen fasst zuweisen, dass die Einrichtung eines Staates und sei-
Willensbejahung, wenngleich er sie gelegentlich auch ner Institutionen im aufgeklärten Eigeninteresse des
als »Haltung« bezeichnet, im Allgemeinen und primär Individuums liegt. Dieser Idee folgt Schopenhauer:
gerade nicht als Haltung, geschweige denn als eine re- Ihm zufolge liegt die Aufgabe des positiven Rechts
flektierte Haltung zum Wollen auf, sondern identifi- nicht etwa darin, den Egoismus der Menschen zu
ziert sie mit dem Wollen: »Die Bejahung des Willens überwinden – was eine illusionäre Zielvorgabe wäre –,
ist das von keiner Erkenntniß gestörte beständige sondern darin, das wohlverstandene Eigeninteresse
Wollen selbst« (W I, 385). Unmittelbarer Ausdruck des Individuums zu schützen, indem es die negativen
der Willensbejahung ist nicht etwa ein positiv werten- Folgen eines unbegrenzten Egoismus unterbindet.
des Urteil über das Wollen, sondern das Wollen selbst, Bliebe der individuelle Egoismus ungezügelt, müssten
wie es sich für Schopenhauer am deutlichsten im Ge- Individuen, ähnlich wie es im Hobbesschen Ur-
schlechtstrieb kundtut, dessen eingehender Erörte- zustand des bellum omnium contra omnes der Fall ist,
rung er das berühmte Kapitel »Metaphysik der Ge- stets mit Übergriffen anderer Individuen in ihre Wil-
schlechtsliebe« im zweiten Band der Welt als Wille und lensbestrebungen rechnen. Das egoistische Interesse
Vorstellung widmet. der Individuen daran, dass solche Übergriffe vermie-
Der Mensch ist, so die grundlegende These Scho- den werden, kann am effektivsten geschützt werden,
penhauers, als Objektivation des Willens ein durch wenn jeder bereit ist, sich selbst Restriktionen bei der
und durch wollendes, also (normalerweise) den Wil- Verfolgung eigener Willensbestrebungen aufzuerle-
len zum Leben bejahendes Wesen. Darüber hinaus gen, und dafür der Etablierung einer mit Sanktions-
vertritt er die weitergehende Ansicht, dass die Beja- macht ausgestatteten Gewalt, des Staates und seiner
hung des Willens beim Menschen normalerweise, Institutionen, zustimmt, die sicherstellt, dass auch an-
d. h. sofern er im Individuationsprinzip verharrt, die dere sich diesen Restriktionen zu unterwerfen haben.
Form des Egoismus annimmt. Der Mensch hat dem- Positives Recht hat es also – anders als Recht und Un-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 87

recht als moralische Kategorien – nicht mit den Ge- Willensgeschehens in den Blick. Unter der Perspektive
sinnungen der Menschen, sondern ausschließlich mit eines Willensmonismus muss das gesamte Leidens-
den Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere zu geschehen als Ausprägung dieses einen metaphysi-
tun. Der Staat hat nicht zur Moral zu erziehen, son- schen Prinzips, des Willens, gesehen werden. Meta-
dern als ›Nachtwächterstaat‹ die vitalen Interessen des physisch betrachtet besteht daher zwischen dem Lei-
Einzelnen zu schützen. Er ist ein Instrument des auf- den Zufügenden und dem es Erleidenden kein Unter-
geklärten Egoismus. schied: »Der Quäler und der Gequälte sind Eines«
Auch die Rechtfertigung einzelner staatlicher Insti- (W I, 419). Jede Zufügung von Leiden ist demnach ein
tutionen orientiert sich bei Schopenhauer an der Idee Zeichen dessen, dass der Wille »die Zähne in sein ei-
des Schutzes individueller Interessen vor den Über- genes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur
griffen anderer. Die staatliche Institution des Strafens sich selbst verletzt« (W I, 418). Es herrscht metaphysi-
rechtfertigt er – in Abgrenzung zur Vergeltungstheorie sche Gerechtigkeit, so dass aus dieser Perspektive über
der Strafe, welche die Strafe als eine angemessene Re- das Geschehen »von keiner Seite weiter eine Klage zu
aktion auf ein bereits geschehenes Übel legitimiert – erheben ist« (W I, 390).
durch eine Theorie der negativen Generalprävention Irritierend ist die Lehre von der ewigen Gerechtig-
(vgl. hierzu Hoerster 1972). Ihr zufolge liegt die Recht- keit, weil sie die Annahme nahelegt, Schopenhauer
fertigung der Strafe in dem Ausmaß, in dem sie durch wolle jegliches Leiden als selbstverschuldet und vom
Abschreckung (›negativ‹) zukünftige Straftaten nicht Leidenden verdient kennzeichnen (vgl. Hauskeller
nur des bestraften Täters, sondern jedes potentiellen 1998, 69–82). Dieser Eindruck täuscht jedoch. Für
zukünftigen Täters (›generell‹) zu verhindern oder un- den Bereich der Erscheinungen, in dem der Unter-
wahrscheinlich zu machen geeignet ist. Die Leidens- schied zwischen dem Leiden Zufügenden und dem es
zufügung durch die Strafe wird dabei als ein in Kauf zu Erleidenden gewahrt bleibt, und die in diesem Bereich
nehmendes Übel angesehen, das notwendig ist, um das stattfindenden Zuschreibungen von Schuld und Ver-
Interesse der Bürger daran, in Zukunft keine Opfer von dienst hat die These von der metaphysischen Gerech-
Straftaten zu werden, bestmöglich zu schützen. Scho- tigkeit keine Konsequenzen und ist nicht schuldent-
penhauer geht so weit zu sagen, dass, »wo möglich, das lastend. Nur aus der Perspektive dessen, der das Indi-
scheinbare Leiden [der Strafe] das wirkliche überwie- viduationsprinzip durchschaut, der sich also nicht
gen sollte« (W II, 686), so dass, wenn eine fingierte mehr auf den Bereich der Erscheinungen und Indivi-
Strafvollstreckung den gewünschten Abschreckungs- duationen des Willens bezieht, wird das Leidens-
effekt zeitigt, auf deren faktische Vollstreckung ver- geschehen sich als eines enthüllen, in dem zwischen
zichtet werden kann. Im Hintergrund dieser Straftheo- Quäler und Gequältem nicht mehr unterschieden
rie steht Schopenhauers Willensdeterminismus: Wenn werden kann und in dem daher keinerlei Anhalts-
der Charakter eines Menschen, seine Disposition, auf punkte dafür bestehen, individuelle Schuld zu-
Motive auf eine bestimmte Weise zu reagieren, und zuschreiben. Zudem sollte ›Gerechtigkeit‹ im Kontext
sein charakterbedingtes Wollen unveränderlich sind, der Lehre von der ewigen Gerechtigkeit eher als ein
kann eine Strafe niemals im strengen Sinne als verdient quasi-ästhetischer denn als ein normativer Ausdruck
gelten, weil der Straftäter ja nicht anders konnte, als die aufgefasst werden. Er hat keinerlei präskriptive Impli-
Straftat zu begehen. Darum kann die Strafe nicht ei- kationen, besagt also nicht, dass das in dieser Weise als
gentlich auf die Person, die ja zu ihrem Handeln deter- gerecht Bezeichnete sein soll. Vielmehr akzentuiert
miniert war, sondern nur auf deren beobachtbare Ta- der Ausdruck hier das sich in metaphysischer Hin-
ten gerichtet und der Täter »bloß der Stoff [sein], an sicht einstellende Gleichgewicht zwischen zugefüg-
dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, wel- tem und erlittenem Leiden. Die Affinität zur Ästhetik
chem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzuschre- wird auch dadurch unterstrichen, dass die Erkenntnis
cken bleibe« (W II, 685). ewiger Gerechtigkeit mit der Schau der Ideen gleich-
gesetzt, also mit ästhetischer Kontemplation analogi-
siert wird (vgl. W I, 418).
Ewige Gerechtigkeit
Die Lehre von der ewigen Gerechtigkeit verweist
Während der Staat für die zeitliche Gerechtigkeit zu- auf ein wesentliches Element der Lehre von der Wil-
ständig ist, betrifft die Lehre von der ›ewigen Gerech- lensverneinung: Indem sie das Leidensgeschehen
tigkeit‹ die Betrachtung des Leidens sub specie aeterni- über Individuengrenzen hinweg als Ausprägung eines
tatis. In ihr kommt das Leiden als Ausprägung eines metaphysischen Willens in den Blick nimmt, macht
88 II Werk

sie deutlich, dass eine Überwindung dieses Leidens Erkenntnisbegriff bei Schopenhauer auf problemati-
nur durch eine Verneinung des Willens als Ganzem sche Weise unterbestimmt; es lässt sich hierüber je-
möglich ist (vgl. Malter 1991, 375). Sie verweist auf die doch immerhin so viel sagen: (1) Die dem tugendhaf-
Beschränktheit der Rolle der zeitlichen Gerechtigkeit ten Handeln zugrunde liegende Erkenntnis ist intuitiv.
bei der Überwindung des Leidens: Wer das Leidens- Das bedeutet nicht, dass zu ihrer Erklärung ein beson-
geschehen durchbrechen will, kann dies angesichts deres Erkenntnisvermögen der Intuition in Anspruch
der metaphysischen Identität von Quäler und Gequäl- genommen werden müsste, sondern zum einen, dass
tem nicht durch die Verneinung des Individualwillens es sich um eine anschauliche, d. h. nicht abstrakt-dis-
des Täters tun, sondern nur durch die Verneinung des kursive Erkenntnis, zum anderen, dass es sich um eine
metaphysischen Willens selbst. nicht-inferentielle, also nicht aus anderen Erkenntnis-
sen abgeleitete und insofern »unmittelbare« Erkennt-
nis handelt. (2) Schopenhauer glaubt, mit dem Hin-
Schopenhauers Tugendlehre
weis auf Mitleid – anders als Kant, der eben dies ver-
Ein wesentlicher Bestandteil der Ethik Schopenhauers säumt habe – eine Motivationsquelle der Moral nach-
ist seine Tugendlehre, in deren Zentrum die Fragen gewiesen zu haben. Die Erkenntnis, auf der Mitleid
nach dem Ursprung moralischen Handelns und den als »kognitives Gefühl« (Hauskeller 1998, 46) basiert,
Kriterien der Moralität stehen. Sie ist aufs engste mit muss daher selbst als handlungsmotivierend gedacht
seiner Metaphysik verknüpft, denn der moralische werden. Sie kann nicht ein rein propositionales Wis-
Wert einer Handlung wird nach dem Ausmaß bemes- sen, dass jemand anders leidet, sein (da dieses nicht
sen, in dem der Handelnde zur Durchschauung des handlungsmotivierend wäre), sondern muss eo ipso
Individuationsprinzips gelangt und die metaphysi- mit einer Handlungstendenz in Form des Bestrebens,
sche Einheit aller Wesen als Willensobjektivationen Leiden zu minimieren, verbunden sein. Eine genauere
zu erkennen vermag. Der »böse Wille« ist, nebst sei- Explikation des Erkenntnisbegriffes hätte zu erläu-
ner Heftigkeit, durch seine Befangenheit im Indivi- tern, wie dies möglich ist.
duationsprinzip gekennzeichnet; die anderen Indivi- Zwar ist es angesichts der prozessualen Darstellung
duen sind ihm bloße Erscheinungen. Der tugendhafte der Abfolge von Gerechtigkeit, Menschenliebe und
Charakter hingegen wird dadurch charakterisiert, Mitleid im Hauptwerk exegetisch unklar, ob Scho-
dass er »weniger, als sonst geschieht, einen Unter- penhauer hier ebenso wie in der »Preisschrift« auch
schied macht zwischen Sich und Andern« (W I, 439), Gerechtigkeit auf Mitleid zurückführen möchte, aber
also das Individuationsprinzip als scheinhaft erkennt. der Sache nach besteht kein Zweifel, dass auch ge-
Da das Leben essentiell Leiden ist, wird ihm damit rechtes Handeln – als Handeln, das uneigennützig ist
auch der Unterschied zwischen eigenem und frem- und vom Leiden des anderen, auf dessen Vermeidung
dem Leiden weniger bedeutsam. Der das Individuati- es abzielt, motiviert ist – als mitleidsbasiert verstan-
onsprinzip Durchschauende wird, anders als der da- den wird. Dies wirkt intuitiv unplausibel, würde man
rin Befangene, vom Leiden der anderen in gleicher doch z. B. die Handlungen des Gerechtigkeit aus-
Weise motiviert werden wie sonst nur von seinem ei- übenden Richters gerade nicht als Handlungen aus
genen. Darum identifiziert Schopenhauer echte Men- Mitleid einstufen. Der Anschein der Kontraintuitivi-
schenliebe mit Mitleid und erhebt – in Die Welt als tät verschwindet jedoch, wenn man berücksichtigt,
Wille und Vorstellung nur in einem Paragraphen, aus- dass Mitleid für Schopenhauer kein bloßes Gefühl,
führlicher und weitgehend unabhängig von willens- sondern in dem Sinne universalisierbar ist, dass es
metaphysischen Prämissen dann in der »Preisschrift sich nicht nur auf aktuell wahrnehmbare Leidens-
über die Grundlage der Moral« (s. Kap. 8.2) – Mitleid zustände, sondern auch auf antizipiertes oder vergan-
zum Zentralbegriff seiner Ethik. Seine Tugendlehre ist genes, also nicht unmittelbar wahrgenommenes Lei-
also gesinnungsethischer Natur; der moralische Wert den beziehen kann (vgl. Birnbacher 1990, 30 f.). Auch
einer Handlung bemisst sich ihr zufolge nicht etwa an das Handeln des Richters kann daher insofern als
ihren Folgen, sondern einzig an der Motivlage, aus der mitleidsbasiert verstanden werden, als er bei seiner
heraus sie vollzogen wird. Verurteilung die Leidensfähigkeit potentieller weite-
Indem Schopenhauer als Grundlage der Tugend- rer Opfer des zu verurteilenden Täters berücksichtigt.
haftigkeit die Erkenntnis der Scheinhaftigkeit des In- Dass Mitleid für Schopenhauer nicht an unmittel-
dividuationsprinzips ansetzt, akzentuiert er die kogni- bares affektives Betroffensein gebunden ist, zeigen ei-
tive Komponente moralischen Handelns. Zwar ist der nige der von ihm gewählten Beispiele, etwa der Ver-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 89

weis auf Fälle von Selbstaufopferung zugunsten des- ihr wird die Verneinung des Willens, das Aufhören al-
sen, »was der gesammten Menschheit zum Wohle ge- len Wollens als Kulminationspunkt und als »der letzte
reicht« (W I, 443). Der von Tugendhat (vgl. Tugendhat Zweck« (W II, 698) des menschlichen Daseins dar-
1993, 177–196) gegen die Mitleidsethik erhobene gestellt. Für Schopenhauer ist also nicht Moralität der
Vorwurf, Mitleid sei als ein bloß punktuelles Gefühl höchstmögliche zu erreichende Zustand des Men-
nicht universalisierbar, geht daher an der Konzeption schen, sondern Willensverneinung. Exemplifiziert
Schopenhauers vorbei. Der universalistische An- wird Willensverneinung durch die Lebensweise der
spruch der Mitleidsethik zeigt sich auch in der Ein- Asketen und Heiligen, deren Zustand Schopenhauer
beziehung der Tiere, die nach Schopenhauer – der als als einen hedonisch eindeutig positiv getönten be-
einer der Pioniere der Tierethik gilt – als leidensfähi- schreibt, als »unerschütterliche[n] Friede[n], [...] tiefe
ge Wesen ebenso als Objekte der moralischen Rück- Ruhe und innige Heiterkeit« (W I, 461).
sichtnahme zu gelten haben wie Menschen. Hieran Auch das Verhältnis der Ethik im engeren zur Ethik
knüpft in neuerer Zeit z. B. Ursula Wolf in ihrer Kon- im weiteren Sinne ist nicht frei von Spannungen. Die
zeption des generalisierten Mitleids an (vgl. Wolf Lehre von der Willensverneinung geht aus der Tu-
1990, Kap. III. 6, 7). gendlehre einerseits zwanglos hervor, denn Willens-
Auch für die gegenwärtige moralphilosophische verneinung wird als eine weitergehende Folge jener
Diskussion ist Schopenhauers Tugendlehre noch von Durchschauung des Individuationsprinzips verstan-
Interesse. Dabei bemüht man sich, ihre Grundideen den, die schon die Möglichkeit des Mitleids erklärt
so zu formulieren, dass sie auch unabhängig von wil- hatte. Sie ist insofern eine Steigerung der Moralität:
lensmetaphysischen Prämissen akzeptabel sind. Die Werden jemandem die Grenzen zwischen Ich und
These, dass gutes Handeln sich an dem Ausmaß be- Nicht-Ich nicht nur teilweise, sondern vollkommen
misst, in dem der Handelnde das Individuationsprin- durchsichtig, so »folgt« nach Schopenhauer »von
zip zu durchschauen vermag, kann z. B. im Sinne des selbst«, dass er nicht nur Mitleid empfinden, sondern
metaethischen Prinzips verstanden werden, dass mo- den Willen verneinen wird (vgl. W I, 447). Anderer-
ralische Urteile aus begriffslogischen Gründen uni- seits besteht zwischen Mitleid und Willensverneinung
versalisierbar sind und ihre Gültigkeit daher un- ein Gegensatz: Während der Mitleidige das Leiden des
abhängig von individuellen Rollenverteilungen ist. anderen zu mildern bemüht ist, gilt dies für den den
Für Konzeptionen, die sich auf ein solches Prinzip be- Willen verneinenden Asketen nicht. Vielmehr verhält
rufen, spielt auch der von Schopenhauer als Mitleid er sich, da er gar nichts mehr will, indifferent gegen-
beschriebene Empathievorgang eine bedeutende Rol- über dem Leiden des anderen und ist – hierin dem
le. Anders als bei Schopenhauer wird dieser jedoch Egoisten verwandt – auf seinen eigenen Zustand bezo-
meist nicht als Identifikationsvorgang im wörtlichen gen, da er, Genüsse verabscheuend, einen Zustand der
Sinne, also als Übernahme der Leiden des anderen – Freiheit von allem Wollen, der mit einem Zustand der
der dann mit dem Mitleidenden metaphysisch iden- Leidensfreiheit zusammenfällt, anstrebt.
tisch sein muss – aufgefasst, sondern so, dass wir, um Das Verständnis der Willensverneinungslehre wird
Zugang zu den Leidenszuständen des anderen zu fin- dadurch erschwert, dass mit »Willensverneinung« bei
den, in propria persona Präferenzen ausbilden müs- Schopenhauer kein einheitliches Phänomen bezeich-
sen, die denen des anderen an Intensität entsprechen net wird (vgl. Koßler 2014). Der Ausdruck bezeichnet
(vgl. Hare 1992, Kap. 5). Darüber hinaus ist Schopen- sowohl – und dies primär – einen Zustand, in dem al-
hauers Mitleidsethik für Probleme der modernen Me- les Wollen überwunden ist, als auch eine Praxis der
dizinethik fruchtbar gemacht und mit neueren rekon- Willensverneinung. Zum Zustand der Willensvernei-
struktivistischen Ansätzen verbunden worden (vgl. nung führen nach Schopenhauer zwei Wege: erstens
Birnbacher 1990). die aus der Durchschauung des Individuationsprin-
zips resultierende reine Erkenntnis des Leidens (vgl.
W I, 447) und zweitens – weit häufiger – die Erfah-
Willensverneinung
rung eigenen Leidens (vgl. W I, 463 f.). In Bezug auf
Schopenhauers praktische Philosophie umfasst eine den ersten Weg behauptet Schopenhauer, dass der das
»Ethik im engeren« und eine »Ethik im weiteren Sin- Individuationsprinzip gänzlich Durchschauende alle
ne« (vgl. Cartwright 1999, 252 f.). Erstere ist identisch Lebewesen als Objektivationen des Willens, somit als
mit der Tugendlehre, letztere umfasst die in den leidend erkennen wird, so dass er die Leiden der ande-
§§ 68–71 des Hauptwerks entfaltete Soteriologie. In ren als seine eigenen betrachten und den Willen zum
90 II Werk

Leben verneinen wird. Zur Plausibilisierung der The- Zu fragen ist auch, wie sich der Freiheitsspielraum,
se, dass dieser Übergang »von selbst folgt«, wäre aller- der in der Willensverneinung zum Ausdruck zu kom-
dings auch hier eine genauere Explikation des Er- men scheint, mit der Lehre von der Totaldeterminati-
kenntnisbegriffs erforderlich. Ohne den Nachweis, on des Willens im Bereich der Erscheinungen verein-
dass und wie diese Erkenntnis handlungsmotivierend baren lässt. Wieso können wir überhaupt den Willen
sein kann, liegt folgender Einwand nahe: Weder muss, verneinen, wo doch Schopenhauer für die These plä-
wer erkennt, dass die anderen leiden, sich deren Lei- diert, dass jede Handlung ein notwendiges Produkt
den notwendig zu eigen machen – er könnte sie wei- von Motiv und Charakter ist? Schopenhauer beant-
terhin als Erscheinungen und ihre Leiden als ihm wortet diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass es im
selbst nicht zugehörig betrachten –, noch muss, wer Falle der Willensverneinung nicht zu einer Änderung,
sich die Leiden der anderen zu eigen macht, diese des- sondern zu einer »gänzlichen Aufhebung des Charak-
wegen verneinen, denn auch die Übernahme der Lei- ters« (W I, 477) käme. Damit ist gemeint, dass Wil-
den des anderen schließt keinesfalls eine Bejahung des lensverneinung nicht auf die Wirkung bestimmter
Leidens und damit des Lebens aus (vgl. Hallich 1998, Motive, sondern darauf zurückzuführen ist, dass ein
32–34). Auch der zweite geschilderte Übergang zum Zustand erreicht wird, in dem Motive grundsätzlich
Zustand der Willensverneinung beruht auf psycho- nicht mehr wirksam werden. Das ›Quietiv‹, als das die
logischen Kontingenzen und hat, wie Schopenhauer Einsicht in das Leiden oder dessen Erfahrung wirken
selbst betont, nicht den Charakter eines notwendigen soll, ist kein Motiv einer bestimmten Art, sondern gar
Übergangs (vgl. W I, 467): Infolge des eigenen Leidens kein Motiv. Diese Aufhebung des Charakters aber geht
kann eine Willensverneinung (die dann gar nicht auf nicht vom Willen des Individuums aus, sondern viel-
Tugendhaftigkeit als vorhergehende Stufe angewiesen mehr von einer veränderten Erkenntnisweise, eben
ist) erreicht werden, muss es aber nicht. der Durchschauung des Individuationsprinzips. Da-
Bezieht man sich auf Willensverneinung nicht als her ist die Möglichkeit der Willensverneinung mit der
Zustand, sondern als Praxis der Askese, so fällt auf, deterministischen Annahme der Unausweichlichkeit
dass diese von Schopenhauer als ein durchaus aktiver der Handlungen bei gegebenem Motiv und Charakter
Prozess geschildert wird, als eine »vorsätzliche Bre- kompatibel: Kommt es zur Willensverneinung, ist die
chung des Willens« (W I, 463), bei der der Asket seine Voraussetzung dafür, dass Motive überhaupt wirken
eigenen Begierden »absichtlich« (W I, 451) unter- können, aufgehoben.
drückt und einen »beständigen Kampf mit dem Wil- Allerdings wird das Problem, wie Willensvernei-
len zum Leben« (W I, 463) zu führen hat. Dies zieht nung möglich ist, damit nur auf die Frage verschoben,
das Problem eines Widerspruchs zwischen Willenlo- wie jene veränderte Erkenntnisweise möglich ist, in de-
sigkeit und Motivation nach sich: Wieso kann der As- ren Folge es zur Aufhebung des Charakters als Ganzem
ket – da er nichts mehr will – dieses Nicht-mehr-Wol- kommt. Zur Beantwortung dieser Frage greift Scho-
len wollen? Schopenhauer reagiert hierauf, indem er penhauer auf religiöse, aus dem Fundament christli-
das in der Askesis zum Ausdruck kommende Wollen cher Erlösungslehre geschöpfte Topoi zurück. Die Ver-
entindividualisiert: Im Wollen des den Willen Vernei- änderung der Erkenntnisweise sei nur als eine »Wie-
nenden zeige sich die Freiheit des metaphysischen dergeburt« und eine Art der »Gnadenwirkung« ver-
Willens, des Dings an sich, welche hier ausnahmswei- stehbar, analog dazu, dass in der christlichen Heilslehre
se in die Erscheinung trete (vgl. W I, 467, 476). In der der die Erlösung ermöglichende Glaube als »Werk der
Willensverneinung wendet sich demnach der meta- Gnade« (W I, 477 f.) aufgefasst würde. Entgegen Scho-
physische Wille gegen sich selbst. Auch diese Kon- penhauers eigenen abschwächenden Bemerkungen hat
struktion ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, die Inanspruchnahme theologischer Motive, insbeson-
denn dass der Wille sich gegen sich selbst wendet, un- dere des Motivs der Gnade, im Rahmen der Lehre von
terstellt zum einen eine Intentionalität des metaphysi- der Willensverneinung nicht nur illustrative Funktion
schen Willens, die seiner Charakterisierung als nicht und geht über eine bloße Analogie hinaus (vgl. Malter
intentional gerichtet widerspricht; zum anderen wird 1991, 414 f.). Ohne den Bezug auf die Gnadenwirkung
der Widerspruch zwischen der Willenlosigkeit des wäre die Möglichkeit einer veränderten Erkenntnis-
Asketen und seinem Wollen dadurch kaum aufgeho- weise, somit auch die der Willensverneinung, über-
ben, denn es ist immer noch das Individuum, nicht haupt nicht verständlich. In der Angewiesenheit der
der Wille als Ding an sich, das den »beständigen philosophischen Soteriologie Schopenhauers auf die
Kampf der Verneinung« zu kämpfen hat. theologische Kategorie der Gnadenwirkung kann man
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 91

ein Indiz dafür sehen, dass Schopenhauers Erlösungs- dass, was nach der Aufhebung der Welt der Erschei-
lehre mit der christlichen konvergiert, zumindest mit nungen übrig bleibt, für den den Willen Bejahenden
ihr kompatibel ist (zu Differenzen zwischen der Scho- ›nichts‹ sei, zweitens, dass die Welt der Erscheinungen
penhauerschen und der christlichen Ethik und ihren für den den Willen Verneinenden ›nichts‹, d. h. nicht
Gemeinsamkeiten vgl. grundlegend Koßler 1999; zum mehr von Bedeutung, kein Objekt seines Willens mehr
Erlösungsbegriff bei Schopenhauer vgl. auch Sauter- sei. Keine dieser Verwendungsweisen rechtfertigt es
Ackermann 1994). Verlangt man allerdings, dass die aber, Schopenhauer als einen Nihilisten zu bezeich-
Lehre von der Willensverneinung auch ohne Rekurs nen, jedenfalls dann nicht, wenn man etwa die später
auf Bestandteile der christlichen Erlösungslehre kon- von Nietzsche formulierte Bestimmung von ›Nihilis-
sistent erläuterbar sein muss, so wird man hierin einen mus‹ zugrunde legt, der zufolge Nihilismus bedeutet,
Ausdruck der Aporie sehen, in den die Willensvernei- dass »die obersten Werthe sich entwerthen« (KSA 12,
nungslehre schließlich gerät. 350): »es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das
Eine weitere Schwierigkeit der Willensverneinungs- ›Warum?‹« (ebd.). Da die Aufhebung des Willens bei
lehre betrifft die Frage, ob diese sich mit Schopenhau- Schopenhauer als letzte und höchste Stufe eines Erlö-
ers Ablehnung des Suizids (vgl. W I, § 69) in Einklang sungsprozesses verstanden wird und die Willensver-
bringen lässt oder letztere nicht vielmehr als der Ver- neinungslehre insofern gerade eine Antwort auf das
such angesehen werden muss, der letzten Konsequenz ›Warum?‹ formuliert, ist Schopenhauer zumindest in
des eigenen Systems, nämlich einer Empfehlung des diesem Sinne von ›Nihilismus‹ kein Nihilist.
Suizids, auszuweichen. Zwar übernimmt Schopenhau-
er Humes Zurückweisung der traditionellen metaphy- Literatur
sisch-theologischen Argumente gegen den Suizid, Benatar, David: Better never to Have Been. The Harm of
lehnt aber die Selbsttötung aus willensmetaphysischen Coming into Existence. Oxford 2006.
Birnbacher, Dieter: Schopenhauers Idee einer rekonstrukti-
Gründen ab: Da der Suizident, verzweifelt über seine ven Ethik (mit Anwendungen auf die moderne Medizin-
Lebensumstände, sich vom Bild eines glücklichen Le- Ethik). In: Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990), 26–44.
bens, das ihm allerdings unerreichbar sei, leiten lasse, Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
sei seine Handlung – weit entfernt davon, das Leben zu Cartwright, David E.: Schopenhauer’s Narrower Sense of
verneinen – gerade ein Ausdruck der Willensbeja- Morality. In: Janaway 1999, 252–292.
Gemes, Ken/Janaway, Christopher: Schopenhauer and
hung. Diese Ausgrenzung suizidaler Handlungen aus
Nietzsche on Pessimism and Asceticism. In: Vandenabeele
dem Bereich der Willensverneinung ermöglicht es 2012, 280–299.
zwar, die Lehre von der Willensverneinung aufrecht- Hallich, Oliver: Mitleid und Moral. Schopenhauers Leidens-
zuerhalten, ohne hieraus eine Empfehlung des Suizids ethik und die moderne Moralphilosophie. Würzburg 1998.
ableiten zu müssen, ist aber mit dem Preis erkauft, dass Hare, Richard: Moralisches Denken: seine Ebenen, seine
Schopenhauer nur einen Teilbereich suizidaler Hand- Methode, sein Witz. Frankfurt a. M. 1992.
Hauskeller, Michael: Vom Jammer des Lebens. Einführung in
lungen erfasst, da er dem Suizidenten eine Motivlage Schopenhauers Ethik. München 1998.
unterstellen muss, die dieser zwar haben kann und Hoerster, Norbert: Zur Verteidigung von Schopenhauers
häufig haben wird, aber keinesfalls notwendig haben Straftheorie der Generalprävention. In: Schopenhauer-
muss: Warum eine Suizidhandlung nicht z. B. aus einer Jahrbuch 53 (1972), 101–113.
bloßen Einsicht in die Vergeblichkeit menschlichen Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen
Verstand. Hamburg 1984 (engl. 1748).
Strebens oder als Bilanzsuizid begangen werden kann,
Jacquette, Dale: Schopenhauer on Death. In: Janaway 1999,
bleibt unklar. 293–317.
Angesichts der teleologischen Struktur der Lehre Janaway, Christopher (Hg.): The Cambridge Companion to
von der Willensverneinung – die diese als Zweck und Schopenhauer. Cambridge 1999.
Kulminationspunkt des menschlichen Daseins auffasst Janaway, Christopher: Schopenhauer’s Pessimism. In: Ders.
– ist Zurückhaltung gegenüber der Bezeichnung Scho- 1999, 318–343 [1999a].
Keil, Geert: Willensfreiheit. Berlin/New York 2007.
penhauers als eines ›Nihilisten‹ angebracht. Diese Ein-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
stufung wird durch den Abschlussparagraphen des Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
Hauptwerks, in dem das Wort ›Nichts‹ eine prominen- legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
te Rolle spielt, durchaus nahegelegt. Nachdem Scho- penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
penhauer hier an die Relativität des Ausdrucks ›nichts‹ Würzburg 1999.
erinnert hat (vgl. hierzu Lütkehaus 1999, 627–635), Koßler, Matthias: Die Philosophie Schopenhauers als Erfah-
rung des Charakters. In: Dieter Birnbacher/Andreas
formuliert er mit dessen Hilfe zwei Thesen: erstens,
92 II Werk

Lorenz/Leon Miodonski (Hg.): Schopenhauer im Kontext. dersetzung mit der kantischen vorausgesetzt wird,
Deutsch-polnisches Schopenhauer-Symposion 2000. Würz- aber auch deren »bedeutende Fehler« (W I, XI) be-
burg 2002, 91–110. rücksichtigt werden müssen, wird die Lektüre des An-
Koßler, Matthias: Schopenhauers Soteriologie (WI §§ 68–­
71). In: Matthias Koßler/Oliver Hallich (Hg.): Arthur
hangs sogar vor derjenigen der Welt als Wille und Vor-
Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung stellung nahegelegt. Diese Vorgehensweise lässt kei-
(= Klassiker Auslegen, Bd. 42). Berlin 2014. nen Zweifel daran, dass Kants Philosophie Schopen-
Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der hauer entscheidend geprägt hat (s. auch Kap. 17) – ob
Angst. Zürich 1999. sein eigenes Denken nun von ihr aus- oder über sie
MacKay, Donald M.: Freiheit des Handelns in einem mecha-
hinausgeht, auf ihr aufbaut oder sie widerlegt.
nistischen Universum. In: Pothast 1978, 303–321.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi- In den ersten einleitenden Bemerkungen des An-
losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann- hangs behauptet Schopenhauer, »unmittelbar an ihn
statt 1991. [Kant] anknüpfen« zu müssen, weil die »wirkliche
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus- und ernstliche Philosophie noch da steht, wo Kant sie
gabe in 15 Bänden [1967 ff.]. Hg. von Giorgio Colli und gelassen hat« (vgl. W I, 493), es seither also keine
Mazzino Montinari. München 1999 [KSA].
Pothast, Ulrich (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determi-
ernstzunehmende Entwicklung des Denkens gegeben
nismus. Frankfurt a. M. 1978. habe. Die Tatsache, dass der junge Denker sich selbst
Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969 (engl. als den Philosophen betrachtet, der den ›großen‹ Kant
1949). zu Ende denkt – ungeachtet des vergleichbaren An-
Sauter-Ackermann, Gisela: Erlösung durch Erkenntnis? Stu- spruchs der berühmten Kollegen des deutschen Idea-
dien zu einem Grundproblem der Philosophie Schopenhau-
lismus, Fichte und Hegel –, bildet den Hintergrund
ers. Cuxhaven 1994.
Soll, Ivan: Schopenhauer on the Inevitability of Unhappi- dieses ungewöhnlichen Rahmens seines Hauptwer-
ness. In: Vandenabeele 2012, 300–313. kes. Allein dadurch werden die in allen Schriften auf-
Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. zufindenden Lobpreisungen der Leistungen Kants re-
1993. lativiert, auch wenn die »Kritik der Kantischen Phi-
Vandenabeele, Bart (Hg.): A Companion to Schopenhauer. losophie« noch vom »größten Verdienst« (W I, 494)
Oxford 2012.
im Bereich der Erkenntnistheorie ausgeht. Der größte
Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral. Frankfurt a. M. 1990.
Teil der Schopenhauerschen »Kritik« bezieht sich in-
Oliver Hallich folgedessen auf Kants Kritik der reinen Vernunft, in
der zwar bahnbrechende Einsichten vorgelegt worden
seien, diese aber entscheidender Korrekturen bedürf-
6.7 »Kritik der Kantischen Philosophie« ten. Richtigstellungen und kritische Kommentare be-
zogen auf die beiden weiteren Kritiken Kants, die der
Schopenhauer schließt sein Hauptwerk Die Welt als praktischen Vernunft und der Urteilskraft, nehmen
Wille und Vorstellung (= WWV) mit einem Anhang nur ein knappes Fünftel des Anhangs ein. Schopen-
ab, der »Kritik der Kantischen Philosophie«, den er hauers detaillierte kritisch-polemische Auseinander-
bereits in der »Vorrede« zur ersten Auflage der WWV setzung mit Kants Ethik findet erst in der moralphi-
von 1818 ankündigt. Dort werden von dem jungen losophischen Schrift »Preisschrift über die Grundlage
selbstbewussten Autor drei Forderungen an die Leser der Moral« statt (s. Kap. 8.2).
erörtert: erstens, das vorliegende Werk zwei Mal zu le- Auf wenigen Seiten zu Beginn erörtert Schopen-
sen, zweitens, die Dissertation Ueber die vierfache hauer Kants Verdienste, beginnend mit dem größten,
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde und drit- der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass die Er-
tens, Kants Hauptschriften gründlich studiert zu ha- scheinung vom Ding an sich zu unterscheiden ist (vgl.
ben. Dass Schopenhauer der Auseinandersetzung mit W I, 494), und schließend mit der Konsequenz dieser
der kantischen Philosophie im Anschluss an die Prä- Unterscheidung für die praktische Philosophie, die
sentation des eigenen philosophischen Systems ein in »ethische Bedeutsamkeit der Handlungen« von der
sich beschlossenes Schriftstück von mehr als 100 Sei- Erscheinung und der naturgesetzlichen Kausalität zu
ten widmet, begründet er in der »Vorrede« damit, trennen (vgl. W I, 503). Es wird sich im weiteren Ver-
»nicht [die] eigene Darstellung durch häufige Polemik lauf des Anhangs zeigen, dass sich nahezu alle Kritik-
gegen Kant zu unterbrechen und zu verwirren« (W I, punkte auf – aus Schopenhauers Sicht – falsche Folge-
XII). Insofern von Schopenhauer zum Verständnis rungen Kants aus dieser grundlegenden transzenden-
seiner eigenen Philosophie die intensive Auseinan- talphilosophischen Einsicht zurückführen lassen. Der
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 93

Text selbst ist in nicht weiter gekennzeichnete, unbe- auf die Kant zurückgreifen konnte. Doch neu und ori-
titelte Abschnitte gegliedert, im Überblick ergibt sich ginell sei der Nachweis aus der Analyse der Erkennt-
folgende Struktur: Auf eine kurze Einleitung (W I, nisvermögen selbst, dass aus den Gesetzen der Erfah-
491–494) folgt das Hervorheben der Verdienste Kants, rung das Dasein weder abgeleitet noch erklärt werden
der sich nach einer kurzen Überleitung zu den Fehlern kann, dass diese Gesetze und die aus ihnen verstande-
die Kritik des Grundgedankens, bzw. der falschen ne natürliche Welt vielmehr »als durch die Erkennt-
Schlussfolgerungen daraus, nach systematischen As- nißweise des Subjects bedingt« verstanden werden
pekten geordnet anschließt. Die Durchführung der müssen (W I, 498). Damit ist das Fundament gelegt
Kritik erfolgt danach mit Bezugnahme auf die Kritik für die kritische, bzw. Transzendentalphilosophie, de-
der reinen Vernunft, geordnet nach deren Schwer- ren Untersuchung die dogmatischen Prinzipien der
punkten. Schopenhauer beginnt mit dem ihm zufolge traditionellen Philosophie, d. h. die veritates aeternas,
gelungenen Teil, der Transzendentalen Ästhetik, kom- als Ausdruck subjektiver Formen des Erkennens ent-
mentiert dann die Irrtümer der Analytik, sich konzen- larvt und über diese hinausführt: Das, was wir für die
trierend auf die Kategorientafel und die Deduktion objektive Welt halten, erkennen wir, bedingt durch die
der reinen Verstandesbegriffe insgesamt; zusammen apriorischen Formen unseres Verstandes, nur wie sie
mit einem kleineren Absatz zur Beharrlichkeit der uns erscheint, nicht wie sie an sich ist. Soweit das
Substanz bildet dieser Abschnitt den Schwerpunkt des »größte Verdienst«.
Anhangs. Es folgt ein systematischer Einschub zu den Auch wenn Kant, so Schopenhauer weiter, nicht
Formen des Denkens, wodurch Schopenhauer zu sei- zur Erkenntnis gelangt sei, »daß die Erscheinung die
ner Analyse der »Transzendentalen Dialektik« in der Welt als Vorstellung und das Ding an sich der Wille
Kritik der reinen Vernunft überleitet. Er kritisiert in sei« (W I, 499), habe er die Moralität des Menschen als
verhältnismäßig kurzen Abschnitten Kants unbeding- von der erscheinungshaften Welt zu trennen dar-
ten Vernunftbegriff, seine Ideenkonzeption, die Anti- gestellt, »als etwas, welches das Ding an sich unmittel-
nomien sowie das transzendentale Ideal und kom- bar berühre« (W I, 500). Das wird als zweiter Aspekt
mentiert kurz die kantische Widerlegung der spekula- der verdienstvollen Einsicht gewürdigt. Der dritte be-
tiven Theologie. Der Anhang wird beschlossen mit steht nach Schopenhauer darin, durch den Verzicht
Schopenhauers kritischen Bemerkungen zum Begriff auf »ewige Wahrheiten« der spekulativen Theologie
der praktischen Vernunft, wie ihn Kant in der Kritik und der rationalen Psychologie jegliche Grundlage
der praktischen Vernunft entwickelt, zur Ethik, ins- entzogen zu haben; Kants Lehre der Unterscheidung
besondere der Rechtslehre, die Kant in der Metaphysik von Erscheinung und Ding an sich habe einem in
der Sitten vorstellt, und schließlich einem kurzen der Philosophie verbreiteten, jahrhundertelang wirk-
Kommentar zur Kritik der Urteilskraft. – Die folgende samen wahnhaften und falschen Realismus erfolg-
Darstellung einzelner Aspekte und Argumente der reich eine »idealistische Grundansicht« entgegen-
»Kritik der Kantischen Philosophie« orientiert sich an gesetzt, der zufolge die Dogmen der traditionellen
dieser Struktur. Metaphysik als unhaltbar und unbeweisbar anzuse-
Auf den ersten Seiten erläutert Schopenhauer die hen sind. Das impliziert auch die Entwertung meta-
Absichten, die er mit dem Anhang verfolgt, der »ei- physischer Begriffe, die im Rahmen der Ethik verwen-
gentlich nur eine Rechtfertigung« der eigenen Lehre det wurden (insbesondere den der Vollkommenheit),
sei, insofern diese »in vielen Punkten« zu Kants Phi- als »Gerede« und »gedankenleere Worte« (W I, 503).
losophie im Widerspruch steht (vgl. W I, 492). Um Ebenso wenig wie die Gesetze der Erscheinungswelt
nicht undankbar oder gar bösartig zu erscheinen, zu metaphysischen Wahrheiten erhoben werden kön-
schicke er der durchaus notwendigen, da ernsthafter nen, darf die Bedeutung moralischen Handelns nach
und angestrengter Wahrheitssuche geschuldeten »Po- Maßgabe der Erscheinung und ihrer Gesetze beurteilt
lemik gegen Kant« eine Würdigung der Verdienste des werden. Damit erneut auf das zweite Verdienst Bezug
»Riesengeistes« (W I, 493) voraus. nehmend schließt Schopenhauer seine Darstellung
Die »Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge der positiven Aspekte der kantischen Transzendental-
an sich« aufgrund der Unterscheidung der Erkenntnis philosophie ab – um sich mit der ihm eigenen Polemik
a priori von derjenigen a posteriori wird zwar als ihren Mängeln und Fehlern zuzuwenden. Diese lassen
»Kants größtes Verdienst« bezeichnet (W I, 494), zu- sich in formaler Hinsicht kurz zusammenfassen: Da
gleich aber auch relativiert als eine Bestätigung und Kant kein vollständiges System entwickelt habe, muss-
Erweiterung von Erkenntnissen Lockes und Humes, te seine Philosophie »negativ und einseitig« bleiben
94 II Werk

und »die größte Revolution in der Philosophie« letzt- den 4 × 3 Kategorien abgeleitet. Die Symmetrie dieser
lich scheitern, was die Philosophiegeschichte deutlich Tafel wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen: Die
belege (W I, 505 f.). Tätigkeit des Verstandes, seine Begriffe (die ihn struk-
Inhaltlich besteht der grundlegende Fehler Kants turierenden apriorischen Kategorien) auf die Sinn-
darin, die Metaphysik, die das Wesen der Welt erken- lichkeit anzuwenden, soll die Erfahrung und deren
nen und verständlich machen will, kategorisch von Grundsätze a priori erklären. Die Tätigkeit der Ver-
der Erfahrung, d. h. der Weise unseres Zugangs zur nunft, ihre Schlüsse auf die Verstandesbegriffe an-
Welt, zu trennen. Schopenhauer folgert, dass die Er- zuwenden, bringt Vernunftbegriffe oder Ideen hervor,
kenntnis der Welt und des Daseins aus etwas von die- den drei Modi des relationalen Schließens entspre-
sen Verschiedenem hervorgehen muss, wenn sie nicht chen die drei transzendentalen (traditionell metaphy-
aus empirischen Quellen stammt; ein derart gewon- sischen) Ideen Seele, Welt und Gott. Gemäß den vier
nenes Selbst- und Weltverständnis ist damit nicht un- Titeln der Kategorien lassen sich vier Thesen über die
mittelbar und gewiss, sondern mittelbar und aus abge- Welt und die jeweiligen Antithesen aufstellen.
leiteten Begriffen erschlossen. Schopenhauer zufolge Die polemisch vorgestellten Ableitungen beruhen
ist gerade »die innere und äußere Erfahrung«, die auf Kants Konzeption von Verstand und Vernunft –
Kant aus der Metaphysik ausschließt, die »Hauptquel- Schopenhauer fasst zusammen: Beide sind Denk- und
le aller Erkenntniß« (W I, 507). Eine »Lösung des Urteilsvermögen. Ist der Grund des Urteils empirisch,
Räthsels der Welt« ist daher nicht von einer Metaphy- transzendental oder metalogisch, ist es vom Verstand
sik zu erwarten, die mit Erkenntnis a priori gleichge- hervorgebracht; ein rein logisches Urteil – so die De-
setzt wird, sondern es bedarf vielmehr einer Philoso- finition des Schlusses – ist Sache der Vernunft. Der Ver-
phie, die erklären kann, wie äußere und innere Erfah- stand verfährt nach Regeln, die Vernunft nach Prinzi-
rung verknüpft sind, d. h. wie aus der formalen Struk- pien. All diese Bestimmungen, die durch zahlreiche Zi-
tur unseres Erkenntnisapparates und dem der äußeren tate aus der Kritik der reinen Vernunft belegt werden,
Erfahrung zugänglichen ›Material‹ das ›richtige‹ Ver- hält Schopenhauer für irreführend, die Sache verdun-
ständnis der Welt erlangt werden kann. Was Schopen- kelnd, ja, willkürlich; denn ihre Bedeutung ist rein be-
hauer fordert, ist eine neue Auffassung von ›Metaphy- grifflich, besteht in Worten und Wortverbindungen.
sik‹ als erfahrungsbasierter philosophischer Weltdeu- Darüber, »wie [...] die empirische Anschauung ins Be-
tung. Diesem Anspruch kann Kants Konzeption der wußtseyn kommt« (W I, 511), wird nichts ausgesagt.
Metaphysik als ›reine‹, rationale Philosophie, die per Die Hauptabschnitte der Schopenhauerschen »Kri-
definitionem erfahrungsunabhängig sein muss, nicht tik an der Kantischen Philosophie« sind daher der
genügen. Es scheint für Schopenhauer nicht nachvoll- »Transscendentalen Ästhetik« und der »Transscen-
ziehbar, wieso Kant trotz der Unterscheidung von We- dentalen Analytik« gewidmet, wobei die Lehre von
sentlichem und Erscheinungshaftem, Ding an sich den apriorischen Anschauungsformen gewürdigt
und Erscheinung, übersieht, dass der Zugang zum in- wird, auch wenn die Ableitung des Dinges an sich
nersten Wesen des Daseins nur über die (nicht über nach Schopenhauer fehlerhaft ist. Die Analytik der
der) Welt, die wir wahrnehmen, nicht jenseits der Er- Verstandesbegriffe sowie ihre Deduktion, die Katego-
fahrung zu suchen ist. rienlehre, finden vor ihm keine Gnade. Seinem eige-
Daraus ergeben sich für die Vorgehensweise ebenso nen philosophischen Anspruch nach müssten die
wie für die daraus folgende Argumentationsstruktur Wahrnehmungslehre und die Begriffsanalytik ver-
notwendige Konsequenzen, die Kant ignoriere: Die bunden werden, und wie im ersten Buch der WWV
Fragen nach der Eigenart von Anschauung und Refle- dargelegt, ist die Kausalitätskategorie (als die einzig
xion, nach den Funktionen von Verstand und Ver- sachlich begründete) in die Lehre von den reinen An-
nunft wurden nicht gestellt, die Untersuchung und schauungsformen Zeit und Raum zu integrieren, um
Abgrenzung von intuitiver und abstrakter Erkenntnis das Entstehen der materialen empirischen Anschau-
nicht vorgenommen. Stattdessen, so Schopenhauers ung zu erklären. Dass Kant die Genese der Wahrneh-
Deutung, folgt Kant zum Teil unbesonnen – man mung, das heißt die Verbindung von äußerer und in-
möchte sagen: unbewusst – seiner Vorliebe zur Sym- nerer Erfahrung, gar nicht thematisiert, sondern mit
metrie, eine »ganz individuelle Eigenthümlichkeit des der Aussage übergeht, der empirische Inhalt der An-
Geistes Kant« (W I, 509). Einem formalen Ordnungs- schauung sei »gegeben«, wird wiederholt moniert. So
streben ist die Urteilstafel, die »logische Grundlage ist für Schopenhauer schon die Trennung einer Wahr-
seiner ganzen Philosophie«, geschuldet, von ihr wer- nehmungslehre, wie sie in der »Transzendentalen Äs-
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 95

thetik« dargelegt wird, von einer Begriffslehre wie die ben keinen Zweck; als reine (formale, also inhaltslose)
der »Transzendentalen Analytik« ein fataler Irrtum – Verstandesbegriffe können sie die eigentliche Funk-
ist es doch die Kausalitätserkenntnis des Verstandes, tion von Schemata nicht erfüllen, den materialen In-
die eine Erklärung der Entstehung von Wahrneh- halt von Begriffen denkend zu strukturieren, wozu sie
mung bzw. Erfahrung im Ausgang vom unmittelbaren von der empirischen Anschauung abstrahiert werden
Bewusstsein einer Gegenstandswelt ermöglichen soll. müssten.
Der Schwerpunkt der Kritik, die Schopenhauer an Insofern Kant die völlige Unabhängigkeit der Kate-
der Transzendentalen Ästhetik übt, setzt genau dort gorien von erfahrbaren Objekten fordert, ist aus Scho-
an: Es ist Kant vorzuwerfen, dass er die Intellektualität penhauers Perspektive grundsätzlich nicht nachvoll-
der Anschauung leugnet. Bereits in der Anschauung – ziehbar, dass die Annahme von derartigen Schemata
und nicht durch etwas zu ihr hinzu Gedachtes – sind – die etwas anderes sein sollen als »Repräsentanten
die Gegenstände gegeben, die Kant dem Denken zu- unserer wirklichen Begriffe durch die Phantasie«
schreibt (vgl. W I, 524 f.). Kants Aussage wird zitiert, (W I, 534) – irgendeinen Nutzen für die Erfahrungs-
dass etwas »wenn gleich nicht angeschauet, dennoch erkenntnis haben könnte. In folgendem Satz, dessen
als Gegenstand überhaupt gedacht« (KrV, B 125) wer- Anfang berühmt ist und oft zitiert wird, fasst Scho-
den könne; für Schopenhauer zeigt sich in der Annah- penhauer als Konsequenz seiner Kritik an Kant den
me eines solchen »absoluten Objekts«, das durch den eigenen Standpunkt zusammen:
denkenden Verstand erst konstituiert wird und durch
die Hinzufügung der apriorischen, begrifflichen Kate- »Ich verlange demnach, daß wir von den Kategorien elf
gorien die objektive Welt bedingt, »ein altes, eingewur- zum Fenster hinauswerfen und allein die Kausalität
zeltes, aller Untersuchung abgestorbenes Vorurtheil in behalten, jedoch einsehn, daß ihre Thätigkeit schon
Kant« (WI, 524). die Bedingung der empirschen Anschauung ist, wel-
Die empirische Realität oder Erfahrung entsteht che sonach nicht bloß sensual, sondern intellektual ist,
nach Schopenhauer dadurch, dass die Verstandes- und daß der so angeschaute Gegenstand, das Objekt
erkenntnis von Ursache-Wirkungsverhältnissen, also der Erfahrung, Eins sei mit der Vorstellung, von wel-
von Kausalität, schon auf die Sinnesempfindung ange- cher nur noch das Ding an sich zu unterscheiden ist«
wendet wird. Daraus ergibt sich auch die richtige Be- (W I, 531).
weisführung der (von Kant richtig erkannten, aber
falsch bewiesenen) Apriorität des Kausalitätsgesetzes, Die grundsätzliche Ablehnung der kantischen Wahr-
nämlich »aus der Möglichkeit der objektiven empiri- nehmungstheorie wird ausgedehnt zu einer umfas-
schen Anschauung selbst« (W I, 527). Durch seine senden Fehleranalyse, die die gesamte Erkenntnis-
Funktion der Kausalitätserkenntnis macht der Ver- theorie betrifft: Schopenhauer sieht als Quelle zahlrei-
stand aus dumpfen Empfindungen für uns verständli- cher Widersprüche der Transzendentalen Logik eine
che oder begreifbare Anschauung und konstituiert die unzulässige »Vermischung« der Erkenntnisarten,
Wirklichkeit, nicht indem er unter Anwendung von nämlich der anschaulichen und der abstrakten, oder
12 Kategorien die »in der Anschauung gegebenen« anders ausgedrückt, eine mangelnde Differenzierung
Dinge denkt, wodurch sie uns zu »Erfahrung« wer- der Vermögen und Funktionen von Verstand und
den. Der Gegenstand der Kategorien, in concreto das Vernunft, was entsprechend falsche Ableitungen und
angeschaute Einzelding, wird in abstracto als »absolu- die Verdunkelung von einfachen philosophischen
tes Objekt« oder »Objekt an sich« (nicht gleichzuset- Sachverhalten nach sich zieht. Vorgeführt wird das
zen mit dem Ding an sich) vorgestellt, das nicht An- z. B. an der »synthetischen Einheit der Apperception«,
schauung, also nicht in Zeit und Raum, aber auch kein die sich in dem kantischen Diktum »Das ›Ich denke‹
Begriff ist. Statt der begründeten Unterscheidung der muß alle meine Vorstellungen begleiten können« aus-
Vorstellung – anschaulich oder abstrakt – vom Ding drückt, und eine irreführende Identität von Vorstellen
an sich, werde, so Schopenhauers Vorwurf, von Kant und Denken, Anschauung und Begriff nahelege. Die
unberechtigterweise ein Drittes eingeschoben, und kategoriale Bestimmung von Urteilen durch Quanti-
Vorstellung, Gegenstand der Vorstellung und Ding an tät, Qualität, Relation und Modalität lehnt Schopen-
sich unterschieden. Der Grund dafür liegt nicht in der hauer mit detaillierten Argumenten als überflüssig
Sache, sondern in der – im Wortsinne gegenstands- und grundlos ab: All diese »Kategorien« lägen in der
losen und ebenfalls sachlich unbegründeten – Katego- Natur der abstrakten Begriffe, und die vorgenom-
rienlehre: Schemata der reinen Verstandesbegriffe ha- menen Differenzierungen der Begriffs- und Urteils-
96 II Werk

eigenschaften seien nur im Rückgriff auf die intuitive unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis gewonnen wer-
Erkenntnis möglich, nicht aber umgekehrt ein Begrei- den kann.
fen der Erfahrung von der abstrakten Erkenntnis aus, Ein weiterer Ausdruck des kantischen Irrtums ist
wie Kant glaubte vorgehen zu müssen. Die angebli- die in der »Transzendentalen Dialektik« der Kritik der
chen Verstandesbegriffe beschreiben entweder als reinen Vernunft dargestellte Suche nach dem Unbe-
»Qualität« das völlige Getrenntsein der Begriffssphä- dingten, das dem »Vernunftprincip« folgend in syn-
ren durch Bejahung und Verneinung oder das partiel- thetischen Sätzen a priori erfassbar sein soll: Schopen-
le Getrenntsein und Ineinandergreifen der Begriffs- hauer bestreitet als »Unding«, dass die Vernunft in der
sphären als »Quantität«. Und die Formen der Urteile, Lage sein soll, erkenntniserweiternde Aussagen über
die Kant unter der Kategorie der Modalität anführt – etwas zu machen, das nicht erfahrbar ist. So wird aus
wie die problematische, assertorische oder apodikti- der transzendentalphilosophischen Reflexion über
sche Urteilsform – seien zweifelsohne von den jewei- die Vollständigkeit aller Bedingungen die Idee des Un-
ligen Begriffen des Möglichen, Wirklichen und Not- bedingten, die Idee Gottes, erklärt, aus der Totalität
wendigen hervorgebracht; in keinem der genannten der Erscheinungen die Idee der Welt mit den ihr eige-
Fälle handle es sich aber um apriorische Erkenntnis- nen Antinomien und aus der falschen Forderung nach
formen des Verstandes, sondern um Beschaffenheiten einem unbedingten Substanzbegriff die Idee der Seele.
von Begriffen, der »Hauptform« aller reflexiven, abs- Die kantische Vernunftkritik endet also wieder bei
trakten Erkenntnis der Vernunft. Besonderen Wert den traditionellen metaphysischen Disziplinen, der
legt Schopenhauer auf die kritische Analyse der Rela- Theologie, Kosmologie – und der (rationalen) Psycho-
tionskategorie, unter der drei völlig heterogene Be- logie, und ihren Gegenständen Gott, Welt und Ich
stimmungen von Urteilen zusammengefasst worden oder Seele, die zudem noch als »Ideen« bezeichnet
seien, die aber nichts anderes als »metalogische Prin- werden, verstanden als Produkte der Vernunft, die als
cipien« oder Denkgesetze zum Ausdruck brächten – solche mit Schopenhauers Ideenbegriff, dem von Pla-
das kategorische Urteil die Sätze der Identität und des ton entlehnten ›Original‹, völlig unvereinbar sind.
Widerspruchs, das disjunktive den Satz des Ausge­ Schopenhauer würdigt zwar in diesem Zusammen-
schlossenen Dritten und das hypothetische die »all- hang, dass Kant die rationale Psychologie auf einen
gemeinste Form aller unserer Erkenntnisse«, den Satz Fehlschluss (»Paralogismus«) der Vernunft zurück-
vom Grund selbst. Schopenhauer verweist in diesem führt und damit widerlegt, nimmt aber gerade diesen
Kontext darauf, dass seine Dissertation »als eine Abschnitt auch zum Anlass, zum wiederholten Mal
gründliche Erörterung der Bedeutung der hypotheti- auf den Qualitätsverlust in der zweiten Auflage der
schen Urtheilsform anzusehn« sei (W I, 542). Kritik der reinen Vernunft von 1787 im Vergleich zur
Schopenhauers Auseinandersetzung mit den von ersten von 1781 hinzuweisen (s. auch Kap. 17).
Kant als Kategorien des Verstandes falsch verstande- Den Abschluss der auf die Kritik der reinen Ver-
nen und zu einer Tafel systematisierten Aspekten einer nunft bezogenen Kommentare bildet die Problematik
rationalen Metalogik oder Abstraktionstheorie nimmt des Freiheitsbegriffes, dessen Ursprung Schopenhau-
in der »Kritik der Kantischen Philosophie« eine zen- er im Willen und dessen unmittelbarer Präsenz im
trale Stelle ein: Es liegt nun nämlich auf der Hand, dass menschlichen Bewusstsein sieht; Kant dagegen habe
die »grundlose« Kategorientafel nicht auch noch auf auch die Freiheit unnötigerweise zunächst als Idee der
die Naturwissenschaft und deren Grundsätze hätte an- spekulativen, dann der praktischen Vernunft er-
gewendet, oder gar deren Erkenntnisstruktur auf die schlossen, vergeblich zu beweisen versucht und letzt-
dialektisch verfahrende Vernunft hätte übertragen lich als notwendige Bedingung der Moralität gesetzt.
werden dürfen. Kants bereits für Verfahrensfehler ver- Bei aller Dankbarkeit für die Einsichten in die Un-
antwortlich gemachte Liebe zur Symmetrie lässt ihn – terscheidung von Ding an sich und Erscheinung sowie
so Schopenhauer – undifferenziert alle Dinge, ob phy- die Apriorität des Kausalitätsgesetzes – den Schwer-
sische oder moralische, durch die Brille der Katego- punkt der Schopenhauerschen Kritik bilden ungnädi-
rientafel sehen. Das führt nicht nur in der theoreti- ge Analysen von Kants Fehlern in Ableitungen und
schen, sondern auch in der praktischen Philosophie bis Beweisführung, die falschen Voraussetzungen und
hin zur Theorie des Geschmacksurteils in der Kritik der Prämissen geschuldet sind: »Er setzt nicht, wie es die
Urteilskraft zu falschen Ergebnissen als Konsequenz Wahrheit verlangte, einfach und schlechthin das Ob-
aus der falschen Grundannahme, dass aus abstrakten jekt als bedingt durch das Subjekt, und umgekehrt;
Verstandesbegriffen und abgeleiteten Denkgesetzen sondern nur die Art und Weise der Erscheinung des
6  Die Welt als Wille und Vorstellung 97

Objekts als bedingt durch die Erkenntnißformen des Literatur


Subjekts [...]« (W I, 596). Statt die unmittelbar erkann- Bäschlin, Daniel Lukas: Schopenhauers Einwand gegen Kants
te, in Zeit und Raum kausal geordnete Materie als Transzendentale Deduktion der Kategorien (= Zeitschrift
für philosophische Forschung, Beiheft 19). Meisenheim
wahr und wirklich zu akzeptieren, und den Willen als 1968 (Diss. Bern 1967).
das unmittelbar dem menschlichen Bewusstsein be- Baum, Günther: Ding an sich und Erscheinung. Einige
kannte Ding an sich auszumachen, entwickelt Kant Bemerkungen zu Schopenhauers Kritik der Kantischen
wirklichkeitsfremde abstrakte Begriffssysteme, seien Philosophie. In: Wolfgang Schirmacher (Hg.): Zeit der
es die Kategorien des Verstandes, die Ideen der Ver- Ernte. Festschrift für Arthur Hübscher. Stuttgart-Bad
Cannstatt 1982, 201–211.
nunft oder deren praktische Postulate und kategori-
Bozickovic, Vojislav: Schopenhauer and Kant on Objectivity.
sches Moralgesetz – und verstellt sich den Weg in eine In: International Studies in Philosophy 28 (1996), 35–42.
neue, erfahrungsbasierte Philosophie, die das Welträt- Dotzer, Wilhelm Josep: Über Schopenhauers Kritik der
sel zu lösen im Stande ist. Kant’schen Analytik. Diss. Erlangen 1891.
In diesem Sinne wurde Schopenhauers Kant-Kritik Fleischer, Margot: Schopenhauer als Kritiker der Kantischen
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auch rezi- Ethik. Würzburg 2003.
Friedlaender, Salomo: Versuch einer Kritik der Stellung Scho-
piert und ins eigene Denken integriert – von Geistes-
penhauer’s zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der
wissenschaftlern, die die Auseinandersetzung mit »Kritik der reinen Vernunft«. Diss. Jena 1902.
Kant zur Entwicklung und Ausbildung einer eigenen Königshausen, Johann-Heinrich: Schopenhauers »Kritik der
Position suchten, und die von der Philosophie, ver- Kantischen Philosophie«. In: Perspektiven der Philosophie
gleichbar mit Schopenhauer, einen deutlichen Welt- 3 (1977) [erschienen 1978], 187–203.
und Lebensbezug erwarteten, oder ihr sogar soziolo- Koßler, Matthias: »Ein kühner Unsinn« – Anschauung und
Begriff in Schopenhauers Kant-Kritik. In: Stefano Bacin/
gische oder politische Funktionen zusprachen. Der Alfredo Ferrarin/Claudio La Rocca/Margit Ruffing (Hg.):
bekannteste von Schopenhauer inspirierte Kant-Kriti- Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten
ker ist sicher Friedrich Nietzsche (s. Kap. 30). Aber des XI. Internationalen Kant-Kongresses Pisa 2010. Bd. 5.
auch der Neukantianer Hermann Cohen ist hier zu Boston/Berlin 2013, 569–578.
nennen, der mit dem Ziel der »Neubegründung des Nussbaum, Charles: Schopenhauer’s Rejection of Kant’s
Analysis of Cause and Effect. In: Auslegung 11 (1985),
kritischen Idealismus« u. a. über Kants Theorie der Er-
33–44.
fahrung (1871) arbeitet, in der er Schopenhauers Kri- Philonenko, Alexis: Schopenhauer critique de Kant. In:
tik folgend eine veritable Wahrnehmungstheorie ver- Revue International de Philosophie 42 (1988), 37–70.
misst; oder etwa Cohens jüngerer Zeitgenosse Georg Philonenko, Alexis: Schopenhauer critique de Kant. Paris
Simmel, der 1881 mit Über das Wesen der Materie 2005.
nach Kants Physischer Monadologie promoviert, sein Richter, Raoul: Schopenhauer’s Verhältnis zu Kant in seinen
Grundzügen. Leipzig 1893.
philosophisches Schaffen 1907 aber mit Schopenhauer Ruffing, Margit: »Muss ich wissen wollen?« ‒ Schopenhauers
und Nietzsche abschließt, bevor er sich der Soziologie Kant-Kritik. In: Norbert Fischer (Hg.): Kants Metaphysik
zuwendet (s. Kap. 32). Ebenso widmet sich Salomo und Religionsphilosophie. Hamburg 2004, 561–582.
Friedlaender Schopenhauers Analysen, was seine Dis- Salaquarda, Jörg: Schopenhauers kritisches Gespräch mit
sertation von 1902 belegt: Versuch einer Kritik der Stel- Kant und die gegenwärtige Diskussion. In: Schopenhauer-
Jahrbuch 56 (1975), 51–69.
lung Schopenhauers zu den erkenntnistheoretischen
Schweppenhäuser, Hermann: Schopenhauers Kritik der
Grundlagen der »Kritik der reinen Vernunft«. Er be- Kantischen Moralphilosophie. In: Ders.: Tractanda. Bei-
fasst sich als Philosoph und literarischer Schriftsteller träge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft.
immer wieder mit den konfligierenden Positionen Frankfurt a. M. 1972, 22–33 (Nachdr. in: Schopenhauer-
Schopenhauers, Kants und Nietzsches. Bis heute ist Jahrbuch 69 [1988], 409–416).
Schopenhauers »Kritik der Kantischen Philosophie« Tsanoff, Radolslev Andrea: Schopenhauer’s Criticism of
Kant’s Theory of Experience (= Cornell studies in philoso-
ein Schlüsseltext der kritischen Kant-Rezeption, der
phy, Bd. 9). New York 1911.
nicht nur in unnachahmlicher Weise die Schwächen Wartenberg, Mścisław: Der Begriff des »transscendentalen
der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheo- Gegenstandes« bei Kant – und Schopenhauers Kritik des-
rie und die spezifische Manier kantischen Argumen- selben (I). In: Kant-Studien 4 (1900), 202–231; (II) in:
tierens darstellt, sondern einen ganz besonderen Zu- Kant-Studien 5 (1901), 145–176.
gang zum System der WWV anbietet, den jeder Scho- Weimer, Wolfgang: Schopenhauer. Darmstadt 1982.
penhauer-Leser nutzen sollte. Margit Ruffing
98 II Werk

7 Ueber den Willen in der Natur Empirisch-wissenschaftliche Bestätigungen glaubt


Schopenhauer in erster Linie für die metaphysische
Die Entstehung der Schrift
Grundthese vom Willen als Ding an sich liefern zu
Mit der 1836 erschienenen Schrift Ueber den Willen in können. Die Zeugnisse unabhängiger empirischer
der Natur bricht Schopenhauer, wie er in der 1835 ge- Forscher betrachtet er als den denkbar größten Beweis,
schriebenen Einleitung erläutert, sein 17-jähriges den ein philosophisches System überhaupt erfahren
Schweigen. Seit der Veröffentlichung des Hauptwerks kann. Diese Bestätigungen werden von ihm in ver-
Die Welt als Wille und Vorstellung im Jahr 1818 hatte er schiedener Weise umschrieben. Metaphorisch spricht
vergeblich auf eine öffentliche Resonanz und Würdi- er von dem »Berührungspunkt zwischen Physik und
gung seiner Philosophie gewartet, und in der Hoff- Metaphysik« (N, 5), dem beide sich unabhängig von-
nung, bei einer anstehenden zweiten Auflage des einander annähern – ähnlich wie zwei Bergleute, die
Hauptwerks weitere Erläuterungen und Ergänzungen von verschiedenen Seiten Stollen in einen Berg graben
vornehmen zu können, hatte er jahrelang Material ge- und sich schließlich treffen (vgl. N, 2, 5). Eine mehr
sammelt. Als er sich im April 1835 bei seinem Verleger wissenschaftstheoretische Auslegung liefert er, wenn
Brockhaus nach dem Verkauf seines Hauptwerks in er die Naturkräfte als den Grenzpunkt zwischen Meta-
den letzten Jahren erkundigte, erhielt er die desillusio- physik und Naturwissenschaft herausstellt. Alle empi-
nierende Antwort, dass von einer Nachfrage über- rischen Wissenschaften gelangen demnach bei der Er-
haupt keine Rede mehr sein könne (vgl. GBr, 141, forschung der Welt zuletzt zu bestimmten Naturkräf-
523). Nachdem damit die Perspektive für eine zweite ten, die sie in ihren Erklärungen verwenden, aber
Auflage des Hauptwerks in unbestimmte Ferne ge- selbst nicht mehr weiter erklären können. Diese ur-
rückt war, entschloss er sich, den Teil des angesam- sprünglichen Naturkräfte sind daher, eben weil sie wis-
melten Materials, der sich als Ergänzung seiner Meta- senschaftlich unerklärbar sind, das Thema der Meta-
physik eignete, in einem eigenen Buch zu veröffent- physik (vgl. N, 4).
lichen. Da er offenbar nicht damit rechnete, dass Vor dem Hintergrund dieser Grenzbestimmung
Brockhaus Interesse an einer weiteren Publikation des der Naturwissenschaften lassen sich zwei Aspekte der
bislang erfolglosen Autors haben würde, ließ Scho- von Schopenhauer zusammengetragenen empirisch-
penhauer die Schrift bei dem Frankfurter Buchhänd- wissenschaftlichen Bestätigungen seiner Metaphysik
ler Siegmund Schmelder erscheinen. differenzieren. Einerseits versucht er zu zeigen, dass
empirische Wissenschaften wie Biologie und Physik
jeweils Naturkräfte voraussetzen, die der Metaphysik
Die Intention der Schrift
als Themen zugewiesen werden und von dieser als
Angesichts der weitgehend ausgebliebenen Rezeption Wille gedeutet werden (müssen). Zu diesem Nach-
seines Hauptwerks verfolgt Schopenhauer in der weis gehört auch, dass die von den Wissenschaften
Schrift Ueber den Willen in der Natur das Ziel, den vorausgesetzten Naturkräfte Stufen der Natur bilden,
Zeitgenossen die Vorzüge seiner Philosophie zu de- die sich metaphysisch als verschiedene Objektivatio-
monstrieren. Dazu liefert er Erläuterungen und Ergän- nen des Willens deuten lassen. Soweit liefern die Wis-
zungen seines metaphysischen Systems, wozu ins- senschaften also Vorarbeiten für die Metaphysik. An-
besondere Ausführungen zum Willensbegriff gehören. dererseits will Schopenhauer aber auch zeigen, dass
Den entscheidenden Vorzug sieht er jedoch in den Be- Wissenschaftler an den von ihnen erreichten Grenzen
stätigungen, die seine Metaphysik durch die empiri- der Erkenntnis nicht immer stehenbleiben, sondern
schen Wissenschaften erhalten hat. Durch diese empi- hin und wieder auch Blicke über diese Grenzen ins
rischen Bestätigungen soll sich seine metaphysische Reich der Metaphysik werfen, indem sie selber bereits
Position positiv von den metaphysischen Spekulatio- die Naturkräfte als Willen interpretieren (vgl. N, 4).
nen Hegels und Schellings unterscheiden. Anstatt wie Es ist dieser zweite, engere Sinn von Bestätigung, auf
letztere in das Gebiet der Wissenschaften hineinzure- den seine Ausführungen vor allem abzielen.
den und dadurch die entschiedene Ablehnung der em- Die Art von Bestätigung, die Schopenhauer in den
pirischen Forscher herauszufordern, will Schopenhau- Naturwissenschaften für seine Metaphysik sucht, sollte
er nicht nur die Unabhängigkeit der Wissenschaften mit Bestätigung im Sinne moderner Wissenschafts-
unangetastet lassen, sondern er will auch zeigen, dass theorie nicht verwechselt werden. Wenn Wissen-
die empirischen Wissenschaften sich seiner Metaphy- schaftler von ›Bestätigungen‹ reden, dann geht es um
sik angenähert haben. Beobachtungen und Experimente, die eine (empiri-
7  Ueber den Willen in der Natur 99

sche) Theorie stützen, wobei freilich das Risiko be- von den Stufen der Natur. Wie im zweiten Buch des
steht, dass andere Erfahrungen die Theorie auch er- Hauptwerks befasst sich Schopenhauer ferner mit der
schüttern oder widerlegen können. Im Gegensatz dazu Unterscheidung der drei Formen der Kausalität und
hält Schopenhauer jedoch eine empirische Korrektur mit der teleologischen Deutung der Natur.
seiner Metaphysik durch den weiteren wissenschaftli- Zu den metaphysischen Themen des zweiten
chen Fortschritt für ausgeschlossen (vgl. W I, 167; Buchs, die in der Schrift nicht oder nur beiläufig vor-
GBr, 378). Die Fortschritte der Naturwissenschaft füh- kommen, gehören die Lehre von dem (auf der Selbst-
ren nach seiner Ansicht lediglich dazu, dass die Natur- entzweiung des Willens beruhenden) Streit der Natur-
kräfte als wissenschaftlich nicht erklärbare Grund- wesen und die Theorie der Leib-Seele-Identität. Eben-
prinzipien offengelegt und damit der Metaphysik zur falls keine besondere Rolle spielt die anthropologisch
weiteren Deutung überlassen werden. Diese Metaphy- akzentuierte Lehre vom Primat des Willens und die
sikkonzeption schließt allerdings aus, dass auch die Betonung der Macht der Sexualität, die im zweiten
Naturkräfte – im Zuge einer radikalen positivistischen Band des Hauptwerks von 1844 eine zentrale Rolle er-
Eliminierung aller metaphysischen Elemente – aus halten. Auch metaphysische Themen mit ethischem
den Basisannahmen der Wissenschaften verschwin- oder religiösem Einschlag, die zum Themenkomplex
den könnten. Metaphysik als interpretatorische Ergän- des vierten Buchs gehören, wie das Problem der Wil-
zung der Naturwissenschaften bleibt daher von den lensfreiheit, die Fragen nach Tod und Unvergänglich-
wissenschaftlich vorgegebenen Naturkräften zwar ab- keit des Ich und die ganze Thematik von Leid und Er-
hängig, doch hat sie, weil Schopenhauer die Naturkräf- lösung, spielen so gut wie keine Rolle. Daher fehlt
te gerade als wissenschaftlich irreduzibel betrachtet, auch der pessimistische Grundton in dieser primär
einen partiell unabhängigen Status. naturphilosophischen Schrift fast völlig.

Aufbau und Themen der Schrift Der unbewusste Wille in den vegetativen Lebens-
funktionen
Die Schrift besteht aus einer für die zweite Auflage von
1854 verfassten Vorrede, einer (die Intention des Buchs In dem Kapitel »Physiologie und Pathologie« (N,
erklärenden) Einleitung, einer Schlussbemerkung so- 9–33) sammelt und zitiert Schopenhauer Zeugnisse
wie aus acht unterschiedlich umfangreichen Kapiteln, einiger, heute meist unbekannter zeitgenössischer
in denen Schopenhauer sich mit den empirischen Be- Wissenschaftler, die einen unbewussten Willen als Ur-
stätigungen befasst, die seine Metaphysik in verschie- quelle der Lebensfunktionen annehmen (vgl. N, 9 ff.,
denen Bereichen erfahren hat. Die einzelnen Kapitel 29 ff.). Im Kontext dieser Zeugnisse liefert er auch Er-
heißen: »Physiologie und Pathologie«, »Vergleichende läuterungen seines Willensbegriffs und seiner Wil-
Anatomie«, »Pflanzen-Physiologie«, »Physische Astro- lensmetaphysik.
nomie«, »Linguistik«, »Animalischer Magnetismus Zunächst weist Schopenhauer daraufhin, dass Fort-
und Magie«, »Sinologie« und »Hinweisung auf die schritte der Physiologie im Verständnis der Lebens-
Ethik«. funktionen lange Zeit durch den alten Begriff der Seele
Wie den Kapitelüberschriften zu entnehmen ist, behindert wurden. Nach traditioneller Auffassung, die
befasst sich Schopenhauer nicht nur mit Bestätigun- er noch in Kants Vernunft-Idee der Seele findet, ist die
gen seiner Metaphysik durch die Naturwissenschaf- Seele die Instanz, die den Körper mittels des Willens
ten, sondern er geht auch auf Phänomene wie Sprache beherrscht und steuert; Bewusstsein und Wille sind
und Religion ein, um seine metaphysische Konzepti- demnach untrennbar verknüpft. Gegen diese traditio-
on durch kulturelle Zeugnisse zu stützen. Daraus er- nelle Konzeption versucht Schopenhauer zu zeigen,
klärt sich zum Teil der etwas heterogene Charakter dass die Seele nicht etwas Einfaches ist, sondern aus
dieser Schrift. zwei heterogenen Bestandteilen besteht, nämlich aus
Als Erläuterung und Ergänzung seiner Metaphysik Bewusstsein (Intellekt) und Wille. Durch die Tren-
befasst sich die Schrift vor allem mit Themen, die be- nung dieser beiden Komponenten wird es nach seiner
reits im zweiten Buch der Welt als Wille und Vorstellung Ansicht möglich, einen vom Bewusstsein unabhängi-
behandelt werden. Thematisiert werden insbesondere gen Willen anzunehmen. Die Tätigkeit des Willens ist
die Naturkräfte als Grenze der Naturwissenschaft und daher nicht auf die bewusst-absichtlich agierende
die metaphysische Grundthese vom Willen als Ding an Willkür des Menschen beschränkt. Diesen Begriff ei-
sich sowie die Ausdeutung dieser These in der Lehre nes unbewussten Willens betrachtet Schopenhauer als
100 II Werk

eine große Errungenschaft seiner Metaphysik, ja er verdeutlicht Schopenhauer das Verhältnis von Physio-
sieht darin geradezu eine begriffliche Revolution von logie, Psychologie und Metaphysik. Die Physiologie
eminenter metaphysischer und wissenschaftlicher Be- gelangt nur bis zur Annahme von Lebenskräften, die
deutung. Denn einerseits setzt dieser Willensbegriff, sie unerklärt stehen lassen muss. Doch bereits die (für
wie er ausdrücklich betont, bereits seine ganze Phi- die Alltagspsychologie charakteristische) Konzeption
losophie voraus, und andererseits eröffnet er nach sei- eines Willens, der den menschlichen Körper bewegt,
ner Ansicht auch neue Perspektiven für die Wissen- liegt nach seiner Ansicht außerhalb des Kompetenz-
schaften (vgl. N, 21). Entgegen seiner programmati- bereichs der Physiologie. Der Willensbegriff ist daher
schen Idee, die darauf abzielt, Bestätigungen seiner nicht das Ergebnis von wissenschaftlichen Experi-
Metaphysik durch die empirischen Wissenschaften menten, sondern von menschlicher Selbstbeobach-
aufzuzeigen, ist es hier also umgekehrt so, dass die Me- tung (vgl. N, 28). Analog lassen sich nach seiner An-
taphysik durch eine begriffliche Neuerung den Wis- sicht auch die wissenschaftlich unerklärbaren Lebens-
senschaften bei der theoretischen Klärung ihrer empi- kräfte metaphysisch nur verständlich machen, wenn
rischen Phänomene helfen soll. man sie von innen versteht und auf den Willen zu-
Mit der Anerkennung eines unbewussten Willens rückführt (vgl. N, 31).
erhält die Physiologie nach Schopenhauer die Mög-
lichkeit, einen unbewusst agierenden Willen bei vege-
Die Zweckmäßigkeit der organischen Natur
tativen Lebensfunktionen wie Herzschlag oder Ver-
dauung anzunehmen (vgl. N, 19 ff., 24 f.). Im Lichte In dem Kapitel »Vergleichende Anatomie« (N, 34–58)
dieser Konzeption erläutert er seine Lehre von den befasst sich Schopenhauer mit dem Problem der Te-
drei Formen der Kausalität und betont, dass bei Ur- leologie. Er führt zahlreiche Beispiele für das Phäno-
sache, Reiz und Motivation der Wille jeweils das ei- men der zweckmäßigen Organisation und Anpassung
gentliche Agens ist, obgleich nur die Motivation mit der Lebewesen an und betont besonders die zweck-
Bewusstsein verbunden ist (vgl. N, 22 f.). Die Auffas- mäßige Abstimmung zwischen der Gestalt und den
sung, dass auch unbewusst erfolgende Körperprozes- Organen eines Tieres und seiner Lebensweise. Ziel
se durch einen Willen erfolgen, versucht er durch ver- seiner Ausführungen ist es zu zeigen, dass seine meta-
schiedene Argumente zu stützen. So beruft er sich auf physische Auffassung der Zweckmäßigkeit der orga-
bekannte Beispiele mentaler Beeinflussung vegetati- nischen Natur ebenfalls wissenschaftlich bestätigt
ver Körperfunktionen, wie etwa die Verengung oder worden ist (vgl. N, 34 f.).
Erweiterung der Pupillen oder das Herzklopfen bei Um den Weg zum richtigen Verständnis der
Furcht oder Freude (vgl. N, 26 f., 28 f.). Zweckmäßigkeit zu ebnen, geht Schopenhauer auch
Im Kontext dieser Ausführungen zum Willens- auf den physikotheologischen Gottesbeweis ein, der
begriff nimmt Schopenhauer eine metaphysische Deu- von der Zweckmäßigkeit der Natur auf Gott als ihren
tung des Intellekts vor, die eine ausgesprochen mate- Urheber schließt (vgl. N, 37 f.). Schopenhauer stimmt
rialistische Tendenz aufweist. Unter Berufung auf den zunächst zu, dass die Zweckmäßigkeit nicht zufällig
französischen Physiologen Pierre Jean Georges Caba- und planlos entstanden sein kann, doch mit Berufung
nis (s. Kap. 23) entwickelt er hier erstmals die für sein auf die Kritiken Humes und Kants bestreitet er, dass
späteres Werk charakteristische Auffassung vom Intel- zur Erklärung der Zweckmäßigkeit ein bewusst-pla-
lekt als »Gehirnfunktion«. Während der Wille das me- nender, übernatürlicher Geist angenommen werden
taphysisch Ursprüngliche ist und als Ding an sich dem muss. Dagegen stellt er die These, dass nicht ein Intel-
Organismus zugrunde liegt, ist der Intellekt Produkt lekt die Welt geschaffen hat, sondern dass umgekehrt
oder Funktion des Organismus und hat damit sogar die Natur Geist und Bewusstsein hervorgebracht hat.
tertiären Charakter (vgl. N, 20). Schopenhauer beeilt Geist ist daher ein untergeordnetes Prinzip und au-
sich jedoch hinzuzufügen, dass damit die idealistische ßerdem, wie er in einem Zusatz von 1854 sagt, ein
Grundansicht von der »Welt als Vorstellung« keines- »Produkt spätesten Ursprungs« (N, 39). Eine bewusst-
wegs aufgehoben wird, weil die ganze objektiv-mate- planende Intelligenz kommt daher zur Erklärung der
rielle Welt stets durch ein Subjekt bedingt bleibt. Der Zweckmäßigkeit der Natur nicht infrage. Wie er mit
damit drohende zirkuläre Charakter seiner Konzepti- Verweis auf das instinktive Verhalten von Tieren, z. B.
on (s. Kap. 6.3; 43) wird von ihm an dieser Stelle jedoch den Nestbau von Vögeln, zeigt, ist für die Entstehung
nicht weiter kommentiert (vgl. N, 20 f.). zweckmäßiger Produkte eine intelligente Planung
In einer wissenschaftstheoretischen Bemerkung auch gar nicht erforderlich (vgl. N, 39).
7  Ueber den Willen in der Natur 101

Die geeignete wissenschaftliche Erklärung der Auffassung, dass sich die Gestalten und Organe der
Zweckmäßigkeit findet Schopenhauer in der Auffas- Tiere erst im Laufe der Zeit gebildet haben, nicht zu-
sung, dass die Gestalten und Organe von Tieren sich letzt mit dem transzendentalphilosophisch-metaphy-
nach ihrer Lebensweise, d. h. nach ihren Neigungen sischen Argument ablehnt, dass der die Organisation
und Begierden richten (vgl. N, 35, 40 ff., 45 ff.). Gemäß bestimmende Wille ein außerzeitlicher Akt ist (vgl. N,
dieser Auffassung erfolgt nach einer Veränderung der 44). An dieser Stelle zeigt sich, wie die metaphysische
Umwelt zuerst eine Veränderung der Lebensweise These von der Einheit des Willens die weitere Entfal-
und der Bedürfnisse der Tiere, bevor infolge des ver- tung des evolutionären Denkens bei Schopenhauer
änderten Gebrauchs der Organe die Organe selbst behindert. Ansätze evolutionären Denkens zeigen
sich verändern. Er bezieht sich auf Lamarck als Kron- sich vor allem in den Zusätzen zur zweiten Auflage
zeugen dieser Auffassung, ohne freilich dessen Lehre von 1854, und zwar z. B. in der (älteren) These vom In-
von der Vererbung individuell erworbener Eigen- tellekt als Werkzeug des Willens (vgl. N, 48), sodann
schaften zu erwähnen (vgl. N, 43). Als empirischen in den Erläuterungen der verschiedenen Ausprägun-
Beleg der Annahme, dass das Verhalten der Tiere stets gen der Intelligenz bei Tieren (vgl. N, 49 ff.) und in der
der Veränderung ihrer Organe vorhergeht, verweist er Hypothese, dass die gleiche Anzahl von Knochen bei
unter anderem auf heranwachsende Tiere wie junge Wirbeltieren durch ihre Abstammung von einem ge-
Stiere oder Böcke, die bereits ein (instinktives) Stoß- meinsamen Vorfahr (»Grundtypus«) erklärt werden
Verhalten zeigen, bevor die dafür notwendigen Hör- kann (vgl. N, 54).
ner ausgebildet sind (vgl. N, 42).
In der auf Lamarck zurückgehenden wissenschaft-
Der Wille in der Pflanzenwelt und die Stufen der
lichen Erklärung der Zweckmäßigkeit sieht Schopen-
Natur
hauer eine Bestätigung seiner Metaphysik. Die Erklä-
rung der Zweckmäßigkeit durch Neigungen und Be- Das Kapitel »Pflanzen-Physiologie« (N, 59–79) be-
gierden läuft nach seiner Ansicht auf die Annahme hi- fasst sich mit Belegen für Willensäußerungen bei
naus, dass ein Tier »so ist, weil es so will« (N, 35). Pflanzen. Schopenhauer beruft sich vor allem auf
Gestalt und Organe einer Tierspezies sind also Aus- französische Forscher wie Geoffroy Saint-Hilaire und
druck oder Abbild ihrer Willensbestrebungen (vgl. N, Georges Cuvier, die das Wachstum und die Bewegun-
45). Die Zurückführung der Zweckmäßigkeit der Or- gen von Pflanzen mithilfe von Begriffen wie »Empfin-
ganisation von Lebewesen auf einen (unbewusst agie- dungen« und »Willen« beschreiben (vgl. N, 59 ff.).
renden) Lebenswillen ist der erste, einleitende Teil Schopenhauer gesteht jedoch zu, dass die diesbezüg-
von Schopenhauers metaphysischer Deutung. Eine lichen Formulierungen der französischen Wissen-
weitergehende metaphysische Deutung nimmt er vor, schaftler häufig nicht mit der nötigen Klarheit erfolgt
wenn er die Zweckmäßigkeit der organischen Natur seien, wofür er deren empiristische Ausrichtung und
durch die (außer Raum und Zeit zu denkende) Einheit Befangenheit im alten Willensbegriff verantwortlich
des Willens erklärt. Danach drückt sich der außerzeit- macht. Nehme man dagegen eine klare Trennung der
liche Willensakt einer Tierspezies empirisch als Begriffe von Bewusstsein und Willen vor, dann lässt
Zweckmäßigkeit ihrer Organisation aus. Die Objekti- sich nach seiner Ansicht klar formulieren, dass Pflan-
vierung des Willens bringt gleichsam als Erbe der me- zen zwar Willensäußerungen zeigen, aber kein Be-
taphysischen Einheit die Zweckmäßigkeit der (organi- wusstsein haben. Da Pflanzen ohne Bewusstsein re­
schen) Natur mit sich. Auf diese Weise erklärt sich agieren, handelt es sich bei der sogenannten »Wahr-
nach seiner Ansicht die ausnahmslose Zweckmäßig- nehmung« von Pflanzen nur um einen metaphori-
keit und Harmonie aller Organe. Diese strengere me- schen Ausdruck oder um ein Analogon von Be­
taphysische Deutung schließt, wie er ausdrücklich be- wusstsein. Tatsächlich erfolgen die Bewegungen von
tont, die Möglichkeit überflüssiger oder funktionslos Pflanzen als Reaktionen auf Reize, im Unterschied zu
gewordener Organe aus, womit er aus heutiger Sicht dem durch (bewusste) Motive erfolgenden Verhalten
allerdings zu viel erklärt (vgl. N, 34, 40 f., 45, 54, 57 f.). von Tieren (vgl. N, 56, 67 ff., 70). Seine Feststellung ei-
In Schopenhauers Ausführungen zum evolutions- nes unbewussten Willens bei Pflanzen nimmt Scho-
biologischen Thema der Zweckmäßigkeit stehen tra- penhauer zum Anlass, die Stellung des Bewusstseins
ditionelle und vorwärtsweisende Momente neben- in den Stufen der Natur insgesamt zu verdeutlichen.
einander. Der traditionellen Ansicht von der Kon- Er beschreibt die zunehmende Entfaltung des Be-
stanz der Arten bleibt er verhaftet, wenn er Lamarcks wusstseins, beginnend bei rudimentären Formen von
102 II Werk

Bewusstsein bei niederen Tieren bis zu seiner höchs- mit der für seine Metaphysik zentralen Auffassung der
ten Ausprägung im Menschen (vgl. N, 67 f., 74 ff.). umgekehrten Proportionalität von Apriorität (Ratio-
Im Kontext dieser Erläuterungen zur Stellung des nalität) und Realität. Danach sind die apriorischen
Bewusstseins im Stufenbau der Natur reflektiert Scho- Bestandteile der Erkenntnis zwar klar und verständ-
penhauer auch den systematischen Status des Intel- lich, aber als (im Subjekt angelegte) apriorische For-
lekts im Rahmen seiner Philosophie insgesamt (vgl. men haben sie keine metaphysische Bedeutung für
N, 70 ff.). Er betont, dass die Beschreibung des Intel- das Ding an sich; umgekehrt zeigt sich in den empiri-
lekts als Teil (oder Produkt) der Natur auf einem em- schen Bestandteilen der Erkenntnis zwar ein solcher
pirisch- oder objektiv-realistischen Standpunkt er- metaphysischer Bezug zum Ding an sich, doch geht
folgt, im Unterschied zum transzendental- oder sub- dies auf Kosten der Verständlichkeit (vgl. N, 87 ff.).
jektiv-idealistischen Standpunkt Kants, von dem aus Auch die drei Formen der Kausalität analysiert
die Welt als Vorstellung thematisiert wird. Beide Schopenhauer hier noch einmal unter dem Aspekt der
Standpunkte betrachtet er als einander ergänzend und Verständlichkeit. Die mechanische Kausalität ist am
vereinbar, und zwar vor allem deshalb, weil beide zu verständlichsten, da hier das Verhältnis von Ursache
demselben Resultat führen, nämlich zur Begrenzung und Wirkung gleichartig und außerdem mathematisch
menschlicher Erkenntnis auf die Erscheinungswelt. exakt fassbar ist. Demgegenüber geht die Verständlich-
Bei Kant folgt diese These aus den (im Subjekt ange- keit bei den beiden anderen Formen der Kausalität
legten) apriorischen Anteilen der Erkenntnis; die em- (Reiz, Motiv) mehr und mehr verloren, weil hier Ursa-
pirisch-physiologischen Betrachtungen führen da- che und Wirkung immer heterogener werden und der
gegen zu derselben These, indem sie den Intellekt als Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion bzw.
ein Produkt der Natur nachweisen, das ursprünglich zwischen Motiv und Handlung zunehmend undurch-
nur als Werkzeug des Lebenswillens entstanden ist sichtiger wird. Von außen gesehen erscheint das durch
und als ein auf praktische Zwecke angelegtes Werk- abstrakte Motive erfolgende menschliche Handeln ge-
zeug zur Erkenntnis des Wesens der Welt gar nicht fä- radezu als grundlos oder frei (vgl. N, 90). Doch wäh-
hig ist (vgl. N, 72 f.). rend die Kausalität auf der Stufenleiter der Natur zu-
nehmend unverständlicher wird, tritt der Wille im ›In-
nern der Natur‹ zunehmend deutlicher hervor, bis er
Der Wille in der anorganischen Natur und die drei
im menschlichen Selbstbewusstsein als das wahre
Formen der Kausalität
Agens am deutlichsten erfasst wird. Zum Schluss sei-
In dem Kapitel »Physische Astronomie« (N, 80–94) ner Ausführungen erläutert Schopenhauer noch ein-
geht es Schopenhauer um Belege für Willensäußerun- mal seine Grundidee, dass in der richtigen Verknüp-
gen in der anorganischen Natur. Dabei betont er fung von äußerer und innerer Erfahrung der Schlüssel
gleich zu Anfang, dass für diesen Teil am wenigsten zum metaphysischen Verständnis der Natur liegt (vgl.
mit wissenschaftlichen Zeugnissen zu rechnen gewe- N, 91 f.). Dieses Kapitel betrachtete Schopenhauer
sen sei. Umso mehr ist er erfreut, ein solches Zeugnis selbst als die gelungenste Darstellung seines metaphy-
bei dem Astronomen John Herschel gefunden zu ha- sischen Ansatzes (vgl. WII, 213).
ben. Bei dem Versuch, die Naturkraft der Gravitation
verständlich zu machen, habe Herschel sie als eine Art
Die magische Wirkung des Willens
von Willen gedeutet (vgl. N, 81). Dieser Beleg bleibt
freilich der einzige in diesem Kapitel. In dem umfangreichen Kapitel »Animalischer Mag-
Nach dem Verweis auf Herschel verteidigt Scho- netismus und Magie« (N, 99–127) sucht Schopenhau-
penhauer noch einmal seine metaphysische Grund- er nach Bestätigungen seiner Metaphysik auf einem
these, indem er betont, dass auch das »Streben« in der Gebiet, das heute zur Parapsychologie gerechnet wird.
anorganischen Natur nur als Willensäußerung ver- Er bezieht sich auf den von Franz Anton Mesmer im
standen werden kann, ohne damit die feste Grenze 18. Jahrhundert begründeten animalischen Magnetis-
zwischen belebter und unbelebter Natur auflösen zu mus, wobei er, für den heutigen Leser etwas über-
wollen (vgl. N, 83 f.). Daran anschließend erläutert er raschend, die Kenntnis dieser Lehre weitgehend vo-
seine Auffassung, dass Bewegungen nicht nur eine raussetzt. Seine Ausführungen gehen davon aus, dass
(äußere) Ursache haben, sondern zugleich durch ei- es sich dabei um eine Behandlungsmethode von
nen (inneren) Willen erfolgen (vgl. N, 84 ff.). In den Krankheiten handelt, die Mesmer anfangs durch Ver-
weiteren Ausführungen dieses Kapitels befasst er sich wendung von Magneten und später durch Handauf-
7  Ueber den Willen in der Natur 103

legen und Suggestion praktizierte. Eine besondere auch in Zeiten größten Aberglaubens tiefersehende
Rolle in Schopenhauers Ausführungen spielen Fälle Denker wie Paracelsus oder Jakob Böhme gab, die zur
von Hypnose, wobei er in einem Zusatz von 1854 ei- Einsicht in die magische Wirksamkeit des Willens ge-
nen Fall aus eigener Erfahrung berichtet (vgl. N, 102). langten und damit seine Metaphysik antizipierten.
Dass es sich bei diesen Phänomenen im Wesentlichen Schopenhauers Auseinandersetzung mit okkulten
um Tatsachen handelt, steht für ihn fest. Phänomenen, die er vor allem in den Kapiteln »Ver-
Im Zentrum von Schopenhauers weiteren Über- such über das Geistersehn und was damit zusammen-
legungen steht die Frage, wie sich diese Phänomene hängt« (s. Kap. 9.5) und »Transscendente Spekulation
erklären lassen und worauf insbesondere der (hypno- über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale
tische) Einfluss eines »Magnetisieurs« auf andere Per- des Einzelnen« (s. Kap. 9.4) im ersten Band der Parerga
sonen beruht. Er verweist auf frühere physische Erklä- und Paralipomena fortgesetzt hat, zeichnen sich durch
rungen, zu denen er auch Mesmers Erklärung durch eine aufgeklärte Grundhaltung und ein wissenschaftli-
einen Weltäther zählt (vgl. N, 99). Er betrachtet solche ches Interesse aus. Dennoch macht sich in ihnen auch
Erklärungen als verfehlt, da äußerliche Hilfsmittel wie sein metaphysisches Interesse geltend, wenn er die ok-
Magnete oder Hände, aber auch die Manipulation kulten Phänomene als Bestätigungen seiner Metaphy-
durch Worte nach seiner Ansicht für die jeweils erziel- sik zu verstehen versucht. Daher zeigt Schopenhauer
ten Wirkungen ganz unwesentlich sind. Unter Beru- neben seiner Aufgeschlossenheit für das Okkulte bis-
fung auf Selbstzeugnisse erfolgreicher Magnetiseure weilen auch eine gewisse Leichtgläubigkeit, wenn er
setzt er dagegen die These, dass das entscheidend Berichte über rätselhafte Phänomene wiedergibt.
Wirksame allein der Wille des Magnetiseurs ist (vgl.
N, 109). Weil die verwendeten äußerlichen Hilfsmittel
Sprachliche und kulturelle Bestätigungen der
unwesentlich und verzichtbar sind, handelt es sich bei
Willensmetaphysik
der magnetisierenden Wirkung, durch die z. B. eine
Person in der Hypnose einer anderen Person ihren In den restlichen, vergleichsweise kurzen Kapiteln be-
Willen aufzwingt, um einen unmittelbaren – den fasst sich Schopenhauer mit kulturellen und geistes-
Raum zwischen beiden Individuen ohne materielle wissenschaftlichen Zeugnissen, die die Übereinstim-
Hilfe überwindenden – Einfluss auf einen fremden mung seiner Lehre mit Sprache und Religion anderer
Willen. Schopenhauer glaubt, dass magnetisierende Völker und Kulturen zeigen sollen. In dem Kapitel
(oder hypnotische) Wirkungen die gewöhnlichen Na- »Linguistik« (N, 95–98) weist er daraufhin, dass in fast
turgesetze aufheben und spricht daher ausdrücklich allen Sprachen das Wirken in der unbelebten Natur als
von »übernatürlicher« und »magischer Wirkung«. In Wollen begriffen wird, worin er eine Bestätigung für
diesen Phänomenen handelt es sich nach seiner An- seine Auffassung sieht, dass es gar keine andere Mög-
sicht um Fälle, wo der Wille seine natürliche Wir- lichkeit gibt, um die inneren Triebe und Bestrebungen
kungsform überspringt und unmittelbar als Ding an der Natur zu verstehen. Das Kapitel »Sinologie« (N,
sich wirkt. Daher bezeichnet er den animalischen 128–139) geht auf kulturwissenschaftliche Studien zu
Magnetismus auch als »praktische Metaphysik« und China ein, um zu zeigen, dass die Religionen des Tao-
sieht darin eine bedeutende empirische Bestätigung ismus, Konfuzianismus und Buddhismus in zentralen
seiner Metaphysik (vgl. N, 104 f., 115). Punkten wie Idealismus, Pessimismus und (offenem
Mit der Anerkennung magischer Wirkung distan- oder latentem) Atheismus mit seiner Philosophie
ziert Schopenhauer sich auch vorsichtig von der rein übereinstimmen. In dem Kapitel »Hinweis auf die
negativen Einstellung der Aufklärung zur Magie. Er Ethik« (N, 144–144) geht es ihm schließlich um den
gesteht zwar zu, dass das, was in der Geschichte als Nachweis, dass seine Metaphysik – in Übereinstim-
Magie gelehrt und praktiziert wurde, großenteils mung mit allen Religionen, aber im Gegensatz zum
Aberglauben gewesen ist, aber er sieht darin eben Materialismus – eine moralische Bedeutung des Le-
nicht nur Aberglauben. Die mit der traditionellen Ma- bens annimmt und daher auch und vor allem eine
gie häufig verknüpften Vorstellungen von Göttern, Stütze der Ethik ist. In dem Kapitel »Schluss« (N, 145–
Dämonen oder Teufeln betrachtet er allerdings als 147) äußert Schopenhauer die Hoffnung, dass seiner
verfehlte metaphysische Ausdeutungen, die mit den Philosophie die Zukunft gehören wird, womit er eine
magischen Wirkungen selbst nichts zu tun haben (vgl. Polemik gegen die Philosophieprofessoren verbindet,
N, 108 f., 113 ff.). In ausführlichen Nachweisen (N, die er für das Verschweigen seiner Philosophie verant-
117–126) versucht er schließlich zu zeigen, dass es wortlich macht.
104 II Werk

Die Vorrede der zweiten Auflage Die Stellung der Schrift in Schopenhauers Werk
Ein wichtiges Dokument für das Selbstverständnis Um die Stellung der Schrift Ueber den Willen in der
des späten Schopenhauer ist die Vorrede zur zweiten Natur in Schopenhauers Werk und philosophischer
Auflage der Schrift von 1854. Während er in der ers- Entwicklung bestimmen zu können, muss vor allem
ten Auflage den Zeitgenossen die Vorzüge seiner geklärt werden, welche Auffassungen eine besondere
Philosophie demonstrieren will und dabei seine Betonung oder Akzentuierung erhalten und welche in
Hoffnung noch ganz auf die Zukunft setzt, stellt er der Schrift überhaupt neu vertreten werden.
nun mit Blick auf die beginnende Rezeption seines Einen neuen Akzent gibt Schopenhauer in der
Werks voller Stolz fest: »man hat angefangen, mich Schrift seiner Auffassung vom unbewussten Willen.
zu lesen, – und wird nun nicht wieder aufhören« (N, Stand vorher die These vom Willen als Ding an sich im
XIII). Er beschreibt sich als den »Kaspar Hauser« Vordergrund, so betont er nun stärker den unbewuss-
der Philosophie, dem es nach jahrzehntelangem Ver- ten Charakter des Willens und die philosophische und
schwiegenwerden endlich gelungen sei, Gehör zu wissenschaftliche Bedeutung dieser Konzeption. Auch
finden, und verbindet damit eine scharfe Polemik das Verhältnis von Wille und Ursachen wird nun im
gegen die Philosophieprofessoren, denen er man- Licht der Lehre von der umgekehrten Proportionalität
gelnde Wahrheitsliebe und »Zeitdienerei« vorwirft, von Rationalität und Realität weiter ausgedeutet.
da sie aus persönlichen Interessen an ihrer akademi- Eine neue Thematik der Schrift besteht in biogra-
schen Karriere ihre Lehren der jeweiligen Landes- phisch-rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht darin, dass
religion anpassen und die Philosophie damit kor- Schopenhauer bei der Suche nach Bestätigungen seiner
rumpieren (vgl. N, 6 f., 16 ff.). Indem er den Vorrang Metaphysik auf frühe Spuren seines Wirkens trifft, die
der Wahrheit vor allen Interessen betont, bekennt er bewusst verschwiegen wurden. Einen Plagiatsvorwurf
sich ganz als Aufklärer und bedauert, dass das Wort erhebt er gegen den österreichischen Mediziner Anton
»Aufklärung« zu einem Schimpfwort geworden ist Rosas und gegen den dänischen Arzt Joachim Dietrich
(vgl. N, 16). Brandis. Letzteren hatte Schopenhauer in der ersten
Schopenhauer liefert auch eine passende Erklärung Auflage noch als Bestätigung seiner Auffassungen zi-
für die beginnende Wirkung seines Werks, indem er tiert, bevor er ihn dann, nach genaueren Nachfor-
behauptet, dass seine Metaphysik geeignet sei, das Be- schungen, zuerst 1844 im zweiten Band des Haupt-
dürfnis nach »ernstlicher Philosophie« zu befriedi- werks (vgl. W II, 295 f.) und sodann in der zweiten Auf-
gen, das durch den wissenschaftlichen Fortschritt ei- lage von 1854 des Plagiats beschuldigt (vgl. N, 13 f.).
nerseits und den allgemeinen Glaubensverlust ande- Einer neuen Thematik von besonderer systemati-
rerseits entstanden sei. Der neue Materialismus, den scher Tragweite wendet sich Schopenhauer zu, wenn
er wegen seines naiven Realismus und seiner (ver- er sich in der Schrift erstmals mit okkulten Phänome-
meintlichen) fragwürdigen moralischen Folgen direkt nen befasst, um seine Metaphysik zu untermauern.
attackiert, ist dazu seiner Ansicht nach nicht in der La- Wie die zahlreichen Zusätze zum Kapitel »Anima-
ge (vgl. N, IX ff.). lischer Magnetismus und Magie« von 1854 (vor allem
Den sachlichen Grund der Misere der zeitgenössi- N, 100–113) und die bereits genannten beiden Kapitel
schen deutschen Philosophie sieht Schopenhauer in in den Parerga und Paralipomena deutlich machen,
der Vernachlässigung der Errungenschaften der Phi- hat sein Interesse an dieser Thematik von da an fort-
losophie Kants, zu denen er insbesondere die Lehre gedauert.
des transzendentalen Idealismus rechnet. Der größte Die wichtigste systematische Neuerung der Schrift
Teil der Vorrede ist dem Nachweis gewidmet, dass geht auf die Rezeption der zeitgenössischen Physiolo-
die philosophische Fehlentwicklung seit Kant vor al- gie zurück. Mit Bezugnahme auf Cabanis entwickelt
lem auf die Unkenntnis der kantischen Philosophie Schopenhauer hier erstmals seine physiologische
zurückzuführen ist. Diese Ausführungen sind nicht Deutung des Intellekts als Gehirnfunktion und seine
nur von Schopenhauers Anspruch getragen, der ei- darauf sich stützende metaphysische These vom ter-
gentliche Nachfolger Kants zu sein, sondern sie ent- tiären Charakter des Intellekts (vgl. N, 20). Zugleich
halten auch die implizite Aufforderung »Zurück zu zeigt sich in dieser Schrift, dass er ungeachtet dieser
Kant!«. Damit dürfte er den beginnenden Neukan- materialistischen Wendung an der idealistischen
tianismus mit angestoßen haben (vgl. N, XVI– Grundansicht festhält und auch weiterhin den Mate-
XXIX). rialismus ablehnt (vgl. N, X, 44).
7  Ueber den Willen in der Natur 105

Schopenhauers Ueber den Willen in der Natur steht ge Wirkung der Schrift auf die Diskussion metaphy-
zwar zeitlich zwischen dem frühen Hauptwerk und sisch-naturphilosophischer Fragen kaum gegeben.
den späteren Schriften, doch kann man die Schrift we-
gen der genannten inhaltlichen und systematischen Literatur
Ergänzungen seiner metaphysischen Position bereits Bender, Hans: Telepathie und Hellsehen als wissenschaftli-
zum Spätwerk zählen. che Grenzfrage. In: Schopenhauer-Jahrbuch 48 (1967),
36–52.
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer und die moderne Neuro-
Die Wirkung der Schrift philosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2005), 133–
148.
Mit seiner Metaphysik hat Schopenhauer die Strö- Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
mungen der Willensmetaphysik und Lebensphiloso- Brann, Henry Walter: C. G. Jung und Schopenhauer. In:
Schopenhauer-Jahrbuch 46 (1965), 76–87.
phie, aber auch die philosophische Anthropologie
Brun, Jean: Schopenhauer et le Magnétisme. In: Schopen-
und Tiefenpsychologie maßgeblich beeinflusst und hauer-Jahrbuch 69 (1988), 155–167.
insbesondere Denkern wie Eduard von Hartmann, Driesch, Hans: Schopenhauers Stellung zur Parapsycho-
Nietzsche, Bergson, Scheler und Freud entscheidende logie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 23 (1936), 15–99.
Anstöße gegeben (s. die entsprechenden Kapitel in Gödde, Günter: Traditionslinien des Unbewußten. Schopen-
Teil IV). Der Einfluss der Schrift Ueber den Willen in hauer, Nietzsche, Freud. Tübingen 1999.
Malter, Rudolf: Schopenhauer und die Biologie. Metaphysik
der Natur lässt sich jedoch von der allgemeinen Scho- der Lebenskraft auf empirischer Grundlage. In: Berichte
penhauer-Rezeption und der Rezeption seines Haupt- zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), 41–58.
werks im Besonderen nur schwer trennen. Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi-
Zunächst wurde die Schrift ebenso wie das Haupt- losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
werk kaum beachtet. Als nach der Veröffentlichung statt 1991.
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
der Parerga und Paralipomena (1851) die große Scho-
wissenschaft. Aprioritätslehre und Methodenlehre als
penhauer-Rezeption begann, wurde auch Ueber den Grenzziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Bonn
Willen der Natur als Ergänzung und Erläuterung sei- 1985.
ner Metaphysik zur Kenntnis genommen. Im Unter- Morgenstern, Martin: Die Grenzen der Naturwissenschaft
schied zu den beiden Abhandlungen über die »Freiheit und die Aufgabe der Metaphysik bei Schopenhauer. In:
des Willens« und über die »Grundlage der Moral«, die Schopenhauer-Jahrbuch 67 (1986), 71–93.
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Grundlegung der
in ethischen Diskussionen der Moderne immer Beach-
Metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 57–66.
tung gefunden haben, wurde die Schrift nur selten als Schmidt, Alfred: Schopenhauer und der Materialismus. In:
eigenständiges Werk neben dem Hauptwerk wahr- Ders.: Drei Studien über den Materialismus. München
genommen. Von einer selbständigen Rezeption kann 1977, 21–79.
am ehesten bezüglich Schopenhauers Auseinanderset- Schmidt, Alfred: Physiologie und Transzendentalphiloso-
zung mit der Thematik des Okkulten gesprochen wer- phie bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70
(1989), 43–53.
den, und zwar insbesondere bei dem Naturphiloso- Schmidt, Alfred: Schopenhauers subjektive und objektive
phen Hans Driesch, dem Tiefenpsychologen C. G. Betrachtungsweise des Intellekts. In: Schopenhauer-Jahr-
Jung und dem Parapsychologen Hans Bender. Von sol- buch 86 (2005), 105–132.
chen vereinzelten Anknüpfungen einmal abgesehen,
Martin Morgenstern
hat es eine eigenständige, vom Hauptwerk unabhängi-
106 II Werk

8 Die beiden Grundprobleme der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts auf. Mit
Ethik Aristoteles verbindet Schopenhauer, dass er sich in die-
ser Schrift als scharfer Begriffsanalytiker betätigt, mit
der analytischen Philosophie, dass er sich als Sprach-
8.1 »Preisschrift über die Freiheit des kritiker zeigt – als Kritiker von gezielten oder schlicht
Willens« nachlässigen philosophischen Missdeutungen der
Sprache. Anlass dafür besteht genug, denn wie Scho-
Schopenhauers »Preisschrift über die Freiheit des Wil- penhauer richtig sieht, gehört nicht nur der Begriff der
lens« ist eine der wenigen Einsendungen zu einem Freiheit, sondern besonders auch der Begriff der Wil-
Wettbewerb, die nachhaltige Berühmtheit erlangt ha- lensfreiheit zu den mehrdeutigsten der philosophi-
ben. Die Norwegische Sozietät der Wissenschaften in schen Tradition. In diesem Punkt hatte insbesondere
Trondheim hatte 1839 die Preisfrage gestellt »Lässt sich Kant für Verwirrung gesorgt, indem er den Ausdruck
die Freiheit des menschlichen Willens aus dem Selbst- ›Freiheit‹ sowohl als Gegenbegriff zur kausalen Be-
bewusstsein beweisen?«, und Schopenhauers anonym stimmtheit des Willens, wie sie der Determinismus be-
eingesandte Abhandlung – die einzige – bekam den hauptet, als auch als Gegenbegriff zur Abhängigkeit des
Preis zugesprochen. Zusammen mit der zweiten Preis- Willens von sinnlichen Auslösern (den »Neigungen«)
schrift, der »Preisschrift über die Grundlage der Mo- gebraucht hatte. Daraus hatte sich in Kants Moralphi-
ral« aus dem darauffolgenden Jahr, eingereicht bei der losophie das Paradox ergeben, dass jeder, der frei han-
Königlich Dänischen Sozietät der Wissenschaften, ver- delt, damit auch schon moralisch richtig (nämlich nach
öffentlichte er beide Schriften zusammen in erster Auf- moralischen Grundsätzen statt nach seinen »Neigun-
lage im Jahr 1841, in zweiter, mit einer neuen Vorrede gen«) handelt, und jeder, der moralisch falsch handelt,
und zahlreichen Ergänzungen versehenen Auflage im unfrei handelt und dementsprechend für sein Handeln
Todesjahr 1860, unter dem zusammenfassenden und nicht getadelt werden dürfte. Vor einer Prüfung, ob
seitdem eingebürgerten Titel Die beiden Grundproble- bzw. wie weit dem Menschen Freiheit zugesprochen
me der Ethik. Beide Preisschriften verraten deutlich die werden kann, muss also zunächst zwischen den sehr
Handschrift ihres Autors, zugleich aber auch, dass er verschiedenen mit dem vieldeutigen Wort ›Freiheit‹
sich bemühte, als Autor des in Die Welt als Wille und bezeichneten Begriffen unterschieden werden. In ei-
Vorstellung präsentierten und auf Kritik gestoßenen nem zweiten Schritt kann dann untersucht werden, wie
metaphysischen Systems unerkannt zu bleiben. Die weit sich die eine oder andere behauptete Lösung des
Folge ist, dass beide Schriften weitgehend auf eigenen Freiheitsproblems dadurch als Scheinlösung entpuppt,
Füßen stehen und unabhängig vom Hauptwerk gelesen dass sie sich auf eine Konfusion zwischen diesen ver-
und gewürdigt werden können. Indem sie so wenig wie schiedenen Begriffen zurückführen lässt.
möglich auf die eigenwillige Terminologie des Haupt- Nach Schopenhauer hat es die Philosophie primär
werks und das darauf errichtete Theoriegebäude zu- mit der anschaulichen Erfahrung und deren Deutung
rückgreifen, sprechen sie auch Leser an, die der Wil- und nicht mit Begriffen und deren Analyse zu tun.
lensmetaphysik skeptisch gegenüberstehen. Nicht nur Aber die Preisschrift zur Willensfreiheit zeigt, dass er
die Sprache Schopenhauers ist in den Preisschriften auch auf diesem Feld Beachtliches zu leisten imstande
durchweg eingängiger als im Hauptwerk. Auch der Sa- war und die scharfe Waffe der Kritik nicht nur de-
che nach versucht Schopenhauer, sich so weit wie mög- struktiv, in Angriffen auf seine intellektuellen Wider-
lich auf allgemein akzeptierte Voraussetzungen zu be- sacher, sondern auch konstruktiv, zur Klärung von
rufen. Gänzlich hat Schopenhauer allerdings auf die Sachfragen, einzusetzen verstand. Statt die Frage der
Herstellung eines Nexus zwischen dem in diesen Ab- Norwegischen Akademie nach den Möglichkeiten ei-
handlungen, wie er meinte, rein »analytisch und a pos- nes introspektiven Zugangs zur Willensfreiheit un-
teriori« (E, V) Entwickelten und seiner ureigenen Me- mittelbar aufzugreifen, diskutiert er zunächst zwei
taphysik nicht verzichtet. Beide Abhandlungen kul- Vorfragen: ›Wie verhält sich Willensfreiheit zu ande-
minieren in Ausblicken auf eine Fundierung und Ab- ren Formen von Freiheit?‹ und ›Welche Art von Frei-
rundung im Rahmen der Willensmetaphysik. heit lässt sich dem Menschen begründet zusprechen?‹
Nicht nur mit ihrer Anknüpfung an geläufige Be- Sollte der Mensch über Willensfreiheit gar nicht ver-
griffe und Vorstellungen weist die »Preisschrift über fügen – das wird Schopenhauers Ergebnis sein –, lässt
die Freiheit des Willens« Affinitäten einerseits zur Me- sie sich a fortiori auch nicht erkennen, weder durch
thode der aristotelischen Philosophie, andererseits zur das Selbstbewusstsein noch anderweitig.
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 107

Dem folgt die Gliederung der Preisschrift, indem tiv: die Abwesenheit eines Hindernisses. Je nachdem,
sie in einem ersten Kapitel mit dem Titel »Begriffs- worin dieses Hindernis jeweils besteht, unterscheidet
bestimmungen« zunächst sowohl eine allgemeine Schopenhauer zwischen der »physischen« Freiheit, der
Charakterisierung der Begriffe »Freiheit« und »Selbst- Abwesenheit eines die Ausführung des Gewollten ver-
bewusstsein« gibt sowie eine Unterteilung des Frei- hindernden physischen Hindernisses, der »intellek-
heitsbegriffs in drei »Unterarten«, die »physische«, die tuellen« Freiheit, der Abwesenheit eines Mangels an
»intellektuelle« und die »moralische«. Dabei fällt die Wissen bzw. eines Mangels an geistiger Steuerungs-
letztere mit dem zusammen, was herkömmlich als fähigkeit, und der »moralischen« Freiheit, der Abwe-
»Willensfreiheit« diskutiert worden ist. Daraufhin senheit einer Ursache, aus der das jeweilige Wollen mit
wird in weiteren Kapiteln untersucht, was der Blick kausaler Notwendigkeit folgt. So erhellend diese Un-
nach innen (»Der Wille vor dem Selbstbewusstsein«) terscheidungen sind, so unglücklich sind die Benen-
und der Blick nach außen (»Der Wille vor dem Be- nungen, die Schopenhauer für die einzelnen Varianten
wusstsein anderer Dinge«) über das Bestehen und der Freiheit wählt. Was Schopenhauer mit »physi-
Nicht-Bestehen von Willensfreiheit aussagen. Scho- scher« Freiheit meint, ist in erster Linie Handlungs-
penhauer scheint auch erwogen zu haben, das mehr- freiheit, die Freiheit, das, was man will, im Handeln zu
deutige Wort conscientia in der lateinisch formulier- verwirklichen. Diese kann jedoch nicht nur durch
ten Preisfrage im Sinne von ›Gewissen‹ zu verstehen, äußere oder innere physische Hindernisse wie Ketten
sieht aber von dieser Deutung, die auf Kants Begrün- oder Lähmung beschränkt sein, sondern auch durch
dung des Freiheitspostulats zielen würde, bewusst ab, psychische, etwa neurotische Zwänge. Wer einen
da er sich von ihr nichts verspricht (vgl. E, 10). Die Waschzwang hat, ist ähnlich wie der in Ketten Liegen-
weiteren Abschnitte dieses Kapitels dienen der Vertie- de oder Gelähmte daran gehindert, das, was er will, in
fung der gegebenen Antworten, wobei explizit oder Handlungen umzusetzen. Der innere Zwang schränkt
implizit weitere Differenzierungen eingeführt werden. ihn in seiner Handlungsfreiheit möglicherweise in
Explizit fügt Schopenhauer den drei anfänglich unter- demselben Maße ein wie äußere Freiheitsbeschrän-
schiedenen Begriffen zwei weitere Freiheitsbegriffe kungen. Zwang (etwa auch durch Gesetze und Straf-
hinzu: den der »relativen Freiheit« und den der »trans- androhungen) kann die Freiheit des Handelns aber
zendentalen Freiheit«, implizit – in Zusammenhang auch durch anderweitige nicht-physische Mittel be-
mit seiner Charakterlehre – einen weiteren, den man schränken, nämlich durch die Androhung von Übeln,
mit ›innerer Freiheit‹ bezeichnen könnte. Es schließt physischen wie psychischen. Hier ist dann der Akteur
sich ein doxographischer Durchgang durch die »Vor- nicht nur in seinem Handeln unfrei, sondern in einer
gänger« an, aus dem erhellt, dass die große Mehrzahl bestimmten Hinsicht auch in seinem Wollen. Wer un-
der Philosophen die Annahme der Willensfreiheit ab- ter einer Drohung etwas tut, was er nicht will, macht
gelehnt hat, sowie ein die Hauptthese der Preisschrift die Erfahrung einer Unfreiheit nicht nur seines Han-
teilweise relativierender metaphysischer Ausblick auf delns, sondern auch seines Wollens. Wer – unter den
die »transzendentale Freiheit«, eine Hypothese, die gegebenen Umständen – etwas will, was er unter nor-
Schopenhauer in erster Linie mit der Gegebenheit des malen Umständen niemals wollen würde, kann unter
Schuldgefühls bei Moralverstößen motiviert. den gegebenen Bedingungen nicht nur nicht tun, was
In der Lehre von der transzendentalen Freiheit wie er will, sondern auch nicht wollen, was er wollen will.
auch in der Charakterlehre greift Schopenhauer am Auch wer »intellektuell« unfrei ist, will und tut nicht
deutlichsten auf Gedanken seines Hauptwerks zu- das, was er eigentlich will, weil er nicht weiß, was er tut,
rück. Von ihnen lässt sich noch am ehesten sagen, was oder (aufgrund eines Irrtums oder einer Falschinfor-
Schopenhauer in der Vorrede zur ersten Auflage be- mation) die Folgen seines Handelns falsch einschätzt.
hauptet: dass beide Abhandlungen zur Ethik »als Er- Aber auch hier beruht das Unwissen nicht notwendig
gänzung des vierten Buches meines Hauptwerks an- auf einem intellektuellen Defizit, etwa einem Mangel
zusehen« (E, VI) sind. an Kenntnissen oder Intelligenz. Es kann auch durch
ein Übermaß an Emotionalität, durch Voreiligkeit
oder Impulsivität bedingt sein. Auch die »moralische«
Drei Arten von Freiheit und Unfreiheit
Freiheit ist in gewisser Weise ein misnomer, wenn sie,
Was ist die Grundbedeutung von »Freiheit«, die alle wie Schopenhauer meint, die Willensfreiheit bezeich-
einzelnen Freiheitsbegriffe miteinander verbindet? nen soll. Denn zwar ist herkömmlich Willensfreiheit
Nach Schopenhauer ist diese Grundbedeutung nega- vor allem in moralischen Zusammenhängen von Inte-
108 II Werk

resse, vor allem bei der Zuschreibung von Verantwort- Fernrohr: kein Satz a priori erhellt die Nacht seines ei-
lichkeit und Schuld bei moralwidrigen Handlungen. genen Innern; sondern diese Leuchtthürme strahlen
Aber es fragt sich, ob Willensfreiheit, falls sie besteht, nur nach außen« (E, 22). Der Blick nach innen kann
nur für moralisch bewertete oder bewertbare Hand- uns weder zeigen, dass das Wollen verursacht ist,
lungen oder überhaupt nur im Zusammenhang mit noch dass es unverursacht ist. Und selbst wenn er uns
moralischen Bewertungen und Zuschreibungen gilt. zeigen könnte, dass er verursacht ist, könnte er uns
Falls sie besteht, sollte sie für alle Handlungen gelten, nicht zeigen, welches die Ursachen im Einzelnen sind.
die bestimmte Anforderungen an Selbsttätigkeit erfül- Das einzige, was sich dem Selbstbewusstsein entneh-
len, auch in Kontexten, in denen es nicht primär um men lässt, sind zwei Arten von Daten: erstens die Fak-
moralische Bewertungen geht, z. B. für künstlerische tizität unseres Wollens, die Tatsache, dass wir etwas
oder anderweitig kreative Handlungen. wollen; zweitens bestimmte Überzeugungen über
Eine wichtige Einsicht, die in Schopenhauers an- dieses Wollen, insbesondere die Überzeugung, dass
fänglicher Aufreihung der Freiheitsbegriffe enthalten wir das, was wir wollen, ausführen können, also die
ist, ist der abgeleitete Status der Idee der Willensfrei- Überzeugung ›Ich kann tun, was ich will‹; und die
heit: Willensfreiheit ist eine hochgradig abstrakte und Überzeugung, dass wir vollständig frei sind, zwischen
dem in der Alltagspraxis vorherrschenden Freiheits- zwei entgegengesetzten Willensregungen zu wählen –
verständnis weit entrückte Idee. Sie ist ein typisch phi- eine Überzeugung, die wir typischerweise aus Situa-
losophisches Konstrukt. Die ursprüngliche und psy- tionen kennen, in denen zwei alternative Handlungs-
chologisch am leichtesten zu fassende Idee der Frei- möglichkeiten unseren Zwecken ebenso gut ent-
heit ist die Idee der physischen Freiheit: ›Ich kann tun, gegenkommen und es lediglich an unserer willkürli-
was ich will.‹ Für diese Art von Freiheit ist das Hinder- chen Wahlentscheidung zu liegen scheint, zu welcher
nis, das die Freiheit beschränkt oder nicht beschränkt, Seite sich die Waage neigt.
am unmittelbarsten greifbar. Bei der ›moralischen‹ Diese Daten sind, so Schopenhauer, ungeeignet,
Freiheit ist viel weniger evident, wo hier das ›Hinder- über Determinismus oder Indeterminismus zu ent-
nis‹ liegt. Ist Kausalität ein Hindernis? Kann ein Wol- scheiden. Die Kenntnis, die wir davon haben, dass wir
len dadurch, dass es durch Motive verursacht ist, ein- etwas wollen, verrät uns nichts über die Ursachen
geschränkt sein? Bereits an dieser Stelle kündigt sich (oder über die Ursachenlosigkeit) des Wollens. Und
an, dass Schopenhauer – ähnlich wie sein Vorgänger auch die beiden Überzeugungen, die wir regelmäßig
Hume – den Determinismus des Willens in der Preis- oder unter bestimmten Bedingungen über dieses
schrift zwar als einzig gangbare Option, aber nicht als Wollen haben, sind in dieser Hinsicht wenig ergiebig.
metaphysisches oder ethisches Desaster beschreibt. Die Überzeugung, tun zu können, was wir wollen,
Auch wenn dem Mensch Willensfreiheit aberkannt könnte, wenn sie wahr wäre, allenfalls etwas über das
werden muss, erfordert das keine dramatische Ände- Bestehen von Handlungsfreiheit, nicht aber über das
rung der menschlichen Praxis. Verantwortlichkeit, Bestehen von Willensfreiheit aussagen. Allerdings ist
Lob und Tadel, Belohnung und Strafe müssen nicht diese Überzeugung nicht selbstverifizierend. Dass wir
abgeschafft werden. Sie müssen lediglich auf eine neue diese Überzeugung üblicherweise haben, sagt nichts
Grundlage gestellt werden. darüber, ob sie zutrifft. Wir könnten uns über die Fä-
higkeit, unseren Willen im Handeln auszuführen,
auch täuschen. Auch die Überzeugung, dass wir in ty-
Innen- versus Außenperspektive
pischen ›Buridans Esel‹-Situationen völlig frei wählen
Angesichts der Tatsache, dass die Preisschrift als Gan- können, könnte eine Illusion sein. Das Selbstbewusst-
ze die von der Norwegischen Akademie gestellte Fra- sein zeigt uns stets nur das Ergebnis unserer Wahl,
ge beantworten will, macht Schopenhauer mit dieser nämlich die ausgeführte Handlung; es sagt nichts über
Frage erstaunlich kurzen Prozess. Seine Antwort ist die kausalen Prozesse, die zu dieser Handlung geführt
ein lapidares Nein: Das Selbstbewusstsein kann uns haben, oder über deren Abwesenheit.
nichts zu den Ursachen unseres Wollens sagen. Wenn Die Frage nach Determiniertheit und Indetermi-
es um Auskünfte über die kausalen Bedingungen un- niertheit des Willens durch vorhergehende Ursachen
seres Wollens geht, ist das Selbstbewusstsein schlicht lässt sich also nicht introspektiv entscheiden. Ent-
die falsche Instanz: »Da draußen liegt vor seinen [des scheiden lässt sie sich ausschließlich mittels Über-
Selbstbewusstseins; D. B.] Blicken große helle Klar- legungen, die sich auf die kausale Struktur der Welt
heit. Aber innen ist es finster, wie ein gut geschwärztes insgesamt beziehen. Dazu müssen wir uns nach Scho-
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 109

penhauer den Phänomenen der äußeren Welt zuwen- laufende Kausalketten schneiden und ein sich lo-
den – vorausgesetzt, dieser Weg ist für die Frage nach ckernder Dachziegel einem aus dem Haus tretenden
den kausalen Bedingungen von Willensregungen rele- Mann auf den Kopf fällt (vgl. G, 88; s. Kap. 4). Auch
vant. Dies ist nicht selbstverständlich, denn es ist ja wenn jedes einzelne der Ereignisse, die im Augenblick
nicht ausgemacht, dass etwaige zwischen Ereignissen des Unfalls zusammentreffen, in auf Naturgesetzen
der Außenwelt bestehende Kausalbeziehungen auch beruhende Kausalketten eingebettet ist, ist doch die
für psychische Vorgänge, wie es Willensregungen zeitliche Abfolge des Herunterfallens des Ziegels und
sind, gelten. des Heraustreten des Manns zufällig. Aber trotz seiner
Diese Voraussetzung ist nach Schopenhauer aller- Kritik an Kants These, dass der Determinismus eine
dings erfüllt. Für ihn steht fest, dass der Wille wie auch notwendige Bedingung für die Erkennbarkeit der Na-
alle übrigen psychischen Phänomene nicht nur an das turordnung sei, geht Schopenhauer weiterhin davon
Gehirn als Teil der physischen Welt gebunden sind, aus, dass Kausalität ein notwendiges Konstruktions-
sondern dass sie auch in einem bestimmten Sinn mit prinzip der erfahrbaren Welt und eine notwendige Be-
Gehirnprozessen identisch sind. In den Willensregun- dingung der Erkennbarkeit der Natur ist. Der Begriff
gen wie in allen anderen psychischen Phänomenen, eines absolut Zufälligen ist für ihn sogar nachgerade
derer wir uns im Selbstbewusstsein vergewissern kön- undenkbar, es handele sich um einen Begriff, bei dem
nen, manifestieren sich Gehirnprozesse. Was sich im »ganz eigentlich der Verstand stille steht« (E, 46).
Selbstbewusstsein zeigt, ist für Schopenhauer ledig- Die Quelle, aus der Schopenhauer seine Sicherheit
lich die »Innenansicht« eines Gehirnvorgangs. Des- über die durchgängige kausale Strukturiertheit der
halb ist das Gehirn als physiologisches Substrat des äußeren – und indirekt der inneren – Welt schöpft,
Bewusstseins auch an der kausalen Genese unseres bleibt an dieser Stelle offen. Zu vermuten ist, dass er sie
Willens beteiligt, und nicht nur als einer von mehre- aus seiner bereits in der Dissertation entwickelten
ren, sondern als der einzige Akteur. Entscheidend für kausalen Wahrnehmungstheorie bezieht, nach der die
die Frage der kausalen Bedingungen des Willens ist al- Erkenntnis äußerer Gegenstände einen (zumeist un-
lein, ob die den Willensphänomenen zugrunde lie- bewusst vollzogenen) Kausalschluss beinhaltet, mit-
genden Gehirnvorgänge kausal miteinander ver- tels dessen wir aus den uns gegebenen Empfindungen
knüpft sind. Falls die Naturphilosophie besagt, dass von äußeren Gegenständen auf deren Existenz und
alle Ereignisse in der Natur durch vorgängige Ursa- Beschaffenheit schließen (vgl. G, 52 f.). Diese Theorie
chen bedingt sind und durch diese erklärt werden kann allerdings, auch wenn sie zutreffen würde, die
können, muss dies auch für den menschlichen Willen universale kausale Bedingtheit der Erscheinungswelt
gelten. Anders als Kant annahm, kommt dem Men- kaum begründen. Dass zwischen den Gegenständen
schen in Schopenhauers Sicht keine metaphysische der Erkenntnis und der Erkenntnis notwendig eine
Sonderstellung zu. Er ist vielmehr ebenso Teil der Na- kausale Beziehung besteht, impliziert nicht, dass auch
tur wie die Tiere und die übrigen Lebewesen und den- zwischen den Gegenständen selbst notwendig eine
selben Naturgesetzen unterworfen. kausale Beziehung besteht.
Für Schopenhauer hat diese Überlegung die Kon- Das menschliche Wollen unterscheidet sich damit
sequenz, dass auch der menschliche Wille durch die in seiner Determiniertheit nicht von anderen Natur-
ihm jeweils vorhergehenden Ereignisse lückenlos de- vorgängen. Es unterscheidet sich jedoch in der Art
terminiert ist. Insofern ist Willensfreiheit eine schlich- und Weise der Determination. Es ist nicht nur durch
te Illusion. mechanische Ursachen und biologische Reize be-
Dass Schopenhauer diese Konsequenz zieht, könn- stimmt, sondern u. a. auch durch bewusste Wahrneh-
te allerdings zunächst überraschen. Denn in seiner mungen (»Motive«) und gedankliche Inhalte. Wäh-
Dissertation über den Satz vom Grund hatte er die Be- rend das Tier im Augenblick lebt und außer seinen In-
gründung, die Kant für die Unausweichlichkeit des stinkten allein der vom unmittelbar Gegebenen aus-
Determinismus (sowohl in der äußeren Natur als auch gehenden Kausalität unterworfen ist, bestimmt sich
im Bereich der Bewusstseinsphänomene) gegeben der Wille des Menschen u. a. nach gedanklichen Vor-
hatte, erfolgreich kritisiert: Eine zeitliche Aufeinan- stellungen wie Erinnerungen und nach gegenwarts-
derfolge von Erfahrungsinhalten ist sehr wohl zu den- übergreifenden und unanschaulichen Vorstellungen
ken ohne eine kausale Verknüpfung. Jeder kenne Bei- wie Grundsätzen und Maximen. Diese Möglichkeit,
spiele für zufällige Sukzessionen ohne gesetzmäßigen sich vom hic et nunc Gegebenen zu distanzieren,
Zusammenhang, etwa wenn sich zwei getrennt ver- macht das eigentlich Spezifische des Menschen aus.
110 II Werk

Wenn der Mensch über einen freien Willen verfügt, wir gewöhnlicherweise ausgehen, schlecht vereinbar.
dann nicht in Gestalt der absoluten Freiheit eines un- Die Voraussetzung des Determinismus, so Schopen-
verursachten Willens, sondern in Gestalt einer in die- hauer, »befolgt Jeder, so lange er nach außen blickt, es
sem Sinn »relativen Freiheit« (E, 35). mit Andern zu thun hat und praktische Zwecke ver-
folgt« (E, 41). Lediglich in Bezug auf die eigene Person
hängen wir an der Hypothese der Willensfreiheit.
Woher kommt der Glaube an die Willensfreiheit?
Wenn die Überzeugung von der Willensfreiheit eine 3) Fehldeutungen der inneren Erfahrung, insbesonde-
Illusion ist – das ist sie nach Schopenhauer –, stellt sich re der Erfahrung der Unentschlossenheit in Situatio-
die Frage, warum diese Illusion so weit verbreitet ist nen, in denen uns mehrere Möglichkeiten offenstehen
und warum sie sich nicht nur in den Köpfen von (vgl. E, 42), und des Konflikts zwischen zwei oder
Durchschnittsmenschen findet, sondern, wie Scho- mehreren unvereinbaren Motiven (vgl. E, 36). Beide
penhauer feststellt, auch unter »gebildeten, aber nicht Zustände werden nach Schopenhauer fehlgedeutet,
tief denkenden Leuten« (E, 35). Nach Schopenhauer wenn sie als Belege für einen unverursachten Willen
handelt es sich insofern um eine »natürliche« Illusion, verstanden werden. Solange die Unentschiedenheit
eine »natürliche Täuschung« (E, 25), die wie alle natür- anhält, betätigt sich der Wille nicht – allenfalls wird
lichen Phänomene eine Ursache haben muss. Scho- eine bestimmte Willensentscheidung vorgestellt oder
penhauer meint in der Tat, diese Ursachen angeben zu gedacht. Sobald er sich jedoch betätigt, haben wir
können, und seine Hypothesen dazu gehören nicht Grund, eine Ursache für die Entscheidung anzuneh-
nur zu den für ihn charakteristischsten, sondern auch men: im ersten Fall das Motiv, den Zustand der Un-
zu den interessantesten Partien seines Essays. entschiedenheit zu beenden, im zweiten Fall das aus
Nach Schopenhauer sind für die Entstehung und dem Kampf der Motive als Sieger hervorgehende stär-
Aufrechterhaltung der Freiheitsillusion im Wesentli- kere Motiv.
chen vier Faktoren verantwortlich:
4) Interessengetriebene Verfälschungen. In dieser Er-
1) Begriffliche Konfusionen, insbesondere die Ver- klärung zeigt sich eine für Schopenhauer insgesamt
wechslung der Willensfreiheit mit einer der beiden charakteristische ideologiekritische Stoßrichtung sei-
anderen von Schopenhauer unterschiedenen Arten ner Philosophie (vgl. Birnbacher 1996). In der Traditi-
von Freiheit, der Handlungsfreiheit und der dem on der »Priestertrugstheorien« der französischen
Menschen eigentümlichen »relativen Freiheit«. Das Aufklärer unterstellt Schopenhauer den philosophi-
unbefangene Denken unterscheidet nicht hinreichend schen und theologischen Apologeten der Willensfrei-
zwischen dem in der Regel zutreffenden Gedanken heit, dass sie diese als pia fraus bewusst in Umlauf set-
»Ich kann tun, was ich will« und dem in der Regel zen, und zwar zur höheren Ehre Gottes: »Wenn näm-
nicht zutreffenden Gedanken »Ich kann wollen, was lich eine schlechte Handlung aus der Natur, d. i. der
ich will«; und es neigt dazu, die Freiheit zur Distanzie- angeborenen Beschaffenheit, des Menschen ent-
rung vom hier und jetzt anschaulich Gegebenen (die springt, so liegt die Schuld offenbar am Urheber dieser
»relative Freiheit«) mit Willensfreiheit zu verwech- Natur. Deshalb hat man den freien Willen erfunden«
seln. Beide Male ist jedoch die Determination des (E, 72). Andernfalls müsste das gesamte von Men-
Willens nicht aufgehoben. Sie verläuft nur über einen schen wissentlich und willentlich verursachte mora-
komplizierten Umweg: Der die Kausalität vermitteln- lische und außermoralische Übel dem Schöpfer zur
de »Leitungsdraht« (E, 36) ist länger. Last gelegt werden.

2) Das Versäumnis, sich die wenig annehmbaren Kon-


»Innere Freiheit«: Der »erworbene Charakter«
sequenzen der Willensfreiheit klarzumachen, vor al-
lem die Konsequenz, dass jede menschliche Handlung Die von Schopenhauer im dritten Kapitel vorgestellte
ein »unerklärliches Wunder« (E, 45) wäre. Jede Hand- Charakterlehre – eine Weiterentwicklung der Charak-
lung wäre ein aus dem Augenblick heraus entstandenes terlehre des Hauptwerks (vgl. W I, 339 ff.) – hat eine
Ereignis, ohne Verbindung mit dem Charakter und ausgeprägt nativistische Tendenz: Der Charakter des
den überdauernden Motiven des Akteurs. Auch wäre Individuums sei von Geburt an konstant und unabän-
die Annahme der Willensfreiheit mit der weitgehen- derlich. »Empirisch« nennt ihn Schopenhauer deswe-
den Voraussehbarkeit der Reaktionen anderer, von der gen, weil wir und andere ihn erst durch den Vollzug des
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 111

Lebens kennenlernen. Erst im Laufe unseres Lebens er- sche, »transzendentale« Freiheit, die mit der Unfrei-
kennen wir, wie wir auf neue Situationen reagieren. heit des Menschen auf der Ebene der Handlungen zu-
Deshalb werden wir des Öfteren von uns selbst über- sammenbestehen können soll. Damit entspricht die
rascht – im Positiven wie im Negativen (vgl. E, 49). »höhere Ansicht«, die Schopenhauer im letzten Kapi-
Trotz der für ihn beanspruchten Unveränderlich- tel eröffnet, in gewisser Weise der kantischen Frei-
keit ist der empirische Charakter dennoch offen für heitsantinomie, allerdings mit dem Unterschied, dass
Korrekturen und Anpassungen. Indem das Individu- Schopenhauer eine echte Antinomie zu vermeiden
um seine ihm eigenen Motive und Verhaltensbereit- sucht. Bei Kant kommt es zu einer Antinomie durch
schaften kennenlernt, verschafft es sich einen be- das Zusammentreffen der theoretisch notwendigen
grenzten, aber deshalb um nichts weniger zu schät- Annahme universaler empirischer Kausalität mit der
zenden Raum innerer Autonomie. Da der Einzelne praktisch notwendigen Annahme von Willensfreiheit.
weiß, »was er sich zutrauen und zumuthen darf« (E, Schopenhauer geht zwar ebenso wie Kant von einer
50), vermag er die Ziele, die er sich zu erreichen vor- unaufhebbaren Spannung zwischen theoretischem
nimmt, seinen individuellen Möglichkeiten und Ge- Determinismus und praktischer Freiheitsüberzeu-
fährdungen anzupassen. Auf der individuellen Ebene gung aus, versucht diese Spannung aber mithilfe einer
wiederholt sich die dialektische Dynamik von Scho- Ebenenunterscheidung aufzulösen: Auf der Ebene der
penhauers Willensmetaphysik: »Der blinde Wille« des Handlung herrscht Determinismus, nicht aber auf der
empirischen Charakters wird sehend, indem er, seiner Ebene des Charakters. Während unsere Handlungen
selbst ansichtig, sich selbst transzendiert und sich auf durch unseren Charakter determiniert sind, ist der
höherer Stufe mit sich selbst versöhnt. In der Auffas- Charakter selbst frei gewählt.
sung von Selbsterkenntnis als Selbstbefreiung trifft Die Frage ist freilich, wie weit sich eine derartige
sich Schopenhauers Konzeption der inneren Freiheit »transzendentale Freiheit« konsistent denken lässt.
mit den Konzeptionen Spinozas und Freuds, dezidier- Wer ist das Subjekt dieser Charakterwahl? Offenbar
ten psychologischen Deterministen wie Schopenhau- kann dieses nicht mit dem empirischen Subjekt, das
er (vgl. Birnbacher 1993; s. Kap. 16; 31). Träger des einmal gewählten Charakters ist, identisch
sein. Im Rahmen von Schopenhauers Metaphysik
kann es nicht einmal individuell gedacht werden, da
Transzendentale Freiheit
lediglich das empirische Subjekt in der Zeitordnung
Mit der metaphysischen Lehre vom transzendentalen existiert, das »transzendentale Subjekt« aber unzeit-
Charakter weicht Schopenhauer ein gutes Stück weit lich sein soll, »außer aller Zeit« (E, 96). Letztlich muss
von der Grundlinie der Preisschrift und der auf die es mit dem metaphysischen Willen als überzeitlicher
Preisfrage gegebenen Antwort ab. Während uns der Entität zusammenfallen. Damit werden auf diese
introspektive Blick nach innen nach Schopenhauer Strukturen übertragen, die wir aus der christlichen
keine Hinweise auf das Ob und Wie der Verursachung Prädestinationslehre kennen: Der Wille »wählt« für
unserer Handlungen geben kann, soll er uns doch sehr jeden Menschen einen Charakter, so wie in der Prä-
wohl Hinweise auf das Ob und Wie der Verursachung destinationslehre Gott für jeden Menschen ein Le-
unseres Charakters geben können. Der Schlüssel dazu bensschicksal wählt. Allerdings kann diese Analogie
soll die Erfahrung der spontanen Selbstzuschreibung so nicht gelten: Von einem als personal gedachten
von Verantwortlichkeit sein. Während uns das Frei- Gott lassen sich Handlungen wie Wahlakte ohne be-
heitsbewusstsein in Bezug auf unsere Handlungen griffliche Probleme aussagen, nicht aber von einem
über die wahren Verhältnisse täuscht, weist uns das apersonalen Subjekt wie Schopenhauers metaphysi-
Gefühl der Verantwortlichkeit in Bezug auf den Cha- schen Willen.
rakter, aus dem sich unsere Handlungen notwendig
und unausweichlich ergeben, den richtigen Weg: »Ei-
Rezeption
ne Thatsache des Bewußtseins [...] ist das völlig deutli-
che und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit für Das Schopenhauers Versuch der Herleitung einer »trans-
was wir thun, der Zurechnungsfähigkeit für unsere zendentalen Freiheit« aus dem Faktum des Schuldbe-
Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen wusstseins ist bei späteren Denkern nicht nur auf Ab-
Gewißheit, daß wir selbst die Thäter unserer Thaten lehnung, sondern teilweise auch auf Anerkennung ge-
sind« (E, 93). Das Gefühl der Verantwortlichkeit ist stoßen – im Sinne der Anerkennung einer letzten und
für Schopenhauer ein Hinweis auf eine überempiri- unaufhebbaren Dialektik zwischen dem Determinis-
112 II Werk

mus des naturwissenschaftlichen Weltbilds und der Indem wir sie verstehen, erfahren wir aber zugleich et-
Unleugbarkeit der Überzeugung eines ›Ich hätte an- was über ihre Bedingtheit (vgl. Bieri 2001, 295 ff.).
ders handeln können‹. In diesem Sinn hat sich etwa Auch wenn wir auf diese Weise die Reihe der Ursa-
Johannes Volkelt mit Bezug auf Kant und Schopen- chen, die unserem Wollen zugrunde liegen, nicht im
hauer geäußert: Einzelnen erfassen, verfügen wir damit doch über ei-
nen Anhaltspunkt dafür, dass unser Wollen durch
»Besonders [...] erblicke ich ein Verdienst beider darin, übergreifende Zwecksetzungen, Planungen und Mo-
dass sie die Freiheit, zu deren Annahme sie durch das tivzusammenhänge bedingt ist.
Verantwortlichkeitsgefühl getrieben werden, nicht Eine gewisse Bestätigung hat Schopenhauers Sicht
nach der üblichen Verhüllungs- und Abschwächungs- des Willensfreiheitsproblems insbesondere durch die
methode als notwendige Entwicklung aus inneren Trie- einschlägigen Beiträge der neueren Neurophilosophie
ben und Bedingungen heraus, nicht als ein innerlich erfahren (vgl. Walter 1998; s. Kap. 43). Eine Reihe von
notwendiges Wollen aus Einsicht und Selbstbewusst- neuropsychologischen Experimenten haben bestätigt,
sein ansehen, sondern dass sie den Mut des Irrationa- dass scheinbar spontane Willensentscheidungen zu
lismus besitzen und Verantwortung und Moralität nur Körperbewegungen bereits einige Zeit vor dem be-
auf Grundlage einer Freiheit, die ganz ernsthaft das wussten Willensakt im Gehirn vorbereitet werden, der
Freisein von aller Notwendigkeit, auch von innerer Ge- Willensakt also nur ein Durchgangspunkt eines Pro-
bundenheit bedeutet, für möglich halten. Freilich be- zesses ist, der mit neuronalen Ereignissen beginnt und
treten sie dadurch den Boden des transzendenten Ge- in anderen neuronalen Ereignissen terminiert, die ih-
heimnisses« (Volkelt 1900, 332 f.). rerseits Körperbewegungen auslösen (vgl. Libet 1983;
Haggard/Eimer 1999). Damit ist keineswegs gezeigt,
Analytischer gesonnene Kommentatoren waren aller- dass der Mensch in jeder Hinsicht unfrei und für sein
dings weniger bereit, Schopenhauer derartige »Irra- Handeln nicht verantwortlich ist – vor einem derarti-
tionalismen« zuzugestehen und haben viele seiner gen Kurzschluss kann gerade Schopenhauers differen-
Annahmen als allzu dogmatisch kritisiert, insbeson- zierte Diskussion bewahren. Solange der Mensch über
dere seinen Anspruch, über einen Beweis für die uni- die »relative Freiheit« verfügt, sein Verhalten durch
versale kausale Determiniertheit aller Ereignisse (ein- Überlegung und insbesondere durch Klugheits-, mo-
schließlich der Willensereignisse) zu verfügen (vgl. et- ralische oder strafrechtliche Normen zu steuern, bleibt
wa Vollmer 1987, 173). es ganz unabhängig von der Frage nach Determiniert-
Insgesamt sehr viel positiver sind seine begriff- heit oder Indeterminiertheit des Willens sinnvoll, ihm
lichen Unterscheidungen und seine phänomenologi- Verantwortung für sein Handeln zuzuschreiben (vgl.
sche Analyse des subjektiven Freiheitsbewusstseins E, 99). Leugnung von Willensfreiheit bedeutet nicht
aufgenommen worden (vgl. z. B. Gehlen 1965). Es die Leugnung der für das Sprachspiel der Zuweisung
sind allerdings auch Zweifel an der Vollständigkeit sei- von Verantwortlichkeit notwendigen, aber auch aus-
ner Analyse des introspektiven Zugangs zur Willens- reichenden »Ellbogenfreiheit« (Dennett 1986).
freiheit angemeldet worden (vgl. Voigt 1966, 75; Birn- Andere in der neueren Neurophilosophie intensiv
bacher 2010, 483 f.). Offensichtlich unterschätzt Scho- diskutierte Befunde werfen aus heutiger Sicht die Fra-
penhauer das Ausmaß, in dem bereits der Blick nach ge auf, ob Schopenhauers Antwort auf die Preisfrage
innen uns nicht nur Aufschlüsse über die Faktizität der Norwegischen Akademie bei aller Entschiedenheit
unseres Wollens, sondern auch über deren kausale entschieden genug war. Denn zwar bezweifelt Scho-
Einbettung vermittelt. Unsere Willensregungen sind penhauer, dass uns das Selbstbewusstsein Aufschlüsse
in der Mehrzahl nicht aus dem Augenblick entsprun- über die Ursachen unserer Willensregungen geben
gen, sondern ordnen sich als Glieder einer Kette in kann. Er zweifelt aber nicht daran, dass es uns Aus-
übergreifende Zwecksetzungen und Handlungsstrate- kunft über die kausalen Beziehungen zwischen Wil-
gien ein. Was wir wollen, geht zu einem großen Teil lensregungen und Körperbewegungen geben kann.
auf Überlegungen, Gründe und Motive zurück, die, Auch wenn uns das Selbstbewusstsein nicht sagen
weil sie zu Routinen oder Automatismen geworden kann, woher unsere Willensregungen kommen, soll es
sind, uns nicht mehr als solche bewusst werden. Kraft uns doch zumindest sagen können, wohin sie führen,
dieser Einbettung in umfassendere motivationale Zu- nämlich zu Handlungen in Gestalt von Körperbewe-
sammenhänge finden wir unsere Willensregungen gungen: »Die Abhängigkeit unsers Thuns, d. h. unserer
überwiegend nicht einfach vor, sondern verstehen sie. körperlicher Aktionen, von unserm Willen, [wird
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 113

durch] das Selbstbewußtsein allerdings aus[ge]sagt« ments. In: Experimental Brain Research 126 (1999), 128–
(E, 16). Hinsichtlich der Kausalität des Bewusstseins 133.
auf Körperbewegungen bei (äußeren) Handlungen Libet, Benjamin u. a.: Time of Conscious Intention to Act in
Relation to Onset of Cerebral Activities (Readiness-poten-
hält Schopenhauer das Selbstbewusstsein als Erkennt- tial); the Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act.
nisquelle für mehr oder weniger untrüglich. Aller- In: Brain 106 (1983), 623–642.
dings passt dieses Vertrauen nur wenig zu Schopen- Voigt, Hans: Zur Preisschrift über die Freiheit des Willens.
hauers ansonsten bewiesener Skepsis hinsichtlich der In: Schopenhauer-Jahrbuch 47 (1966), 72–84.
Auskünfte des Selbstbewusstseins. Zusätzlich passt es Volkelt, Johannes: Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine
Lehre, sein Glaube. Stuttgart 1900.
nur wenig zu seiner ansonsten sorgfältig beachteten
Vollmer, Gerhard: Schopenhauer als Determinist. In: Volker
Unterscheidung zwischen Sukzession und Kausalität. Spierling (Hg.): Schopenhauer im Denken der Gegenwart.
Das Selbstbewusstsein lässt uns lediglich erkennen, 25 Beiträge zu seiner Aktualität. München 1987, 165–178.
dass zwischen bewussten Willensregungen und Kör- Walter, Henrik: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von
perbewegungen (als Vorgänge verstanden) eine Bezie- libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Auto-
hung der regelmäßigen Aufeinanderfolge besteht, dass nomie. Paderborn 1998.
also immer dann, wenn wir den Arm heben wollen, Dieter Birnbacher
der Arm tatsächlich hochgeht. Diese Korrelation ist je-
doch kein schlüssiges Indiz für eine kausale Bezie-
hung. Wie Schopenhauer selbst in seiner Kritik an
Kants Argumenten für eine universale Kausalität ge- 8.2 »Preisschrift über die Grundlage der
zeigt hatte, lässt sich aus dem post hoc einer regel- Moral«
mäßigen Abfolge nicht ohne weitere Voraussetzungen
auf das propter hoc einer Verursachungsbeziehung Schopenhauers »Preisschrift über die Grundlage der
schließen. Eine regelmäßige Aufeinanderfolge kann Moral« ist wie die »Preisschrift zur Freiheit des Wil-
auch so aufgefasst werden, dass beide Phänomene, die lens« die Einsendung (wiederum die einzige) zu ei-
bewusste Willensregung wie die Körperbewegung, nem Wettbewerb, diesmal der Königlich Dänischen
zeitlich versetzte Folgen einer gemeinsamen dritten Sozietät der Wissenschaften, wurde anders als die ers-
Ursache sind – eine Auffassung, die auch mit Schopen- te allerdings des Preises nicht für würdig befunden.
hauers ausdrücklicher Ablehnung einer Kausalbezie- Zur Begründung führte die Akademie mehrere Grün-
hung zwischen Willensakt und leiblicher Aktion (vgl. de an, vor allem, dass der Einsender dem Zusammen-
G, 79, 145; W II, 42) besser harmoniert. hang zwischen Moralprinzip und Metaphysik zu we-
nig Raum gegeben habe, aber auch, dass er mit den
Literatur darin enthaltenen Ausfälligkeiten gegen »mehrere
Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung hervorragende Philosophen der Neuzeit« (gedacht ist
des eigenen Willens. München 2001. wohl vor allem an Hegel) Anstoß errege. Möglicher-
Birnbacher, Dieter: Freiheit durch Selbsterkenntnis: Spinoza
– Schopenhauer – Freud. In: Schopenhauer-Jahrbuch 74
weise hatte die dänische Akademie aber auch nicht ak-
(1993), 87–102. zeptieren wollen, dass Schopenhauer in seiner Ant-
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer als Ideologiekritiker. In: wort eine wesentliche Voraussetzung der von ihr 1837
Ders. (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegen- gestellten Preisfrage geleugnet hatte. Die Preisfrage
wart. Würzburg 1996, 45–58. hatte gelautet, ob die Grundlage der Moral »in einer
Birnbacher, Dieter: Arthur Schopenhauer – Freiheit und
unmittelbar im Bewusstsein liegenden Idee der Mora-
Unfreiheit des Willens. In: Ansgar Beckermann/Dominik
Perler (Hg.): Klassiker der Philosophie heute. Stuttgart lität« oder »in einem andern Erkennißgrunde« zu se-
22010, 478–496. hen sei. Schopenhauer bestreitet, dass es diesen von
Dennett, Daniel C.: Ellenbogenfreiheit. Die wünschenswerten der Akademie vorausgesetzten »Erkenntnisgrund«
Formen von freiem Willen. Meisenheim 1986. gibt oder geben kann.
Ebeling, Hans: Schopenhauers Theorie der Freiheit. In: Die »Preisschrift zur Grundlage der Moral« ist die
Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des
Willens. Hg. von Hans Ebeling. Hamburg 1978, VII–XXII.
erste und wichtigste Quelle für das geworden, was man
Gehlen, Arnold: Theorie der Willensfreiheit. In: Ders.: Theo- herkömmlich Schopenhauers »Mitleidsethik« nennt.
rie der Willensfreiheit und frühe philosophische Schriften. Zwar findet sich der Kernsatz »Alle Liebe [...] ist Mit-
Neuwied 1965, 54–238. leid« (W I, 443) auch bereits im vierten Buch von Die
Haggard, Patrick/Eimer, Martin: On the Relation Between Welt als Wille und Vorstellung, aber dort lediglich im
Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Move-
Rahmen eines Exkurses – Schopenhauer spricht von
114 II Werk

»Abschweifung« (W I, 446) –, der die Idee der Mit- lichkeit einer »imperativischen« oder im engeren Sinn
leidsethik entwirft, aber nicht ausbuchstabiert. Die normativen Ethik, die bestimmte – begründete – For-
Preisschrift führt diese Idee nicht nur näher aus, sie derungen an das menschliche Handeln stellt; zweitens
zieht aus ihr auch eine Reihe für die individuelle wie in der These der Unmöglichkeit des Bestehens einer
die gesellschaftliche Praxis bedeutsame Konsequen- wie immer gearteten objektiv gültigen Instanz, in deren
zen. Veröffentlicht hat Schopenhauer die Schrift zu- Autorität diese Forderungen fundiert sein könnten.
sammen mit der »Preisschrift über die Freiheit des Nach der ersten These übersteigt es die Grenzen der
Willens« in erster Auflage 1841, in zweiter, mit einer Philosophie, ein normatives Prinzip wie den kanti-
neuen Vorrede und Ergänzungen versehenen Auflage schen kategorischen Imperativ aufzustellen und damit
im Todesjahr 1860 unter dem zusammenfassenden Ti- zu beanspruchen, dem Menschen ein Pflichtprinzip
tel Die beiden Grundprobleme der Ethik. In der Tat sind vorzugeben, das ihm verbindlich sagt, wie er sich zu
die beiden Schriften in formaler Hinsicht eng mit- verhalten hat. Jedes solche Prinzip wäre eine auf Selbst-
einander ›verschwistert‹. Auch die zweite Preisschrift überschätzung beruhende Anmaßung. Nach der zwei-
bedient sich einer »analytischen« Methode (E, 110), ten erliegt die Ethik einer schlichten Illusion, wenn sie
die ihren Ausgang von gängigen Begriffen, Vorstellun- sich bei der Begründung ihrer Imperative auf ein ver-
gen und Erfahrungen nimmt. Wie die erste hält sie sich meintliches »Sittengesetz« beruft, das vergleichbar den
mit metaphysischen Postulaten zurück und zieht erst Naturgesetzen unabhängig vom menschlichen Wollen
in einer Art Anhang (Kap. IV) Verbindungslinien zwi- besteht und diesem als objektiv vorgegebene Autorität
schen Mitleidsethik und Willensmetaphysik. Gleich- dienen kann. Eine solche Autorität gibt es für Schopen-
zeitig fallen zwei signifikante Unterschiede auf. Erstens hauer nicht. Auch die von Kant zu diesem Zweck ein-
ist sie deutlicher als die erste konstruktiv angelegt. Aus gesetzte praktische Vernunft kann nach Schopenhauer
der Kritik an vorherrschenden Anschauungen ent- diese Aufgabe nicht erfüllen. So wenig es ein objektiv
wickelt sie weitergehend als die Preisschrift zur Wil- existierendes moralisches Gesetz gibt, so wenig ist des-
lensfreiheit eine eigenständige Theorie. Zweitens kon- sen Inhalt a priori, d. h. mit den Mitteln der reinen Ver-
zentriert sie ihre Kritik nahezu ausschließlich (bis auf nunft einsehbar. Die Vernunft könne – hier folgt Scho-
einen Exkurs zu Fichte, vgl. E, 179 ff.) auf eine einzige penhauer Hume – stets nur hypothetische Imperative
philosophische Konzeption, die Moralphilosophie begründen, also für gegebene Zwecke die geeigneten
Kants. Schopenhauer hat dafür vor allem zwei Gründe: Mittel aufzeigen, nicht aber zwischen mehreren ver-
Ihn stört, dass man sich »seit mehr als einem halben schiedenen Zwecken eine begründete Auswahl treffen.
Jahrhundert« auf dem »bequemen Ruhepolster« der Von Schopenhauers Argumenten für diese Unmög-
kantischen Ethik ausgeruht habe, ohne, wie es seiner lichkeitsthesen (zur kritischen Würdigung im Einzel-
Ansicht nach erfordert wäre, deren Grundlagen zu nen vgl. Hallich 2006) verdienen vor allem zwei her-
hinterfragen (E, 115). Andererseits ist Schopenhauer vorgehoben zu werden, die auch in der Ethik der Ge-
davon überzeugt, dass die Ethik Kants – bei aller Wert- genwart eine Schlüsselrolle gespielt haben. Das erste ist
schätzung von dessen theoretischer Philosophie – so- das Argument, dass die Begriffe »Sollen«, »Gesetz«,
wohl in den Grundlagen wie in der konkreten Ausfüh- »Gebot«, »Pflicht« usw. aus der theologischen Ethik
rung unrettbar verfehlt, wenn nicht gar eine »intellek- stammen und von daher Hintergrundüberzeugungen
tuelle Katastrophe« (Cartwright 1999, 254) ist, die über das Bestehen eines göttlichen Gesetzgebers oder
dringend danach verlangt, ihr ein radikal anderes Mo- einer vergleichbaren normativen Instanz voraussetzen,
dell von Ethik und Moral entgegenzusetzen. Die Kritik die spätestens seit der Aufklärung nicht mehr von allen,
an der Ethik Kants ist der sich durchhaltende cantus an die sich die entsprechenden Sollensnormen richten,
firmus dieser Preisschrift. Die einzelnen Punkte, an de- geteilt werden (vgl. E, 120). Mit einer ähnlichen These
nen Schopenhauer von Kant abweicht, liefern, was die ist später G. E. M. Anscombe bekannt geworden (vgl.
Darstellung ihres Inhalts betrifft, das naheliegendste Anscombe 1958). Schopenhauer geht davon aus, dass
Gliederungsprinzip. diese Begriffe gar nicht sinnvoll und verständlich sind
außerhalb eines objektivistischen Denkrahmens, nach
dem normative Forderungen in irgendeiner Form von
Jenseits der Sollensethik
außermenschlicher Realität verankert sind. Zwar hatte
Schopenhauers grundlegende Abkehr von Kants prak- Kant versucht, die menschliche Vernunft – unter dem
tischer Philosophie zeigt sich in zwei zentralen metae- Titel »praktische Vernunft« – ersatzweise mit dieser
thischen Thesen: erstens in der These von der Unmög- Funktion zu betrauen. Aber damit hatte er Schopen-
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 115

hauer zufolge die Möglichkeiten der Vernunft weit gen oder Imperative aufzustellen, könne sie stets nur –
überschätzt. Wie Schopenhauer im weiteren Verlauf im Sinne der empirischen Ethik des 18. Jahrhunderts
der Preisschrift im Einzelnen zeigt, gelingt es Kant des- (Smith, Hutcheson, Hume) – das tatsächliche mora-
halb in der Durchführung seiner Ethik auch nicht, lische Bewusstsein rekonstruieren. Entsprechend ver-
nachzuweisen, dass das Zuwiderhandeln gegen das schiebt sich die Bedeutung, in der bei Schopenhauer
von ihm aufgestellte »Sittengesetz« in irgendeiner Wei- von einer »Begründung« der Moral die Rede ist. Die
se selbstwidersprüchlich oder in anderer Weise ver- Frage nach der »Begründung« der Moral ist nicht
nunftwidrig und deshalb moralisch unzulässig ist. mehr die Frage nach der Begründung der Gültigkeit
Zielscheibe der Kritik ist vor allem Kants Postulat, dass oder der Wahrheit bestimmter moralischer Forderun-
bei den Rechtspflichten (den vollkommenen Pflichten) gen, sondern die nach der psychologischen Grundlage
es unmöglich sei, eine ihnen entgegengesetzte Maxime der Befolgung dieser Forderungen, die Frage nach der
nicht nur verallgemeinert wollen, sondern sogar verall- moralischen Motivation. Nicht um die Berechtigung
gemeinert denken zu können. Eine allgemeine Unge- oder Nicht-Berechtigung von Geltungsansprüchen
rechtigkeit sei alles andere als undenkbar, sie sei »ei- geht es bei dieser »Begründung«, sondern um den
gentlich das wirklich und faktisch in der Natur herr- Aufweis der der moralischen Motivation zugrundelie-
schende Gesetz [...], nicht etwan nur in der Thierwelt, genden psychischen Kräfte (vgl. E, 195).
sondern auch in der Menschenwelt« (E, 159). Ein zwei- Die Lösung dieser selbstgesetzten Aufgabe erleich-
tes vielfach wiederaufgegriffenes Argument, mit dem tert sich Schopenhauer dadurch, dass er die inhalt-
Schopenhauer die Idee einer »imperativischen« Ethik liche Komplexität der geltenden Moral holzschnitt-
ablehnt, ist, dass normative Forderungen immer nur in artig auf nicht mehr als zwei Prinzipien reduziert, von
Beziehung auf Sanktionen verstanden werden können. denen das erste in allen Fällen Vorrang vor dem letzte-
Sie können deshalb ein bestimmtes Verhalten lediglich ren haben soll: das Prinzip der »Gerechtigkeit«: »ne-
in Hinblick auf bestimmte Zwecke fordern, die der Ad- minem laede« (Verletze niemanden) und das Prinzip
ressat der Forderung verfolgt. Dadurch appellieren sie der »Menschenliebe«: »omnes, quantum potes, iuva«
jedoch letztlich an das Interesse des jeweiligen Adres- (Hilf allen, soweit du kannst). Von diesen beiden Prin-
saten an der Verwirklichung seiner wie immer gearte- zipien meint Schopenhauer nicht nur, dass sie so »all-
ten Zwecke. Das Motiv zu ihrer Befolgung ist bloße gemein anerkannt« seien, dass sie keiner besonderen
Klugheit, eine egoistische Motivation. Damit sei ihre Diskussion bedürften, er lässt auch erkennen, dass er
Befolgung gerade nicht der Moral gemäß, denn diese – weit entfernt davon, sich als Moralpsychologe in ei-
verlange ein selbstloses Motiv: »Eine gebietende Stim- ne reine Beobachterposition zu begeben – diese Prin-
me, sie mag nun von Innen, oder von Außen kommen, zipien voll und ganz teilt. In der Tat macht er sie sich
ist es schlechterdings unmöglich, sich anders, als dro- so weit zu eigen, dass er wichtige Teilstücke seiner
hend, oder versprechend zu denken: Dann aber wird praktischen Ethik, etwa seine Ethik des Umgangs mit
der Gehorsam gegen sie zwar, nach Umständen, klug Tieren, unmittelbar auf diese Prinzipien gründet.
oder dumm, jedoch stets eigennützig, mithin ohne mo- Mit der These, dass der Kern der Moral in den bei-
ralischen Werth sein« (E, 123). An dieser Stelle zeigt den altruistischen Prinzipien der Gerechtigkeit und
sich bereits, dass Schopenhauer – wie Kant – gesin- der Menschenliebe zu sehen ist, widerspricht Scho-
nungsethisch denkt: Kennzeichnend für das spezifisch penhauer einem weiteren charakteristischen Zug der
Moralische der Moral ist nicht die faktische Befolgung kantischen Ethik: dem Primat der selbstbezogenen
von Geboten, sondern die Motivation, aus denen diese Pflichten. Pflichten sind für Kant letztlich sämtlich
Befolgung entspringt. Während dieses genuin mora- »Pflichten gegen sich selbst«, insofern sie gegenüber
lische Motiv für Kant das Pflichtbewusstsein war (das der praktischen Vernunft bestehen, die jeder Mensch
Tun der Pflicht »aus Pflicht«), ist es bei Schopenhauer in sich selbst vorfindet. Die göttliche Autorität der
das Motiv der Selbstlosigkeit, des Altruismus (des theologischen Ethik wird bei Kant gewissermaßen –
»Mitleids«). unter dem Namen »Würde« – ins Innere des Men-
schen verlegt. Für Schopenhauer stellt Kant damit die
wirklichen Verhältnisse auf den Kopf: In Wirklichkeit
Ethik als moralische Anthropologie
richten sich alle moralischen Pflichten auf andere, und
Schopenhauer zieht aus dieser Kritik die radikale Kon- weder eine Pflicht zur Selbsterhaltung (mit der Kon-
sequenz, dass eine Ethik niemals normativ, sondern al- sequenz eines Verbots der Selbsttötung) noch ein
lein deskriptiv verfahren könne. Statt Sollensforderun- »Verbot widernatürlicher Wollust«, also von Onanie,
116 II Werk

Päderastie und Sodomie haben Bestand. Pflichten ge- res Eigentums und ihres guten Rufs, anderseits durch
gen sich selbst könne es schon deshalb nicht geben, die Leistung von Hilfe und Unterstützung bei Bedürf-
weil sich diese weder als Rechtspflichten noch als tigkeit und in Notlagen. In seiner anderen Bedeutung
Liebespflichten begründen lassen. Rechtspflichten bezeichnet »Altruismus« das Motiv, aus dem diese
(Pflichten, denen Rechte gegenüberstehen) können Normen befolgt werden, sei es im Sinn einer länger-
sie nicht sein, da wir uns selbst kein Unrecht tun kön- fristigen Einstellung und Handlungsbereitschaft, sei
nen. Unrecht setzt stets Unfreiwilligkeit voraus. Wenn es im Sinn einer akuten Emotion. Schopenhauer ist
wir uns selbst schaden oder mit unserem Leben leicht- sich sicher – erstaunlich sicher –, dass es diese Form
sinnig umgehen, tun wir das jedoch in der Regel frei- von Altruismus ist, die die Moral im Kern ausmacht.
willig. Liebespflichten (unvollkommene Pflichten, de- Wie Kant ist auch Schopenhauer bedeutend mehr an
nen keine Rechte gegenüber stehen) können sie eben- den Motiven – an den Gesinnungen – interessiert als
so wenig sein, da ein moralisches Gebot der Selbstlie- an ihren äußeren Manifestationen: Als eigentlich
be widersinnig wäre. Die Moral soll die Selbstliebe »moralisch« soll nur dasjenige Handeln gelten kön-
gerade einschränken. Außerdem seien wir von Natur nen, das sich – ausschließlich oder zu wesentlichen
aus bereits so durchgehend egoistisch motiviert, dass Anteilen – genuin altruistischen Motiven verdankt,
eine Forderung, uns noch mehr zu lieben, als wir uns d. h. Motiven, die unmittelbar oder mittelbar auf das
ohnehin lieben, ins Leere liefe. Wohl anderer zielen statt auf das eigene Wohl.
Noch in zwei weiteren Punkten widerspricht Scho- Implizit verwendet Schopenhauer zwei Kriterien,
penhauer ausdrücklich und emphatisch Thesen, die um das gesuchte moralische Motiv von anderen Moti-
Kant seinerseits mit einem besonderen Pathos vertre- ven (mit denen es zumeist in einem gewissen Maße
ten hatte: die Selbstzweckhaftigheit des Menschen vermischt ist) zu unterscheiden: (1) Es muss intrin-
(»Menschenwürde«) und das apodiktische Lügenver- sisch gut sein; (2) Es muss unter Realbedingungen
bot. »Selbstzweck« und »Menschenwürde« sind in motivierende Kraft haben. Das erste Kriterium ent-
Schopenhauers Augen das, was sie auch für viele spä- spricht Kants Kriterium des »unbedingt Guten«, das
tere Skeptiker gewesen sind: »Leerformeln«, die es er- für Kant ausschließlich der »gute Wille« erfüllt – das
lauben, mehr oder weniger beliebige Wertungen mit Motiv, das Gute um seiner selbst willen zu tun. Und
dem Nimbus eines unangreifbaren Tabus zu umgeben wie Kant ist Schopenhauer zutiefst skeptisch, was den
(vgl. W I, 412; Birnbacher 2013; Brandhorst 2013). Anteil der äußerlich moralisch richtigen Handlungen
Den Menschen, wie Kant es tut, als »Selbstzweck« zu betrifft, die durch genuin moralische Motive bedingt
bezeichnen, sei nicht nur ungrammatisch und sogar sind. Es wäre ein »großer und jugendlicher Irrthum«
ein »Ungedanke« (E, 161), sondern werde insbeson- zu meinen, dass »alle gerechten und legalen Handlun-
dere auch den leidensfähigen Tieren nicht gerecht, die gen der Menschen moralischen Ursprungs wären« (E,
nach Kant eben deshalb, weil sie keine Selbstzwecke 187). Sehr viel häufiger spielen die Einhaltung der »ge-
sind, bloße Mittel zum Nutzen des Menschen sein sol- setzlichen Ordnung« und die »erkannte Nothwendig-
len. Auch gegenüber der Lüge ist Schopenhauer sehr keit des guten Namens« die Hauptrolle (ebd.). Diese
viel lässlicher als Kant (vgl. J.-C. Wolf 1988). Jeder ha- Motive können allerdings nicht als intrinsisch gut gel-
be sogar ein »Recht zur Lüge« (E, 222), wenn er sich ten. Sie sind pervertierbar und können – je nachdem,
nicht anders gegen die Neugier oder Zudringlichkeit was Gesetze und Konventionen vorschreiben – zum
anderer wehren kann: Ich bin nicht verpflichtet, dem, genauen Gegenteil von Moral verleiten. Soweit folgt
»der unbefugt in meine Privatverhältnisse späht, Rede Schopenhauer Kant, aber nicht weiter. In seinen Au-
zu stehen« (E, 223). gen kann das von Kant formulierte »Sittengesetz«, der
Schopenhauers Rekonstruktion der Moral verbin- kategorische Imperativ, zwar das erste, nicht aber das
det in gewisser Weise die beiden wohlunterschiede- zweite Kriterium einlösen. Es ist zu abstrakt und – als
nen Bedeutungen, in denen – mit einem von Comte a priori, d. h. mithilfe der reinen Vernunft einzusehen-
eingeführten Begriff – von »Altruismus« gesprochen de Wahrheit – zu rationalistisch, um psychologisch
werden kann: Als Norm entspricht Altruismus den wirksam zu sein. Kants Behauptung, dass es mittels
beiden Prinzipien der Nichtschädigung (»Gerechtig- des Gefühls der Achtung verhaltenswirksam werden
keit«) und der Fürsorge (»Menschenliebe«). Diesen kann, ist aus Schopenhauers Sicht weltfremd:
Prinzipien genügt man durch ein entsprechendes Ver-
halten – einerseits durch die Respektierung ihres Le- »Die moralische Triebfeder muss schlechterdings, wie
bens, ihrer körperlichen Integrität, ihrer Freiheit, ih- jedes den Willen bewegende Motiv, eine sich von selbst
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 117

ankündigende, deshalb positiv wirkende, folglich reale [...] geht in edlen Gemüthern die Maxime neminem
seyn; [...] muß die moralische Triebfeder [...] von selbst laede hervor« (E, 214). Zweitens ist »Mitleid« nicht ge-
auf uns eindringen, und dies mit solcher Gewalt, daß bunden an die anschauliche Gegebenheit fremden Lei-
sie die entgegenstehenden, riesenstarken, egoisti- dens (vgl. Birnbacher 2006). »Mitleid« richtet sich
schen Motive wenigstens möglicherweise überwinden auch auf entferntes und lediglich gewusstes Leiden.
kann. Denn die Moral hat es mit dem wirklichen Han- Anders als der Ausdruck »Mitleidsethik« nahelegt,
deln und nicht mit apriorischem Kartenhäuserbau zu stuft diese Ethik nicht nach Dimensionen ab, nach de-
thun, an dessen Ergebnisse sich im Ernste und Drange nen das üblicherweise sogenannte Gefühl abstuft: An-
des Lebens kein Mensch kehren würde« (E, 143). schaulichkeit und Unanschaulichkeit, raumzeitliche
Nähe und Ferne, psychische und soziale Distanz.
Als intrinsisch gutes und zugleich wirksames Motiv »Mitleid« geht insofern bei Schopenhauer über in das,
kommt für Schopenhauer nur eins in Frage: das was er »Herzensgüte« nennt, das »universelle Mitleid
Mitleid. mit Allem was Leben hat, zunächst aber mit dem
Menschen« (E, 253). Dafür, dass die Dimension der
Anschaulichkeit für Schopenhauer beim Mitleid kei-
Was heißt »Mitleid«?
ne entscheidende Rolle spielt, spricht vor allem, dass
Auch wenn sie keine Imperative aufstellt, verzichtet er bereits bei der ersten Einführung des Begriffs in der
Schopenhauers Ethik nicht darauf, menschliches Preisschrift neben der Aufhebung des Leidens eines
Handeln zu bewerten. Wenn Schopenhauer behaup- anderen auch die Verhinderung des Leidens eines an-
tet, dass Mitleid als Motiv das einzige ist, was Hand- deren nennt. Mitleid sei über die Anteilnahme am Lei-
lungen einen moralischen Wert verleiht (vgl. E, 227), den eines anderen hinaus auch die Anteilnahme an
ist diese Redeweise von »moralischem Wert« keines- der »Verhinderung [...] dieses Leidens« (E, 208). Mit-
wegs in einem bloß beschreibenden Sinn, als eine mo- leid bezieht sich demnach nicht nur auf das anschau-
ralsoziologische These, sondern durchaus im Sinne ei- lich gegebene und bereits eingetretene Leiden, son-
ner Bewertung zu verstehen. Schopenhauer stellt da- dern auch auf das lediglich mögliche und gedachte
bei insbesondere Handlungen (wie die Befreiung der Leiden anderer.
Sklaven, vgl. E, 230) als moralisch verdienstvoll he- Wie Schopenhauer in der »Preisschrift über die
raus, die nicht nur in hohem Maße Gutes bewirken, Freiheit des Willens« der Willensfreiheit unter dem
sondern zugleich auch über die zu ihrer Zeit geltenden Namen »transzendentale Freiheit« am Ende eine me-
Moralnormen hinausgehen, also gewissermaßen mo- taphysische Fundierung zu geben versucht, versucht er
ralische Pionierleistungen darstellen. in dieser Preisschrift dem Mitleid eine Erklärung im
Was ist bei Schopenhauer mit »Mitleid« gemeint? Rahmen der Willensmetaphysik zu geben, indem er es
Dieser Begriff wird – ähnlich wie Schopenhauers Be- als einen Akt der Identifikation des Mitleidenden mit
griff des »Willens« – leicht missverstanden. Zunächst dem Bemitleideten auffasst, mit dem die Grenzen des
ist klar, dass »Mitleid« mehr ist als das, was die All- principium individuationis – die Trennung der Indivi-
tagssprache zumeist als solches bezeichnet – der Zu- duen in Raum und Zeit – überwunden werden. Mit-
stand gefühlsmäßiger Anteilnahme an fremdem Leid. leid setzt voraus, »daß ich bei seinem Wehe als solchem
Es ist eher ein bestimmtes Motiv, d. h. eine auf ein geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur mei-
Handeln bezogene Willensrichtung. Es hat über die nes, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst
kognitive und affektive Dimension hinaus eine voliti- nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine
ve Dimension. Noch in zwei weiteren wichtigen Hin- Weise mit ihm identifiziert sei, d. h. daß jener gänzliche
sichten weicht Schopenhauers »Mitleid« vom alltags- Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf wel-
sprachlichen Begriff ab. Erstens darf »Mitleid« im chem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in ei-
Rahmen der »Mitleidsethik« nicht im Sinne einer akut nem gewissen Grade aufgehoben sei« (E, 208). Das
erlebten Emotion verstanden werden. »Mitleid« soll setzt voraus, dass Mitleid ein außergewöhnliches Mo-
vielmehr eine längerfristige Haltung oder Einstellung tiv ist, das in der Normalität des menschlichen Lebens
sein. Es ist »keineswegs erforderlich, daß in jedem ein- nur selten vorkommt. Das ist nach Schopenhauer in
zelnen Fall das Mitleid wirklich erregt werde; wo es der Tat der Fall. Mitleid sei nicht nur ein zutiefst selte-
auch oft zu spät käme: sondern aus der Ein für alle Mal nes (vgl. E, 191), es sei auch ein zutiefst »mysteriöses«
erlangten Kenntniß von dem Leiden, welches jede un- (E, 209) Phänomen. Es ist in der Einrichtung der Welt
gerechte Handlung nothwendig über Andere bringt, nicht vorgesehen. Dominant sind vielmehr die »anti-
118 II Werk

moralischen Triebfedern« (E, 196): einerseits der Ego- spiel ist das Interview, das Hans Jonas auf dem Höhe-
ismus, der eigenes Leben, Überleben und Wohlleben punkt der sogenannten Singer-Affäre, in der es um die
will (»Der Egoismus ist kolossal: er überragt die Welt«, Frage nach Zulässigkeit oder Unzulässigkeit aktiver
E, 197), anderseits die Boshaftigkeit in ihren Ausprä- Sterbehilfe an schwerstbehinderten Säuglingen ging,
gungen als Grausamkeit, Übelwollen, Rache, Neid, den damaligen ZEIT-Redakteuren Marion Gräfin
Schadenfreude usw., die das fremde Wehe auch dann Dönhoff und Reinhard Merkel gab. Einer der Kernsät-
will, wenn für das eigene Selbst kein Gewinn oder so- ze Hans Jonas’, mit dem er gegen die von Peter Singer
gar Schaden zu erwarten ist. Insofern kommt dem behauptete Zulässigkeit einer aktiven Tötung (statt ei-
Mitleid nach Schopenhauer unter den Motiven eine nes passiven Sterbenlassen) dieser Säuglinge argumen-
absolute Sonderstellung zu. Es könne nur als eine tierte, lautete: »Man darf sich nicht vom Gesichtspunkt
Form der Erkenntnis der metaphysischen Wesens- einer Mitleidsethik bestimmen lassen, sondern nur
identität alles Seienden – zumindest aller leidensfähi- von der Verantwortung für die Folgen, die aus unserer
gen Wesen – verstanden werden: Der Mitleidende er- Einstellung resultieren, aus unserer Bereitschaft, unse-
kennt, dass der Unterschied zwischen ihm und dem re Willigkeit zu erwägen, hier und da das Mittel des Tö-
anderen ein scheinbarer ist. Als das »Ansich« seiner ei- tens zu gebrauchen. Damit soll man und darf man gar
genen und der fremden Erscheinung erkennt er beider nicht anfangen« (Jonas 1989, 7). Dieser Art von Fol-
Identität als Verkörperungen ein- und desselben meta- genüberlegung hätte Schopenhauer zweifellos zu-
physischen Prinzips, des »Willens« (E, 270). gestimmt: Spontanes Mitleid ist, was die längerfristi-
gen und über die konkrete Situation hinausgehenden
Folgen betrifft, keineswegs immer der beste Ratgeber.
Wirkung
Bei näherem Hinsehen ähnelt Schopenhauers Ethik je-
Schopenhauers Ethik war nicht nur in der Zeit seines doch weniger einer Situationsethik des spontanen Mit-
größten kulturellen Einflusses, also von 1850 bis zum leids als vielmehr dem u. a. von Karl R. Popper (1957,
Ende des Ersten Weltkriegs, für die Philosophen die- 387) vertretenen negativen Utilitarismus. Nicht nur
ser Periode häufiger und mehr oder weniger selbstver- die beiden von Schopenhauer als Kern der Moral re-
ständlicher positiver oder negativer Bezugspunkt. konstruierten Prinzipien des Nicht-Schadens (»Ge-
Man denke etwa an den Anti-Schopenhauerianer rechtigkeit«) und der Fürsorge (»Menschenliebe«),
Nietzsche, der für das Mitleid hauptsächlich Verach- sondern gerade auch sein als eine Einstellung univer-
tung übrig hatte; an Simmels Schopenhauer und Nietz- salisierter Leidensvermeidung und -minderung ver-
sche, an Schelers Auseinandersetzung mit Schopen- standenes »Mitleid« rücken Schopenhauers Ethik in
hauers Mitleidsbegriff in Wesen und Formen der Sym- die Nähe einer Konzeption, für die neben dem unmit-
pathie oder auch an Schlick, der seinen eigenen empi- telbar gegebenen und akuten Leiden auch räumlich
rischen Ansatz in der Ethik bei Schopenhauer und zeitlich entferntere Erscheinungsformen von Lei-
vorgezeichnet sah. Auch auf spätere Denker hat die den zu berücksichtigen sind sowie auch lediglich mehr
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« einen in- oder weniger wahrscheinliches zukünftiges Leiden,
tensiven und nachhaltigen Eindruck gemacht (so etwa soweit es durch gegenwärtiges Handeln oder Unterlas-
auf Richard Taylor, vgl. Taylor 1970, XIII). sen zu beeinflussen ist. Ein so verstandenes Mitleids-
Insgesamt ist Schopenhauers Mitleidsethik jedoch prinzip hat bedeutend mehr Ähnlichkeit mit einem
sehr viel weniger rezipiert worden als seine Willens- komplexen Kalkül der Leidensvermeidung und -min-
metaphysik, seine Lehre von der Selbsterlösung durch derung auf lange Sicht als mit dem spontanen Samari-
Willensverneinung und die Aphorismen zur Lebens- tertum, an das der Begriff »Mitleidsethik« zunächst
weisheit. Das mag nicht zuletzt an einem Missver- denken lässt. Das erklärt, dass die gegen diese Variante
ständnis liegen. Schopenhauers Ethik ist immer wie- des Utilitarismus gerichtete Kritik – etwa, dass sie die
der und bis in unsere Tage hinein als eine Situations- Leidensvermeidung über das Tötungsverbot stellt (von
ethik des spontanen Mitleids verstanden und entspre- Seiten der christlichen Ethik), dass sie über der Lei-
chend kritisiert worden. So verstanden, ist der densminderung Rechte und Gerechtigkeitsaspekte
Mitleidsbegriff in der Tat offensichtlich unzureichend, vernachlässigt (von Seiten der Vertreter des Primats
Schopenhauers Ziel zu erreichen, »die in moralischer von Rechten) oder dass sie, konsequent verstanden,
Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der zur schnellen schmerzlosen Tötung aller leidensfähi-
Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten gen Wesen zwingt (vgl. Smart 1958, 542) – regelmäßig
Grund zurückzuführen« (E, 195). Ein bekanntes Bei- Schopenhauers Ethik unbeachtet gelassen hat.
8  Die beiden Grundprobleme der Ethik 119

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120 II Werk

9 Parerga und Paralipomena ren, zeitigt Widersprüche, türmt unüberwindliche


Schwierigkeiten auf« (Heisler 1903, 51).
9.1 »Skitze einer Geschichte der Lehre vom Die »Skitze« ist der erste Text im ersten Band der
Idealen und Realen« Parerga und Paralipomena und bildet zusammen mit
den auf die »Skitze« folgenden »Fragmenten zur Ge-
Kernthema der »Skitze einer Geschichte der Lehre schichte der Philosophie« eine Einheit zur Philoso-
vom Idealen und Realen« (= »Skitze«) ist die an- phiegeschichte.
gemessene Verortung und Bestimmung des Realen. Am Beginn seiner »Skitze« definiert Schopenhauer
Dieses Vorhaben ist durchaus komplex und an- vorläufig das Ideale und das Reale, um sich im An-
spruchsvoll wegen der Doppeldeutigkeit des Wortes schluss mittels der Geschichte der Philosophie an die-
›real‹: Es kann sich auf das ausgedehnte und physi- sen Definitionen abzuarbeiten. Insbesondere das Rea-
sche Reale innerhalb der Vorstellung beziehen. Es le wird sich am Ende der »Skitze« als etwas anderes als
kann aber auch etwas vermeintlich jenseits der Vor- zunächst ausgegeben herausstellen.
stellung Bestehendes und die Vorstellung gegebenen- In der Ausgangsbestimmung ist das Ideale dasjeni-
falls Bedingendes bezeichnen. Schopenhauer entfal- ge, was in unserer Erkenntnis subjektiv und damit uns
tet das Thema durch die Konstruktion einer histori- selbst zuzuschreiben und unmittelbar sowie unbe-
schen Debatte, die – nicht immer chronologisch – dingt gegeben ist (P I, 3 f.). Analog dazu ist in der Aus-
von Descartes über Malebranche, Leibniz, Spinoza, gangsbestimmung das Reale dasjenige, was in unserer
Berkeley, Locke, Hume und Kant zu Schopenhauer Erkenntnis objektiv ist. So gefasst ist das Reale aller-
selbst führt. An den Haupttext der »Skitze« schließt dings an das erkennende Subjekt gebunden. Zu fragen
sich ein »Anhang« an, der etwa ein Drittel des gesam- wäre, anhand welcher Kriterien und auf welcher
ten Textes einnimmt und in dem Schopenhauer dar- Grundlage sich das in der Erkenntnis beheimatete
legt, warum weder Fichte noch Schelling oder Hegel Reale von dem ebenfalls in der Erkenntnis beheimate-
Eingang in seine Geschichte haben finden können. ten Idealen unterscheiden soll. Dieses Differenzie-
Der Haupttext der »Skitze« ist von dem Grundton an- rungsproblem zwischen ›ideal‹ und ›real‹ innerhalb
erkennender Kritik, der Anhang dagegen von Pole- der Vorstellung kennzeichnet die eine Seite des Pro-
mik bestimmt. blems der Bestimmung des Idealen und Realen.
Ob die Beschreibungen, die Schopenhauer von den Eine Strategie, dieses Problem zu lösen, ist der
einzelnen Philosophien gibt, immer zutreffen, ist Rückgriff auf eine Instanz, die jenseits des Subjekts
nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dem- oder der Vorstellung liegen soll. Das in der Erkenntnis
gemäß wird auf den Gebrauch des Konjunktives beim Objektive erschöpft sich dann nicht darin, in der Er-
Referat der Aussagen Schopenhauers verzichtet. Es kenntnis zu sein. Es korrespondiert darüber hinaus
soll lediglich darum gehen, die mittels der histori- mit subjektexternen Instanzen. Schopenhauer kon-
schen Betrachtung gezogene Argumentationslinie kretisiert diese Strategie anhand eines Abbildmodells
Schopenhauers nachzuzeichnen. der Erkenntnis: Vom Subjekt völlig gesondert und un-
Methodisch setzt Schopenhauer weder mit der abhängig existierende Dinge verursachen Abbilder ih-
Aufklärung der Ambiguität des Begriffs ›real‹ respek- rer selbst innerhalb des Subjekts. Diese Abbilder der
tive ›objektiv‹ ein noch greift er auf das Ergebnis sei- Dinge sind dem Subjekt als seine Vorstellungen un-
ner Untersuchung vor. Er lässt den Leser vielmehr die mittelbar zugänglich und bekannt, wohingegen die
Reihe historischer (Fehl-)Versuche selbst nachvollzie- Vorbilder jenseits des Subjekts – wenn überhaupt –
hen. Der Text ist also weniger auf Fakten, als auf den nur vermittelt zugänglich wären. Dieses Vermitt-
Prozess des Verstehens beim Leser ausgerichtet. Diese lungsproblem kennzeichnet die andere Seite der Be-
Vorgehensweise ermöglicht auf wenigen Seiten einen stimmung des Idealen und Realen.
tiefen Einblick in die Problematik der Bestimmung Anhand der Abbildtheorie wird die Ambiguität der
des Realen. Bedingt durch dieses Vorgehen werden Bestimmung des Realen bzw. Objektiven deutlich: Es
die Bestimmungen ›real‹ und ›ideal‹ jedoch laufend gibt das in der Erkenntnis Reale, d. h. das vorgestellte,
revidiert und in neue Kontexte gesetzt, wodurch der insbesondere ausgedehnte Reale – wie die Körper
Text durchaus anspruchsvoll wird. »Diese schwanken- oder den Leib. Es gibt daneben – vermeintlich – das
de Fassung der Begriffe ›ideal‹ und ›real‹ erschwert Reale jenseits des Subjekts oder der Vorstellung. Scho-
nicht nur das Verständnis ausserordentlich, sondern penhauer nennt dieses Reale das absolut Reale oder, in
lässt auch ihr Verhältnis zu einander ganz im Unkla- Anlehnung an Kant, das an sich Reale (P I, 20). Als
9  Parerga und Paralipomena 121

Gegenbegriff muss die Bestimmung des Idealen der Descartes’ »cogito ergo sum« weist das Bewusstsein
jeweiligen Verortung des Realen – entweder innerhalb seiner selbst als unmittelbar und unbedingt gewiss aus.
oder jenseits der Vorstellung – entsprechen. In der Die unmittelbare Gewissheit seiner selbst im Akt des
»Skitze« fragt Schopenhauer daher die jeweiligen Phi- Denkens lässt sich zwanglos ausweiten auf die unmit-
losophen nach dem Ort der »Durchschnittslinie« (P I, telbare Gewissheit der eigenen Vorstellungen als sol-
12) zwischen Idealem und Realem. Sofern von dem cher: Ob und was sich ein Subjekt aktuell vorstellt, weiß
vorgestellten und ausgedehnten Realen die Rede ist, unbestreitbar das Subjekt selbst am besten, da es un-
liegt die Durchschnittslinie insgesamt innerhalb der mittelbar seine eigenen Vorstellungen sind. Es gibt je-
Sphäre der Vorstellung. Sofern von dem an sich oder doch eine Kehrseite: Im Licht der Gewissheit der un-
absolut Realen die Rede ist, entspricht die Durch- mittelbaren Selbstreferenz wird auch die Ungewissheit
schnittslinie der Grenze der Vorstellung. alles nicht unmittelbar Zugänglichen deutlich. All jene
Das Reale, auf das Schopenhauer in seiner »Skitze« vorstellungsinternen Bestimmungen, die nicht aus-
letztlich abzielt, ist das absolute Reale jenseits der schließlich aus dem unmittelbaren Verhältnis zum Sub-
Vorstellung, das »Sein und Wesen an sich selbst« (P I, jekt fließen sollen, werden zweifelhaft. Ob und wie die
29). Nichtsdestoweniger oder gerade deshalb kon- vorgestellte Wirklichkeit auf eine Wirklichkeit jenseits
frontiert er die Abbildtheorie, kaum dass sie vor- der Vorstellung verweist, ist die Frage, an der sich –
gestellt ist, mit drei Fragen. Die ontologische Frage ist, nach Schopenhauer – die Philosophie die nächsten 200
ob die Existenz vollkommen vom Subjekt getrennter Jahre abarbeitet. Es ist schließlich denkbar, dass ein
und unabhängiger Dinge als gewiss angenommen »genius malignus« uns fortwährend über eine tatsäch-
werden kann. Die epistemologische Frage ist, ob die liche Wirklichkeit jenseits der Vorstellungen täuscht.
Vorstellungen als Abbilder Auskunft über die Be- Alles vermeintlich Subjektexterne ist dementspre-
schaffenheit subjektexterner Dinge geben können. chend problematisch. Sofern die unmittelbare Bin-
Die dritte Frage schließlich ist, ob der vermeintliche dung an das Subjekt die einzige Quelle der Gewissheit
Vermittlungsgang von subjektexternen Dingen zu de- bleibt, gilt daher, dass die Welt nur Vorstellung ist, im
ren Abbildern ein Kausalverhältnis darstellt. Alle drei Sinne von Erscheinung oder sogar von bloßem Schein.
Fragen wird Schopenhauer im Laufe seines Textes Indem Schopenhauer diese Konsequenz aus dem car-
verneinen. tesischen »cogito« zieht, kann er seine eigene Philoso-
phie – insbesondere die Auffassung, dass die Welt Vor-
Descartes: Historisch beginnt Schopenhauers »Skit- stellung des jeweiligen Subjekts ist – als dessen Pendant
ze« mit Descartes, und zwar in zweierlei Hinsicht: zu- ausweisen (P I, 4).
nächst und vor allem mit dem von Descartes ange- Zwischen dem subjektgebundenen Idealen und ei-
stoßenen Außenweltzweifel, d. i. der Zweifel an Exis- nem Realen, das an sich etwa als Außenwelt jenseits
tenz und Bestimmungsmöglichkeit einer jenseits der des Subjekts liegt, besteht also eine Kluft. Denn ein
Vorstellungen, an sich bestehenden Realität. Die an- solches Reales – sofern es existiert – kann im Gegen-
gemessene Auffassung einer vorstellungsexternen satz zu Bewusstseinsinhalten immer nur vermittelt ge-
Wirklichkeit ist nach Schopenhauer der eigentliche geben sein. Damit steht das Tor für die Außenwelt-
Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung um skepsis weit offen. Descartes’ historisches Verdienst ist
das Ideale und das Reale. Um einen produktiven Ab- das Aufdecken dieser Kluft, das Erzeugen eines fun-
weg von der eigentlichen Kernfrage handelt es sich damentalen Zweifels, mit dem er die Debatte um das
dagegen bei der zweiten Auseinandersetzung, die Ideale und Reale initiiert. Ungenügend ist nach Scho-
ebenfalls von Descartes ihren Ausgang nimmt: die penhauer dagegen Descartes’ Lösungsversuch, d. i.
Frage nach dem Verhältnis von Mentalem zu Physi- der Verweis auf den gütigen, uns daher nicht täu-
schem, d. i. das Leib-Seele-Problem. Explizit stellt schenden Gott. Allerdings – so lobt Schopenhauer –
Schopenhauer anhand von Leibniz und Spinoza klar, bringt dieser umgekehrte Kosmologische Beweis, der
dass die Gleichsetzung des physisch Ausgedehnten aus der Existenz Gottes die Existenz der Welt schließt,
mit dem Realen und des Mentalen mit dem Idealen in seinem Ungenügen die Tiefe des aufgeworfenen
an der eigentlichen Fragestellung vorbeigeht, also Problems zum Ausdruck.
kein Lösungspotential beinhaltet. Die Begründung
dafür liefert im Prinzip bereits Descartes, der in den Malebranche: Auch Malebranche greift zur Überbrü-
Augen Schopenhauers, wenn auch implizit, alles Aus- ckung der Kluft zwischen Idealem und Realem auf Gott
gedehnte innerhalb der Vorstellung ansiedelt. zurück. Dieser fungiert hier jedoch nicht nur als Ver-
122 II Werk

sicherung, sondern übernimmt die Funktion der ak- Dinge sichtbar. Dieser an Malebranche erinnernde
tuellen Vermittlung. Diese Vermittlung hat zwei Sei- Ansatz erhält bei Spinoza eine besondere Wendung:
ten: Zum einen sehen wir nach Malebranche alle Dinge Gott und Welt werden gleichgesetzt, wodurch nach
nur in Gott. Damit ist das Verhältnis von Subjekt zu Schopenhauer allerdings zugleich jeder Erklärungs-
Gott bestimmt. Zum andern ist Gott die eigentliche Ur- gehalt verloren geht.
sache in den Dingen. Damit ist das Verhältnis von den Spinoza meint nun, mit der Aufhebung des Unter-
Objekten zu Gott bestimmt. Ein unmittelbares Ver- schieds zwischen Gott und Welt sowie Leib und Seele
hältnis von Subjekt und Objekt besteht dagegen nicht. auch den Unterschied zwischen dem Idealen und dem
Vermeintlich seitens des Subjekts verursachte Än- Realen aufgehoben zu haben (vgl. P I, 27 f.). Letztere
derungen in der Objektwelt sind tatsächlich causes oc- Auffassung beruht jedoch – hier setzt die Kritik Scho-
casionelles. Die mentalen Ereignisse nimmt Gott le- penhauers ein – auf einer restlosen Identifikation des
diglich zur Gelegenheit, selbst Ursache der Verände- eigentlich Realen mit dem anschaulichen und aus-
rung in den physischen Objekten zu sein. Für Scho- gedehnten Realen. Ein von der Vorstellung unterschie-
penhauer bedeutet diese Inanspruchnahme Gottes, denes, an sich Reales wird bei Spinoza nicht thema-
ein Unbekanntes durch ein noch Unbekannteres zu tisch. Angenommen wird vielmehr, die Dinge seien an
erklären. sich, wie sie vorgestellt sind. Folglich hält Spinoza die
ausgedehnten Dinge für unabhängig von der Vorstel-
Leibniz: Bereits mit Malebranche gerät die Kernfrage lung. Tatsächlich jedoch – so wendet Schopenhauer ein
nach dem an sich Realen jenseits der Vorstellung in – liegt alles Ausgedehnte innerhalb der Vorstellung.
den Hintergrund. Zum Thema wird dagegen das Ver- »Denn allerdings sind die Dinge nur als Vorgestellte
hältnis von Leib zu Seele oder von ausgedehnt Physi- ausgedehnt und nur als Ausgedehnte vorstellbar« (P I,
schem zu Mentalem. Malebranche lässt Gott die Kluft 13). Wenn Spinoza also meint, von dem Realem zu
zwischen beiden Seiten aktuell bei Gelegenheit über- sprechen, spricht er von ausgedehnten Dingen. Er er-
brücken. Leibniz dagegen fasst beide Seiten als un- fasst tatsächlich nur Entitäten, die innerhalb der Sphä-
überbrückbar getrennt und unabhängig. Dennoch re der Vorstellung liegen und damit tatsächlich ideal
stimmen beide Welten augenscheinlich überein. Dies sind. Die ›Durchschnittslinie‹ zwischen dem Idealen
führt Leibniz darauf zurück, dass die Abläufe inner- und dem Realen verläuft bei Spinoza also falsch, denn
halb beider Welten bereits bei ihrer Schöpfung voll- sie liegt insgesamt innerhalb des Reichs des Idealen.
kommen aufeinander abgestimmt wurden. Beide Die von Spinoza proklamierte Identität von Idealem
Welten laufen daher vollkommen synchron oder pa- und Realem ergibt sich allein aus ihrer gemeinsamen
rallel, befinden sich also in einer prästabilierten Har- Beheimatung innerhalb der subjektiven Sphäre. Diese
monie. Für Schopenhauer ist nicht nur diese Lösung Identität erkannt zu haben ist verdienstvoll. Sie ent-
absurd, sondern die ganze Problemstellung fehlgelei- spricht der Einsicht Schopenhauers, dass die Welt – zu-
tet. Sie ist lediglich Produkt des Dogmas zweier ge- mindest in einer der beiden Schopenhauerschen Hin-
trennt voneinander existierender Welten (vgl. P I, 9). sichten – Vorstellung sei. Das eigentliche Problem ver-
fehlt Spinoza jedoch: Es geht um den Aspekt der Welt,
Spinoza: Erst nach Leibniz thematisiert Schopenhauer der insofern real ist, als er nicht Vorstellung ist.
die Philosophie Spinozas. Dieser verfehlt das eigentli-
che Problem nicht weniger als seine Vorgänger. Er er- Berkeley: Die an Spinoza geübte Kritik setzt Berkeley,
möglicht aber über die Radikalität seines Lösungs- zu dem Schopenhauer von Spinoza aus springt, um: Er
ansatzes, die Frage nach einem vorstellungsexternen, verortet explizit alles Ausgedehnte innerhalb der Vor-
an sich Realen klarer zu fassen und abzugrenzen von stellung. Zugleich bestreitet Berkeley die Existenz ei-
der Frage nach dem ausgedehnten und vorstellungs- ner der Vorstellung jenseitigen, insbesondere mate-
internen Realen. Spinoza identifiziert Leib und Seele, riellen Außenwelt. Er ist damit der Urheber des ei-
bzw. erklärt sie als substantia extensa und substantia gentlichen und wahren Idealismus (vgl. P I, 14).
cogitans zu zwei Aspekten einer Substanz. Der genaue Während Berkeley die Natur des Idealen damit ge-
Parallelismus zwischen ausgedehnter und vorgestell- troffen hat, vernachlässigt er das Reale, im Sinne einer
ter Welt beruht also nicht auf einer prästabilierten der Vorstellung jenseitigen Instanz. Allerdings ent-
Harmonie, sondern schlicht auf der Identität beider deckt Schopenhauer auch bei Berkeley zumindest An-
Welten. Begründet liegt die Identität beider Welten in sätze eines derartigen Realen und findet damit Aspek-
ihrer Gleichheit in Gott und nur in Gott werden alle te seiner eigenen Philosophie vorweggenommen: Die
9  Parerga und Paralipomena 123

wollenden und vorstellenden Wesen selbst, das sind Hume: Ebenfalls mit Hinblick auf Kant streift Scho-
die einzelnen Subjekte, insbesondere aber Gott, des- penhauer im Anschluss kurz Hume. Im Angesicht des
sen Willen und Allmacht ganz unmittelbar Ursache Unvermögens, strenge Kausalität zu konstatieren, wird
aller Vorstellungen sein soll, machen nach Schopen- auf die Begrenztheit des Empirismus hingewiesen.
hauer bei Berkeley das eigentlich Reale jenseits der
Vorstellung aus. Wiederum verstellt der Gottesgedan- Kant: Dieser Konsequenz entgeht Kant, indem er die
ke jedoch eher die Einsicht, als dass er sie beförderte. Kausalität, wie letztlich alle Eigenschaften der vor-
gestellten Wirklichkeit in der Erkenntnisweise des
Locke: Angekommen bei dem Idealismus Berkeleys Subjekts verankert. Die damit gewonnene Möglich-
springt Schopenhauer zurück zu einer anderen Tradi- keit, etwa kausale Gesetzmäßigkeiten als ausnahmslos
tionslinie, die er von Bacon über Hobbes zu Locke allgemeingültig aufzufassen, wird durch deren Ver-
zieht. Unter strikter Ablehnung des Gedankens ein- ortung im Bereich des Idealen konterkariert. Primäre
geborener Ideen lässt Locke seine Philosophie auf der wie sekundäre Eigenschaften beschreiben Vorstellun-
Erfahrung fußen. Ganz im Gegensatz zu dem späte- gen. Das eigentlich Reale, das ›Ding an sich‹ jenseits
ren Berkeley verortete er das eigentliche Sein jedoch der Vorstellung soll zwar einerseits mit der Vorstel-
nicht in der ideellen Sphäre der Erfahrung bzw. der lung korrespondieren, kann seinem Wesen nach an-
Vorstellung. Er nimmt vielmehr an, die Vorstellungen dererseits aber nicht mittels Eigenschaften beschrie-
seien durch Impuls oder Stoß seitens eines subjekt- ben werden, die lediglich dem subjektiven Erkennen
externen materiellen Seins kausal verursacht. Diese geschuldet sind. Das an sich Reale ist damit nicht nur
Abbildtheorie fußt auf einem erkenntnistheoreti- der Bestimmung durch die Kategorie der Kausalität,
schen und ontologischen Realismus, der nicht nur in sondern letztlich aller Bestimmungen entkleidet und
Berkeley, sondern auch in Schopenhauer einen Kriti- muss als unerkennbar ein bloßes X bleiben (vgl. P I,
ker findet. In Anlehnung an Kant verweist Schopen- 20). Mit diesem Konzept hat Kant die von Descartes
hauer darauf, dass nicht nur die Ausdehnung, son- aufgeworfene Frage nach dem Idealen und Realen
dern auch die Kausalität innerhalb der Sphäre der maximal zugespitzt und bis an den Rand ihrer Beant-
Vorstellungen zu verorten sei, und er geht noch einen wortung geführt, die nun durch Schopenhauer selbst
Schritt weiter, wenn er die Materie als Reifikation geliefert wird.
kausaler Verhältnisse begreift (vgl. P I, 19). Als vor-
stellungsinterne Bestimmung ist die Kausalität also Schopenhauer: Das Ding an sich respektive das absolut
nicht geeignet, das Band zu einer vorstellungsexter- Reale kann nicht vermittelt über die Vorstellung oder
nen Wirklichkeit zu knüpfen. die Kategorien der Vorstellung erschlossen werden,
Auch Locke selbst ist nicht frei von Zweifeln gegen- denn auf diese Weise bliebe es innerhalb der Sphäre
über seinem Realismus. Er sichert seine Erkenntnis- des Idealen verortet und wäre damit selbst ideal. Scho-
theorie zum einen durch den Verweis auf die gelin- penhauer bemerkt jedoch, dass wir selbst uns den-
gende Praxis ab. In den Augen Schopenhauers ist dies noch unzweifelhaft und unmittelbar real sind (der Be-
ein den Empirismus insgesamt diskreditierender Ver- griff ›Leib‹ fällt in diesem Zusammenhang nicht).
such. Zum anderen differenziert Locke zwischen pri- Demnach kann unmittelbar aus uns selbst heraus
mären und sekundären Eigenschaften. Primäre Eigen- auch die Erkenntnis des an sich Realen geschöpft wer-
schaften sollen den Dingen unabhängig vom Subjekt den. Dies unmittelbar einsichtig Reale ist als genuin
zukommen wie etwa Ausdehnung und Gestalt. Sekun­ andersartige Instanz neben dem Idealen der Vorstel-
däre Eigenschaften dagegen sind sinnlich vermittelt lung der Wille. Schopenhauer löst also das cartesische
und subjektgebunden wie etwa Farbe und Geschmack. Problem, indem er Sein und Erkennen, d. i. das an sich
Ein Kriterium zur Differenzierung von primären und Reale und das Ideale auf die beiden Elemente zurück-
sekundären Eigenschaften gibt Locke nicht. Schopen- führt, die dem Selbstbewusstsein unmittelbar zugäng-
hauer arbeitet heraus, dass die primären Eigenschaf- lich sind: der Wille und die Vorstellung (vgl. P I, 21).
ten die nicht wegdenkbaren Eigenschaften sind (vgl.
P I, 19). Er findet darin jedoch nicht Lockes Differen- Im auf den Haupttext der »Skitze« folgenden »An-
zierung bestätigt, sondern vielmehr einen Verweis auf hang« erläutert Schopenhauer, warum Schelling, Fich-
die von Kant gezogene Konsequenz, dass letztlich aus- te und Hegel keinen Platz in der Geschichte des Idealen
nahmslos alle Eigenschaften der vorgestellten Dinge und Realen eingeräumt bekommen haben. Zunächst
subjektgebunden sind. bestimmt Schopenhauer dazu das von den Dreien ver-
124 II Werk

fehlte Wesen der Philosophie, um anschließend auf die Schmidt, Alfred: Schopenhauer und der Materialismus. In:
Denker im Einzelnen einzugehen. Ders.: Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über
Nach Schopenhauer bedarf die Philosophie des die Philosophie Schopenhauers (1960–2003). Frankfurt
a. M. 2004, 105–149.
freien Intellekts. Dessen ureigenstes Motiv ist die Su-
che nach der Wahrheit nur um der Wahrheit willen Valentin Pluder
und allem andren zum Trotz. Ein ernsthaft und redlich
philosophierender Intellekt darf also nicht dem Wil-
len, d. h. insbesondere den Zwecken der Person, 9.2 »Fragmente zur Geschichte der ­
dienstbar sein. Damit sind Schelling, Fichte und Hegel Philosophie«
als Philosophen disqualifiziert, denn sie sind Opportu-
nisten, die nicht im Dienst der Wahrheit stehen, son- Die »Fragmente zur Geschichte der Philosophie« wur-
dern willentlich zu ihrem eigenen Nutzen täuschen den 1851 im ersten Band der Parerga und Paralipome-
und mystifizieren: »Das Interesse der Person wird be- na publiziert. Schopenhauers Stellung zur Geschichte
friedigt, das der Wahrheit ist verrathen« (P I, 24). im Allgemeinen lässt sich besonders anhand von W I,
Einzig hinsichtlich Schelling schränkt Schopenhau- § 51, W II, Kap. 38, und G, § 51, erläutern. Geschichte
er sein Urteil etwas ein. In dessen Naturphilosophie – kann demnach als Summe der phänomenalen Ereig-
und nur dort – erweist Schelling sich als nützlicher nisse in der Welt charakterisiert werden, die aber stets
Eklektiker, indem er die Philosophie Spinozas mit dem ewigen Wesen der Dinge gegenübergestellt ist.
Kenntnissen um die Naturwissenschaften anreichert Was das bedeutet, zeigt Schopenhauers Bestimmung
(s. Kap. 22). Doch schon mit seiner Identitätsphiloso- des Verhältnisses von Geschichte und Poesie: Die Ge-
phie, in der das Ideale und Reale wiederum unter An- schichte habe ihre Wahrheit in der einzelnen Erschei-
lehnung an Spinoza miteinander identifiziert werden, nung, wohingegen die Poesie ihre Wahrheit in der Idee
fällt Schelling hinter die Entwicklung der Philosophie habe, die aus allen Einzeldingen spreche (vgl. W II,
seit Descartes zurück und appelliert letztlich nur an 288). Alfred Schmidt hat diesbezüglich festgehalten,
den gefundenen, d. h. rohen Verstand (vgl. P I, 28). Schopenhauer »betrachtet die Geschichte als solche,
Nur wenige Worte widmet Schopenhauer Fichte. modern gesprochen, als eine überbauhaft-oberflächli-
Denn indem dieser die Vorstellungen ausschließlich che Struktur, die auf einer unbewußten, philosophisch
als das Produkt des erkennenden Ich auffasst, liefert er zu enthüllenden Tiefenstruktur beruht: auf dem Wil-
lediglich eine Karikatur der kantischen Philosophie len« (Schmidt 2002, 199 f.). Dieser Standpunkt doku-
(vgl. P I, 27). mentiert sich ebenfalls in den »Fragmenten«: Es geht
Bei Hegel schließlich – so hebt Schopenhauer her- Schopenhauer nicht um eine erschöpfende historische
vor – fallen Logik und Metaphysik zusammen, weil das Darstellung der Philosophiegeschichte, sondern um
Wesen der Dinge und ihr Begriff gleichgesetzt werden. die Darlegung persönlicher »Gedanken, veranlaßt
Die Erkenntnis dieser Einheit von Sein und Denken durch das eigene Studium der Originalwerke« (P I,
ermöglicht die Selbstbewegung des Begriffs im Den- 36). Daher erfolgt die Abhandlung unter ständiger
ken, der es sich zu überlassen gilt. Nach Schopenhauer Maßgabe seines eigenen Werks und erhält eine deutli-
ist dieser Ansatz lediglich geeignet zur nachhaltigen che historisch-genetische Akzentuierung, in deren
Vernichtung der Denkfähigkeit (vgl. P I, 25 Anm.). Verlauf seine Philosophie sich – durch das Medium
historischer Systeme hindurch – ›synthetisiert‹.
Literatur Methodisch lässt sich das Werk nach der Einleitung
Campioni, Giuliano: Der französische Nietzsche. Berlin 2009. (§ 1) zweiteilen: Die Darstellungen der wichtigsten
Cornill, Adolph: Arthur Schopenhauer als Übergangsform Positionen der westlichen Philosophie (§ 2–11) expo-
von einer idealistischen in eine realistische Weltanschau-
ung. Heidelberg 1856.
nieren in jedem Paragraphen einen für die Philoso-
Fischer, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre phie Schopenhauers selbst konstitutiven Aspekt (hier
[21898]. Heidelberg 41934 (Neudr.: Nendeln/Lichtenstein jeweils in Klammern gesetzt). Der zweite Teil (§ 12–
1973). 14) enthält Abgrenzungen und Auseinandersetzun-
Frauenstädt, Julius: Briefe über die Schopenhauer’sche Phi- gen mit der Philosophie der Neuzeit (§ 12) und Kant
losophie. Zwölfter Brief. Leipzig 1894.
(§ 13), während im letzten Paragraphen (§ 14) einige
Heisler, Otto: Schopenhauers Satz vom Subjekt-Objekt.
Königsberg 1903. konzise Anmerkungen zu seiner eigenen Philosophie
Papousado, Denis: Der Schnitt zwischen dem Idealen und gemacht werden (eine andere Aufteilung wird von
dem Realen. Schopenhauers Erkenntnistheorie. Bonn 1999. Neymeyr 2008, 1142, vorgeschlagen).
9  Parerga und Paralipomena 125

§ 5/11: Aristoteles (Induktivismus/Deduktivismus): In-


Erster Teil: § 2–11
haltlich bildet dieser Paragraph einen Komplex mit
§ 2: Vorsokratiker (Transzendentale Ästhetik, Ästhetik § 11, da in beiden die historischen Positionen von
der Musik): Unter den Vorsokratikern sind es die Aristoteles und Bacon einander gegenübergestellt wer-
Eleaten, denen Schopenhauer das Verdienst zu- den (vgl. P I, 54 und 71 f.). Systematisch erfüllt diese
spricht, als erste die Unterscheidung von Phainome- Gegenüberstellung den Zweck einer wissenschafts-
non und Noumenon getroffen zu haben, welches letz- theoretischen Differenzierung zwischen Deduktivis-
tere er mit dem ὄντως ὄν identifiziert (vgl. P I, 36). mus und Induktivismus. Dabei gibt Schopenhauer
Eine besondere Betonung erfahren daneben Anaxa- dem Induktivismus (freilich wegen seiner eigenen Me-
goras und Empedokles (vgl. P I, 38 ff.), da Schopen- thode) den Vorzug vor dem Deduktivismus des Aris-
hauer im Verhältnis des νοῦς des Anaxagoras zu φιλία toteles (vgl. P I, 72). Schopenhauers Kritik des Deduk-
(Liebe) und νεῖκος (Haß) bei Empedokles die bedeut- tivismus bezieht sich explizit auf die Apodiktizität der
same Entwicklung von einem rationalen (Intellekt) zugrundeliegenden Allgemeinaussagen (vgl. ebd.).
zu einem irrationalen Ordnungsprinzip (Willen) der
Welt vorliegen sieht (vgl. P I, 38). Zudem werden wie § 6: Stoiker (Willensverneinung): Da Schopenhauer in
bereits in E II, 271 f., φιλία und νεῖκος von Schopen- diesem Paragraphen hauptsächlich auf die mangelhaf-
hauer als Ausdruck der Differenzierung zwischen te Quellenlage hinsichtlich der stoischen Ethik zu spre-
Wesenseinheit und empirischer Vielheit gemäß dem chen kommt, sind zum Verständnis seiner Haltung zur
principium individuationis betrachtet (vgl. P I, 39). Stoa die Ausführungen in W I, § 16, und W II, Kap. 16,
Besondere Erwähnung findet ferner die Philosophie notwendig, auf die er auch selbst verweist (zum Ver-
des Pythagoras, in dessen Zahlenlehre Schopenhauer hältnis von Schopenhauer zur Stoa vgl. Neymeyr
die Basis seiner »Metaphysik der Musik« sieht (vgl. 2008). Stoa und Kynismus seien gleichermaßen durch
P I, 42 ff.). einen immanenten Eudaimonismus geprägt, der auf
die leidensfreie Existenz abziele (vgl. W II, 166 f.). Ob-
§ 3: Sokrates (Metaphysik und Empirie): Schopenhauer schon auf diese Weise die jeweils eine Form von Entsa-
stellt Sokrates neben Kant, da beide den Dogmatismus gung lehrenden Maximen von Stoa/Kynismus und
verworfen und sich jeder metaphysischen Spekulation Christentum/Indische Philosophie oftmals zusam-
enthalten hätten (vgl. P I, 46). Seinen eigenen Stand- menträfen, so grenzt Schopenhauer doch anhand ihrer
punkt grenzt er dabei insofern ab, als er die über die Grundsätze beide deutlich voneinander ab. Demzufol-
Erfahrung hinausgehende Erkenntnis gleichermaßen ge gehen letztere von der Unmöglichkeit einer leidens-
verleugne, jedoch die der Auslegung fähige Welt »wie freien Existenz aus, was sich im Christentum sowie
eine Schrift entzifferte« (P I, 46). Diese methodologi- beim Asketen als Streben nach Weltüberwindung arti-
sche Anmerkung gehört zu einer Vielzahl über das kuliere (vgl. W II, 174 f.). Diese auch für Schopenhau-
Werk verteilter Stellen, die eine hermeneutische Les- ers Philosophie charakteristische Disjunktion von
art Schopenhauers nahezulegen scheinen, wie sie in weltlicher Existenz und Leidensfreiheit dokumentiert
der neueren Forschung des Öfteren vertreten wurde sich später erneut in der Konzeption einer ›Eudai-
(s. Kap. 40). monologie‹ in den »Aphorismen zur Lebensweisheit«
(P I, 331–530; s. Kap. 9.6), welche aus diesem Grunde
§ 4: Platon (Sinnlichkeit und Verstand): Der Fokus die- auch keine ›klassische‹, sondern eine ›Sonderform‹ des
ses Paragraphen liegt auf der Differenzierung von Er- Eudaimonismus darstellt (vgl. Alogas 2014).
kenntnisform und -inhalt (vgl. P I, 48 ff.), welche erst
durch das Konzept der beiden kantischen Erkennt- § 7: Neuplatoniker (Indische Philosophie): In den Leh-
nisstämme Sinnlichkeit und Verstand im transzen- ren der Neuplatoniker liegt nach Schopenhauer keine
dentalen Idealismus synthetisiert worden seien (vgl. eigenständige Philosophie vor, sondern der Versuch,
P I, 50). Damit verbindet Schopenhauer umgekehrt Weisheiten in die westliche Philosophie einzuführen,
eine dezidierte Kritik an der leibbefreiten Erkenntnis die originär ›indo-ägyptisch‹ (vgl. P I, 63) seien. Zu
(wie Platons Seelenlehre im Phaidon; vgl. P I, 47 f.) so- diesem Zweck instrumentalisieren die Neuplatoniker
wie andererseits einer ins Extrem getriebenen empi- das Denken Platons, insofern dessen mystische As-
ristischen Position, die in eine materialistisch ausfor- pekte als Verbindungsglied zwischen der indischen
mulierte Metaphysik (wie bei Condillac) einmünde und der westlichen Philosophie dienen. Schopenhau-
(vgl. P I, 50). er stützt diese Auffassung im Anschluss mit Betrach-
126 II Werk

tungen zu Plotin (vgl. ebd.; zu Schopenhauers Plotin- lismus, eine Auffassung, die sich bereits bei den eng-
Lektüre vgl. Kiefer 1941) und Iamblichos von Chalkis lischen Empiristen findet. Der Realismus sei dem-
(vgl. P I, 64). gegenüber die »Erweiterung« (P I, 70) der plato-
nischen Ideenlehre. Zumindest an dieser Stelle gibt
§ 8: Gnosis (Theodizee): Was die Gnostiker anbelangt, Schopenhauer allerdings keiner der beiden Positionen
so vertritt Schopenhauer den Standpunkt, dass diese einen eindeutigen Vorzug. Eine differenziertere Ver-
Systeme lediglich zur Vermittlung bzw. Vereinbarung ortung Schopenhauers in der Kontroverse ließe sich
der Allmacht und Allgüte des christlichen Gottes mit etwa anhand von W II, 68 f., vornehmen (vgl. dazu
der empirischen Faktizität des Übels dienen. Dies be- auch Aby 1930, § 8).
werkstellige man durch verschiedene Stufenfolgen im
Sinne eines normativen Abstiegs von Gott bis zur Welt
Zweiter Teil: § 12–14
(vgl. P I, 65). Diese sehr knappe Kennzeichnung der
gnostischen Philosophie erhält auch im übrigen Werk § 12: Die Philosophie der Neueren: Schopenhauer be-
kein ausführlicheres Komplement. Dennoch ließen handelt über den Großteil des Paragraphen hinweg
sich als Ergänzungen zu den Aussagen über die Gno- die neuzeitliche Philosophie (nacheinander Des-
sis die Erwähnungen in W II, Kap. 48, anführen, wo er cartes, Malebranche, Leibniz und Spinoza) im Hin-
sie im Hinblick auf Pessimismus und Metempsychose blick auf die Problematik des Substanzbegriffes, wobei
zur Geltung bringt. er bei allen historischen Positionen einen »Rest« (P I,
72) feststellt, der in der jeweiligen Systematik nicht
§ 9: Scotus Eriugena (Ewige Gerechtigkeit): Schopen- aufgehe. Der entscheidende Schritt zur Entschlüsse-
hauer zählt Scotus Eriugena als Pantheisten nicht zur lung der Welt, d. h. der einzig »wahre Eingang des La-
eigentlichen Scholastik (vgl. Koßler 1999, 172; zu Sco- byrinthes« (P I, 73) sei die Erhebung des Willens zum
tus Eriugena vgl. auch HN III, 461–469). Er sieht das inneren Gehalt der Welt. Diesen (eben seinen) Punkt
punctum saliens in der Auffassung, das endliche Leben wiederum leitet Schopenhauer anhand einer kurzen
habe als Zweck die Erlösung in der Rückkehr zu Gott. Entwicklungsgeschichte her, die zunächst auf Berke-
Die dabei entstehende Erklärungsnot hinsichtlich ley verweist. Dessen entscheidende Subjektivierung
Sünde und Übel resultiere aus dem im Christentum des Denkens mache ihn zum »Vater des Idealismus«
verwurzelten, originär jüdischen Optimismus, der (P I, 82). Berkeleys Denken sei die Grundlage für die
aber dem eigentlich indischen Motiv der Welterlö- kantische Sonderung des Subjektiven vom Objektiven
sung widerspreche (vgl. P I, 66). Dieser Widerspruch durch die Verortung der Substanz als Verstandeskate-
werde nur dadurch aufgelöst, dass die Welt als genuin gorie. Das Objektive verbleibe durch diese Subjekti-
von übler Beschaffenheit erkannt wird (vgl. ebd.). Da- vierung als »ganz dunkler Punkt« (P I, 83), als Ding an
bei verweist Schopenhauer explizit auf E I, implizit je- sich. Sich selbst spricht Schopenhauer den Abschluss
doch vor allem auf das Motiv der ewigen Gerechtigkeit dieser Entwicklung zu, nämlich hier noch weiter in
in W I, § 63. Demnach führt das Vorhandensein des das Subjektive, d. h. in Relation zum Objektiven Un-
Übels nicht – wie eben u. a. bei Scotus Eriugena – auf mittelbarere, vorgedrungen zu sein und das im Selbst-
die Imputabilität des Menschen aufgrund seiner Frei- bewusstsein erkennbare Ding an sich mit dem Willen
heit zurück. Vielmehr spricht sich der Wille grund- identifiziert zu haben (vgl. ebd.).
sätzlich durch die Handlungen der (im principium in-
dividuationis befangenen) Individuen in der Vorstel- § 13: Einige Anmerkungen zur Kantischen Philosophie:
lungswelt als Übel aus (vgl. P I, 68 f.). Der Mensch hat Dass Schopenhauer in den Fragmenten stets seine ei-
durch seine metaphysisch determinierte Urheberrolle gene Philosophie als Schablone anlegt, dokumentiert
als Willenswesen das Übel zu verantworten und auf- sich in diesem Paragraphen dahingehend, dass er nicht
grund dieser »Verschuldung« (W I, 419) gerechter- ausschließlich auf Kant, sondern auf eine Transzen-
weise zu erdulden. dentalphilosophie überhaupt abhebt (vgl. P I, 88). Vor
allem im weiteren Verlauf der Darstellung und Aus-
§ 10: Scholastik (Ideenlehre): Schopenhauer definiert einandersetzung mit Kants Philosophie wird deutlich,
die Scholastik hier in erster Linie über den Univer- dass Schopenhauer stets den transzendentalen Idealis-
salienstreit (vgl. P I, 69; zu Schopenhauers Stellung mus eigener Prägung zur Geltung bringt. Formal lässt
zur Scholastik vgl. auch Koßler 1999, 170 ff.; Aby sich dieser Paragraph in zwei Teile gliedern: Der erste
1930). Dabei führe der Nominalismus zum Materia- Teil (P I, 84–103) behandelt die Transzendentalphi-
9  Parerga und Paralipomena 127

losophie im Allgemeinen sowie die transzendentale ein »Scheinkampf« (W I, 585). In der Auflösung der
Ästhetik. Im zweiten Teil (P I, 103–145) thematisiert Antinomie (wie bei allen kantischen Antinomien, vgl.
Schopenhauer die transzendentale Dialektik. dazu auch W I, Anhang, 585) behauptet Schopenhau-
er die »Wahrheit der ›Antithese‹« und nimmt so den
a) Transzendentale Ästhetik: Bedeutsam sind in die- Standpunkt eines (wie Kant schreibt) dogmatischen
sem Hinblick besonders die Abhandlung des Verstan- Empirismus (vgl. KrV, B 499) ein.
des als eines anschauenden Vermögens und die Sub- Die Gottesbeweise der rationalen Theologie
sumierung der Kausalität unter die apriorischen An- schließlich beruhen nach Schopenhauer auf zwei For-
schauungsformen, welche Modifikationen genuin men des Satzes vom Grunde: Der kosmologische (mit
Schopenhauerscher Provenienz darstellen (vgl. P I, dem lediglich als dessen Zusatz definierten physiko-
90, 92). Auch Kants Ableitung des Dings an sich pro- theologischen) Beweis verfolge demnach den Satz
blematisiert Schopenhauer stets durch eine Kontras- vom Grunde des Werdens (vgl. P I, 113). Schopen-
tierung mit seiner eigenen Philosophie, in welcher er hauers Kritik daran speist sich aus der Auffassung,
diese Ableitung durch das Kausalitätsprinzip als An- dass er auf einer fälschlichen Anwendung des Kausa-
schauungsform vornimmt: litätsprinzips auf das Verhältnis zwischen Welt und
einer Ursache außerhalb der Welt beruhe. Der onto-
»Auf jene empfundene Veränderung im Sinnesorgane logische Beweis hingegen verfahre nach dem Satz
nämlich wird zunächst, mittelst einer nothwendigen vom Grunde des Erkennens (vgl. ebd.). Der Fehler re-
und unausbleiblichen Verstandesfunktion a priori, das sultiere dabei aus einer Verwechslung der beiden ers-
Gesetz der Kausalität angewandt: dieses leitet, mit sei- ten Formen des Satzes vom Grunde (vgl. P I, 116; G,
ner apriorischen Sicherheit und Gewißheit, auf eine § 7). Die Prädikation der Existenz beruhe prinzipiell
Ursache jener Veränderung, [...] wodurch nun also jene auf der ersten Form (Kausalität), wohingegen der Be-
nothwendig vorauszusetzende Ursache sich sofort an- weis lediglich einen logischen Grund (d. h. Erkennt-
schaulich darstellt, als ein Objekt im Raume, welches nisgrund) angebe.
die von ihr in unsern Sinnesorganen bewirkten Ver- Seine dezidierte Gegnerschaft mit jeder Vermi­
änderungen als seine Eigenschaften an sich trägt« (P I, schung von Philosophie und Religion (vgl. W II, 185)
98 f.; vgl. dazu auch G, § 21). so wie auch der Idee einer theologia naturalis (Scho-
penhauer ›akzeptiert‹ nur die Offenbarungsreligion,
Anschließend werde analog auf den Willen als meta- vgl. dazu z. B. P I, 138) macht Schopenhauer im Zuge
physisches Seinsprinzip geschlossen, so dass diese Er- dieses letzten Punktes noch anhand einer Kritik des
kenntnis zum »Ausleger des Bewußtseyns anderer Theismus deutlich. Diese besteht in dem Versuch, die
Dinge« (P I, 100) wird. ›Zugeständnisse‹ Kants an die Religion gegen jede ar-
gumentative Nutzbarmachung durch den Theismus
b) Transzendentale Dialektik: Schopenhauer behan- abzuschirmen. So dürfe die Einführung Gottes als ei-
delt die transzendentale Dialektik grob nach dem von nes regulativen Prinzips (vgl. KdU, § 87) nicht theis-
Kant vorgenommenen Aufteilungsschema der trans- tisch beerbt werden, da hierbei die Attribute des An-
zendentalen Ideen: Seele, Welt, Gott. thropomorphismus, der Intellektualität und der Per-
Zunächst konzentriert sich Schopenhauer hierbei sonalität fehlten, welche konstitutiv für Gott seien (vgl.
auf den Paralogismus der Persönlichkeit (vgl. KrV, A P I, 122 ff.): »Ein unpersönlicher Gott ist gar kein Gott,
361 f.; bereits vorher findet sich die Auseinanderset- sondern bloß ein mißbrauchtes Wort« (P I, 122). Die
zung in W I, 559 ff.): Die Beharrlichkeit der Seele zu zweite Stütze des Theismus in der kantischen Philoso-
denken sei nicht möglich, da Fortdauer, Vergehen und phie sei dessen Auffassung von der Unwiderlegbarkeit
Beharrlichkeit nur in Bezug auf die Anschauungswelt Gottes (vgl. P I, 128 f.). Schopenhauer führt daraufhin
(die Kombination aus Zeit, Raum und Kausalität) gel- drei Argumente gegen eine Annahme Gottes ins Feld,
ten, während deren Anwendung auf immaterielle wobei alle mit der Prämisse der Geschöpflichkeit von
Dinge (wie die Seele) eine ›Amphibolie‹ darstelle (vgl. Mensch und Welt arbeiten: (1) die Theodizee-Pro-
P I, 108 f.). blematik (vgl. P I, 129); (2) die Unmöglichkeit mora-
Hinsichtlich der rationalen Kosmologie themati- lischer Zurechnungsfähigkeit angesichts der geschöpf-
siert Schopenhauer die erste kantische Antinomie lichen Determiniertheit des Menschen (vgl. P I, 129 ff.)
(KrV, A 424 ff.). Wie er bereits in W I zu erkennen ge- und (3) die Fortdauer des Menschen nach dem Tode,
geben hat, ist die Annahme der Antinomien für ihn die nur im Falle menschlicher ›Aseität‹ plausibel denk-
128 II Werk

bar sei und daher wiederum mit dessen Geschöpflich- 9.3 »Ueber die Universitäts-Philosophie«
keit kollidiere (vgl. P I, 131 ff.).
Die berühmt-berüchtigte Abrechnung Schopenhau-
§ 15: Einige Bemerkungen über meine eigene Philoso- ers mit der »Universitäts-Philosophie« (ein Ausdruck,
phie: Der Schlussparagraph enthält zunächst einen der vermutlich von ihm selbst geprägt wurde, vgl.
konzisen methodischen Abriss hinsichtlich Schopen- Schneider 1998, 5) wurde im ersten Band der Parerga
hauers eigener Philosophie. Diese könne man als »im- und Paralipomena veröffentlicht, in dem im Unter-
manenten Dogmatismus« (P I, 139) bezeichnen, inso- schied zum zweiten Band längere, in sich geschlossene
fern sie zwar dogmatische Lehrsätze enthalte, jedoch Aufsätze ihren Platz haben. Gleich zu Beginn der
keine transzendente Welt beschreibe. Es komme ihm Schrift stellt Schopenhauer »die Philosophie als Pro-
darauf an, die Phänomenwelt auf ihren letzten erfass- fession der Philosophie als freier Wahrheitsforschung,
baren Gehalt hin zu verfolgen. Sein Verfahren sei inso- oder die Philosophie im Auftrage der Regierung der
fern nicht synthetisch, sondern analytisch (vgl. P I, Philosophie im Auftrage der Natur und der Mensch-
140). Im Gegensatz zu den anderen neuzeitlichen Po- heit« (P I, 149) gegenüber. Diese Konfrontation zieht
sitionen sei der Wille nichts den Dingen äußerliches, sich durch die ganze Abhandlung hindurch, die zu
sondern wirke vielmehr in ihnen (vgl. P I, 141 f.). Auf dem Schluss kommt, dass der Unterricht in Philoso-
diesem Gedanken beruhe auch die Identität von Täter phie an den Universitäten derselben eher abträglich ist
und Dulder (vgl. ebd.), womit Schopenhauer erneut und daher »streng zu beschränken« sei »auf den Vor-
auf das Konzept der ewigen Gerechtigkeit in W I, § 63, trag der Logik, als einer abgeschlossenen und streng
anspielt. Die Unzeitgemäßheit der sich aus diesem Ge- beweisbaren Wissenschaft, und auf eine ganz succinte
danken speisenden, pessimistischen Perspektive ist vorzutragende und durchaus in Einem Semester von
ihm dabei durchaus bewusst. Er merkt jedoch an, dass Thales bis Kant zu absolvirende Geschichte der Phi-
das Leben ihn vor die »Wahl gestellt [habe; K. A.], ent- losophie, damit sie, in Folge ihrer Kürze und Ueber-
weder die Wahrheit zu erkennen, aber mit ihr Nieman- sichtlichkeit, den eigenen Ansichten des Herrn Pro-
den zu gefallen; oder aber, mit den Andern das Falsche fessors möglich wenig Spielraum gestatte« (P I, 208).
zu lehren, unter Anhang und Beifall« (P I, 144). Den Grund für die Schädlichkeit der Universitäts-
philosophie sieht Schopenhauer zum einen in der Ab-
Literatur hängigkeit der »Kathederphilosophen« von der sie be-
Aby, Heinrich: Schopenhauer und die Scholastik. Heidelberg soldenden Regierung, durch die sie gezwungen sind
1930. ihre Lehre nach deren Zwecken auszurichten und ins-
Alogas, Konstantin: Enthält Schopenhauers Philosophie
einen Eudaimonia-Begriff? In: Schopenhauer-Jahrbuch 95
besondere »mit durchgängiger Rücksicht auf die Lan-
(2014), 71–89. desreligion« (P I, 150) vorzutragen. Zum anderen ist
Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm es überhaupt der Umstand, dass die Universitätslehrer
Weischedel. Darmstadt 1983 [KrV: Kritik der reinen Ver- die Philosophie zu ihrem »Brodgewerbe« (P I, 164)
nunft. Bd. II; KdU: Kritik der Urteilskraft. Bd. V]. machen, was – wie Schopenhauer mit einer Reihe von
Kiefer, Otto: Schopenhauer und Plotin. In: Schopenhauer-
Zitaten antiker Philosophen, angefangen mit Platons
Jahrbuch 28 (1941), 247–257.
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral. Kritik an den Sophisten, belegt – der wahren Philoso-
Würzburg 1999. phie nicht ziemt. Seine eigene Kritik ist allerdings un-
Neymeyr, Barbara: Ataraxie und Rigorismus. Schopenhau- gleich schärfer, wenn er von »jenen zu Staatszwecken
ers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie. In: gedungenen Geschäftsmännern der Katheder, die mit
Dies./Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.): Weib und Kind von der Philosophie zu leben haben«
Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur,
(P I, 158) spricht oder von den »Herren der lukrativen
Kunst und Politik. Bd. 2. Berlin 2008, 1141–1164.
Schmidt, Alfred: Arthur Schopenhauer und die Geschichte. Philosophie« (P I, 159). Immer wieder kommt er auf
In: Schopenhauer-Jahrbuch 83 (2002), 189–203. den Punkt zurück, dass diejenigen, »die von der Phi-
losophie leben wollen, höchst selten eben Die seyn
Konstantin Alogas werden, welche eigentlich für sie leben« (P I, 192) weil
»die Einsichten bald genug aus dem Felde geschlagen
sind, wenn man Absichten gegen sie aufmarschieren
läßt« (P I, 178).
Wahre Philosophie aber muss von allen Absichten
und Zielsetzungen frei sein: »Nie wird man in der Lö-
9  Parerga und Paralipomena 129

sung der Probleme, welche unser so unendlich räth- sigkeit unter leeren Phrasen und Worten und die Be-
selhaftes Daseyn uns von allen Seiten entgegenhält, mächtigung der Publikationsorgane. Diese auch heute
auch nur einen Schritt weiter kommen, wenn man noch durchaus aktuellen Erscheinungen des Wissen-
nach einem vorgesteckten Ziel philosophirt« (P I, schaftsbetriebs fasst Schopenhauer unter dem Aus-
204). Diese Auffassung von der Philosophie als Selbst- druck »Spaaßphilosophie« (P I, 167) zusammen, der er
zweck greift nicht nur die klassische Autonomie der den »furchtbaren Ernst, mit welchem das Problem des
Wahrheitssuche auf, sondern ist insbesondere auch Daseyns den Denker ergreift und sein Innerstes er-
aus Schopenhauers eigener Lehre zu verstehen. Nach schüttert« (P I, 169) gegenüberstellt.
ihr steht das Erkennen normalerweise im Dienst des Wenn die Polemik Schopenhauers gegen die Uni-
Willens, d. h. es ist von Absichten und Zwecken gelei- versitätsphilosophie somit auch sachliche und prinzi-
tet. Nur in seltenen Ausnahmefällen, beim künstleri- pielle Argumente enthält, so hat ihre Schärfe doch
schen Genie, beim heiligen Asketen und beim echten persönliche und zeitgebundene Hintergründe; freilich
Philosophen geschieht es, dass das Erkennen sich vom ist Schopenhauer bekannt für seinen beißenden Spott
Willen löst und dadurch eine »willensfreie Aktivität und die sprachlich ausgefeilten Grobheiten, aber die
des Intellekts« möglich wird, die »die Bedingung der Schrift gegen die Universitätsphilosophie ragt in die-
reinen Objektivität und dadurch aller großer Leistun- ser Hinsicht noch heraus; sie liest sich über weite Stre-
gen ist« (P I, 189). Ihnen steht die große Masse der cken wie eine bloße Schmähschrift gegen die Philoso-
»normalen« Menschen gegenüber, die »Fabrikwaare phen des Deutschen Idealismus, insbesondere gegen
der Natur«, die Schopenhauer drastisch charakteri- den »plumpe[n] und ekelhafte[n] Scharlatan Hegel«
siert: »so Einer mit der normalen Ration von drei (P I, 179) und dessen »Afterphilosophie« (P I, 173).
Pfund groben Gehirns, hübsch fester Textur, in zoll- Selbst wo der Name Hegel nicht fällt, etwa bei der
dicker Hirnschaale wohl verwahrt, beim Gesichtswin- oben angeführten Beschreibung des ›Normalmen-
kel von 70 °, dem matten Herzschlag, den trüben, spä- schen‹, ist der Bezug auf ihn deutlich. Hinzu kommt,
henden Augen, den stark entwickelten Freßwerkzeu- dass Schopenhauer nicht immer derart ablehnend ge-
gen, der stockenden Rede und dem schwerfälligen genüber der Universitätsphilosophie eingestellt war.
Gange, als welcher Takt hält mit der Krötenagilität sei- Als er seine Kaufmannslehre abgebrochen hatte und
ner Gedanken« (P I, 209). Philosophie zu betreiben sich auf die lang ersehnten Studien am Gymnasium
erfordert besondere, seltene Anlagen: Es ist die »Aris- und an den Universitäten warf, war es natürlich nicht
tokratie der Natur«, die »den hohen Beruf des Nach- sein Ziel, Privatgelehrter zu bleiben, sondern er wollte
denkens über sie« nur wenigen erteilt (P I, 189). an der Universität lehren, und zwar an der neuen, füh-
Die Universität kann dieser Auffassung von einer renden Universität in Berlin, an der Fichte gelehrt hat-
»Philosophie im Auftrage der Natur« nicht entspre- te und Hegel gerade lehrte. Auch wenn er bald keine
chen. Die Bezahlung von Professoren durch den Staat Vorlesungen mehr hielt, so blieb Schopenhauer doch
ist gerade im Fall der Philosophie mit Erwartungen 12 Jahre lang dort Privatdozent. Später versuchte er
und Absichten verknüpft, weil »kein Lehrfach auf die ohne Erfolg, sich nach Würzburg und Heidelberg um-
innere Gesinnung der künftigen gelehrten, also den zuhabilitieren (s. Kap. 3). Erst Ende der 1820er Jahre
Staat und die Gesellschaft eigentlich lenkenden Klasse finden sich die ersten Angriffe auf die Universitätsphi-
so viel Einfluß habe, wie gerade dieses« (P I, 205 f.). losophie (vgl. HN III, 585), die nach dem Tode Hegels,
Gegen diese Absichten ist nach Schopenhauer im vor allem im Zusammenhang mit den zahlreichen
Grunde auch nichts einzuwenden (vgl. P I, 157), aber Entwürfen von Vorreden für eine zweite Auflage des
für die Philosophie hat das nicht nur zur Folge, dass sie Hauptwerks, zahlreicher werden und teilweise später
durch unfähige oder mittelmäßige Denker öffentlich in die veröffentlichte Schrift eingehen (vgl. HN IV (1),
repräsentiert wird, sondern dass die Taktiken, ihres- 128, 158, 172).
gleichen Bedeutung zu verschaffen, und der Eifer, den Es liegt nahe, die Wendung gegen die Universitäts-
Interessen des Staats zuwiderlaufende Wahrheiten zu philosophie und die Wut auf die Professoren aus dem
unterdrücken, die wenigen zur Philosophie Befähigten Umkreis des Deutschen Idealismus mit Schopenhau-
behindern. Zu diesen Taktiken zählt Schopenhauer die ers eigenem Misserfolg und dem Scheitern seiner aka-
Bildung von Cliquen und Koalitionen, innerhalb derer demischen Karriere zu erklären. Bei seinem Antritt an
man sich gegenseitig zitiert und hochjubelt, die Aus- der Berliner Universität hatte er sich als »Rächer« (VN
bildung eines schwierig und gelehrt klingenden »Jar- I, 58) der Philosophie angekündigt, der ihr wieder zu
gons« (P I, 169), das Verbergen der Inhalts- und Ratlo- Glanz und Ansehen verhilft; doch der geplante große
130 II Werk

Auftritt fiel ins Wasser: Seine zeitgleich mit dem und was könnte den anfechten in den Jahren, die er
Hauptkolleg Hegels gelegte Vorlesung wurde nicht be- noch zu athmen hat?« (HN IV (2), 109)
sucht und sein Hauptwerk in der akademischen Öf-
fentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Dass sei- Sicher wird auch die unter selbständigen Unterneh-
ne Abneigung gegen die Universitätsphilosophen von mern verbreitete Verachtung gegen Staatsdiener und
der Verbitterung über dieses Scheitern genährt wurde, deren Abhängigkeit einen Einfluss auf Schopenhauers
wird von Schopenhauer auch gar nicht verhohlen: Urteil gehabt haben, bedenkt man, dass sein Vater sei-
ner unternehmerischen Freiheit zuliebe das Angebot
»Der Spaaß bei der Sache ist, daß diese Leute sich Phi- des preußischen Königs auf die Staatsbürgerschaft
losophen nennen, als solche auch über mich urtheilen, ausschlug und die Stadt Danzig verließ; diese Haltung,
und zwar mit der Miene der Superiorität, ja, gegen die in dem Wappenspruch der Familie »Kein Glück
mich vornehm thun und vierzig Jahre lang gar nicht ohne Freiheit« (s. Kap. 1) Ausdruck fand, kehrt auch
würdigten auf mich herabzusehn, mich keiner Beach- in Schopenhauers Forderung wieder, dass der Wahr-
tung werth haltend« (P I, 152). heit »die Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich« (P I,
161) sei, die das Besoldungsverhältnis des Philoso-
Es wäre jedoch falsch, die Abneigung Schopenhauers phie-Professors ausschließe. In einer geplanten Wid-
gegen die Universitätsphilosophie allein auf Verbitte- mung der zweiten Auflage des Hauptwerks dankt er
rung oder gar Neid zurückzuführen. Bereits geraume seinem Vater für die Erbschaft, die ihn davor bewahrt
Zeit vor den enttäuschenden Ereignissen, als er im An- habe, »wetteifernd mit médiocre & rampant vor Mi-
schluss an seine Promotion zu einer Vorlesungstätig- nistern und Räthen zu kriechen« (HN III, 379 f., vgl.
keit in Jena angeregt wurde, betrachtete er es eher als 538). Darüber hinaus sind jedoch auch die histori-
eine auferlegte »Pflicht [...] eine Akademische Lauf- schen Verhältnisse an den Universitäten zu berück-
bahn anzutreten« (GBr, 10), und später in Briefen, in sichtigen. Die Parerga und Paralipomena erschienen
denen er sich an verschiedenen Universitäten nach der ein Jahr nach dem Materialismusstreit, auf den Scho-
Möglichkeit einer Habilitation erkundigte, ließ er die penhauer auch implizit Bezug nimmt, wenn er den
Empfänger wissen, dass er »ganz außerordentlich ge- damaligen philosophischen und literarischen Zustand
ring« von den Philosophen denke, die »unmittelbar in beschreibt:
und auf ihre Zeitgenossen eine Wirkungssphäre su-
chen«, während das »Streben des eigentlichen Gelehr- »Unwissenheit mit Unverschämtheit verbrüdert an
ten auf die Menschheit im Ganzen zu allen Zeiten und der Spitze, Kamaraderie an der Stelle der Verdienste,
in allen Ländern gerichtet sein müsse« (GBr, 44 f.). Wie völlige Verworrenheit aller Grundbegriffe, gänzliche
später in der Schrift über die Universitätsphilosophie, Desorientation und Desorganisation der Philosophie,
so wird auch hier schon dem geschriebenen Werk der Plattköpfe als Reformatoren der Religion, freches Auf-
Vorrang vor der akademischen Tätigkeit gegeben (vgl. treten des Materialismus und Bestialismus, Unkennt-
Koßler 2013, 220; Schneider 1998, 43). Letztlich war niß der alten Sprachen und Verhunzen der eigenen«
Schopenhauers Einstellung zur akademischen An- (P I, 187).
erkennung zwiespältig, wie er in einer Aufzeichnung
nach zwei erfolglosen Jahren an der Universität selbst Die Zeit, in der Schopenhauer seine Vorwürfe gegen
feststellt: die Philosophie-Professoren erhebt, ist eine, in der
sich in Deutschland die Universitäten und ihr Verhält-
»Wenn ich zu Zeiten mich unglücklich gefühlt, so ist nis zu Staat und Kirche stark veränderten. 1810 war
dies mehr nur vermöge einer méprise, eines Irrthums unter der Ägide von Wilhelm von Humboldt in Berlin
in der Person geschehen, ich habe mich dann für einen die erste Universität eines neuen Typus gegründet
Andern gehalten, als ich bin, und nun dessen Jammer worden, die bald weitere Gründungen nach sich zog.
beklagt: z. B. für einen Privatdocenten, der nicht Profes- Die neuen Universitäten waren größer und weniger
sor wird und keine Zuhörer hat [...] Wer aber bin ich auf Ausbildung zu Berufen als auf Bildung und Erzie-
denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung hung des ganzen Menschen ausgerichtet (vgl. Paulsen
geschrieben und vom großen Problem des Daseyns ei- 1921, 238 f.). Dadurch wurden die unteren Fakultäten
ne Lösung gegeben hat, welche vielleicht die bisheri- aufgewertet, und da das Bildungsideal sich am klassi-
gen antiquiren, jedenfalls aber die Denker der kom- schen Griechentum orientierte, gelangten Philoso-
menden Jahrhunderte beschäftigen wird. Der bin ich, phie und die klassischen Philologien in eine führende
9  Parerga und Paralipomena 131

Stellung an der Universität. Die Philosophie erhob Ende des 19. Jahrhunderts kamen in der Tat die we-
den Anspruch, anstelle der durch die Aufklärung zu- sentlichen Impulse für die Philosophie von Denkern,
rückgedrängten Offenbarungsreligion die Welt zu die außerhalb der Universität standen (vgl. Kopper
deuten und zu erklären. Damit wurde das Prinzip der 1988, 21), wie neben Schopenhauer selbst etwa Feuer-
Wahrheit, unter dem die unteren Fakultäten standen, bach, Marx und Kierkegaard.
mit dem den oberen Fakultäten (Theologie, Jurispru- Schopenhauers Haltung zu diesen Entwicklungen
denz und Medizin) obliegenden gesellschaftlichen In- an den Universitäten ist nicht frei von Vereinfachun-
teresse vermengt (vgl. Kopper 1988, 22 f.). Nicht zufäl- gen und Widersprüchlichkeiten. So werden von ihm
lig waren Fichte und Hegel, die mit einer »Wissen- unterschiedslos alle negativen Begleiterscheinungen
schaftslehre« oder einem »System der Wissenschaft« und Folgen für die Philosophie dem Deutschen Idea-
die Totalität der öffentlichen Vernunft repräsentieren lismus und insbesondere der »Hegelei« (P I, 177 ff.)
wollten, Rektoren der Berliner Universität (vgl. angelastet. Hegel ist für ihn paradigmatisch, weil er
Schneider 1998, 19; Mehring 2008, 271 f.). Die Blüte- zum einen die Universität im Sinne der neuen Rolle
zeit der neuhumanistischen Universität währte indes- der Philosophie geradezu unumschränkt beherrschte,
sen nicht lange. Als Schopenhauer Privatdozent wur- und zum anderen, weil er mit seiner »empörenden
de, lagen die Karlsbader Beschlüsse, mit denen der Lehre [...] daß die Bestimmung des Menschen im
Staat restriktiv in das Bildungswesen eingriff, gerade Staat aufgehe, – etwan wie die der Biene im Bienen-
ein Jahr zurück. In der Folgezeit, und verstärkt nach stock« (P I, 164) eine »Apotheose des ›Staats‹« (P I,
dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. (1840) 205) betrieben habe, die genau zu einer Philosophie
wurde versucht, die klassische Bildung zugunsten ei- im Auftrag der Regierung passt. Dabei übersieht er,
ner wieder stärker an der Religion ausgerichteten Leh- dass die Vormachtstellung der Philosophie den Refor-
re zurückzudrängen, was schließlich nach der ge- men zu verdanken war, die von der konservativen Re-
scheiterten Revolution von 1848 in eine reaktionäre gierung gerade zurückgenommen wurden, und ver-
Bildungspolitik mündete. Bei der dominanten Rolle schweigt, dass die Philosophie Hegels auch religions-
der Philosophie geriet sie natürlich in besonderem kritische Momente hat, die im Linkshegelianismus
Maße unter den staatlichen Druck, diese Entwicklung weitergeführt wurden; Schopenhauer wusste sehr
zu tragen und zu befördern. wohl, dass auch Hegelianer unter den Repressionen
Schopenhauer sieht die Gefahren, die entstehen, des Staates zu leiden hatten (vgl. P I, 155).
wenn die Philosophie eine so herausgehobene Stel- Trotz seiner Kritik an den Folgen, die ihre heraus-
lung an der Universität erlangt hat, dass sie für den ragende Rolle nach der Universitätsreform mit sich
Staat und seine Zwecke interessant wird (vgl. Schnei- bringt, stimmt Schopenhauer aber grundsätzlich dem
der 1998, 21). Als freies Denken des Einzelnen kann Anspruch der Philosophie auf Deutungshoheit zu und
sie die Erwartungen der Regierung nicht erfüllen, und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von Hegel
in vermeintlich unbeschränkter Macht auf dem Ge- (s. Kap. 21): Indem ihr Problem »das selbe ist, worüber
biet des Wissens den Interessen des Staates dienend auch die Religion, in ihrer Weise, Aufschluß ertheilt«
droht sie zur Scharlatanerie zu werden, wie sie Scho- (P I, 150), begründet die Philosophie »die Denkungs-
penhauer Hegel vorwirft (vgl. Kopper 1988, 26 f.). Da- art des Zeitalters« (P I, 166). Aber Schopenhauer sieht
rin liegt der tiefere Grund für Schopenhauers Forde- dies noch als eine Aufgabe an, die, wenn überhaupt,
rung nach einer Beschränkung der Lehrtätigkeit von nicht an der Universität erfüllt werden kann, weil den
Philosophie-Professoren auf Logik und Philosophie- Beruf dazu »nur die Natur, nicht aber das Ministerium
geschichte, die mit der sich im 19. Jahrhundert voll- des öffentlichen Unterrichts ertheilen kann« (P I, 193).
ziehenden »Historisierung der Vernunft« (vgl. Schnei- Zugleich schränkt er – und das unterscheidet ihn von
der 1998) gewissermaßen erfüllt wird. Auch die Ein- Hegel – den Anspruch der Philosophie auch aufgrund
schätzung Schopenhauers, dass echte Philosophie seiner vernunftkritischen Konzeption wieder ein,
nicht an den Universitäten, sondern privat betrieben wenn er als weiteres Argument gegen die Universitäts-
wird, dass »von jeher sehr wenige Philosophen Profes- philosophie anführt: »Aber eine Wissenschaft, die
soren der Philosophie gewesen sind, und verhältnis- noch gar nicht existirt, die ihr Ziel noch nicht erreicht
mäßig noch weniger Professoren der Philosophie Phi- hat, nicht einmal ihren Weg sicher kennt, ja deren
losophen« (P I, 161) erhält eine Bestätigung durch die Möglichkeit noch bestritten wird, eine solche Wissen-
Folgen der reaktionären Bildungspolitik: Nach dem schaft durch Professoren lehren zu lassen ist eigentlich
Zusammenbruch des Deutschen Idealismus bis zum absurd« (ebd.).
132 II Werk

Wenn trotz dieser Skepsis die Philosophie die ein- Standpunkt zugunsten einer, so Schopenhauer, »me-
heitsstiftende Funktion der Religion übernehmen soll, taphysischen Phantasie« (P I, 203 (Lü)) aufgegeben
nicht im Auftrag der Regierung in Form einer »speku- wird. Doch wäre es verfehlt, aus dem für Sigmund
lativen Theologie« (P I, 196) oder des »Kentauren« Freuds »Jenseits des Lustprinzips« maßgeblichen
(P I, 153) Religionsphilosophie, sondern indem sie Aufsatz (vgl. Atzert 2005) einen unkritischen Hang
»keinen anderen Zweck als die Wahrheit« (P I, 158) Schopenhauers zur Esoterik herauszulesen. In der
kennt, dann sollte der Staat sich ganz heraushalten, die Betonung der Vermeintlichkeit der Absichtlichkeit
Philosophie gewähren lassen, »ohne Beihülfe, aber äußert sich die Skepsis, mit der er nicht erst seiner Er-
auch ohne Hindernisse« (P I, 208). Dass dann einmal klärung, sondern bereits der Themenstellung begeg-
eine Universitätsphilosophie möglich wäre, die anders net. Hinter dem, was nur scheinbar Absicht ist, eine
zu beurteilen wäre als der Zustand, den Schopenhauer übernatürliche Lenkung zu vermuten, sei nichts als
zu seiner Zeit geißelt, schließt er nicht aus, wenn er in »das Kind unsrer Bedürftigkeit« (P I, 203 (Lü)). Tat-
der Vorrede zum Hauptwerk schreibt: »Damit aber sächlich werde die Welt vom Zufall regiert, wobei al-
meine Philosophie selbst kathederfähig würde, müß- lerdings zu berücksichtigen sei, dass der Mensch Si-
ten erst ganz andere Zeiten heraufgezogen seyn« (W I, tuationen, in denen sich ein Unglück erst im Nach-
XXVIII). hinein als Glück herausstelle, als Irrtümer auffasse,
wodurch dieser zum Mitregenten des Weltherrschers
Literatur Zufall werde (vgl. P I, 204 (Lü)).
Kopper, Joachim: Ist Schopenhauers Philosophie katheder- Nach diesen einführenden apodiktischen Spitzen
fähig? In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 21–28. verfolgt Schopenhauer umso schlüssiger den nach ei-
Koßler, Matthias: Philosophie im Auftrage der Natur und
Philosophie im Auftrage der Regierung – Schopenhauers
gener Aussage verwegensten aller Gedanken, dem Zu-
Kritik der Universitätsphilosophie. In: Schopenhauer-Jahr- fall eine Absicht zu unterstellen. Zur philosophischen
buch 94 (2013), 217–228. Begründung zieht er zuerst seine Theorie des demons-
Mehring, Reinhard: Die Berliner Universitätsphilosophie als trablen Fatalismus heran und entwickelt dann den so-
Geschichte und als Mythos. In: István M. Fehér/Peter L. genannten transzendenten Fatalismus. Ersterer be-
Oesterreich (Hg.): Philosophie und Gestalt der Europäi-
deutet, dass alles Geschehen strenger Notwendigkeit
schen Universität. Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, 253–283.
Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf folge. Der sogenannte freie Wille sei ja deshalb unfrei,
deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des weil er, wie aus dem Satz vom Grunde hervorgehe, an
Mittelalters bis zur Gegenwart. Bd. 2. Berlin/Leipzig 31921. Ursachen gebunden sei. Ein tatsächlich freier Wille
Schneider, Ulrich Johannes: Philosophie und Universität. wäre zwar nicht durch Ursachen bestimmt, aber »bei
Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg diesem Begriff geht das deutliche Denken uns deshalb
1998.
aus, weil der Satz vom Grunde, in allen seinen Bedeu-
Matthias Koßler tungen, die wesentliche Form unseres Erkenntnißver-
mögens ist, hier aber aufgegeben werden soll« (E, 48
(Lü)). Insofern sei alles vorherbestimmt, wenn auch
9.4 »Transscendente Spekulation über die aufgrund der Vielzahl der regelförmig ablaufenden
anscheinende Absichtlichkeit im Kausalverkettungen nicht überschaubar. Hierzu ist
Schicksal des Einzelnen« anzumerken, dass der demonstrable Fatalismus keine
Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Schicksals
Im ersten Band der Parerga und Paralipomena folgt für das Individuum bietet, er dient nur als propädeuti-
dem hier besprochenen vierten Kapitel der »Versuch sche Vorbemerkung für die Ausführungen Schopen-
über das Geistersehn und was damit zusammen- hauers zum transzendenten Fatalismus, der die ei-
hängt« (s. Kap. 9.5). In beiden Kapiteln bezieht Scho- gentliche metaphysische Begründung für das Schick-
penhauer auch prophetische Träume, Hellsehen und sal des Einzelnen liefert.
verwandte Phänomene in seine Überlegungen ein. Der transzendente Fatalismus ergebe sich nicht
Während der »Versuch« stärker auf empirische Bele- aus theoretischer Erkenntnis, sondern aus der Erfah-
ge zugreift und eine physiologische Traumtheorie rung außergewöhnlicher Situationen und Umstände,
entwickelt, hebt Schopenhauer bereits im Titel des deren Außergewöhnlichkeit vom Individuum des-
hier besprochenen Kapitels den spekulativen Charak- halb bemerkt wird, weil sie ihm förderlich sind und
ter der Abhandlung über die »anscheinende Absicht- daher von moralischer oder innerer Notwendigkeit
lichkeit« hervor, in der der immanente, empirische gekennzeichnet scheinen, aber auch ganz zufällig
9  Parerga und Paralipomena 133

sind (vgl. P I, 206 (Lü)). Im Rückblick sehe es aus, als Der Traum dient auch in der »Spekulation« als Beispiel
habe eine »fremde Macht« (P I, 210 (Lü)) den Einzel- zur Erhärtung der These vom transzendenten Fatalis-
nen mittels der Umstände gelenkt. Dies sei ein Erfah- mus. Am Beispiel des Traums werde ersichtlich, dass
rungswert, der nicht der ordnenden Phantasie zu- der Wille dem Individuum als der »heimliche Theater-
geschrieben werden könne, denn ein projizierendes direktor seiner Träume« (P I, 219 (Lü)) eine Inszenie-
Denken wäre nicht in der Lage, sich die ganz beson- rung vorführe, aber auch in der Wirklichkeit des Wa-
deren, individuell angepassten Umstände einfallen chens als Schicksal auftrete. Schopenhauer wählt für
zu lassen: Das Verwunderliche sei doch, dass Inneres Traum und Wachen ähnliche Formulierungen. Wie im
und Äußeres ineinandergriffen, »durch eine im tiefs- obigen Zitat aus dem Handschriftlichen Nachlaß
ten Grunde der Dinge liegende Einheit des Zufäl- schreibt er über den Traum, dass der Wille ihn insze-
ligen und Nothwendigen« (P I, 209 (Lü)). Die Ein- niere, und zwar »von einer Region aus, die weit über
heit von Notwendigkeit und Zufall erkennt Scho- das vorstellende Bewußtseyn im Traume hinausliegt
penhauer darin wieder, dass sich die »eigenthümli- und daher in diesem als unerbittliches Schicksal auf-
che Individualität jedes Menschen in physischer, tritt« (P I, 239 (Lü)). Gleiches könne ebenfalls auf den
moralischer und intellektueller Hinsicht« aus der Wachzustand zutreffen, nämlich dass »auch jenes
Verbindung des »moralischen Charakters des Va- Schicksal welches unsern wirklichen Lebenslauf be-
ters« und »der intellektuellen Fähigkeit der Mutter« herrscht, irgendwie zuletzt von jenem Willen ausgehe,
ergebe, »die Verbindung dieser Eltern nun aber, in der unser eigener ist, welcher jedoch hier, wo er als
der Regel, durch augenscheinlich zufällige Umstände Schicksal aufträte, von einer Region aus wirkte, die weit
herbeigeführt worden ist. Hier also drängt sich uns über unser vorstellendes, individuelles Bewußtseyn hi-
die Forderung, oder das metaphysisch-moralische nausliegt [...]« (P I, 219 (Lü)). Dadurch, dass der Wille
Postulat, einer letzten Einheit der Nothwendigkeit von einer Region jenseits des individuellen Wachbe-
und Zufälligkeit unwiderstehlich auf« (P I, 211 (Lü)). wusstseins wirkt, ergeben sich Konflikte mit dessen
So ist »das Zufälligste [...] nur ein auf entfernterem Zielen und dem ihm verbundenen Eigenwillen, der
Wege herangekommenes Nothwendiges« (P I, 215 sich verbissen aber aussichtslos gegen das übermächti-
(Lü)), jedoch nicht »durch Erkenntniß geleitet, son- ge Schicksal stemmt. Das Schicksal wird vom Willen
dern vermöge einer aller Möglichkeit der Erkenntniß bestimmt, als »unserm leitenden Genius, [...] welcher
vorhergängigen Nothwendigkeit höherer Art« (P I, das individuelle Bewußtseyn weit übersieht und daher,
214 (Lü)). unerbittlich gegen dasselbe, als äußern Zwang Das ver-
Die Überlegungen, die in der »Spekulation« ver- anstaltet und feststellt, was herauszufinden er demsel-
öffentlicht wurden, stehen zum Teil im 1828 begonne- ben nicht überlassen durfte und doch nicht verfehlt
nen Band »Adversaria« des Handschriftlichen Nachlaß. wissen will« (P I, 219 f. (Lü)). Dies bedeutet nicht die
Dort lesen wir, dass neben dem objektiven Zusam- Umwertung des Willens zu einem Ersatz göttlicher
menhang der natürlichen Bedingungen (dem de- Vorsehung, sondern lediglich, dass sich der Wille der
monstrablen Fatalismus) auch ein subjektiver Zusam- Vergänglichkeit und Endlichkeit der Individualität be-
menhang (der transzendente Fatalismus) bestehe, wusst ist. Die Endlichkeit wird hierbei nicht abgewer-
tet, es geht nicht um den großen Gegensatz zwischen
»der nur in Bezug auf das sie [d. h. die jeweiligen Um- Scheinbarkeit und Wirklichkeit, sondern darum, dass
stände; S. A.] erlebende Individuum vorhanden ist, und die große Wahrheit der Vergänglichkeit vom Individu-
so subjektiv als dessen eigene Träume, in welchen je- um gelernt werden soll. Sinn der schicksalhaften Fü-
doch ihre Succession und Inhalt ebenfalls nothwendig gung ist somit nicht in den spezifischen Umständen
bestimmt ist, grade so wie der dramatische Dichter die und Begebenheiten zu suchen:
Succession der Scenen willkürlich bestimmt: in diesem
Fall aber ist der dramatische Dichter der eigene Wille »Bleiben wir bei den einzelnen Fällen stehn; so scheint
eines Jeden auf einem Standpunkt, der nicht in sein es oft, daß sie nur unser zeitliches, einstweiliges Wohl
Bewußtsein fällt. Daß nun jene beiden Arten des Zu- im Auge habe. Dieses jedoch kann, wegen seiner Ge-
sammenhangs zugleich bestehn und dieselbe indivi- ringfügigkeit, Unvollkommenheit, Futilität und Ver-
duelle Begebenheit, als ein Glied zweier ganz verschie- gänglichkeit, nicht im Ernst ihr letztes Ziel seyn: also
dener Ketten, stets in beiden zugleich genau paßt, ist haben wir dieses in unserm ewigen, über das indivi-
ein Wunder aller Wunder, und die wahre harmonia duelle Leben hinausgehenden Daseyn zu suchen« (P I,
praestabilita« (HN III, 580; vgl. P I, 220 f. (Lü)). 223 (Lü)).
134 II Werk

Das Ziel ist weder der Erhalt der harmonia praestabili- on« eine philosophische Gratwanderung, mit der er
ta, noch die Voraussagung des Zukünftigen, die Scho- sich dem Unsagbaren annähert, ähnlich wie es Freud
penhauer aufgrund des demonstrablen Fatalismus für später mit der Annahme der Todestriebe tat, um all die
durchaus möglich, aber nur in Ausnahmefällen ver- Ereignisse des Seelenlebens, die dem Lustprinzip ent-
wirklicht, erachtet. Laut Schopenhauers Philosophem gegenstehen, zu erklären (vgl. Freud 1999, 60). Die
vom Quietiv des Willens liegt die Absicht des »ewigen, Idee der Steuerung durch ein intelligentes Unbewuss-
über das individuelle Leben hinausgehenden Da- tes wurde zur Grundlage der metaphysischen Kon-
seyns« darin, die angesichts des Todes geforderte in- struktionen sowohl Eduard von Hartmanns in Philoso-
nere Entsagung zu fördern: »Da wir nun [...] das Ab- phie des Unbewußten als auch Paul Deussens in Phi-
wenden des Willens vom Leben als das letzte Ziel des losophie der Bibel.
zeitlichen Daseyns erkannt haben; so müssen wir an-
nehmen, daß dahin ein Jeder, auf die ihm ganz indivi- Literatur
duell angemessene Art, also auch oft auf weiten Um- Atzert, Stephan: Zwei Aufsätze über Leben und Tod: Sig-
wegen, allmälig geleitet werde« (P I, 224 (Lü)). Der als mund Freuds »Jenseits des Lustprinzips« und Arthur
Schopenhauers »Transscendente Spekulation über die
Schicksal auftretende Wille stellt sicher, dass das Indi- anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzel-
viduum die von Schopenhauer erkannte Verneinung nen«. In: Schopenhauer Jahrbuch 86 (2005), 179–194.
des Willens erlernt, wozu hauptsächlich die wieder- Atzert, Stephan: Im Schatten Schopenhauers. Nietzsche,
holte Begegnung mit dem Leiden dient: »Da nun fer- Deussen und Freud. Würzburg 2015.
ner Glück und Genuß diesem Zwecke eigentlich ent- Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Gesam-
melte Werke. Bd. XIII. Frankfurt a. M. 1999, 1–69.
gegenarbeiten; so sehn wir, Diesem entsprechend, je-
dem Lebenslauf Unglück und Leiden unausbleiblich Stephan Atzert
eingewebt, wiewohl in sehr ungleichem Maaße« (P I,
224 (Lü)). Es lässt sich hinzufügen, dass auch Glück
und Genuss dem Leiden verwandt sind, da sie unwei- 9.5 »Versuch über das Geistersehn und was
gerlich als endlich erfahren werden müssen, da hinter damit zusammenhängt«
allem der Tod lauert: »So geleitet dann jene unsicht-
bare und nur in zweifelhaftem Scheine sich kund ge- Wie bei Kant, Fichte, Friedrich Schlegel, Schelling und
bende Lenkung uns bis zum Tode, diesem eigentli- Hegel sowie bei beinahe allen prominenten Vertretern
chen Resultat und insofern Zweck des Lebens« (P I, der literarischen deutschen Romantik fanden auch bei
224 (Lü)). Der Tod ist nicht das Ziel, sondern der Schopenhauer die unter dem gemeinsamen Namen
Zweck des Lebens, er strahlt dadurch, im Sinne Scho- »animalischer Magnetismus« zusammengefassten
penhauers, in das Leben ein, schafft die notwendige Phänomene starke Beachtung (vgl. Ellenberger 1981,
Distanz zu Leid und Glück. 159). Erstaunt und zutiefst berührt soll er beim An-
Die »Spekulation« ist eine Anwendung der Philoso- blick der »wundervollen Beispiele magischer Kraft«
phie Schopenhauers, die außerhalb des eigentlichen (Schröder 1957) gewesen sein, wenn der bekannte ita-
Systems steht. Für Schopenhauers Denken gilt grund- lienische Magnetiseur Regazzoni »die unmittelbare,
sätzlich, was er im Handschriftlichen Nachlaß schrieb: also magische Gewalt seines Willens über andere« (N,
»Wenn ich mich besinne; so ist es der Weltgeist der zur 427 f. (Lö); vgl. Cartwright 2010, 445 ff.) ausübte.
Besinnung kommen will, die Natur, die sich selbst er- Schopenhauer war überzeugt, dass die in seinem
kennen und ergründen will. Es sind nicht Gedanken Hauptwerk systematisch dargelegte Philosophie gera-
eines andern Geistes, denen ich auf die Spur kommen de in diesen rätselhaften, höchst befremdlichen und
will: sondern das was ist will ich zu einem Erkannten, kaum zu erklärenden Phänomenen ihre glaubwür-
Gedachten umwandeln, was es außerdem nicht ist, digste Bestätigung findet, wie auch umgekehrt diese
noch wird« (HN III, 402). Und doch bietet die spekula- Phänomene nur vor dem Hintergrund seiner Philoso-
tive Auseinandersetzung mit dem Willen einen berei- phie verständlich werden. Wie er nicht nur in der Ab-
chernden Wechsel der Perspektive, um von der Todes- handlung »Versuch über das Geistersehn« in Parerga
verbundenheit alles Lebenden zu sprechen. Unter Ein- und Paralipomena I, sondern auch im Kapitel »Ani-
beziehung des Todes lässt sich die Notwendigkeit der malischer Magnetismus und Magie« seines Werks Ue-
wechselhaften Glücksumstände des Daseins verste- ber den Willen in der Natur ausführt (s. Kap. 7), zeugen
hen, die Akzeptanz und Lösung vom Eigenwillen er- solche Phänomene augenscheinlich davon, dass die
fordern. Schopenhauer unternimmt in der »Spekulati- sogenannte objektive Welt nichts anderes sei als die
9  Parerga und Paralipomena 135

Erscheinung, d. h. die zusammenhängende Reihe der Der grundsätzliche Unterschied zwischen Hell-
auf den Bedingungen von Individuation, Zeit, Raum sehen und Traum besteht darin, dass das dem Hell-
und Kausalität beruhenden Vorstellungen. Sowohl im sehenden Erscheinende nicht bloß die anzuschauen-
somnambulen Hell- bzw. Geistersehen wie auch im den Bilder sind, sondern die wirklichen, genauer: als
magischen Rapport zwischen dem Magnetiseur und wirklich wahrgenommenen Dinge: »Es ist nicht an-
seinem Medium verlässt der Wille als Ding an sich ders, als ob alsdann unser Schädel durchsichtig ge-
den natürlichen Umweg seines vermittelten Manifes- worden wäre, so daß die Außenwelt nunmehr statt
tierens und tritt unmittelbar und als solcher hervor. durch den Umweg und die enge Pforte der Sinne gera-
Die natürlichen, die Individuen trennenden Schran- dezu und unmittelbar ins Gehirn käme« (P I, 289
ken der Zeit und des Raumes zeigen sich in diesen (Lö)). Um diesen Unterschied hervorzuheben und
übernatürlichen Phänomenen als durchbrochen, so diese andere, ganz eigenartige Wahrnehmung von der,
dass die räumliche Trennung zwischen Magnetiseur die durch die Sinnesorgane vollzogen wird, möglichst
und Somnambule durch die durchgängige Gemein- scharf zu unterscheiden, bestimmt Schopenhauer das
schaft ihrer Gedanken und Willensbewegungen über- Hellsehen des Näheren als »Wahrträumen«, und das
wunden und »im gewissen Grade beseitigt« (P I, 318 Organ, durch das diese seltsame Wahrnehmung ge-
(Lö)) wird. Der Hellsehende wird in seinem über- schieht, als »Traumorgan«.
natürlichen Zustand »über die der bloßen Erschei- Die Frage nach dem Wesen und der wahren Natur
nung angehörenden, durch Raum und Zeit bedingten dieses Traumorgans führt ihn weiter zum Versuch ei-
Verhältnisse, Nähe und Ferne, Gegenwart und Zu- ner metaphysischen Erklärung der Möglichkeit von
kunft, hinaus« (N, 429 (Lö)) gesetzt. Magnetismus. Demzufolge entsteht das Hellsehen
Das Geistersehen und alle anderen damit zusam- dann, wenn die natürliche Weise des Wahrnehmens
menhängenden übernatürlichen Phänomene, wie et- und Erkennens ihren natürlichen Gang umwendet, so
wa somnambules Wahrnehmen, Hellsehen, Vision dass die Reize und Einflüsse nicht mehr von außen
und zweites Gesicht, können nach Schopenhauer nur über die Sinnesorgane unserem Inneren übermittelt
unter der Bedingung zustande kommen, dass der er- werden, sondern die Erregungen und Schwingungen
kennende Intellekt und das normale Bewusstsein, umgekehrt vom Inneren her ins Gehirn eindringen,
samt den dazu gehörenden Formen von Zeit, Raum, wo sie die ›Gehirnfiebern‹ in die entsprechende Bewe-
Individualität und Kausalität, einmal außer Kraft ge- gung bringen und diese Bewegungen dann auf diesem
setzt werden. Auf natürliche Weise geschieht dies im umgekehrten Weg an die äußerlichen Sinne liefern,
Zustand des Schlafs und in den darin vorkommenden wo sie zuletzt in die diesen Sinnen und dem Intellekt
Träumen. Der magnetische Zustand ist, obwohl er mit eigentümliche Sprache der Bilder, Gestalten und Sym-
dem Traum eine beträchtliche Verwandtschaft hat, bole übersetzt werden.
doch von ihm wesentlich verschieden, und könnte Bei dem Versuch der metaphysischen Erklärung
eher als die »Steigerung« und die »höhere Potenz des- dieser seltsamen Vorgänge beschränkt sich Schopen-
selben« angesehen werden, ebenso wie das Hellsehen hauer ausdrücklich auf eine Vermutung. Nach dieser
»eine Steigerung des Träumens«, oder genauer »ein Vermutung – die wohl mit der alten parodistischen
beständiges Wahrträumen« (P I, 311 (Lö)) ist. ›Erklärung‹ der Mantik in Platons Timaeus (71 f.) ih-
Im Unterschied zum freien Spiel der Einbildungs- rer Skurrilität nach wetteifern darf – wirft das »allwis-
kraft im wachen Zustand, wo wir ständig unserer ei- sende, dagegen aber gar nicht ins gewöhnliche Be-
genen darin produktiven Tätigkeit gewahr bleiben, wusstsein fallende, sondern für uns verschleierte Er-
erscheinen sowohl die dem Hellsehen entspringen- kenntnisvermögen« im magnetischen Hellsehen und
den Visionen als auch die im Traum sich zeigenden den ihm verwandten Zuständen seinen Schleier ab,
Gesichter als etwas uns Fremdes, was ohne unser ei- und das Ansichsein bricht unmittelbar und unverhüllt
genes Zutun da ist und sich uns sogar wider unseren hervor. Dies geschieht dann, wenn dieses Vermögen
Willen aufdrängt. Im Unterschied zu der durch die
Außensinne wahrgenommenen Wirklichkeit aber »etwas dem Individuo sehr Interessantes erspäht hat,
fehlt beiden, sowohl den Gesichtern des Hellsehens von welchem nun der Wille, der ja der Kern des ganzen
wie den Traumbildern, der Zusammenhang mit dem Menschen ist, dem zerebralen Erkennen gern Kunde
Ganzen unserer Erfahrung und die Fähigkeit zur be- geben möchte, was dann aber nur durch die ihm selten
sonnenen Rückerinnerung, was sie in die Nähe zum gelingende Operation möglich wird, daß er einmal das
Wahnsinn bringt. Traumorgan im wachen Zustande aufgehn läßt und so
136 II Werk

dem zerebralen Bewußtsein in anschaulichen Gestal- Schopenhauer. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft
ten entweder von direkter oder von allegorischer Be- 21 (1934), 106–116.
deutung jene seine Entdeckung mitteilt« (P I, 327 (Lö)). Florschütz, Gottlieb: Arthur Schopenhauer und das
Okkulte. Swedenborgs Sehergabe und Kants Morallehre
im Rahmen von Schopenhauers Willensmetaphysik. In:
Über die Tragfähigkeit dieser Erklärung scheint sich Schopenhauer-Jahrbuch 77 (1996), 241–254.
Schopenhauer keine Illusionen gemacht zu haben. Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers, erläutert durch
Die Abhandlung lässt er mit der enthaltsamen Ver- Träume der Metaphysik. Werke. Bd. 1. Hg. von Wilhelm
sicherung schließen, ihr Zweck war kein anderer, als Weischedel. Wiesbaden 1960.
Mesmer, Friedrich Anton: Mesmerimus oder System der
»auch nur ein schwaches Licht auf eine sehr wichtige
Wechselwirkungen. Theorie und Anwendung des thieri-
und interessante Sache zu werfen« (P I, 336 (Lö)). In schen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhal-
der Tat bleibt es zu fragen, ob die angestrebte metaphy- tung des Menschen. Hg. von Karl Christian Koch. Berlin
sische Erklärung überhaupt gelingen könnte unter der 1814.
unbefragten Voraussetzung der physiologisch zu ver- Meyer, Christoph: An der Schwelle des inneren Seins. In:
stehenden ›Gehirn- und Nervenfiebern‹ und ihrer Schopenhauer-Jahrbuch 41 (1960), 16–43.
Noorden, Hans von: Das Rätsel des Hellsehens. Probleme
Schwingungen und Erschütterungen, womit Scho- von Kant bis zu C. G. Jung. In: Schopenhauer-Jahrbuch 52
penhauer offensichtlich – übrigens wie bereits Kant, (1971), 9–39.
der im selben Zusammenhang von der »Erschütte- Schröder, William von: Der Frankfurter Skandal um den
rung und Bebung des feinen Elements« (Kant 1960, Magnétiseur Regazzoni. In: Frankfurter Allgemeine Zei-
957) spricht – letztlich auf Mesmers Lehre von den tung, 31.12.1957, Nr. 302.
Segala, Marco: I Omi, il cervello, l’anima. Schopenhauer,
»tonische[n] Bewegungen der feinen Flut, mit der die
l’occulto e la scienza. Firenze 1998.
Nervensubstanz geschwängert ist« (Mesmer 1814, Urban, Peter: Schopenhauer und der gegenwärtige Stand der
119) zurückzugreifen scheint. Parapsychologie. Diss. Wien 1965.
Die besondere Wirkung der kurzen Abhandlung Wolf, Hermann: Schopenhauers Verhältnis zur Romantik
auf die nachkommende Philosophie oder Psychologie und Mystik. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 3
ist nicht unabhängig vom Ganzen der Schopenhauer- (1914), 277–280.
Zint, Hans: Schopenhauers Philosophie des doppelten
schen Philosophie zu ermitteln. In diesem Rahmen Bewusstseins. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft
haben seine Ansichten über die sogenannten parapsy- 10 (1921), 3–45.
chologischen Phänomene eine beträchtliche Wirkung
vor allem auf Eduard von Hartmanns Philosophie des Damir Barbarić
Unbewussten, auf Nietzsches Trieblehre, auf Freuds
Psychoanalyse und das Wiener Fin de Siècle im Gan-
zen sowie auf C. G. Jungs Tiefenpsychologie ausgeübt. 9.6 »Aphorismen zur Lebensweisheit«

Literatur »Aphorismen zur Lebensweisheit« haben in Europa ei-


Barbarić, Damir: »Der Weg durch das Ding an sich«. Scho- ne lange Geschichte. Sie beginnt mit dem zweiten
penhauers Versuch über das Geistersehn. In: Schopen- großen Dichter Griechenlands, Hesiod (um 700
hauer-Jahrbuch 93 (2012), 175–181.
Becker, Aloys: Arthur Schopenhauer – Sigmund Freud. His-
v. Chr.), und endet nicht mit den Minima Moralia (Un-
torische und charakterologische Grundlagen ihrer gemein- tertitel: Reflexionen aus dem beschädigten Leben) Theo-
samen Denkstrukturen. Diss. Mainz 1969. dor W. Adornos. Schopenhauer selbst nennt eingangs
Bender, Hans: Telepathie und Hellsehen als wissenschaftli- lediglich zwei Vorläufer. Man hört vom zu seiner Zeit
che Grenzfrage. In: Schopenhauer-Jahrbuch 48 (1967), hochberühmten und von Lessing (Zur Philosophie und
36–52.
Kunst, XVII) ›geretteten‹ Universalgelehrten Hierony-
Cartwright, David E.: Schopenhauer. A Biography. New York
2010. mus Cardanus (1501–1576) und seiner in 4 Bücher ein-
Driesch, Hans: Schopenhauers Stellung zur Parapsycho- geteilten Schrift De utilitate ex adversis capienda (Über
logie. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 23 den aus widrigen Umständen zu ziehenden Nutzen)
(1936), 15–99. und von einem kurzen Abschnitt aus der aristotelischen
Ellenberger, Henry F.: The Discovery of the Unconscious. The Rhetorik. Dass Schopenhauer allein vom Titel des 1561
History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York
1981.
erschienenen Cardanus-Werkes angetan sein musste,
Faggin, Giuseppe: Schopenhauer e la mistica. In: Sophia 1 liegt auf der Hand; der Untertitel konnte seine Sym-
(1933), 430–435; 2 (1934), 84–105. pathie wohl noch verstärken: Ex quibus in omni fortuna,
Fauconnet, André: Les fondements de la psychoanalyse chez rebus secundis & adversis, diligens lector mirabilem ad
9  Parerga und Paralipomena 137

tranquille feliciterque vivendum (quantum in hac misera selbst) nennt (HN IV (2), 106 ff.). Die letzte Eintra-
miserorum mortalium conditione fieri potest) utilitatem gung ist »um 1855« (so Arthur Hübscher in seiner
percipiet (Aus welchem Text der aufmerksame Leser in Ausgabe) hinzugekommen. Der Testamentsverwalter,
jeglichem Glücksumstand, in günstigen und widrigen Wilhelm von Gwinner, sollte nach eigenen, von ande-
Angelegenheiten, erstaunlichen Nutzen zu einem ruhi- rer Seite später bezweifelten, Angaben das Büchlein
gen und glücklichen Leben –soweit das in dieser elen- vernichten, behauptete auch, dies getan und für seine
den Lage elender Sterblicher der Fall sein kann – gewin- spätere Schopenhauerbiographie (1862/78) Notizen
nen wird). Wenn wir uns auf die Zitierung des Titels be- benutzt zu haben, die er sich gemacht habe, wenn
schränken, so deswegen, weil Schopenhauer sich zu Schopenhauer ihm gelegentlich daraus vorlas. Aus
versichern beeilt, dass er die beiden genannten Quellen den genannten beiden Auflagen dieser Biographie ist
nicht benutzt habe – Kompilation sei nicht seine Sache, der Text der Schrift mehrfach rekonstruiert worden,
und durch eine solche gehe auch die »Einheit der An- zuerst von Eduard Grisebach 1898, zuletzt von Franco
sicht« verloren (P I, 334). Mit der Erwähnung des Aris- Volpi 2006. Hier wird die mit einer umfassenden Er-
toteles (er nennt das Kapitel I 5 der Rhetorik, nach der läuterung versehene Rekonstruktion Arthur Hüb-
üblichen Seitenzählung 1360b4 ff.) hat sich sein Blick schers von 1975 (HN IV (2), 106–129) benutzt, die
ohnehin von der ihm näherstehenden Eudämonologie (wenige) Stellen aus den Parerga und Paralipomena
abgewandt; von Aristoteles erhält der Leser eine nüch- hinzufügt. Wenn Gwinners Angaben (vgl. Gwinner
terne Aufzählung dessen, was man allgemein als die 1862/1878, 290 f.) stimmen, hatte Schopenhauer wohl
Elemente von ›Glück‹ ansieht, mit je anschließender wegen der gelegentlichen in die Kladde aufgenom-
Kurzanalyse dieser Elemente. menen sehr offenen Selbstanalysen darum gebeten,
Kurz zu weiteren Vorläufern: Der zweite Großteil den Text zu vernichten. Ansonsten findet sich man-
von Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage (Verse ches, was in den »Aphorismen« Ausdruck finden
383–764) gibt Anweisungen zu rechtem Handeln. In wird, z. B. das Wissen um die unerfreulicheren Seiten
den letzten Versen des gelegentlich für unecht erklär- der Mitmenschen, das Streben nach Freiheit von auf-
ten Schlussabschnittes (»Tage«) folgt das Verspre- gezwungenen Tätigkeiten, Skepsis der Ehe gegenüber;
chen, dass der, der den erteilten Ratschlägen folgt, darüber hinaus mag die recht häufige Rubrizierung
»glücklich [eudaímōn] und wohlhabend [ólbios]« des Menschen als »bipes« (Zweifüßer) auffallen. 1826
sein wird. Eine Fülle von Ratschlägen zur Eudämonie folgen im Manuskriptbuch »Foliant II« unter der
(d. h. zu dem Zustand, in welchem es um einen wohl- Überschrift »Eudämonik« entsprechende Gedanken,
bestellt ist) findet sich bei den sogenannten Sokrati- 1828 ebenda, unter dem Titel »Eudämonologie«, be-
kern (im weiteren Sinne), zu denen u. a. Diogenes reits der Grundriss des Kapitels I der »Aphorismen«.
von Sinope gehört; der größte und konzinnste aller Das Thema »Eudämonik« wird dann, ebenfalls 1828,
Glückslehrer, Epikur, wäre jetzt samt seinen Kýriai im Manuskriptbuch »Adversaria« fortgesetzt.
Doxai (Hauptlehrmeinungen) zu nennen, dann Se- In den späten 1820er und den frühen 1830er Jahren
necas Briefe, Marc Aurels Aufzeichnungen An sich / übersetzt er Baltasar Graciáns Oráculo manual y arte
mich selbst, des Thomas a Kempis Nachfolge Christi, de prudencia (Hand-Orakel und Kunst der Weltklug-
weite Teile aus Montaignes Essais, Graciáns Handora- heit) in zwei Anläufen: zuerst Sprüche 1–50, dann alle
kel (s. u.), Teile aus Goethes Maximen und Reflexio- 300 unter dem Titel Orakel der Weltklugheit in endgül-
nen und aus Giacomo Leopardis Zibaldone; und für tiger Fassung (s. Kap. 10.5). Gracián musste ihn, ähn-
die Zeit nach Schopenhauer braucht, neben Adorno, lich wie Cardanus, ansprechen. Die Welt des spa-
nur an Nietzsches Mittel- und Spätwerk erinnert zu nischen Jesuiten entsprach in ihrer absurden Wider-
werden – dessen aphoristischer Charakter wohl auch wärtigkeit der Schopenhauerschen Willenswelt, und
auf die Wirkung der Schopenhauerschen Aphoris- Graciáns Schlussempfehlung rät, wenn wohl auch,
men zurückgeführt werden kann. Denn mit deren trotz allmählicher Zunahme eines frommen Tones,
Veröffentlichung im ersten Band der Parerga (1851), für den Leser überraschend, »ein Heiliger zu seyn«: 10
und wohl vor allem mit ihnen, beginnt Schopenhau- bis 15 Jahre zuvor hatte Schopenhauer seine Metaphy-
ers Breitenwirkung. sik veröffentlicht und fand nun bei Gracián gewisser-
Schopenhauers Interesse an der Eudämonologie maßen eine Sammlung von Aperçus vor, die, ohne
setzt früh ein. Um 1821 fängt er an, entsprechende Anspruch auf analytische oder gar metaphysische Be-
Eintragungen in ein Notizenbuch zu machen, das er gründung, demselben Weltbild dieselbe Idee von der
nach Marc Aurels Werk »Eis heautón« (An sich/mich Befreiung daraus folgen ließ.
138 II Werk

Schopenhauers »Aphorismen« bestehen aus zwei oder entschließen mussten, in ihnen Trost oder Bestä-
Teilen und einem Anhang. Im ersten Teil geht es um tigung fanden. In der ersten Zeit der Wirkung des
die Beschreibung und Bewertung der Voraussetzun- Werkes scheint der »Rückzug ins Private« ein Massen-
gen für ein angenehmes Leben ([»Grundeinthei- phänomen gewesen zu sein, wie sich etwa in Briefen
lung«,] Geist, Besitz, Ehre), der zweite Teil behandelt, zeigt, die Otto Pflanze in seiner Bismarck-Biographie
nach »Allgemeinem«, das zu dem genannten Zweck aus den späteren 1850er Jahren zitiert (vgl. Pflanze
empfehlenswerte Verhalten. Dieser zweite Teil ist »Pa- 2008, 223 f.), womit auch die zur selben Zeit begin-
ränesen [d. h. Empfehlungen] und Maximen« über- nende breite Rezeption von Schopenhauers Haupt-
schrieben und wirkt, wegen seiner Einordung als »Ka- werken zu erklären sein wird.
pitel V«, unselbstständig. Aber die Gliederung dieses Schopenhauer bemüht sich zwar um eine mög-
»Kapitels«, A–D, entspricht der Einteilung des ersten lichst scharfe Trennung von Hauptwerk und »Apho-
Abschnitts auch inhaltlich (s. u.), und es ist nicht we- rismen«, verweist aber einerseits des Öfteren in den
sentlich kürzer als die Kapitel I–IV zusammen (76:96 »Aphorismen« anmerkungsweise auf das Hauptwerk,
Hübscher-Seiten). Auf die Paränesen folgt der eigent- was zu Interpretationsproblemen führen kann (vgl.
liche Anhang »Vom Unterschiede der Lebensalter«. Ingenkamp 2006, 84 ff.), und andererseits wird der Le-
Insgesamt bringen es die »Aphorismen« auf stattliche ser des Hauptwerks, gegen den Willen des Autors, hier
fast 200 Seiten in der Hübscher-Ausgabe. und da eudämonistische Abweichungen bemerken –
Schopenhauer beginnt sein wirkungsreiches Werk ja sogar das Hauptwerk selbst wird, als Ganzes, wohl
mit einer schroff herabsetzenden Abgrenzung vom ei- öfter, wenn vom Autor nicht gerade ausdrücklich ver-
genen Hauptwerk: Die Eudämonologie, also die Lehre hindert, zu einem eudämonistischen Verständnis der
vom privaten Glück, beruhe auf der Annahme, das Willensverneinung führen, denn die Epoche der ers-
Dasein sei dem Nichtsein vorzuziehen – eine Auffas- ten Wirkung war zwar, wie gesagt, u. a. von der Vor-
sung, die »bekanntlich« seine Metaphysik »verneine«. stellung eines (Unglück verhindernden) Rückzugs ins
Somit beruhe die Anleitung zum Glück auf einem Private, nicht aber von einer Tendenz zur Weltabge-
»Irrthum«. Er, Schopenhauer, habe sich in seinem fol- wandtheit geprägt. Überlappungen zwischen »Apho-
genden Werk dem gewöhnlichen, also auf Irrtum be- rismen« und Hauptwerk, die zu einer eudämonis-
ruhenden Standpunkt akkomodieren müssen – schon tischen Auffassung des letzteren führen können, gibt
das Wort »Eudämonologie« sei ein »Euphemismus« es durchaus. Schopenhauer ermuntert in den »Apho-
(P I, 333 f.). rismen« den Leser, sich an das Hauptwerk zu er-
Wie der Leser bald bemerken muss, richten sich die innern, das (das epikureische Ideal der) Ataraxie (d. h.
»Aphorismen« nicht an jedermann. Frauen und Kin- die unerschütterliche Seelenruhe; das Wort selbst ver-
der sind gewissermaßen ›Accessoires‹ des angespro- wendet er nicht) fördere (P I, 436); umgekehrt preist
chenen Publikums und somit als Leser kaum voraus- er am Schluss der Metaphysik das wohl allgemein er-
gesetzt. Angesprochen werden Männer ab dem hei- strebte Gut der »Meerestille des Gemüths«, die der
ratsfähigen Alter und nur solche, die insofern »von Willensverneinung folge (W I, 468). Anderswo lässt er
Stand« sind, als sie sich vernünftigerweise über Rang den auf dem Weg zur Willensverneinung Befindlichen
und Besitz Gedanken machen werden. Angesprochen fragen, »ob die Mühe und Noth seines Lebens und
fühlen werden sich aber bald nur Männer, denen be- Strebens wohl durch den Gewinn belohnt werde«,
stimmte Charakterzüge eigen sind: solche nämlich, und das sei der Punkt, wo er sich eventuell, »beim
die sie mit Schopenhauers eigenem Charakter verbin- Lichte deutlicher Erkenntniß« zur Verneinung des
den oder andere, die nicht zu den eigenen zählen zu Willens entscheide (W II, 656; dazu Ingenkamp 2001,
können Schopenhauer bedauert hat (vgl. W I, XXI, 70 f.). Ferner: In demjenigen, für den der andere ein
die Selbstanalyse in »Eis heautón«, Nr. 28, HN IV (2), »Ich noch ein Mal« ist, also in dem, der wahres Mitleid
120 f.). So stellen sich die »Aphorismen« als eine empfindet, walte ein »tiefe[r] Friede« und eine »ge-
Sammlung von Überlegungen über die Möglichkeiten troste, beruhigte, zufriedene Stimmung« (E, 275) –
eines dem Autor selbst Zufriedenheit schenkenden und auf eben diese Stelle verweist Schopenhauer in
Lebens dar. Wenn sie trotzdem eine so große Wirkung den zum irrtümlichen »Glück« führenden »Aphoris-
hatten, wird das einerseits daran liegen, dass sich ähn- men« (P I, 366), als ob wir lernen sollten, mitleidig zu
liche Charaktere bestätigt fühlten, andererseits aber sein: dann stelle sich der tiefe Friede schon ein.
auch daran, dass sich Personen, die sich aus irgend- Es bedarf auf Seiten des Lesers der Bereitschaft, auf-
einem Grund zu einer Art retraite entschlossen hatten merksam zu differenzieren, um festzustellen, dass z. B.
9  Parerga und Paralipomena 139

die »Meeresstille« im Gemüt dessen, der den Willen ben hat – das sich, wie zu erwarten, isolieren wird (P I,
verneint hat, nicht erstrebt ist, sondern sich von selbst, 361): Eine Ausnahme war der ihm persönlich bekann-
als Folge der Verneinung, einstellt, während die te Goethe, dem er hier nicht folgen kann (P I, 355).
»Aphorismen« eine innerweltliche Technik bieten, Ge- Die Gefahren, denen ein solcher Mensch ausgesetzt
mütsruhe unter Einsatz des Willens zu erreichen. Al- ist, sind Schopenhauer, der sich hier besonders deut-
lerdings dürfte der bald nach dem Erfolg der »Aphoris- lich selbst zum Exempel macht, nicht entgangen:
men« einsetzende Erfolg des Hauptwerkes zum Teil Schmerzempfindlichkeit, leidenschaftliches Tempera-
auch auf die gewissermaßen technisch-eudämonis- ment, Lebhaftigkeit der Vorstellungen und, wie schon
tische Lektüre des Hauptwerkes zurückzuführen sein. festgestellt, mit all dem einhergehende Entfremdung
Das erste Kapitel der »Aphorismen« präsentiert die von den anderen (P I, 363 f.). Das, was folgt, erklärt
drei Kriterien, die das Glück eines Menschen bestim- sich anhand des vorangestellten Ideals. Was den Besitz
men: Was einer ist (Kap. 2), was einer hat (Kap. 3), was angeht (Kap. 3), so schwebt Schopenhauer der alte
einer vorstellt (Kap. 4), und begründet sie. Das erst- Wert der Autarkie vor. Glücklich der, der von Hause
genannte Kriterium ist das bei weitem gewichtigste; aus so viel besitzt, dass er »vom allgemeinen Frohn-
wir erfahren, dass zu dem, was einer ist, zunächst die dienst« befreit ist (P I, 372).
»ächten persönlichen Vorzüge« gehören, nämlich gro- Das bei weitem längste, 4., Kapitel dieses ersten
ßer Geist (d. h. [schöpferische] Intelligenz) und gro- Teils befasst sich mit dem Thema Rang, Ehre und
ßes Herz (d. h. Herzensgüte), dann auch äußere Vor- Ruhm. Der »Rang«, also die beruflich-gesellschaftli-
züge, unter denen Gesundheit an erster Stelle steht. che, sich gegebenenfalls in Titeln und Sonderrechten
Kommen wir zum 2. Kapitel, also zur ausführlichen ausdrückende Position, wird mit Verachtung und in
Behandlung des ersten Kriteriums, so finden wir hier aller Kürze abgetan. Sehr ausführlich behandelt Scho-
als Schopenhauers Ideal den »geistreichen« Men- penhauer dagegen die »Ehre«, welcher er schon im
schen, den Heiterkeit (im alten Wortsinn: also unge- Jahre 1828, also in seiner eudämonologischen Fragen
trübte Gemütsruhe, dem griechischen euthymía ent- offenen Epoche, eine kleine Schrift gewidmet hatte,
sprechend), die »baare Münze des Glückes« (P I, 344), die aber von ihm nicht veröffentlicht worden war:
kennzeichnet, die ihrerseits von der »unabänderli- »Skitze einer Abhandlung über die Ehre« (HN III,
chen Beschaffenheit des Organismus« (P I, 346), nicht 472–496). Vor allem geht es ihm um die Kritik der
zuletzt von der Gesundheit (P I, 345) und tatsächlich »ritterlichen Ehre«; ansonsten behandelt er die von
auch von gutem Aussehen (P I, 348) abhängt: so welt- ihm natürlich gutgeheißene bürgerliche Ehre, die in
zugewandt ist hier gedacht. Dieser geistreiche Mensch der Achtung der Rechte des anderen besteht, die
wird einerseits den Grundübeln der Menschennatur, Amtsehre und die Sexualehre, bestehend in der Treue
dem Schmerz und der Langeweile, mit seinem inne- der Frau und in der entsprechenden Reaktion des
ren Reichtum begegnen und andererseits die nötige Mannes, wenn die Frau die Treue gebrochen hat. Die
Muße finden, um zu genießen, was er an sich selber ritterliche Ehre sei »den Alten« unbekannt gewesen:
hat (P I, 350 f.). Schopenhauerischer wird der Katalog, sie sei ein Produkt »jener Zeit, wo die Fäuste geübter
wenn sich daraus ergibt, dass dieser Mensch »zu sei- waren, als die Köpfe, und die Pfaffen die Vernunft in
ner Unterhaltung wenig, oder nichts, von außen nöt- Ketten hielten, also des belobten Mittelalters [...]« (P I,
hig hat« – »am Ende bleibt doch Jeder allein, und da 403). Es ist nicht zuletzt der diesem Ehrgefühl un-
kommt es darauf an, wer jetzt allein sei« (P I, 353). erträgliche Eindruck, Opfer auch einer unbedeuten-
Dann geht Schopenhauer passend zu den »Geistes- den (aber dramatisierten) Herabsetzung (noch
kräften« über und scheint bald ins Schwärmen zu ge- schrecklicher: einer Tätlichkeit) zu sein, der Schopen-
raten, wenn er einen mit »überwiegenden Geisteskräf- hauer zu bissigem Spott reizt. Dies Bild von der Ritter-
ten« Ausgestatteten »in die Atmosphäre der leicht le- ehre geht in Schopenhauers Frühzeit zurück: Bereits
benden Götter« versetzt (P I, 358): »Ein so bevorzug- 1812 findet sich eine längere Notiz, die den Kern der
ter Mensch führt, [...], neben seinem persönlichen späteren Kritik enthält (vgl. HN I, 18 f.). Die relative
Leben, noch ein zweites, nämlich ein intellektuelles, Geringschätzung des Ruhmes sodann beruht dagegen
welches ihm allmälig zum eigentlichen Zweck wird auf nüchterner Betrachtung: Wesentlich sei, ob man
[...]; während den Übrigen dieses schaale, leere und ihn verdiene (vgl. P I, 425 u. ö.), heißt es, womit kri-
betrübte Daseyn selbst als Zweck gelten muß« (P I, tisch gesagt ist, dass Ruhm von der Generosität oder
359). An der Spitze der Pyramide der Begnadeten der Parteilichkeit der anderen abhängt und das Ver-
steht das Genie, wie er es in seiner Ästhetik beschrie- dienst für sich zu bewerten ist.
140 II Werk

Die den Rahmen des zuvor Behandelten anschau- Zimmer, Robert: Philosophie der Lebenskunst aus dem
lich-praktisch erweiternden Paränesen und Maximen Geiste der Moralistik. Zu Schopenhauers Aphorismen zur
(der Titel wohl nach Goethes Maximen und Reflexio- Lebensweisheit. In: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009),
45–64.
nen) empfehlen, zusammengefasst, nach Möglichkeit
unabhängig zu leben (B), fremder Wesensart gegen- Heinz Gerd Ingenkamp
über eine Art distanzierte Toleranz an den Tag zu le-
gen und, was das eigene Auftreten angeht, Zurückhal-
tung zu üben (C: Verhalten im sozialen Umfeld), und 9.7 Der zweite Band der Parerga und
dass man sich in den – unabänderlichen – Weltlauf Paralipomena
finden möge (D: Verhalten angesichts der Lage, in die
man hineingeboren oder -geraten ist). Die Schönheit Schopenhauer konzipierte sein letztes Werk aus-
des das Werk abschließenden, den Lebensaltern ge- drücklich als »bei Weitem das populärste, gewisser-
widmeten, aber auf eine Würdigung des Alters hi- maaßen [s]ein ›Philosoph für die Welt‹« (GBr, 244).
nauslaufenden Kapitels sucht ihresgleichen. Philosoph für die Welt war der Titel einer wohl be-
Nietzsche hat im Jahre 1884 einige Verse zu Papier rühmten Sammlung populärer philosophischer
gebracht, die als vergleichende Wertung dessen ange- Schriften der Berlinischen Aufklärung, und Schopen-
sehen werden können, was er, Nietzsche, im Haupt- hauer meint damit, dass nun seine im Hauptwerk for-
werk und in den »Aphorismen« vorfand: »Was er lehr- mulierten Gedanken anhand einer leichteren Formu-
te [d. h. das Hauptwerk; H. G. I.] ist abgethan, / Was er lierung und prägnanter Beispiele vermittelt werden
lebte, wird bleiben stahn: / Seht ihn nur an! [Zeugnis sollen (vgl. Zimmer 2013).
für die Nachgeborenen: Die »Aphorismen«; H. G. I.] / Wenn sein Titel, Parerga und Paralipomena, dem li-
Niemandem war er unterthan!« (KSA 11, 303). Scho- terarischen Sinn nach zu verstehen ist, und zwar als
penhauer hat, wie gesagt, seinen in den »Aphorismen« eine Sammlung von »Beiwerken und Nachträgen«,
vorgetragenen Lehren gemäß gelebt. Sie sind ein in dann enthält der zweite Band zweifelsohne die Nach-
seltener Weise authentisches Werk. Nietzsches Verse träge, und zwar im Sinne der griechischen Wurzel des
scheinen ihnen ein langes Weiterleben zu prophezeien Terminus, »das Übergangene«, das im Hauptwerk kei-
und werden Recht behalten. nen Platz finden konnte und dennoch dazu gehört.
Paralipomeni war der Titel der ersten zwei Bücher der
Literatur Chroniken des Alten Testaments, und als Paralipome-
Dahl, Edgar: Die Kunst, glücklich zu sein. Arthur Schopen- na wurden auch schon die Aufzeichnungen Goethes
hauer im Lichte der empirischen Glücksforschung. In: betitelt, die weder in Faust I noch in Faust II eingegan-
Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008), 77–89.
Grisebach, Eduard (Hg.): Schopenhauer’s Gespräche und
gen sind. Das Wort »Nachträge« ist außerdem in den
Selbstgespräche nach der Handschrift eis eauton. Berlin Titeln dreier Kapitel dieses Bandes zu finden.
1898. Es ist bekannt, dass Schopenhauer sein ganzes Le-
Gwinner, Wilhelm von: Arthur Schopenhauer aus persönli- ben lang, und zwar fast täglich, Gedanken notierte.
chem Umgange dargestellt [1862]. Leipzig 21878. Kürzere Sentenzen aus Büchern, alltägliche Erfahrun-
Hübscher, Arthur: Lebensbild. In: Ders. (Hg.): Arthur Scho-
gen, wie der erheiternde Anblick eines lächelnden
penhauer. Sämtliche Werke. Bd. I. Wiesbaden 31972, 31–142.
Ingenkamp, Heinz Gerd: Die Wirtschaftlichkeit des Nichts. Mädchens oder der verärgernde Lärm eines Peit-
In: Schopenhauer-Jahrbuch 82 (2001), 65–82. schenhiebs, verursachten bei ihm Eindrücke, die er in
Ingenkamp, Heinz Gerd: Schopenhauer als Eudaimonologe. kürzeren oder längeren Texten verarbeitete. Es hatte
In: Schopenhauer-Jahrbuch 87 (2006), 77–90. sich somit eine große Menge an Notizen angesam-
Ingenkamp, Heinz Gerd: Eudämonologie. In: Michael Flei- melt, die meistens assoziativ entstanden sind und von
ter (Hg.): Die Wahrheit ist nackt am schönsten. Arthur
Schopenhauer sorgfältig aufbewahrt wurden, bis er sie
Schopenhauers philosophische Provokation. Frankfurt a. M.
2010, 191–198. in dicken, mit Titeln versehenen Manuskriptbänden
Neumeister, Sebastian: Schopenhauer, Gracián und die zusammenfassen ließ. Auf diese Materialien griff
Form des Aphorismus. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85 Schopenhauer beim Verfassen der Parerga und Parali-
(2004), 31–45. pomena zu (vgl. Segala 2013).
Pflanze, Otto: Bismarck. Bd. I: Der Reichsgründer [1998].
Selbst also wenn Schopenhauer den zweiten Band
München 2008.
Volpi, Franco (Hg.): Arthur Schopenhauer: Die Kunst, sich mit dem Untertitel »Vereinzelte, jedoch systematisch
selbst zu erkennen. München 2006. geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände« ver-
sah, ist diese Ordnung relativ frei zu verstehen. In die-
9  Parerga und Paralipomena 141

sem Band sind die Argumente nämlich sehr unter- Einen weiteren Hinweis zur Ordnung der Argu-
schiedlich gewichtet worden; man kann der systemati- mente in diesem Band findet man gleich im ersten
schen Ordnung der vier Bücher des Hauptwerks allein Beitrag »Ueber die Philosophie und ihre Methode«.
die ersten fünfzehn Kapitel zuweisen. Erkenntnistheo- An seinem Anfang steht die Bestimmung des Philoso-
retischer Art sind die ersten vier Kapitel: 1. »Ueber Phi- phen und der Erfordernisse des Philosophierens. Phi-
losophie und ihre Methode«, 2. »Zur Logik und Dia- losophen sind diejenigen, die unablässig bedenken,
lektik«, 3. »Den Intellekt überhaupt und in jeder Bezie- »daß sie ein Mensch sind und welche Korollarien hie-
hung betreffende Gedanken«, 4. »Einige Betrachtun- raus folgen« (P II, 3). Die zwei Erfordernisse des Phi-
gen über den Gegensatz des Dinges an sich und der losophierens, die daraus folgen, sind »der Mut, keine
Erscheinung« sowie 7. »Zur Farbenlehre«; eine meta- Frage auf dem Herzen zu behalten«, und »daß man al-
physische Reflexion über die Natur ist im längeren les Das, was sich von selbst versteht, sich zum deutli-
6. Kapitel »Zur Philosophie und Wissenschaft der Na- chen Bewußtseyn bringe, um es als Problem aufzufas-
tur« zu finden; weiterhin betrifft ein großer Teil der sys- sen« (P II, 4). Darauf basiert der Unterschied zwi-
tematischen Bemerkungen die ethische Deutung der schen Dichtern und Philosophen und wiederum, un-
Welt, das Thema, welches Schopenhauer besonders am ter diesen letzten, der zwischen Rationalisten und
Herzen lag: 8. »Zur Ethik«, 9. »Zur Rechtslehre und Po- Illuministen. Nur der Rationalismus hat die Philoso-
litik«, 10. »Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unsers phie im Lauf ihrer Geschichte durchgehend belebt,
wahren Wesens durch den Tod«, 14. »Nachträge zur und zwar in ihrem Fortschritt vom Dogmatismus zum
Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens Skeptizismus, und von diesem zunächst zum Kritizis-
zum Leben« sowie die zwei Kapitel religiöser Natur: 5. mus und schließlich zur Transzendentalphilosophie.
»Einige Worte über den Pantheismus« und 15. »Ueber Der Illuminismus hat sich dagegen weitgehend ge-
Religion«. Ein einziges Kapitel betrifft die Ästhetik im gen den Rationalismus, je nach dessen Ausprägung,
strengsten Sinne, nämlich das 19., »Zur Metaphysik des gerichtet, indem seine Vertreter eine innere Erleuch-
Schönen und Aesthetik«, wobei Bemerkungen ästheti- tung unter den Namen »intellektuelle Anschauung,
scher Art auch im 20. Kapitel »Ueber Urtheil, Kritik, höheres Bewußstseyn, unmittelbar erkennende Ver-
Beifall und Ruhm« formuliert wurden. nunft, Gottesbewußtseyn, Unifikation usw. zum Or-
Neu ist dagegen der anthropologische Ansatz der ganon des Philosophierens angenommen« (P II, 11)
letzten elf Kapitel, in denen die im ersten Band der haben. Eindeutig ist hier die Polemik gegen die nach-
Parerga bereits geübte Kritik der gegenwärtigen Ge- kantische Philosophie zu hören. Nichtsdestoweniger
sellschaft vertieft wird. Vor allem das Philistertum der ist der Illuminismus an sich selbst »ein natürlicher
zeitgenössischen Gelehrten und Schriftsteller wird und insofern zu rechtfertigender Versuch zur Ergrün-
hier, wie schon die Philosophieprofessoren im ersten dung der Wahrheit«, wenn man nur »die allein richti-
Band (s. Kap. 9.3), heftig angeprangert, und zwar in ge und objektiv gültige Art solches auszuführen« an-
fünf aufeinander folgenden Kapiteln, die quasi ein wendet (P II, 11 f.). Dieser Weg ist schließlich auch
Ganzes ausmachen: 21. »Ueber Gelehrsamkeit und derjenige Schopenhauers, weil er »die empirische Tat-
Gelehrte«, 22. »Selbstdenken«, 23. »Ueber Schriftstel- sache eines in unserm Innren sich kund gebenden, ja,
lerei und Stil«, 24. »Ueber Lesen und Bücher« und 25. dessen alleiniges Wesen ausmachenden Willens [auf-
»Ueber Sprache und Worte«. Weiter bilden die im Ka- fasst], und sie zur Erklärung der objektiven, äußern
pitel 26 dargestellten »Psychologische[n] Bemerkun- Erkenntniß« (P II, 12) anwendet.
gen« sowie das 29. Kapitel »Zur Physiognomik« das Zuletzt schlägt Schopenhauer eine Einteilung der
anthropologische Pendant zu den »Aphorismen zur Philosophie vor. Die Philosophie hat ihm zufolge mit
Lebensweisheit« (s. Kap. 9.6) des ersten Bandes, und der Untersuchung des Erkenntnisvermögens an-
schließlich ist sein scharf gesellschaftskritischer Blick zufangen, die sich in Dianoiologie, bzw. Verstandes-
in den kürzeren Kapiteln 27. »Ueber die Weiber«, 28. lehre, und Logik, bzw. Vernunftlehre, unterteilt und
»Ueber Erziehung« und 30. »Ueber Lerm und Ge- an die Stelle der früheren Ontologie tritt. Darauf folgt
räusch« ausgeführt. Das letzte 31. Kapitel besteht aus die Metaphysik – die »die Natur [...] als eine gegebene,
»Gleichnisse[n], Parabeln und Fabeln«, die meistens aber irgendwie bedingte Erscheinung [auffasst], in
das bittere Schicksal des Genies behandeln. Der Band welcher [...] das Ding an sich [...] sich darstellt« (P II,
endet mit einer kurzen Sammlung von Gedichten, die 19) – und wiederum in eine Metaphysik der Natur, des
Schopenhauer hauptsächlich in seiner Jugendzeit Schönen und der Sitten zerfällt. Schließlich lässt sich
verfasste. anstelle der alten Seelenlehre, der psychologia rationa-
142 II Werk

lis, die »Anthropologie, als Erfahrungswissenschaft penhauers: »der Grundcharakter aller Dinge, [ist] die
[...] aufstellen, und diese ist aber theils Anatomie und Vergänglichkeit, ihr eigener Kern [ist] ein zeitloses
Physiologie, – theils bloße empirische Psychologie, und dadurch völlig Unverwüstliches, [...] der Wille in
d. i. aus der Beobachtung geschöpfte Kenntniß der uns allen« (P II, 101). Dieses Gebiet bleibt allerdings
moralischen und intellektuellen Aeußerungen und dem Intellekt völlig fremd. Demnach kann zur meta-
Eigenthümlichkeiten des Menschengeschlechts, wie physischen Deutung der Phänomene wiederum nur
auch der Verschiedenheit der Individualitäten in die- das Genie gelangen, dessen Maß an Intellekt »durch
ser Hinsicht« (P II, 20). eine Abnormität excedirt wird, [wodurch] sich ein
Das zweite Kapitel »Zur Logik und Dialektik« be- völlig dienstfreier Ueberschuß« (P II, 103) einstellt.
ginnt mit einer Definition der analytischen und syn- Menschen dieser Art sind bestimmt nicht unter
thetischen Urteile (»jedes analytische Urtheil enthält den Philosophieprofessoren zu finden, wogegen sich
eine Tautologie, und jedes Urtheil ohne alle Tautologie die zwei Paragraphen über den Pantheismus, die das
ist synthetisch«, P II, 23) und bietet, nach einer Über- fünfte Kapitel ausmachen, richten. Denn »wäre der In-
legung über die Art der Beweisführung, einen länge- tellekt, ursprünglich und seiner Bestimmung nach,
ren Paragraphen über das Disputieren. In diesem skiz- metaphysisch; so könnten sie [scil. die ›Normalköp-
ziert Schopenhauer seine bekannte, posthum oft auch fe‹], besonders mit vereinten Kräfte, die Philosophie,
separat veröffentlichte »Eristische Dialektik«, in der er wie jede andere Wissenschaft, fördern« (P II, 104).
»alle die so oft vorkommenden unredlichen Kunstgrif- Das beste Beispiel eines solchen vergeblichen Ver-
fe beim Disputiren« (P II, 27) aufstellt (s. Kap. 10.2). suchs ist die Kontroverse zwischen Theismus und
Die »Den Intellekt überhaupt und in jeder Bezie- Pantheismus, die durch »einen Dialog, der im Parterre
hung betreffende[n] Gedanken« des 3. Kapitels wie- eines Schauspielhauses in Mailand, während der Vor-
derholen die zentrale Rolle des Verstandes für die Kon- stellung, geführt würde« (P II, 106) allegorisiert wer-
stitution der Erscheinungswelt. Dadurch wird man »zu den kann: eine Komödie zweiter Potenz.
der tieferen Einsicht geführt, welche der Name Idealis- Sehr umfangreich und voller Interpretationen zeit-
mus bezeichnet, daß nämlich jene objektive Welt und genössischer wissenschaftlicher Resultate im Licht der
ihre Ordnung [...] nicht unbedingt und an sich selbst Willensmetaphysik ist das sechste Kapitel »Zur Phi-
also vorhanden sei, sondern mittels der Funktionen losophie und Wissenschaft der Natur«, das eine gewis-
des Gehirns entstehe« (P II, 38 f.). Der Intellekt wird se Nähe zu Ueber den Willen in der Natur (1836) auf-
wiederum als Funktion des Willens verstanden und weist. Aus der Fülle wissenschaftsphilosophischer Be-
das Gehirn als »Parasit, der vom Organismus genährt merkungen, die sich von der Medizin über die Biologie,
wird, ohne direkt zu dessen innerer Oekonomie bei- Physiologie, Chemie bis hin zur Erd- und Menschen-
zutragen« (P II, 78). Von dieser Ansicht hängt auch kunde erstrecken, mag hier insbesondere auf die Bei-
Schopenhauers Definition des Genies ab: ein Individu- träge zur Geschichte der Wissenschaften, und zwar
um, dem es im höchsten Grade gelingt, die Unabhän- über die Kosmologie, erinnert werden. Schopenhauer
gigkeit des Intellekts von seiner Arbeit im Dienste des vindiziert nämlich dank eines raffinierten psychologi-
Willens zu behaupten. Diese Eigenschaft erlaubt ihm, schen Arguments Robert Hook die Priorität der Ent-
»sich der Welt und den Dingen auf einige Augenblicke deckung des Gravitationsgesetzes gegenüber Newton.
so gänzlich zu entfremden, daß [ihm] die allergewöhn- Als Newton 1666 die Hypothese der Gravitation zum
lichsten Gegenstände und Vorgänge als völlig neu und ersten Mal prüfte, wurden seine Rechnungen von der
unbekannt erscheinen, als wodurch eben ihr wahres damalig geltenden, aber bekannterweise ungenauen
Wesen sich aufschließt« (P II, 81). Messung des Erdumkreises verfälscht. Das Resultat
Die Erläuterung der schöpferischen Kraft des Intel- ließ Newton die Hypothese ad acta legen und erst sech-
lekts im Hinblick auf die Erscheinungen leitet über zu zehn Jahre später, nachdem eine genauere Messung des
»Einige[n] Betrachtungen über den Gegensatz des Erdumkreises sie bestätigte, als die eigene erklären.
Dinges an sich und der Erscheinung«, sieben Paragra- Kein authentischer Entdecker einer wissenschaftlichen
phen, die das vierte Kapitel ausmachen. Es ist die dop- Theorie – so Schopenhauer – würde sich so verhalten,
pelte Natur aller Wesen, zugleich Erscheinung und denn so geht man »mit fremden, ungern ins Haus ge-
Ding an sich zu sein, die sie auch zu »einer zwiefachen lassenen Kindern, auf die man scheel und mißgünstig
Erklärung, einer physischen und einer metaphysi- hinsieht, und sie, eben nur Amts wegen, zur Prüfung
schen« (P II, 97) befähigt. An dieser Stelle stoßen wir zulässt, schon hoffend, daß sie nicht bestehen werden«
auf die Formulierung des Grundphilosophems Scho- um (P II, 157). Also kann Newton die Gravitationsleh-
9  Parerga und Paralipomena 143

re nicht ursprünglich erfunden haben, sondern muss mulierte Maxime, die sich auf das moralische Handeln
die Theorie Robert Hooks übernommen und erst spä- gegenüber dem Nächsten bezieht, lautet: »Man fasse
ter für die eigene verkauft haben. Somit bleibt als ein- allein die Leiden eines Menschen, seine Noth seine
zige originelle Theorie Newtons allein das »siebenfar- Angst, seine Schmerzen ins Auge: – da wird man sich
bige Monstrum« (P II, 158), das Schopenhauer schon stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisie-
vor 35 Jahren beseitigt zu haben behauptet. Die längere ren und, statt Haß oder Verachtung, jenes Mitleid mit
Polemik, die der Philosoph im anschließenden siebten ihm empfinden, welches allein die agape ist, zu der
Kapitel »Zur Farbenlehre« gegen Newton führt, deutet das Evangelium aufruft« (P II, 216). Dementsprechend
sich hier schon an. kann er seine ganze Empörung gegen die Sklaverei
Hier, im 7. Kapitel, erweitert Schopenhauer seine äußern und sogar zu einem »Kreuzzug [...] zur Unter-
»physiologische Farbenlehre«, die er als eine Vervoll- jochung und Züchtigung der sklavenhaltenden Staaten
ständigung der Beobachtungen Goethes und die ein- Nordamerika’s [...] ein[em] Schandfleck der ganzen
zige korrekte Theorie der Farben darstellt. Jetzt, und Menschheit« aufrufen (P II, 226). In diesem Kapitel
zwar fünfundvierzig Jahre nach ihrer ersten Veröffent- fallen auch die meisten Referenzen zu den »Asiatic
lichung, liegt es ihm am Herzen, vor allem die Experi- Researches« auf, die aufgrund ihrer ausgeprägteren
mente darzustellen, die die Herstellung der Farbe Askese die Überlegenheit des Hinduismus und des
»weiß« aus den »komplementären Farben« bestätigen Buddhismus über das Christentum belegen sollen.
sollen. Gerade dieses empirische Ergebnis bestritt Denn die authentisch pessimistische, idealistische und
Goethe zuvor; dessen Grundannahme war, dass die schließlich asketische Lehre des Christentums wurde,
Farben aus einer objektiven Mischung zwischen Schat- nach Schopenhauer, durch den Realismus und Opti-
ten (skiéron) und Licht herrühren, deren nochmalige mismus seiner jüdischen Wurzeln korrumpiert. Und
Vermischung ausschließlich neue Farben aber kein gerade dadurch, dass das Christentum die Schöp-
Weiß ergeben könnten. Für Schopenhauer entstehen fungslehre des Alten Testaments übernahm, wurde
die Farben aus einer Tätigkeit des Subjekts, und zwar von ihm auch eine verkehrte Lehre der Willensfreiheit
aus der im Auge stattfindenden Polarisierung der verteidigt, deren Spuren noch in den gegenwärtigen
Netzhaut, die sich durch Superposition gewisser Far- Philosophien des Abendlandes zu finden wären.
ben aufheben lässt. Außer den Fortschritten der wis- Diese Überlegungen werden im darauf folgenden
senschaftlichen Debatte über die Optik, stellt Scho- Kapitel »Zur Rechtslehre und Politik« weitergeführt,
penhauer in diesem Kapitel also all die Beobachtun- in dem der ältere Schopenhauer seinen politischen
gen dar, die seine Theorie bestätigen und die er in die- Konservatismus offenlegt und einerseits das Natur-
sen Jahren machen konnte. Hinzu bringt er »ein Paar recht und die Souveränität des Volkes bestreitet, an-
artige Tatsachen [vor], welche zur Bestätigung des von dererseits die Monarchie als die natürliche Regie-
Goethe aufgestellten Grundgesetzes der physischen rungsform verteidigt. Eine Meinung, die er sowohl
Farben dienen, von ihm selbst aber nicht bemerkt anthropologisch und psychologisch, als auch durch
worden sind« (P II, 209). die Beobachtung lebendiger Organismen in der Na-
Schließlich kommt es zu einem interessanten Ver- tur begründet. Selbst das »Verwachsensein« zwischen
gleich zwischen Goethe und Newton in Bezug auf ihre dem Recht des Besitzes und dem Recht der Geburt
naturwissenschaftliche Attitüde: »Goethe hatte den wird nun gepriesen, während er im Hauptwerk gegen
treuen, sich hingebenden, objektiven Blick in die Na- Kants Lehre vom ius occupationis, das Recht des Be-
tur der Sachen; Neuton war bloß Mathematiker, stets sitzes allein auf die Arbeit gründete. Schließlich findet
eilig nur zu messen und zu rechnen, und zu dem man hier auch die ersten eindeutig missachtenden
Zweck eine aus der oberflächlich aufgefassten Erschei- Bemerkungen gegen Frauen und Juden, die als Basis
nung zusammengeflickte Theorie zum Grunde le- der Einschränkung ihrer Rechte dienen sollten. »Alle
gend« (P II, 211). Dem Mathematiker, der allein über Weiber, mit seltenen Ausnahmen sind zu Verschwen-
die blind rechnerischen Fähigkeiten des Intellekts ver- dung geneigt« und dürfen, da sie stets »des Vormun-
fügt, wird der Mann von Genie gegenübergestellt: Al- des [bedürfen], [...] nie Vormund sein« (P II, 277); die
lein seine Einsicht in die Natur öffnet ihm anschaulich Juden sind »ein fremdes, orientalisches Volk, müssen
ihre verborgene Wahrheit. daher stets nur als ansässige Fremde gelten. [...] Daß
Im achten Kapitel »Zur Ethik« stellt Schopenhauer sie mit Andern gleiche bürgerliche Rechte genießen,
seine moralische Deutung der »höchsten Stufen der heischt die Gerechtigkeit: aber ihnen Antheil am Staat
Objektivation des Willens« (P II, 215) vor. Die hier for- einzuräumen, ist absurd« (P II, 281).
144 II Werk

Das zehnte Kapitel »Zur Lehre von der Unzerstör- einen Gegensatz dazu anzunehmen. Dies ist ein un-
barkeit unseres wahren Wesens durch den Tod« han- endliches Dasein »ohne Wechsel, ohne Zeit, ohne
delt von der Bedeutung der festen Trennung zwischen Vielheit und Verschiedenheit [...], wohin die Vernei-
der Welt der Phänomene und dem Ding an sich. Die nung des Willens zum Leben den Weg eröffnet« (P II,
sich im Raum und in der Zeit abspielenden Phantas- 303). Also ist die Einsicht in diesem Dasein das wich-
magorien der Erscheinungen gründen auf dem Willen tigste, was ein Mensch erlangen kann, denn sie allein
als einem sich immer erhaltenden Ding an sich. Die- kann zur transzendentalen Kehre führen.
ses allein bürgt dafür, dass unser Tod das Ende eines Die Zeit unseres Lebens ist allerdings nicht nur von
Spektakels ist, das wir zwar betrachten und an dem metaphysischer Sinnlosigkeit, sondern auch von Lei-
wir sogar körperlich teilnehmen, das aber unser ei- den charakterisiert, wie Schopenhauer in den »Nach-
gentliches Wesen überhaupt nicht antastet: denn »je träge[n] zur Lehre vom Leiden der Welt« (12. Kapitel)
deutlicher einer sich der Hinfälligkeit, Nichtigkeit und wiederholt. Hier finden sich neben metaphysischen
traumartigen Beschaffenheit aller Dinge bewußt wird, Bemerkungen auch Beobachtungen anthropologi-
desto deutlicher wird er sich auch der Ewigkeit seines scher und psychologischer Art. Die Schmerzen unse-
eigenen innern Wesens bewußt« (P II, 288). Schließ- res weltlichen Daseins brauchen einerseits eine meta-
lich kann man den Tod als Versetzung in jenen »er- physische Rechtfertigung, damit unser Leben nicht als
kenntnißlosen Urzustand [verstehen], der aber des- eine reine Absurdität erscheint; andererseits führen
halb nicht ein schlechthin bewußtloser, vielmehr ein sie aber auch zur Suche nach Trostmitteln, die uns hel-
über jene Form erhabener seyn wird« (P II, 292). Da- fen können, die elende Pendelei zwischen Not und
rum kann man auch den Unterschied zwischen »Me- Langeweile zu ertragen. Nicht allein die Menschen,
tempsychose« und »Palingenesie«, zwischen einer sondern alle lebenden Wesen, insbesondere die Tiere,
Theorie die den »Uebergang der gesammten so- leiden auf dieser Welt. Diese sind zwar durch »Sorg-
genannten Seele in einen andern Leib« und einer, die losigkeit und Gemüthsruhe« charakterisiert, die mit
die »Zersetzung und Neubildung des Individui, indem dem Mangel an Reflexionskraft und Zeitgefühl zu-
allein sein Wille beharrt« voraussieht (P II, 294), wie sammenhängen, nichtsdestoweniger wird ihnen der
die exoterische und esoterische Darstellung ein und Schmerz nicht erspart, der sich bei besonders ent-
derselben Einsicht verstehen. Die genaue Antwort auf wickelten Tierwesen sogar zu einem Leiden psycho-
die Frage des Thrasimachos in der »Kleine[n] Dialogi- logischer Art entwickeln kann.
sche[n] Schlussbelustigung«, »Kurzum, was bin ich Metaphysisch gilt uns das Leiden als Anstoß, den
nach meinem Tode? – Klar und präcis!«, lautet näm- Drang des Willens zu spüren und eindeutig zu erken-
lich: »Alles und Nichts« (P II, 296). nen, dass dies die einzige Bedingung dafür ist, dass man
Die für die Überlegungen über die Unzerstörbar- sich davon befreien kann. Zu den Trostmitteln rechnet
keit unseres wahren Wesens durch den Tod grund- Schopenhauer sowohl das Leiden der Anderen, »der
legende Theorie der Idealität der Zeit wird in den wirksamste Trost, bei jedem Unglück«, als auch die Be-
»Nachträge[n] zur Lehre von der Nichtigkeit des Da- merkung, dass Arbeit, Plage, Mühe und Not die ein-
seyns« (11. Kapitel) behandelt: »Was gewesen ist, das zigen Mittel sind, die Zeit eines weltlichen Lebens zu er-
ist nicht mehr; ist eben so wenig, wie Das, was nie ge- füllen, ohne das Risiko einzugehen, sich ein größeres
wesen ist. Aber alles, was ist, ist im nächsten Augen- Ausmaß an Leiden zuzuziehen. Schließlich gilt die Be-
blick schon gewesen. Daher hat vor der bedeutendsten trachtung der Welt als »Ort der Buße, also gleichsam als
Vergangenheit die unbedeutendste Gegenwart die eine Strafanstalt, a penal colony, ein ergastérion, wie
Wirklichkeit voraus; wodurch sie zu jener sich verhält, schon die ältesten Philosophen ihn nannten«, als der
wie Etwas zu Nichts« (P II, 301). Die Größe Kants be- »sichere Kompaß zur Orientirung im Leben« (P II,
steht in seinem Beweis der Idealität von Zeit und 321), denn diese verwandelt das metaphysische Ver-
Raum, wodurch »für eine ganz andere Ordnung der ständnis des Leidens zum höchsten Trostmittel.
Dinge, als die der Natur ist, Platz gewonnen wird« Einen anderen Ausweg aus dem Existenzleiden,
(P II, 302). Und gerade das tiefe Verständnis, dass die wie es z. B. der Selbstmord anzubieten scheint, will
Zeitlichkeit die alleinige Dimension unserer Existenz und kann Schopenhauer absolut nicht billigen, wie er
ausmacht, und dass »in einer solchen Welt [...] alles in in den vier Reflexionen »Ueber den Selbstmord«
rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, alles eilt, (13. Kapitel) erklärt. Entgegen der allgemeinen Mei-
fliegt, sich auf dem Seile, durch stetes Schreiten und nung der monotheistischen Religionen stuft Schopen-
Bewegen, aufrecht hält« (ebd.) bietet die Möglichkeit, hauer den Suizid nicht als ein Delikt ein. Auf diese
9  Parerga und Paralipomena 145

Verurteilung kann sich nämlich kein moralisches Ar- sem Grund ist ihr die Wahrheit immer vorzuziehen,
gument dagegen stützen, sondern allein auf das Argu- denn so argumentiert Philalethes: »Du hast gewiss
ment, »daß der Selbstmord der Erreichung des höchs- recht, das starke metaphysische Bedürfniß des Men-
ten moralischen Zieles entgegensteht, indem er der schen zu urgiren: aber die Religionen scheinen mir
wirklichen Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine nicht sowohl die Befriedigung, als der Mißbrauch des-
bloß scheinbare unterschiebt« (P II, 328). selben zu seyn« (P II, 381). Letzen Endes teilt Scho-
Eine positive Definition des höchsten moralischen penhauer weder die Meinung des Einen, noch die des
Ziels, die Verneinung des Willens zum Leben, findet Anderen vollkommen, und die Schlussbemerkung,
man in den »Nachträge[n] zur Lehre von der Beja- die er in den Mund des Demopheles legt, weist auf die
hung und Verneinung des Willens zum Leben« konstitutive Zweideutigkeit des religiösen Phänomens
(14. Kapitel). Die Verneinung des Willens darf »kei- hin: die Religion »wie der Janus – oder besser, wie der
neswegs die Vernichtung einer Substanz [besagen], Brahmanische Todesgott Yama – hat zwei Gesichter
sondern den bloßen Aktus des Nichtwollens: das Sel- und eben auch, wie dieser, ein sehr freundliches und
be, was bisher gewollt hat, will nicht mehr« (P II, 331). ein sehr finsteres« (P II, 382).
Schopenhauer verteidigt insofern seine Ethik als die Was den Wahrheitsgehalt des Christentums im Be-
einzige, die mit der ursprünglich asketischen Lehre sonderen angeht, verdankt es diesen allein dem Pessi-
des Neuen Testaments übereinstimmt, die wiederum mismus seiner indischen Inspiration, der allerdings
in ihrem Kern indischer Herkunft sei. Nur mit Bezug durch eine verkehrte Mischung mit dem jüdischen
auf die Askese kann man z. B. das Klosterleben verste- Optimismus korrumpiert wurde. Als eindeutiges Bei-
hen, dessen einziger Sinn es ist, »daß man sich eines spiel für den Unterschied zwischen der auf Mitleid ba-
bessern Daseyns, als unseres ist, würdig und fähig er- sierenden asketischen Lehre des Hinduismus und der
kannt hat, und diese Ueberzeugung dadurch bekräfti- Bejahung des Willens des Judaismus nimmt Schopen-
gen und erhalten will« (P II, 338). Zu den psychischen hauer die Art und Weise, wie von diesen zwei Religio-
Bekräftigungen zählt insbesondere die radikale Un- nen die Tiere betrachtet werden: »Die bedeutende
terwerfung »eine[s] fremden, individuellen Willen[s] Rolle, welche im Brahmanismus und Buddhaismus
[...] ein[em] passende[n] allegorische[n] Vehikel der durchweg die Thiere spielen, verglichen mit der tota-
Wahrheit« (ebd.). Schließlich besteht – dies ist das Fa- len Nullität derselben im Juden-Christenthum, bricht,
zit eines kurzen aber prägnanten Dialogs zwischen in Hinsicht auf Vollkommenheit, diesem letztern den
Mensch und Weltgeist – »der Werth des Lebens gerade Stab« (P II, 393). Hierauf gründet Schopenhauer auch
darin, daß es [den Menschen] lehrt, es nicht zu wol- seinen vehementen Protest gegen die in Europa schon
len« (P II, 341), und dies ist die höchste Weihe, worauf üblich gewordene Vivisektion zu wissenschaftlichen
das Leben selbst uns vorbereiten will. Worin besteht Zwecken, da »die Thiere, in der Hauptsache und im
also der Wert der Religion und welche sind die wahren Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir« (P II, 400).
Religionen? Die folgenden drei Kapitel bilden eine Sammlung
Auf diese Frage antwortet das 15. Kapitel »Ueber verschiedener Betrachtungen über »Sanskritlittera-
Religion«, mit seinen knapp achtzig Seiten das zweit- tur« (16.), Archäologie (17.) und Mythologie (18.).
längste in diesem Band (vgl. Wilhelm 1994). Mehr als Schopenhauer bedauert zunächst die zu seiner Zeit
die Hälfte des Kapitels besteht aus einem Dialog zwi- bestehenden Schwierigkeiten, zuverlässige Überset-
schen Demopheles (Volksfreund) und Philalethes zungen aus dem Indischen und dem Chinesischen zu
(Wahrheitsfreund). Demopheles verteidigt die Religi- erhalten. Eine Ausnahme biete allein die Übersetzung
on und die Religionsstifter, denn diese allein sind in von Anquetil-Duperron aus dem Parsi ins Lateini-
der Lage, dem Volk den Sinn des Menschenlebens bei- sche, der Oupnek’hat, »die Ausgeburt der höchsten
zubringen und durch Mythen und Allegorien das menschlichen Weisheit« (P II, 424; s. Kap. 11). Hier
metaphysische Bedürfnis der Vielen zu befriedigen. formuliert Schopenhauer viele Hypothesen über die
Philalethes argumentiert dagegen, dass die Religion Einflüsse der indischen Religion auf die Ägypter und
höchstens als pia fraus, d. h. frommer Trug zu verste- Etrusker, auf die Mythologie der Griechen und der
hen sei, und das Gute in ihr allein in der moralischen Römer bis hin zur Mythologie des Nordens: denn ei-
Wirkung besteht, die sie auf das Verhalten der Men- niges würde sogar »für die Identität des Buddha mit
schen ausübt. Trotzdem bleibt sie aber eine schlichte dem Wodan« (P II, 428) sprechen.
Lüge, denn sie kann sich nie ausdrücklich als reine Al- Das Entstehen und die hohe Stellung der griechi-
legorie zeigen, ohne ihren Sinn zu verlieren. Aus die- schen Kultur erklärt Schopenhauer wie folgt: Die Hel-
146 II Werk

lenen, eine ursprünglich aus Asien stammende Bevöl- sich offensichtlich eher bei den Kunstformen des frü-
kerung namens Pelasgier, erlangten »eine ganz natur- hen als späten Jahrhunderts zu Hause fühlte, bei Rossi-
gemäße Entwickelung und rein menschliche Kultur ni und Mozart insbesondere, wendet sich hier gegen
[...], in einer Vollkommenheit, wie solche außerdem die große Oper, aber auch gegen die »malende Musik«
nie und nirgends vorgekommen ist« (P II, 429). Das Haydns und Beethovens, oder, wie im Falle Glucks, ge-
wichtigste Ziel, in Beziehung auf welches noch in der gen die Tendenz die Musik »zum Knechte schlechter
Gegenwart vom Altertum zu lernen sei, ist die Bildung Poesie« (P II, 461) zu machen. Man findet hier auch
des Geschmacks, zu der dagegen »die altdeutsche Li- Bemerkungen zur Geschichte der Literatur, von der
teratur, Nibelungen und sonstige Poeten des Mittel- griechischen Tragödie bis hin zu Dante, Petrarca,
alters« (P II, 431) gar nicht beitragen. Die griechische Shakespeare, Cervantes, Scott und Goethe. In Bezug
Mythologie, insbesondere die »ersten, großen Grund- auf den berühmten Hamlet-Monolog wagt sich Scho-
züge[...] des Göttersystems« (P II, 435), soll man aller- penhauer gar an eine philologische Hypothese heran:
dings auch ihrem allegorischen Sinn nach interpretie- »[D]er Ausdruck when we have shuffled off this mortal
ren – eine hermeneutische Tradition, die bereits im coil, [ist] stets dunkel und sogar räthselhaft befunden
18. Jahrhundert ihre Blüte hatte: »Uranos ist der [...] worden. Sollte nicht ursprünglich gestanden ha-
Raum, [...] Chronos ist die Zeit, [...] Zeus ist die Mate- ben: shuttled off [...]: wonach der Sinn wäre: ›Wenn wir
rie« (P II, 436). Allegorisch und zwar in Sinne einer diesen Knäuel der Sterblichkeit abgewickelt, abge-
Bestätigung seines asketischen Standpunkts, deutet arbeitet haben‹?« (P II, 474). Auch darauf hat Scho-
Schopenhauer schließlich auch die Fabel Psyche und penhauer nie eine Antwort bekommen.
Amor von Apuleios und selbst »daß [die] Eule der Vo- Das 20. Kapitel »Ueber Urtheil, Kritik, Beifall und
gel der Athena ist, mag die nächtlichen Studien der Ruhm« ist »eine kleine Kritik der Urtheilskraft, aber
Gelehrten zum Anlaß haben« (P II, 439). nur der empirischen gegebenen, [...] um zu sagen, daß
Mit dem 19. Kapitel »Zur Metaphysik des Schönen es meistentheils keine giebt« (P II, 482). Es ist der
und Aesthetik« kehrt Schopenhauer wieder zu einem Grund, warum die wahren Künstler, Wissenschaftler
der Hauptthemen seines Denkens zurück, der Frage und Philosophen, denen allein die Menschheit ihre
nach der Möglichkeit eines desinteressierten Zugangs Fortschritte verdankt, von den Zeitgenossen meistens
zur Welt, die mit einer Form von Genuss verbunden vernachlässigt, wenn nicht ganz ignoriert werden.
sei »ohne irgend eine Beziehung desselben auf unser Schopenhauer, der sein Verdikt über die Mittelmäßig-
Wollen« (P II, 442). Auf diese Frage kann allein die keit der Menschheit sowohl auf die Biographien von
Willensmetaphysik eine adäquate Antwort bieten. Literaten und Wissenschaftler, als auch auf die Bemer-
Das Subjekt des Erkennens, falls im Besitz eines Über- kungen der französischen Moralisten stützt, erarbeitet
schusses an Erkenntniskräften, ist in der Lage, ein Ob- hier seine Theorie der Unzeitgemäßheit des Genies.
jekt rein, d. h. ohne Bezug auf irgendeinen Zweck auf- Beifall erhalten die »Werke gewöhnliches Schlages,
zufassen: »Der Intellekt [...] wird abusive gebraucht in [die] im Fortgang und Zusammenhang der Gesamtbil-
allen freien Künsten und Wissenschaften« (P II, 443). dung ihres Zeitalters entstehen, daher mit dem Geiste
Damit ist das alltägliche Leiden, das mit dem immer der Zeit verbunden sind« (P II, 504). Der einzige Trost
weiter nach einem Zweck strebenden Willen zusam- besteht schließlich darin, dass »die allermeisten Men-
menhängt, für einen Moment aufgehoben, und für schen nicht aus eigenen Mitteln, sondern bloß auf
das Subjekt entsteht einen Genuss besonderer Art. Es fremde Auktorität, urtheilen« (P II, 490), denn der
ist ein erster Schritt in Richtung Erlösung, denn »[a]uf Ruhm, der erst nach seinem Tod auch dem Genie zu-
einem andern Wege kann er [der Intellekt] sogar sich erkannt wird, gründet sich ausschließlich darauf (zum
wider den Willen wenden« (ebd.). Ruhm s. auch Kap. 9.6). Unbeantwortet bleibt aller-
Auf die metaphysische Erklärung des ästhetischen dings die Frage, worauf die Autorität derjenigen, die
Phänomens folgt eine Reihe von Betrachtungen über die Kunstprodukte eines Genies erkennen sollten, be-
die verschiedenen Künste, von der Architektur zur ruht. Denn die Gelehrten »lehren, um Geld zu verdie-
Musik, von der Poesie zur Tragödie, welche die im Sys- nen und streben nicht nach Weisheit, sondern nach
tem dargestellte feste hierarchische Folge der Künste dem Schein und Kredit derselben«; die Studenten ler-
ersetzt. Vor allem in den Bemerkungen über die Musik nen »nicht, um Kenntniß und Einsicht zu erlangen,
kündigt sich eine polemische Einstellung gegenüber sondern um schwätzen zu können und sich ein An-
der Gegenwart an, die sich in den nächsten Kapiteln sicht zu geben«, und schließlich seien beide »in der Re-
noch verschärfen wird. Der alte Schopenhauer, der gel nur auf Kunde aus; nicht auf Einsicht« (P II, 509).
9  Parerga und Paralipomena 147

Diese Oberflächlichkeit des Umgangs mit dem Wissen te Romane und Zeitungen zu befriedigen, und damit
spiegelt sich in der allgemeinen Vorliebe für das Lesen ihre rein ökonomischen Interessen zu schützen. Zwei-
gegenüber dem Selbstdenken: Die Gelehrsamkeit be- erlei resultiert daraus: Dekadenz der Literatur und
steht nämlich in »der Ausstattung [des Kopfes] mit ei- »Verhunzung der Sprache« – nach dem Titel eines im
ner großen Menge fremder Gedanken«, weshalb übri- Nachlass gelandeten druckfertigen Manuskripts aus
gens die Perücke »das wohlgewählte Symbol des rei- den letzten Jahren seines Lebens –, die Schopenhauer
nen Gelehrten« (P II, 511) ist. Diese Kritik des gelehr- anhand von vielerlei Zitaten aus Zeitungen und wis-
ten Lesers setzt übrigens eine Tradition fort, die schon senschaftlichen Artikeln belegt: »Daher ist« – so das
bei Lichtenberg zu finden ist (vgl. Lamping 1985). Fazit – »in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst,
Darauf folgt die Behandlung des »Selbstdenken[s]« nicht zu lesen, höchst wichtig« (P II, 592). Ein umso
im 22. Kapitel. Hier thematisiert Schopenhauer die wichtigerer Rat, wenn man in Betracht zieht, dass
Ausübung der Fähigkeit, eigene Gedanken zu fassen, »während des Lesens [...] unser Kopf doch eigentlich
eine Fähigkeit, über die jeder Mensch in unterschied- der Tummelplatz fremder Gedanken [ist], so daß wer
lichem Ausmaß verfügt und die allein den Besitz einer viel und fast den ganzen Tag liest [...] die Fähigkeit,
Erkenntnis sichert. Diese kann man allerdings auch selbst zu denken, allmälig verliert« (P II, 588).
leicht verlernen, wenn man sie, wie die meisten es tun, Die in diesem Kapitel gerügte Dekadenz der deut-
zu selten oder gar nicht ausübt. Für die Philosophen schen Sprache wird allerdings im 25. Kapitel »Ueber
ist das Selbstdenken eine Notwendigkeit und gerade Sprache und Worte« als ein allgemeineres Phänomen
in der Art und Weise, wie sie das tun, ob für sich selbst aller Sprachen erkannt, die »stufenweise immer
oder für die anderen, unterscheiden sich wahre Phi- schlechter werden – vom hohen Sanskrit an bis zum
losophen von den Sophisten. Dieser Unterschied spie- Englischen Jargon herab« (P II, 599). Dieses Ereignis
gelt sich ausgerechnet im Rahmen des Denk- und wird anhand der Hypothese erklärt, »daß der Mensch
Schreibstils. die Sprache instinktiv erfunden hat, [...] welcher In-
Bei der Kürze dieses Beitrags kann die Fülle der Be- stinkt sich nachher, wann die Sprache einmal da ist
trachtungen nicht wiedergegeben werden, die Scho- und er nicht mehr zur Anwendung kommt, allmälig
penhauer, der dem Lesen und Schreiben sein ganzes [...] verliert« (P II, 600). Dafür ist das Erlernen der
Leben gewidmet hat, im 23. Kapitel unter dem Titel Fremdsprachen, der modernen wie der antiken, ein
»Ueber Schriftstellerei und Stil« gesammelt hat. Weni- »unmittelbares, tief eingreifendes, geistiges Bildungs-
ge Bemerkungen müssen daher genügen. Hier werden mittel« (P II, 601). Schopenhauer war selbst polyglott,
die Schriftsteller zunächst in zwei Kategorien unter- er konnte seit der Kindheit perfekt Französisch, lernte
teilt, in »solche, die der Sache wegen, und solche, die Englisch in seiner Jugend, dann Griechisch und La-
des Schreibens wegen schreiben« (P II, 532). Die zwei- tein, um in die Universität eintreten zu dürfen, und
ten sind aber nur am Geld interessiert, weshalb nur die schließlich auch Italienisch und Spanisch. Große An-
Schriftsteller der ersten Kategorie als ›wertvoll‹ an- erkennung brachte ihm posthum seine Übersetzung
zusehen sind. Aber auch hier gibt es »erstlich solche, des Oráculo manual von Gracián ein (s. Kap. 10.5).
welche schreiben, ohne zu denken [...], zweitens sol- Seine These ist, dass Wörter, die in unterschiedlichen
che, die während des Schreibens denken [...], drittens Sprachen in gleichem oder ähnlichem Wortlaut vor-
solche, die gedacht haben ehe sie ans Schreiben gien- kommen, fast nie genau dieselbe Bedeutung haben,
gen« (P II, 533). Schließlich sind in dieser letzten Klas- denn sie drücken immer auch die besondere Ansicht
se nur die wenigen, die über die Dinge selbst und nicht aus, unter der sie der Geist der jeweiligen Völker be-
bloß über Bücher nachdenken. Somit schrumpfen die trachtet. Und es gibt sogar Termini, die in die eigene
Chancen, eine authentische Erkenntnis in einem Buch Sprache unübersetzbar sind. Darum führt das Erler-
zu finden auf einen sehr geringen Wert (vgl. Félix nen fremder Sprachen zu einer eindeutigen Erweite-
2013). Schopenhauer diagnostiziert hier und im rung unseres Erkenntnis- und Ausdruckspotentials,
nächsten 24. Kapitel »Ueber Lesen und Bücher« die denn »man erlernt also nicht bloß Worte, sondern er-
Defekte der entstehenden kulturellen Industrie (vgl. wirbt Begriffe« (P II, 603).
d’Alfonso 2013). Nachdem das Schreiben zu einem Die Kapitel  26. »Psychologische Bemerkungen«,
Metier geworden ist, haben sich Schriftsteller, Rezen- 27. »Ueber die Weiber«, 28. »Ueber Erziehung« und
senten und Verleger allmählich zusammengeschlos- 29. »Zur Physiognomik« bilden eine letzte Einheit
sen, um das Bedürfnis eines immer mehr wachsenden psychologischer Bemerkungen und anthropologi-
Publikums von Lesern nach Ablenkung durch schlech- scher Argumente, die teilweise von den »Aphorismen
148 II Werk

zur Lebensweisheit« des ersten Bandes schon vor- schieden« (P II, 652). Ansonsten ist die europäische
genommen wurden. Unter den »Psychologische[n] Form der monogamischen Ehe eine widernatürliche
Bemerkungen« findet man die Beschreibung vielerlei Lebensgemeinschaft. Daraus folge »eine Unzahl stüt-
menschlicher Leidenschaften: Hoffnung, Durst nach zeloser Weiber [...], die in den höhern Klassen als un-
Rache, Reue, Geduld, Eigensinn, Verdrießlichkeit, nütze, alte Jungfern vegetiren, in den untern aber un-
Melancholie und Hypochondrie, Zorn, Hass, Verach- angemessen schwerer Arbeit obliegen, oder auch
tung und Hartherzigkeit sind Phänomene des Freudenmädchen werden« (P II, 660). Unter Beru-
menschlichen Herzens, die Schopenhauer Anlass zu fung auf Thomasius (De concubinatu, 1717) schließt
trocken formulierten, aber oft sehr prägnanten Apho- Schopenhauer somit auf die Verteidigung der Poly-
rismen geben. Die anthropologischen Betrachtungen gamie: An sich ist dieser Brauch nicht verwerflich,
betreffen dagegen die unterschiedlichen Fähigkeiten denn »[w]ir Alle leben, wenigstens eine Zeit lang,
des Menschen. Wie jedes andere Tier bedarf auch der meistens aber immer, in Polygamie« (P II, 661), nur
Mensch einer »gewissen Proportion zwischen seinem bedarf sie einer strengen Regulierung, damit die Frau
Willen und seinem Intellekt« (P II, 615), so dass ein ihre Bestimmung erfüllen kann.
heftiger Wille von einem umso helleren Intellekt gelei- Das Kapitel »Ueber Erziehung« ist ein Plädoyer für
tet werden muss und jede Disproportion einen un- den natürlichen Erziehungsweg. Dieser geht notwen-
glücklichen Menschen ergibt. Somit werden in ihrem digerweise von dem niedrigsten Niveau der Erfah-
lebendigen Zusammenhang mit dem menschlichen rung, den Anschauungen, aus und kann erst durch
Handeln die Vernunft – die »auch ein Prophet zu Abstraktion zu Begriffen gelangen. Nur dieser Weg er-
heißen« (P II, 628) verdient und angesichts der Folgen laubt es den Menschen, Jungen wie Alten, eine authen-
unseres Tuns uns im Zaum hält –, die Weisheit und die tische und sichere Erkenntnis zu erlangen. Dagegen
Bescheidenheit sowie die menschliche Abrichtungs- verfährt die Erziehung meistens in die umgekehrte
fähigkeit und schließlich auch Einbildungskraft, Mei- Richtung, und den Kindern werden Begriffe beige-
nung und Gedächtnis analysiert. bracht, ohne dass sie die entsprechenden Anschau-
Anthropologischer Art sollten auch seine Reflexio- ungen je besitzen konnten. Vergeblich werden sie spä-
nen über die »Weiber« sein, wobei Schopenhauer für ter versuchen, diese nur halb verstandenen Begriffe auf
die explizite Verachtung, die charakteristisch für den die Erfahrungswelt anzuwenden, denn sie werden ih-
Großteil der Ausführungen ist, keinerlei vernünftige nen eher ein Hindernis als ein Instrument zum Ver-
Rechtfertigung anbieten zu können scheint (vgl. dazu ständnis der Welt sein.
Hübscher 1977, 10–12). Genau gesehen ist hier weni- Das Einzige, was bei solch einer Erziehung zu tun
ger die Rede von den Frauen als solchen oder von den bleibt, ist also das Erlernte zu verlernen, um von allein
Besonderheiten ihrer Erziehung, wie in der üblichen für sich selbst neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nur
Literatur über Frauen, die in Deutschland schon eine die wenigsten sind aber in der Lage, diesen mühsamen
jahrhundertlange Tradition hatte. Schopenhauer be- Prozess zu durchlaufen, die meisten bleiben dagegen
trachtet hier eher das weibliche Geschlecht in seiner Zeit ihres Lebens in den Vorurteilen gefangen, die ih-
Beziehung zum männlichen, und zwar in Hinblick auf nen in der Kindheit beigebracht wurden. Verschlim-
die Propagation der Spezies und auf die Rolle, welche mert wird die Lage durch die zu Schopenhauers Zei-
die Gesellschaft dabei spielt bzw. spielen sollte (vgl. ten schon üblich gewordene Lektüre von Romanen in
Diotima [Herz] 1912). der Jugend, denn dabei wird den Jugendlichen »eine
Wegen ihres Mangels an Besonnenheit würden ganz falsche Lebensansicht untergeschoben und [es]
Frauen nach Schopenhauer in der menschlichen Skala sind Erwartungen erregt worden, die nie erfüllt wer-
auf eine mittlere Stufe zwischen Kind und Mann ge- den können« (P II, 670).
hören und hätten als einzigen objektiven Zweck die Zu den Erkenntnissen, die man allein der Erfah-
Fortführung des menschlichen Geschlechts. Deshalb rung verdankt, zählt die Physiognomik: »die Entziffe-
sei ihr subjektives Ziel die Eroberung eines Mannes, rung des Gesichts [ist] eine große und schwere Kunst
der für die Sicherung ihres Daseins sorge. Trotz ihrer [deren] Prinzipien [...] nie in abstracto zu erlernen
natürlichen intellektuellen Kurzsichtigkeit hält Scho- [sind]« (P II, 672). Die Physiognomie eines jeden
penhauer es allerdings für vernünftig, wie die alten Menschen ist Ausdruck des Willens in seinem Körper,
Germanen »in schwierigen Angelegenheiten [...] auch Charakteristik seiner Individualität. Allerdings ge-
die Weiber zu Rathe zu ziehn [...], denn ihre Auffas- steht Schopenhauer ein, dass aus der Physiognomie
sungsweise der Dinge ist von der unsrigen ganz ver- eher auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Indivi-
9  Parerga und Paralipomena 149

duums geschlossen werden kann als auf dessen mora- Schließlich endet der Band mit »Einige Verse«, die
lischen Charakter. zu seinen ersten Kompositionen zählen. Wie Schopen-
Schließlich besteht die vorletzte kurze Abhandlung hauer erklärt, fügt er diese Gedichte seiner Jugend hier
»Ueber Lerm und Geräusch« aus einer Lamentation nur »zu Gunsten Derer, die dereinst, im Laufe der Zeit
des Philosophen über die Tatsache, dass seine Gedan- an meiner Philosophie einen so lebhaften Antheil neh-
kengänge allzu oft von plötzlichen und meist unnöti- men werden, daß sie sogar irgend eine Art von persön-
gen Geräuschen unterbrochen werden. Da Ruhe und licher Bekanntschaft mit dem Urheber derselben wün-
Silentium Bedingungen des Denkens sind, sollte die schen werden« (P II, 692) hinzu. Sollte der Philosoph
Gesellschaft klare Maßnahmen gegen den Lärm tref- den Beifall des Publikums etwa geahnt haben, der ihm
fen, der durch die Ausübung anderer Metiers ver- nach der Publikation der Parerga und Paralipomena
ursacht wird, um dabei der intellektuellen Tätigkeit endlich gezollt wurde? In diesem Sinne könnte viel-
die richtige Achtung zu schenken. leicht auch der Hinweis auf den Lorbeer das richtige
Besonders fühlt sich Schopenhauer von dem Schlusswort für das Finale anbieten (P II, 698):
Brauch der Fuhrleute gequält, ihre Peitsche in der Luft
knallen zu lassen: »Kein Ton durchschneidet so scharf Ermüdet steh’ ich jetzt am Ziel der Bahn,
das Gehirn, wie dieses vermaledeite Peitschenklat- Das matte Haupt kann kaum den Lorbeer tragen:
schen: man fühlt geradezu die Spitze der Peitschen- Doch blick’ ich froh auf das was ich gethan,
schnur im Gehirn [...]. Hammerschläge, Hundegebell Stets unbeirrt durch das, was Andre sagen.
und Kinderschrei sind entsetzlich: aber der rechte Ge-
dankenmörder ist allein der Peitschenknall« (P II,
680). Man bekommt hier nicht nur die Empörung und Literatur
den Zorn des Philosophen vor Augen geführt, son- d’Alfonso, Matteo: »Le coeur et la tête«: les enseignements
dern auch die Last, die das Leben in der Gesellschaft moraux des Parerga et Paralipomena. In: Schopenhauer-
Jahrbuch 94 (2013), 229–249.
für ihn bedeutet. Und wenn die meisten der im 31. Ka- Diotima [Henriette Herz]: Schopenhauer über die Weiber.
pitel gesammelten »Gleichnisse, Parabeln und Fa- In: Schopenhauer-Jahrbuch 1 (1912), 19–23.
beln« von dem Gefühl der Einsamkeit des Genies er- Félix, François: »Er ist ehrlich, auch als Schriftsteller ...«.
zählen, behandelt die letzte unter ihnen, die bekannte Schopenhauer en écrivain honnête. In: Schopenhauer-
›Stachelschwein-Parabel‹, gerade das Thema des Le- Jahrbuch 94 (2013), 169–184.
Hübscher, Angelika: Schopenhauer und »die Weiber«. In:
bens in der Gesellschaft. Die menschliche Sozietät
Schopenhauer-Jahrbuch 58 (1977), 187–203.
würde einer Gesellschaft von Stachelschweinen glei- Lamping, Dieter: Selbstdenken und Bücherlesen. Zu Scho-
chen, die an einem besonders kalten Wintertag an- penhauers Kritik des Lesens. In: Schopenhauer-Jahrbuch
einander zusammendrängt ihr Dasein fristen, bis je- 66 (1985), 187–194.
der die Stachel des Nachbars spürt und alle wieder auf Segala, Marco: Things Added and Things Omitted: The
Abstand gehen müssen. Das Hin und Her dauert, bis Genesis of Parerga und Paralipomena from Schopen-
hauer’s Manuscripts. In: Schopenhauer-Jahrbuch 94
die Stachelschweine die richtige Entfernung finden,
(2013), 157–168.
um genug Wärme von den Anderen zu fühlen, ohne Wilhelm, Karl Werner: Zwischen Allwissenheitslehre und
dabei gestochen zu werden. Die »ungesellige Gesell- Verzweiflung. Der Ort der Religion in der Philosophie Scho-
schaft«, die anthropologische Konstante, auf die Kant penhauers. Hildesheim 1994.
die soziale Dynamik gründete, wird von Schopenhau- Zimmer, Robert: Schopenhauers zweites Hauptwerk. Die
er auf mechanische Faktoren zurückgeführt, die jede Parerga und Paralipomena und ihre Wurzeln in der Auf-
klärungsessayistik und Moralistik. In: Schopenhauer-Jahr-
Form von Progress im menschlichen Zusammenleben buch 94 (2013), 143–156.
ausschließen: »Die mittlere Entfernung, die sie [die
Menschen] endlich herausfinden [...], ist die Höflich- Matteo Vincenzo d’Alfonso
keit und feine Sitte« (P II, 690 f.).
150 II Werk

10 Spätwerk und Nachgelassenes grundsätzliche Verständnis seiner Philosophie beein-


flussen. Deshalb gehört die sorgfältige und wechselsei-
10.1 Der handschriftliche Nachlass und der tige Auswertung einzelner Aufzeichnungen ein-
junge Schopenhauer schließlich der Reisetagebücher, Briefe und Gedichte
auf der einen Seite und die Erarbeitung eines kon-
Einteilung des handschriftlichen Nachlasses
tinuierlichen und in sich konsistenten Bildes der phi-
Schopenhauers handschriftlicher Nachlass im weite- losophischen Genese mit Rücksicht auf Schopenhau-
ren Sinne umfasst alle von ihm stammenden aber zu ers Lebensgeschichte und philosophisches Problembe-
seinen Lebzeiten nicht im Druck veröffentlichten Auf- wusstsein sowie auf die allgemeinen sozial- und kul-
zeichnungen und Dokumente jeglicher Art aus all sei- turgeschichtlichen Ereignisse auf der anderen Seite zu
nen Lebensphasen. Im üblichen und engeren Sinne den wichtigsten Aufgaben der Erforschung des jungen
beschränkt sich die Bezeichnung ›Schopenhauers Schopenhauer.
handschriftlicher Nachlass‹ meist auf die Manuskripte
mit philosophischen bzw. wissenschaftlichen The-
Geschichte und Stand der Nachlass-Forschung
men. Reisetagebücher, Briefe sowie geschäftliche,
amtliche, biographische und ähnliche Dokumente Schopenhauers handschriftlicher Nachlass liegt in un-
wurden in der Regel getrennt behandelt, ausgewertet terschiedlichen Ausgaben vor, so z. B. in denen von Ju-
und veröffentlicht. Sie geben allerdings oft wichtige lius Frauenstädt (1863, 1864), Eduard Grisebach
Auskünfte über die Entstehungsgeschichte der Scho- (1891–93), Paul Deussen (1913, 1916) und Arthur
penhauerschen Philosophie. Hübscher (1966–75). Weitere, neu gefundene Nach-
Schopenhauers handschriftlicher Nachlass in dem lassstücke und Briefe wurden einzeln, zum Teil als
letzteren, engeren Sinne kann nach dem Reifegrad sei- Faksimile der Originalhandschrift, veröffentlicht. Da-
ner Philosophie, wie sie in seinen Werken vorliegt, zu- rüber hinaus wurden Auszüge aus der Nachlasssamm-
nächst in drei Klassen eingeteilt werden: (1) die Texte lung in verschiedenen Zusammenstellungen und in
in ausgearbeiteter, oft druckreifer Qualität, die entwe- verschiedenen Sprachen gedruckt. Das Verzeichnis
der als mehr oder weniger in sich geschlossene, selb- der Nachlassausgaben bis 1980 findet sich in Hüb-
ständige Texte verfasst wurden oder als Teilstücke in- schers Schopenhauer-Bibliographie (1981, 48–52) und
nerhalb eines veröffentlichten Werkes identifizierbar der neueren in der fortlaufenden »Schopenhauer-Bi-
sind (vgl. HN I, 495–501; HN III, VII–XXI; HN IV (2), bliographie« im Schopenhauer-Jahrbuch.
307–312). Schopenhauers Übersetzung von Gracian’s Ein großer Teil von Schopenhauers handschriftli-
Handorakel und die Kunst der Weltklugheit (HN IV (2), chem Nachlass ist bereits verzeichnet (vgl. Estermann
131–267, V–XIX) erschien zwei Jahre nach seinem Tod 1988). Die frühen Manuskripte, auch Erstlingsmanu-
im Jahr 1862 bei Brockhaus. Auch seine Berliner Vor- skripte genannt, bieten uns die Möglichkeit, den Ge-
lesungen können in diese Klasse eingeordnet werden. dankengang des jungen Schopenhauers dahingehend
(2) Die Aufzeichnungen, die nicht in seinen Veröffent- nachzuvollziehen, welches Problembewusstsein ihn
lichungen aufgenommen wurden, doch inhaltlich als zu seiner Philosophie führte, wie er wichtige philoso-
Vorbereitung oder Ergänzung seiner Gedanken gelten phische Begriffe wie Wille, Idee und Vorstellung ver-
können, (3) Fragmente und Notizen, die die Gedan- stand und herausarbeitete und wie er verschiedene
kenprozesse und -experimente des Philosophen doku- Themenbereiche der Erkenntnistheorie, der Natur-
mentieren, Vorlesungsnachschriften in der Studenten- philosophie, der Ästhetik und der Ethik in ihrer orga-
zeit und Studienhefte der Bücher bzw. Randschriften nischen Einheit konzipierte.
zu Büchern verschiedener Autoren usw. Die Grenzen Bisher wurde Schopenhauers handschriftlicher
zwischen den drei Klassen sind verständlicherweise Nachlass in Buchform publiziert. Wegen des dadurch
nicht immer deutlich zu ziehen. Während die Grenz- begrenzten Umfangs war es unumgänglich, eine Aus-
ziehung zwischen (1) und (2) philosophisch kein be- wahl zu treffen, wobei das Auswahlkriterium von dem
denkliches Problem darstellen, kann die Entschei- Schopenhauer-Bild des Herausgebers abhing. Inso-
dung, welche Texte in (2) oder in (3) gehören, d. h. wel- fern bestimmte die Editionsarbeit am Nachlass maß-
che für die Ausbildung des Hauptgedankens der Scho- gebend das Verständnis nicht nur der Entstehung,
penhauerschen Philosophie maßgebend waren und sondern auch des Gesamtbildes der Schopenhauer-
welche bloß temporäre Gedankenexperimente blie- schen Philosophie mit. Selbst die mit über 3000 Seiten
ben, die bald geändert oder verworfen wurden, das umfangreichste Ausgabe von Hübscher bietet nur ei-
10  Spätwerk und Nachgelassenes 151

nen Teil des erhaltenen Materials auch wenn der He- Es herrschte damals der allgemeine Trend in der
rausgeber mit der Bezeichnung »Vollständige Aus- Forschung, ihre Gegenstände in einem genetisch-kau-
gabe« und mit der Aussage, sie würde »zum ersten salen Denkmodell zu behandeln. Demnach wurde die
Male das gesamte handschriftliche Material auswer- Schopenhauersche Philosophie verstanden etwa als
ten« (HN I, XII), einen anderen Eindruck erweckt. die Lehre von der Emanation des weltschaffenden
Wie viel zur Vollständigkeit fehlt, wird zum Beispiel blinden Willens zum Leben, der sich, nach seiner
an den neulich erschienenen, mit Senilia (247 Seiten), Selbsterhaltung strebend, in Subjekt und Objekt spal-
Specilegia (551 Seiten), Pandectae (396 Seiten) und te. In diesem Stadium erkenne das reine Subjekt kon-
Cogitata (350 Seiten) betitelten Manuskript-Konvolu- templativ die platonische Idee der Dinge als Objekti-
ten deutlich, denn sie umfassen in der Hübscher-Aus- vation des Willens. Die Idee spalte sich wiederum
gabe jeweils lediglich 32, 76, 102 und 96 Seiten. durch das aus Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Kausali-
Dank der rasch voranschreitenden Datenverarbei- tät bestehende principium individuationis in die kon-
tungs- und Datenaustauschtechnik steht der gesamte kret-anschaulichen Einzelobjekte.
handschriftliche Nachlass als Faksimile bereits in den Man rückte dabei die Naturphilosophie des zweiten
digitalen Sammlungen der Universitätsbibliothek Buchs der Welt als Wille und Vorstellung in den Mittel-
Frankfurt zur Verfügung und wird in Kürze auf der punkt und ordnete ihr die anderen Themen, nämlich
Plattform »Schopenhauer digital« weiterverarbeitet. die Erkenntnislehre des ersten, die Ideen- und Kunst-
Die Schopenhauer-Forschung wird mit Hilfe der lehre des dritten und die Ethik und Asketik des vierten
Suchfunktion quer durch den ganzen Nachlass eine Buchs unter. So entstand eine dogmatische Metaphy-
neue Dimension erreichen, vor allem wenn sie mit sik des blind-vernunftlosen Willens. Sie erhielt damit
den digitalen Ausgaben der Gesamtwerke kombiniert den Anschein einer traditionellen Kosmologie, die den
wurde. Als Schopenhauer-Digitalausgabe ist bisher Grund, d. h. Ursprung und Ziel der Welt, und den Auf-
zum Beispiel Schopenhauer im Kontext III von Info- bau der Welt, d. h. die Konstitution der innerwelt-
software erschienen. Diese Digital-Ausgabe enthält lichen Erscheinungen, gleichzeitig als Objektivation
Arthur Schopenhauers Sämtliche Werke (nach der Aus- des Willens beinhaltete. Diese zwei Aspekte der Meta-
gabe von Deussen 1911–1942), den handschriftlichen physik, nämlich Weltentstehung und Weltkonstituti-
Nachlass nach der Ausgabe von Hübscher, Briefe, Rei- on, blieben aber unvermittelt, da der blinde Wille quasi
setagebücher sowie diverse meist nicht wissenschaftli- als irrational-vernunftloser Gott weder die Regel des
che Dokumente. Die digitale Datenverarbeitung be- Erscheinens und das Endziel der Welt noch die Regel
reitet darüber hinaus auch den Weg für komplexere der innerweltlichen Relationen der Erscheinungen zu-
linguistische und statistische Analysen der gesamten einander geschweige denn Auskünfte über die Ver-
von Schopenhauer stammenden Texte. Die Digital- mittlungsmöglichkeit beider Aspekte zu geben ver-
Ausgabe hat aber den entscheidenden Vorteil, die er- mag. Stattdessen wird die Metaphysik gewöhnlich
haltenen Manuskripte umfassend und preisgünstig durch die dogmatische Behauptung gerechtfertigt, so-
weltweit zugänglich zu machen. Mit Hilfe der moder- wohl in der Welt im Ganzen als auch in jedem inner-
nen Bildtechnik kann die originaltreue Wiedergabe weltlich Seienden walte ein und derselbe Wille. Auf die
der Papierqualität und der Tintenfarben, sogar in mi- ›Analogie des Willens‹, die Schopenhauer 1816, kurz
kroskopischer Hochauflösung, die textkritische Ar- vor dem Beginn der Niederschrift des Hauptwerks, als
beit insbesondere an vom Archiv weit entfernten Or- Schlüsselbegriff seiner Naturphilosophie einführt, soll
ten erheblich erleichtern. im Abschnitt »Dresdner Zeit 2« eingegangen werden.
Gerade wegen dieser unvermittelten Identität von
Wille und Vorstellung wurde es aber möglich, die
Hauptergebnisse der neueren Nachlass-
Welterscheinungen in sich und durchgängig kausal-
Forschung
materialistisch zu erklären, ohne die Übermacht des
Die sorgfältige Auswertung des handschriftlichen All-Einen Willens als Weltgrund zu verletzen, genau-
Nachlasses, insbesondere der frühen Manuskripte, hat so wie die neuzeitliche Gesellschaft durch Trennung
gezeigt, dass das Vorverständnis, das der traditionel- von Kirche und Staat ihre weltliche Selbständigkeit er-
len, lange als selbstverständlich gegoltenen Schopen- langte, ohne den Glauben offiziell aufgeben zu müs-
hauer-Interpretation zugrunde liegt, durch die ge- sen. Diese Schopenhauer-Deutung wurde zur Haupt-
samtgesellschaftliche Konstellation der zweiten Hälfte strömung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
des 19. Jahrhunderts bedingt ist. da diese Doppelstruktur sowohl der traditionell-reli-
152 II Werk

giösen, kreationistischen Weltdeutung als auch dem umfangreiche Vorlesungsnachschriften an den Uni-
neuzeitlichen, kausal-materialistischen Erklärungs- versitäten in Göttingen und in Berlin sowie Studien-
modell entgegen kam. hefte und Randbemerkungen, die Schopenhauers
Dieses weit verbreitete Schopenhauer-Verständnis vielfältige Lektüre dokumentieren, überliefert (HN I,
verdeckte und verdrängte das ursprüngliche, trans- II, V). Heute wissen wir, dass Schopenhauer über sei-
zendental-idealistische Problembewusstsein des jun- ne zugestandene Rezeption der kantischen, plato-
gen Schopenhauer, der es als Aufgabe der Philosophie nischen und altindischen Philosophie hinaus auch die
verstand, die auf der natürlichen Einstellung basieren- zeitgenössischen Philosophen wie Jacobi, Reinhold,
de kausale Denkweise noch einmal nach deren Bedin- Schulze, Fichte, Schelling gründlich studierte und von
gung der Möglichkeit zu befragen. Aus dieser Sicht ist seinen kritischen Auseinandersetzungen mit ihnen
die Themenwahl für sein philosophisches Debüt Ue- viele wichtige Denkanstöße erhielt. In der Erfor-
ber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden schung des jungen Schopenhauer kann man zwar
Grunde erst recht verständlich. Seine Dissertation noch von keinen etablierten Theorien sprechen, doch
sollte nämlich als die transzendentalkritische Analyse im Folgenden seien einige markante Ergebnisse vor-
der vier anscheinend gleichen und oft miteinander gestellt, um zu demonstrieren, welche Möglichkeiten
verwechselten Formen des Grund-Denkens verstan- uns dieses Forschungsgebiet eröffnet.
den werden, das geschichtlich eben im Satz des zurei- Die Entstehungsgeschichte der Schopenhauerschen
chenden Grundes zusammengefasst wurde. Philosophie lässt sich zunächst in die folgenden drei
Das Vergessen dieser durchaus im Kontext der kan- wichtigen Phasen mit weiteren Unterphasen einteilen:
tischen Philosophie stehenden Grundfragen machte •• Studienzeit (1807–1813)
die Schopenhauersche Philosophie zwar auf der einen –– Schulzeit (1807–1809) in Gotha und in Weimar
Seite zu der gefeierten Populärphilosophie der Zeit, –– Göttinger Studienzeit (1809–1811)
sie erschwerte aber auf der anderen Seite eine in sich –– Berliner Studienzeit (1811–1813)
konsistente Interpretation und rief verschiedene Ein- •• Rudolstädter Zeit (1813): Abfassung der Disserta-
wände und Kritiken hervor (vgl. Kamata 1988, 47– tion
109). So wurde sie vielfach von der akademischen Phi- •• Weimarer und Dresdner Zeit (1813–1818)
losophie verachtet. Aber gerade die Einfachheit und –– Weimarer Zeit und Dresdner Zeit 1 (1813–
Brüchigkeit dieser populärphilosophischen Schopen- 1814): Aufarbeitung der in seiner Dissertation
hauer-Deutung beeinflusste bekanntlich nicht nur gewonnenen Grundansicht
Philosophen, sondern auch zahlreiche andere wissen- –– Dresdner Zeit 2 (1815–1816): Vollendung des
schaftliche, literarische und künstlerische Geister der philosophischen Grundrahmens
Folgezeiten, die sie als ihr Sprungbrett benutzten und –– Dresdner Zeit 3 (1817–1818): Niederschrift von
dadurch ihrerseits dazu beitrugen, diese populärphi- Die Welt als Wille und Vorstellung
losophische Deutung zu befestigen. Solche kreativen Im vorliegenden Beitrag wird die Herausbildung des
Missverständnisse und Verfälschungen müssen auch Grundgedankens der Schopenhauerschen Philosophie
als wichtige Bestandteile nicht nur der Schopenhauer- bis zur Dresdner Zeit 2 skizziert. Selbstverständlich
Rezeption, sondern auch der Erneuerung der Philoso- kommen in diesem systematischen Überblick nicht al-
phiegeschichte angesehen und geschätzt werden. le entwicklungsgeschichtlich relevanten Aspekte des
Nachlasses zur Sprache. Hier sei auf neuere Unter-
suchungen verwiesen, die den handschriftlichen
Die Genese der Schopenhauerschen Philosophie
Nachlass mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzun-
im Spiegel des handschriftlichen Nachlasses
gen ausgewertet haben, etwa hinsichtlich der Lehre
Die wachsende Aufmerksamkeit gegenüber dem vom »besseren Bewußtsein« (vgl. Bohinc 1989), der
handschriftlichen Nachlass in den letzten Jahrzehnten Erlösungslehre (vgl. De Cian 2002), des Naturbegriffs
leitete eine Wende in der Schopenhauer-Forschung (vgl. Grigenti 2000) oder der Rezeption der indischen
ein. Am deutlichsten ist sie im Problemkreis der Ent- Philosophie (vgl. App 2011). Heute kann eine wissen-
stehungsgeschichte der Schopenhauerschen Philoso- schaftliche Arbeit kaum auf die Einbeziehung der Ma-
phie zu beobachten. Aus den Jahren vor dem Erschei- terialien aus dem Nachlass verzichten, wobei jedoch
nen des Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstel- die Diskussion um die Aussagekraft der sehr hetero-
lung sind, wie bereits erwähnt, umfangreiche Auf- genen Bestandteile desselben für die Interpretation der
zeichnungen zu den unterschiedlichsten Themen, Philosophie Schopenhauers erst noch zu führen ist.
10  Spätwerk und Nachgelassenes 153

rückzuziehen, und da unter der Form der Unwandel-


Studienzeit (1807–1813)
barkeit das Ewige in uns anzuschauen« (Schelling
Im Herbst 1809 schrieb sich Schopenhauer als Medi- 1809, 165).
zinstudent an der Universität Göttingen ein, wo er u. a. Dieses Selbstbewusstsein, das sich – trotz der grund-
philosophische Veranstaltungen von Gottlob Ernst sätzlichen philosophischen Unterschiede zwischen
Schulze besuchte (vgl. d’Alfonso 2008, 7–34; s. Kap. 3). Schulze und Schelling – in Einklang mit Schulze gegen
Dieser war der Verfasser des 1792 anonym erschiene- die Anmaßungen der kantischen Vernunftkritik und
nen Aenesidemus, in dem er Karl Leonhard Reinholds Moraltheologie wandte, äußerte sich bei Schopenhau-
Neue Darstellung der Hauptmomente der Elementar- er in den folgenden Sätzen: »Die Kritik der reinen Ver-
philosophie (1790), eine Weiterführung der kantischen nunft könnte der Selbstmord des Verstandes (nämlich
Philosophie, Satz für Satz kritisch kommentierte und in der Philosophie) genannt werden. [...] Kants regula-
darüber hinaus vor den übertriebenen subjektivisti- tiver Gebrauch der Vernunft ist vielleicht die ärgste
schen Tendenzen des aufkommenden Deutschen Idea- Mißgeburt des menschlichen Verstandes« (HN I, 12 f.).
lismus warnte. Johann Gottlieb Fichtes Ueber den Be- Da das anzustrebende, d. h. aus sich selbst bewusst ge-
griff der Wissenschaftslehre erschien 1794 im gedank- wählte Leben nicht dogmatisch von außen gegeben
lichen Anschluss an seine Recension des Aenesidemus werden kann, muss es auch aus sich selbst konstituiert
von 1792. Die kritische Haltung Schulzes gegenüber und vorgestellt sein. Das bedeutet, die ganze Welt, in
Kant und dem Deutschen Idealismus gefiel offensicht- der ich lebe, kann nur in Beziehung auf das lebendig
lich auch dem jungen Schopenhauer. Dessen in Göt- sich selbst bewusst konstituierende Subjekt bestehen.
tingen geschriebene Manuskripte stehen noch unter Diese idealistische Gedankenentwicklung führte
dem deutlichen Einfluss der durch Pietismus und Schopenhauer von Göttingen nach Berlin zu Fichte,
Spätaufklärung geprägten bürgerlichen Atmosphäre in von dem Schopenhauer glaubte, er führe die kantische
Hamburg, die er u. a. an Dr. Johann Heinrich Christian Philosophie weiter. Der junge Schopenhauer gab sich
Runges Privatschule erhalten hatte. Ludwig Tieck Mühe, die Diskrepanz zwischen dem Sinnlich-Ver-
(1773–1853), Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773– gänglichen und dem Übersinnlich-Göttlichen be-
1798) und Matthias Claudius (1740–1815) gehörten zu wusstseinsimmanent aufzuheben, indem er sie immer
Schopenhauers Lieblingsschriftstellern. weniger als substanzmetaphysische Differenz, son-
Schopenhauers Göttinger Zeit war von der leiden- dern zunehmend als bewusstseinsimmanente Diffe-
schaftlichen Suche nach einer Lebensform gekenn- renz zwischen zwei Haltungen des Bewusstseins auf-
zeichnet, die ihn aus dem in sich verschlossenen, fasst: als Duplizität des sich zum Zweck der Lustge-
endlichen und vergänglichen Dasein heraus in den winnung um die kausalen Zusammenhänge der in-
anderen Seinsbereich der göttlich-übersinnlichen nerweltlichen Dinge kümmernden empirischen
Welt erhebt. Bewusstseins – das er polemisch nach 1814 in der
»Philosophie als Wissenschaft« und in Die Welt als
»Alle Philosophie und aller Trost, den sie gewährt, läuft Wille und Vorstellung und in der Berliner Vorlesung in
darauf hinaus, daß eine Geisterwelt ist und daß wir in der »Aetiologie« am Werk sieht – und des eigentlich
derselben, von allen Erscheinungen der Außenwelt ge- philosophischen – nach seiner früheren Formulie-
trennt, ihnen von einem erhabenen Sitz mit größter rung: »von einem erhabenen Sitz mit größter Ruhe
Ruhe ohne Theilnahme zusehen können, wenn unser ohne Theilnahme« (HN I, 7 f.) – nach der transzen-
der Körperwelt gehörender Theil auch noch so sehr da- dentalen Bedingung der Möglichkeit dieser empiri-
rin herumgerissen wird. [...] Tief im Menschen liegt das schen Welt fragenden besseren Bewusstseins. Viele in
Vertrauen, daß etwas außer ihm sich seiner bewußt ist Berlin entstandene Aufzeichnungen verraten uns
wie er selbst« (HN I, 7 f.). Schopenhauers mühsame Gedankenexperimente mit
inneren Schmerzen und Kompensationsbestrebungen
Diese frühen Aufzeichnungen bezeugen gleichzeitig bei seinem immer deutlicher werdenden Abschied
Schopenhauers Nähe zu Schelling, u. a. zu dessen 1809 von dem jugendlichen metaphysisch-religiösen Erlö-
gerade erst erschienenem ersten Band von Schelling’s sungsgedanken. Hübscher verweist treffend darauf,
philosophische Schriften I: »Uns allen nämlich wohnt dass Schopenhauer bis zu seinem 24. Lebensjahr im
ein geheimes, wunderbares Vermögen bey, uns aus Rahmen seiner Kirche gestanden, aber zumindest die
dem Wechsel der Zeit in unserer Innerstes, von allem, Glaubenslehre bis 1814 aufgegeben habe (vgl. Hüb-
was von aussenher hinzukam, entkleidetes Selbst zu- scher 1969, 13; 1973, 13). Dieser Schritt vollzog sich
154 II Werk

über die Rezeption der Schellingschen und Fichte-


Rudolstädter Zeit (1813)
schen intellektuellen Anschauung, die wiederum auf
die Kantisch-Reinholdsche transzendentale Analyse In seiner Dissertation versucht Schopenhauer eine
der Erfahrungsstruktur zurückgeht. vertiefte Auseinandersetzung mit dem in der Leibniz-
In der Berliner Zeit arbeitet Schopenhauer noch Wolffschen Schulphilosophie wichtigen aber seiner
einmal Schelling’s philosophische Schriften I durch. Zu Ansicht nach nicht ausreichend differenzierten Satz
der oben angeführten Stelle schrieb er bestätigend vom zureichenden Grund. Auf dieses Hauptthema
hinzu: »p 165–166 steht große lautre Wahrheit« (HN und den Überblick der gesamten Schrift werden wir
II, 309), doch an einer vorangehenden Stelle über das hier nicht eingehen (s. Kap. 4). In seiner Dissertation
Absolute steht eine Anmerkung, die auf eine gedank- lässt sich allerdings die Herausbildung und anfäng-
liche Abweichung von der Göttinger Zeit in Richtung liche Bestimmung der Grundbegriffe ›Wille‹ und ›Vor-
auf den Kantisch-Reinholdschen Idealismus deutet: stellung‹ nachverfolgen. Dieser Abschnitt soll sich da-
»Es kommt daher auf die Frage an, ob zwischen Seyn rauf konzentrieren.
und Erkanntwerden-können ein Unterschied sey, ob Das oben angeführte Gesetz des Bewusstseins er-
nach Abzug aller Erkennbarkeit noch ein Seyn übrig innert an den Reinholdschen Satz des Bewusstseins:
bliebe, ob jenseit Subjekt und Objekt für uns noch et- »Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Sub-
was ist« (HN II, 309). Die folgende Stelle bezeugt, dass jekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf
das neue, transzendental-idealistische Verständnis beyde bezogen« (Reinhold 1790, 167 f.). Doch der
des Seins als Vorstellung-Sein nun feststeht: idealistisch anmutende Ausdruck »durch das Subjekt«
entfällt bei Schopenhauer. Das Studium bei Schulze
»Der Standpunkt der N[atur]-Philos[ophen] ist der: und Fichte führte Schopenhauer auf den engen Pfad
Man stellt sich die ganze objektive Welt vor, in ihrer zwischen den substanzmetaphysischen und subjekt-
Größe, alle drehenden Weltkörper, und in ihrer Man- metaphysischen Absolutismen zu seiner philosophi-
nigfaltigkeit. Dann hält man plözlich inne und sagt: schen Grunderfahrung. Schopenhauer rezipierte ei-
aber alles eben als seyend Gedachte ist nicht als sey- nerseits die Kant-Reinholdsche Tradition, die die na-
end gedacht, wenn nicht eine es wahrnehmende Intel- türliche Einstellung über die menschliche Erkenntnis
ligenz, ein Subjekt zu dieser Objektenwelt ist: denn nicht anstandslos gelten lässt, sondern vielmehr dabei
(dies sagen sie nicht ein Mal deutlich) seyn heißt nur nach deren Bedingung der Möglichkeit nachfragt. In-
Objekt für ein Subjekt oder Subjekt für Objekte seyn« sofern teilt Schopenhauer auch ihre Ansicht, dass die
(HN I, 26). Welt nicht substanzhaft als Ding an sich oder als da-
rauf gegründet, sondern lediglich als Vorstellung, d. h.
Damit ist die Bedeutung seiner Untersuchung über als Objekt in Bezug auf das erkennende Subjekt ver-
die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden standen und dargestellt werden kann. Andererseits ist
Grunde klar bezeichnet; die Wahrheit des besseren die Welt als Vorstellung jedoch nicht als Mittel des
Bewusstseins ist eigentlich die transzendentalphiloso- machtstrebenden Willens zu verstehen. Insofern war
phische Frage nach der Konstitution der Erfahrung Schopenhauer mit der Kritik an den aufklärerischen
unter dem Verzicht auf die metaphysisch-religiöse Be- Machtansprüchen einverstanden, die er von Schulze,
friedigung durch das welttranszendente Wesen. So aber auch von Jacobi und Schelling lernte.
lautet das Gesetz des Bewusstseins wie folgt: Angesichts dieser doppelten Abgrenzung der Welt
von den substantiellen und subjektiven Ordnungs-
»Unser Bewußtseyn, so weit es als Sinnlichkeit, Ver- prinzipien stellt sich nun eine neue Frage, wie die gan-
stand und Vernunft erscheint, zerfällt in Subjekt und ze Welt als Vorstellung, die Schopenhauer in dieser
Objekt, und enthält, bis dahin, nichts außerdem. Ob- Phase mit Rücksicht auf deren ursprüngliche Bezie-
jekt für das Subjekt seyn, und unsre Vorstellung seyn, hung zum erkennenden Subjekt »Gesamtvorstellung«
ist dasselbe. Alle unsre Vorstellungen sind Objekte des nennt, sich selbst reguliert, d. h. von sich aus bewusst-
Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsre Vor- seinsimmanent ihre Einheit und Stabilität verschafft
stellungen. Aber nichts für sich Bestehendes und Un- und aufrechterhält. Schopenhauers Antwort eröffnet
abhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, eine neue Perspektive für seine Philosophie der Welt
kann Objekt für uns werden: sondern alle unsre Vor- als Vorstellung. Das Erfahrungsganze besteht nämlich
stellungen stehn in einer gesetzmäßigen und der Form aus dem wechselseitigen Verhältnis der unmittelbaren
nach a priori bestimmbaren Verbindung« (Diss, 18). Gegenwart der deutlichen Vorstellung (Vorgestellt-
10  Spätwerk und Nachgelassenes 155

werden: κατ’ εντελεχειαν) und der nicht unmittelbar das Subjekt nur als ein Wollendes, eine Spontaneität,
gegenwärtigen, hintergründigen Vorstellung des Gan- nicht aber als ein Erkennendes« (Diss, 68). Auch in
zen der Erfahrung (Vorgestelltwerden: κατα δυναμιν) Fichtes Versuch einer Critik aller Offenbarungen (1792)
im Bewusstsein (vgl. Diss, 23 f.). Die letztere Vorstel- und im System der Sittenlehre (1798), die der junge
lung wird durch Vereinigung der reinen Formen der Schopenhauer durcharbeitete, finden sich die synony-
Sinnlichkeit (Zeit und Raum) und der Kausalität zu- me Behandlung von Wille und Spontaneität (vgl. u. a.
sammengehalten, und die erstere, unmittelbar gegen- Fichte 1971, Bd. V, 22 f.) und die doppelte Willens­
wärtige Vorstellung wird tatsächlich als Gegenstand äußerung im inneren Sinn und am Leib (vgl. u. a. Fich-
der Erfahrung anerkannt, indem sie mit der letzteren, te 1971, Bd. I, 11).
inaktualen Gesamtvorstellung vermittelt wird. Diese Auf der Ebene der Erkenntnis übt der Wille als
wird in der natürlichen Einstellung als die von außen Spontaneität seinen Einfluss auf das Erkenntnisver-
her uns gegebene »objektive reale Welt« gedeutet mögen aus, richtet dessen Aufmerksamkeit auf seinen
(Diss, 21 f.). Der Vermittlungspunkt des inneren Sinns Gegenstand, um verschiedene produktive und repro-
mit dem äußeren Sinn der räumlichen Sichtbarkeit ist duktive Synthesen zu vollziehen. Er lässt sogar das Er-
der Leib als unmittelbares Objekt für das Subjekt des kenntnisvermögen einen Gegenstand hervorbringen,
Erkennens (vgl. Diss, 25 f.). den es nicht mehr oder noch nicht gibt. Diese Kausali-
In der Dissertation gewinnt Schopenhauers Wille, tät des Willens auf das Subjekt des Erkennens wird –
sofern er als transzendentale Bedingung der Möglich- ganz in Einklang mit Kant (vgl. u. a. KrV, B 151 f.) –
keit der Gesamtvorstellung betrachtet wird, seine ers- Einbildungskraft bzw. Phantasie, deren Gegenstand
ten originalen Konturen. Anders als bei dem Begriff Phantasma genannt. Das Gesetz der Motivation ist die
der Vorstellung distanziert sich Schopenhauer bei der von außen gesehen weniger verbindliche Regel für
Einführung des Willensbegriffs von Anfang an deut- diese Willensspontaneität (vgl. u. a. Diss, 80). Dieses
lich von Kant, mit dem er sich 1812 intensiv befasst; ei- Verständnis der Einbildungskraft wird weiterreichen-
ne Distanz, die er in seinem Hauptwerk (W I, 489–633; de philosophische Konsequenzen haben, wie in den
s. Kap. 6.7) und später in der »Preisschrift über die nächsten Abschnitten gezeigt wird. Die hier beschrie-
Grundlage der Moral« (s. Kap. 8.2; 17) ausbauen wird. bene Kausalität des Willens auf das Subjekt des Erken-
Denn der von Kant definierte Wille, »welcher ein Ver- nens (Einbildungskraft) ist der eigentliche Motor, die
mögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegen- Einheit und Stabilität der Gesamtvorstellung aufrecht-
stände entweder hervorzubringen oder noch sich zuerhalten, gehört also zu der transzendentalen Bedin-
selbst zur Bewirkung derselben [...], d. i. seine Kausali- gung der Möglichkeit der Erfahrung. Sie ist grundsätz-
tät zu bestimmen« (KpV, 29 f.), setzt bereits bestehende lich zu unterscheiden von der Kausalität des Willens
Vorstellungen, z. B. eines Moralgesetzes, voraus, denen auf das Objekt des Erkennens und der Kausalität der
entsprechend er einen Gegenstand hervorbringen oder Objekte aufeinander, welche beiden Kausalitäten nur
bestimmen soll. Damit ist der so verstandene Wille die Verhältnisse der innerweltlich in ihrer empirischen
nicht mehr in der Lage, als transzendentale Bedingung Realität bereits feststehenden Dinge ausdrücken (vgl.
der Möglichkeit der Gesamterfahrung, d. h. gleichzei- Diss, 29 ff., 73). Auch aus diesem Grund ist die Unter-
tig der Gegenstände derselben, mitzuwirken. Aus der scheidung zwischen den zwei Willensverständnissen
Einbeziehung des handschriftlichen Nachlass ergibt von großer Wichtigkeit, nämlich zwischen dem trans-
sich, dass Schopenhauer seinen Willensbegriff auf ei- zendental-idealistisch verstandenen Willen als Bedin-
nen anderen kantischen Begriff der Spontaneität des gung der Möglichkeit der Welt als Vorstellung (unten ab-
Selbstbewusstseins bzw. der transzendentalen Apper- gekürzt als »transzendentaler Wille«) und dem Willen
zeption stützt, wie er in der transzendentalen Dedukti- innerhalb der Welt als Vorstellung bzw. dem Willen in
on der reinen Verstandesbegriffe (vgl. KrV, B 131 f.) der Natur (unten abgekürzt als »empirischer Wille«),
verwendet wird, dass der junge Schopenhauer, hier der die empirische Realität der Welt als Vorstellung als
durchaus unter Fichtes Einfluss, Wille und Spontanei- bereits feststehend angenommen hat und als einzelner
tät sogar synonym verwendet (vgl. Kamata 2015, 50– mit anderen Willenser­scheinungen kämpft. Die meis-
55). Der Wille als Spontaneität ist im Selbstbewusstsein ten bisher erhobenen Einwände gegen die angeblichen
und zwar im inneren Sinn und gleichzeitig an dem un- Inkonsequenzen des Schopenhauerschen Willens-
mittelbaren Objekt (Leib) als spontane Muskelbewe- begriffs übersahen diese entscheidende Differenz zwi-
gung unmittelbar gegenwärtig (vgl. HN I, 65; HN II, schen der transzendental-idealistischen und empi-
349, 358). In seiner Dissertation steht: »Erkannt wird risch-realistischen Sichtweise. In dieser Duplizität des
156 II Werk

Willens ist die Weiterentwicklung und die Abwand- lung, d. h. sie ist nicht in der sinnlichen Wahrneh-
lung der Duplizität des Bewusstseins bis zum allmähli- mung gegeben. Diese Vorstellungen nennt Schopen-
chen Verschwinden dieses Gedankens angelegt. hauer Phantasmata, das Produkt der Einbildungs-
kraft. Sie unterliegen nicht dem Gesetz der Kausalität,
sondern dem der Motivation (vgl. Diss, 27):
Weimarer Zeit und Dresdner Zeit 1 (1813–1814)
Mit der Dissertation standen die beiden Grundbegrif- »Die Platonische Idee ist eigentlich ein Phantasma in
fe der Schopenhauerschen Philosophie – Wille und Gegenwart der Vernunft. Sie ist ein Phantasma dem
Vorstellung – fest. Das ›bessere Bewusstsein‹ als Leit- die Vernunft das Siegel ihrer Allgemeinheit auf-
motiv der Studienzeit verwandelte sich mit der fort- gedrückt hat; ein Phantasma bei dem sie spricht: ›so
schreitenden Entmetaphysizierung in den Gedanken sind sie alle‹, d. h. ›das worin dieser Repräsentant sei-
der Verneinung des Willens: »Seine [= des besseren nem Begriff nicht adäquat ist, ist nicht wesentlich.‹ Die
Bewusstseins; Y. K.] andre Aeußerung, die Heiligkeit, Platonische Idee entsteht also durch die vereinte Thä-
besteht darin daß man die Idee der Welt anschaut und tigkeit der Phantasie und der Vernunft« (HN I, 130 f.).
sie nicht will« (HN I, 151). Damit sind bereits die The-
menbereiche des ersten und vierten Buches von Die Diese entscheidende Bestimmung der platonischen
Welt als Wille und Vorstellung vorgezeichnet. Idee beim jungen Schopenhauer, die bisher allzu oft
Die bedeutendste Weiterführung dieser philosophi- übersehen wurde, ist nicht etwa als ein vorübergehen-
schen Grundlagen in der unmittelbaren Folgezeit war des Gedankenexperiment (3. Klasse nach der Eintei-
wohl die Herausarbeitung der Ideenlehre. Kant hatte lung der Nachlasstexte) anzusehen, sondern als ein
das Ding an sich zwar als der Welt als Erscheinung zu- fester, ernstzunehmender Bestandteil seiner Philoso-
grundeliegend denkbar angesehen, doch in seiner phie, sofern dieser Gedanke auch in Die Welt als Wille
transzendental-idealistischen Ausführung als uner­ und Vorstellung wiedergegeben wird (vgl. W I, 48).
kennbar ausgeklammert. In dem nachkantischen Idea- Die Rolle des transzendentalen Willens als Bedin-
lismus wurde dieser substanzmetaphysische Gedanke gung der Möglichkeit der platonischen Idee und da-
des Dinges an sich immer konsequenter verdrängt. mit auch der wahrnehmbaren, anschaulichen Vorstel-
Der junge Schopenhauer teilte auch, wie oben gesehen, lungen war die wichtige These, die sich zwar vollstän-
diese allgemeine Ansicht. Der vollständige Ausschluss dig aus den Resultaten der Dissertation ableiten ließ,
eines substantiellen Dinges an sich stellte ihn vor die doch erst 1814 konsequent ausgesprochen wurde. Auf
neue Aufgabe, nicht nur die formalen Bedingungen dieser Ideenlehre gründet sich die Schopenhauersche
der Möglichkeit der Erfahrung, sondern auch noch die Kunstlehre. Da die platonische Idee ursprünglich
materiellen Bedingungen der Möglichkeit der Erfah- Phantasma ist, kann sie im Bewusstsein des genialen
rung, die Kant stillschweigend dem Ding an sich zu- Künstlers antizipiert und in den Kunstwerken so wie-
schreiben konnte, bewusstseinsimmanent aufzuzei- derholt werden, wie sie gedacht werden muss, bevor
gen. Schopenhauers Ideenlehre war seine Antwort auf die Natur selbst sie hervorbringt. Die Methexistheorie
diese neu gestellte Frage nach der Bedingung der Mög- der platonischen Ideen bleibt in der Kunst wie in der
lichkeit der Erfahrung. Sie wurde bereits in der Disser- gewöhnlichen Erkenntnis bestehen, doch die Idee
tation deutlich zum Ausdruck gebracht: selbst wird nicht mehr substanzmetaphysisch von
oben herab, sondern hier wiederum ganz im Geist des
»Die Platonischen Ideen lassen sich vielleicht beschrei- nachkantischen Idealismus durch die Antizipation
ben als Normalanschauungen, die nicht nur, wie die der Einbildungskraft und der Vernunft gegeben. Die
mathematischen, für das Formale, sondern auch für platonische Idee als Phantasma unterliegt eben des-
das Materiale der vollständigen Vorstellungen gültig halb nicht dem Gesetz der Kausalität, sondern dem
wären: also vollständige Vorstellungen, die, als solche, der Motivation. Das bedeutet, dass sie nicht durch
durchgängig bestimmt wären, und doch zugleich, wie Raum und Zeit und Kausalität gebunden, vielmehr
die Begriffe, Vieles unter sich befaßten; d. h. [...] Reprä- davon befreit ist und insofern bildhaft als ›ewig‹ be-
sentanten der Begriffe, die ihnen aber völlig adäquat zeichnet werden kann.
wären« (Diss, 63 Anm.). Diese nunmehr erreichte Dreistufentheorie der
Spontaneität des transzendentalen Willens, der plato-
Die platonische Idee ist zwar eine vollständige, aber nischen Idee als Phantasma und der einzelnen an-
nicht das Ganze der Erfahrung ausmachende Vorstel- schaulichen Vorstellungen macht die Grundlage der
10  Spätwerk und Nachgelassenes 157

Schopenhauerschen Ideen- und Kunstlehre im dritten Formel (vgl. Reinhold 1789, 177) orientierte kritische
Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung aus. Abgrenzung von der naiv-materialistischen Natur-
Auffassung im diametralen Gegensatz zu seiner
(nicht ganz zu Recht geübten) Kritik am Fichteschen
Dresdner Zeit 2 (1815–1816)
Bewusstseinssolipsismus (vgl. Diss, 72; W II, 16), auf
Die Philosophie des jungen Schopenhauer wuchs in der anderen Seite durch die Beschäftigung mit dem
den Dresdner Jahren allmählich zu einem organi- von Fichte übernommenen Problem des Leibes als
schen Ganzen zusammen. Bis 1814 standen der trans- dem Bewusstsein und Natur vermittelnden unmittel-
zendentale Idealismus, die Ideenlehre und die Wil- baren Objekt (vgl. Schöndorf 1982, 107–170). Gerade
lensverneinung als Grundlegung seiner Erkenntnis- die letztere bot dem jungen Schopenhauer in dieser
lehre, Ästhetik und Ethik fest. Die philosophische ›zweiten‹ Dresdner Zeit den Zugang zu der Frage
Ausarbeitung seiner Naturphilosophie war aber keine der Vermittlung von Natur und Bewusstsein in der
leichte Aufgabe. In der Tradition des nachkantischen romantischen Naturphilosophie, vor allem zu der
Idealismus war die Frage, wie das Selbstbewusstsein (Wieder-)Entdeckung und Erarbeitung des Analo-
sich der Natur als außerhalb des Bewusstseins seiend giebegriffs im kantisch-transzendental-idealistischen
bewusst werden könne, der Stein des Anstoßes. Bei Kontext. Die ausstehende philosophische Begrün-
Schelling und Hegel bildete die Naturphilosophie den dung der Gleichstellung von Mensch und Tier im
prominenten Probierstein, an dem die philosophische Hinblick auf ihre Leiblichkeit als ihren Willen in der
Geltung des idealistischen Denkens gemessen werden Erscheinung sollte nun nachgeholt werden (vgl. HN I,
sollte (vgl. Schelling 1797, SW II, 12 f.). 129). Den Analogiebegriff übernahm er aus Schel-
Schopenhauer war seit seiner Studienzeit sehr an lings Schriften Ideen zu einer Philosophie der Natur
der zeitaktuellen Diskussion über die Natur interes- (1797) und Von der Weltseele (1789), mit denen er seit
siert, wie seine Vorlesungsbesuche u. a. von Johann seiner Göttinger Zeit vertraut war.
Friedrich Blumenbachs Naturgeschichte in Göttin- Der Begriff des Leibes als unmittelbares Objekt
gen und Martin Hinrich Lichtensteins Zoologie in wurde zuerst in der Dissertation eingeführt und in der
Berlin (HN II, Inhaltsverzeichnis Seite V) sowie seine darauf folgenden Weimarer und Dresdner Zeit aus-
umfangreiche Lektüre zur Naturforschung mit be- gebaut als die formale Bedingung der Vermittlungs-
sonderer Vorliebe zu der romantischen Naturphi- möglichkeit zwischen der unmittelbaren Gegenwart
losophie u. a. von Carl Friedrich Kielmeyer, Lorenz der Vorstellung im inneren Sinn (als intensive Größe)
Oken und Gotthilf Heinrich von Schubert bezeugen. und der inaktualen Gesamtvorstellung im äußeren
Die ersten beiden kannte Schopenhauer persönlich, Sinn (als extensive Größe), die die räumlichen Zusam-
führte mit ihnen Briefwechsel. Schuberts Nachtseite menhänge der Objekte sichtbar macht. Die Deutung
der Naturwissenschaft (1808) entlieh er nachweislich der platonischen Idee als Phantasma mit Urbildfunk-
im Oktober 1814 von der Königlichen Bibliothek zu tion lieferte die materiale Bedingung der Möglichkeit
Dresden. Schopenhauer las auch seit seiner Dresdner einzelner Erfahrungsgegenstände. Der Leib und die
Zeit bis ins hohe Alter die von Ludwig Wilhelm Gil- platonische Idee wurden ferner auf den transzenden-
bert herausgegebenen Annalen der Physik und in de- talen Willen bezogen und auf je eigene Weise ›Objek-
ren Folge Poggendorfs Annalen. Dennoch ist es ver- tität des Willens‹ genannt. Das Gesetz des Bewusst-
fehlt, anzunehmen, dass die Thematik ›Natur‹ bereits seins, wie es in Anlehnung an den Reinholdschen Satz
eine theoretisch gesicherte Stellung im philosophi- des Bewusstseins, doch unter Eliminierung des Aus-
schen Denken des jungen Schopenhauer eingenom- drucks »durch das Subjekt«, als Korrelation von Sub-
men hätte. Auch wenn er in einem Atemzug von dem jekt und Objekt konzipiert wurde, sollte den von
Leib des Menschen und des Tieres als seinem Willen Schulze kritisierten praktischen Solipsismus überwin-
in der Erscheinung sprach, fehlte doch noch eine phi- den. Dennoch blieb die Gesamtvorstellung transzen-
losophische Darstellung dieser allgemeinen Natur- dental-idealistisch auf das erkennende Subjekt und
philosophie. Er musste vorerst seinen grundsätzli- empirisch-realistisch auf den Leib als Koordinaten-
chen, idealistischen Vorbehalt gegenüber den »Na- ursprung der Welt bezogen. Insofern kann die Phi-
turphilosophen« und »Natur-Narren« (HN I, 27) auf- losophie des Bewusstseins dem Verdacht eines er-
arbeiten, d. h. ihn folgerichtig und stringent auf die kenntnistheoretischen Solipsismus nicht entgehen.
Resultate seiner Dissertation beziehen. Dies geschah In der natürlichen Einstellung ist aber die Dezen-
auf der einen Seite durch die an der Reinholdschen tralisierung und die Verdinglichung der Welt als Vor-
158 II Werk

stellung faktisch vollzogen, die Relationen der inner- schaft des Schopenhauerschen Materie-Begriffs mit
weltlichen Objekte bilden eine selbständige und in dem kantischen Substanz-Begriff in der Analogie der
sich abgeschlossene materielle Welt, in der der Leib Erfahrung diese Annahme. Schopenhauers wieder-
im Relationsganzen der (mittelbaren) Objekte ein- holte Definition der Materie als die Wahrnehmbarkeit
gebettet ist. Es ist nicht mehr ausreichend, nur die pa- von Zeit und Raum (vgl. Diss, 21; W I, 10) verweist
rallele Darstellbarkeit beider Sphären, nämlich der nämlich eindeutig auf eine Stelle Kants:
Erkenntnisfunktion und der Erkenntnisgegenstände
(vgl. Diss, 70), festzustellen. Die Bedingung der Mög- »Nun kann die Zeit für sich nicht wahrgenommen wer-
lichkeit, unter der die Gesamtvorstellung für das er- den. Folglich muß in den Gegenständen der Wahrneh-
kennende Subjekt zugleich als die Welt als Vorstel- mung, d. i. den Erscheinungen, das Substrat anzutref-
lung für alle erkennenden Subjekte dezentralisiert fen sein, welches die Zeit überhaupt vorstellt, und an
wird, muss nun gezeigt werden. Der junge Schopen- dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch das Ver-
hauer stieß hier also auf das Problem der Intersubjek- hältnis der Erscheinungen zu demselben in der Appre-
tivität, mit der jede Bewusstseinsphilosophie kon- hension wahrgenommen werden kann« (KrV, B 225;
frontiert ist. Die Analogie des Willens ist Schopen- vgl. auch B 277 f.).
hauers Antwort auf diese Frage und nicht etwa, wie
oft angenommen, die Frage nach der metaphysischen Seine vorsichtige Einführung des Willens als Ding an
Kosmogonie. Als Schopenhauer in der ›zweiten‹ sich erfolgt ganz im Sinne des transzendentalen Wil-
Dresdner Zeit über die transzendentalphilosophische lens als Bedingung der Möglichkeit des Zusammen-
Leib-Konzeption zum Weltbegriff überging, fielen haltens der Gesamtvorstellung. Er ist das Ding an sich
neben »Analogie« auch die anderen von Schelling in dem Sinne, dass es die Welt als Vorstellung im In-
verwendeten Ausdrücke wie »Mikrokosmus« (HN I, nersten zusammenhält (vgl. HN I, 347 ff.), und bedeu-
229), als Bezeichnung für den Menschen, oder »Po- tet keine welttranszendente Substanz. Wenn es aber
tenz« (HN I, 229), die auf sein Interesse an einem de- von der transzendental-idealistischen Überlegung ab-
zentralisierten Weltbegriff hindeuten. Schopenhauer gesehen quasi als objektives Prinzip der empirischen
ging aber, wohl unzufrieden mit dem auf der einen Welt dargestellt werden soll, wird es Wille nur »a po-
Seite allzu metaphysisch-dogmatisch erscheinenden tiori« (HN I, 350) genannt. Der in Ueber das Sehn und
und auf der anderen Seite sich mehr mit den Verhält- die Farben (1816) eingeführte (vgl. auch F, 28, 33 (De))
nissen der innerweltlichen Dinge zueinander be- und hier erweiterte Ausdruck ›Benennung‹ bzw. deno-
schäftigenden Schellingschen Analogiebegriff, weiter minatio a potiori signalisiert, dass die Analogie des
zurück auf den kantischen, wie er in der Analogie der Willens als philosophische Analogie lediglich ein re-
Erfahrung behandelt wurde: Nach Kant liefert die gulatives Prinzip ist, das uns ein einheitliches, dezen-
philosophische Analogie anders als die mathemati- tralisiertes Bild der Welt als Vorstellung ermöglichen
sche lediglich ein regulatives Prinzip: »Eine Analogie soll. Schopenhauers Analogie des Willens steht als
der Erfahrung wird also nur eine Regel sein, nach Terminus mit den folgenden Sätzen fest:
welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung
[...] entspringen soll, und als Grundsatz von den Ge- »Nur aus der Vergleichung mit dem was in mir vorgeht,
genständen (der Erscheinungen) nicht konstitutiv, wenn ich eine Aktion ausübe, und wie diese auf ein
sondern bloß regulativ gelten« (KrV, B 222 f.). Motiv erfolgt, kann ich nach der Analogie verstehn,
Schopenhauer äußerte sich nicht direkt zu der Fra- wie jene todten Körper sich auf Ursachen verändern,
ge, ob sein Verständnis des Analogiebegriffs sich nach und was ihr innres Wesen sei, von dessen Erscheinung
dem kantischen richte. Dennoch sprechen mehrere nichts als die bloße Zeitfolge aus den äußern Ursachen
Umstände dafür: In der Phase, in der der Gedanke der erklärlich ist. Dies kann ich darum, weil ich selbst, weil
Analogie des Willens allmählich seine Gestalt ge- mein Leib, das einzige ist, davon ich auch die 2te Seite
wann, ist von der subsumierenden Urteilskraft die Re- erkenne, welche ich Wille nenne a potiori« (HN I, 390;
de (vgl. HN I, 299). Nach der Abfassung seines Haupt- vgl. auch W I, 132).
werks hielt Schopenhauer noch fest: »Diese [Analogie;
Y. K.] ist das Werk der subsumirenden Urtheilskraft« Diesem Gedanken der philosophischen Analogie des
(VN I, 529 (De)). Trotz der Nuancenunterschiede im Willens ist zu entnehmen, dass der junge Schopen-
Verständnis von ›Materie‹ und ›Substanz‹ bei Scho- hauer zumindest bis zu seinem Hauptwerk an seiner
penhauer und Kant verstärkt die auffällige Verwandt- abgewandelten Duplizität des Bewusstseins festhielt
10  Spätwerk und Nachgelassenes 159

und den Willen primär im strengen Sinn des transzen- Literatur


dentalen Idealismus und nicht substanzmetaphysisch d’Alfonso, Matteo Vincenzo: Schopenhauers Kollegnach-
als den weltschaffenden Willen verstand. schriften der Metaphysik- und Psychologievorlesungen von
G. E. Schulze (Göttingen 1810–1811). Würzburg 2008.
Der aus seiner früheren Dresdner Zeit stammende App, Urs: Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philoso-
Satz: »Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille, der phie. Rorschach 2011.
nicht weiß was er will« (HN I, 169), wird oft als der ers- Bohinc, Tomas: Die Entfesselung des Intellekts. Eine Unter-
te Beleg für »die Alleinherrschaft des einen weltschaf- suchung über die Möglichkeit der An-sich-Erkenntnis in der
fenden Willens« angeführt (Hübscher 1973, 137). Al- Philosophie Arthur Schopenhauers unter besonderer
Berücksichtigung des Nachlasses und entwicklungs-
lerdings muss gefragt werden, was hier »an sich« meint
geschichtlicher Aspekte. Frankfurt a. M. 1989.
und welche Stellung der Ausdruck »die Alleinherr- De Cian, Nicoletta: Redenzione, Colpa, Salvezza. All’origine
schaft des einen weltschaffenden Willens« in der Scho- della filosofia di Schopenhauer. Trient 2002.
penhauerschen Philosophie einnimmt (vgl. Kamata Estermann, Alfred: Die Autographen des Schopenhauer-
1989). Denn aus den bisherigen Überlegungen geht Archivs. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988.
hervor, dass eine solche substanzmetaphysisch er- Fichte, Johann Gottlieb: Recension des Aenesidemus [1792].
In: Ders.: Werke. Bd. I. Hg. von Immanuel Hermann
scheinende Formulierung nicht wortwörtlich, son-
Fichte. Berlin 1971, 1–25.
dern vielmehr als ein Analogon verstanden werden Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer Kritik aller Offen-
kann. In dieser Phase der Dresdner Zeit 1 wird die barung [1792]. In: Ders.: Werke. Bd. V. Hg. von Immanuel
Thematik ›Wille‹ in den folgenden Problemkreisen be- Hermann Fichte. Berlin 1971, 9–174.
handelt: (1) Lebenwollen als Quelle des Leidens und Fichte, Johann Gottlieb: Ueber den Begriff der Wissen-
die Überleitung zur Verneinung des Willens sowohl schaftslehre [1794]. In: Ders.: Werke. Bd. I. Hg. von Imma-
nuel Hermann Fichte. Berlin 1971, 27–81.
auf der Ebene des empirischen Willens in der Natur als Fichte, Johann Gottlieb: System der Sittenlehre [1798]. In:
auch der Ebene des transzendentalen Willens (vgl. u. a. Ders.: Werke. Bd. IV. Hg. von Immanuel Hermann Fichte.
HN I, § 143, § 146, § 148, § 158, § 213, § 218, § 220, Berlin 1971, 1–365.
§ 242, § 246, § 256, § 257, § 260, § 263, § 265, § 266, Grigenti, Fabio: Natura e rappresentazione. Genesi e struttura
§ 268, § 273, § 274, § 276, § 293, § 294, § 296), ohne al- della natura in Arthur Schopenhauer. Neapel 2000.
Hübscher, Arthur: Vom Pietismus zur Mystik. In: Schopen-
lerdings die Beziehung der beiden Ebenen philoso-
hauer-Jahrbuch 50 (1969), 1–32.
phisch darlegen zu können und (2) Leib als Sichtbar- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Bonn 1973.
keit/Objektität – nicht zu verwechseln mit der emana- Hübscher, Arthur: Schopenhauer-Bibliographie. Stuttgart-
tionstheoretisch klingenden Erscheinung/Objektivati- Bad Cannstatt 1981.
on – des transzendentalen Willens (vgl. u. a. HN I, Kamata, Yasuo: Der junge Schopenhauer. Genese des Grundge­
§ 159, § 191, § 206, § 207, § 210, § 260, § 279, § 280, dankens der Welt als Wille und Vorstellung. München 1988.
Kamata, Yasuo: Platonische Idee und die anschauliche Welt
§ 282, § 286, § 287, § 288, § 290, § 291, § 292, § 295). bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1989),
Neben den beiden Problemkreisen gibt es einige Stel- 84–93.
len, an denen der empirische Wille in der Natur aus- Kamata, Yasuo: Die Kant-Rezeption des jungen Schopen-
führlich (vgl. HN I, 143–146), auch in Bezug auf die hauer in Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zurei-
psychologischen Themen (vgl. u. a. HN I, § 299, § 302, chenden Grunde. In: Dieter Birnbacher (Hg.): Schopen-
hauers Wissenschaftstheorie: Der »Satz vom Grund«.
§ 305) dargelegt wird. Es findet sich aber hier keine
Würzburg 2015, 45–58.
eindeutig metaphysische Darlegung, sondern es gibt Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft [1788].
höchstens Andeutungen, dass der Wille auch als Prin- Darmstadt 1929 [KpV, Seitenangabe nach der Original-
zip der Weltdarstellung funktionieren könnte, z. B. mit ausgabe von 1797].
der Formulierung »Erscheinung eines Willens« oder Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781, 21787].
»Objektivirungen des Willens« (HN I, 144 f.). So ist Hamburg 1930 [KrV, Seitenangabe nach der Ausgabe B
von 21787].
denn auch verständlich, warum Schopenhauer in die-
Novembre, Alessandro: Il giovane Schopenhauer. L’origine
ser zweiten Phase der Dresdner Zeit sich mit dem Pro- della metafisica della volontà. Milano/Udine 2018 (im
blem der Analogie beschäftigen musste. Erst mit dem Erscheinen).
Gedanken der Analogie des Willens konnte er diesen Reinhold, Karl Leonhard: Versuch einer neuen Theorie des
in seine Naturphilosophie aufnehmen, wobei aller- menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789.
dings für die zukünftige Forschung die Frage offen Reinhold, Karl Leonhard: Neue Darstellung der Haupt-
momente der Elementarphilosophie. In: Ders.: Beyträge
bleibt, inwieweit der junge Schopenhauer in dieser em- zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philoso-
pirischen Weltbeschreibung den Willen substanzme- phen. Jena 1790, 165–254.
taphysisch verstand.
160 II Werk

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Briefe


über Dogmatismus und Kriticismus [1795]. In: Ders.: F. W. Logik
J. Schelling’s Philosophische Schriften I. Landshut 1809, Ebenso wie Kant (KrV, B VIII) erklärt Schopenhauer
115–200.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philoso- die Logik für eine »abgeschlossene, für sich bestehen-
phie der Natur [1797]. In: SW II, 11–73. de, in sich vollendete, abgerundete und vollkommen
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Von der Weltseele sichere Disciplin« (W 1, 68) und verweist darauf, dass
[1798]. In: SW II, 345–583. sie in »mehreren Lehrbüchern ziemlich gut aus-
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämtliche Werke. Stutt- geführt« sei (s. auch Kap. 6.3); daher sei es nicht not-
gart/Augsburg 1856–1861 [SW].
wendig, die gesamte Begriffs-, Urteils- und Schluss-
Schöndorf, Harald: Der Leib im Denken Schopenhauers und
Fichtes. München 1982. logik dem »Gedächtniß [sc. des Lesers der WWV] auf-
Schopenhauer, Arthur: Senilia. Gedanken im Alter. Hg. von zuladen« (W 1, 65 f.). Zudem verstehe jeder Mensch
Franco Volpi und Ernst Ziegler. München 2010. naturgemäß die Logik, weshalb sie als spezielle Dis-
Schopenhauer, Arthur: Spicilegia. Philosophische Notizen aus ziplin nur an Universitäten gelehrt werden müsse (vgl.
dem Nachlass. Hg. von Ernst Ziegler. München 2015. W 1, 65 f., 68). Schopenhauer hat diese Auffassung
Schopenhauer, Arthur: Pandectae. Philosophische Notizen
aus dem Nachlass. Hg. von Ernst Ziegler. München 2016.
ernstgenommen, insofern er seine Logik insbesondere
Schopenhauer, Arthur: Cogitata. Philosophische Notizen aus für seine Universitätsvorlesungen in Berlin weiter aus-
dem Nachlass. Hg. von Ernst Ziegler. Würzburg 2017. gearbeitet hat.
Schopenhauer, Arthur: Cholerabuch. Philosophische Notizen Es finden sich vier nennenswerte Ansätze zur Logik
aus dem Nachlass. Hg. von Ernst Ziegler. Würzburg 2017. in Schopenhauers Werken: (1) Eine Logik findet sich
Schopenhauer im Kontext III. CD-ROM/Download. Berlin
in den Kapiteln zum Erkenntnisgrund in Ueber die
2008, http://www.infosoftware.de/ (1.6.2014).
Schubert, Gotthilf Heinrich von: Nachtseite der Naturwis- vierfache Wurzel (erstmals 1813), (2) eine Logik in § 9
senschaft. Dresden 1808. der WWV I (erstmals 1819), (3) eine Logik in Kap. 3
Schulze, Gottlob Ernst: Aenesidemus oder über die Fun- des ersten Teils seiner Vorlesungen aus den 1820er Jah-
damente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena geliefer- ren (VN I, 259–385 (De)) und (4) eine Logik in den
ten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung der Ergänzungen zur zweiten Hälfte des ersten Buchs in
Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik.
Anonym und o. O. 1792.
WWV I, bes. Kap. 9 und 10 (erstmals 1844). Diese vier
Segala, Marco: The path to redemption between better con- Logiken sind bislang im Einzelnen kaum intensiv und
sciousness and metaphysics of will. In: Schopenhauer-Jahr- noch nie im Zusammenhang erforscht worden.
buch 98 (2017), 71–98. Schon eine oberflächliche Lektüre zeigt aber, dass
Schopenhauer vier unterschiedliche Logiken ent-
Yasuo Kamata
wickelt hat, die dann widersprüchlich erscheinen,
wenn man versucht, sie als eine kongruente Logik zu in-
terpretieren: (1) 1813 hat Schopenhauer eine rein quali-
10.2 Logik und »Eristische Dialektik« tative Reflexion über die Bestandteile der Logik (Be-
griff, Urteil, Schluss) vorgelegt; (2) 1819 hat er das Pro-
Bereits in der ersten Auflage der Welt als Wille und Vor- gramm einer geometrischen Begriffslogik mit Euler-
stellung (= WWV) hatte Schopenhauer die Logik (W 1, schen Kreisdiagrammen entworfen; (3) in den 1820er
67–70) zusammen mit der Dialektik bzw. »Ueber- Jahren hat Schopenhauer dieses Programm auf fast 200
redungskunst« (ebd., 70–74) als Teilbereich der Spra- Seiten umfangreich ausgearbeitet und (4) 1844 hat er
che (WWV, § 9) skizziert, die wiederum in dem Ver- seinen ursprünglichen Programmentwurf von 1819
nunftteil (ebd., 51–136) innerhalb der Vorstellungsleh- mit einigen Auszügen zur Urteils- und Schlusslogik er-
re (ebd., 1–136 = 1. Buch) enthalten ist. Im System der gänzt, aber gleichzeitig ein neues Programm einer dia-
WWV gehören Logik und Eristik somit zusammen, grammatischen Aussagenlogik skizziert, die mit Stäben
nämlich als zwei Teilbereiche der Sprache; im Gesamt- und Haken dargestellt werden sollte. Bereits aufgrund
werk sind sie aber nicht immer gemeinsam ausgearbei- des quantitativ sehr unterschiedlichen Umfangs kann
tet worden. Im Folgenden wird zunächst die Logik und man sich der scholastischen Unterscheidung bedienen
dann die Eristische Dialektik vorgestellt. und bei (3) von einer ›großen Logik‹ sprechen und (1),
(2) und (4) als ›kleine Logik‹ oder ›kleine Logiken‹ be-
zeichnen (vgl. Seifert 1978, bes. 14 ff.).
Die Logikreflexionen und -programme (1), (2) und
(4) sind bislang vor allem von Kewe (1907) und ferner
10  Spätwerk und Nachgelassenes 161

von Fischer (1908) untersucht worden. Die folgende Wahrheitsbegriffe ein: logische, empirische, metaphy-
Darstellung konzentriert sich allein auf (3) die Logik sische, metalogische Wahrheit (ebd., 264–26).
der Berliner Vorlesungen, die als einzige Logik Scho- Diese Denkgesetze betreffen die Verhältnisse im
penhauers den Anspruch erheben kann, umfangreich Urteil, aber auch die Verhältnisse zwischen mehreren
ausgearbeitet worden zu sein. Dabei darf allerdings Urteilen. Damit ist zum einen die Frage nach der Iden-
nicht vergessen werden, dass Schopenhauer in späte- tität oder dem Unterschied von Subjekt und Prädikat
ren Jahren, d. h. in den späten Auflagen von (1) und gemeint, also – hier knüpft Schopenhauer an den An-
(2) sowie in (4), nicht auf diese Ausarbeitung zurück- fang von Cap. 2 der Berliner Vorlesungen an (ebd.,
greift und sogar in (4) das oben genannte neue Pro- 122 ff.) – die Bestimmung von analytischen oder syn-
gramm skizziert (›Stäbe und Haken‹), das er aber, dem thetischen Urteilen (ebd., 268 f.). Zum anderen betref-
jetzigen Forschungsstand zufolge, nie ausgearbeitet fen die möglichen Eigenschaften dieser Verhältnisse
hat. Im Folgenden wird zuerst der Inhalt der großen auch die Quantität, Qualität, Relation oder Modalität
Logik dargestellt, dann werden einige Besonderheiten der Urteile, die Schopenhauer mit Hilfe von Euler-
herausgegriffen, die bereits ansatzweise in einzelnen Diagrammen an sechs Verhältnisformen von Urteilen
Forschungsarbeiten vorgestellt wurden; zuletzt wird skizziert (ebd., 270–282). Durch die Untersuchung
Schopenhauers geometrische Methode anhand von der grundlegenden Euler-Diagramme kommt er zu
Beispielen skizziert. Vergleiche zu den kleinen Logi- den Ergebnissen, dass sich mit einer Kreuzklassifikati-
ken (1), (2) und (4) werden im Folgenden ausgespart. on von Quantität und Qualität die wesentlichen Ver-
hältnisformen des Urteils bestimmen lassen; die Rela-
tion sei hingegen nur ein äußerer Zusatz, der der prä-
Inhalt der großen Logik (VN I, 259–385 (De))
ziseren Unterscheidung von Urteilsformen diene und
Die große Logik lässt sich grob in vier Teile einteilen: die Modalität sei eine nicht vom Urteil, sondern vom
(A) Begriffs-, (B) Urteils-, (C) Schluss- und (D) Meta- Urteilenden abhängige Form (ebd., 282 ff.).
logik. Im vorliegenden Kapitel werden jeweils die zen- Schopenhauer leitet im folgenden Kapitel aus der
tralen Themen und Thesen vorgestellt. Kreuzklassifikation von Quantität und Qualität vier
grundlegende Urteilsformen ab: 1) allgemein bejahen-
A) Begriffslogik: Die Begriffslogik beginnt mit einer Se- de Sätze, 2) allgemein verneinende Sätze, 3) partikulär
mantik (VN I, 243–246 (De)) sowie einer skizzenhaf- bejahende Sätze, 4) partikulär verneinende Sätze (ebd.,
ten Semiotik (ebd., 247 ff.). Schopenhauer unterteilt 284 ff.). Diese werden wiederum, ähnlich wie bei Euler
Begriffe hierarchisch in Abstrakta und Konkreta sowie (1773, 87–92), mit Kreisdiagrammen illustriert und
in einfache und zusammengesetzte Begriffe (ebd., mit den scholastischen Konversionsregeln gegenseitig
252 ff.). Alle Begriffe wurden während der Sprachent- abgeleitet (ebd., 289–293).
wicklung aus der Anschauung abstrahiert. Schopen-
hauer führt die Theorie der Abstraktion und der Be- C) Schlusslogik: Die Schlusslogik besteht aus der Un-
griffsunterscheidung auf die empiristische Tradition tersuchung von Schlüssen, (I) die mit drei Begriffen
zurück, obwohl er bereits selbst auf wesentliche Unter- (ebd., 293–331), (II) die mit mehr als drei Begriffen
schiede zu bspw. Locke hinweist; stärker kritisiert er al- (ebd., 331–333) und (III) die mit Urteilen gebildet wer-
lerdings die rationalistische Redeweise von ›klaren‹ den (ebd., 333–356). (I) behandelt die Syllogistik, (II)
Begriffen (ebd., 253 ff.). Im Anschluss daran führt die Sorites, (III) die Aussagenlogik. (I) Schopenhauers
Schopenhauer die Ausdrücke der Subsumtion (ebd., Hauptthese in der Syllogistik lautet schlicht: Es gibt
255 f.) und der Extension (ebd., 257 f.) ein, und erklärt nur drei syllogistische Figuren. Diese These teilt er in
diese mit Euler-Diagrammen. drei Teilargumente: 1. Kants Reduktion aller vier syllo-
gistischen Figuren auf die erste Figur sei zwar über
B) Urteilslogik: Nach einer einleitenden Definition des »Umwege« möglich (ebd., 302 ff., 318 ff.), aber diese
›Urteilens‹ behandelt Schopenhauer das Verhältnis Zurückführung untergrabe die Funktion des terminus
von Subjekt, Prädikat und Copula im Urteil (ebd., medius. 2. Galens Erweiterung der aristotelischen Syl-
260 f.). Mit der anschließenden Bestimmung der zen- logistik um eine vierte Figur sei ebenfalls unnütz, weil
tralen Denkgesetze (ebd., 262–264), nämlich des Sat- die vierte Figur nur eine besondere Funktion der ers-
zes der Identität, des Satzes vom Widerspruch, des ten Figur darstelle (ebd., 305, 357). 3. Dass es nur drei
Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und des Satzes syllogistische Figuren gebe, lässt sich mittels der aris-
vom zureichenden Grund, führt Schopenhauer vier totelischen Regellehre aus den Analytica Priora (ebd.,
162 II Werk

324 f.) und ferner mittels der bekannten scholastischen zen Abriss zur Geschichte unter besonderer Berück-
Mnemotechnik (ebd., 287, 303–306) belegen, aber die sichtigung ihrer jeweiligen Zusätze (ebd., 356 ff.) und
Richtigkeit dieser These zeige sich vor allem mit Hilfe beinhaltet die Unterscheidung in Logik (Analytik) und
von Euler-Diagrammen (ebd., 272, 357). Dialektik (Topik) (ebd., 358 f.) sowie den Wert der Lo-
Die Hauptthese verdeutlicht Schopenhauer aber gik (ebd., 359 ff.). Als letzten Teil dieses Abschnitts
nicht nur mit der scholastischen Mnemotechnik, der über Sprache und Logik kann man noch Schopenhau-
aristotelischen Regellehre und vor allem mit Euler- ers Ausführungen über die Überredung ansehen, die
Diagrammen, sondern auch mit Metaphern, die mit einige Sophismen wieder aufgreifen und diese durch
den Diagrammen korrespondieren: In der ersten und Euler-Diagramme erläutern (ebd., 363–366; zu den
vierten Figur habe der medius die Funktion der »Ent- Euler-Diagrammen in der Eristik vgl. Lemanski/Mok-
scheidung« (ebd., 302 ff., 318 ff., 323, 326), in der zwei- tefi 2018).
ten die Funktion der »Unterscheidung« (ebd., 302,
316, 326, 329) und in der dritten die Funktion der
Besonderheiten der großen Logik
»Ausscheidung« (ebd., 316 ff., 327). Das Unterschei-
dungskriterium der drei Figuren sei somit weniger die Hatten die bisherigen Herausgeber der Berliner Vor-
gewohnte Subjekt- oder Prädikatstellung von major, lesungen erklärt, dass diese eine »für Anfänger umge-
minor und medius im Urteil (ebd., 324, 327 f.) oder die arbeitete« oder »didaktische Fassung« des ersten Ban-
damit verbundenen Regeln (ebd., 324–327), als viel- des der WWV seien (vgl. Mockrauer in ebd., VII;
mehr die metaphorisch ausgedrückte Funktionsweise Spierling 1986, 11), so kann dies wohl kaum für die Lo-
des medius, die sich im »Schemata der Sphären«, d. h. gik gelten. Generell ist diese Einschätzung fragwürdig.
mit Hilfe von Euler-Diagrammen zeige: In der ersten Derartige Bewertungen erklären aber, warum Scho-
Figur ist der medius die mittlere, in der zweiten die penhauers Logiken nur sehr selten wahrgenommen
weiteste und in der dritten Figur die engste Sphäre der und warum besonders die Berliner Vorlesungen kaum
drei dargestellten Begriffen. erforscht wurden. Es mag zwar sein, dass Schopenhau-
In (II) erklärt Schopenhauer ebenfalls anhand ei- er sein Programm aus den kleinen Logiken verwendet
nes Euler-Diagramms Pro- und Episyllogismen, wo- hat, um die große um- und auszuarbeiten; aber das
bei jene mit Senecaschem und diese mit Golcenia- heißt nicht, dass sie zwingend auch einen für Anfänger
nischem Sorites korrespondieren. geeigneten Schwierigkeitsgrad besessen hätten. Im
Während (I) und (II) natürliche Schlüsse aus der Gegenteil, man kann sogar dafür argumentieren, dass
Begriffslogik hergeleitet haben und die Begriffe nach Schopenhauer in den Berliner Vorlesungen einen der
der Quantität und Qualität beurteilt wurden, behan- schwierigsten Logiktexte in der ersten Hälfte des
delt Abschnitt (III) eine auf der Urteilslogik von (I) 19. Jahrhunderts konzipiert hat, der sich angesichts
und (II) aufbauende Schlusslogik. Hier werden zu- seiner Komplexität durchaus mit den Logiken von
nächst komplexe Schlüsse mit relationalen Junktoren Kant, Christian Krause, Bernard Bolzano und Moritz
erklärt (ebd., 333–339) und kurz die Regeln für die Wilhelm Drobisch messen kann. Diese Komplexität
Modallogik abgehandelt (ebd., 339 f.). rührt größtenteils von der Verbindung einzelner Logi-
ken oder logischer Ansätze her (aristotelische Regello-
D) Metalogik: Der metalogische Teil findet sich in der gik, scholastische Mnemotechnik, kantische Kategori-
Einleitung und im Schlussteil der großen Logik. In der enaufteilung, Eulersche Diagrammatik usw.), die
Einleitung erklärt Schopenhauer vor allem, dass aus Schopenhauer zudem unterschiedlich bewertet und in
anthropologischer Sicht Sprache und Logik eine deren Rezeption er eigene Ideen miteinfließen lässt.
»Hauptäußerung der Vernunft« neben Wissen(schaft) Ich möchte im Folgenden beispielhaft auf drei
und praktischer Vernunft darstellen (ebd., 234–242). Neuheiten bzw. Eigenarten eingehen, die herausstel-
Der metalogische Schlussteil besteht aus mehreren len, dass Schopenhauers Berliner Vorlesungen eine
Teilen: Vor der eigentlichen Metalogik im Schlussteil zu Unrecht vergessene Logik beinhalten. Ausgewählt
handelt Schopenhauer noch von unterschiedlichen lo- wurde dafür jeweils ein Thema aus der (A) Begriffs-,
gischen Themen wie dem sprachlichen Ausdruck von (B) Urteils- und (C) Schlusslehre, nämlich (A) die ge-
Junktoren (ebd., 340), Enthymemen (ebd., 344–356), brauchstheoretische Semantik, (B) die Diagrammatik
Paralogismen und sehr ausführlich von Sophismen analytischer Urteile und (C) die syllogistische Be-
(ebd., 344–356). Das, was Schopenhauer selbst als weistheorie. Die Gemeinsamkeit aller drei Beispiele
›Metalogik‹ bezeichnet, beinhaltet zunächst einen kur- ist, dass sie sich mehr oder minder stark der geo-
10  Spätwerk und Nachgelassenes 163

metrischen Logik Eulers bedienen und diese fortfüh-


ren. Diese Beispiele dürfen aber nicht vergessen las-
sen, dass Schopenhauers Logik noch viele weitere Be-
sonderheiten aufweist, wie bspw. die Rückkehr zur
aristotelischen Regellogik, die Kritik der scholasti- grün
blüthe-
schen Mnemotechnik, die metaphorische und dia- tragend
grammatische Unterscheidung der drei syllogisti-
schen Figuren usw.

Geometrische Logik Baum

A) Gebrauchstheoretische Semantik: In welchem Ver-


hältnis die einzelnen Themen der Schopenhauerschen
Semantik zueinander stehen, ist in der Forschung bis-
lang nicht ausreichend diskutiert worden (vgl. Dümig
2016). Hervorzuheben ist aber, dass Schopenhauer auf Abb.  10.2 
der einen Seite beim Spracherlernen eine Gebrauchs-
theorie der Bedeutung aufgrund eines Kontextualis- gen entnommen worden sein (›grün‹, ›blüthetra-
mus vertritt; auf der anderen Seite vertritt er aber auch gend‹), die miteinander Teilmengen gebildet haben,
eine semantische Abstraktionstheorie bei der Sprach- aber in der konkreten Anschauung eine gemeinsame
entstehung. Obwohl die beiden semantischen Theo- Schnittmenge aufgewiesen haben (s. Abb. 10.2). Der
rien als unvereinbar gelten (vgl. Geach 1957), gelingt Schnittmenge ist dann ein Wort zugeordnet worden.
es Schopenhauer, beide Ansätze zu harmonisieren: In beiden Fällen ist die Metapher des Begriffs tref-
Die Gebrauchstheorie wird zum Verständnis von in- fend: »jeder Begriff [...] hat was man eine Sphäre, ei-
dividuellen Spracherlernungsprozessen herangezo- nen Umfang nennt: d. h. es können durch ihn mehrere
gen; die Abstraktionstheorie erklärt den kollektiven andre, bestimmte Begriffe, oder wenigstens viele reale
Prozess der Sprachentstehung. Beide Theorien wer- Objekte gedacht werden: die daher innerhalb seines
den anhand von Euler-Diagrammen demonstriert. Umfangs liegen: er begreift mehrere Dinge« (VN I,
Die Abstraktionstheorie erklärt die Begriffsentste- 257 (De)).
hung an zwei Beispielen: Im Laufe der Sprach- Die Gebrauchstheorie dient dem Verständnis, was
geschichte könnten aus dem schon gebildeten Begriff es heißt, einen Begriff oder eine Sprache zu erlernen.
(bspw. Vogel) alle Bestimmungen und Unterschiede Schopenhauer konkretisiert das am Problem der
bis auf einen (bspw. Tier) abstrahiert worden sein, so Übersetzung: Einerseits ist es möglich, dass wir einen
dass nur noch eine wesentliche Bestimmung übrig Begriff haben, aber kein passendes Wort dafür finden,
blieb (s. Abb. 10.1). so dass wir auf Fremdwörter zurückgreifen. Anderer-
Alternativ könnten aber auch aus einer konkreten seits ist es möglich, dass wir ein Wort einer Ausgangs-
Anschauung (bspw. ein Baum) mehrere Bestimmun- sprache haben, dessen Begriff in der Zielsprache aber

Thier

Vogel

Abb.  10.1  Abb.  10.3 


164 II Werk

nommen, den Ausdruck des Enthaltenseins von sei-


ner uneigentlichen Metaphorik zu befreien und ihn
in strenge logische Begriffe zu übersetzen; vielmehr
hat man versucht, den Ausdruck des Enthaltenseins
als verbale Umschreibung gewisser anschaulicher

honestum Diagramme der geometrischen Logik zu verstehen


(vgl. Lu-Adler 2012). Neben Kants (1900 ff., Bd. XVI,
Nr. 3216) eigenen Diagrammen haben anscheinend
nur Schopenhauer und Drobisch (1836, 36 ff.) eine
Visualisierung analytischer Urteile bis in die 1840er
Jahre vorgenommen.
Schopenhauer zeichnet sich dadurch aus, dass er
auch bei analytischen Urteilen eine gewisse ontologi-
Abb.  10.4  sche Relativität aufgrund eines epistemischen Kon-
textualismus im Blick hat: Manche Urteile sind für
nur durch mehrere Wörter abgedeckt werden kann. den einen analytisch, für den anderen synthetisch.
Die Wörter »Frappant, auffallend, speciosum« decken Oder, in Schopenhauers Worten: »Vieles dabei [sc. bei
sich bspw. durch folgende Begriffssphären (Abb. 10.3). der Bestimmung analytischer Urteile] ist offenbar
Das lateinische Wort ›honestum‹ trifft die deut- subjektiv-relativ weil es darauf ankommt wie viel[e]
schen Wörter »Ehrenvoll, anständig, ehrbar, gezie- Prädikat[e] dem Hörer vom Subjektbegriff schon be-
mend, rühmlich [...] nicht koncentrisch, sondern« wie kannt sind und was er demgemäß beim Subjekt
in Abb. 10.4. denkt.« (VN I, 124 (De))
Da es eine fakultative Äquivalenz bei Übersetzun- Diese ontologische Relativität zeigt sich bspw. bei
gen gibt und man daher die die semantischen Be- klassisch strittigen Urteilen wie »Alles Gold ist gelb«,
standteile einer Sprache nicht rein lexikalisch erlernen das für die einen analytisch, für die anderen synthe-
kann, kommt Schopenhauer zu dem Schluss: tisch ist (vgl. Rott 2004). Akzeptiert man aber bspw.,
dass das Urteil »Alles Gold ist gelb« analytisch ist, so
»Darum lernt man nicht den wahren Werth der Wör- bedeutet der Ausdruck des Enthaltenseins in der De-
ter einer fremden Sprache durch das Lexikon, sondern finition analytischer Urteile, dass der Begriffsumfang
erst ex usu [aus dem Gebrauch], durch Lesen bei Al- von ›Gold‹ vollständig im Begriffsumfang von ›Gelb‹
ten Sprachen und durch Sprechen, Aufenthalt im Lan- enthalten ist (vgl. ebd., 270). Und dieser Ausdruck des
de, bei neuen Sprachen: nämlich erst aus dem ver- Enthaltenseins von ›Gold‹ in ›Gelb‹ ist nichts anderes,
schiednen Zusammenhang[,] in dem man das Wort als die verbale Beschreibung des analog anschaulichen
findet[,] abstrahirt man sich dessen wahre Bedeu- Euler-Diagramms (Abb. 10.5).
tung, findet den Begriff aus, den das Wort bezeich- Schopenhauer scheint somit kein Problem mit
net« (ebd., 246). dem in der modernen Sprachphilosophie problema-
tisch gewordenen Ausdruck des Enthaltenseins zu ha-
Lemanski (2016) hat dieses Zitat so interpretiert, dass
die Gebrauchstheorie der Bedeutung, die man im ers-
ten Satz des Zitats findet, durch ein Kontextprinzip ge-
stützt wird, das im zweiten Satz expliziert wird; beide
zusammen weisen eine Ähnlichkeit mit Wittgensteins Gelb.
Spätphilosophie auf.
Gold.
B) Analytische Urteile: Eine weitere Besonderheit in
Schopenhauers Logik ist die Darstellung analytischer
Urteile mit Euler-Diagrammen. Spätestens seit Qui-
nes (1961, 20 f.) Angriff auf die Metapher des Enthal-
tenseins in Kants Definition analytischer Urteile gel-
ten diese als problematisch. Erst in den 2010er Jahren
hat man in der Kantforschung davon Abstand ge- Abb.  10.5 
10  Spätwerk und Nachgelassenes 165

ben, da er ihn nicht als uneigentliche Metapher, son- on auch mit dem Euler-Diagramm übereinstimmt
dern als genaue Beschreibung von Euler-Diagram- oder nicht. Lässt sich auch die Konklusion an allen
men ansieht. Diagrammen ablesen, ist der Schluss gültig; lässt sie
sich nicht ablesen, ist sie ungültig. Als Beispiel kann
C) Syllogistische Beweistheorie: Euler-Diagramme sind man in Abb. 10.6 folgenden Schluss (Disamis) sehen:
in der Geschichte der geometrischen Logik häufig als Einige Rochen sind elektrisch. Alle Rochen sind Fi-
Hilfsmittel der Beweistheorie genutzt worden, um sche. Also sind einige Fische elektrisch (vgl. ebd., 314).
Schlüsse zu überprüfen oder aus gegebenen wahren Eine genaue Beschreibung dieses Beweisverfahrens
Prämissen gültige Schlüsse zu ziehen. Lemanski (2017) findet man bei Bernhard (2001, 45–53).
hat dafür argumentiert, dass Schopenhauer in der Ge-
schichte der geometrischen Logik der erste Autor war,
»Eristische Dialektik«
der Euler-Diagramme höher eingeschätzt hat als seine
Vorgänger. Schopenhauer erklärt, dass eine Logik, die »Eristische Dialektik« (= ED) ist der nachträglich in
auf Euler-Diagrammen aufgebaut ist, einen Beweis der Forschung etablierte Titel eines um 1830/31 ent-
»viel besser und viel leichter« leistet als die aristote- standenen Nachlassfragments Arthur Schopenhauers,
lische Regellogik (ebd., 272). Die Verbesserung sieht das auch unter dem Titel Die Kunst, Recht zu behalten
Schopenhauer vor allem in der Vermeidung eines Be- (Volpi 1995) bekannt ist. Das Werk bietet einen kur-
weisproblems, das spätestens seit Sextus Empiricus zen historisch-systematischen Teil zur Logik und Dia-
(PH II, 156 ff.) diskutiert wird und von John Stuart lektik sowie einen Teil mit »ungefähr vierzig« (P II, 37;
Mill (1858, 112–121) in die moderne philosophische vgl. Chichi 2002, 169, Anm. 29) argumentativen
Logik tradiert wurde (vgl. bspw. Haack 1982). Scho- Kunstgriffen, zum Teil mit praktischen Fallbeispielen.
penhauer drückt dieses traditionelle skeptisch-empi- Schopenhauer verwendet selbst den Ausdruck ›Eristi-
ristische Argument, das sich gegen eine Letztbegrün- sche Dialektik‹ und versteht darunter zunächst die
dung deduktiver Beweisverfahren richtet, wie folgt »Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürli-
aus: »Aristoteles gab für jede syllogistische Regel im- chen Rechthaberei« (HN III, 667). Der Begriff ›Eris-
mer einen Beweis, was eigentlich überflüssig, sogar der tik‹ stammt vom griechischen ἐρίζειν (erizein) und be-
Strenge nach unmöglich ist; denn der Beweis selbst ist deutet ›(wett)streiten, zanken‹ und wird in der grie-
ein Schluß und setzt folglich die Regeln voraus: man chischen Mythologie in der Göttin Eris personifiziert.
kann eigentlich diese Regeln nur deutlich machen« ›Dialektik‹ (gr. διαλεκτική, dialektiké) bedeutet so viel
(ebd., 272). wie ›Gespräch‹, ›Unterredung‹ und steht bei Schopen-
Wie in der Geometrie (s. Kap. 35) sieht Schopen- hauer für das »Mittheilen von Meinungen (historische
hauer auch in der Logik die Basis rationaler Argumen- Gespräche ausgeschlossen)« (ebd.). Damit verweist
tation in der Anschauung. Das Deutlichmachen, das der letztere Begriff auf die philosophische Disziplin,
Schopenhauer vorschlägt, erfolgt schließlich mittels da die Dialektik das dialogische Mittelstück zwischen
Euler-Diagrammen: Von einem Schluss werden zu- der monologischen Logik und der polylogischen Rhe-
nächst alle möglichen Begriffssphären der Prämissen torik bildet (vgl. Kewe 1907, 9) und somit auch das
eingezeichnet, dann wird überprüft, ob die Konklusi- verbindende Teilstück dieses zu erneuernden Trivi-
ums ausmachen sollte (vgl. W II, 9; P II, 27 (Lü); vgl.
auch Chichi 2002, 163). Als derartiges Verbindungs-
glied ersetzt die eristische Dialektik die Topik des aris-
totelischen Organons und entspricht damit ungefähr
dem, was heutzutage unter der Bezeichnung ›Argu-
elektrisch
Rochen mentationstheorie‹ an Universitäten gelehrt wird (vgl.
Wohlrapp 1995, 9–27). Der erste Begriff (›Eristik‹)
Major Medius
verweist hingegen auf das Ziel der Disziplin ›Dialek-
tik‹, nämlich der Sieg des Streitgesprächs und das
Fische
Rechthaben, welches nach Schopenhauer ein natürli-
Minor
ches Verlangen des Menschen sei.
Sowohl unter Philosophen als auch unter Juristen
beansprucht die ED noch heute Gültigkeit. So sagt
Abb.  10.6  beispielsweise der analytische Philosoph Nicholas Re-
166 II Werk

scher, das Werk »retains a substantial interest« (Re- 37 (Lü)). Es liegt nahe, dass Schopenhauer das große
scher 1977, 2), und auch der Zivilrechtler Gerhard Fragment zur Dialektik aus diesem Grund auch
Struck stellt die ED als »wichtigsten Text« (Struck zwischen den 1830er und 1850er Jahren nicht voll-
2005, 521) seines Fachbereichs dar, für dessen Theorie endet hat.
sich immer wieder aktuelle Fallbeispiele finden lassen. 2) Systematisch gesehen bietet das Nachlassfrag-
Im Folgenden soll die ED formal, d. h. in Hinblick ment ED somit eine vollständigere Fassung zu § 26 der
auf ihre Einordnung in das Schopenhauersche Ge- Paralipomena. § 26 ist innerhalb der Paralipomena
samtwerk, ihre Entstehungsgeschichte und ihre Be- wiederum ein Bestandteil des Kapitels II »Zur Logik
deutung sowie Interpretation, und dann inhaltlich und Dialektik« (§§ 22–26). Schopenhauer hat später
vorgestellt werden. explizit erklärt (vgl. W I, 27 (Lü)), dass die Paralipo-
mena, zusammen mit vielen anderen Werken, sein
Hauptwerk WWV und vor allem das darin dargelegte
Entstehungs-, Text- und Interpretations-
System ergänzen. Wenn die Paralipomena themati-
geschichte
sche Systemergänzungen beinhalten, und wenn § 9
Textgeschichtlich ist festzuhalten, dass Julius Frauen- der WWV (2. und 3. Aufl.) bzw. Schopenhauer 1819,
städt das Nachlassfragment erstmals unter dem Titel 67–74 (WWV, 1. Aufl.) eine verkürzte Darstellung
Dialektik (in: Arthur Schopenhauers handschriftlicher zum Thema ›Logik und Dialektik‹ anbieten, dann ist
Nachlaß, Leipzig 1864) veröffentlichte. Für die For- das Kapitel II der Paralipomena eine systemrelevante
schung gilt bislang die kritische Ausgabe von Arthur Ergänzung dieser Absätze von WWV I. Genauer ge-
Hübscher in HN III als verbindlich. Sowohl Franco sagt ist dann die ED (als vollständigere Fassung von
Volpi (1995) als auch Gerd Haffmans (1983) haben je- § 26 der Paralipomena) die vollständige Ausarbeitung
weils besser lesbare Textfassungen vorgelegt, wobei von WWV I, 85–89, bzw. Schopenhauer 1819, 70–74,
die letztgenannte Ausgabe leicht gekürzt ist. und somit nicht nur inhaltlich, sondern auch systema-
Obwohl das Werk häufig separat rezipiert wird und tisch gesehen von größter Relevanz für die Forschung
sich nur im handschriftlichen Nachlass des Philoso- (Ähnliches gilt auch für die von der Schopenhauer-
phen befindet, lässt es sich eindeutig in Schopenhau- wie Logikforschung sträflich vernachlässigten Logik-
ers System verorten und ist somit auch für das Ge- und Dialektikteile der VN I).
samtwerk von höchster Bedeutung. Diese Verortung Dass Schopenhauers systematischer Themenbei-
kann sowohl (1) historisch als auch (2) systematisch trag zur Logik und Dialektik nur aus dem Nachlass in-
begründet werden. terpretatorisch rekonstruiert werden kann, sich dort
1) Im Hinblick auf die Fertigstellung des unter dem aber ausführliche Abhandlungen zu beiden Themen-
Titel »Eristische Dialektik« maßgeblich edierten Frag- bereichen finden, lässt Rückschlüsse entweder auf
ments begründet der Herausgeber Arthur Hübscher Schopenhauers Zielgruppe seines Systems oder auf
seine Datierung auf die Jahre 1830/31 plausibel und die Regularien des Philosophischen Instituts zu Berlin
verweist zudem auf eine nicht nur inhaltliche, sondern im frühen 19. Jahrhundert zu. Da Schopenhauer aber
auch materiale und äußerliche Beziehung zu Schopen- die Dialektik unabhängig von seiner Vorlesungs-
hauers Berliner Vorlesungen (vgl. HN III, 700). Die pflicht ausgearbeitet hat, ist der erste Rückschluss na-
Plausibilität resultiert dabei vor allem aus dem ent- heliegend, dass er als Systemautor und Wissenschaft-
wicklungsgeschichtlichen Gesamteindruck, da die ler unterschiedliche inhaltliche Gewichtungen gesetzt
Eristische Dialektik als Fortsetzung der bereits in der hat: Dem Gedächtnis seines allgemeinen Publikums
WWV angedachten ›Ueberredungskunst‹ erscheint, wollte er keine weitläufigen Informationen aufladen,
die in den Berliner Vorlesungen weiter ausgearbeitet die er aber als akademischer Didaktiker für überaus
wurde und dann am Ende von Schopenhauers Berliner wichtig erachtete und sie deshalb seinen Studenten
Zeit ihre heutige Form in dem Nachlassfragment fand. möglichst umfassend darbieten wollte.
Überarbeitete Bruchstücke des Fragments sind
schließlich auch 1851 in § 26 des zweiten Bandes der
Inhalt der ED
Parerga und Paralipomena (P II) verwendet worden.
In diesem Paragraphen weist Schopenhauer auf das Die ED ist in 2 Teile unterteilt: Der erste Teil bietet (1)
größere Fragment hin, erklärt aber sogleich, dass ihn eine historische Auseinandersetzung über die Entste-
jetzt das Thema aufgrund der damit einhergehenden hung, Verbindung und Systematisierung von Logik
unredlichen Natur des Menschen anwidere (vgl. P II, und Dialektik, die Schopenhauer (2) systematisch
10  Spätwerk und Nachgelassenes 167

verwendet, um daraus seine eigene Dialektik zu ent- Zur Illustration des Unterschieds der beiden Vernunft-
werfen. Der zweite Teil liefert die eigentliche Dialek- disziplinen bedient sich Schopenhauer des folgenden
tik, die »ungefähr vierzig« (s. o.) argumentative Kunst- Bildes: In der Logik verhalten sich zwei Menschen wie
griffe mit jeweils praktischen Fallbeispielen vorstellt. »2 gleichgehende Uhren«, die vollkommen überein-
stimmen; die Dialektik wird dann benötigt, wenn diese
Teil 1: Da Schopenhauer das Fragment mehrfach um- Übereinstimmung nicht gegeben ist (ebd., 667).
geschrieben, ergänzt und vor allem nie druckreif aus- Der Grund dafür, dass Menschen in ihrer Meinung
gearbeitet hat, ist die genaue Einordnung sowohl der nicht übereinstimmen, resultiert aus der natürlichen
Eristik als auch der Dialektik nur sehr unsicher und Veranlagung des Menschen zum Rechthaben (ebd.),
kann daher vielleicht nur mittels einer historischen aber ferner auch zur »Geschwäzzigkeit«, »Unredlich-
Kontextualisierung geleistet werden (vgl. dazu Volpi keit« bzw. zum Reden ohne Nachdenken (ebd., 668 f.).
1995). Die Schwierigkeit zeigt sich schon darin, dass Gäbe es diese angeborene »Schlechtigkeit des mensch-
Schopenhauer ›Eristische Dialektik‹ mehrfach de- lichen Geschlechts« nicht, so wäre die Dialektik als ei-
finiert: Graciela M. Chichi (2002, 165) führt von an- genständige Disziplin überflüssig, da dann der inter-
geblich fünf Definitionen die 1., 2. und 5. Definition subjektive Dialog nur eine äußerliche Form des intra-
an: Die eristische Dialektik sei (1) das »Verfahren der subjektiven Monologs der reinen Vernunft und somit
dem Menschen natürlichen Rechthaberei«, (2) die Logik wäre. Der Hauptunterschied zwischen Logik
»Kunst zu disputiren, und zwar so zu disputiren, daß und Dialektik besteht also nicht primär in der kom-
man Recht behält, also per fas et nefas« (HN III, 667) munikativen Form oder in dem Gegenstand, sondern
und (5) die »geistige Fechtkunst zum Rechtbehalten im Umgang und der Zielsetzung mit denselben: Die
im Disputiren« (ebd., 676). Die dritte Definition, die Logik untersucht Argumente im Modus der Gültig-
Chichi nicht explizit anführt, kann mit Schopenhau- keit, die Dialektik operiert hingegen zum Zweck der
ers Behauptung identifiziert werden, dass die eristi- Funktionalität von Begriffen. (Im Sinne der heutigen
sche Dialektik sich »nicht auf die objektive Wahrheit« logischen ›Gültigkeit‹ verwendet Schopenhauer übri-
beziehe, »sondern auf den Schein derselben, unbe- gens manchmal ›Wahrheit‹.) Will man zur Verdeut-
kümmert um sie selbst, also auf das Recht behalten« lichung dieses Sachverhalts das Schopenhauersche
(ebd., 668, Anm.). Eine vierte Definition kann man in Uhr­enbeispiel noch einmal heranziehen, so könnte
der Behauptung sehen, die Dialektik sei »die Kunst man sagen, dass in der Logik an sich zwei Uhren nie-
Recht zu behalten« (ebd., 675). mals ungleich gehen können, in der Dialektik es aber
Das Fragment selbst wird eröffnet mit der These, das Ziel eines jeden ist, dass der andere die jeweils ei-
dass Logik und Dialektik »von den Alten« als Synony- gene Uhrzeit annehme.
me gebraucht worden seien. Als Belege führt Scho- Als Bestandteile der Vernunft stellen die Logik und
penhauer Platon, Aristoteles, Cicero und Quintilian die Dialektik zwei natürliche Vermögen dar. Allerdings
für die Antike sowie Petrus Ramus und Kant für das meint Schopenhauer, dass sich beide Disziplinen da-
Mittelalter und die Neuzeit an. In Abgrenzung zur durch unterscheiden, dass der Mensch von Natur aus
Tradition etabliert Schopenhauer nun seine eigene die logische Praxis auch ohne die Theorie beherrsche,
These: Der synonyme Gebrauch der Dialektik und Lo- während die Dialektik viel Übung verlange (vgl. ebd.,
gik sei »[s]cha­­de« (ebd., 666), da die Logik formal ge- 670). Daher sei die aristotelische Logik, mit der sich
sehen monologisch agiert, die Dialektik hingegen dia- Schopenhauer in einem Exkurs genauer beschäftigt
logisch. Die Logik steht für das ›einsame Denken‹ in (vgl. ebd., 670–675), auch nur eine Propädeutik der
seiner Auseinandersetzung mit dem »rein apriori, oh- Dialektik gewesen. Aufgrund der unterschiedlichen
ne empirische Beimischung bestimmbaren Gegen- Veranlagung der natürlichen Dialektik besitzt eine
stand«, womit die »Gesetze des Denkens, das Verfah- theoretische Lehre von der Dialektik – im Unterschied
ren der Vernunft (des λόγος)« gemeint sind. In dieser zur Logik – einen »praktischen Nutzen« (ebd., 670, fer-
Auseinandersetzung mit der reinen Vernunft stim- ner: 676). Wenn nun (ähnlich der kritischen Theorie
men alle Subjekte überein; die Logik ist somit intra- Adornos) die Vernunft ein neutrales Instrument sei
subjektiv. Die Dialektik ist hingegen intersubjektiv und sowohl zum Guten als auch zum Bösen verwendet
und ist somit nicht mehr rein, sondern empirisch, da werden könne, und wenn zudem jeder Mensch ein in-
sie sich mit der »Gemeinschaft zweier vernünftiger dividuell stark ausgeprägtes Vernunftvermögen in
Wesen« auseinandersetzt, die »eine Disputation, d. i. Form einer natürlichen Dialektik besitze, so sei es nütz-
ein geistiger Kampf« mit- bzw. gegeneinander führen. lich, eine wissenschaftliche Dialektik in Form von »all-
168 II Werk

gemeinen Stratagemata« aufzustellen, die vor dem un- Hinsichtlich der Wege unterscheidet Schopenhau-
lauteren Gebrauch der natürlichen Dialektik schützt: er zwischen (c) einer direkten und (d) einer indirek-
ten Methode: Die (c) direkte Methode setzt eine voll-
»Die wissenschaftliche Dialektik in unserm Sinne hat ständige syllogistische Argumentation des Gegners
demnach zur Hauptaufgabe, jene Kunstgriffe der Un- voraus. In diesem Fall wird entweder der Obersatz
redlichkeit im Disputiren aufzustellen und zu analysi- (nego maiorem) oder der Untersatz (nego minorem)
ren: damit man bei wirklichen Debatten sie gleich er- der Prämissen oder die daraus entspringende Konklu-
kenne und vernichte. Eben daher muß sie in ihrer Dar- sion (nego consequentiam) angegriffen. Die (d) indi-
stellung eingeständlich bloß das Rechthaben, nicht rekte Widerlegung setzt keine vollständige syllogisti-
die objektive Wahrheit, zum Endzweck nehmen« sche Schlussform des Gegners voraus, sondern der
(ebd., 676). Kontrahent ergänzt als sogenannte ›Apagoge‹ entwe-
der die Konklusion des Gegners und zeigt, dass diese
Eine eristische Dialektik im Schopenhauerschen Sin- einem Modi der Widerlegung entspricht, oder er er-
ne ist also keine ›Kunst, Recht zu haben‹, sondern ein gänzt und widerlegt somit als sogenannte ›Instanz‹ ei-
deskriptiver Katalog von Kunstgriffen zu rein präven- nen bereits aufgestellten Obersatz mit einem der
tiven Zwecken (vgl. auch Chichi 2002, 165, 170). Sie »durch direkte Nachweisung einzelner unter seiner
vermittelt somit genau genommen die Kunst, sich ge- Aussage begriffner Fälle« (ebd., 678).
gen diejenigen zu wehren, die mit unredlichen Mitteln Die ersten drei der präerotematischen Kunstgriffe,
Recht haben wollen. Ein derartiger Ansatz sei, so (1) die Erweiterung einer gegnerischen Behauptung,
Schopenhauer, ein »unbebautes Feld« und der zweite (2) die Homonymie, (3) der Versuch, relative Aussagen
Teil der Abhandlung daher nur ein »erster Versuch« absolut zu nehmen, besitzen nach Schopenhauer die
(ebd. 676 f.). Gemeinsamkeit, dass »der Gegner eigentlich von etwas
anderm redet als aufgestellt worden« (ebd., 681). Die
Teil 2: Auch der zweite Teil lässt sich in zwei Bereiche weiteren präerotematischen Kunstgriffe werden ange-
unterteilen: HN III, 677 f., stellt eine »Basis aller Dia- wandt, wenn die Gefahr eines Angriffs auf die Prämis-
lektik« auf und liefert damit »das Grundgerüst, das sen besteht: So werden bei Kunstgriff (4) die ›Prämis-
Skelett jeder Disputation«. Danach (ebd., 678–695) sen weitläufig eingestreut‹, bei (5) bedient man sich
folgen die 38 Kunstgriffe, die durch die Subsumierung Prämissen aus der ›Denkungsart des Gegners‹ und bei
der Kunstgriffe 7–18 unter die erotematische, d. h. so- (6) wird eine versteckte petitio principii angewandt.
kratische oder Fragen verwendende Methode (vgl. Unter die erotematischen Kunstgriffe fallen (7) das
Chichi 2002, 177) wieder in drei Teile unterteilt wer- viel auf einmal und weitläufige Fragen, (8) das Reizen
den können. Zum Zweck der geordneten Darstellung des Gegners, (9) das chaotische Fragen, (10) die heute
können wir daher von präerotematischen (Kunstgr. sogenannte »reverse psychology« und (11) die gegne-
1–6), erotematischen (7–18) und posterotematischen rische Bestätigung besonderer Fälle zum Zweck eines
(19–38) Stratagemata sprechen. Weitere Ordnungs- eigenen Induktionsschlusses. Kunstgriff (12) zeigt den
kriterien sowie eine gut ausgearbeitete Tabelle aller Einsatz von Neologismen, Euphemismen und Pejora-
Kunstgriffe mit ihrer Funktion und ihren jeweiligen tionen, (13) von übertriebenen Alternativen, (14) von
aristotelischen Entsprechungen finden sich bei Chichi untergeschobenen Gründen (fallacia non causae ut
(vgl. 2002, 177 f., 171–175). Aktuelle Fallbeispiele, die causae), (15) von Paradoxa, (16) von argumenta ad ho-
die Praxisnähe der Schopenhauerschen Dialektik be- minem, (17) von Definitionen und (18) von Ablen-
legen, gibt Struck (vgl. 2005). kungen (mutatio controversiae).
Die Basis aller Dialektik beschreibt zwei Modi (a, b) Wie die präerotematischen, so beziehen sich auch
und zwei Wege (c, d), um eine These zu widerlegen: die posterotematischen Kunstgriffe nicht auf Fragen,
(a) Die Widerlegung ad rem (objektiv, Semantik) und sondern auf Aussagen: In Kunstgriff (19) wird ins All-
(b) die ad hominem (subjektiv, Pragmatik) gelten als gemeine ausgewichen, bei (20) lässt man sich Prämis-
die beiden Modi. (a) Bei der Widerlegung ad rem wird sen bestätigen, zieht aber die Konklusionen selbst, bei
die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirk- (21) werden Scheinargumente pari pari beantwortet,
lichkeit angegriffen, (b) bei der Widerlegung ad homi- bei (22) eine petitio principii behauptet, bei (23) Über-
nem wird dem Gegner vorgeworfen, mit seinen vorhe- treibungen angewandt und in (24) konkretisiert Scho-
rigen Aussagen oder mit der allgemeinen Logik in Wi- penhauer die Apagoge als »Konsequenzmacherei«.
derspruch zu stehen. Kunstgriff (25) behandelt ein exemplum incontrarium
10  Spätwerk und Nachgelassenes 169

(Gegenbeispiel) als Instanz für eine Induktion, (26) Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften (Akademie-Aus-
die retorsio argumenti, in der ein Argument des Geg- gabe). Hg. von der Preußischen/Deutschen/Göttinger/
ners gegen diesen selbst angewandt wird, (27) behan- Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaf-
ten. Berlin 1900 ff.
delt den Nachdruck auf empfindliche Argumente, Kewe, Adolf: Schopenhauer als Logiker. Bonn 1907.
(28) dagegen die Verwendung von argumenta ad audi- Lemanski, Jens: Schopenhauers Gebrauchstheorie der
tores, bei denen – wie der Name sagt – das Publikum Bedeutung und das Kontextprinzip. Eine Parallele zu
vereinnahmt wird, und (29) eine Diversion, d. h. eine Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. In: Scho-
Ablenkung vom Thema. Unter dem Titel argumentum penhauer-Jahrbuch 97 (2016), 171–197.
Lemanski, Jens: Means or End? On the Valuation of Logic
ad verecundiam behandelt Schopenhauer in Kunst-
Diagrams. In: Logic-Philosophical Studies / Логико-
griff (30) den Gebrauch von Autoritäten anstelle von философские штудии 14 (2017), 98–122.
Gründen und in (31) den Gebrauch von Ironie vor Lemanski, Jens/Moktefi, Amirouche: Making sense of Scho-
dem Publikum. In Kunstgriff (32) werden ähnlich wie penhauer’s diagram of Good and Evil. In: Lecture Notes in
in (12) Argumente unter pejorativ konnotierte Kate- Computer Science (2018) (im Erscheinen).
gorien subsumiert, (33) behandelt den Einsatz des So- Mill, John Stuart: A System of Logic, Ratiocinative and Induc-
tive. New York 1858.
phisma »Das mag in der Theorie richtig seyn; in der Lu-Adler, Huaping: Kant’s Conception of Logical Extension
Praxis ist es falsch«, (34) empfiehlt das Nachsetzen and Its Implications. California 2012.
beim Ausweichen des Gegners, (35) bespricht das ar- Quine, Willard Van Orman: Two Dogmas of Empiricism. In:
gumentum ab utili, das nicht auf den Intellekt, sondern Ders.: From a Logical Point of View. New York 21961, 20–57.
auf den Willen des Gegners zielt, (36) behandelt ähn- Rescher, Nicholas: Dialectics. A Controversy-Oriented
Approach to the Theory of Knowledge. Albany, NY 1977.
lich wie (4) einen »sinnlosen Wortschwall«, (37) zeigt
Rott, Hans: Vom Fließen theoretischer Begriffe. Begriffliches
wie ein argumentum ad hominem als ein argumentum Wissen und theoretischer Wandel. In: Kant-Studien 95/1
ad rem ausgegeben werden kann und (38) beschreibt (2004), 29–51.
zuletzt das argumentum ad personam, bei dem einer Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung.
der Disputanten »persönlich, beleidigend, grob« wird. Leipzig 1819.
Das Manuskript schließt mit der dann in P II fast Seifert, Arno: Logik zwischen Scholastik und Humanismus.
Das Kommentarwerk Johann Ecks. München 1978.
zur Maxime erhobenen Empfehlung, seinen Diskussi-
Spierling, Volker: Zur Neuausgabe. In: Arthur Schopen-
onspartner weise zu wählen, da »unter Hundert kaum hauer: Philosophische Vorlesungen. Bd. 1. Hg. von Volker
Einer ist, der werth ist daß man mit ihm disputirt« Spierling. München u. a. 1986, 11–14.
(ebd., 695). Struck, Gerhard: Eristik für Juristen. Konzeptuelle Über-
legungen und praktische Beispiele. In: Kent D. Lerch
Literatur (Hg.): Die Sprache des Rechts. Bd. 2: Recht verhandeln.
Bernhard, Peter: Euler-Diagramme. Zur Morphologie einer Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des
Repräsentationsform in der Logik. Paderborn 2001. Rechts. Berlin u. a. 2005, 521–549.
Chichi, Graciela M.: Die Schopenhauersche Eristik. Ein Volpi, Franco (Hg.): Arthur Schopenhauer: Die Kunst, Recht
Blick auf ihr Aristotelisches Erbe. In: Schopenhauer-Jahr- zu behalten. In achtunddreißig Kunstgriffen. Frankfurt
buch 83 (2002), 163–183. a. M./Leipzig 1995.
Drobisch, Moritz Wilhelm: Neue Darstellung der Logik nach Volpi, Franco: Schopenhauer und die Dialektik. In: Ders.
ihren einfachsten Verhältnissen. Nebst einem logisch=mathe- 1995, 79–128.
matischen Anhange. Leipzig 1836. Wohlrapp, Harald: Einleitung. Bemerkungen zu Geschichte
Dümig, Sascha: Lebendiges Wort? Schopenhauers und Goe- und Gegenwart der Argumentationstheorie [...]. In: Ders.
thes Anschauungen von Sprache im Vergleich. In: Daniel (Hg.): Wege der Argumentationsforschung. Stuttgart 1995,
Schubbe/Søren R. Fauth (Hg.): Schopenhauer und Goethe. 9–50.
Biographische und philosophische Perspektiven. Hamburg Jens Lemanski
2016, 150–183.
Euler, Leonhard: Briefe an eine deutsche Prinzessin. Bd. 2.
Leipzig 21773.
Fischer, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre. Hei-
delberg 31908.
10.3 Die Berliner Vorlesungen:
Geach, Peter: Mental Acts. Their Content and Their Objects. Schopenhauer als Dozent
London/New York 1957.
Haack, Susan: Dummett’s Justification of Deduction. In:
Eintritt ins ›praktische‹ Leben
Mind 91/362 (1982), 216–239. Nach der Probevorlesung »Über die vier verschiede-
Haffmans, Gerd: Die Kunst, Recht zu behalten, in 38 Kunst-
nen Arten der Ursache« (Gespr 47 f.; dort ist allerdings
griffen dargestellt. Zürich 1983.
von »drei Arten von Kausalität« die Rede) wurde Scho-
170 II Werk

penhauer in die Dozentenschaft der Berliner Univer- vermutlich mit dazu beigetragen hat, dass die Vor-
sität aufgenommen (»Nostrification«; s. Kap. 3). Seine lesungen bis heute ein Schattendasein fristen müssen,
erste Vorlesung, welche auch die einzige bleiben sollte, unterzeichnet er aber besonders Schreiben offizieller
hatte »Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Natur bis ins Jahr 1855 mit »Dr. phil: c. jure leg: in
Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste« zum Univ: Berol:« (Doktor der Philosophie mit Recht an
Thema und fand sechsmal wöchentlich statt (Ankün- der Berliner Universität zu lehren; GBr, 367), weshalb
digungen im deutschen Lektionskatalog für die Zeit er sich im Scherz Freunden gegenüber den »doyen der
von 1820–1831/32 in De IX, XI–XIII; im lateinischen deutschen Universitäten« nannte (Gwinner 1963, 74).
in De X, 621–623; vgl. Virmond 2011, 221). Da er sie in
krasser Überschätzung seiner eigenen Position auf
Warum verdienen die Vorlesungen auch heute
denselben Termin gelegt hatte, zu dem Hegel sein
noch unser Interesse?
Hauptseminar abhielt, war der Zulauf gering. Immer-
hin kam sie zustande und wurde bis zum Semesteren- 1) Die Vorlesungen zeigen Schopenhauers Denken
de abgehalten. Die Fülle des Stoffs, der durch Erweite- in einem anderen Aggregatzustand, der schriftlich fi-
rungen, methodische und didaktische Hinweise, Vor- xierten mündlichen Rede, die sich vom Drucktext
und Rückverweise sowie bedeutende Ergänzungen allein schon durch die Form der Mitteilung wesent-
zum Hauptwerk, an dem sich der Vortrag vor allem im lich unterscheidet. Sogar den zentralen Gegenstand
2. bis 4. Teil weitgehend orientierte, stark angewachsen des »ernstesten« Teils, die Lehre von der »Resignati-
war, führte dazu, dass Schopenhauer am Schluss des on«, stellt er dem Urteil der Studenten anheim. »Ich
Semesters mit der Zeit ins Gedränge kam, wie er dem habe über diesen Punkt viele Widersprüche hören
Dresdner Freund Osann Anfang August 1820 brieflich müssen und sage es Ihnen, damit Ihr Urtheil um so
berichtet (vgl. GBr, 62). freier bleibe, mir beizustimmen oder nicht« (VN IV,
Schopenhauer bietet auch in den folgenden Semes- 537 (De)).
tern Vorlesungen an, mit einer Pause in den Jahren
1822 bis 1826, die er – durch leidige Vorkommnisse 2) Sie sind wesentlich ausführlicher als die Erstausga-
berlinmüde geworden – zu seiner zweiten Italienreise be, zunächst rein quantitativ, dann aber auch qualita-
nutzte. Für den Sommer 1821 lautete die Ankündi- tiv, da der angehende Dozent neuere Forschungs-
gung »Die Grundlehren der gesammten Philosophie, literatur einarbeitet, sich auf seine Mitschriften aus
d. i. der Erkenntniß vom Wesen der Welt und des Göttingen und Berlin, Reiseaufzeichnungen, Ma-
menschlichen Geistes«, im Winter 1821/22 »Dianöo- nuskriptbücher und Randnotizen zum Hauptwerk
logie und Logik, d. h. die Theorie des Anschauens und stützt und bestimmte Gedanken mitunter wesentlich
Denkens«, für das Sommersemester 1822 etwas plastischer und prägnanter formuliert. In ihnen
schlichter »Die Grundlehren der gesammten Philoso- kommt der junge Schopenhauer in eindrucksvoller
phie«. Laut Akten der Berliner Universität ist er »aus- Weise zum Wort.
geschieden Michaelis (i. e. 29.9.) 1822, wiederein-
getreten Michaelis 1826 für Philosophie« (Virmond 3) Die Vorlesungen stellen eine eigene Stufe in der
2011, 842). Nach der Rückkehr wird zunächst »Die Entwicklungsgeschichte dar; sie dokumentieren die
Grundlegung zur Philosophie, begreifend Dianoeolo- beständige, konzentrierte »Arbeit am Text seiner
gie und Logik oder die Theorie der gesammten Er- Lehre«, in konsequenter Berücksichtigung externer
kenntniß« angekündigt, seit dem Sommer 1827 »Die und eigener Forschungsergebnisse aufgrund von Lek-
Grundlegung zur Philosophie oder die Theorie der ge- türe und entsprechenden neuen Einsichten. Ohne sie
sammten Erkenntniß mit Inbegriff der Logik« (De IX, sind weder die Schrift Ueber den Willen in der Natur
XII). Da sich auch zu dieser Vorlesung regelmäßig (1836) und die folgenden Schriften, noch die Neuauf-
entweder keine oder zu wenig Zuhörer einfanden (vgl. lagen der frühen Schriften (Diss., F) angemessen ein-
Hübscher 1958; Zahlen bei Virmond 2011, 842; zum zuordnen und zu verstehen. Sie lassen in einzigarti-
Begriff »Zuhörer« vgl. HN IV (2), 43), kam keine wei- ger Weise die Weiterarbeit an dem »einen Gedanken«
tere zustande. Der Dozent ist aber erst Ostern 1832 of- erkennen, den er bereits 1817 formulierte: »Die Welt
fiziell aus dem Lehrkörper »ausgeschieden« (Virmond ist die Selbsterkenntnis des Willens« (HN I, 462; vgl.
2011, 842), er figurierte seit dieser Zeit auch nicht Malter 1988, bes. 14, 26, 32; s. auch Kap. 6.2). Ihre
mehr im Lektionskatalog. Trotz seiner vehementen systematische Einbeziehung in eine Interpretation
Kritik an der Universitätsphilosophie (s. Kap. 9.3), die des Werks könnte einer irreführenden Fixierung auf
10  Spätwerk und Nachgelassenes 171

das gedruckte Spätwerk entgegenarbeiten, die dazu Im Rahmen der großangelegten Werkausgabe, die
geführt hat, dass die früheren Arbeiten und Manu- Paul Deussen seit 1911 veranstaltete, kam es endlich
skripte derzeit in der Regel ausgeblendet werden. zu einer kompletten Edition der Philosophischen Vor-
lesungen. Franz Mockrauer, dem wir eine auch heute
4) Die Vorlesungen zeigen, wie der eine Grund- noch mit gutem Recht als vorbildlich zu bezeichnende
gedanke Schopenhauers nicht nur objektiv dar- Edition verdanken, hatte den Berliner Nachlass ent-
gestellt, sondern subjektiv vermittelt wird. Der Do- sprechend gesichtet und ausgewertet. Eine Beschrei-
zent erweist sich als eine Art »Seelenführer«, der sei- bung des Handschriftenmaterials (De IX, XV) bildet
ne Studenten mitunter in direkter Ansprache (exhor- den Ausgangspunkt für die Gruppierung der einzel-
tatio) anleitet, den Weg bis zum »Gipfel« des 4. Teils nen Texte, für die er zunächst eine »systematische
nicht nur gedanklich mit zu vollziehen, sondern die Ordnung« vorschlägt, die dann aber nach ausführ-
»Selbsterkenntnis des Willen« zur eigenen Sache zu licher, höchst umsichtiger Darstellung der zeitlichen
machen. Abfolge der Manuskripte (De IX, XVIII–XX) zuguns-
ten einer an der Chronologie orientierten Gliederung
aufgegeben wird. Die »Prinzipien der Textbehand-
›Entdeckungsgeschichte‹ der Manuskripte
lung« werden ausführlich dargestellt (De IX, XXIII–
Julius Frauenstädt war der erste, der auf die Vor- XXX). Von zentraler Bedeutung ist seine gesperrt ge-
lesungsmanuskripte hinwies und Kostproben der aka- druckte Feststellung: »Der von uns abgedruckte Text
demischen Lehrtätigkeit Schopenhauers veröffentlich- ist Wort für Wort eine genaue Wiedergabe des Scho-
te. Unter den »Memorabilien, Briefen und Nachlass- penhauerschen Manuskripts. Jede Veränderung oder
stücken«, die er 1863 gemeinsam mit Ernst Otto Lind- Hinzufügung des Herausgebers und jede unsichere
ner in dem Band Arthur Schopenhauer. Von ihm. Ueber Lesart der Worte ist in eckigen Klammern ein-
ihn herausgab, finden sich erste Textstücke aus den geschlossen« (De IX, XXV). Nicht genug damit ent-
Vorlesungen, so Teile der »Einleitung über das Studi- halten die zwei Bände seiner lang erwarteten Edition
um der Philosophie« (739–755), des »Exordium[s] Anmerkungen zum Textbestand (Zusätze etc.), Über-
über seinen Vortrag und dessen Methode« (756–759), setzungen und Nachweise der Zitate, einen Nachtrag
der am Ende einen Ausblick auf den Gang der Vor- mit Angaben zu Schopenhauers Lehrtätigkeit (s. o.)
lesung von 1820 enthält, das »Exordium der Dianoio- sowie einen Nachtrag zur »Chronologie der Manu-
logie« (759 f.), und, ganz dem Gang des Hauptwerks skripte, der Appendices, Beilagen und Eintragungen«
entsprechend, das Exordium des Kapitels von der (De X, 623–644), der minutiös versucht, die diversen
»Verneinung des Willens zum Leben oder von der Ent- Textstücke zu datieren. Erstaunlich ist, dass sich in
sagung und Heiligkeit« (760 ff.). Diesem Band folgte den Konvoluten der Vorlesungen Eintragungen fin-
1864 die Veröffentlichung eines Bandes mit »Abhand- den, die zeigen, dass Schopenhauer nicht nur in den
lungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmen- Berliner Dozentenjahren, sondern auch später noch
ten«, der ausschließlich Texte aus dem handschriftli- immer wieder an und mit diesen Aufzeichnungen ge-
chen Nachlass enthielt. Aus dem reichen Fundus der arbeitet hat. Mockrauers Datierung der Arbeitsspuren
Vorlesungsmanuskripte steuerte er v. a. für den 3. Teil reicht von 1821 bis in das Jahr 1847 (De X, 628 f.); zwei
verschiedene Textstücke bei. Hinweise beziehen sich sogar auf das vorletzte, in den
Eduard Grisebach sorgte 1891 bis 1893 für eine Jahren 1837 bis 1852 in Frankfurt angelegte Manu-
neue, auf vier Bände angelegte Edition von Nachlass- skriptbuch »Spicilegia«.
texten. Im 2. Band stehen Auszüge aus den Vorlesun- Der Textbestand war damit zunächst gesichert, bis
gen prominent am Anfang, wobei er zunächst sämtli- auf die von Damm erwähnte »declamatio in laudem
che Texte wiederabdruckt, die er bei Frauenstädt nur philosophiae« (Damm 1912, 156; Fußnote in De IX,
verkürzt oder falsch wiedergegeben findet. Erstmals XI), die sich damals nicht unter den Manuskripten der
abgedruckt sind die Exordien zu den Teilen II, III und Berliner Königlichen Bibliothek befand. Es ist das
IV. Der 4. Band, Neue Paralipomena betitelt, enthält Verdienst Hübschers, diese »declamatio« wiederent-
ein Appendix, das erneut verschiedenste Texte aus deckt und 1948 publiziert zu haben.
dem Umfeld der einzigen gehaltenen, großen Vor- Einige kritische Hinweise zu Mockrauers Edition
lesung bietet, die bereits Frauenstädt veröffentlicht sind allerdings angebracht: (1) Die Philosophischen
hatte, aber unzureichend, wie der Herausgeber nicht Vorlesungen stehen in einem Netz von internen Bezü-
müde wird zu betonen. gen, die allerdings ins Leere gehen, solange die ent-
172 II Werk

sprechenden Manuskripte nicht transkribiert sind versucht (die Arbeit von Salomon Levi deutet zumin-
oder anderweitig (z. B. digital) zur Verfügung stehen. dest die Notwendigkeit einer derartigen Unter-
Dieses Referenzsystem erstreckt sich von den frühes- suchung an). Es bleibt festzuhalten: Nur ein kon-
ten Aufzeichnungen, die unter den Titel »Genesis des sequent durchgeführter Vergleich der einzelnen Pas-
Systems« (in der Deussen-Ausgabe Band VI) gestellt sagen kann die Vorlesungen aus ihrem mit den Prädi-
wurden, bis zu den Drucken, den Randbemerkungen katen »didaktisch«, »Paraphrase« und »Einführung«
im Handexemplar des Hauptwerks und den zehn seit gezimmerten Gefängnis befreien. (4) Die systemati-
Frauenstädts 2. Auflage der Parerga und Paralipomena sche Bedeutung, der Ort der Vorlesungen im Rahmen
1862 (P I, IX) bekannten umfangreichen Manuskript- des Gesamtwerks, ihre »organische« Funktion als Teil
büchern. Für den Band IX (»Erste Hälfte«) handelt es eines Werkganzen, wird nur angedeutet.
sich um ein eng geknüpftes Verweisungssystem, das Da die Deussen-Ausgabe in der Regel nur in weni-
sich auf die frühen Aufzeichnungen, die gedruckten gen Exemplaren in öffentlichen oder privaten Biblio-
Frühschriften, Anmerkungen im Handexemplar, se- theken zugänglich war und die Vorlesungen in Hüb-
parate Manuskripte wie die »Eristische Dialektik«, vor schers Ausgabe des handschriftlichen Nachlasses
allem aber auf die Manuskriptbücher »Reisebuch«, (1966–1975) wegen der angeblich »befriedigenden«
»Foliant«, »Brieftasche«, »Quartant«, »Adversaria« Editionslage (HN I, XII) nicht berücksichtigt wurden,
und die »Cogitata« stützt. Im Band X (»Zweite Hälf- hat Volker Spierling 1984 bis 1986 eine zweifellos ver-
te«) finden sich entsprechende Hinweise auf die »Ge- dienstvolle Leseausgabe in vier Bänden vorgelegt. Er
nesis des Systems« und die Manuskriptbücher »Reise- verlässt sich bei der Wiedergabe des bloßen Text-
buch«, »Foliant«, »Adversaria«, »Cogitata« und – wie bestands dabei völlig auf Mockrauers Edition, die
erwähnt – die späten »Spicilegia«. Auch auf die Mit- gleichwohl in einigen entscheidenden Punkten modi-
schriften der Vorlesungen, die Schopenhauer in Göt- fiziert wird.
tingen und Berlin hörte, wird mitunter Bezug genom- (1) Dass ›inhaltliche Marginalien und Anmerkun-
men. Verweise dieser Art werden zwar genannt, sie gen‹ sowie die Übersetzungen fremdsprachlicher Zi-
werden aber nicht aufgeschlüsselt, so dass dem Leser tate in eckigen Klammern in den Text integriert wur-
unklar bleibt, worauf sich Schopenhauer jeweils be- den, ist weniger störend als das konsequente Weglas-
zieht. Erschwerend kommt hinzu, dass zwei der drei sen der wichtigen Hinweise auf Manuskripte und
Bände mit Nachlasstexten (VII, VIII und XII), auf Drucke. Das ganze engmaschige, oben angedeutete
welche der Leser der Vorlesungsbände verwiesen Netz der Verweise, das den inneren Kontext der Aus-
wird, nie erschienen sind (vgl. HN I, XI f.). Auch die führungen bildet, wird dadurch ausgeblendet. (2) Der
internen Verweise, die sich auf andere Passagen des Herausgeber gibt ferner an, die »Anmerkungen Mock-
bereits Vorgetragenen beziehen, werden nicht syste- rauers, die hauptsächlich die Zusätze der Vorlesungen
matisch aufgelöst. (2) Mockrauer stand bei seiner Edi- gegenüber dem ersten Band der Welt als Wille und
tion die Bibliothek Schopenhauers nicht zur Ver- Vorstellung detailliert bis hin zur genauen Zeilenanga-
fügung, obwohl die Handexemplare mit den zahlrei- be registrierten«, ausgelassen zu haben (VN II, 16).
chen Glossen außerordentlich hilfreich sind, wenn es Nun finden sich aber bei Mockrauer gar keine »Zu-
um eine Aufklärung der Literaturangaben und Hin- sätze« dieser Art. Was dieser unter »Zusätzen« ver-
weise auf die weitere Verarbeitung der Lektüre geht steht, sagt er explizit in seiner Vorrede (vgl. De IX,
(vgl. Regehly 1992). (3) Ein Vergleich der Vorlesungs- XXVIII f.). Gemeint sind ausschließlich die hand-
manuskripte mit dem Text des Druckwerks (1. Auf- schriftlichen Zusätze am Rand der Manuskriptbögen,
lage) fehlt vollständig, so dass in keiner Weise zu se- nicht die Abweichungen und Ergänzungen gegenüber
hen ist, an welcher Stelle und in welchem Ausmaß sich der ersten Auflage des Hauptwerks. Ein Vergleich mit
der Dozent vom gedruckten Wort löst und mit Exkur- den Manuskriptbänden fand offensichtlich nicht statt.
sen arbeitet, was in den Teilen II bis IV überaus häufig Die »Zusätze« zum Manuskript der Vorlesungen, auch
der Fall ist. Nur der I. Teil hat über große Strecken kei- »Zusätze zu Zusätzen«, Streichungen etc. werden al-
nerlei Referenzpassagen im Hauptwerk. Allgemein lerdings von Mockrauer durch Fußnoten kenntlich
gilt: Wenn diese Notizen sich auch am Gang des gemacht. Einige Zusätze sind aber vom Neuheraus-
Hauptwerks orientieren, so sind die Ergänzungen und geber ohne Angabe von Gründen zusammengestutzt
Erweiterungen doch sowohl quantitativ erheblich wie worden, einige kleinere Fehler der Edition von 1913
qualitativ signifikant. Ein derartiger, minutiöser Ver- wurden übernommen und weitergeschleppt (ein zu
gleich wurde in der Forschung bislang nicht einmal konjizierendes »mehr« fehlt in VN IV, 97 und De X,
10  Spätwerk und Nachgelassenes 173

612; ebenso ein »es« in VN IV, 230 und De X, 540) Zum Konvolut der Vorlesungs-Manuskripte gehö-
oder kamen neu hinzu (das griechische Zitat in VN II, ren neben der Probevorlesung einige kürzere Texte,
171, weist mehrere Fehler auf im Unterschied zu De X, die einführenden oder vorbereitenden Charakter ha-
131; VN I, 558 vs. De IX, 538, hat »aber« statt »oder«; ben: zunächst die Probevorlesung »über die vier ver-
in VN IV, 243, ist aus dem »Weggeben« von De X, 554, schiedenen Arten der Ursachen«, die am 23. März
ein »Weggehen« geworden etc.). Die von Franz Mock- 1820 in Berlin stattfand. Der angehende Dozent hatte
rauer in dessen Handexemplar (im Besitz des Scho- außerdem eine lateinische Eröffnungsrede anzuferti-
penhauer-Archivs der UB Frankfurt a. M., Sammlung gen. Er schickte die in Dresden ausgearbeitete Fassung
Arthur Hübscher) eingetragenen Korrekturen wur- seinem Freund Osann, der sie an den Dekan August
den von der Forschung bislang nicht berücksichtigt. Boeckh weiterreichte, dessen »vollkommenen Beifall«
Das Fehlen von durchgängigen Sacherklärungen er- sie gefunden haben soll (Grisebach 1897, 142). In die-
schwerte bereits die Lektüre der Ausgabe von 1913. (3) ser Rede, die Mockrauer für seine Edition noch nicht
Die Angabe der Bogennummern entfiel ebenfalls, so vorlag (vgl. De IX, XI Anm. mit Hinweis auf Damm
dass die Arbeit mit den Manuskripten im Falle von 1912, 156; erstmals veröffentlicht von Hübscher 1945–
Zweifeln am Wortlaut oder Textstand deutlich er- 48, 3–14), gab er einen literarisch ausgefeilten Abriss
schwert wurde. Die schon für den Erstherausgeber der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis
schwierige Textkonstitution wird in der Leseausgabe zu Kant. Nach Kant sei – so seine provokante Diagno-
völlig undurchsichtig. (4) Die romantische Einsicht, se – die Philosophie »der Vernachlässigung und Miß-
dass Philosophie und Philologie zusammengehören achtung« anheimgefallen, aber es könne sein, dass ihr
und verschwistert sind, die philosophische Arbeit im- »ein Rächer erstehen werde, der ihr, mit stärkeren
mer auch eine »Arbeit am Text« zu sein hat, wird kur- Kräften ausgestattet, wieder zu ihrem früheren Glanz
zerhand preisgegeben, wenn Spierling seine Leseaus- und dem gebührenden Zuspruch« verhelfen könne
gabe dem »philosophisch-problemgeschichtlich inte- (VN I, 58; es handelt sich um ein verstecktes Platon-
ressierten Leser« zudenkt, den »philologisch-textkri- Zitat, vgl. W 1, 250, das später als Motto des Pam-
tischen Fragestellungen« (VN II, 17) nachgehenden phlets »Ueber die Universitäts-Philosophie« wieder-
Forscher aber auf die – schwer zugängliche – Ausgabe begegnet, P I, 147). Diese Passage wurde von den Bio-
von 1913 zurückverweist. Der ganze Cursus von 1820 graphen in der Regel auf den Verfasser selbst bezogen.
lässt sich in der Tat anhand dieser alten, aber keines- Ferner liegen drei Einleitungen zur Vorlesung über
wegs veralteten Ausgabe am besten nachvollziehen. die »Prima philosophia/Dianoiologie« vor, die grund-
Zur Zeit ist eine neue Studienausgabe der Vor- legende Gedanken kurz erläutern oder einen Ausblick
lesungen in Arbeit (vgl. Schopenhauer 2017 ff.), die auf den Gang des für 1821 geplanten Vorlesungspro-
aber für diesen Artikel nicht mehr berücksichtigt wer- jekts geben. Zwei separate Kapitel, die sich mit der
den konnte. »anschaulichen Vorstellung« und »Raum und Zeit«
befassen und sich dem allgemeinen Verlauf nicht oh-
ne weiteres einfügen ließen, schließen sich in Mock-
Der »ganze Cursus« im Überblick
rauers Edition an (vgl. De IX, 46–57 und 571 f.).
Mockrauers »Übersicht« über das damals wie heute in Der ersten Vorlesung war ein »Exordium (über
Berlin verwahrte Handschriftenmaterial geht zu- meinen Vortrag und dessen Methode)« vorangestellt,
nächst von drei systematisch unterschiedenen »Vor- in dem Schopenhauer erläutert, warum er die vier Tei-
tragsgruppen« aus, die aus der Probevorlesung, der le in einem einzigen Kursus vortrage. Der Grund liege
1820 gehaltenen Vorlesung über »Die gesammte Phi- in der »Natur der Philosophie« selbst, die eine »Ein-
losophie« und der – nicht gehaltenen – Vorlesung heit und innern Zusammenhang« besitze, wie keine
über »Die Theorie der gesammten Erkenntnis« (auch andere Wissenschaft sonst (VN I, 69 (De)). Eine di-
»Dianoiologie« oder »Prima philosophia« genannt) rekte Anrede bildet den Schluss, in der Schopenhauer
bestehen. Diese »systematisch-chronologische Ord- versucht, die Zuhörer dazu zu motivieren, bis zum
nung« wurde im Druck zugunsten einer anderen, am Schluss des »ganzen Cursus« auszuharren. Seine ma-
Gang des Hauptwerks orientierten Ordnung modifi- terialreiche »Einleitung, über das Studium der Phi-
ziert. Die »Theorie der gesammten Erkenntnis« wurde losophie« beginnt er mit der erstaunlichen These, dass
dem 1. Teil integriert (zur Textkonstitution, dem Zu- »jeder Mensch ein geborener Metaphysikus ist« (VN I,
stand der Manuskripte und den Prinzipien der Text- 79 (De)), bevor er den »natürlichen Gang« der abend-
behandlung vgl. De IX, XIV–XXX). ländischen Philosophie in großen Zügen nachzeich-
174 II Werk

net. En passant wird auf den »viel kühnern Flug« der Logik üblich – mit den Begriffen, bevor Urteile und
Orientalischen Philosophie hingewiesen, deren auch schließlich Schlüsse thematisiert werden. Die ersten
für ihn verbindlicher Grundsatz »Tatoumes« (VN I, Abschnitte orientieren sich wiederum am Hauptwerk
95 (De); später »tat tvam asi« – »Auch das bist du!«) (W 1, 68) bzw. an der Dissertation (Darstellung der
lautet. Über Bruno und Spinoza heißt es sogar »Ihre »Denk-Gesetze«, VN I, 261 ff. (De)). Seine pädagogi-
Geistesheimath war Hindostan« (VN I, 105 (De)). Ab- sche Qualifikation beweist der Dozent dadurch, dass er
schließend nennt er die Geschichte der Philosophie Begriffsverhältnisse graphisch veranschaulicht, durch
»eine Geschichte von Irrthümern«, auf die er im Zuge »Begriffssphären und ihre Verhältnisse« (VN I, 270
seiner Vorlesung bei Gelegenheit näher zu sprechen (De)). Zu diesem Zweck hat er vermutlich eine Tafel
kommen werde (VN I, 109 (De)). benutzt, wie verschiedene Hinweise zeigen (z. B. VN I,
272 f. (De)). Dies kam der Verständlichkeit seines Vor-
1) Theorie des gesamten Vorstellens: Der 1. Teil der trags mit Sicherheit zugute. Der »analytische«, ein-
Vorlesung befasst sich mit der »Theorie der gesamm- gestandenermaßen »trockenste« Teil der Gesamtvor-
ten Erkenntnis«. Für die geplante Vorlesung zur Dia- lesung wird durch launige Merksätze (z. B. von Gott-
noiologie wurde das Manuskript von 1820 umgearbei- sched, vgl. VN I, 287 (De)) und ungewöhnliche Bei-
tet. Mockrauer hat in Anbetracht der weitgehend un- spiele aufgefrischt. Die Syllogistik, so teilt der Dozent
durchsichtigen Textlage darauf verzichtet, die geplan- mit, könne nicht nur »großen Wert für die philosophi-
te Vorlesung separat zum Abdruck zu bringen. Der sche Erkenntnis« haben, sondern sogar »amüsant«
erweiterte 1. Teil von 1821 wird in seiner Edition des- sein (VN I, 294 (De)). Die Darstellung der Vernunft-
halb als erster großer, sehr umfangreicher Abschnitt schlüsse gerät außerordentlich detailliert. Vermutlich
der Vorlesung von 1820 abgedruckt. hat Schopenhauer sich dabei an Lehrbücher wie das
Die Vorlesung beginnt nach einem kurzen Vor- seines Göttinger Lehrers Schulze gehalten (Schulze
spann wie das Hauptwerk mit dem Satz »Die Welt ist 1810; HN V, 156–161; dort sind seine zahlreichen An-
meine Vorstellung«, der aber gleich auf handfeste Ge- merkungen abgedruckt). Von »scholastischen Spitz-
genstände – einen Ofen – bezogen wird. Zunächst hält findigkeiten« (VN I, 312 (De)) hält er sich ausdrück-
Schopenhauer sich an die Darstellung der entspre- lich fern. Er gibt sogar ein Beispiel für Hundelogik:
chenden Kapitel im Hauptwerk. Auch die Erläuterung »Wenn der Stock im Winkel steht; so geht mein Herr
der Form der anschaulichen Vorstellung geht von dem nicht aus: Wenn es schön Wetter ist; so geht er aus:
gedruckten Text aus, wird dann aber sehr bald durch Wenn es schön Wetter ist; so steht der Stock nicht im
zahlreiche Ergänzungen und Veranschaulichungen Winkel« (VN I, 336 (De)). Seine Äußerungen über Ka-
bedeutend erweitert. Raum, Zeit und Kausalität, das lauer (Calembourg), Amphibolien, Trugschlüsse, Er-
Verhältnis von Ursache und Wirkung, Empfindung schleichungen (mit polemischem Hinweis auf Schel-
und Anschauung, die Eigenart der Sinne, insbesonde- ling) und Sophismen verschiedenster Art sind durch-
re der Gesichtssinn und das Sehen, werden im Rah- aus unterhaltsam. Die Vortragsweise ist souverän, die
men einer phänomenologisch und entwicklungspsy- Beherrschung und anschauliche Darstellung des um-
chologisch orientierten Theorie des Vorstellungsver- fangreichen, trockenen Stoffes höchst beeindruckend.
mögens erörtert, wobei der Dozent auf seine Farben- Der Abschnitt über die »Überredungskunst« themati-
schrift hinweist, auf eigene Erfahrungen Bezug nimmt siert die Schattenseite der Logik, die aber definitiv
(»Reisetagebücher«), auf die in Göttingen und Berlin zur Einsicht in das Verfahren der Vernunft gehört. Die
gehörten Vorlesungen zurückgreift (›Doppelttasten‹, entsprechenden Tricks und »Kunstgriffe« (VN I, 364
vgl. Stollberg/Böker 2013, 116) und sich immer wieder (De)) hat Schopenhauer später in dem »Eristische Dia-
auf Randbemerkungen seines Handexemplars stützt. lektik« betitelten separaten Konvolut zusammenge­
Während in der Probevorlesung von »vier Arten stellt (s. Kap. 10.2). Die im Vorlesungsskript stark er-
der Ursachen« die Rede war (s. o.), werden in der Vor- weiterten Ausführungen über die praktische Vernunft
lesung lediglich drei Arten der Kausalität »Ursach, (vgl. W 1, 125 ff.) und die Stoische Ethik (vgl. W 1,
Reiz, Motiv« (VN I, 209 (De)) behandelt. Der Unter- 129 ff.) nehmen bereits Gedanken des 4. Teils vorweg,
schied zwischen den anschaulich gegebenen und den so wenn es heißt, es liege »ein vollkommenener Wider-
abstrakten Motiven wurde eingezogen, da die Motiva- spruch darin, Leben zu wollen ohne zu leiden« (VN I,
tion durch kausale Verstandeserkenntnis Tiere und 420 (De)). Sätze wie diese machen den Studenten deut-
Menschen gegenüber den Pflanzen auszeichnet. Der lich, dass seine gesamte Theorie des Erkennens unter
2. Teil befasst sich zunächst – wie in Lehrbüchern der einem »soteriologischen Vorbehalt« steht, demzufolge
10  Spätwerk und Nachgelassenes 175

die Vorstellungswelt – willensmetaphysisch betrachtet einem emphatischen Hinweis auf die »Aufgabe der
– nicht nur »nichtig« ist, sondern den Wunsch nach Philosophie«, das von jedem Menschen »anschaulich
Erlösung generiert, sofern die Selbsterkenntnis des und in concreto Erkannte«, d. h. das bloß gefühlte
Willens weit genug vorangeschritten ist. Wissen, »zu einem abstrakten, deutlichen, sich stets
Der folgende Abschnitt »Ueber den Satz vom Grund gleich bleibenden Wissen zu erheben« (VN I, 550
und seine vier Gestalten« bietet eine konzentrierte Fas- (De)). Diese »ganze Aufgabe« werde nun aber erst
sung der wesentlichen Gedanken der Dissertation. Er »vollkommen deutlich, durch ihre Auflösung selbst«
betont zu Beginn seine Entdeckung von zwei – »ja ge- (VN I, 551 (De)), wobei hier wohl nicht nur an die
wissermaßen drei« – neuen Gestalten des Satzes (VN I, Auflösung der skizzierten Rätselaufgabe gedacht war,
424, 428 (De)), womit er auf die causa essendi in ihren sondern vermutlich sogar an die Auflösung der Phi-
beiden Formen (Raum, Zeit) sowie die causa agendi losophie selbst im Angesicht des Nichts, wie es die
hinweist, die allerdings von seinem Lehrer Schulze letzten Kapitel des Hauptwerks durch den Hinweis auf
brieflich angezweifelt wurde (Brief vom 20.1.1814, zit. die Mystik andeuten.
nach Grisebach 1897, 72–74). Die heute zumindest
Mathematiker nicht mehr recht überzeugende Kritik 2) Metaphysik der Natur: Den 2. Teil macht »die Lehre
an der Euklidschen Methode wird skizziert (vgl. W 1, vom Dinge an sich« aus, in der dargestellt wird, was
105–110). Die Darlegung der 4. Klasse folgt dabei »diese Welt und alle Erscheinungen derselben«, die im
weitgehend der Dissertation (vgl. Diss, § 41 ff.). Der 1. Teil »bloß als Vorstellung betrachtet« worden wa-
eindrucksvolle, mit Hinweisen auf die große Tradition ren, »noch außerdem, also an sich sind« (VN I, 74
der Philosophie (Heraklit, Platon) gestützte Zwischen- (De)). Schopenhauer beginnt mit einer Erläuterung
abschnitt über die »Endlichkeit und Nichtigkeit« der des Begriffs der Metaphysik von Aristoteles über Wolff
Erscheinungen macht deutlich, inwiefern der Satz vom bis zu Kant, der »endlich die große Katastrophe« in-
Grund als »Prinzip aller Erklärung« auf die Welt der szenierte, »die ewig eine Weltperiode in der Geschich-
Vorstellung beschränkt bleibt. Dieser Grund-Satz er- te der Philosophie bleiben wird, weil sie »alle jene [sc.
weist sich schon jetzt als mögliche Klammer, die sich bisherige] Weisheit über den Haufen« stürzte, »und
um die uns vertraute Welt als Ganzes ziehen lässt. zwar so daß sie nie wieder aufstehn wird« (VN II, 18
Der letzte Abschnitt erläutert, was unter Wissen- (De)), wie er überschwänglich formuliert.
schaft überhaupt zu verstehen ist. Grundlage sind die Die Darstellung hält sich zunächst relativ eng an
Abschnitte 14 und 15 des Hauptwerks (vgl. W 1, 92– den Gang des Hauptwerks. Mathematik und Natur-
102 und 115–125). Der Unterschied von Wissen und wissenschaften können letztlich keinen Aufschluss
Wissenschaft, Geschichte und Philosophie wird erläu- über die »Bedeutung« der Vorstellungen geben. Erst
tert und durch eine Lehre von der Definition ergänzt der Wille, der neue »Grundbegriff der Metaphysik«,
(vgl. VN I, 508–515 (De)). Die Rolle der Anschauung gibt den »Schlüssel« an die Hand. Wille und Leib sind
als »Quelle aller Wahrheit, folglich auch die letzte identisch, der Wille ist unmittelbar leibhaft zu erfah-
Grundlage der Wissenschaft« (VN I, 515 (De); vgl. ren. Diese genuin »philosophische Wahrheit« unter-
VN I, 539 (De)) wird herausgestrichen, die Funktion scheidet sich von den Formen der wissenschaftlichen
der Urteilskraft bei der Übersetzung des anschaulich Wahrheit, die sich am Satz vom Grund orientieren.
Erkannten in Begriffe betont und durch Zusätze erläu- Alle anderen Objekte können »nach Analogie des Lei-
tert. Das »große Übergewicht des Willens über die Er- bes« beurteilt werden. Zur »näheren Nachweisung«
kenntnis« sei nicht nur theoretisch, sondern auch in trägt Schopenhauer seine an Kant angelehnte Charak-
Hinsicht auf das eigene Leben und die »eigne Lebens- terlehre vor, bevor er diese »Einsicht« auf die gesamte
klugheit« stets in Rechnung zu stellen (VN I, 523 f. Natur anwendet. Der Wille wird als neuer »Grund-
(De)). Hier finden sich erste Ansätze zu einer Glücks- begriff der Metaphysik« präsentiert, seine negativen
lehre (»Die Kunst, glücklich zu sein«), die erst viel spä- Eigenschaften (»Einheit, Grundlosigkeit, Erkenntnis-
ter in den »Aphorismen zur Lebensweisheit« in syste- losigkeit«) werden erläutert, bevor Schopenhauer die
matischer Ordnung der Öffentlichkeit vorgeführt Erscheinung des Willens in der Stufenfolge abwärts,
werden (s. Kap. 9.6). Der letzte Teil schließt mit der durch die ganze Natur, nachzuweisen unternimmt,
Skizze einer Wissenschaftslehre, in der die Einzelwis- über die Tiere und Pflanzen bis zur unorganischen
senschaften gemäß ihrer jeweiligen Antwort auf die Natur. Eine höchst anschauliche »Probe« stellt sein
Frage nach dem »Warum« einer bestimmten Gestal- über den Text des Hauptwerks (1. Auflage) weit hi-
tung des Satzes vom Grund zugeordnet werden, und nausgehender Exkurs zu den Kunsttrieben der Tiere,
176 II Werk

insbesondere zur »Republik der Bienen«, dar (VN II, briefliche Feststellung »Ich fand, daß Alles was unmit-
66–74 (De)); weitere Forschungsergebnisse werden telbar aus den Händen der Natur kommt, [...] hier so
immer wieder zur Verdeutlichung verwendet, so über ist, wie es eigentlich seyn soll: bei uns nur so, wie es zur
die Zoophyten bzw. »Pflanzenthiere« (VN II, 80 ff. Noth seyn kann« (GBr, 87), gilt in gewisser Weise auch
(De)) und den Bau der Pflanzen (VN II, 139–142 für die Werke der italienischen Kunst.
(De)), um nur einige zu nennen. Eine Rekapitulation Schopenhauer untersucht »das innre Wesen der
führt zur Kritik der falschen Naturansichten der Aris- Schönheit« in subjektiver wie objektiver Hinsicht. In
toteliker und Cartesianer. Das Programm einer Ar- enger Anlehnung an die Abschnitte des Hauptwerks,
beitsteilung zwischen Physiker und Philosoph wird ergänzt durch zahlreiche Literaturhinweise, erläutert
skizziert; ein anti-reduktionistisches Wissenschafts- er sein Verständnis der Ideen. Das »subjektive Korre-
programm muss sich auf den Grundsatz der Selbst- lat der Idee« (VN III, 188 (De)) ist dem Satz vom
erkenntnis des Willens stützen: »Wir müssen die Na- Grunde nicht mehr unterworfen, wird vielmehr ge-
tur verstehen lernen aus unserm eigenen Selbst, nicht läutert und »reines Subjekt des Erkennens« (VN III,
unser eignes Selbst aus der Natur« (VN II, 103 (De); 191 (De)). Die Ideen sind grundsätzlich von den Er-
vgl. HN I, 421). Deshalb müsse die 4. Klasse der Ob- scheinungen zu unterscheiden. In radikaler Verkür-
jekte des Satzes vom Grund als »Schlüssel« zur Natur- zung, das Ende des ganzen Cursus vorwegnehmend,
erkenntnis dienen, nicht umgekehrt. Die Stufen der wird schon hier die »Selbsterkenntnis« des Willens
Objektivation des Willens setzt er in Parallele zu Pla- und die darauf sich gründende »Bejahung oder Ver-
tons Ideen, die dann »in aufsteigender Linie« detail- neinung« als die »einzige Begebenheit« des Weltlaufs
liert und unter Benutzung u. a. der Vorlesungsmit- bezeichnet (VN III, 201 (De)). Wir betreten im Ästhe-
schriften höchst anschaulich dargestellt werden. Die tischen erstmals das »Gebiet der Freiheit« (Diss, 79).
»Einheit des Willens« legt den Gedanken einer all- Pointiert heißt es: »Ihr [sc. der Kunst] einziger Ur-
umfassenden Harmonie nahe, von dem ausgehend sprung ist Erkenntnis der Idee: ihr einziger Zweck,
sich die innere, auf den Organismus bezogene, und Mittheilung dieser Erkenntnis« (VN III, 202 (De)). Im
die äußere, auf die Selbsterhaltung zu beziehende Unterschied zur Wissenschaft ist »die Kunst überall
Zweckmäßigkeit darstellen lässt. Auch hier kann er am Ziel« (ebd.). Urheber der Kunst ist das Genie, des-
auf seine umfassenden, seit 1809 kontinuierlich be- sen Eigenarten eindrucksvoll – mit leichtem autobio-
triebenen naturwissenschaftlichen Studien zurück- graphischen Unterton – geschildert werden, bis hin zu
greifen. Die Schlusserläuterungen binden die vor- den Grenzbereichen von Wahnsinn und Melancholie.
getragene Metaphysik der Natur erneut zurück an den Das gelungene Kunstwerk hat eine höchst bedeutende
einen Gedanken eines Prozesses der »Selbsterkennt- kognitive Funktion, es ist ein »sehr mächtiges Erleich-
nis des Willens« in einer »Vorstellung im Ganzen« terungsmittel zur Erkenntnis der Idee« (VN III, 226
(VN II, 171 (De)), worunter die »gesamte anschauli- (De)). Nach dieser Skizze der »allgemeinsten Grund-
che Welt« zu verstehen sei, als »seine Objektität, seine linien der ästhetischen Erkenntnisart« widmet er sich
Offenbarung, sein Spiegel« (ebd.). Die am Satz vom der detaillierten Untersuchung des Schönen und Er-
Grund orientierten Fragen »Wozu?« und »Woher?« habenen. Von den beiden »unzertrennlichen Bestand-
haben für den Willen als Ding an sich weder eine Be- teilen« des Schönen wird zunächst der subjektive An-
deutung noch erlauben sie eine Anwendung auf die- teil mit einer durch verschiedene Zusätze angereicher-
sen. Damit markiert er noch einmal die Grenze der ten Darstellung des Erhabenen behandelt, auch hier
»wissenschaftlichen« Vorstellungswelt. ausführlich auf eigene ästhetische Erfahrungen zu-
rückgreifend. Die Darstellung des objektiven Anteils
3) Metaphysik des Schönen: Der 3. Teil der Vorlesung beginnt mit der These, dass im Grunde genommen für
ist »Metaphysik des Schönen« betitelt, die systema- ein Genie »jedes vorhandene Ding schön« sei, sofern
tisch gesehen das verbindende »Mittelglied« zwischen es als Repräsentant einer Idee verstanden werde (VN
der »Metaphysik der Natur« und der sich daran an- III, 255 (De)). Der sich anschließende Durchgang
schließenden »Metaphysik der Sitten« darstellt (VN durch die gestufte Reihe der Künste ergänzt immer
III, 176 (De)). Dieser Teil enthält die »Lehre von der wieder den Text des Hauptwerks durch anschauliche
Auffassung der Ideen, die eben das Objekt der Kunst Zusätze und Exkurse (z. B. zur Säulenordnung VN III,
sind« (VN III, 175 (De)) und lebt in hohem Maße von 268–275 (De)). Die Vorlesungstexte stellen einen ein-
den »ästhetischen Erfahrungen« der Italienreise zigartigen frühen Kommentar zum Drucktext des
1818/19, auf die immer wieder verwiesen wird. Die Hauptwerks dar. Im Abschnitt über die Dichtkunst
10  Spätwerk und Nachgelassenes 177

betont er die Bedeutung der »eignen Erfahrung« und Die Darstellung orientiert sich wiederum am Gang
Erkenntnis. Diese sei die »unumgänglich nöthige Be- des Hauptwerks, ohne dabei aber eine bloße Para-
dingung zum Verständnis sowohl der Poesie als der phrase zu sein. Als Ausgangspunkt wird versuchswei-
Geschichte: denn sie ist gleichsam das Wörterbuch der se der »Standpunkt der gänzlichen Bejahung des Wil-
Sprache, welche beide reden« (VN III, 325 (De)). Er lens zum Leben« genommen, in einer auf Nietzsche
bezieht sich in diesem Abschnitt unter anderem auf vorausdeutenden Passage. Themen wie Freiheit des
seine Mitschriften zu den Kollegien F. A. Wolfs (vgl. Willens, Reue, Wahlbestimmung werden behandelt,
VN III, 335 (De)). Umfangreiche Zusätze sind ferner die Charakterlehre wird – wie im Drucktext – durch
der Anschaulichkeit der Rede (vgl. VN III, 317–323 einen Exkurs zum Begriff des »erworbenen Karak-
(De)) und dem idealischen Charakter der dichteri- ters« erheblich erweitert, der dann im frühen Entwurf
schen Gestalten (vgl. VN III, 338–343 (De)) gewid- einer Eudämonologie (vgl. Schopenhauer 2009, Le-
met. Der Gipfel der Kunst wird mit dem »Trauerspiel« bensregel Nr. 3, 29–37 mit Hinweis auf W 1, 436–443)
erreicht, »sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wir- den Ansatzpunkt für Maximen zur Stärkung der Le-
kung, als auf die Schwierigkeit der Leistung« (VN III, bensklugheit für den »Weltgebrauch« und das »Welt-
344 (De)). leben« bildet. Prägnant heißt es: »Wer Alles seyn will,
Wenig später kommt die Zäsur zur Geltung, die im kann nichts seyn« (VN IV, 414 (De)). In den folgen-
Hauptwerk als Unterbrechung der Niederschrift qua- den Abschnitten wird das »Leiden des Daseyns« dar-
si-dramaturgisch inszeniert wird. Voraussetzung für gestellt und in seinen »wesentlichen Grundlinien«
ein Verständnis seiner Ausführungen über die Musik (VN IV, 431 (De)) untersucht. Das Ergebnis lautet:
sei, sich »oft mit anhaltender Reflexion« seiner Musik- »Die Tugend ist ein Fremdling« und die gegenwärtige
philosophie, vor allem aber der Musik selbst, gewid- Welt ein »Jammerthal, vallis lacrimarum« (VN IV,
met zu haben (vgl. VN III, 351 (De)). Nur dann werde 440 f. (De)), aus welchem eine »Erlösung wünschens-
die Sonderstellung der Musik erfasst, die im Unter- werth« erscheint (VN IV, 442 (De)). Schopenhauer
schied zu allen anderen Künsten nicht »Abbild der Er- gerät auf seinem Weg immer mehr in das Fahrwasser
scheinung«, sondern »unmittelbar Abbild des Willens des »ächten Christenthums«, für welches »Welt und
selbst« sei (VN III, 357 (De)). Nach dieser Betrach- Übel beinahe als Synonyme gebraucht werden« (VN
tung, im Abspann des 3. Teils, legt Schopenhauer sei- IV, 442 (De)). Die zwei Wege einer Bejahung des Wil-
nen Zuhörern den »Genuß dieser Kunst« (VN III, 363 lens zum Leben, Zeugung und Unrechttun, werden
(De)) sehr ans Herz: »Spielen, Trinken und dgl. über- ausführlich geschildert.
lassen Sie den Philistern. Wenden Sie lieber Geld und Die »philosophische Rechtslehre« wird durch eine
Zeit daran in die Oper und ins Konzert zu gehen. Es ist Zugabe über das »Sexualverhältniß« bereichert (VN
doch ungleich edler und geziemender wenn vier sich IV, 460–463 (De)). Die Behauptung »Kants Rechts-
setzen zu einem Quartett als zu einer Parthie Wist« lehre ist ein sehr schlechtes Buch« wird in Form eines
(VN III, 364 (De)). Exkurses begründet. Die Themen »ewige Gerechtig-
keit«, das Böse, Grausamkeit und Gewissensqual lei-
4) Metaphysik der Sitten: Der »Metaphysik der Sitten« ten über zur Skizze eines guten und edlen Charakters,
überschriebene IV. Teil ist der »ernsteste Theil« (VN der sich am Leitfaden des Satzes, »das fremde Indivi-
IV, 367 (De)). Der Dozent sieht sich hier der einzig- duum, das vor dir steht, das bist du selbst wirklich
artigen Möglichkeit gegenüber, die »Selbsterkenntnis und in Wahrheit, es ist ein Blendwerk, das dich dieses
des Willens« nicht nur abstrakt, schriftlich und objek- verkennen läßt« (VN IV, 529 (De)), orientiert. Diese
tiv darzulegen, sondern lebendigen Menschen gegen- »Selbsterkenntnis« mithilfe des tat tvam asi führt zur
über subjektiv, auf die jeweils eigene Erfahrung bezo- Einsicht, dass »alle Liebe Mitleid« ist (VN IV, 531
gen, zu erläutern. Sein Ziel ist es, ausgehend von der (De)). Mit dem letzten Kapitel, welches von der »Ver-
»Thatsache der ethischen Bedeutsamkeit des Han- neinung des Willens zum Lebens« in Entsagung und
delns« das »bloß Gefühlte zur deutlichen Erkenntniß Heiligkeit handelt, wird das Ziel der gesamten Vor-
zu erheben« (VN IV, 369 (De)). In-der-Welt-Sein so- lesung erreicht. Schopenhauer spricht von der »Re-
wie die Fremdheit in der Welt werden, so setzt er vo- signation«, worunter aber kein depressives Sich-Zu-
raus, von jedem »gefühlt«, aber sie finden erst in sei- rückziehen von der Welt verstanden wird, sondern
ner »deskriptiven« Lehre eine zureichende Erklärung: die aktive Neu-Auslegung (re-signatio) des Welt-
»Wir deuten nur, wir legen die Phänomene aus, wir zusammenhangs aufgrund seiner Willensmetaphy-
schreiben nicht vor« (VN IV, 547 (De)). sik, mit entsprechenden praktischen Konsequenzen.
178 II Werk

Dies versucht er den Zuhörern durch seine lebendige


Fiasko und Ausblick
Darlegung nicht nur klar zu machen, sondern ans
Herz zu legen. Dem Heiligen sei »kein Leiden mehr Dass Schopenhauer mit seiner Lehrtätigkeit »ein au-
fremd«, ihm sei »Alles gleich nahe« (VN IV, 539 genfälliges und selbstverschuldetes Fiasko« erlitten
(De)). Die Neigung zur Resignation wandle »zu Zei- hat, ist kaum zu bestreiten (Fischer 1934, 61). Kein
ten« einen jeden an, aber nicht jeder wende sich be- größerer Kontrast ist denkbar zwischen dem »Feuer
kanntlich von der Tugend zur Askesis. Für diese seien der Jugend«, der »Energie der ersten Konception«, die
die consilia evangelica charakteristisch, wobei Scho- er später für sein Hauptwerk reklamieren wird (W I,
penhauer einen besonderen Akzent dadurch setzt, XXII f.), und den amtlichen Hinweisen der Univer-
dass er die »freiwillige Keuschheit« – als schwerste sitätsakten, die immer wieder festhalten, dass die Vor-
Übung – an die erste Stelle rückt, gefolgt von »ab- lesung »ausgefallen« sei, da sich »gar keine Zuhörer«
sichtlicher Armut« und der »freiwilligen Auflegung oder bestenfalls drei gemeldet hätten (Virmond 2011,
körperlicher Beschwerden und Schmerzen« (VN IV, 440, 481, 588). Der Aschenhaufen dieser offiziellen
545 (De)). Seine Darstellung der Verneinung des Wil- Notizen ist aber zum Glück nicht das Einzige, was von
lens zum Leben, die »abstrakt und kalt« bleiben müs- dem gewaltigen Cursus übriggeblieben ist. Die Manu-
se, wird nun ergänzt durch eine Fülle von Beispielen skripte sind erhalten und sprechen eine höchst an-
von Weltüberwindern aus Orient und Okzident, die schauliche und eindringliche Sprache, wie sie sonst
– wie bereits im § 68 des Hauptwerks – eine »mysti- nirgendwo im Werk überliefert ist. Der Versuch, den
sche Internationale« auszumachen scheinen. Frühe »einen Gedanken« von der Welt als Selbsterkenntnis
Erfahrungen mit mystischen Büchern finden hier ih- des Willens nicht nur objektiv darzustellen, sondern
ren Niederschlag, die für die Konzeption des Werks subjektiv den Hörern nahezubringen, den Erkennt-
eine bedeutende, noch nicht hinreichend erforschte nisprozess als einen Lebensprozess vorzuführen, ist
Rolle gespielt haben dürften. Neben dem »erkannten« zumindest in der verschrifteten Form in einzigartiger
bietet das »verhängte« Leiden einen weiteren Weg zur Weise gelungen. Eine Edition, die zumindest die Qua-
Verneinung des sich selbst erkennenden Willens, der lität der Ausgabe von 1913 erreichen sollte, wäre zu
nach seiner Selbst-Erlösung strebt. Auch aus Zeitun- wünschen, nicht zuletzt, da Schopenhauers Vorlesun-
gen wird zitiert, u. a. um die Aktualität der Äußerun- gen auch für eine genauere Kenntnis der »Lehrverfas-
gen über den Selbstmord, der von der Resignation sung und -praxis der Berliner Universität«, so Heinz-
streng zu unterscheiden ist, zu belegen. Wie eng sich Elmar Tenorth (zit. nach Virmond 2011, VI), von In-
Schopenhauer hier am Christentum orientiert, zeigt teresse sein dürften.
seine Erläuterung der Lehre mithilfe von Dogmen der
christlichen Kirche, die ihn und seine Zuhörer aller- Literatur
dings nicht zum Kirchenportal, sondern an die Pforte Damm, Oskar Friedrich: Arthur Schopenhauer. Eine Biogra-
des Nichts führt. phie. Leipzig 1912.
Fischer, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre
Der Sinn des Hauptwerks lässt sich jetzt, da der [1893]. Heidelberg 41934.
Gipfel erreicht ist, in einem einzigen Satz zusammen- Frauenstädt, Julius/Lindner, Ernst Otto (Hg.): Arthur Scho-
fassen, der Anfang und Ende verknüpft: »Die Welt ist penhauer. Von ihm. Ueber ihn. Ein Wort der Vertheidigung
[...] Nichts«. Am Ende des laut Rudolf Malter soterio- von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und
logisch orientierten Weges heißt es auch in der Vor- Nachlassstücke von Julius Frauenstädt. Berlin 1863.
Grisebach, Eduard: Schopenhauer – Geschichte seines Lebens.
lesung plakativ: »Kein Wille; keine Vorstellung: keine
Berlin 1897.
Welt« (VN IV, 580 (De)). Ein letzter Passus schließt Gwinner, Wilhelm: Arthur Schopenhauer – Aus persönlichem
mit dem Hinweis auf die »Dunkelheit, welche über Umgang dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Cha-
unser Daseyn verbreitet ist« (VN IV, 583 (De)). Die rakter und seine Lehre. Hg. von Charlotte von Gwinner.
einzigen Studenten, die der Dozent Schopenhauer je Frankfurt a. M. 1963.
gehabt hat, werden mit dem mystisch getönten Hin- Hasse, Heinrich: Rezension von Arthur Schopenhauer,
»Philosophische Vorlesungen« 1913. In: Kant-Studien 19
weis in die Ferien entlassen, dass die »Finsterniß desto (1914), 270–272.
fühlbarer wird, je größer das Licht ist, weil es an desto Hübscher, Arthur: Schopenhauers Declamatio in laudem
mehr Punkten die Gränze der Finsterniß berührt« philosophiae. In: Schopenhauer-Jahrbuch 32 (1945–1948),
(VN IV, 584 (De)) – sofern Schopenhauer überhaupt 3–14.
noch die Gelegenheit hatte, seinen Cursus, der in der Hübscher, Arthur: Schopenhauer als Hochschullehrer. In:
Schopenhauer-Jahrbuch 39 (1958), 172–175.
Tat aufs Ganze ging, zu diesem Ende zu bringen.
10  Spätwerk und Nachgelassenes 179

Levi, Salomon: Das Verhältnis der »Vorlesungen« Schopen- Vorzug einer größeren Vollständigkeit: Sie stellt näm-
hauers zu der »Welt als Wille und Vorstellung (1. Auflage)«. lich einen wahren Briefwechsel, mit Reden und Ge-
Gießen/Ladenburg 1922. genreden, dar. Ihre schwache Seite ist aber der erste
Malter, Rudolf: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philoso-
phie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988. von Carl Gebhardt herausgegebene Band, den Arthur
Regehly, Thomas: Schopenhauer, der Weltbuchleser. In: Hübscher als »ein Musterstück editorischer Lieder-
Schopenhauer-Jahrbuch 73 (1992), 79–90. lichkeit, das bis heute seinesgleichen sucht« (GBr, III)
Schopenhauer, Arthur: Philosophische Vorlesungen. Im Auf- bezeichnet hat. Daher hat Hübscher die Deussen-Aus-
trage und unter Mitwirkung von Paul Deussen zum ersten gabe des Briefwechsels sogar als »Unglücksausgabe«
Mal vollständig hg. von Franz Mockrauer (= Sämtliche
(ebd.) bezeichnet. Aber andererseits werden in der
Werke, Bd. IX, X. Hg. von Paul Deussen). 2 Bde. München
1913 [De IX und De X]. Hübscher-Ausgabe, die sich als zuverlässiger darstellt,
Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, glücklich zu sein. Dar- nur die Briefe von Schopenhauer vollständig wieder-
gestellt in fünfzig Lebensregeln [1995]. Hg. von Franco gegeben, die Briefe an ihn werden nur gelegentlich
Volpi. München 42009. und auszugsweise im Kommentar berücksichtigt.
Schopenhauer, Arthur: Vorlesung über Die gesamte Philoso- Auf der Grundlage der Hübscher-Ausgabe und un-
phie oder die Lehre vom Wesen der Welt und dem mensch-
lichen Geiste. Hg. von Daniel Schubbe unter Mitarbeit von
ter Hinzuziehung anderer Quellen gaben Angelika
Judith Werntgen-Schmidt und Daniel Elon. 4 Bde. Ham- Hübscher und Michael Fleiter eine Auswahl in zwei
burg 2017 ff. thematisch gegliederten Bänden mit den Titeln Ein Le-
Schulze, Gottlob Ernst: Grundsätze der allgemeinen Logik. 2., bensbild in Briefen (Hübscher 1987) und Philosophie in
von neuem ausgearbeitete Ausgabe. Helmstädt 1810. Briefen (Hübscher/Fleiter 1989) heraus. Diese Bände
Stollberg, Jochen/Böker, Wolfgang (Hg.): »...die Kunst zu
gleichen den Hauptnachteil der Hübscher-Ausgabe
sehn« – Arthur Schopenhauers Mitschriften der Vorlesun-
gen Johann Friedrich Blumenbachs (1809–1811) (= Schrif- aus, indem auch die Briefe an Schopenhauer abge-
ten zur Göttinger Universitätsgeschichte, Bd. 3). Mit einer druckt sind. Dabei wird nicht nur die Deussen-Aus-
Einführung von Marco Segala. Göttingen 2013. gabe genutzt, sondern auch nachträglich gefundene
Virmond, Wolfgang (Hg.): Die Vorlesungen der Berliner Uni- Briefe, und es werden auch einige Briefe über Scho-
versität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen penhauer einbezogen (vgl. ebd., 406 f.). Allerdings ent-
Lektionskatalog sowie den Ministerialakten. Berlin 2011.
halten sie nur einen Teil der Briefe und bei diesen wie-
Thomas Regehly derum häufig nicht den vollen Text. Wegen der thema-
tischen Anordnung ohne Sachregister sind sie für wis-
senschaftliche Zwecke schwer zu handhaben. Diese
10.4 Briefe Ausgaben richten sich weniger an Forscher als an ein
breites Publikum, dem eine authentische und unter-
Der Briefwechsel Schopenhauers besteht insgesamt haltsame Einführung in das Leben und die Philoso-
aus 1121 Briefen: 505 Briefe, Briefstücke und Briefent- phie Schopenhauers geboten wird. Diesem Ziel dienen
würfe von Schopenhauer und 616 Briefe an ihn. Er ist auch das jeweils angefügte Glossar und die Erläuterun-
in drei verschiedenen Gesamtausgaben vorhanden. gen zu den Briefpartnern im zweiten Band von 1989.
Die erste erschien zwischen 1928 und 1942 in den Die dritte Gesamtausgabe der Briefe ist 2008 auf
drei letzten Bänden der Deussen-Ausgabe und ent- CD-ROM in Schopenhauer im Kontext III erschienen
hält insgesamt 866 Briefe: nicht nur 456 Briefe von (= BrW). Es handelt sich um die vollständigste Aus-
Schopenhauer, sondern auch 408 Briefe an Schopen- gabe des Briefwechsels, die alle Briefe von und an
hauer. Der erste Band, der den Briefwechsel bis 1849 Schopenhauer sammelt und zusätzlich zu den schon
versammelt, wurde von Carl Gebhardt herausgege- in der Deussen-Ausgabe veröffentlichten weitere 208
ben, der zweite Band, der den Briefwechsel aus dem Briefe enthält, die inzwischen entdeckt und im Scho-
letzten Jahrzehnt des Lebens Schopenhauers zusam- penhauer-Jahrbuch veröffentlicht wurden.
menstellt, und der dritte Band, der die kritischen Ap- Die meisten Briefe gehen auf die letzten Jahrzehnte
parate enthält, wurden von Arthur Hübscher heraus- des Lebens Schopenhauers zurück, als das System
gegeben (= De XIV, XV und XVI). schon aufgebaut war. Schopenhauer selbst schrieb
Die zweite vorhandene Ausgabe ist die von Arthur einmal, dass seine Briefe »keine neue[n] Gedanken«
Hübscher, die zuerst 1978, dann in der zweiten, um enthielten (BrW, B. 909, 22.12.1856). Deshalb ist nicht
zwei Briefe erweiterten Auflage 1987 erschienen ist zu erwarten, dass sich in Schopenhauers Briefwechsel
(= GBr). Sie enthält 505 Briefe von Schopenhauer. entscheidende Hinweise auf die Herausarbeitung sei-
Im Vergleich zu dieser hat die erste Ausgabe den ner philosophischen Lehren finden lassen. Es ist aber
180 II Werk

zweifellos der Fall, dass der Philosoph in einigen Fäl- Schopenhauer (vgl. Lütkehaus 1991; s. Kap. 1), die
len durch die an ihn gerichteten Fragen und Kritiken Auseinandersetzungen mit seinen Verlegern (vgl. Lüt-
gedrängt wurde, bestimmte Punkte seiner Lehre zu kehaus 1996) oder die Beziehungen des jungen Scho-
präzisieren und zu erläutern, so dass hier die Briefe penhauer zu Goethe (vgl. Zint 1919; Lütkehaus 1992;
auch eine wichtige Rolle für die Interpretation spielen. s. Kap. 19), sondern auch ein hervorragendes For-
Von besonderer Bedeutung sind dabei die Brief- schungsinstrument für das Studium der Verbreitung
wechsel mit Julius Frauenstädt und Johann August Be- der Schopenhauerschen Lehre in der Kultur seiner
cker. Becker hatte sich 1844 mit Fragen zur Lehre von Zeit und der Entstehung seiner Schule. Wenn wir zwar
der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben die Äußerung des ersten Herausgebers dieses Brief-
an Schopenhauer gewandt, worauf sich eine über ein wechsels, Carl Gebhardt, nach der »Schopenhauers
halbes Jahr währende Korrespondenz über zentrale Briefwechsel in seiner Gesamtheit [...] die Selbstbio-
Themen der Moralphilosophie wie Willensfreiheit, graphie Schopenhauers [ist]« (De XIV, V) als eine
Charakterlehre, das Kriterium moralischer Handlun- Übertreibung betrachten müssen, so können wir doch
gen und die Rolle des heiligen Asketen anschloss, de- Arthur Hübscher zustimmen, wenn er auf die Bedeu-
ren Intensität durchaus zur Klärung schwieriger Punk- tung des Briefwechsels Schopenhauers, besonders des
te in Schopenhauers Philosophie beiträgt (vgl. Hüb- letzten Jahrzehnts seines Lebens, für die Wirkungs-
scher/Fleiter 1989, 216 ff.). geschichte seines Werkes hinweist (vgl. GBr, VIII–X).
Mit Frauenstädt führte Schopenhauer 1852 aus Der Briefwechsel ist darüber hinaus eine wichtige
Anlass einer Kritik Karl Fortlages eine ebenso auf- Quelle für die Kenntnis der Schopenhauer-Schule
schlussreiche Korrespondenz über die Verneinung (s. Kap. 27). Schopenhauer nannte seine Anhänger, die
des Willens, die im Hinblick auf die methodologi- nicht über ihn schrieben, »Apostel«; wer für ihn die Fe-
schen Implikationen seiner ›immanenten Metaphy- der ergriff, war hingegen ein »Evangelist« (vgl. Gespr,
sik‹ in der Literatur fruchtbar gemacht wurde; aus die- 219). Während für das Studium der »Evangelisten«
sem Briefwechsel ist auch ein beträchtlicher Abschnitt selbstverständlich deren Schriften die Hauptquellen
in die Parerga und Paralipomena aufgenommen wor- darstellen, ist der Briefwechsel die einzige Quelle für
den (vgl. Koßler 1999, 176 ff., 192 ff.). unsere Kenntnis von den Persönlichkeiten der »Apos-
Bei Schopenhauers Briefwechsel haben wir es we- tel« wie Johann August Becker, den Schopenhauer als
der mit einer Geschichte eines Geistes zu tun, wie zum seinen »gelehrtesten Apostel« betrachtete, und Adam
Beispiel in dem Briefwechsel Nietzsches, noch können von Doß, den Schopenhauer den »Apostel Johan-
wir darin bedeutende Spuren der Entstehungs- nes« nannte. Ein günstiges Schicksal – wie Hübscher
geschichte seines Systems finden. Neben den autobio- schreibt (vgl. GBr, IV) – hat uns den Briefwechsel mit
graphischen Aufzeichnungen, die mit dem Manu- Johann August Becker und mit Adam von Doß in lü-
skript »Eis eauton« vernichtet wurden, finden wir im ckenloser Folge bewahrt. Auch die Briefwechsel mit
Briefwechsel nur zwei Selbstzeugnisse Schopenhau- den anderen Anhängern Schopenhauers Ernst Otto
ers: sein auf Latein geschriebenes »Curriculum vitae« Lindner, Carl Georg Bähr und Julius Bahnsen sind uns
aus dem Jahr 1813 (BrW, B. 130, 24.9.1813) und die ohne Lücken überliefert. Wir besitzen auch einen Brief
Notiz über sein Leben, die Schopenhauer 1851 an die und drei Brieffragmente an den »Urevangelisten«
Redaktion von Meyer’s Konversations-Lexikon sandte Friedrich Dorguth und alle Briefe Schopenhauers an
(BrW, B. 664, 28.5.1851). Außerdem gibt es noch sehr den »Erzevangelisten« Julius Frauenstädt sowie an das
wenige Zeugnisse über die Entwicklungsgeschichte »neue Apöstelchen« David Asher. Leider sind aber die
des Systems, wie zum Beispiel den Brief an die Mutter, Gegenbriefe verschollen oder vernichtet worden.
in dem Schopenhauer die Philosophie mit einer ho- Da die Anhänger Schopenhauers in ihren Briefen
hen Alpenstraße verglich (BrW, B. 126, 8.9.1811). an ihn Bezug auf Schriften – Bücher, Aufsätze, Rezen-
Daher sind die Aufzeichnungen aus dem hand- sionen – nahmen, die über seine Philosophie handel-
schriftlichen Nachlass der geeignetere Ort, um nach ten, gestattet uns der Briefwechsel tiefere Einblicke in
Spuren der Entstehungsgeschichte seiner Philosophie die Wirkungsgeschichte der Werke und der Lehre
zu suchen (s. Kap. 10.1; 10.3). Aber wir besitzen im Schopenhauers zu seiner Zeit und belegt die zuneh-
Briefwechsel Schopenhauers nicht nur die maßgebli- mende Bedeutung Schopenhauers in der philosophi-
che Quelle für viele biographische und persönliche schen Debatte nach 1851. Die Briefe an Frauenstädt
Kenntnisse über den Philosophen, wie zum Beispiel dokumentieren aber auch die Zweideutigkeit Scho-
über die stürmischen Verhältnisse in der Familie penhauers gegenüber seinem »Erzevangelisten«, den
10  Spätwerk und Nachgelassenes 181

er für die Bemühungen um die Verbreitung seiner und fragmentarisch ins Deutsche übersetzt. Erstmals
Lehre lobte und gleichzeitig wegen tatsächlicher oder am Ende des 20. Jahrhunderts lagen vollständige Fas-
angeblicher Mängel im philosophischen Verständnis sungen der Werke El Héroe (1637), El Discreto (1646)
rau tadelte: ein Verhalten, das bis zum Bruch im Jahr und El Criticón (1651/53/57) in deutscher Sprache vor.
1856 führte. Und schließlich bezeugt der Briefwech- Die erste Übersetzung auf Basis der spanischen Vor-
sel auch schon zu Lebzeiten die Existenz »jener stil- lage von Político (1672) wurde von Daniel Casper von
len Ketzergemeinde, welche Haym die ›wunderbaren Lohenstein (1635–1683) angefertigt, der darüber hi-
Heiligen‹ zu nennen pflegt« – wie Nietzsche einmal naus die Texte El Héroe und Oráculo manual y arte de
schrieb (KSA Briefe 2, 294) –, in der auch einige Frau- prudencia (1647) kannte (zu Daniel Casper von Lo-
en eine Rolle spielten. henstein, beinahe Zeitgenosse des aragonischen Jesui-
ten, und zum Schicksal des »El Político en Allemagne«
Literatur vgl. Briesemeister/Neumeister 1991, 233–248).
Estermann, Alfred: »Omisi hoc rescribere«. Die Geschichte Dieses frühe Interesse am Werk des Jesuiten in der
des letzten Schopenhauer-Briefs. In: Schopenhauer-Jahr- deutschen Literatur, wo man ihn vor allem als Theo-
buch 77 (1996), 21–50.
Fazio, Domenico M.: Arthur Schopenhauer. Carteggio con i
retiker des politischen Lebens wahrnahm, wurde al-
discepoli. 2 Bde. Lecce 2018. lerdings schnell durch die an den französischen Fas-
Gruber, Robert: Schopenhauers Briefwechsel mit Dorguth. sungen von Joseph François de Courbeville und Ame-
In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 3 (1914), 116– lot de la Houssaie orientierten Übersetzungen über-
120. lagert, die auch heute noch als Veröffentlichungen
Haßbargen, Hermann (Hg.): Dreizehn bisher unbekannte
vorliegen. Tatsächlich wurde das Interesse maßgeblich
Briefe Schopenhauers. In: Jahrbuch der Schopenhauer-
Gesellschaft 15 (1928), 211–239. überdeckt, weil sich sämtliche deutsche Übersetzun-
Hübscher, Angelika (Hg.): Arthur Schopenhauer. Ein Lebens- gen des 18. Jahrhunderts aus französischen Fassungen
bild in Briefen. Frankfurt a. M. 1987. speisten und somit durch Übersetzungsfehler ›abge-
Hübscher, Angelika/Fleiter, Michael (Hg.): Arthur Schopen- dämpft‹, um nicht zu sagen ›verstümmelt‹ wurden, die
hauer. Philosophie in Briefen. Frankfurt a. M. 1989. ihren Ursprung wiederum im französischen Klassizis-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
mus und im höfischen Leben hatten. Deshalb wurde
Würzburg 1999.
Lütkehaus, Ludger (Hg.): Die Schopenhauers: der Familien- Gracián vor allem als Autor einer »Hofliteratur« und
Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und als »Fürstenspiegel« wahrgenommen.
Johanna Schopenhauer. Zürich 1991. Es war Christian Thomasius (1635–1728), der sich
Lütkehaus, Ludger (Hg.): Der Briefwechsel mit Goethe und vermittelt über die französische Literatur mit dem
andere Dokumente zur Farbenlehre. Zürich 1992. Konzept des Höflings bzw. mit der Idee des honnête
Lütkehaus, Ludger (Hg.): Das Buch als Wille und Vorstellung.
Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold homme beschäftigte und dabei die Bedeutung des Spa-
Brockhaus. München 1996. niers Gracián erkannte, merkwürdigerweise um sich
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienaus- so mit der Allgegenwärtigkeit der französischen Kul-
gabe. Bd. 2. München 1986 [KSA Briefe 2]. tur in der Welt der deutschen Intellektuellen aus-
Schemann, Ludwig (Hg.): Schopenhauer-Briefe. Sammlung einanderzusetzen. Thomasius schätzte und behandel-
meist ungedruckter oder schwer zugänglicher Briefe von, an
te die Regeln des Jesuiten wie politische Aphorismen.
und über Schopenhauer. Leipzig 1893.
Zint, Hans: Zum Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Er analysierte nicht nur das Konzept des Höflings
Goethe. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 8 (courtisan), sondern auch das des guten Geschmacks
(1919), 184–200. (bon goût) in Verbindung mit den Sinnen, Zuneigun-
gen und Neigungen, der menschlichen Fassungskraft
Domenico M. Fazio / Matthias Koßler
und dem Willen (vgl. Thomasius 1687).
Nach einer Phase der Vergessenheit, einhergehend
mit einer Zensur seines dunklen und übertriebenen
10.5 Die Übersetzung von Graciáns Hand- Stils im 18. Jahrhundert, wird das Werk Graciáns von
orakel Arthur Schopenhauer mit dessen Übersetzung des
Handorakels neu entdeckt. Der Philosoph des Willens
Die deutsche Rezeptionsgeschichte von Baltasar Gra- erkennt in Gracián einen außergewöhnlichen Denker
ciáns (1601–1658) Werk und Denken ist überwiegend und Philosophen des menschlichen Lebens, wodurch
eine Geschichte von Übersetzungen. Seit dem das Werk des Spaniers nicht nur wegen seines Stils ins
17. Jahrhundert wird Gracián höchst unterschiedlich kulturelle Gedächtnis zurückgeholt wurde (er wurde
182 II Werk

als barocker Autor in der Tradition der Ästhetik des Andererseits gab es auch kritische Veröffentlichun-
deutschen Klassizismus bewundert), sondern ebenso gen wie die von Klaus Heger (1958), der behauptete,
als großer Denker der Schule der Weltklugheit und dass die Begriffe Graciáns im Handorakel falsch inter-
Lebensweisheit gewürdigt wurde. Die Übersetzung pretiert worden waren und dass die Gedanken dessel-
des Oráculo manual y arte de prudencia, die Schopen- ben unverständlich seien, jedoch im Licht von Scho-
hauer zwischen 1831 und 1832 anfertigte, erschien penhauers Werk zu ihrer Verständlichkeit fänden. In
nach dessen Tod im Jahr 1862 und ist bis heute eine dieser Linie befinden sich auch andere kritische Kom-
der am meisten verbreiteten Übersetzungen: Baltha- mentare, die zu bedenken geben, dass die in die mo-
zar Gracian’s »Hand-Orakel und Kunst der Weltklug- derne Sprache übersetzte Fassung die konzeptuellen
heit«. Aus dessen Werken gezogen von Don Vicencio Unterschiede zwischen einigen der wichtigsten Be-
Juan de Lastanosa, und aus dem spanischen Original griffe nivelliere. In seiner Interpretation von Graciáns
treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer Genieästhetik, Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gra-
(Leipzig: Brockhaus 1862). cián. Der »concepto« und seine logische Funktion
Es gibt immer noch nur wenige Studien, die sich (1985), stellt Emilio Hidalgo-Serna fest, dass Scho-
speziell mit dem Verhältnis zwischen Gracián und penhauer weder die Funktionen noch die begriff-
Schopenhauer befassen. Obwohl die bewanderten lichen Funktionsweisen einzelner wesentlicher Be-
Schopenhauer-Kenner und die Gracián-Spezialisten griffe wie Genie oder Klugheit analysiert habe und die
das Interesse Schopenhauers für den Jesuiten und die Übersetzung aus diesem Grund beliebig sei. Immer-
Relevanz seiner Übersetzung des Handorakels an- hin gibt es auch positive Kritiken und Meinungen wie
erkennen, haben sie nicht davon abgelassen, die be- die von Gerhart Hoffmeister (1976) oder Karl Vossler
sondere Beziehung zwischen den beiden Denkern mit (1935), die in Schopenhauers Text eine bewunderns-
einigen wenigen Hinweisen zu Stil, Pessimismus oder werte Übersetzung sehen, zumal unter Berücksichti-
zur praktischen Dimension abzuhandeln. Es gibt eini- gung der Schwierigkeit des Graciánschen Stils.
ge Studien, die das Verhältnis zwischen Gracián und Eine der letzten umfassenden Neubearbeitungen
Schopenhauer aus einer größeren Perspektive heraus stammt von Sebastian Neumeister, dessen Studie
untersuchen, indem sie deren pessimistische Sicht- »Schopenhauer als Leser Graciáns« (1991) eine pro-
weise, die praktische Weisheit und die nicht-rationa- funde Revision aller historischen und bibliographi-
listischen Züge vergleichen (vgl. Iriarte 1960; Jiménez schen Fakten hinsichtlich Entstehungskontext der
Moreno 1982; 1991; 1993; García Prada 1988; Villaca- Übersetzung und ihrer bisher stärksten Interpretatio-
ñas Berlanga 2004). Die ersten Arbeiten einiger deut- nen unternimmt (zu seiner Auseinandersetzung mit
scher Hispanisten haben zu Recht darauf hingewie- Gracián vgl. auch Neumeister 2003; 2004). Wir ver-
sen, dass die Wiederentdeckung von Denken und danken Neumeister auch die erstmalige Übersetzung
Werk Graciáns erst durch Schopenhauers Überset- von El Discreto (1996). In jüngster Zeit sind neue Stu-
zung möglich gemacht wurde. Jedoch wurden darü- dien zu konkreten Aspekten der Schopenhauerschen
ber hinaus weder Einfluss noch Rezeption des Jesuiten Übersetzung erschienen wie der Aufsatz von Heidi
– mit Ausnahme einiger vergleichender Studien zwi- Aschenberg (2006) und die Arbeiten von José Luis Lo-
schen dem Originaltext und der deutschen Überset- sada Palenzuela (2004; 2011). In dessen Werk Scho-
zung des Graciánschen Werks – innerhalb einer gat- penhauer traductor de Gracián wird der dialogische
tungsspezifischen Analyse betrachtet (der Hispanist und interpretative Wechsel von Fragen und Antwor-
Alfred Morel-Fatio war einer der ersten, der die Über- ten zwischen Schopenhauer und Graciáns Texten un-
setzung von Schopenhauer überprüfte und kritisch tersucht. Außerdem sind mehrere Kapitel folgenden
besprach, vgl. Morel-Fatio 1910). So wird beispiels- Themen gewidmet: Genese der Übersetzung, textuelle
weise in Karl Borinskis Werk Baltasar Gracián und die Situation, stilistisches Verhältnis und die Lesart, die
Hoflitteratur in Deutschland (1894) der unüberseh- Schopenhauer an das Handorakel anlegt, indem er es
bare Einfluss bei Schopenhauer zwar gewürdigt, ohne als Handbuch für Charakterbildung in der ›großen
dass dabei jedoch eine entsprechende Analyse erfolgt Welt‹ mittels praktischer Regeln der Klugheit auffasst.
wäre. Das gleiche gilt für die Monographie Gracians
Lebenslehre von Werner Krauss (1947), die gespickt ist Literatur
mit Verweisen auf die Überschneidungen der beiden Aschenberg, Heidi: Lo bueno, si breve, dos veces, bueno /
Denker und sich an einigen Stellen auf Begriffe und Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut. Zu Schopenhauers
Übersetzung des Oráculo manual. In: Klaus-Dieter Ertler/
Passagen aus Schopenhauers Übersetzung beruft.
10  Spätwerk und Nachgelassenes 183

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und Dokumentation der literarischen Beziehungen. Berlin Berlin 2003, 86–98.
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Jiménez Moreno, Luis: Presencia de Baltasar Gracián en filó- Elena Cantarino
(aus dem Französischen übersetzt von Jörg Bernardy)
III Einflüsse und Kontext
11 Asiatische Philosophien und 352). Im Folgenden werden nur die wichtigsten asia-
Religionen tischen Quellen und Einflüsse in drei Phasen sei-
nes Lebens aufgezeigt, wobei unser Hauptaugenmerk
Quellen aus der Zeit vor der Niederschrift von Scho-
Für die Bestimmung asiatischer Einflüsse auf Scho- penhauers Hauptwerk gilt.
penhauer ist es unerlässlich, die von Schopenhauer
selbst benützten Quellen zu untersuchen. Der Großteil
Erste Phase (1800–1819)
der Sekundärliteratur zu hinduistischen und buddhis-
tischen Einflüssen besteht hingegen aus Vergleichen Schon als Fünfzehnjähriger hatte Schopenhauer in
von Schopenhauers Philosophie mit heutigem Wissen Amsterdam einen lachenden Putai-Buddha aus China
über asiatische Religionen und Philosophien. Solche gesucht und stattdessen schöne Buddha-Statuen (»Pa-
Vergleiche können interessant sein, doch sie tragen goden«) gefunden (Lütkehaus 1988, 51; App 2010b,
nichts zur Frage der Einflüsse bei; denn zur Beant- 1–4). Ein gewisses Interesse an asiatischen Kulturen
wortung dieser Frage sind allein die von Schopenhau- zeigt sich auch in den ausführlichen Kollegheften des
er selbst benützten Quellen und das damalige Wissen Studenten von den Ethnologievorlesungen des Göt-
entscheidend. Das eklatanteste Beispiel für diesen to- tinger Professors und Indienspezialisten A. H. L. Hee-
ten Winkel der bisherigen Schopenhauer-Forschung ren (1760–1817; App 2003). Da notierte der Student
ist sicherlich Schopenhauers Lieblingsbuch, die latei- z. B., dass die Religion des Buddha u. a. in Japan und
nische Upanischadenübersetzung Oupnek’hat. Scho- bei den Birmanen herrsche, doch war es noch unklar
penhauer nannte dieses Werk bereits 1816, d. h. noch ob der Glaube der Lamas in Tibet und die »Religion
vor der Niederschrift seines Hauptwerkes, an erster des Fo« in China zur selben Religion gehören (ebd.,
Stelle der Haupteinflüsse: »Ich gestehe übrigens, dass 39). Das erste Zeichen eigenständigen Interesses an
ich nicht glaube, dass meine Lehre je hätte entstehen asiatischem Gedankengut ist Schopenhauers Ausleihe
können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre der beiden Bände von Julius Klaproths Asiatischem
Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen Magazin aus der Weimarer Bibliothek im Winter
konnten« (HN I, 422). 35 Jahre später bezeichnete 1813/14. Darin fand der frischgebackene Doktor der
Schopenhauer dieses 1801/02 erschienene lateinische Philosophie nicht nur eine deutsche Übertragung der
Werk gar als lesenswertestes Buch überhaupt: »Es ist frühesten Übersetzung eines buddhistischen Sutras
die belohnendeste und erhebendeste Lektüre, die (den (des 42-Kapitel Sutras) in eine westliche Sprache (App
Urtext ausgenommen) auf der Welt möglich ist: sie ist 1998a, 42 f.; 2010b, 6–12), sondern auch Friedrich Ma-
der Trost meines Lebens gewesen und wird der mei- jers Verdeutschung des Bhagavad Gita aus dem Eng-
nes Sterbens seyn« (P II, 436). Doch in der umfang- lischen (App 2006b, 58 f.), aus der Schopenhauer zwei
reichen Forschungsliteratur wurde der Einfluss dieses interessante Abschnitte exzerpierte (ebd., 68–75).
Werkes auf Schopenhauer bisher von ganzen zwei Au- Unter den nächsten asienbezogenen Ausleihen
toren untersucht (Piantelli 1986; App 2011), und sogar Schopenhauers im Frühling 1814 war bereits das Oup-
neueste Bücher über Schopenhauer und indisches nek’hat, die zweifellos einflussreichste asiatische Quel-
Denken basieren stattdessen auf modernen Upa- le Schopenhauers, deren tiefgreifender Einfluss auf die
nischadenübersetzungen und modernem Wissen Systementstehung und den für Schopenhauer zentra-
(Berger 2004; Kapani 2011; Cross 2013). Dies zeigt, len Willensbegriff Urs App in Schopenhauers Kompass
dass die Erforschung asiatischer Einflüsse kaum be- (2011) erstmals detailliert aufzeigte. Das lateinische
gonnen hat. Hübscher hat eine Liste der Orientalia in Oupnek’hat ist eine vom Übersetzer Anquetil-Duper-
Schopenhauers Privatbibliothek vorgelegt, die trotz ron äußerst reich annotierte und kommentierte latei-
einiger Unvollkommenheiten (z. B. bezüglich Sam- nische Übertragung von 50 Upanischaden, die nicht
melwerken und Schopenhauers Randschriften) noch direkt auf Sanskrit-Texten beruht, sondern auf einer
immer als Übersicht und Einführung in Schopenhau- 1656 entstandenen persischen Übersetzung dieser
ers asienbezogene Quellen dienen kann (HN V, 319– grundlegenden philosophischen Texte Indiens. Der
11  Asiatische Philosophien und Religionen 187

Initiator dieser persischen Übersetzung war der da- Mohammed: »Ich war ein verborgener Schatz und
malige Kronprinz der indischen Mughal-Dynastie, ich begehrte, erkannt zu werden« (App 2011, 105 f.).
Dara Shikoh (1615–1659), der erstgeborene Sohn von Prinz Daras Werk handelt vom Geheimnis des Ur-
Kaiser Shah Jahan und dessen Gattin Mumtaz Mahal, willens des verborgenen Einen Absoluten, sich zu of-
deren Grabmal der weltberühmte Taj Mahal in Agra fenbaren als Welt: maya als Schöpfungs-Wille. Diese
ist. Prinz Dara war seit seiner Jugend an islamischer All-Einheit spiegelt sich im Geist des Menschen, wo
Mystik interessiert, übte lange Jahre unter Anleitung die Welt als Illusion (maya) einer Vielfalt erscheint
von Sufi-Meistern und verfasste mehrere bekannte (ebd., 123 f.). In Schopenhauers erhaltenem Hand-
Werke über den Sufismus (ebd., 100–110). Die Upa- exemplar des Oupnek’hat finden sich zahlreiche
nischadenübersetzung mit dem Titel Sirr-i akbar (Das Randnotizen, welche klar seine Lesart solcher Ge-
große Geheimnis), die der Kronprinz mit Hilfe eines danken zeigen; so schrieb er beispielsweise auf Seite
hochkarätigen Teams von indischen Gelehrten und 395 des ersten Bandes, wo Dara die Mannigfaltigkeit
Mystikern anfertigte, besteht nicht nur aus ins Per- der Welt mitsamt aller Begriffe und Formen als Täu-
sische übersetzten Sanskrit-Upanischadentexten son- schung (maya) bezeichnet, »Ding an sich u. Erschei-
dern auch aus in den Text eingeflochtenen Sufi- nung« an den Rand (ebd., 112). Schopenhauers zahl-
Kommentaren des Prinzen sowie Erklärungen seiner lose Unterstreichungen der Worte »voluntas« (Wille)
gelehrten Mitarbeiter, die sich u. a. auf Sankaras ve- und »nolle« (nicht wollen) sowie sein Verständnis
dantische Upanischaden-Kommentare stützten. Die von »Brahm« als Wille sind Indizien dafür, dass
von Schopenhauer benützte lateinische Übersetzung Schopenhauers Konzepte des Willens und der Wil-
des persischen Sirr-i akbar, das Oupnek’hat (1801/02), lensverneinung auf dem Boden des Oupnek’hat ge-
enthielt wiederum fast zur Hälfte Kommentare und wachsen sind und dass dies ein Hauptgrund ist für
Erläuterungen von Anquetil-Duperron. So besteht seine Notiz von 1816 über den zentralen Einfluss der
nur etwa ein Drittel von Schopenhauers Lieblings- Upanischaden auf die Entstehung seines Systems
werk aus übersetztem Upanischadentext, was schla- (ebd. 208 f.; HN I, 422).
gend die Notwendigkeit des Studiums eben dieses la- Nach dem Kauf des Oupnek’hat im Sommer 1814
teinischen Werkes zeigt. Was die Bildung von Scho- studierte Schopenhauer in der Dresdener Bibliothek
penhauers Willensmetaphysik so grundlegend beein- zwischen November 1815 und Mai 1816 die ersten
flusste waren eben nicht die heute bekannten neun Bände der Asiatick Researches. Diese zwischen
Upanischaden, sondern das Werk eines begeisterten 1788 und 1807 erschienenen, umfangreichen Werke
Sufi-Mystikers und seines hochgelehrten indischen markieren den Anfang der modernen indologischen
Übersetzerteams, dessen lateinische Übersetzung An- Forschung. Sie standen im Indienschrank der Biblio-
quetil-Duperron für eine wörtliche Übersetzung der thek, in dessen Nähe auch K. F. C. Krause – ebenfalls
ältesten Veda-Weisheit Indiens hielt. Wie Meister ein passionierter Leser des Oupnek’hat – oft studierte.
Eckharts Bibelpredigten viel mehr als den Bibeltext Schopenhauer füllte ein ganzes Heft mit Auszügen aus
enthalten, so enthält auch das Oupnek’hat viel mehr den Asiatick Researches (App 1998b). Sie handeln u. a.
als die Upanischaden; und in beiden Fällen geht es von Schlüsselbegriffen wie maya und Brahm und
nicht an, den Text als verhunzte und kontaminierte Quellen wie dem Veda und den Upanischaden, aber
Heilige Schrift zu betrachten, dessen Leser Fälschern auch von indischen Philosophien wie Vedanta und Fi-
auf den Leim gegangen ist. Vielmehr gilt es, dieses guren wie Sankara und Buddha (ebd., 15–21). Als Bei-
komplexe Werk und nicht die von Schopenhauer spä- spiel mag Schopenhauers Exzerpt aus Band 5 dienen,
ter als »verschwebelt und vernebelt« bezeichneten di- welches seine Sicht von Brahm als universale Kraft
rekten Übertragungen der Upanischaden aus dem oder Wille bestätigte, die am unmittelbarsten durch
Sanskrit (P II, 422) zu untersuchen und dabei Scho- Introspektion erkennbar ist:
penhauers mit zahllosen Unterstreichungen und
Randschriften versehenes Handexemplar zu benützen »Ich meditiere über die überströmende Kraft, welche
(App 2011). Brahm selbst ist und Licht der strahlenden Sonne ge-
Mario Piantelli (1986) hat als erster den Stellen- nannt wird. [Ich bin] geleitet vom geheimnisvollen
wert des islamischen ishq im Oupnek’hat erkannt: Licht, das in mir wohnt, um zu denken. Genau dieses
das Urbegehren Allahs zur Selbstoffenbarung in der Licht ist die Erde, der feine Äther und alles, was in der
Weltschöpfung. Prinz Dara zitierte wiederholt den Schöpfung existiert; es ist die dreifache Welt, welche
berühmten Satz aus der Tradition des Propheten alles enthält was feststeht oder sich bewegt; es exis-
188 III  Einflüsse und Kontext

tiert innen in meinem Herzen, außen im Rund der Son- Auch über den Buddhismus machte Schopenhauer im
ne, und da ich eins und identisch bin mit jener überströ- Frühjahr 1816 umfangreiche Auszüge und Notizen,
menden Kraft, bin ich selbst eine strahlende Erschei- die sich vornehmlich auf Band 6 der Asiatick Re-
nung des höchsten Brahm« (ebd., 19; Übers. U. A.; Her- searches beziehen. Ihn interessierte u. a. eine birma-
vorh. von Schopenhauer). nische Erläuterung über das Nirwana (Pali: Nibbana,
früher Nieban) der Buddhisten:
Diesen Zugang über das Subjekt und das eigene Inne-
re hatte Schopenhauer bereits im Mai 1814, kurz nach »Wenn eine Person nicht mehr den Leiden von Schwe-
seiner ersten Ausleihe des Oupnek’hat, als »indische re, Altern, Krankheit und Tod ausgeliefert ist, dann wird
Methode« bezeichnet: gesagt, er habe Nieban erlangt. Kein Ding und kein Ort
kann uns eine gemäße Idee von Nieban geben: wir
»Die weisern Indier giengen vom Subjekt vom Atma, können nur sagen, dass die Befreiung von den oben-
Djiv-Atma, aus. Daß das Subjekt Vorstellungen hat, ist erwähnten vier Übeln und das Erlangen der Erlösung
das Wesentliche, nicht aber die Verbindung der Vor- Nieban ist« (App 2011, 181; Übers. U. A.).
stellungen unter einander. Wenn wir nach der Metho-
de der Indier vom Subjekt ausgehn, steht uns die Welt, Schopenhauers Exzerpte zeigen, dass ihn drei Jahre
mit sammt dem Satz vom Grund der in ihr herrscht, vor Publikation seines Hauptwerkes folgende Eigen-
mit einem Schlage da« (HN I, 107). heiten des Buddhismus interessierten: (1) die Identität
ihres Gründers; (2) die Seelenwanderung; (3) dass
Schon gut einen Monat später wurde diese »Methode perfekte Wesen nicht Götter, sondern Menschen sind;
der Indier« als eigene Methodik präsentiert, die es er- (4) dass es viele buddhistische Texte gibt; (5) dass der
laube, »das ganze Problem des empirischen Be- Buddhismus in Asien sehr verbreitet ist; (6) dass er ei-
wußtseyns [...] gleichsam beim Schopf« (HN I, 136) zu ne atheistische Religion ist; (7) dass er trotzdem eine
fassen. ausgezeichnete Ethik hat und (8) dass er Erlösung als
Ebenso aufschlussreich sind Schopenhauers Noti- Nirwana (Nieban) auffasst (App 2010b, 13 f.).
zen zu Colebrooke’s langem Essay über die Vedas in Auch die Ablehnung der positiven, begrifflichen
Band 8. Die deutschen Randnotizen des Philosophen Darstellung von Nirwana fand seinen Beifall: Man
zum kopierten englischen Text zeigen, dass er im könne dies nur negativ ausdrücken, nämlich als Ab-
Frühling 1816 sein bereits gut ausgearbeitetes System senz von Krankheit und Leiden (ebd.). Im Herbst 1816,
mit indischen Lehren im Einklang sah (App 1998b, wenige Monate nach seiner Nirwana-Entdeckung,
27–33). Schopenhauer fasste das Argument des Eng- schrieb Schopenhauer vom Ziel seiner frisch kon-
länders wie folgt zusammen: »Das, aus dem alle Dinge zipierten Willensmetaphysik: »Die Wendung, Auf-
geschaffen sind und wodurch sie leben, wenn sie ge- hebung des Willens ist also identisch mit der Auf-
boren werden; das, woran sie sich halten; und das, in hebung der Welt. Was übrig bleibt nennen wir Nichts,
welches sie übergehen: das suche, denn das ist Brahm« und gegen diesen Uebergang ins Nichts sträubt sich
(ebd., 31). Am Rand schrieb Schopenhauer als Kom- unsre Natur« (HN I, 411). Dies leitet den frühesten
mentar dazu: »Der Wille zum Leben ist die Quelle und Entwurf für die berühmte Schlusspassage des zwei Jah-
das Wesen der Dinge« (ebd.). Dies bestätigt, dass re später erschienenen Hauptwerkes ein. Während die
Schopenhauer Brahm, Parabrahma und verwandte Europäer kindisch mit Furcht reagieren und den »Ue-
Begriffe als Wille oder Wille zum Leben verstand und bergang ins Nichts« verdrängen, erklären die Inder –
dass seine Aussage von 1833 über die Wahl seines wie Schopenhauer – genau diesen Übergang zum Ziel
Schlüsselbegriffes glaubwürdig ist: und sie weichen dem Nichts nicht wie die Europäer in
der Sache aus, sondern nur in ihrer Wortwahl. Gemäß
»Ich habe das Ding an sich, das innre Wesen der Welt, Schopenhauer hätten die Inder ihre Erlösung, deren
benannt nach dem aus ihr, was uns am genausten be- Sicht er teilt, auch gleich ohne Umschweife »Nichts«
kannt ist: Wille. Freilich ist dies ein subjektiv, nämlich nennen können:
aus Rücksicht auf das Subjekt des Erkennens gewählter
Ausdruck: aber diese Rücksicht ist, da wir Erkenntniß »Auf diese Weise, nämlich durch Betrachtung der Hei-
mittheilen, wesentlich. Also ist es unendlich besser, als ligen [...] wollen wir den finstern Eindruck jenes Nichts,
hätt’ ich es genannt etwa Brahm, oder Brahma, oder das als das Ziel aller Tugend und Heiligkeit dasteht,
Weltseele oder was sonst« (HN IV (1), 143). und das wir, wie die Kinder das Finstre, fürchten, ver-
11  Asiatische Philosophien und Religionen 189

scheuchen, statt es zu umgehn wie die Indier, die an Wörterbuch von Morrison, die den Bezug des ersten
seine Stelle bedeutungsleere Worte setzen, die Brama- Prinzips der chinesischen Philosophie und Religion
nen, Resorbtion in den Urgeist und die Buddhisten Nie- zum Theismus, die Datierung des Buddha und die Po-
ban (siehe asiatick researches und Upnek’hat). Was larität betreffen (HN III, 55; App 2010b, 16–19). Im
nach Aufhebung des Willens übrig bleibt ist für die Jahre 1826 machte Schopenhauer jedoch eine Ent-
welche noch wollen freilich Nichts: aber für die deren deckung, die ihn die restlichen 34 Jahre seines Lebens
Wille sich gewendet hat, ist eben diese unsre reale beschäftigen sollte. Er schrieb in sein Notizbuch:
Welt, mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen –
Nichts« (HN I, 411; vgl. W I, 487; App 2006c und die »Im 7ten Band des Journal Asiatique Paris 1825 steht
fragwürdige Interpretation in Nicholls 1999). eine ziemlich ausführliche und überaus schöne Dar-
stellung des Lebens und der esoterischen Lehre des Fo
Im Vorwort zu seinem Hauptwerk erklärte Schopen- oder Budda, oder Schige-Muni, Schakia-Muni, welche
hauer dann, dass ein Leser, welcher »die Weihe uralter wundervoll übereinstimmt mit meinem System. Im
Indischer Weisheit empfangen und empfänglich auf- 8ten Band [1826] steht als Fortsetzung die exoterische
genommen« habe, auf »das allerbeste bereitet sei« für Lehre, die aber ganz mythologisch und viel weniger in-
das Verständnis seines Buches: »Ihn wird es dann teressant ist. Beides von Deshauterayes gestorben
nicht, wie manchen Andern fremd, ja feindlich an- 1795« (HN III, 161).
sprechen; da ich, wenn es nicht zu stolz klänge, be-
haupten möchte, daß jeder von den einzelnen und ab- Deshauterayes Artikel und Übersetzungen waren
gerissenen Aussprüchen, welche die Upanischaden schon ein halbes Jahrhundert früher entstanden und
ausmachen, sich als Folgesatz aus dem von mir mit- dürfen (zusammen mit der französischen Version des
zutheilenden Gedanken ableiten ließe, obgleich kei- von Schopenhauer schon 1813 gelesenen 42-Kapitel-
neswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu finden Sutras) als die frühesten in Europa veröffentlichten
ist« (W I, 12). Schopenhauer war überzeugt, dass er Übersetzungen chinesischer buddhistischer Texte gel-
nicht nur den Kern von Platos und Kants Philosophie ten (App 2010b, 20 f.). Noch als betagter Mann sollte
herausgeschält und dargestellt hatte, sondern auch je- Schopenhauer diese chinesische Buddha-Biographie
nen der indischen Upanischaden. Dieser Anspruch tief gerührt seinen Besuchern erzählen (Gespr, 104,
lässt sich bereits aus einer Notiz von Mitte 1816 erse- 147, 236, 311). Während die Deutschen sein Haupt-
hen, in welcher Schopenhauer die drei Haupteinflüsse werk und seine Philosophie ignorierten, sah er seine
auf die Bildung seiner Metaphysik in einem Schema Lehre nun nicht nur mit der ältesten Philosophie In-
verbindet (HN I, 392): diens in Einklang, sondern auch mit der anscheinend
größten Weltreligion, dem Buddhismus. Deshautera-
Allgemeines Einzelnes yes chinesische Quelle war das Werk Dazang yilan
Metaphysik Platonische Idee Das Werdende, (»Der buddhistische Kanon auf einen Blick«) aus dem
nie Seiende
Jahre 1157. Interessant ist u. a., dass sowohl das
Kants Ding an sich Erscheinung 1813/14 gelesene 42-Kapitel Sutra als auch dieser Text
Weisheit der Vedas Maja mit der chinesischen Zen-Tradition verbunden sind
(App 2010b, 10 f., 22 f.). In der »esoterischen Lehre«
Über chinesische Religionen und Philosophien wuss- des Buddha sah Schopenhauer eine perfekte Darstel-
te Schopenhauer um 1818 noch kaum mehr, als er in lung seiner Lehre von der Willensverneinung und des
Heerens Ethnologie-Vorlesung von 1811 und im Win- »Nichts« am Schluss seines Hauptwerks:
ter 1813/14 in Klaproths Asiatischem Magazin erfah-
ren hatte. »Mit meinen Buddha-Augen betrachte ich alle erfass-
baren Wesen der drei Welten: die Natur ist in mir, frei
aus sich selbst und aller Fesseln entledigt: ich suche ir-
Zweite Phase (1819–1836)
gendetwas Wirkliches in allen Welten, doch finde ich
Während in Schopenhauers Vorlesungsmanuskripten da nichts davon: und weil ich meine Wurzel ins Nichts
der frühen 1820er Jahre einige Themen asiatischer geschlagen habe, sind auch der Stamm, die Äste und
Philosophie etwas breiter ausgeführt sind, kam kaum die Blätter gänzlich vernichtet: wenn also jemand vom
Neues hinzu. Doch in seinem Notizbuch von 1822 fin- Unwissen befreit oder erlöst wird, ist er auch von Alter
den sich einige Zitate aus dem Chinesisch-Englischen und Tod befreit« (HN III, 305; Übers. U. A.).
190 III  Einflüsse und Kontext

Die Seelenwanderung – für Schopenhauer bereits schrieb er, »herrscht im größten Theile Asiens und
1817 »der gehaltreichste, bedeutendeste, der philoso- zählt, nach Upham, dem neuesten Forscher, 300 Mil-
phischen Wahrheit am nächsten stehende, von allen lionen Bekenner, also unter allen Glaubenslehren auf
Mythen die je ersonnen worden« und gar das »non diesem Planeten wohl die größte Anzahl« (N, 129).
plus ultra der mythischen Darstellung« (HN I, 479) – Schopenhauer sammelte auch fleißig neu erschei-
fand er in diesem Text ganz in seinem Sinne als Aus- nende Upanischadenübersetzungen, die er mit dem
druck eines Grundbegehrens dargestellt: »Ewig schon Oupnek’hat verglich und als schlechter bis unbrauch-
findet sich von Natur aus die Neigung zum Gut, also bar bezeichnete. Außerdem studierte er erste Überset-
Liebe, Habsucht und Begehren (Fleischeslust), in al- zungen von Texten des Sufismus (HN V, Nr. 1199,
lem, was geboren wird. Daher kommt die Seelenwan- 1200). Doch sein Hauptinteresse galt zunehmend dem
derung« (HN III, 305 f.; Übers. U. A.). Auch seine All- Buddhismus, mit dessen Lehren er zur Zeit der Nie-
Einslehre sah er von allen drei Religionen Chinas be- derschrift seines Hauptwerkes noch kaum bekannt ge-
stätigt und zitierte Deshauterayes: wesen war.

»Diese drei Sekten [Buddhismus, Taoismus und Kon-


Dritte Phase (1837–1860)
fuzianismus; U. A.] stimmen alle überein im Grund-
satz, dass alle Dinge nur eins sind, d. h. dass ihre For- Der für Schopenhauers Verständnis buddhistischer
men – gleich wie die Materie jedes Wesens ein Teil der Lehren sicherlich wichtigste Forscher war Isaak Jakob
ursprünglichen Materie ist – nichts anderes sind als Schmidt, ein in St. Petersburg arbeitender deutscher
Teile der universellen Seele, welche die Natur aus- Pionier der Buddhismusforschung. Schopenhauer in-
macht und welche im Grunde und in Wirklichkeit formierte sich in zahlreichen Abhandlungen und
nicht verschieden ist von der Materie« (HN III, 306; Übersetzungen dieses im mongolischen und tibeti-
Übers. U. A.). schen Buddhismus bewanderten Forschers (HN V,
Nr. 1183–1193) über die Philosophie des Mahayana-
1828 notierte sich Schopenhauer aus dem Asiatic Jour- Buddhismus (App 2008, 53–58), und ab dem 1844 er-
nal and Monthly Register den Satz »the mind of heaven schienenen zweiten Band seines Hauptwerkes häufen
is deducible from what is the will of mankind« (ebd., sich Lobesbezeugungen wie:
389) und fürchtete gar, er würde des Plagiates ange-
klagt, weil dies exakt die Grundidee seiner Philosophie »Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum
wiedergebe. Dies veranlasste ihn, ein Essay über die Si- Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem
nologie in sein Werk Ueber den Willen in der Natur von Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.
1836 (s. Kap. 7) aufzunehmen (App 2010b, 41 f.), in Jeden Falls muß es mich freuen, meine Lehre in so
dem er u. a. sein damaliges Wissen über chinesische großer Uebereinstimmung mit einer Religion zu se-
Philosophie, Religion und insbesondere den Buddhis- hen, welche die Majorität auf Erden für sich hat; da sie
mus ausbreitete. Der Hintergrund dieses Essays ist die viel mehr Bekenner zählt, als irgend eine andere«
»wundervolle Übereinstimmung«, die er im von Des- (W II, 187).
hauterayes übersetzten Zen-Text entdeckt und an-
schließend in Büchern und Artikeln über verschiede- Während Schopenhauer sein breit angelegtes Studium
ne Formen des Buddhismus bestätigt sah: im chinesi- indischer Religionen und Philosophien fortsetzte (HN
schen (HN V, Nr. 1172), mongolischen und tibetischen V, Nr. 1092–1095, 1104, 1115, 1116, 1119, 1127, 1129,
(Isaak Jakob Schmidt, ebd. Nr. 1186), nepalesischen 1130, 1141, 1161, 1162, 1210) und auch fleißig Über-
(Hodgson, ebd. Nr. 1128) und ceylonesischen (Upham, setzungen von chinesischen Texten sammelte (HN V,
ebd. Nr. 1204). Nach solcher Lektüre fühlte er sich Nr. 1107–1110, 1112, 1120, 1142, 1143, 1152, 1170–
1832 gar dem jungen Buddha verwandt: »In meinem 1173; App 2010b), studierte er erstaunlich viele solide
17ten Jahre[,] ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde pionierhafte Werke über den Buddhismus. Beson-
ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha ders wichtig waren – neben Schmidts Publikationen
in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und – Eugène Burnoufs richtungweisendes, auf Sanskrit-
Tod erblickte« (HN IV (1), 96). Das Essay über Sinolo- Texten beruhendes Buch über den indischen Buddhis-
gie in Ueber den Willen in der Natur hatte den Zweck, mus (HN V, Nr. 1102), die großen Aufsätze von Csoma
Schützenhilfe von Seiten der größten Religion der Welt de Körös über den tibetischen Buddhismus und des-
in Anspruch zu nehmen. Denn Buddhas Lehre, so sen Kanon, Friedrich Köppens Die Religion des
11  Asiatische Philosophien und Religionen 191

Buddha und ihre Entstehung (ebd., Nr. 1139) und die Volumes 1–9 of the Asiatick Researches. In: Schopen-
Werke von Robert Spence Hardy (ebd., Nr. 1121, hauer-Jahrbuch 79 (1998b), 11–33.
1122), welche ihn auch mit Schriften und Praktiken App, Urs: Notizen Schopenhauers zu Ost-, Nord- und Süd-
ostasien vom Sommersemester 1811. In: Schopenhauer-
des ceylonesischen Theravada-Buddhismus bekannt- Jahrbuch 84 (2003), 13–39.
machten. In Schopenhauers Werken der 1840er und App, Urs: Schopenhauer’s India Notes of 1811. In: Schopen-
1850er Jahre häufen sich lobende Hinweise auf diese hauer-Jahrbuch 87 (2006a), 15–31.
Religion, die ihm nun als die beste aller möglichen Re- App, Urs: Schopenhauer’s Initial Encounter with Indian
ligionen erschien. In der zweiten Auflage von Ueber Thought. In: Schopenhauer-Jahrbuch 87 (2006b), 35–76.
App, Urs: NICHTS. Das letzte Wort von Schopenhauers
den Willen in der Natur (1854) erweiterte er seine Liste
Hauptwerk. In: Stollberg 2006, 51–60 [2006c].
empfohlener Schriften über den Buddhismus dras- App, Urs: The Tibet of Philosophers: Kant, Hegel, and Scho-
tisch von 3 auf 23 (später kamen handschriftlich noch penhauer. In: Monica Esposito (Hg.): Images of Tibet in the
weitere dazu) und informierte seine Leser: 19th and 20th Centuries. Paris 2008, 11–70.
App, Urs: Schopenhauers Nirwana. In: Michael Fleiter (Hg.):
»Diese Religion, welche, sowohl wegen ihrer innern Die Wahrheit ist nackt am schönsten. Arthur Schopenhau-
ers philosophische Provokation. Frankfurt a. M. 2010a,
Vortrefflichkeit und Wahrheit, als wegen der überwie-
200–208.
genden Anzahl ihrer Bekenner, als die vornehmste auf App, Urs: Schopenhauer and China. A Sino-Platonic Love
Erden zu betrachten ist, herrscht im größten Theile Asi- Affair. In: Sino-Platonic Papers 200 (2010b), 1–160.
ens und zählt, nach Spence Hardy, dem neuesten For- App, Urs: Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philoso-
scher, 369 Millionen Gläubige, also bei Weitem mehr, phie. Rorschach 2011.
App, Urs: Required Reading: Schopenhauer’s Favorite Book.
als irgend eine andere« (N, 130).
In: Schopenhauer Jahrbuch 93 (2012), 65–86.
App, Urs: Schopenhauer’s Compass. An Introduction to Scho-
Das Oupnek’hat, Schopenhauers wichtigste Inspirati- penhauer’s Philosophy and its Origins. Will 2014.
on aus Asien und der Trost seines Lebens und Ster- Barua, Arati (Hg.): Schopenhauer and Indian Philosophy: A
bens, lag immer offen im Frankfurter Studierzimmer Dialogue between India and Germany. New Delhi 2008.
des betagten Philosophen. Doch dies war beileibe Barua, Arati/Gerhard, Michael/Koßler, Matthias (Hg.):
Understanding Schopenhauer Through the Prism of Indian
nicht sein einziger Trost. Während das Oupnek’hat Culture. Philosophy, Religion and Sanskrit Literature. Ber-
von immer mehr Forschern als unzuverlässig kritisiert lin/Boston 2013.
oder gar gänzlich ignoriert wurde, tauchte Schopen- Berger, Douglas: The Veil of Maya: Schopenhauer’s System
hauers Buddhastatue seinen Lebensabend in ein gol- and Early Indian Thought. Binghampton 2004.
denes Licht. Seine Lobeshymnen inspirierten schon in Cross, Stephen: Schopenhauer’s Encounter with Indian
Thought: Representation and Will and Their Indian Paral-
den 1850er Jahren Bewunderer wie Adam von Doß
lels. Honolulu 2013.
(Gespr, 149), Georg Herwegh (Gespr, 227) und Ri- Glasenapp, Helmuth von: Das Indienbild deutscher Denker.
chard Wagner zum Buddhismusstudium, und später Stuttgart 1960.
folgten die Theosophin Helena Blavatsky, Tolstoi und Gurisatti, Giovanni: Arthur Schopenhauer. Il mio oriente.
fast alle frühen Buddhisten Europas. Nachdem Scho- Milano 2007.
penhauer kurz vor seinem Tod Schmidts Aufsatz über Halbfass, Wilhelm: Indien und Europa – Perspektiven ihrer
geistigen Begegnung. Basel/Stuttgart 1981.
die höchste Weisheit (prajna paramita) des Buddhis-
Kapani, Lakshmi: Schopenhauer et la pensée indienne. Simili-
mus erhalten und gelesen hatte, kritzelte er unter das tudes et différences. Paris 2011.
Wort »Nichts« am Ende des Korrekturexemplares sei- Koßler, Matthias (Hg.): Schopenhauer und die Philosophien
nes Hauptwerks: »Dieses ist eben auch das Pratschna- Asiens. Wiesbaden 2008.
Paramita der Buddhaisten, das ›Jenseit aller Erkennt- Lütkehaus, Ludger (Hg.): Arthur Schopenhauer: Die Reise-
niß‹, d. h. der Punkt, wo Subjekt und Objekt nicht tagebücher. Zürich 1988.
Nicholls, Moira: The Influences of Eastern Thought on Scho-
mehr sind. (Siehe J. J. Schmidt, ›Ueber das Mahajana penhauer’s Doctrine of the Thing-in-Itself. In: Christo-
und Pratschna-Paramita‹).« pher Janaway (Hg.): The Cambridge Companion to Scho-
penhauer. Cambridge/New York 1999, 171–212.
Literatur Piantelli, Mario: La ›Mâyâ‹ nelle ›Upanishad‹ di Schopen-
Anquetil-Duperron, Abraham Hyacinthe: Oupnek’hat (id hauer. In: Annuario filosofico (1986), 163–207.
est, secretum tegendum). 2 Bde. Strassburg 1801 f. Stollberg, Jochen (Hg.): Das Tier, das du jetzt tötest, bist du
App, Urs: Schopenhauers Begegnung mit dem Buddhismus. selbst. Arthur Schopenhauer und Indien. Frankfurt a. M.
In: Schopenhauer-Jahrbuch 79 (1998a), 35–58. 2006.
App, Urs: Notes and Excerpts by Schopenhauer Related to
Urs App
192 III  Einflüsse und Kontext

12 Platon Platons publiziertes Gesamtwerk ist für eine Leser-


schaft außerhalb der ›Akademie‹, seiner Schule, ver-
Wie das Verhältnis Schopenhauers zu Platon gesehen fasst. Sein Alterswerk, das erheblich mehr Anfor-
wird, hängt von der Entscheidung des Lesers ab, der derungen an den Leser stellt als die früheren und mitt-
zwischen zwei ›Sprachen‹ Schopenhauers wählen und leren Werke, richtet sich allerdings an ein philoso-
das in der je anderen Vorgetragene als modern-kanti- phisch gebildetes Publikum, das jedoch auch nicht
sche bzw. traditionell-platonisierende Version verste- überfordert werden soll. So legt er in seinem später als
hen muss (vgl. Ingenkamp 1985, 1991) – wenn er nicht, Hauptwerk gelesenen Dialog Timaios seine Kosmolo-
wie das wohl durchweg der Fall sein dürfte, das sich so gie einem Pythagoreer, also dem Vertreter einer tradi-
stellende Problem in der Schwebe lässt. In diesem Bei- tionellen und unter Interessierten bekannten Rich-
trag wird der platonistische Aspekt der Philosophie tung, in den Mund. Aus Zeugnissen seines Schülers
Schopenhauers betont; eine aufgrund der anderen Le- Aristoteles und aus Mitteilungen späterer Autoren
seweise durchgeführte Analyse liegt in Rudolf Malters wissen wir, dass er im Schülerkreis Gedanken vortrug,
Hauptwerk vor (vgl. Malter 1991). Auch das Bild, das die sich sachlich zwar nicht von dem unterschieden,
man sich von Platon (428/27–349/48 v. Chr.) macht, was er einer breiteren Öffentlichkeit vorgetragen hat-
hängt von der Sichtweise ab: ob man ihn als Endpunkt te, wohl aber in der Form und in der Radikalität des
einer Tradition, also historisch, sieht, oder ob man den Ansatzes und, entsprechend, der Folgerungen über
späteren Platonismus in ihn hineinliest. Im letzteren das Veröffentlichte hinausgingen. Die Zeugnisse sind
Fall wird ihm, aufgrund einer Auswahl aus seinen Tex- von Konrad Gaiser (vgl. Gaiser 1963, 443 ff.) zusam-
ten, eine weitgehend geschlossene, nicht selten religiös mengestellt worden.
amplifizierte Lehre zugeschrieben, was dazu beigetra- Auf dem Gebiet der Ontologie ist es Platons Ziel,
gen haben dürfte, dass ihm früh das Attribut »göttlich« den offensichtlichen Willkürlichkeiten der meisten
beigelegt wurde (so schon von Cicero [106–43 v. Chr.], Philosophen vor ihm und dem erkenntnistheoreti-
De optimo genere oratorum § 17). Mit den (u. a. deut- schen Nihilismus der Sophistik (»Der Mensch ist das
lich differenzierenden) Worten »Plato der göttliche Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, und der
und der erstaunliche Kant« beginnt Schopenhauers nicht seienden, dass sie nicht sind«, so Protagoras von
erstes Werk (1813, vgl. W I, XII). Dergleichen auch Abdera) ein Ende zu setzen. Er knüpft bei seinem Ver-
noch später (vgl. z. B. Burckhardt 1953). Während der such an die Pythagoreer an. Diese hatten anhand der
Renaissance stellte man »divinus (göttlich)« nicht sel- Länge von Saitenabschnitten festgestellt, dass allen
ten als eine Art Titel zum Namen »Plato«. Tonabständen und Harmonien feste Zahlenverhält-
Die beiden Gebiete, auf denen Platon vor allem tä- nisse zugrunde liegen. Diese Entdeckung vor allem
tig war, waren die Staatslehre und die bei ihm un- ließ sie hoffen, »die Zahl« als das Wesen von »allem«
trennbar verbundenen Bereiche Erkenntnislehre und nachweisen zu können. Die Hoffnung der Pythago-
Ontologie (s. u. das »Liniengleichnis«). Auf beiden reer ist insofern auch die Hoffnung Platons, als auch er
Gebieten überzeugte er seine Zeitgenossen wenig. auf feste, exakt erfassbare Prinzipien, eigentlich An-
Sein Staatsentwurf wurde von ihm selbst im hohen Al- schauungsobjekte, baut, denen gemäß »alles« – für
ter revidiert; als Ontologe ließ er sogar seine nur in ihn, den zunächst wohl vor allem politischen Denker,
Ausnahmefällen vorgebildete Leserschaft an den besonders (für das Zusammenleben wichtige) Eigen-
Schwierigkeiten seiner Position, die er selbst sah, teil- schaften wie Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit,
nehmen und kritisierte sich, im Dialog Parmenides, umsichtige Klugheit – begriffen und reguliert werden
mit großer Offenheit. Sein Meisterschüler Aristoteles kann. Gleich mit der ersten Vorstellung seiner Haupt-
ging auf beiden Hauptfeldern andere Wege, löste sich lehre im frühen Mittelwerk weist er aber auch Ding-
bald aus Platons Schule und gründete eine eigene lichem, z. B. dem Menschen, dem Pferd und den Klei-
Lehr- und Forschungsstätte. dern (vgl. Phaidon 78D f.), solche Prinzipien zu. Diese
Alles, was Platon geschrieben hat, liegt uns vor. Mit Prinzipien nennt er eídē (d. h. Arten, wie etwas sich
Hilfe der Sprachstatistik kann die relative Chronologie darstellt: Gestalten, Formen, »Ideen«). Auf die un-
seiner Schriften festgelegt werden. Die kaum je wieder umgängliche Tatsache ihrer Existenz hat er seine Leser
erreichte Eleganz seiner Sprache ist immer allgemein im Frühwerk geduldig anhand von Einzelfällen vorzu-
anerkannt gewesen; sein pädagogisch-psychagogi- bereiten versucht. Hier kam ihm die »Hebammen-
sches Talent verdient Bewunderung; seine Nachwir- kunst« des souveränen Lehrers Sokrates zu Hilfe: So-
kung kann auch der Spezialist nicht überblicken (s. u.). krates führte seine Gesprächsteilnehmer durch ge-
12 Platon 193

schicktes Fragen zum Wissen über ihren Wissens- ton, fast ausführlicher als nötig, dar, dass der Künstler
stand, und d. h. regelmäßig dahin, dass sie das von nicht mit der Idee verbunden ist. Auffallend oft ver-
ihnen als gewusst Vorgetragene als nicht gewusst er- wendet er bei seiner Darlegung das komische Beispiel
kannten. Das Rätsel, wie man denn überhaupt wissen »Bettgestell« (so die Übersetzung Schleiermachers für
kann, löst Platon, nach knappen Hinweisen im Früh- das originale kliné, was ›Bett‹, aber auch ›Liegesofa‹, in
werk, dann nach längerer Einführung im Dialog Phai- der Antike ein Speisezimmermöbel, heißt und auch
don (vgl. 79 A–D): indem nämlich die Seele, die er- so, in diesem erhabenen Zusammenhang, auf die
kennt, ihrem Gegenstand, den »Ideen«, verwandt ist. Dauer schmunzeln lässt). Allein dies kann einen auf
An den Ideen orientiert sich auch das Leitungsgremi- den Gedanken bringen, dass der Sprecher seine Auf-
um seines Idealstaates, dem somit keine schädlichen fassung spöttisch gegen die entgegengesetzte vorträgt,
Fehleinschätzungen unterlaufen werden. Im Spätwerk die vielleicht ihm gegenüber zur Sprache gekommen
folgt die kritisch-verfeinernde Analyse der eigenen ist. Platon lebte zur Zeit des Höhepunkts der griechi-
Lehre und Ansätze zu einer Ausgestaltung des Ide- schen Dichtung und der bildenden Künste, und so lag
en«reiches« (letztere, mit dem Mittel der Diärese, d. h. es nahe, Meisterwerke des Pheidias oder eine Tragödie
der Zweiteilung von Begriffen, in den Dialogen Politi- des Sophokles auf direkter Ideenschau beruhen zu las-
kos und Sophistes). sen. So sieht es später wie selbstverständlich Cicero
Bei der Ideen«schau«, dem eigentlichen Erkennt- (Orator, 8 f.): Pheidias habe keinen lebenden Men-
nisakt, soll es sich um ein Erkennen handeln, das man schen vor Augen gehabt, als er seinen Zeus schuf,
mit dem Begreifen geometrischer Figuren vergleichen »sondern in seinem Geist befand sich eine alles über-
kann. Allerdings befinden sich die Ideen auf einem er- treffende Vorstellung [das lat. species ist als Überset-
kenntnistheoretisch »höheren« Niveau als alle Mathe- zung des griechischen eidos, Idee, zu verstehen] der
matica. Am Schluss des 6. Buches der Politeia nennt Schönheit. Diese betrachtete er, von ihr war er gefan-
Platon, im sogenannten »Liniengleichnis«, vier Stufen gen genommen: und so lenkte er seine Kunst und sei-
der Erkenntnis, denen vier Arten von Gegenständen ne Hand zur Ähnlichkeit mit ihr«. Platons Attacke, de-
entsprechen: Vermutung ↔ Schattenbilder und Bilder ren Ziel der Nachweis ist, dass der Künstler das vor
auf der Wasseroberfläche u. Ä., Glauben ↔ Gegen- ihm stehende, beliebige Bettgestell ›abmalt‹, und zwar
stände der sinnlichen Wahrnehmung (bis hierhin ha- (nur) so, wie es ihm erscheint, dass dagegen in Gottes
ben wir es mit dem Bereich der »Meinung« zu tun; es Geist, also als »Idee«, komisch genug, nur ›das‹ Bett-
folgt der Bereich des »Erkennens«), Verstandesein- gestell vorhanden ist (was Platon selbst so ausführt),
sicht ↔ »Messkunst«, Vernunfteinsicht ↔ Ideen- und dass es der Tischler war, der dies zu einem irdisch
erkenntnis. Zur klaren Trennung zwischen Ideen und vorhandenen einzelnen Bettgestell machte, liest sich
dem Bereich der Zahl und des Messens ist Platon wohl wie eine Verhöhnung der später allgegenwärtigen pla-
gekommen, weil er gesehen hat, dass sich die Glei- tonistischen Ästhetik, die er demnach wohl gekannt,
chung Harmonie = Zahlenverhältnis nicht leicht auf aber bekämpft hat.
»alles«, also etwa auf »Tapferkeit« und »Pferd«, bezie- Schopenhauers Ästhetik, der zufolge der künstleri-
hen lässt. Es ist offenkundig, dass im Zusammenhang sche Genius die (platonische) Idee schaut, baut also auf
mit dieser als Sublimierung der Ideenlehre verstande- einem bestimmten zwar alten, aber in Platons Augen
nen Abhebung von der Welt der Zahl und mit den unrichtigen Verständnis von Platons zentraler Lehre
(von Platon selbst gesehenen) Unklarheiten der Ide- (vgl. W II, 144, 552) auf. Nichtsdestoweniger kann
enlehre die Tür für das Gegenteil dessen offensteht, Schopenhauer das Recht beanspruchen, seine »Ideen«
was Platon vor Augen hat, nämlich für die Über- als »platonisch« zu verstehen und zu präsentieren: Er
höhung subjektiver, individueller Erleuchtung – und folgt so, wie gesehen, einer langen, respektablen Tradi-
dass folglich die Platonismen der Folgezeit (etwa die tion die man genauer ›platonistisch‹ nennen sollte. In-
Schillers in seinem Gedicht »Das Ideal und das Le- dessen kann man Schopenhauers Ästhetik, über einen
ben«) ihren Ursprung bei Platon selbst haben. Umweg, doch direkt mit Platon selbst verbinden: Pla-
Wie wenig Platon selbst dieser Tendenz Vorschub tons Schöpfergott erschafft diese Welt nämlich nicht
leisten will, zeigt sich an seiner Ästhetik, die das ge- aus nichts, sondern findet sein Material (Raum, Mate-
naue Gegenteil dessen vertritt, was ihr, dem gerade rie, Seele) vor und gestaltet nun den Kosmos aus einem
über die späteren »Platonismen« Gesagten entspre- ungeordneten Durcheinander, indem er auf die Ideen
chend, Schopenhauer und viele vor ihm unterstellen. blickt, und der Kosmos ist deswegen ›schön‹: So im Ti-
Zu Anfang des letzten Buches seiner Politeia legt Pla- maios (29 A), dem, wie gesagt, später als Hauptwerk
194 III  Einflüsse und Kontext

gelesenen Dialog. Platons ›Demiurg‹ (Erzeuger, Er- gesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen
schaffender) darf also dem Platoniker als Urkünstler Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber und in
erscheinen, und ein Platoniker, der dies so sieht, hat dieser Gegend [also ›auf Erden‹] zieht es umher der
ein, wohl auch von Platon anzuerkennendes, Recht, an Notwendigkeit gemäß. Deshalb muss man auch trach-
Platons Ästhetik vorbei, nun den Künstler die Idee ten, von hier dorthin zu entfliehen auf das schleunigs-
schauen zu lassen. Schopenhauer spricht im Übrigen te. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott so weit
wohl auch deswegen von »Platonischer Idee«, weil er wie möglich, und diese Verähnlichung besteht darin,
sich von Kollegen der eigenen Epoche distanzieren dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht«,
will. Auf diese Weise scheint er nämlich seinen nach ei-
gener Anschauung (vgl. G, 113; W I, 579) historisch heißt es im Theaitet (176 A f., Übers., wie durchweg,
korrekten Begriff der »Idee«, die, wie er es sieht, ihrem nach Schleiermacher). Dass hier die frühen christli-
wahren, Platon selbst noch unfassbaren, Wesen nach chen Denker Verwandtes hörten, versteht sich von
»Normalanschauung« (G, 134 Anm.), d. h. »Objekti- selbst; spätere, lutherische, Platoniker werden das
vation des Willens« ist, die sich »durch Zeit und Raum »Trachten« etwa durch »auf die Gnade hoffen« ersetzt
in unzählige Dinge« vervielfältigt (W I, 159), die auch haben, und von hier aus ist der Schritt zur Willensver-
»adäquate Objektität des Willens oder des Dinges an neinung »aus Gnade« so naheliegend, dass es nicht
sich« heißen kann, ja, »das ganze Ding an sich, nur un- wundernehmen könnte, wenn Schopenhauer seine
ter der Form der Vorstellung« ist (W I, 206), von dem- die Ethik umfassende Metaphysik, die »dieser Ge-
jenigen der »Engländer und Franzosen«, besonders gend« eine noch abträglichere Charakterisierung zu-
aber Kants und Hegels (so an den genannten Stellen, teilwerden lässt, als (in seiner Sicht) rationale Inter-
W I, 579; G, 113) unterscheiden zu wollen. pretation des Theaitet-Satzes verstanden hätte. Platon
In den übrigen Teilen des Schopenhauerschen empfiehlt Gerechtigkeit und Frömmigkeit als Weg aus
Werkes, also in der Erkenntnistheorie, der Metaphy- der Welt heraus; es ist leicht zu sehen, dass er hiermit
sik und der Ethik, wird, als willkommene Bestätigun- (auch) die Abwendung von egoistischen Interessen
gen eigenen Denkens, zwar verhältnismäßig oft auf meint, aber Schopenhauer, der Platons Ethik zwar
Philosopheme Platons verwiesen, aber eine Absicht, rühmend und – sicher gegen Platons Meinung – gar
das gesamte eigene Denken für den Leser kenntlich als nicht-eudämonistisch bezeichnet (vgl. E, 11; W II,
mit Platon zu verbinden, ist anhand dieser Passagen 174), kritisiert ihn (vgl. E, 226; P II, 368) in diesem
nicht festzustellen. Der Tradition gemäß entstammen Punkt, weil er »die Menschenliebe« noch nicht als Tu-
die Zitate meistens dem Mittel- und Spätwerk Platons. gend kenne (erst recht das Mitleid nicht, möchte man
Schopenhauers zahlreiche Platon-Zitate erweisen ihn, hinzufügen). Der Platoniker allerdings wird hier nur
Schopenhauer, als einen der Denker, die Platons Rang einen geringen Unterschied, möglicherweise nur von
nicht nur erkannt haben, sondern auch durch eigenes Worten, sehen und, wenn er auch Schopenhauerianer
Zeugnis achtungsvoll bestätigen wollen – mehr aber ist, Schopenhauer hier eher Klärung der Begriffe,
ist ihnen nicht zu entnehmen. Der an Platon orientier- nicht so sehr Innovation zuschreiben. Bedenkt man
te Leser wird allerdings mehr erwartet haben. Denn also die gelegentlichen Ausbrüche der Verachtung
die Berührungen der Schopenhauerschen Metaphysik Platons für das ›Hier‹, dann auch die Todessehnsucht
(im weiteren Sinne) mit dem Platonismus sind so of- des wahren Philosophen, wie sie im Phaidon geschil-
fenkundig, dass es leicht fällt, Schopenhauer, sicher- dert wird, und die damit zusammenhängende Ableh-
lich nicht mit seiner ungeteilten Zustimmung, unmit- nung des Leibes als eines Hindernisses beim Erken-
telbar in die platonistische Tradition einzugliedern nen (vgl. Phaidon, 64 A ff.), dann kann jedenfalls der
und den ersten Teil seines Werkes, die an Kant orien- Platonschüler nur feststellen, dass dies der Stoff ist, aus
tierte Erkenntnistheorie, als eine Art Zugeständnis an dem Schopenhauer seine Metaphysik entwickelt hat:
das Unvermeidliche zu deuten. Einige Beispiele: Zu
den Abschnitten im Werk Platons, die den spätantiken »Sondern es ist uns wirklich ganz klar, dass, wenn wir
Platonismus stark beeinflusst haben, gehören wenige, etwas rein erkennen wollen, wir uns vom Leib los-
aber ausdrucksstarke Passagen, in denen eine Art machen müssen und mit der Seele selbst die Dinge
Weltflucht empfohlen wird. selbst schauen müssen. Und offenbar dann erst wer-
den wir haben, was wir begehren und wessen Lieb-
»Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet wer- haber wir zu sein behaupten, die Weisheit, wenn wir
den, denn es muss immer etwas dem Guten Entgegen- tot sein werden [...]« (Phaidon, 66 D f.).
12 Platon 195

Was Platon vorträgt – könnte Schopenhauer also gel- ten beeinflussen lassen, lag dieser Gedanke nicht fern.
tend machen – ist bei ihm selbst auf ein unangreif- Was nun die Folgezeit angeht, so fällt es schwer, auf ei-
bares Fundament gestellt und mit der angemessenen ne der berühmtesten Kennzeichnungen der (neueren)
Begrifflichkeit beschrieben worden: Er hat den Schritt Philosophiegeschichte zu verzichten: Alfred North
»vom Mythos zum Logos« (Titel eines Werkes von Whiteheads Satz »The safest general characterization
Wilhelm Nestle [1940]) getan. of the European philosophical tradition is that it con-
Die Entwicklung des (hauptsächlich an den späten sists of a series of footnotes to Plato« (Whitehead
Platon anknüpfenden) Platonismus, dem Schopen- 1929, II 1.1). Das ist so sicher scherzhaft übertrieben;
hauer hier zugeordnet wird, nahm einen nur anfangs aber dass man (auch) die neuzeitliche europäische
zu einem Umweg führenden Verlauf. Die ersten Schü- Philosophie als eine ständige, wenn auch oft unbe-
ler Platons führten noch, so gut sie es konnten, die wusste, Auseinandersetzung mit der die Spätantike
›Akademie‹ im Geist des späten Platon weiter, aber beherrschenden und die christliche Theologie inten-
bald lenkte Arkesilaos (geb. wahrscheinlich 316/5) das siv beeinflussenden Philosophie Platons sehen kann,
Hauptinteresse auf die aporetisch endenden Frühwer- dürfte unbestreitbar sein. Das kürzlich erschienene
ke, in denen Sokrates für sicher gehaltenes Wissen als Buch von Werner Beierwaltes (2011) macht zusätzlich
unsicher entlarvt. Die Epoche der skeptischen Aka- Mut zu dieser Feststellung. Auch Schopenhauers ge-
demie setzte nun ein, die ihren Höhepunkt mit Kar- samte Metaphysik (also Ästhetik und Ethik ein-
neades (geb. etwa 214/3) erreichte. Nach der Zerstö- geschlossen) kann und darf man als Zeugin für White-
rung der Akademiegebäude bei der Einnahme Athens heads Auffassung der neuzeitlichen Philosophie lesen.
durch Sulla (86 v. Chr.) und der Vernichtung der Bi-
bliothek und aller anderen schriftlichen Unterlagen Literatur
begann mit Antiochos von Askalon (ca. 140/125 Asmuth, Christoph: Musik als Metaphysik. Platonische Idee,
v. Chr. – ca. 68 v. Chr.) der Mittlere Platonismus, wie Kunst und Musik bei Arthur Schopenhauer. In: Ders./
Gunter Scholtz/Franz-Bernhard Stammkötter (Hg.): Phi-
man die Zeit der Rückwendung auf das Denken des losophischer Gedanke und musikalischer Klang. Zum
späten Platon und seiner unmittelbaren Nachfolger Wechselverhältnis von Musik und Philosophie. Frankfurt
bezeichnet. Diese Periode mündete in den die Spät- a. M./New York 1999, 111–125.
antike beherrschenden Neuplatonismus, deren he- Beierwaltes, Werner: Fußnoten zu Platon. Frankfurt a. M.
rausragende Vertreter Plotin (gest. 270 n. Chr.) und 2011.
Burckhardt, Georg: Platon, der Göttliche (Werkauswahl).
Proklos (gest. 485 n. Chr.) waren. Im Jahre 529 schloß
Zürich 1953.
Kaiser Justinian die Akademie, was aber nicht zum Gaiser, Konrad: Platons ungeschriebene Lehre. Stuttgart 1963.
Ende (neu)platonischen Philosophierens führte: Der Ingenkamp, Heinz Gerd: Gestalt als Gestaltung. Zum Fra-
Aristoteleskommentator Johannes Philoponos etwa genkreis »Schopenhauer und der Platonismus«. In: Scho-
(gest. 575), von Geburt Christ, machte in seiner Schrift penhauer-Jahrbuch 66 (1985), 75–83.
Über die Ewigkeit der Welt Platons Timaios, gegen die Ingenkamp, Heinz Gerd: Platonismus in Schopenhauers
Erkenntnislehre und Metaphysik. In: Schopenhauer-Jahr-
aristotelische Auffassung, zu einer Art Beleg für die
buch 72 (1991), 45–66.
Erschaffung der Welt in der Zeit (vgl. Sorabji 1987). Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi-
800 Jahre später, in der frühen Renaissance, führten losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
ähnliche Argumentationen zur Ablösung des von der statt 1991.
Scholastik als Modell für eigenes Denken herangezo- Sorabji, Richard (Hg.): Philoponus and the Rejection of Aris-
genen Aristoteles durch den, wie man meinte, dem totelian Science. Cornell 1987.
Whitehead, Alfred North: Process and Reality. Cambridge
Christentum wesensverwandten Platon; da bereits die 1929.
antiken Christen ihre Theologie vom Platonismus hat-
Heinz Gerd Ingenkamp
196 III  Einflüsse und Kontext

13 Philosophie des Mittelalters stritten ist und insbesondere Schopenhauers Ansicht,


die Mystik sei erst »gegen das Ende der scholastischen
Mit seinen allgemeinen Urteilen über die Philosophie Philosophie und im Gegensatz derselben« (P II, 11)
des Mittelalters steht Schopenhauer ganz in der Tradi- aufgetreten, nicht zutrifft, so soll dennoch im Folgen-
tion der Aufklärung (vgl. Hallich 2002, 163). Das Mit- den der Schwerpunkt auf die klassischen scholasti-
telalter ist ihm das »Millenium der Rohheit und Un- schen Themen gelegt werden, zumal die Mystik schon
wissenheit« (P I, 187), in der Philosophie gekennzeich- an anderer Stelle behandelt wird (s. Kap. 14).
net durch den »disputirsüchtigen, beim Mangel aller Dass die Scholastik für Schopenhauer nicht nur un-
Realkenntniß, an Formeln und Worten allein zehren- ter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Religion inte-
den Geiste der Scholastiker« (W I, 57). Unter Berufung ressant war, lässt sich aus seiner Kenntnis mittelalterli-
auf den im Sinne der Aufklärung wirkenden Philoso- cher Texte ersehen. Im Unterschied zu Hegel, der in
phiehistoriker Wilhelm Gottlieb Tennemann sieht er seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie
das Charakteristikum der Scholastik in der »Vor- meinte, es sei wegen der Sprache niemandem zuzumu-
mundschaft der herrschenden Landesreligion über die ten, die »Philosophie des Mittelalters aus Autopsie zu
Philosophie, welcher eigentlich nichts übrig blieb, als kennen« (Hegel 1971, 541), las Schopenhauer die mit-
die ihr von jener vorgeschriebenen Hauptdogmen zu telalterlichen Schriften im Original und pries die latei-
beweisen und auszuschmücken« (W I, 500). nische Sprache dafür, dass durch sie »z. B. Skotus Eri-
Angesichts solcher Pauschalurteile überrascht es, gena aus dem 9. Jahrhundert, Johannes von Salesbury
dass Schopenhauer nicht nur einzelne mittelalterliche aus dem 12., Raimund Lullus aus dem 13., nebst hun-
Denker hoch geschätzt und intensiv studiert, sondern dert Andern [...] ganz nahe an mich heran[treten]«
sogar der Scholastik zentrale Begriffe seiner eigenen (P II, 518). Beim Tod Schopenhauers befanden sich in
Lehre entlehnt hat. Unter den beachteten Philosophen seiner Bibliothek Werke von Petrus Abaelard, Petrus
ist vor allem Johannes Scotus Eriugena zu nennen, der von Ailly, Albertus Magnus, Alexander von Hales, Bo-
»bewunderungswürdige Mann«, dem Schopenhauer naventura, Johannes Buridan, Johannes Duns Scotus,
einen eigenen Abschnitt in seinen »Fragmente[n] zur Johannes von Salisbury, Magister Martinus, Petrus
Geschichte der Philosophie« gewidmet hat (P I, 65–69; Lombardus, Raimundus Lullus, Wilhelm von Ock-
s. Kap. 9.2). Von der eingehenden Beschäftigung mit ham, Raimund von Sabunde und Thomas von Aquin;
seinem Hauptwerk De divisione naturae zeugt eine be- darüber hinaus werden in seinen Schriften und Auf-
reits 1828 von Schopenhauer erstellte »Chrestomathia zeichnungen Anselm von Canterbury, Roger Bacon,
Scotiana« (HN III, 461–469), die in der späteren Ver- Amalrich von Bena und David von Dinant erwähnt
öffentlichung verarbeitet wurde. Schon in den frühen (vgl. Koßler 1999, 171). Nur in wenigen Fällen lässt
Manuskripten zeigt sich auch eine differenziertere sich noch feststellen, wie intensiv sich Schopenhauer
Sicht, wenn er schreibt: »Aus den Scholastikern strahlt mit deren Schriften beschäftigt hatte. Eine wichtige se-
bisweilen theilweise die völlige Wahrheit hervor, nur kundäre Quelle für seine Kenntnisse der mittelalterli-
immer wieder verunstaltet und verdunkelt durch die chen Philosophie waren jedenfalls die Disputationes
christlich-theistischen Dogmen« (HN I, 256). metaphysicae des Neuscholastikers Francisco Suárez,
Natürlich muss man diese Bemerkung auch im die er während der Arbeit am Hauptwerk und auch
Hinblick auf die später entwickelte Bestimmung der später benutzte und als das »wahre Kompendium der
Religion als »Wahrheit im Gewande der Lüge« (P II, Scholastik« (G, 7) bezeichnete.
353; vgl. Schmidt 1986) betrachten. Auch ist zu be- Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Phi-
denken, dass die scholastischen Mystiker, denen auch losophie schlägt sich allenthalben in der Verwendung
Scotus Eriugena in weiterem Sinne zuzurechnen ist, scholastischer Begriffe und Formeln nieder (vgl. Aby
schon deswegen bei Schopenhauer in höherem Anse- 1930, 79–110). An zentraler Stelle der Ethik sieht
hen stehen, weil die Mystik für ihn ein kulturell und Schopenhauer den »bündigsten Ausdruck« für das
zeitlich übergreifendes Phänomen ist. So wird von Verhältnis von Charakter und Handlung in dem »von
Meister Eckhart, Johannes Tauler, dem »Frankfurter« den Scholastikern öfter ausgesprochenen Satz [...]:
und anderen christlichen Mystikern behauptet, dass operari sequitur esse« (E, 176) und bei der Erörterung
ihre Lehren weitgehend mit hinduistischen, moham- der Materie beruft er sich auf die scholastischen
medanischen, neuplatonischen und neuzeitlichen Grundsätze »forma dat esse rei« (W II, 50) oder »mate-
Formen der Mystik identisch sind. Wenn auch die Ge- ria appetit formam« (W II, 352). Die Idee wird mit der
genüberstellung von Mystik und Scholastik heute um- »forma substantialis« (W I, 249) gleichgesetzt, und die
13  Philosophie des Mittelalters 197

Zeitlosigkeit der Gegenwart ist ihm »das Nunc Stans die Scholastiker diesen Ausdruck nahmen« (E, 267).
der Scholastiker« (W I, 329). Weiter findet er zur Er- Dass letzteres nicht bedeutet, Schopenhauer habe sich
läuterung der Wirksamkeit der Motive den »sehr gu- nur oberflächlich mit dem Problem der Individuation
ten Ausdruck der Scholastiker, causa finalis movet non im Mittelalter beschäftigt und von ihm »nichts als den
secundum suum esse reale; sed secundum esse cogni- Ausdruck entlehnt« (Aby 1930, 40 ff.), zeigen die Um-
tum« (W I, 348), und für Anschauung und Begriff die stände, unter denen der Begriff in den handschriftli-
Bezeichnungen substantia prima und substantia se- chen Aufzeichnungen auftaucht.
cunda (W II, 76). Eine gewisse Rolle in der Lehre von Die erste Erwähnung findet das principium indivi-
der Verneinung des Willens zum Leben, jedoch ohne duationis 1815 als »ein Hauptstreitpunkt der Scholasti-
expliziten Bezug auf ihre Verwendung in der mittel- ker« (HN I, 282). In diesem Zusammenhang wird es
alterlichen Philosophie, spielen die Begriffe »nolle« bereits durch Raum und Zeit, die Formen der Sinnlich-
und »noluntas« (vgl. Koßler 1999, 175 ff.; Riconda keit, definiert. Einen anderen Ausdruck für die Sinnen-
1972). Neben derartigen postiven Bezugnahmen auf welt als scheinhafte, als »Wahn«, hatte Schopenhauer
die mittelalterliche Philosophie gibt es freilich auch aber schon ein Jahr früher in den Upanishaden ent-
konkrete Kritik, etwa an den veritates aeternae (W I, deckt, nämlich »Maja« (HN I, 104; s. Kap. 11). Kurze
39) oder den quidditates (W I, 166). Zeit darauf wird dieser Begriff mit dem Materialismus
Während diese Beispiele vor allem von der Bildung (von Giordano Bruno) in Verbindung gebracht (vgl.
Schopenhauers auch auf dem Gebiet der mittelalterli- HN I, 136) und schließlich auf das Verhältnis zwischen
chen Philosophie Zeugnis geben und eher der Illus- Idee und Erscheinung in Raum und Zeit bezogen (vgl.
tration oder auch Präzisierung seiner Gedanken die- HN I, 225). 1816 werden ›Maja‹ und principium indivi-
nen, gibt es wenigstens zwei Bereiche, in denen man duationis in eins gesetzt (vgl. HN I, 389). In den folgen-
von einer konstruktiven Aufnahme mittelalterlicher den Jahren beschäftigt sich Schopenhauer u. a. mit den
Motive in die eigene Lehre sprechen kann: die Frage Disputationes metaphysicae des Suárez, insbesondere
des Individuationsprinzips und das Problem der Uni- mit sectio 3 der fünften Disputation (vgl. Koßler 1999,
versalien. Im Folgenden sollen diese Einflüsse ein- 171, 214 f.), von der er im Hauptwerk schreibt, dass
gehender betrachtet werden. man in ihr die »Grübeleien und Streitigkeiten der
Scholastiker« (W I, 134) über das principium indivi-
duationis versammelt finde. Interessant ist nun, dass er
Principium individuationis
sich nur auf diesen Abschnitt bezieht, in dem die haupt-
Die Verwendung des für die scholastische Philosophie sächlich von Thomas von Aquin und den Thomisten
paradigmatischen Begriffs principium individuationis vertretene Auffassung von der materia signata als prin-
stellt die auffälligste Reminiszenz an das mittelalterli- cipium individiationis erörtert wird. Bedenkt man, dass
che Denken dar, weil er in Schopenhauers Lehre von Schopenhauer seinen Begriff von Materie als Vereini-
zentraler Bedeutung ist und dementsprechend häufig gung von Raum und Zeit und als Sichtbarkeit des Wil-
auftaucht. Schopenhauer führt ihn als Bezeichnung lens ab 1814 nach und nach entwickelt hat, dann kann
für die Anschauungsformen Raum und Zeit ein, inso- man sich vorstellen, dass die mittelalterliche Lehre von
fern sie bewirken, dass das einheitliche Wesen in einer der Materie als Individuationsprinzip in diesem Zu-
Vielzahl von Gestalten erscheint: sammenhang und auch für die Präzisierung dessen,
was den ›Schleier der Maja‹ ausmacht, größere Beach-
»[I]n dieser [...] Hinsicht werde ich, mit einem aus der tung fand (vgl. Koßler 2011, 24 ff.). Die klassische De-
alten eigentlichen Scholastik entlehnten Ausdruck, finition des principium individuationis als »materia,
Zeit und Raum das principium individuationis nennen, quae facit formam esse hic et nunc [die Materie, die
welches ich ein für alle Mal zu merken bitte. Denn Zeit macht, dass die Form hier und jetzt ist]«, etwa bei Al-
und Raum allein sind es, mittelst welcher das dem We- bertus Magnus (Physica III,2,12), entspricht ganz der
sen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als Bestimmung Schopenhauers, nach der das Eine als
verschieden, als Vielheit neben und nach einander er- Vielheit »neben und nacheinander erscheint«. Es lässt
scheint« (W I, 134). sich im Einzelnen auch zeigen, dass viele Aspekte der
um den Begriff der Materie kreisenden mittelalterli-
An einer anderen Stelle fügt er noch hinzu, dass er den chen Diskussion des principium individuationis auch
Begriff des principium individuationis verwende, »un- bei Schopenhauer auftauchen, und möglicherweise ist
bekümmert, ob dies genau der Sinn sei, in welchem sein für die Neuzeit ungewöhnlich differenzierter Ma-
198 III  Einflüsse und Kontext

teriebegriff davon auch beeinflusst (vgl. Koßler 1999, ontologischen Gleichrangigkeit der Universalien und
213–308; 2011, 33 ff.; Brandão 2008, 104 ff.). der Individuen ausgehen, wie etwa die des Johannes
Die Annahme eines Individuationsprinzips hat nur Duns Scotus. Ihn scheint nur die einen Universalien-
Sinn auf der Grundlage eines ontologischen Vorrangs realismus voraussetzende Lehre von der Materie als
des Allgemeinen: Wenn etwas zu dem Wesen der Din- Individuationsprinzip zu interessieren, die er zur Er-
ge hinzukommen muss, damit es als Vielheit von In- klärung der vielfältigen Erscheinungsform der Ideen
dividuen erscheint, dann ist das Wesen ursprünglich mehr oder weniger – natürlich auf der dem Mittelalter
einheitlich und allgemein. So hängt die Frage der In- fremden transzendentalphilosophischen Grundlage –
dividuation unmittelbar mit dem Universalienstreit übernimmt. Andererseits ist seine Begriffslehre ein-
zusammen, der, wie Schopenhauer auch in seinen deutig nominalistisch, wenn er Begriffe als »Vorstel-
»Fragmente[n] zur Geschichte der Philosophie« be- lungen von Vorstellungen« (W I, 48) definiert, die
merkt (P I, 70 f.), charakteristisch für das Mittelalter durch die Vernunft gebildet werden, indem sie »von
ist (vgl. Koßler 2011, 19 ff.). Der Streit dreht sich um den verschiedenen Eigenschaften der Dinge Einiges
den ontologischen Status des Allgemeinen (der Uni- fallen läßt und Anderes behält« (G, 116), und die daher
versalien) und spielt sich zwischen den Extremen des allen Gehalt von der anschaulichen Erkenntnis der
Realismus und des Nominalismus ab. Ganz grob ge- Einzeldinge haben (vgl. W I, 41). Das eigentümliche an
sagt, wird im Realismus angenommen, dass allgemei- der Position Schopenhauers ist nun, dass er diesen No-
ne Entitäten, Ideen (z. B. Mensch), das eigentlich Rea- minalismus und einen extremen Realismus, der die
le sind, während die Einzeldinge (z. B. dieser Mensch) Einzeldinge zu bloßem Schein und Trug erklärt, für
nur deren Abschattungen darstellen; umgekehrt sind gleichermaßen berechtigt hält, jenen in Beziehung auf
für den Nominalismus allein die Individuen real, All- die Begriffe, diesen als »Erweiterung« der platonischen
gemeines kommt nur dadurch zustande, dass viele Ideenlehre (P I, 70).
verschiedene Dinge mit einem und demselben Na- Schopenhauer unterscheidet also zwei Arten von
men bezeichnet und so im Denken unter einen ge- Universalien: »Die Idee ist die, vermöge der Zeit- und
meinsamen Begriff gebracht werden. Im ersten Fall Raumform unserer intuitiven Apprehension in die
sind die Universalien ante rem (vor dem Ding) vor- Vielheit zerfallene Einheit: hingegen der Begriff ist die,
handen, im zweiten post rem (nach dem Ding). Die mittelst der Abstraktion unserer Vernunft, aus der
meisten mittelalterlichen Denker nehmen in der Vielheit wieder hergestellte Einheit: sie kann bezeich-
Nachfolge von Aristoteles eine zwischen den Extre- net werden als unitas post rem, jene als unitas ante
men vermittelnde Position ein, die als »gemäßigter rem« (W I, 277). Auch wenn er hier nicht von Univer-
Realismus« bezeichnet wird und eine ontologische salien, sondern von der Einheit spricht, ist die Anspie-
Gleichrangigkeit zu halten sucht, indem die Univer- lung auf die Positionen des Realismus und Nominalis-
salien in re (in dem Ding) angenommen werden. Am mus deutlich. In einer Erläuterung zu der zitierten
Ende des Mittelalters setzt sich der Nominalismus Stelle heißt es denn auch, man könne »in der Sprache
durch und wird bestimmend für den neuzeitlichen der Scholastiker, die Ideen als universalia ante rem, die
Empirismus. Umso merkwürdiger mutet die Stellung Begriffe als universalia post rem bezeichnen« (W II,
an, die Schopenhauer als der Empirie verpflichteter 418 f.; vgl. HN III, 308). Der mittelalterliche Realismus
Denker zum Universalienstreit einnimmt. habe auf einer Verwechslung der platonischen Ideen
mit den Begriffen beruht und sei vom Nominalismus
überwunden worden. In der Tat aber ging es im Uni-
Universalia ante rem und universalia post rem
versalienstreit um den ontologischen Status des All-
Suárez, den Schopenhauer als Quelle seiner Kenntnis- gemeinen und Individuellen überhaupt. Dass Begriffe
se über die scholastische Diskussion des principium in- auf Abstraktion beruhen, hatte niemand bestritten,
dividuationis anführt, lehnt in dem genannten Werk und Schopenhauer selbst erwähnt die auf Aristoteles
(Disputatio V, sectio 6,1) selbst ein solches Prinzip und zurückgehende mittelalterliche Lehre von den sub-
damit den Universalienrealismus ab. Er zieht damit für stantiae primae und den substantiae secundae (W II,
sich die Konsequenz aus diesen Diskussionen, die cha- 76), den realen Wesen und den von ihnen abstrahier-
rakteristisch für die neuzeitliche Auffassung ist, näm- ten Begriffen. Die von der Aristoteles-Rezeption be-
lich dass die Einzeldinge real sind. Diese Ansicht des stimmte hochmittelalterliche Diskussion drehte sich
Autors interessiert Schopenhauer aber so wenig wie um die Frage, ob in den realen Wesen, die einzeln
die anderen von ihm referierten Thesen, die von einer wahrgenommen werden, dennoch auch etwas All-
13  Philosophie des Mittelalters 199

gemeines liegen muss, das durch das Abstrahieren von salienfrage: »Eben so sind eigentlich nur die Ideen;
Merkmalen im Begriff freigelegt wird; denn andern- und zugleich nur die Individuen. (Realismus, Nomina-
falls hätten unsere Begriffe und unser Denken mit der lismus.)« (HN IV (1), 16).
Wirklichkeit nichts zu tun. Diese erkenntnistheoreti- Das Verhältnis von Metaphysik und Empirie, wie es
sche Dimension des Universalienstreits, die sich vor Schopenhauer in der Form sich ergänzender Stand-
allem in der Position des gemäßigten Realismus zeigt, punkte zu bestimmen sucht, ist verknüpft mit seiner
hat Schopenhauer nicht wahrgenommen. So kommt Konzeption einer »immanenten« (W II, 201, 736) Me-
es, dass er die substantiae primae als bloße Einzeldinge taphysik, die sich als Deutung und Auslegung der Welt
bzw. anschauliche Vorstellungen betrachtet und irr- versteht. Dieser ›hermeneutische‹ Charakter der Phi-
tümlicherweise Thomas von Aquin als Urheber des losophie Schopenhauers (s. Kap. 40) weist auch Paral-
Nominalismus bezeichnet (vgl. HN IV(1), 157; HN II, lelen zur mittelalterlichen Allegorese auf (vgl. Hallich
387 f.; VN I, 265 f.). 2002).
Bei Schopenhauer selbst kehrt das scholastische
Problem der Einheit von Allgemeinheit und Indivi- Literatur
dualität im Wesen in seiner Lehre vom intelligiblen Aby, Heinrich: Schopenhauer und die Scholastik. Heidelberg
Charakter des Menschen wieder, der sowohl Gattungs- 1930.
Brandão, Eduardo: A Concepção de matéria na obra de Scho-
als auch Individualcharakter ist (vgl. Koßler 1999, penhauer. São Paulo 2008.
274 ff.); aber hier werden keine Bezüge zum Mittelalter Hallich, Oliver: Die Entzifferung der Welt. Schopenhauer
hergestellt. Dass Schopenhauer an einer Vermittlung und die mittelalterliche Allegorese. In: Dieter Birnbacher/
zwischen Realismus und Nominalismus nicht interes- Andreas Lorenz/Leon Miodoński (Hg.): Schopenhauer im
siert ist, obwohl er beide für berechtigt hält, hängt mit Kontext. Deutsch-polnisches Schopenhauer-Symposion
2000. Würzburg 2002, 163–189.
seiner methodischen Konzeption zusammen, wider-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die
streitende Ansätze nicht zu vermitteln, sondern auf Geschichte der Philosophie II (= Werke, Bd. 19). Frankfurt
unterschiedliche, sich ergänzende Standpunkte zu- a. M. 1971.
rückzuführen (s. Kap. 6.2). So ist vom Standpunkt der Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
Metaphysik oder der Kunst aus der Universalienrealis- Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
mus gerechtfertigt, denn hier sind das Reale die plato- legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
nischen Ideen, während die Einzeldinge bloßer Schein Würzburg 1999.
sind. Vom Standpunkt der empirischen Wissenschaf- Koßler, Matthias: El principium individuationis en Scho-
ten aus dagegen gilt der Nominalismus: Die Einzeldin- penhauer y la Escolástica. In: Faustino Oncina (Hg.):
ge bilden die Realität, von der die Allgemeinbegriffe Schopenhauer en la historia de las ideas. Madrid 2011,
bloße Abstraktionen darstellen. Beide Standpunkte 19–39.
Riconda, Giuseppe: La »Noluntas« e la riscoperta della mis-
sind berechtigt, und nur ihre gegenseitige Ergänzung
tica nella filosofia di Schopenhauer. In: Schopenhauer-
ermöglicht ein umfassendes Weltverständnis (vgl. Jahrbuch 53 (1972), 80–87.
Koßler 2011, 38 f.). Im handschriftlichen Nachlass hat Schmidt, Alfred: Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Scho-
Schopenhauer einige Widersprüche aufgeführt, die in penhauers Religionsphilosophie. München/Zürich 1986.
dieser Weise »ihre Ausgleichung nur in der wahren
Matthias Koßler
Philosophie finden«, darunter auch den in der Univer-
200 III  Einflüsse und Kontext

14 Christentum und Mystik vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grun-
de ausführlich erklärt. Für Schopenhauer sind da-
Schopenhauers Auseinandersetzungen mit dem Chris­ her christlicher Glaube und aufklärerische Philoso-
tentum und der Mystik werden im Folgenden unter phie unvereinbar: Der Christ muss voraufklärerisch
drei Aspekten betrachtet: (1) Methodologie und De- glauben, denken und handeln, sonst ist er kein
finitionen, (2) Doxographie der Dogmatik, (3) Mysto- Christ mehr.
logie und Hagiologie. In ersten Abschnitt werden Diese strikten Definitionen des Christentums sind
Schopenhauers Herangehensweisen und Meinungen notwendig, um Abgrenzungen gegen andere Religio-
im Umgang mit dem Christentum beschrieben. Im nen (vgl. u. a. W I, 462 (Lü); W II, 197 (Lü)) und Ge-
zweiten Abschnitt werden einschlägige Belegstellen meinsamkeiten (vgl. u. a. W I, 311 (Lü); HN III, 654 f.;
aus Schopenhauers Werk zu christlich-dogmatischen HN IV (2), 29 ff.) innerhalb der Entwicklungsgeschich-
Themen zusammengestellt und systematisiert. Im drit- te des Christentums vorzunehmen: Für Schopenhauer
ten Abschnitt wird nach der Funktion und Bedeutung repräsentieren die indischen Schriften die Urreligion
der christlichen Mystiker und Heiligen für Schopen- und die höchsten Wahrheiten (E, 585 (Lü)), bes. die
hauers Leben und Werk gefragt. Metempsychose-Lehre, die Tierethik und der Idealis-
mus, die dann über die ägyptischen, griechischen und
jüdischen Religionen an das Christentum tradiert
Methodologie und Definitionen
wurden (vgl. W I, 461 f. (Lü); P I, 46, 65 ff. (Lü); P II,
Schopenhauers Ansichten zum christlichen Glauben 351 (Lü); E, 535 f., 598 f. (Lü)), das als höchste europäi-
sind strikt bis konservativ, wie man beispielsweise sche Religion (vgl. E, 591) nun aber aussterbe (vgl. P II,
an der Eigenwilligkeit sieht, mit der er die christli- 300, 308, 344 (Lü); G, 131 (Lü); GBr, 229; HN III, 374 f.;
che Dogmatik abhandelt. Anstatt die zu seiner Zeit HN IV (1), 127) und daher durch die Philosophie er-
maßgebliche Dogmatik der katholischen (beispiels- setzt werde (vgl. HN I, 77 f.).
weise Concilium Tridentinum 1572 oder später Den- Die mittels der strikten Definitionen gewonnenen
zinger 1854) oder protestantischen Glaubenslehre Unterscheidungskriterien erlauben Schopenhauer
(heute gesammelt in VELKD 2010) heranzuziehen, auch eine Selbstverortung seiner Philosophie durch
beruft er sich fast ausschließlich auf Augustinus und ihren Unterschied zur Religion und den christlich ver-
die Kirchenväter sowie Luther und die Reformatoren bundenen Philosophiesystemen: Während er den Phi-
als verbindliche Quellen für die christliche Dogmatik losophieprofessoren vorwirft, theologische Themen
(vgl. u. a. W II, 193, 701 (Lü); P II, 325 (Lü); Malter philosophisch verschlüsselt darzustellen (vgl.  u. 
a.
1982; Koßler 1999; Neidert/Lang 2010). Besonders in W II, 410 (Lü); P II, 117, 142 ff. (Lü); G, 50 ff., 123,
Hinblick auf die christliche Moraltheologie zeigt sich 133 f. (Lü)), ist Schopenhauers eigenes System frei von
Schopenhauer konservativer als die moderne Kirche: jeglichem Gottesbegriff. Obwohl Schopenhauers Me-
Die bis heute anhaltende Liberalisierung der katho- tapher des Willens eine ähnliche Funktion im System
lischen und besonders protestantischen Kirche hin erfüllt wie die Begriffe ›das Absolute‹ oder ›Gott‹ und
zu einer lebensbejahenden Einstellung lehnt er ab, daher syntaktisch äquivalent gebraucht werden kön-
da sie dem lebensverneinenden Kern des Christen- nen (vgl. HN II, 364; HN IV (1), 102 f.; ferner HN IV
tums widerspreche und mit der gelebten christlichen (2), 5), bedarf er keiner Semantik des Gottesbegriffes
Tradition der Spätantike, des Mittelalters und der zur Systementwicklung.
frühen Neuzeit in Widerspruch stehe (vgl. W II,
715 f., 726 f., 743 (Lü); HN II, 325 ff.; HN IV (1), 271;
Doxographie der Dogmatik
dazu Koßler 1999).
Zudem müssen für Schopenhauer Christen auch In diesem Abschnitt werden die christlichen Dogmen
Theisten sein, d. h. sie müssen an einen persönlichen und Lehren systematisiert, die Schopenhauer in sei-
Gott glauben (Theismus), da ein deistischer (eigentl.: nem Gesamtwerk intensiv bespricht. Zu Überblicks-
atheistischer) und apersonaler Gott ein Widerspruch zwecken lassen sich die in seinem Gesamtwerk zer-
in sich sei (vgl. G, 26 (Lü); HN I, 41 f.; HN IV (1), 8, streuten Darstellungen und Kritikpunkte zu christli-
225; ferner P II, 119 ff. (Lü); HN III, 346 ff., 614 f.; HN chen Lehren nach den klassischen ›Traktaten‹ der
IV (1), 153). Der Theist könne sich zudem nur auf Dogmatik mit untergeordneten Themen wie folgt ord-
die Offenbarung berufen, nicht auf die Vernunft, wie nen und einschlägige Belege sowie weiterführende Li-
Schopenhauer in Kapitel  5 seiner Schrift Ueber die teratur für diese Themen angeben (s. Tabelle S. 201).
14  Christentum und Mystik 201

Traktat Thema Belege


Theologie Trinitätslehre W II, 732 (Lü); E, 443 (Lü); HN IV (2), 3
Angelologie P II, 333 (Lü)
Schöpfungslehre W II, 215, 565 f., 588 f. (Lü); P II, 326 ff. (Lü); HN III, 627; HN IV (1), 83, 154 f.;
HN IV (2), 10
Prädestinations- und W I, 384, 519 ff. (Lü); W II, 706 (Lü); P II, 326 f. (Lü); E, 421 ff. (Lü); GBr, 214 ff.;
Gnadenlehre vgl. Koßler 2009
Anthropologie Erbsündenlehre W I, 426 ff., 483, 530 f. (Lü); E, 424 ff. (Lü); vgl. Neidert/Lang 2010
Soteriologie W I, 489 ff., 520 ff. (Lü); W II 702 ff. (Lü); P II, 278 ff., 328 f. (Lü); VN IV 254 ff.;
vgl. Sauter-Ackermann 1994
Christologie Christus (und Adam) W I, 427 f., 520 f. (Lü); W II, 730 (Lü); VN IV, 40, 140, 263; GBr, 214; HN I, 85 ff.;
HN II, 392; vgl. Lemanski 2011
Mariologie W I, 520 f. (Lü); HN I, 103 f.
Ekklesiologie Sakramentenlehre HN I, 89; HN IV (2), 5
Kirchengeschichte W I, 497 f., 523, 717 ff., 727 (Lü); P II, 283, 307, 313 (Lü); HN IV (1), 264, 296 f.
Indoktrination, Priester- W I, 467, Anm. (Lü); W II, 83, 218 (Lü); P II, 288 f., 290 f., 301, 309, 313 f., 323 (Lü);
betrug und Mission E, 591 (Lü); HN IV (1), 297 f.
Schriftlehre Altes und Neues ­ W I, 424 (Lü); W II, 566, 674 f., 680, 721 (Lü); P II, 272 f., 279 f., 326, 333 ff., 340 ff.
Testament (Lü); E, 587 (Lü); HN IV (1), 166 ff.; HN IV (2), 30; vgl. Schmidt 1986, 142 ff.
Offenbarungs- und ­ W II, 727 (Lü); P II, 289, 322 f., 327, 337 (Lü); G, 137 (Lü); GBr, 228; HN III, 613
Vernunftlehre
Eschatologie individuale (Metempsy- W I, 471 f., 490 f. (Lü); W II, 583 ff. (Lü); P II, 326 ff. (Lü); GBr, 214 ff.
chose, Palingenese etc.)
universale (Ewige ­ W I, 454 ff. (Lü); W II, 701 (Lü); VN IV 179 ff.
Gerechtigkeit)

Schopenhauers Bezug zu diesen dogmatischen ›Trak- Erst durch die Prämissen der jeweiligen Schopenhau-
taten‹ hat unterschiedliche Funktionen: entweder als er-Interpretation kann ein Urteil darüber gefällt wer-
rein doxographische Darstellung christlicher Phi- den, ob Schopenhauer beispielsweise die Gnadenleh-
losopheme (vgl. u. a. E, 423 ff. (Lü); HN III, 464 ff.), in re, die Soteriologie oder Eschatologie nur beschreibt
Form eines einfachen Kommentars (vgl. u. a. HN III, (deskriptive Lesart), selbst bewertet (axiologische Les-
496 f.; HN IV (1), 197) oder als Beleg bzw. historische art) oder die praktische Umsetzung derselben emp-
Vorform eigener Thesen (vgl. u. a. E, 608 (Lü)). Im fiehlt (normative Lesart). Bereits eine Auswahl, Dar-
letzten Fall findet sich häufig die These, dass die Dog- stellung und somit Gewichtung auf einzelne ›Trakta-
men eine allegorische Vorform der eigentlichen phi- te‹, Themen oder detaillierte Inhalte derselben lassen
losophischen Wahrheit darstellen (vgl. u. a. HN IV sich nicht vornehmen, ohne sich vorab entschieden zu
(1), 171; HN IV (2), 19; dazu Schmidt 1986): So steht haben, wie Schopenhauer insgesamt zu lesen sei. Das
Adam beispielsweise für die Bejahung, Jesus für die lässt sich beispielsweise dadurch verdeutlichen, dass
Verneinung des Willens; die Wiedergeburt steht für Interpreten, die der axiologischen und normativen
die Transformation von der Bejahung zur Vernei- Lesart näher stehen, Themen wie ›Gnadenwahl‹, ›So-
nung, die Gnadenwirkung für deren Plötzlichkeit teriologie‹, ›Mitleid‹ hervorheben und für wichtiger
und Autonomie, die Palingenese steht für die Gewis- empfinden als Interpreten der deskriptiven Lesart, die
sensangst. viele dieser Themen nicht als vorrangig ansehen oder
Die heutigen Resultate der über 150-jährigen For- sogar betonen, dass sie nur als Exkurse und Neben-
schung zur Religion und insbesondere zum Christen- bemerkungen zu lesen sind. Kurz gesagt: Was Scho-
tum bei Schopenhauer zeigen, dass es kaum eine ein- penhauer im Detail zum Christentum und zur Mystik
zige einheitliche oder vorherrschende Meinung darü- gesagt hat, hängt nicht von einem oder mehreren Zita-
ber gibt, was Schopenhauer zu den einzelnen dogma- ten ab, sondern von der Deutung des Kontextes, in
tischen ›Traktaten‹ und Themen sagt. Nahezu jedes dem diese Textstellen zu finden sind.
Allgemeinurteil zu einem der genannten Themen Wie stark unterschiedlich durch diese Interpretati-
hängt von der Lesart des Hauptwerks ab (s. Kap. 6.2): onsprämissen die einzelnen Themen ausfallen, soll in
202 III  Einflüsse und Kontext

dem folgenden Kapitel an einigen Zentralthemen ge- us mit pietistischen Lebensregeln (vgl. Hübscher 1973,
zeigt werden. 12 f.). In Hamburg besuchte Schopenhauer von 1799
bis 1803 das ›pietistisch-humane‹ (vgl. ebd.) Privat-
institut von Johann Heinrich Christian Runge, nahm
Hagiologie und Mystologie
vermutlich am Gottesdienst teil und lernte in dieser
In diesem Abschnitt wird die Funktion und Bedeutung Zeit auch christlich und pietistisch geprägte Denker
der christlichen Heiligen und der Heiligkeit unter dem wie Matthias Claudius persönlich kennen.
Stichwort ›Hagiologie‹ sowie der Mystiker und der In der Weimarer Gymnasialzeit um 1808 belegen
Mystik unter dem Stichwort ›Mystologie‹ für Schopen- einige Aufzeichnungen (vgl. HN I, 8) Schopenhauers
hauers Leben und Werk diskutiert. Seit Schopenhauers theistische Einstellung, d. h. sein Glaube an einen per-
Lebzeiten stehen sich dabei eine normative und eine sonalen Gott (vgl. Zint 1930, 3 f.). Ein weiteres Indiz
deskriptive Interpretationsrichtung gegenüber, die bis- für die Religiosität des jungen Schopenhauers ist die
lang nicht vermittelt werden konnten und deren Disput Bemerkung aus der Göttinger Studentenzeit um 1810,
unweigerlich in die Frage nach dem Gesamtanspruch dass die platonischen Ideen Gott inhärieren (vgl. HN
der Schopenhauerschen Philosophie ausufert. I, 12). Schopenhauer stand somit »bis zum 24. Lebens-
Die normative Interpretationsrichtung gilt heut- jahr im Rahmen seiner Kirche« (Hübscher 1973, 13).
zutage als klassisch, da sie seit dem frühen 20. Jahr- Eine philosophisch-persönliche Kritik am Christen-
hundert durch Schopenhauer-Anhänger, -Forscher tum und am religiösen Denken findet sich erst in
und vor allem Populärphilosophen vertreten wurde: Schopenhauers Mitschriften und Kommentaren der
Dieser Lesart zufolge hatte der Pietismus als Variante Schleiermacher-Vorlesung aus dem Sommer 1812
der christlichen Mystik einen starken Einfluss auf die (vgl. ebd., 15 f.; Zint 1930, 4 f.). Die theistische Jugend-
Person Schopenhauers, was sich dann positiv in sei- phase müsse nach der hier verfolgten Interpretation
nem Gesamtwerk widerspiegelt, so dass er seine Rezi- somit von der religionskritischen Spätphilosophie ab-
pienten ausgehend von einem pessimistischen Welt- gegrenzt werden. Die christliche Erziehung Schopen-
bild zu einer christlich-mystischen Lehre anleitet. Die hauers erklärt aber dann auch sein späteres Interesse
deskriptive Interpretationsrichtung wurde von Scho- am Christentum, das sich beispielsweise in seiner in-
penhauer selbst und seinen engsten Bekannten vertre- tensiven Bibelexegese niederschlägt (vgl. u. a. Hilde-
ten und wurde erst vor einigen Jahrzehnten rehabili- brand 1987). Dem Urteil Paul Deussens zufolge bleibt
tiert: Dieser Lesart zufolge hatte das Christentum kei- aber auch Schopenhauers Spätphilosophie trotz der
nen entscheidenden Einfluss auf die Person und das skeptischen Auseinandersetzung in Übereinstim-
Werk Schopenhauers, da dieser es nur als ein Phäno- mung mit dem Christentum, was dem Verfasser »für
men von vielen beschreibt (zu einer detaillierten Ent- alle Zukunft den Ehrentitel eines philosophus christia-
wicklungsgeschichte der Forschungsmeinungen vgl. nissimus sichern wird« (Deussen 1917, 562).
Lemanski 2012). 2) Unabhängig von den persönlichen Notizen fin-
Da die deskriptive Interpretationsrichtung his- det sich in den ersten philosophisch-systematischen
torisch als Kritik an der normativen auftritt, soll zu- Entwürfen Schopenhauers bereits der aus der christ-
nächst die normative und dann die deskriptive Lesart lich motivierten Philosophie entnommene Ausdruck
herausgestellt werden und jeweils zwischen (1) der »bessres Bewußtsein« (HN I, 23 ff.), mit dessen Nach-
Person und (2) dem Werk unterschieden werden. (Die klang er auch in seinem vollendeten System »die kriti-
axiologische Lesart wird hier nicht eigens behandelt, schen Grenzpfähle so kühn überschreitet« (Zint 1930,
sondern nur im Kontrast zu den beiden sich diametral 57). Die christlich-theistische Frühphilosophie eröff-
entgegenstehenden Positionen verdeutlicht.) net somit den Zugang zu einer linear-aufsteigenden
Deutung des Hauptwerks, das über die Stufen der Er-
Zur normativen Interpretationsrichtung: 1) Arthur kenntnistheorie, Naturphilosophie, Ästhetik und
Schopenhauer wuchs in einem protestantischen El- Ethik zur Soteriologie und schließlich zur Mystik füh-
ternhaus auf, wurde am 3. März 1788 in der Marienkir- re. Von einer derartigen »Fortschreitung der ganzen
che in Danzig getauft, am 25. August 1804 am selben Darstellung« spricht Schopenhauer schon in der Vor-
Ort konfirmiert und am 26. September 1860 kirchlich rede zur ersten Auflage (vgl. W I, 9 (Lü)). Das »Werk
beerdigt (vgl. Gwinner 1922, 201). Schopenhauers Ju- der Philosophie« hat das Ziel, die »ganze Denkungsart
gend ist pietistisch geprägt: Bereits der Vater schenkte um[zu]wälzen« (P I, 11 (Lü)): Aus diesem Grund neh-
dem jungen Arthur ein Büchlein von Matthias Claudi- me der Philosoph seinen Leser von einem Standpunkt
14  Christentum und Mystik 203

aus mit, »den sie sicherlich gemein haben« und »sehe res Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne
nun, wie hoch über die Wolken hinaus er, auf dem gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken«
Bergespfade, Schritt vor Schritt, mit ihm gelangen (W I, 511 (Lü); ferner: HN III, 2, 604). Daher sei seine
könne« (P I, 12 (Lü)). Schopenhauer erklärt daher, Ethik der »einzig lichte Fleck«, in der der Pessimismus
dass er »von der Erfahrung und dem natürlichen, Je- und die Askese das Recht und die Wahrheit seien (HN
dem gegebenen Selbstbewußtseyn ausgehe und auf I, 38; GBr, 219, 364), und Jesus, der Prototyp eines
den Willen als das einzige Metaphysische hinleite, also Weltüberwinders und Repräsentant der Willensver-
den aufsteigenden, analytischen Gang nehme« (W II, neinung (s. o.), gilt als »vortreffliche Gestalt [...], von
748 (Lü); auch: P I, 133, 313, 317 (Lü); GBr, 220; HN I, größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsam-
14). Dieser Aufstieg reicht demnach von der Mannig- keit« (W I, 142 (Lü)). Auch wenn Schopenhauer nir-
faltigkeit der empirischen Erfahrung im ersten Buch gends deontologische Maximen formuliert, wird dem
des ersten Bandes in Die Welt als Wille und Vorstellung Leser damit dennoch suggeriert, dass die Willensver-
bis zum Nichts und Nirwana der Mystiker des vierten neinung die wichtigste praktische Konsequenz für sein
Buchs und nimmt somit einen linearen-prozesshaften eigenes Leben sei. Bereits in den 1860er Jahren wurde
Gang. Da Schopenhauer als Philosoph weltimmanent kritisiert, dass Schopenhauer seinem Leser mithilfe der
bleiben will (vgl. P I, 131 (Lü); GBr, 218, 291; HN I, Mystik zumute, sein Leben zu verneinen (vgl. Weigelt
256), muss die christliche Mystik als eine System- 1855, 156), und bis in die Gegenwart sprechen Forscher
ergänzung (vgl. Schmidt 1986, 60 ff., 137 f.) oder als ei- aus den genannten Gründen und Belegen von »Scho-
ne »ungeschriebene Lehre« (Schirmacher 1988, 188) penhauers Mystik« (Koeber 1888), dem »Mystiker
verstanden werden: Der erste Band von Die Welt als Schopenhauer« (Schewe 1905, 109) und entdecken so-
Wille und Vorstellung endet bei einem relativen Nichts, mit »hinter der Maske des Pessimisten den Mystiker«
aber das ȟber die Erkenntnis hinausgehende ist ab- (Schirmacher 1988, 183). Dies wird durch Schopen-
solut transzendent. Daher die Philosophie hier auf- hauers eigene Aussage legitimiert: »Ich werde mystisch
hört, und die Mystik eintritt« (GBr, 288; HN III, 345). [...] am Endes des 4. Buchs [sc. W I]« (HN III, 203; fer-
Im Hinblick auf die Interpretation der angeblich ner HN IV (2), 8).
›emphatischen‹ Rede im vierten Buch des ersten Ban-
des von Die Welt als Wille und Vorstellung (vgl. Mühle- Zur deskriptiven Interpretationsrichtung: 1) Trotz der
thaler 1910, 92) und an den wertenden Ausdrücken oben skizzierten Beziehung des jungen Schopenhau-
(vgl. HN IV (1), 281) trennen sich die normative und ers zu christlichen Institutionen in Form von Kirche
die axiologische Lesart: Der normativen Lesart zufolge und Schule lässt sich weder ein christlicher noch pie-
sind die emphatischen und wertenden Ausdrücke ein tistischer Einfluss nachweisen: Das vom Vater ge-
Indiz dafür, dass Schopenhauer seinen Leser zur Mys- schenkte Claudius-Büchlein ist kein Indiz für einen
tik und zum Christentum anleiten wolle, und beson- derartigen Einfluss, da einerseits Claudius zwar einer
ders die Mystik stelle daher eine Systemergänzung dar. lutherischen Frömmigkeit keinesfalls aber dem Pietis-
Die axiologische Lesart teilt mit der deskriptiven Inter- mus zugerechnet werden kann, andererseits das Ge-
pretation, dass Schopenhauers Ziel nicht die Anleitung schenk eher auf den biographischen Werdegang des
zur Mystik, sondern die Beschreibung der Welt ist, nä- Sohnes anspielt und zudem kein Einfluss nachweisbar
hert sich aber der normativen Lesart, da sie mit dieser ist (vgl. Siebke 1970, 27). Auch in Runges Privatschule
auch eine positive Wertung der christlichen Religion wurde höchstens ein modern deistischer Moralunter-
in Schopenhauers Philosophie sieht. Belege für die em- richt mit christlichen Werten vermittelt (vgl. Safranski
phatische Rede werden zahlreich von beiden Lesarten 2002, 53 f.). Die Familie Schopenhauer unterhielt in
hervorgebracht: Schopenhauer spricht beispielsweise Hamburg ebenso sehr Kontakt zu aufgeklärten wie zu
über das »beneidenswerthe Leben gar vieler Heiligen christlichen Kreisen (vgl. ebd., 45 f.). Auch die Auf-
und schöner Seelen unter den Christen« (W I, 493 zeichnungen aus Schopenhauers Weimarer und Göt-
(Lü)); er sagt, der Weltüberwinder sei »die größte, tinger Zeit können genauso gut wertneutral wie posi-
wichtigste und bedeutsamste Erscheinung« (W I, 496 tiv gemeint sein: Besonders die genannte Platon-Glos-
(Lü)), auf die wir »nicht ohne die größte Sehnsucht bli- se stellt vermutlich nur ein Memorandum zu einem
cken können« (W I, 502, auch: 528 (Lü)), da unser Zu- typischen spätantiken und mittelalterlichen Topos des
stand »ein ursprünglich und wesentlich heilloser ist, Schulplatonismus dar. Da die Jugendschriften ebenso
der Erlösung aus welchem wir bedürfen« (W I, 523 religionskritische Äußerungen beinhalten (vgl. ebd.,
(Lü)). Die Konsequenz lässt sich klar benennen: »Wah- 94 ff.) wie die Spätschriften, finden sich für die beweis-
204 III  Einflüsse und Kontext

belastete These eines Einflusses von Christentum und sentieren zu können, müssen also auch ebenso diese
Pietismus auf den jungen Schopenhauer keinerlei Be- wie jene Phänomene begrifflich erfasst und auf ihr
lege. Da dies aber nicht den Umkehrschluss legiti- Wesen hin analysiert werden: »Dies alles nicht Vor-
miert, Schopenhauer sei Agnostiker, kann die Frage, schrift; sondern Darstellung und Erklärung eines ethi-
ob es einen positiven oder negativen Einfluss des schen Phänomens der menschlichen Natur« (VN IV,
Christentums auf Schopenhauers Person gab, nur mit 236). Das Christentum und die christliche Mystik
non liquet beantwortet werden. Hinsichtlich dieses werden somit nicht vorrangig von Schopenhauer ana-
Aspekts wird somit jeglicher Schluss von der Person lysiert und systematisiert.
auf das Werk problematisch. Umgekehrt lassen sich Obwohl die deskriptive Lesart diese repräsentatio-
aber Schopenhauers scheinbar persönlich-atheisti- nalistische Interpretation mit der axiologischen Lesart
sche Äußerungen philosophisch interpretieren: Es ist teilt, unterscheiden sich aus der Perspektive der de-
nicht bekannt, dass Schopenhauer sich explizit über skriptiven Lesart die normative und die axiologische
den Gottesglauben echauffiert hat (vgl. GBr, 229), da Lesart nur minimal, da beide eine explizite oder impli-
er meistens nur die Gottesnotwendigkeit (vgl. Gespr, zite Beeinflussung des Lesers in Form von Anleitungen
53; W II, 58 f.) und die Konnotation des Wortes ›Gott‹ oder Hervorhebungen christlicher Lehren und Werte
(vgl. HN III, 331, 343 f.) kritisiert, die sein philosophi- durch Schopenhauer konstatieren. Anhand von Un-
sches System auszusparen vermag (vgl. W II, 218 (Lü); tersuchungen des historischen Bezugsrahmens (wie
HN IV (2), 10). Unabhängig von der differenzierten gerade gezeigt), systematischen Kontextanalysen und
Einschätzung der modernen Forschung findet man close reading versucht die deskriptive Lesart, die Resul-
aber auch das generelle Urteil, Schopenhauer sei auf- tate der normativen und axiologischen zu widerlegen
grund der religionskritischen Äußerungen ein »ent- und Schopenhauer von dem ›Vorurteil‹ des Idealis-
schiedener Feind des Christentums« (Oettingen 1865, mus, des Pessimismus, der Mystik u. a. zu befreien. Die
450) und er verdiene den »Ehrenname[n] eines Fürs- Bedeutung der kontextuellen Lesart für die deskriptive
ten des Atheismus« (Mauthner 1923, 176). Lesart kann am Beispiel von § 68 des ersten Bandes
2) Schopenhauers philosophische Auseinanderset- von Die Welt als Wille und Vorstellung verdeutlicht
zung mit den christlichen Mystikern und Heiligen be- werden, der neben Kapitel XV (»Ueber Religion«) im
ruht somit nicht auf seiner persönlichen Entwicklung, zweiten Band der Parerga und Paralipomena der wich-
sondern auf seinem systematischen Anspruch, der tigste Text Schopenhauers zum Christentum ist.
wiederum nur aus der zeitgeschichtlichen Verortung Der § 68 lässt sich in drei Abschnitte unterteilen: 1)
des Hauptwerks erklärbar ist: Nach dem mit der Auf- Der erste Abschnitt (W I, 487–497 (Lü)) beschreibt
klärung einsetzenden Wegfall der Bibel als Autoritäts- »die Tat und den Wandel« (W I, 494 (Lü)) der Aske-
quelle für alle praktischen und theoretischen Fragen ten, Heiligen usw., so dass Schopenhauer »abstrakt
des Menschen entsprang in der Romantik die Idee, die und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der
göttlich offenbarte Bibel durch ein absolutes Buch aus Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigen-
Menschenhand zu ersetzen, das die gesamte Welt re- willens, Askesis« (W I, 493 (Lü)) aussprechen kann.
präsentiert (vgl. Blumenberg 1986). Wie viele seiner Schopenhauers deskriptive Ethik schließt von dem
Zeitgenossen versuchte auch Schopenhauer, »alles Phänomen auf das Wesen, von der Handlung auf die
Mannigfaltige der Welt überhaupt, seinem Wesen Motive, von der Konsequenz der Tat auf das Anteze-
nach, in wenige abstrakte Begriffe zusammengefaßt, dens der Handlungsgründe (vgl. W I, 374, 392 f., 395,
dem Wissen zu überliefern« (W I, 131 (Lü); auch GBr, 493 f. (Lü); E, 592 (Lü)). Neben den in diesem Ab-
291; HN I, 115 ff.), um »uns darin [sc. in der Welt] zu schnitt dargestellten Formen der Willensverneinung
orientieren« (GBr, 289). Schopenhauers empiristische legitimiert Schopenhauer die These, dass mit der er-
und morphologische (vgl. Koßler 1999; Schubbe reichten Willensverneinung des Mystikers auch »die
2012) Zielsetzung ist somit, die Welt begrifflich ab- übrige Welt in Nichts« (W I, 490 (Lü)) verschwände,
zuspiegeln. Neben beispielsweise den Phänomenen durch Texte der Veden, Angelus Silesius und Meister
des Lachens (vgl. W I, 102 (Lü)) oder des Selbstmords Eckhart. Da Schopenhauer seine Darstellung der Wil-
(vgl. W I, 512 (Lü)) u. v. a. gibt es in der Welt des lensverneinung als »allgemein und daher kalt« (W I,
19. Jahrhunderts (vgl. W I, 493: »heute«, 500 (Lü); P II, 492, auch: 421 (Lü)) charakterisiert und da man ihre
311 (Lü); VN IV, 244: »noch jetzt«) auch »die Phäno- Konkretisierung nicht in der »täglichen Erfahrung an-
mene der Heiligkeit und Selbstverleugnung« (W I, treffen« (W I, 492 (Lü)) kann, fordert er den Leser auf,
378 (Lü)). Um seinem Leser ein absolutes Buch prä- seine Darstellung mit den Biographien christlicher
14  Christentum und Mystik 205

und orientalischer Heiliger zu vergleichen. Die hier ge Aussage über das Thema ›Christentum und Mystik
(auch E, 610 f. (Lü)) genannten Schriften von und bei Schopenhauer‹ aufzustellen. Trotz zahlreicher Pu-
über Heilige und Mystiker (vgl. Ingenkamp 2005) ha- blikationen stehen die Lesarten und damit die gesamte
ben somit eine systemrelevante Funktion: Sie dienen Erforschung zum Christentum bei Schopenhauer
als konkreter Beleg der abstrakten Theorie der Wil- noch in den Anfängen: Die Argumente der normati-
lensverneinung (vgl. GBr, 214, 217; HN III, 350 ff.; HN ven Lesart sind bislang noch nicht im vollen reflexiven
IV (1), 165), die im vierten Buch gleichwertig mit der Bewusstsein ihrer eigenen ideologisch und populär-
Willensbejahung beschrieben wird. philosophisch geprägten Traditionsgeschichte dar-
2) Der zweite Abschnitt von § 68 (W I, 497–501 gestellt und untersucht worden; die axiologische Les-
(Lü)) liefert nur eine Betrachtung der »gegebenen art steht vor dem großen Problem, nicht erklären zu
ethischen Vorschriften« der Christen (W I, 497 f. (Lü)) können, warum Schopenhauer das Heilige und die
und der Hindus (W I, 498–500 (Lü)) und deren Ge- Mystik für wertvoller erachtet haben sollte als andere
meinsamkeiten (W I, 500 f. (Lü)): Die zur Willensver- Phänomene, ohne sich dabei zu stark der normativen
neinung motivierenden Maximen des Christentums Lesart anzunähern; und die deskriptive Lesart ist bis-
sind schon in der Bibel angelegt und reichen von der lang aufgrund ihrer immer wieder unterbrochenen
Nächstenliebe als unterste Stufe bis zur Imitatio Chris- Rezeptionsgeschichte noch gar nicht in ihrer ganzen
ti als höchste und entfalten sich dann in den »Schrif- Tragweite ausgewertet worden. Wissenschaftlich fun-
ten der Christlichen Heiligen und Mystiker« (W I, 498 diert lässt sich zum Thema somit nur festhalten, dass
(Lü); vgl. Lemanski 2011). eine themenorientierte Interpretation von den Prä-
3) Der dritte Abschnitt von § 68 (W I, 501–512 missen der jeweiligen Lesart abhängen und dass kein
(Lü)) liefert dann vermischte Anmerkungen zur »all- Vertreter einer bestimmten Lesart bislang ein allseitig
gemeinen Bezeichnung« des Zustands der Willensver- überzeugendes Argument für die Wahl seiner Prämis-
neiner (vgl. W I, 501 (Lü)) und handelt dabei vor allem sen vorbringen konnte.
von der Dauer der Willensverneinung (vgl. W I, 502–
504 (Lü)) und der Bekehrung (vgl. W I, 505–512 (Lü)), Literatur
wobei wiederum Belege aus der christlichen Literatur Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.
herangezogen werden (vgl. auch W II, 733 ff. (Lü)). 1986.
Concilium Tridentinum (Hg.): Catechismus Romanus Ex
Der systematische Aufbau und der Kontext zeigen, Decreto Concilii Tridentini, & Pij. V. Pontificis Maximi
dass Schopenhauer die christlichen Heiligen und Mys- iussu primùm editus. Antwerpen 1572.
tiker nur zu Exemplifizierungszwecken heranzieht Denzinger, Heinrich: Enchiridion symbolorum et definitio-
und dass die vorhandenen Wertungen entweder nur num [...]. Würzburg 1854.
Beobachtungen zweiter Ordnung sind oder als funk- Deussen, Paul: Schopenhauer und die Religion. In: Jahrbuch
der Schopenhauer-Gesellschaft 4 (1915), 8–16.
tionale Erklärung der beschriebenen Position des Hei-
Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit
ligen oder Mystikers dienen. Die deskriptive Lesart besonderer Berücksichtigung der Religion. Bd. 2, Abt. 3: Die
stellt somit fest, dass Schopenhauer weder Mystiker neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer. Leip-
war noch eine mystische Lehre vertrat (vgl. Koßler zig 1917.
1999, 100, 211, 370), sondern nur Mystiker und Hei- Gwinner, Wilhelm: Arthur Schopenhauer. Aus persönlichem
lige als Konkretisierung eines ethischen Typus be- Umgang dargestellt. Leipzig 1922.
Hildebrand, Eugen: Schopenhauer liest die Septuaginta.
schrieben hat: Der Lesart, dass Schopenhauers Phi- Unveröffentlichte Randschriften Schopenhauers. In: Scho-
losophie durch die Zumutung der Mystik und Willens- penhauer-Jahrbuch 65 (1984), 177–186; 68 (1987), 189–
verneinung aus irgendeinem Pessimismus heraushelfe, 194.
entgegnet der Philosoph selbst, dass er »Niemanden ir- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer:
gend etwas zumuthe, sondern bloß die Welt abspiege- Gestern – Heute – Morgen. Bonn 1973.
Ingenkamp, Heinz Gerd: Plutarch und das Leben der Hei-
le, zeige, was Jegliches sei und wie es zusammenhänge,
ligen. In: Aurelio Pérez Jiménez/Frances Bonner Titche-
Jedem sein Thun anheimgebend« (GBr, 343). ner (Hg.): Valori letterari delle opere di Plutarco. Málaga
2005, 225–242.
Koeber, Raphael: Schopenhauers Mystik. In: Sphinx 5/2
Fazit (1888), 73–81.
Der hier kurz skizzierte Vergleich der normativen, Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
axiologischen und deskriptiven Lesart zeigt, dass es
legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
kaum möglich ist, eine objektive und schulunabhängi-
206 III  Einflüsse und Kontext

penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther. Würz­ Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
burg 1999. Philosophie. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 22002.
Koßler, Matthias: »Eine höchst überraschende Übereinstim- Sauter-Ackermann, Gisela: Erlösung durch Erkenntnis? Stu-
mung«. Zur Augustinus-Rezeption bei Schopenhauer dien zu einem Grundproblem der Philosophie Schopenhau-
(1788–1860). In: Norbert Fischer (Hg.): Augustinus – Spu- ers. Cuxhaven 1994.
ren und Spiegelungen seines Denkens. Bd. 2: Von Descartes Schewe, Karl Ludwig: Schopenhauers Stellung zu der Natur-
bis in die Gegenwart. Hamburg 2009, 111–127. wissenschaft. Berlin 1905.
Lemanski, Jens: Christentum im Atheismus. Spuren der mys- Schirmacher, Wolfgang: Der Heilige als Lebensform. Über-
tischen Imitatio Christi-Lehre in der Ethik Schopenhauers. legungen zu Schopenhauers ungeschriebener Lehre. In:
Bd. 2. London 2011. Ders. (Hg.): Schopenhauers Aktualität. Ein Philosoph wird
Lemanski, Jens: The Denial of the Will-to-Live in Schopen- neu gelesen. Wien 1988, 181–199.
hauer’s World and His Association of Buddhist and Chris- Schmidt, Alfred: Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Scho-
tian Saints. In: Arati Barua/Michael Gerhard/Matthias penhauers Religionsphilosophie. München 1986.
Koßler (Hg.): Understanding Schopenhauer through the Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis: Ein morpholo-
Prism of Indian Culture. Berlin 2012, 149–183. gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/
Malter, Rudolf: Schopenhauers Verständnis der Theologie Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe
Martin Luthers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 63 (1982), fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewuss-
22–53. ten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementa-
Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im rität. Gießen 2012, 359–385.
Abendlande. Bd. 4. Stuttgart/Berlin 1923. Siebke, Rolf: Arthur Schopenhauer und Matthias Claudius.
Mühlethaler, Jakob: Schopenhauer und die abendländische In: Schopenhauer-Jahrbuch 51 (1970), 22–32.
Mystik. Berlin 1910. VELKD (Hg.): Die Bekenntnisschriften der evangelisch-luthe-
Neidert, Rudolf/Lang, Justin: Weltanschauung ohne ›Welt‹. rischen Kirche. Göttingen 132010.
Das Defizit an politischer Ethik bei Martin Luther und Weigelt, Georg Christian: Zur Geschichte der neueren Phi-
Arthur Schopenhauer. In: Wissenschaft und Weisheit 73/1 losophie, Populäre Vorträge. Hamburg 1855.
(2010), 67–102. Zint, Hans: Das Religiöse bei Schopenhauer. In: Jahrbuch
Oettingen, A. v.: Schopenhauer’s Philosophie in ihrer der Schopenhauer-Gesellschaft 17 (1930), 3–76.
Bedeutung für christliche Apologetik. In: Dorpater Zeit-
schrift für Theologie und Kirche 7 (1865), 449–487. Jens Lemanski
15 Moralistik 207

15 Moralistik der Renaissance, so bei Machiavelli oder in Castiglio-


nes Libro del Cortegiano. Einen frühen Höhepunkt er-
Die Moralistik in der europäischen Philosophie
reicht sie in der Selbstvergewisserung des Individuums
Arthur Schopenhauer ist der erste deutsche Philo- bei Montaigne. Die Moralistik ist jedoch nicht auf Be-
soph, der »die europäische Moralistik im ganzen schreibung und Beobachtung des Menschen und sei-
durchschaut und rezipiert« (Balmer 1981, 152) und nes Sozialverhaltens beschränkt. Sie entwickelt, so be-
gleichzeitig einen maßgeblichen Beitrag zu ihr geleis- reits bei Castiglione und Gracián, das Leitbild des welt-
tet hat. Die Moralistik, die ihren Höhepunkt im Frank- gewandten Hofmanns, der durch kluges Sozialverhal-
reich des 17. und 18. Jahrhunderts erlebt, ist aus dem ten seine Interessen und seine Autonomie in einer
neuzeitlichen Humanismus hervorgegangen und setzt Gesellschaft voller Intrigen durchsetzt. Im 17. Jahr-
sowohl Traditionen der antiken Eudämonologie als hundert, der klassischen Epoche des Moralistik, wan-
auch die der lebenspraktischen Reflexion der spätanti- delt sich, vor allem bei La Rochefoucauld und La Bru-
ken Philosophie fort. Als Teil der praktischen Philoso- yère, dieses Leitbild zum honnête homme, dem vielsei-
phie hat sie es mit jenem, mit Klugheit, Lebensweis- tig gebildeten, sozial gewandten, im urbanen Umfeld
heit und Glücksstreben befassten Teil der antiken von Hof und Stadt beheimateten Mann von Welt, des-
Ethik zu tun, der in der normativen Ethik der Neuzeit sen herausragende Eigenschaft der richtige Takt ist, mit
an den Rand gedrängt wurde. Frühe ideengeschicht- dem er sich gesellschaftlich bewegt und in dem sich äs-
liche Vorläufer der moralistischen Reflexion finden thetische und soziale Sensibilität verbinden.
sich vor allem in der Peripatetik, so im aristotelischen Im 18. Jahrhundert macht die moralistische Refle-
Begriff der phrónesis und in der damit verbundenen xion den Weltklugen immer mehr zum gesellschafts-
Typologie sozialer Charaktere bei Theophrast. Mora- und hofkritischen autonomen Individuum, das seine
listik als Weltklugheitslehre hat es mit sozialen Tugen- Lebensinteressen im Angesicht menschlicher Schwä-
den und Charakterdispositionen, nicht aber mit mo- chen und sozialer Widerstände formulieren und
ralischen Normen zu tun. Sie beschränkt sich auf den durchsetzen muss. Damit wird die Moralistik zu ei-
Handlungsbereich unterhalb der Moralität. Ihr The- nem Wegbereiter der Aufklärung. An die Stelle des
ma ist nicht »Moral«, sondern die mores, also die Sit- noch im höfischen Umfeld sozialisierten honnête
ten und individuellen Lebensformen. homme treten bürgerliche Lebensformen, bei denen
Methodisch schließt sich die Moralistik an die em- Selbstverwirklichung, wie bei Chamfort, auch gegen
pirische Neuorientierung der frühneuzeitlichen Wis- den Hof artikuliert wird. Dies ist der geistesgeschicht-
senschaften an. Sie beruht auf konkreter Beobachtung liche Ort, an dem im frühen 19. Jahrhundert Schopen-
des Menschen und der ihn prägenden psychologi- hauers eigene moralistische Reflexion ansetzt.
schen und sozialen Bezüge. Im Unterschied zur idea-
listischen und rationalistischen Systemphilosophie ge-
Schopenhauers Aufnahme der
langt sie allerdings zu einem skeptischen, bisweilen
moralistischen  Tradition
pessimistischen Menschenbild. Ideengeschichtlich ge-
hört sie in den Zusammenhang der neuzeitlichen Sä- Schopenhauer ist bereits 1814 auf die aristotelische
kularisierung, indem sie menschliches Sozialverhalten Ethik als Ort einer sozialen Klugheits- und Glücksleh-
und individuelle Selbstverwirklichung unabhängig re aufmerksam geworden. Der Grundsatz der Niko-
von theologischen Bezügen in den Blick nimmt. Lite- machischen Ethik »in allen Dingen die Mittelstraße zu
rarisch trennt sich die Moralistik von den formalen halten« sei als Moralprinzip untauglich, könne jedoch
Zwängen akademischen Schrifttums und gibt auch de- durchaus als »beste Anweisung zu einem glücklichen
ren systematischen Anspruch auf. Sie artikuliert sich Leben« (HN I, 81 f.) dienen. Solche Anweisungen set-
in literarischen Formen, die zum Teil von ihr selbst ge- zen allerdings ein gewisses Maß an Weltzugewandt-
schaffen und durchgesetzt werden – wie der von Mon- heit voraus. In Schopenhauers frühem Hauptwerk Die
taigne ausgehende Essay oder der von La Rochefou- Welt als Wille und Vorstellung sind jedoch weder An-
cauld zur Blüte geführte Aphorismus. Die Moralistik sätze zu einer solchen Eudämonologie noch zu einer
ist philosophische Weltklugheitsreflexion, die auf ei- Weltklugheitslehre sichtbar. Hier entwickelt Schopen-
ner Bestandsaufnahme der condition humaine beruht hauer, in enger Anlehnung an seine Metaphysik, eine
und sich literarischer Darstellungsmittel bedient. Ethik des Mitleids, der Welt- und Willensverneinung
Die Moralistik beginnt mit Überlegungen taktischer (s. Kap. 6.6). Lediglich im Begriff des »erworbenen
Selbstbehauptung im Umkreis der Hofgesellschaften Charakters« deutet Schopenhauer die Notwendigkeit
208 III  Einflüsse und Kontext

der empirischen Selbsterfahrung an, die »nicht so- nen in Notaten, Kurzprosaabschnitten, Maximen und
wohl für die eigentliche Ethik, als für das Weltleben Aphorismen Lebenserfahrung verarbeitet und le-
wichtig ist« (W I, 362). benspraktische Klugheitsstrategien entworfen wer-
Aus der Erkenntnis, dass Weltverneinung und die den, Lebensregeln, die es dem »Nicht-Heiligen« er-
Existenz des ›Heiligen‹ immer nur eine Sache Weniger lauben, sich mit der Welt zu arrangieren. Ein Beispiel
sein kann, hat sich Schopenhauer seit den 1820er Jah- dafür ist das 1821 entstandene, aus dem Nachlass re-
ren zunehmend Fragen des ›Weltlebens‹, der indivi- konstruierte ›Geheimheft‹ »Eis heautón«. Ab 1826
duellen Lebensgestaltung und der Möglichkeit einer geht Schopenhauer, angeregt durch Gracián, daran,
pragmatischen Klugheits- und Glückslehre zuge- Materialien für eine eigene »Lebensweisheit als Dok-
wandt. Damit beginnt auch sein intensiveres Studium trin« zusammenzustellen, die gleichbedeutend mit
der Moralistik, deren pessimistische Anthropologie einer »Eudämonik« sein und die Extreme sowohl des
ihm entgegenkam. Die Schriften des Helvetius und Stoizismus als auch des Machiavellismus vermeiden
dessen kritische Haltung zum »Durchschnittsmen- sollte (vgl. HN III, 268). In klassischer moralistischer
schen« kannte er schon seit seinem 26. Lebensjahr. Tradition verknüpft Schopenhauer hier Glücks- und
Mit La Rochefoucaulds Maximes et Réflexions traf er Klugheitslehre. Glücksmöglichkeiten bleiben auf das
sich in der Einschätzung, dass alles menschliche Han- Verhältnis beschränkt, in das das Individuum sich zu
deln seinen Ursprung im Eigennutz habe. Mit Vau- sich selbst setzt. Bereits 1830 notiert Schopenhauer
venargues betonte er die Bedeutung der Intuition und jene Aussage aus Chamforts Maximes et pensées, ca-
Emotionalität gegenüber einem rein rationalen Welt- ractères et anecdotes, die er später den »Aphorismen
zugang. Mit Chamfort verbindet ihn die Abwendung zur Lebensweisheit« als Motto voranstellen sollte: »Le
von gesellschaftlichen und die Hinwendung zu ›inne- bonheur n’est pas chose aisée: il est très difficile de le
ren‹, d. h. Persönlichkeitswerten. Die moralistische trouver en nous, et impossible de le trouver ailleurs«
Tradition der Charakterporträts, darunter die Cha- (»Das Glück ist keine einfache Sache: Es ist sehr
raktere Theophrasts und die gleichnamige, auf einer schwierig, es in uns selbst, und unmöglich, es außer-
Übersetzung Theophrasts aufbauende Schrift La Bru- halb zu finden« [Übers. R. Z.] HN III, 600; P I, 331).
yères, lieferte ihm ebenso Material zum Verständnis Das moralistische Anliegen einer Selbstbehauptung
des »erworbenen Charakters« wie die empirische mit Mitteln der taktischen und strategischen Klugheit
Menschenbeobachtung in Helvetius’ De l’Esprit und wird Thema u. a. in der 1828 entstandenen »Skizze ei-
in den Aphorismen Lichtenbergs. ner Abhandlung über die Ehre« oder in der zwischen
Der für Schopenhauers Auseinandersetzung mit 1830 und 1831 entstandenen Schrift »Eristische Dia-
der Moralistik wichtigste Autor sollte jedoch der spa- lektik« (s. Kap. 10.2).
nische Jesuitenpater des 17. Jahrhunderts, Baltasar Aus allen diesen Materialien bediente sich Scho-
Gracián, werden. Graciáns strategische Weltklug- penhauer, als er schließlich in den Parerga und Parali-
heitslehre fußt auf einer tief pessimistischen Einschät- pomena die Frucht seiner eigenen moralistischen
zung sowohl der Welt als auch der menschlichen Na- Überlegungen veröffentlichte.
tur und steht im Dienst des desengaňo, der Desillusio- Obwohl die Parerga und Paralipomena im Ganzen
nierung und »Ent-Täuschung«. 1825 hatte Schopen- kein rein moralistisches Werk sind, sind sie doch,
hauer damit begonnen, Spanisch zu lernen; drei Jahre durch ihren an Montaignes Essais sich anlehnenden
später machte er sich an die Übersetzung von Graci- unsystematischen und essayistischen Aufbau und ihre
áns Aphorismensammlung Oráculo manual, die erst Hinwendung zu Alltagsphänomenen von der moralis-
aus dem Nachlass publiziert wurde und bis heute das tischen Tradition geprägt. Dies gilt vor allem für den
deutsche Gracián-Bild prägt (s. Kap. 10.5). Unvoll- zweiten Band, dessen Einleitungskapitel »Über die
endet blieb Schopenhauers Übersetzung des großen Methode der Philosophie« sich u. a. auf die moralisti-
allegorischen Romans El Criticón, aus der er einen sche Menschenbeobachtung »in den Schriften erlese-
kleinen Auszug in die Vorrede zu seiner »Preisschrift ner Geister, wie das waren Theophrastus, Chamfort,
über die Freiheit des Willens« integrierte. Eine zwei- Addison, Shaftesbury, Shenstone, Lichtenberg u. a. M.«
bändige spanischsprachige Ausgabe Graciáns aus dem (P II, 21) beruft. In diesem Kontext stehen auch Kapitel
Jahr 1702, die alle Hauptwerke enthielt, befand sich wie »Psychologische Bemerkungen« und vor allem die
bis an sein Lebensende in Schopenhauers Besitz. »Aphorismen zur Lebensweisheit« (s. Kap. 9.6), die als
Bereits seit den 1820er Jahren finden sich, zum Teil ein »Meisterwerk der Moralistik in deutscher Sprache«
inzwischen publizierte, Manuskriptentwürfe, in de- (Zimmer 2009, 64) angesehen werden können. »Le-
15 Moralistik 209

bensweisheit« wird dabei von Schopenhauer nicht im on der Moralistik für die praktische Philosophie in
Sinne der aristotelischen sophía, sondern der aristote- Deutschland rehabilitiert.
lischen phrónesis genommen. Es ist Schopenhauers
Übersetzung für Graciáns »saber vivir« (HN V, 493) Literatur
und bezeichnet die »Kunst, das Leben möglichst ange- Balmer, Hans Peter: Philosophie der menschlichen Dinge. Die
nehm und glücklich durchzuführen« (P I, 333). Der Europäische Moralistik. Bern 1981.
d’Alfonso, Matteo: Les Parerga et Paralipomena dans le tour-
Titel »Aphorismen« wiederum nimmt nicht so sehr nant éthique schopenhauerien. In: Schopenhauer-Jahr-
Bezug auf die Gattung im engeren Sinne (vgl. Neu- buch 94 (2013), 229–249.
meister 2004), als vielmehr auf das »Prinzip der Ge- Kruse, Margot: La Rochefoucault en Allemagne. Sa récep-
dankenführung« (Volpi 2007, XVIII). Er steht für das tion par Schopenhauer et Nietzsche. In: Margot Kruse/
Strukturmerkmal locker aneinandergereihter, zumeist Joachim Küpper (Hg.): Beiträge zur französischen Moralis-
tik. Berlin 2003, 246–262.
essayistischer Prosa. In den »Aphorismen« liegt Scho-
Neumeister, Sebastian: Schopenhauer als Leser Graciáns. In:
penhauers Ergänzung seiner welt- und willensabge- Ders./Dietrich Briesemeister (Hg.): El Mundo de Gracián.
wandten Mitleidsethik durch eine weltzugewandte In- Actas del Coloquio Internacional, Berlin 1988. Berlin 1991,
dividualethik, seine »Philosophie der Lebenskunst aus 261–277.
dem Geist der Moralistik« (Zimmer 2009) vor. Im Neumeister, Sebastian: Schopenhauer, Gracián und die
Zentrum der »Aphorismen« stehen klassische mora- Form des Aphorismus. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85
(2004), 31–45.
listische Themen wie Persönlichkeitsbildung (»Von Volpi, Franco: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Arthur Schopen-
dem, was einer ist«), Umgang mit dem eigenen Besitz hauer. Aphorismen zur Lebensweisheit. Stuttgart 162007,
(»Von dem, was einer hat«) und gesellschaftliche Re- VII–XIX.
putation (»Von dem, was einer vorstellt«): Schopen- Zimmer, Robert: Die europäischen Moralisten zur Einfüh-
hauer greift hier, der moralistischen Tradition von rung. Hamburg 1999.
Zimmer, Robert: Philosophie der Lebenskunst aus dem
Castiglione bis Chamfort folgend, das Thema des hon-
Geist der Moralistik. Zu Schopenhauers »Aphorismen der
nête homme auf, der bei ihm »vollkommener Welt- Lebensweisheit«. In: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009),
mann« (vgl. P I, 506) heißt. Dieser wird, im Anschluss 45–64.
an Chamfort, zum bürgerlichen, von der Gesellschaft Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer
distanzierten Privatier, der die materiellen Bedingun- Weltbürger. München 2010.
gen seiner geistigen Freiheit hütet und diese kultiviert. Zimmer, Robert: Schopenhauers zweites Hauptwerk. Die
»Parerga und Paralipomena« und ihre Wurzeln in der
Mit den »Aphorismen zur Lebensweisheit« hat
Aufklärungsessayistik und Moralistik. In: Schopenhauer-
Schopenhauer das Thema Weltklugheit in der Traditi- Jahrbuch 94 (2013), 143–155.

Robert Zimmer
210 III  Einflüsse und Kontext

16 Baruch de Spinoza hauer Spinoza vor, Grund und Ursache gleichgestellt


zu haben in der »Absicht, Gott mit der Welt zu iden-
Bereits während seiner Studienjahre wurde Schopen- tifizieren« (ebd., 24). Das sei ein von Descartes gelern-
hauer mit Spinozas Denken bekannt, wie seine Kol- ter »Kniff«, den er versucht hätte zu decken durch
leghefte belegen. In den philosophischen Vorlesun- »achtmaligen Unterschleif« allein auf einer Seite mit-
gen G. E. Schulzes und F. L. Bouterweks an der Uni- tels der Formulierung »ratio seu causa«. Die Pointe sei,
versität Göttingen wurde er gelehrt. Im Wintersemes- dass die Welt damit aus und durch sich selbst gedacht
ter 1811/12 zog Schopenhauer um nach Berlin und werden kann, und kein Schöpfergott mehr gebraucht
hörte dort bei Schleiermacher, der ebenfalls über Spi- wird, um ihr Dasein zu erklären (»bloß nomineller
noza vortrug. Außerdem wirkten auf ihn Schellings Theismus«). Damit sei nicht nur alles, was ist, in Gott,
spinozistisch-pantheistische Naturdeutung ein sowie sondern umgekehrt gelte auch: »Beim Spinoza steckt
die persönliche Bekanntschaft mit dem ebenfalls Gott selbst in der Welt« (ebd., 27). Aber alles zu ver-
durch Spinoza beeinflussten Goethe. In jenen Jahren göttlichen, schaffe Gott ab.
war unter Gelehrten und Gebildeten die Inanspruch- In Schopenhauers Denken vollzieht sich bereits
nahme Spinozas eine Mode. 1814 der Übergang von der platonischen Vielheit der
Schopenhauer besaß Spinozas Werke in der Pau- Ideen zu dem einen Willensprinzip. Diesem schlägt er
lus-Ausgabe von 1802/03. In seiner Dissertation 1813 1815 die Eigenschaften der Substanz, natura naturans
bespricht er ihn, in seinem Hauptwerk finden sich Re- bzw. des Gottes Spinozas zu: »Man vergleiche doch die
ferenzen, auch der zweiten Auflage ging eine erneute hier aufgewiesene Einheit der Welt als Erscheinung ei-
Auseinandersetzung mit ihm voraus und sogar noch nes Willens mit der substantia aeterna des Spinoza.«
in den späten Parerga finden sich etliche Spinoza-Zi- Der Gedanke der All-Einheit verbindet Schopenhauer
tate. Der Umfang der Randnotizen zu seinen Büchern mit Spinoza besonders, wobei dies seine »einzige po-
wird nur von denen zu Kant und Fichte übertroffen. sitive Lehre« (HN IV (1), 202 f.) und eigentlich auch
Eine in mehreren Zusammenhängen bei Spinoza immer schon dagewesen sei (P I, 14 (Lö)). Spinoza
auftauchende Redewendung lautet »ein und dassel- wird von Schopenhauer entsprechend selten alleinste-
be«, bzw. man trifft häufig auf den Gebrauch des in- hend erwähnt, also kaum als eigenständiger Denker
klusiven »oder« zur Identifizierung ansonsten unter- angesehen, sondern oft mit Bruno oder Descartes,
schiedlicher Bedeutungen. Im ersten Kapitel der manchmal auch mit Hobbes oder Malebranche zu-
Ethik, der Schopenhauers Hauptinteresse galt, bildet sammengestellt.
Spinoza den Begriff eines vollkommenen Wesens, Dem Weltwillen schreibt Schopenhauer ›Aseität‹
»Gott oder die Substanz« (Deus, sive substantia), dem zu. »Mein System verhält sich zu dem des Spinoza wie
notwendig Existenz zukommen müsse. »Substanz« das Neue Testament zum Alten Testament. – Denn:
definiert er als das, »was in sich ist und durch sich be- was das alte Testament mit dem neuen gemeinsam hat
griffen wird; d. h. etwas, dessen Begriff nicht den Be- ist derselbe Gott Schöpfer. Eben so ist bei mir, wie bei
griff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebil- Spinoza, die Welt durch sich selbst und aus sich selbst«
det zu werden« (E1Def3). Dieser Begriff, so Schopen- (HN III, 241). Später beanstandet Schopenhauer aber
hauer, sei leer und »selbstgezimmert«, und Spinozas die von Spinoza als causa sui begriffene Substanz. ›Ur-
Pantheismus sei nur die Realisation des ontologischen sache ihrer selbst sein‹ sei ein Widerspruch in sich:
Gottesbeweises von Descartes (vgl. G, 26 (Lö)). Auch
sei das Problem der Philosophie nicht Gott, sondern »Ursache und Wirkung gilt innerhalb der Natur, inner-
die Welt, weshalb mit ihr die Philosophie anheben halb des empirischen Bewußtseyns: wer aber nach der
müsse, im Sinne einer »empirischen Metaphysik«. Die Ursach der Natur frägt gleicht dem Freyherrn von
Welt mit ihren Erscheinungen folge nicht logisch aus Münchhausen der zu Pferde durch einen tiefen Strohm
einem Wort und ließe sich nicht aus festen Prinzipien schwimmend das Pferd mit den Beinen umklammerte
demonstrierend ableiten (vgl. W I, 134 (Lö)). Spinozas seinen Zopf über den Kopf schlug und mit beyden Hän-
geometrische Methode bezeichnet er als »gestelzt«; den daran zog um sich mit dem Pferde in die Höhe zu
die Argumente träten in »spanische Stiefel geschnürt« ziehn« (HN II, 370).
auf. Das dennoch »Wahre und Vortreffliche seiner
Lehre« sei unabhängig von den »Mausefallenbewei- Auf Spinozas These, der »Grund also oder die Ursa-
sen« (W I, 127, Anm. 26 (Lö)). che, weshalb Gott oder die Natur handelt, und wes-
Bereits 1813 (vgl. G, 23–26 (Lö)) wirft Schopen- halb er da ist, ist ein und dasselbe« (Spinoza 1802/03,
16  Baruch de Spinoza 211

200), erwidert Schopenhauer an zahlreichen Stellen, am Rand: »quod falsissimum« (HN V, 166). »Ein ganz
dass es dafür eben weder Grund noch Ursache gäbe. krasser und fast toller Irrthum des Spinoza (den er
Schopenhauer erkennt Spinozas Verdienst um die aber durch den Kartesius erhalten hat) ist der, daß ihm
Berichtigung des cartesischen Dualismus von Leib der Wille einerlei ist mit dem Vermögen zu Bejahen
und Seele an. Hatte Descartes noch die zwei parallel und zu Verneinen« (HN I, 328). Kein Unterschied kä-
laufenden separaten Substanzen res extensa und res me aber dem zwischen Wille und Vorstellung an Radi-
cogitans vertreten, konstituieren Ausdehnung und kalität gleich. Als falsche Konsequenz daraus ergibt
Denken bei Spinoza die (einzigen uns bekannten) sich für ihn, dass der Mensch »danach zuvörderst ein
gleichursprünglichen Attribute der einen Substanz. Ding für gut erkennen und infolge hievon es wollen
Leib und Seele sind nur Modifikationen von Ausdeh- [würde]; statt daß er zuvörderst es will und infolge
nung und Denken und bilden ein einziges ›Ding‹, je- hievon es gut nennt. Meiner ganzen Grundansicht zu-
weils nur von zwei verschiedenen Seiten betrachtet. folge nämlich ist jenes alles eine Umkehrung des wah-
Körperliche und seelische Vorgänge werden gleich- ren Verhältnisses« (W I, 403 (Lö); Hervorh. O. S.).
artigen Kausalerklärungen unterworfen. Schopenhauer rennt hier aber eine offene Tür ein.
Da somit der menschliche Geist keine Substanz ist, Denn in der Ethik sagt Spinoza klar und deutlich: »Aus
ist er nicht schlechthin unabhängig. Für Spinoza gibt diesem Allen ist also entschieden, daß wir nichts er-
es »in der Natur der Dinge nichts Zufälliges« (E1P29) streben, wollen, begehren noch wünschen, weil wir es
und folglich auch keinen freien Willen: »der Geist für gut halten, sondern vielmehr, daß wir deshalb etwas
wird zu diesem oder jenem Wollen von einer Ursache für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, begehren
bestimmt, welche ebenfalls von einer anderen be- und wünschen« (E3P9S). Somit stellt sich heraus, dass
stimmt wird und diese wiederum von einer anderen, uneingestandenerweise Schopenhauers Grundansicht
und so weiter ins Endlose« (E2P48). Darauf beruft spinozistisch ist.
sich Schopenhauer in seiner eigenen Widerlegung der Es erstaunt weiter, dass Schopenhauer sich nicht
Willensfreiheit. »Alles was geschieht, vom Größten mit mehr Nachdruck auf Spinozas »conatus in suo esse
bis zum Kleinsten, geschieht notwendig« (E II, 532 perseverandi« beruft, der ganz ähnlich wie bei ihm er-
(Lö)). Spinoza erklärt den Glauben an die Willensfrei- klärt wird: »Das Bestreben, womit jedes Ding in sei-
heit zu einer Täuschung, die auf Unwissenheit beruhe, nem Sein zu verharren strebt, ist nichts als das wirk-
so dass auch »der durch einen Stoß in die Luft fliegen- liche Wesen des Dinges selbst« (E3Prop7). Spinoza
de Stein, wenn er Bewußtsein hätte, meinen würde, fasst alle Strebungen zusammen: »Trieb, Wille, Begier-
aus seinem eigenen Willen zu fliegen«. Darauf er- de oder Drang«. Ob wir uns des Triebes bewusst seien
widert Schopenhauer, dass der Stein recht hätte (vgl. in der Begierde oder nicht, der Trieb sei doch »ein und
W I, 191 (Lö)). Denn für Schopenhauer ist die Freiheit derselbe« und bestimme jedes Ding, »zu tun, was zu
zwar ein Mysterium, aber keine Täuschung. Spinoza seiner Erhaltung dient« (E3Ad1Ex). Während man im
hätte die Trennungslinie zwischen Realem und Idea- Strebensbegriff bei Schopenhauer ein für empirische
lem falsch gezogen und sei bei der Vorstellung stehen- Zwecke funktionales Äquivalent zu demjenigen Spi-
geblieben. Das Denken ist bei Spinoza ideal, während nozas erblicken kann, gilt dies metaphysisch jedoch
er die Ausdehnung als real ansieht. Für Schopenhauer weder in Bezug auf die Einzeldinge, noch in Bezug auf
dagegen ist das Räumliche ebenfalls ideal, indem es das Absolute. Denn das Streben hat bei Schopenhauer
von uns vorgestellt wird. Real hingegen sind die Din- einen ganz anderen Stellenwert im System. Der Wille
ge, wie sie an sich selbst beschaffen sind. Und an sich zum Leben ist bei ihm, anders als bei Spinoza, etwas
sei der Wille eben doch frei, da nach Kant, dem Scho- Transindividuelles und er ist in jedem Einzelding ganz
penhauer hier folgt, alle Notwendigkeit und Determi- und ungeteilt vorhanden. Nur auf dieser Basis gilt
nation nur im und für den Verstand gelte. dann nämlich, dass alle Geschöpfe in ihrer Gesamt-
In der Auseinandersetzung mit Descartes’ Feststel- heit Ich sind. Und wenn bei Spinoza Gott als vollkom-
lung, »[d]er Wille und seine Wahrnehmung sind im menes Wesen nicht zu streben braucht, um sich in sei-
Grunde nur ein und dasselbe« (Descartes 1984, 35), nem Sein zu erhalten, so wird bei Schopenhauer das
verschärft Spinoza dessen Position und identifiziert blinde, ewig unerfüllbare Streben selbst zum Welt-
Wille und Intellekt, welche Berechtigung daraus folge, prinzip und zur Grundlage für das untrennbar damit
dass ein einzelner Willensakt und seine Idee ein und verknüpfte Leid alles Lebens.
dasselbe seien: »voluntas, et intellectus unum, et idem Spinoza setzt Ausdehnung und Denken zu bloßen
sunt«. Dazu vermerkt Schopenhauer handschriftlich Attributen der einen Substanz herab, die beide parallel
212 III  Einflüsse und Kontext

verlaufen. Wie die einzelnen ausgedehnten Dinge fen als durch den desperaten Streich, die Teleologie
Modifikationen der Ausdehnung sind, so sind die selbst, also die Zweckmäßigkeit in den Werken der Na-
individuellen geistigen Phänomene Modifikationen tur zu leugnen, eine Behauptung, deren Monstroses je-
eines umgreifenden Geistigen. Dies ermöglicht das dem, der die organische Natur nur irgend genauer ken-
Konzept der Allbeseelung der Natur. Schopenhauer nengelernt hat, in die Augen springt« (W II, 440 (Lö)).
schränkt eine solche Reichweite der cogitatio drastisch Der Zweck des Lebens und der Ethik ist für Spinoza
ein und erklärt das Psychische zu einem bloßen Epi- die Selbsterhaltung, die Tugend aber vernünftiger Ego-
phänomen des Physischen. Gedanken ohne denkende ismus. Aus der Vernunft versucht er ethische Bestim-
Wesen könne es nicht geben und deren Denken sei an mungen abzuleiten. So erlange der Vernünftige Kon-
materielle Gehirne gebunden. Während bei Spinoza trolle über seine Leidenschaften, er denke nicht an den
die Einheit zwischen Leib und Seele besteht, besteht Tod, nur er könne in rechter Weise dankbar sein, er sei
die Einheit bei Schopenhauer zwischen dem Leib und edelmütig und gütig etc. Zudem folgten daraus Zweck-
dem an sich selbst bewusstlosen Willen zum Leben, gemeinschaften: »Wohl lehrt uns die Vernunft die Not-
dessen Erscheinung er ist. wendigkeit, um unseres Nutzens willen uns mit den
Aus der Einheit leiblicher und seelischer Vorgänge, Menschen zu vereinigen, keineswegs aber mit den Tie-
d. h. der Einheit der Natur leitet Spinoza die Berechti- ren oder mit Dingen, deren Natur von der mensch-
gung ab, nach einer Einheitsmethode zu verfahren. Die lichen gänzlich verschieden ist« (E4Prop37Sc1). Fer-
Kausalität in der Natur hatte Aristoteles unterschieden ner ergibt sich eine streng instrumentalistische Be-
in vorwiegend in der anorganischen Natur geltende handlung der Umwelt: »Alles übrige, was es in der Na-
Wirkursachen und Zweckursachen in der organischen tur der Dinge außer den Menschen gibt, zu schonen,
Natur. Die Wirkursache sagt aus, wodurch etwas ist, fordert darum die auf unseren Nutzen hinsehende
woher das Explanandum kommt; die Endursache er- Vernunft nicht; sie lehrt uns vielmehr, es je nach seiner
klärt, weshalb es ist, wozu das Explanandum dient. verschiedenen Brauchbarkeit zu schonen, zu zerstören
Aber schon Spinozas Vorläufer Descartes verbannt die oder auf jedwede Weise unserem Gebrauche anzupas-
Untersuchung der Zweckursachen aus der Philoso- sen« (E4App26). Schopenhauer kommentiert: »Spino-
phie, und zwar sowohl aus der Naturbetrachtung als za klebt bisweilen vermittelst Sophismen eine Tugend-
auch aus der Spekulation über Gottes Absichten bei der lehre an seinen fatalistischen Pantheismus, noch öfter
Schaffung der Welt (vgl. Descartes 1965, 10). Spinoza aber läßt er die Moral gar arg im Stich« (N, 472 f. (Lö)).
schließt sich ihm an und ergänzt, dass »jene Lehre vom Er hält ihm die Identifikation von Moralität mit Klug-
Zweck die Natur gänzlich auf den Kopf stellt. Denn was heit als Immoralismus vor (vgl. W II, 756 (Lö)). Und
in Wahrheit Ursache ist, sieht sie als Wirkung an, und die Vernunft sei nur ein Erkenntniswerkzeug, das im
umgekehrt. Sodann macht sie das der Natur nach Frü- Dienste des – moralischen oder nicht moralischen –
here zum Späteren« (E1P36App). Spinoza ist bereits Willens stehe.
ein Vertreter der heutigen Auffassung von Design in Im Tractatus theologico-politicus folgert Spinoza
der Natur ohne Designer. Die Menschen staunten über daraus, dass Gottes Macht sein Recht ausmache, das-
die Harmonie in der Natur und folgerten in Unkennt- selbe auch für jedes Einzelding gelte und dieses »von
nis der wahren Ursache solcher Kunstwerke, dass diese Natur soviel Recht hat, als es zum Sein und Wirken
»nicht auf mechanischem Wege, sondern durch gött- Macht hat« (TTP, 60, Kap. 2, § 3). Die Identifizierung
liches oder übernatürliches Können gebildet« seien von Recht und Macht veranlasst Schopenhauer, Spi-
(ebd.). Das aber sei ein großer Irrtum, ebenso wie der noza als einen Vertreter des »Faustrechts« (P II, 286
Wahn, dass alles zum Nutzen der Menschen eingerich- (Lö)) anzusehen und er hält dem entgegen: »Das
tet sei. Damit wendet sich Spinoza gegen den physiko- Recht an sich selbst ist machtlos: von Natur herrscht
teleologischen Gottesbeweis, dem stärksten Argument die Gewalt. Diese nun zum Rechte hinüberzuziehn, so
des Theismus, dem Spinoza laut Schopenhauer »den daß mittelst der Gewalt das Recht herrsche, dies ist das
Weg verrennen« wollte. Schopenhauer stimmt ihm in Problem der Staatskunst – und wohl ist es ein schwe-
diesem Punkt ebenso zu wie darin, dass die Zweck- res« (P II, 295 (Lö)). Handschriftlich notiert er, dass
mäßigkeit nicht wie sie für den Intellekt existiert, auch die großen Fische, welche die kleinen fressen, nicht et-
durch den Intellekt zustande gekommen wäre (vgl. wa ein Recht dazu hätten, sondern sie folgten bloß den
W II, 423 f. (Lö)). Dabei hätte Spinoza jedoch alle Gesetzen der Natur (vgl. HN V, 166). Schopenhauers
Zweckmäßigkeit eingeengt auf die göttliche Vor- moralischer Rechts- bzw. Unrechtsbegriff orientiert
sehung: »Spinoza aber wußte sich nicht anders zu hel- sich am Willen, nicht an der Stärke (vgl. HN V, 171).
16  Baruch de Spinoza 213

Mitleid, für Schopenhauer die Grundlage aller Mo- ethisch ist, aus dem Stoffe der Ethik, dem Willen, kon-
ral, resultiert für Spinoza nur aus der Imitation der Af- struiert ist; weshalb ich mit viel besserem Recht meine
fekte (vgl. E3Prop27). Spinoza behauptet, dass »der Metaphysik hätte ›Ethik‹ betiteln können als Spinoza,
Mensch, der nach dem Gebote der Vernunft lebt, so bei dem dies fast wie Ironie aussieht und sich behaup-
viel als möglich zu erreichen sucht, von Mitleid nicht ten ließe, daß sie den Namen wie ›lucus a non lucendo‹
berührt zu werden« (E4Prop50Cor). Die mit anderen führt, da er nur durch Sophismen die Moral einem Sys-
geteilte Schwäche verdoppelt nur die eigene Ohn- tem anheften konnte, aus welchem sie konsequent
macht. Seine Auffassung wird von der Aussage ge- nimmermehr hervorgehn würde: auch verleugnet er
krönt: »Wer richtig erkannt hat, daß alles aus der Not- sie meistens geradezu mit empörender Dreistigkeit
wendigkeit der göttlichen Natur folgt und nach den [...]« (N, 473 f. (Lö)).
ewigen Gesetzen und Regeln der Natur geschieht, der
wird sicherlich [niemanden] bemitleiden« (E4Prop18). Zu Spinozas Zeit konnte es lebensgefährlich sein, sei-
Für Spinoza gilt, dass je mehr der Mensch die Dinge ne Meinung offen kund zu tun, erst recht wenn sie re-
unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, gleichsam das ligionskritisch war. Deshalb gebrauchte Spinoza zur
Göttliche, erkennt, desto vollkommener, glücklicher Vorsicht seine Worte so, dass dies nicht gleich auffiel.
und freier wird er. Diese Erkenntnis führe dazu, Gott Schopenhauer bemerkt, dass Spinoza oft irreführende
zu lieben, obwohl Spinoza die moralische Indifferenz Termini verwendet:
des Weltprinzips erkannt hat. Schopenhauer konsta-
tiert zusammenfassend: Bei »Es ist ein angeborener Fehler des Spinoza, Worte zur
Bezeichnung von Begriffen zu mißbrauchen, die alle
»Spinoza ist seine substantia aeterna, das innere Wesen Welt durch andere Worte anzeigt, so nennt er Gott,
der Welt, welches er selbst Deus betitelt, auch seinem dessen wahrer Name Welt ist, er nennt Recht, dessen
moralischen Charakter und seinem Werthe nach, der wahrer Name Gewalt ist, er nennt Wille, dessen wahrer
Jehova, der Gott-Schöpfer, der seiner Schöpfung Beifall Name Urteil ist: er ist also das genaue Ebenbild jenes
klatscht und findet, daß Alles vortrefflich gerathen sei bestens bekannten Theaterfürsten der Kosaken in der
[...]. Kurz, es ist Optimismus: daher ist die ethische Seite Geschichte ›Graf Benjowski‹« (P I, 23 (Lö)).
schwach, wie im Alten Testament, ja, sie ist sogar falsch
und zum Theil empörend« (W II, 826 f. (Lö)). Dabei bezieht er sich auf die Figur des Hettmann in
Kotzebues Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf
Der Pantheismus ist für Schopenhauer nur ein »höfli- Kamtschatka von 1795. Schopenhauer hat den Zu-
cher Atheismus«, impliziert aber immer noch eine sammenhang richtig erkannt, denn Kotzebue hat Spi-
moralische Billigung der Übel. Doch diese Welt voll noza in der Tat rezipiert und sich mit Franz von Spaun
»zappelnder, leidender Wesen«, das müsste ja ein ausgetauscht, der sich sogar Spinozas geometrischer
»sauberer Gott« sein! »Denn gerade die Ethik ist es, an Methode wie dieser bei der Erklärung gesellschaftli-
der aller Pantheismus scheitert« (W II, 756 (Lö)). cher Beziehungen bediente.
Ähnlich wie bei Spinoza führt auch bei Schopen-
hauer die selbstvergessene Kontemplation einen se- Literatur
ligen Zustand herbei. Diese Intuition des Gemein- Birnbacher, Dieter: Freiheit durch Selbsterkenntnis. Spinoza
samen, Einen und Ewigen ist bei Schopenhauer, struk- – Schopenhauer – Freud. In: Schopenhauer-Jahrbuch 74
(1993), 87–102.
turell wie bei Spinoza, die höchste Erkenntnisstufe Brann, Henry Walter: Schopenhauer und Spinoza. In: Scho-
von dreien und besitzt Heilsfunktion. Sie bringt bei penhauer-Jahrbuch 51 (1970), 138–152.
ihm jedoch im Gegensatz zu Spinoza keinen Amor Dei Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie. Hg., übers.
hervor, sondern Mitleid und Resignation. Denn der und erläutert von Artur Buchenau. Hamburg 71965.
Willensmonismus weist die Individuation als bloß Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Hg. und übers.
von Klaus Hammacher. Hamburg 1984.
scheinhaft aus, was eine notwendige Voraussetzung
Egyed, Bela: Spinoza, Schopenhauer and the Standpoint of
dafür sei, um »echte, uneigennützige Tugend« zu be- Affirmation. In: PhaenEx 2.1 (2007), 110–131.
gründen. So unterstreicht Schopenhauer energisch, Feyerabend, Wilhelm: Schopenhauers Verhältnis zu Spinoza.
sozusagen der bessere Spinozist zu sein: Bonn 1910.
Rappaport, Samuel: Spinoza und Schopenhauer: eine kritisch-
»Nur die Metaphysik ist wirklich und unmittelbar die historische Untersuchung mit Berücksichtigung des unedier-
ten Schopenhauerschen Nachlasses dargestellt. Berlin 1899.
Stütze der Ethik, welche schon selbst ursprünglich
214 III  Einflüsse und Kontext

Sander, Thorsten: Schopenhauer und Spinozas Affekten- und mit Einl., Anm. und Reg. versehen von Carl Geb-
lehre. In: Achim Engstler/Robert Schnepf (Hg.): Affekte hardt. Bd. 4: Descartes Prinzipien der Philosophie auf geo-
und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext. Hildesheim/Zürich/ metrische Weise begründet. mit d. »Anhang, enthaltend
New York 2002. metaphysische Gedanken«. Übers. von Artur Buchenau.
Schulz, Ortrun: Wille und Intellekt bei Schopenhauer und Einl. und Anm. von Wolfgang Bartuschat. Hamburg
Spinoza. Diss. Hannover. Frankfurt a. M. 1993. 51978.

Schulz, Ortrun: Schopenhauers Anleihen bei Spinoza. Nor- Spinoza, Benedictus de: Die Ethik; Schriften und Briefe. Hg.
derstedt 2014. von Friedrich Bülow. Stuttgart 1982 [E].
Spinoza, Baruch (Spinoza, Benedictus de): Opera quae Spinoza, Benedictus de: Opera: lateinisch und deutsch
supersunt omnia. Iterum edenda curavit, praefationes, ­(= Werke). Bd. I: Tractatus theologico-politicus. Hg. von
vitam auctoris, nec non notitias, quae ad historiam scripto- Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Darmstadt
rum pertinent addidit Henr. Eberhard Gottlob Paulus. Bd. 21989 [TTP].

I, II. Jenae 1802/1803. Ucciani, Louis: Schopenhauer critique de Spinoza. In: Phi-
Spinoza, Benedictus de: Sämtliche Werke in sieben Bänden. losophique 1 (1998), 65–68.
In Verbindung mit Otto Baensch und Artur Buchenau hg.
Ortrun Schulz
17  Immanuel Kant 215

17 Immanuel Kant (GBr, 167) leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Wie wichtig
ihm dieser Punkt war, wird deutlich, wenn Schopen-
In seiner Selbsteinschätzung war Schopenhauer so- hauer in der Vorrede zum Hauptwerk seinen An-
wohl einer der besten Kenner der kantischen Philoso- schluss an die kantische Philosophie daraus erklärt,
phie als auch derjenige, der als ihr wahrer Erbe und dass diese allein in der Lage sei, den dem Menschen
Vollender anzusehen sei. In einem Brief an die Kant- »angeborenen, von der ursprünglichen Bestimmung
Herausgeber Rosenkranz und Schubert schreibt er des Intellekts herrührenden Realismus wirklich zu be-
1837: »Seit 27 Jahren hat Kants Lehre nie aufgehört ein seitigen, als wozu weder Berkeley noch Malebranche
Hauptgegenstand meines Studiums und Nachden- ausreichten« (W I, XXIV).
kens zu seyn. Ich möchte wissen, wer unter den Mit- Die erste Auflage der Kritik hatte Schopenhauer
lebenden kompetenter in Kantischer Philosophie wä- erst 1826 kennengelernt (vgl. HN V, 94). Auf diesen
re als ich« (GBr, 166). Im weiteren Briefwechsel mit Umstand vor allem gehen die »bedeutende[n] Berich-
den Herausgebern stimmt er der Einschätzung des tigungen und ausführliche[n] Zusätze« (W I, XXI) zu-
Philosophiehistorikers Tennemann zu, er sei nur ei- rück, die er in der im Anhang des Hauptwerks abge-
nen Schritt weiter gegangen als Kant: »Ich bin meinem druckten »Kritik der Kantischen Philosophie« in der
Lehrer und Meister treu geblieben, so weit er der zweiten Auflage (1844) formulierte (s. Kap. 6.7). Hatte
Wahrheit treu blieb, habe von da, wo er die Sache hin- er Kant zunächst vorgeworfen, den Idealismus ver-
geführt, Einen Schritt weiter gethan, aber nicht in die wässert und das Ding an sich zu einem »garstigen
Luft, wie alle Luftspringer meiner Zeit, sondern auf Wechselbalg« (W 1, 614) gemacht zu haben – und da-
festem Grund und Boden [...]« (GBr, 171). Mit diesen her in dieser Hinsicht Berkeley vorgezogen, der mit
Worten reiht sich Schopenhauer unter diejenigen »der einfachen, so naheliegenden, unleugbaren Wahr-
nachkantischen Philosophen ein, die die Philosophie heit ›Kein Objekt ohne Subjekt‹« (W I, 514) eine völlig
Kants in seinem Geiste fortführen, grenzt sich aber hinreichende Begründung desselben gegeben habe –,
gleichzeitig gegen alle anderen ab, die denselben An- so stellt er nach der Lektüre der ersten Auflage der Kri-
spruch erheben, insbesondere gegen die Vertreter des tik fest, dass »alle jene Widersprüche verschwinden«
Deutschen Idealismus. und Kant dort einen »entschiedenen Idealismus«
Der Briefwechsel, aus dem die Zitate entnommen (W I, 515) vertritt.
sind, dreht sich um den Vorschlag Schopenhauers, bei In den zwei Jahre vor Erscheinen der Welt als Wille
der Edition der Gesamtausgabe der Werke Kants die und Vorstellung entstandenen und unter dem Titel
erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft zugrunde »Gegen Kant« zusammengefassten handschriftlichen
zu legen – ein Vorschlag, der bekanntlich von Rosen- Aufzeichnungen, die Vorarbeiten zu dem Anhang wa-
kranz und Schubert 1838 auch umgesetzt wurde. Die ren, ist der Vorzug Berkeleys noch deutlicher: Hier
Gründe, die Schopenhauer dafür anführt, nämlich wird es als »Grundfehler« (HN II, 398) Kants bezeich-
dass die zweite Auflage der Kritik »ein sich selber wi- net, den Berkeleyschen Satz ignoriert zu haben. Es deu-
dersprechendes, verstümmeltes, verdorbnes Buch ge- tet sich darin an, dass, obwohl Schopenhauer seine ver-
worden« (GBr, 167) sei und daher die längst vergriffe- öffentlichte Kritik an Kant mit der Bemerkung »Kants
ne erste Auflage der Öffentlichkeit wieder zugänglich größtes Verdienst ist die Unterscheidung der Erschei-
gemacht werden müsse, werfen ein erstes Licht auf nung vom Dinge an sich« (W I, 494) einleitet, dieser
seine Kant-Rezeption. Was ihn an der zweiten Auflage Punkt zu Beginn nicht im Zentrum seiner Auseinan-
vor allem stört, ist die Widerlegung des Idealismus, dersetzungen mit dem Königsberger Philosophen lag.
die Kant hinzugefügt hatte, während das Kapitel über In der Tat finden sich in den frühen Studienheften zu
die Paralogismen der Seelenlehre, deren vierter den Kant nur polemische Anmerkungen zum Ding an sich,
transzendentalen Idealismus als empirischen Realis- das Schopenhauer als »die schwache Seite der K(ant)­
mus erläutert, stark verkürzt und verallgemeinernd schen Lehre« (HN II, 265) bezeichnete. Dagegen lobt er
neu verfasst wurde. Schopenhauer vermutet, dass schon hier, wie auch mehrfach später in den veröffent-
Kant einerseits den Vorwurf, seine Lehre sei nur »auf- lichten Schriften, überschwänglich die Lehre vom in-
gefrischter Berkleyanischer Idealismus« (GBr, 166) telligiblen und empirischen Charakter. Im Folgenden
vermeiden wollte und andererseits Repressalien we- soll zunächst ein Überblick über den Anfang und die
gen der Kritik der rationalen Psychologie fürchtete. Entwicklung von Schopenhauers Kant-Rezeption ge-
Infolgedessen habe er den »Hauptpunkt aller Philoso- geben werden, um dann auf einige ausgewählte syste-
phie nämlich das Verhältniß des Idealen zum Realen« matische Punkte etwas näher einzugehen.
216 III  Einflüsse und Kontext

nen Besitz kamen. Ohne Hinweise auf den Zeitpunkt


Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kant bis
des Erwerbs befanden sich in der nachgelassenen Bi-
zur Abfassung des Hauptwerks
bliothek Schopenhauers außerdem Metaphysische An-
In dem erwähnten Brief an Rosenkranz schreibt Scho- fangsgründe der Rechtslehre, zwei weitere Ausgaben
penhauer, er habe »seit 27 Jahren [...] nie aufgehört« der Kritik der Urteilskraft und eine weitere der Prole-
(GBr, 166) Kant zu studieren. Demnach hatte er im gomena, die Kritik der praktischen Vernunft, die
Jahr 1810 dessen Philosophie kennengelernt; das Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Ueber eine
deckt sich auch mit den Angaben in seinem Lebens- Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Ver-
lauf, den er 1819 der Bewerbung um die Habilitation nunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll.
in Berlin angefügt hatte (vgl. GBr, 52). Es war das Später freilich erst kamen die erste Auflage der Kritik
zweite Jahr seines Studiums in Göttingen, in dem ihm, der reinen Vernunft und die von Rosenkranz und
wie er viele Jahre später schreibt, sein Lehrer Gottlob Schubert herausgegebene Ausgabe der Sämmtliche[n]
Ernst Schulze »den weisen Rath« gab, »meinen Privat- Werke hinzu (vgl. HN V, 78–99).
fleiß fürs Erste ausschließlich dem Plato und Kanten Neben einzelnen Notizen, Anmerkungen und
zuzuwenden« (GBr, 261). Im selben Jahr lieh er sich Randschriften gibt es aus der Zeit bis zum Erscheinen
auch zum ersten Mal ein Buch von Kant, die Prolego- des Hauptwerks vier längere, in sich geschlossene Tex-
mena, in der Bibliothek aus (De XVI, 105), und es te Schopenhauers zur Philosophie Kants: (1) Im hand-
taucht die früheste Notiz zu Kant in den Handschrif- schriftlichen Nachlass (HN II, 302–304) befindet sich
ten auf (vgl. HN I, 12 f.). Nach dem Wechsel an die ein mit der Jahreszahl 1812 und der Überschrift »Zu
Universität Berlin vertiefte er sein Kant-Studium: Kant« versehenes Manuskript, in dem sich Schopen-
1811 finden sich unter den ausgeliehenen Büchern ein hauer kritisch mit Kants Begriffen von Vernunft und
Band mit kleineren Schriften Kants, die Kritik der Verstand auseinandersetzt; (2) die Dissertation von
praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft 1813 enthält ein Kapitel »Bestreitung von Kants Be-
(2. Aufl.). Zwischen 1811 und 1814 legte sich Scho- weis dieses Satzes [vom zureichenden Grunde des
penhauer Studienhefte an zu Metaphysische Anfangs- Werdens; M. K.] und Aufstellung eines neuen in glei-
gründe der Tugendlehre, Metaphysische Anfangsgründe chem Sinn abgefaßten« (Diss, 31–44); (3) aus der Zeit
der Rechtslehre, zur Logik (Hg. Gottlob Benjamin Jä- zwischen 1816 und 1818 vermutlich stammt das be-
sche), den Prolegomena, zur Kritik der reinen Vernunft reits erwähnte Manuskript mit dem Titel »Gegen
(5. Aufl.), der Kritik der Urteilskraft (3. Aufl.), der An- Kant« (HN II, 398–426), aus dem schließlich (4) der
thropologie und zu Metaphysische Anfangsgründe der in der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung
Naturwissenschaft (vgl. HN II, 251–301). 1813 hatte er (1818) veröffentlichte Anhang »Kritik der Kantischen
sich die Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.) und noch Philosophie« hervorging.
einmal die Kritik der Urteilskraft (1. Aufl.) und die Das Thema, mit dem Schopenhauer seine Aus-
Prolegomena ausgeliehen. Später schaffte er sich nach einandersetzung mit Kant aufnimmt, und das dann
und nach die Werke Kants selbst an; allerdings ist es auch von zentraler Bedeutung bleibt, ist das Verhältnis
schwierig und in einigen Fällen auch unmöglich, das von Verstand und Anschauung, von diskursiver und
Kaufdatum zu ermitteln. Sicher ist, dass er bei der Ar- intuitiver Erkenntnis. Bereits in der frühesten hand-
beit am Hauptwerk (1814–1818) die Kritik der reinen schriftlichen Aufzeichnung zu Kant sieht er den bün-
Vernunft in der 5. Auflage besaß (vgl. HN V, 94), und digsten Ausdruck für »Kants Mängel« darin, dass
die Anstreichungen und Randbemerkungen in den dieser »die Kontemplation nicht gekannt« (HN I, 13)
Büchern seiner Bibliothek deuten darauf hin, dass habe. Der kantische Kritizismus, den Schopenhauer
schon früh die Kritik der Urteilskraft, die Prolegomena, nicht nur als Selbstkritik der Vernunft, sondern als
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, vernichtende Kritik aller oberen Erkenntnisver-
Zum ewigen Frieden, die Preisschrift Welches sind die mögen, als »Selbstmord des Verstandes« (HN I, 12)
Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und auffasst, müsse durch eine Aufwertung des anschauli-
Wolff ’s Zeiten in Deutschland gemacht hat sowie ein chen Erkenntnisvermögens ergänzt werden. Das der-
Band Vermischte Schriften, der die Träume eines Geis- art »vollendete System des Kriticismus« (HN I, 37) bil-
tersehers, die Beobachtungen über das Gefühl des Schö- det das erste aus der Kant-Rezeption hervorgegangene
nen und Erhabenen, De mundi sensibilis atque intelligi- Projekt, in dessen Verlauf Schopenhauer seine Diffe-
bilis forma et principiis und Ideen zu einer allgemeinen renzierung zwischen abstrakter und intuitiver Er-
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht enthält, in sei- kenntnis, zwischen dem wissenschaftlichen Denken
17  Immanuel Kant 217

und der Anschauung des künstlerischen Genies ent- den Grundlagen der Willensmetaphysik führt (vgl.
wickelt (vgl. Koßler 2012). Königshausen 1977, 195 ff.; Koßler 2012, 471 ff.). Da-
In diesem Zusammenhang sind auch die beiden ers- bei schließt er sich auch der Kant-Kritik seines Lehrers
ten ausführlicheren Auseinandersetzungen zu sehen: Schulze an. Da für ihn in der Anschauung bereits die
In dem Manuskript »Zu Kant« wirft Schopenhauer vollständige empirische Erkenntnis vorliegt, bringt er
Kant zum einen eine Äquivokation bei der Einführung in »Gegen Kant« Kants Rede von dem Gegebenen der
des Begriffs der praktischen Vernunft und andererseits Anschauung (das noch keine Erfahrung ausmacht)
eine unzulässige Trennung von Verstand und Vernunft und dessen Konzeption des »Objekts überhaupt« (KrV,
vor. Damit wird bereits die gegen Kant gewendete Be- B 154) (das nur die Verbindung des anschaulich Gege-
stimmung der Vernunft als bloß theoretisches Ver- benen zu einem Gegenstand überhaupt bezeichnet) so
mögen zur Bildung des Begriffs, d. h. der »Vorstellung zusammen, dass es als die Hypostasierung eines »Ob-
von einer Vorstellung« (HN II, 270) vorbereitet. Da- jekt[s] ohne Subjekt« (HN II, 403), als eine unzulässige
gegen wird die bildhafte Anschauung als »unmittelbare und widersprüchliche Anwendung der Formen der
Vorstellung« (ebd.) gesetzt, aus der allein Begriffe ihren Vorstellung auf das Ding an sich erscheint (vgl. Bau-
Inhalt und Wert erhalten (vgl. HN I, 30). mann 1990; Wartenberg 1900/1901). Die Konsequenz
Die Widerlegung von Kants Beweis der Apriorität aus der Aufdeckung dieses Fehlers liegt für Schopen-
des Kausalitätsgesetzes in der Dissertation beruht hauer darin, dass das Ding an sich in keiner Weise als
dann im Wesentlichen auf der Annahme einer von Be- etwas Objektives aufgefasst werden kann, sondern das
griffen unabhängigen vollständigen Erkenntnis der schlechthin Subjektive, der Wille sein muss: »Statt des-
Anschauung, die bis zur Abfassung des Hauptwerks sen hätte K[ant] unmittelbar vom Willen ausgehn[,]
zur Intellektualität der Anschauung (vgl. W I, 15) wei- ihn als das unmittelbar erkannte Ansich unsrer eige-
terentwickelt wird; denn um die Konstitution der em- nen Erscheinung nachweisen [...] sollen [...] Dies allein
pirischen Realität durch »Vereinigung« (Diss, 22) der leitet auf die Erkenntniß von dem was nicht Erschei-
Anschauungsformen Raum und Zeit ohne Begriffe er- nung [...] ist [...]« (HN II, 421).
klären zu können, muss Schopenhauer den Verstand Die hier angesprochene unmittelbare Erkenntnis
doch wieder von der Vernunft trennen und als ein des eigenen Ansich als Willen hatte Schopenhauer in
»Vermögen der Anschauung« (HN II, 402) neu fassen. der Dissertation vorbereitet, in der er nicht von Kants
Kategorien sind dann nicht mehr wie bei Kant Begriffe, Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erschei-
sondern Funktionen des anschauenden Verstandes, nung, sondern von dessen Lehre vom empirischen
und Schopenhauer reduziert schon bald nach dem Er- und intelligiblen Charakter ausgegangen war; dort
scheinen der Dissertation die Kategorien auf eine ein- hatte er den intelligiblen Charakter als »das innerste
zige, nämlich die der Kausalität (vgl. HN I, 201 f.). von allem Andern unabhängige Wesen des Men-
Auch die physiologische Begründung der apriori- schen« (Diss, 76) bezeichnet, und im Lauf eines Jahres
schen Formen der Erkenntnis, die Schopenhauer im trat nach und nach der Begriff ›Wille‹ an die Stelle des
Anschluss an die Dissertation in der Schrift Ueber das intelligiblen Charakters (vgl. Koßler 2008). Der Lehre
Sehn und die Farben vorgelegt hat (s. Kap. 5) ist im Zu- vom intelligiblen Charakter, wie sie Kant in der Kritik
sammenhang mit dieser Entwicklung zu sehen. Am der reinen Vernunft anlässlich der dritten Antinomie
Ende dieser ersten Auseinandersetzung steht eine völ- dargelegt hatte (vgl. KrV, B 566 ff.), kommt also eine
lige Neubestimmung der Begriffe von Vernunft, Ver- entscheidende Rolle bei der Herausbildung der Wil-
stand und Anschauung (vgl. Bäschlin 1968; Koßler lensmetaphysik zu, und während das Ding an sich zu-
2013; Wicks 1993), von der aus Schopenhauer in dem nächst skeptisch von Schopenhauer betrachtet wurde,
Manuskript »Gegen Kant« und im Anhang zum war seine Begeisterung für die Lehre vom intelligiblen
Hauptwerk immer wieder eine mangelnde Differen- Charakter von Anfang an konstant: Als ein »unver-
zierung zwischen »Anschauung und Denken« (HN II, gleichliches, höchst bewundrungswerthes Meister-
406) bei Kant kritisiert. stück des menschlichen Tiefsinns« (Diss, 77) sieht er
Erst in der Folge gewinnt der Begriff des Dinges an es in der Dissertation, zum »Vortrefflichsten was je
sich seine später so zentrale Bedeutung. Denn indem von Menschen gesagt ist« (HN II, 421) zählt er es in
Schopenhauer seine neue Bestimmung der Erkennt- »Gegen Kant« und auch immer wieder in den später
nisvermögen gegen Kant wendet, kommt er zu einer veröffentlichten Schriften. Der intelligible Charakter
Kritik an dessen Behandlung des Dinges an sich, die als individuelles Ansichsein des Menschen wird im
zwar unberechtigt sein mag, ihn selbst aber direkt zu Hauptwerk mit der Idee gleichgesetzt (vgl. W I, 188),
218 III  Einflüsse und Kontext

und es ist bezeichnend, dass Schopenhauer in der un- ral«, (2) die zweite Auflage der Welt als Wille und Vor-
mittelbar auf die Dissertation folgenden Zeit der Ent- stellung, bei der der Anhang zur »Kritik der Kanti-
stehung der Willensmetaphysik Kants Ding an sich schen Philosophie« wie bereits erwähnt beträchtlich
mit der platonischen Idee identifiziert: »Die Identität verändert und erweitert wurde, (3) das in der zweiten
dieser beiden großen und dunkeln Lehren ist ein un- Auflage der Dissertation Ueber die vierfache Wurzel
endlich fruchtbarer Gedanke, der eine Hauptstütze des Satzes vom zureichenden Grunde weitgehend neu
meiner Philosophie werden soll« (HN I, 132). verfasste Kapitel »Bestreitung des von Kant aufgestell-
Im Anhang zur ersten Auflage der Welt als Wille ten Beweises der Apriorität des Kausalitätsbegriffes«
und Vorstellung konzentriert sich die Kritik Schopen- und (4) der Abschnitt »Noch einige Erläuterungen zur
hauers dementsprechend auf die kantische Konzepti- Kantischen Philosophie« aus den in den Parerga und
on von Verstand, Vernunft und Anschauung, auf die Paralipomena enthaltenen »Fragmente[n] zur Ge-
Kategorienlehre (und damit auch die Auffassungen schichte der Philosophie«.
von Substanz und Materie), die mangelnde Unter- Ein Preisausschreiben der Königlich Dänischen
scheidung zwischen abstrakter und intuitiver Er- Societät der Wissenschaften gab Schopenhauer die
kenntnis, die Herleitung des Dinges an sich und die Gelegenheit, sich nach der Entdeckung der ersten
damit zusammenhängende Behandlung der Frage Auflage der Kritik der reinen Vernunft und ermuntert
nach der Möglichkeit einer Metaphysik. Dagegen fin- durch den Erfolg der »Preisschrift über die Freiheit
den Kants Kritik der praktischen Vernunft und die Kri- des Willens« nun noch einmal intensiv mit der Moral-
tik der Urteilskraft nur wenig Interesse. Was die Ethik philosophie Kants zu beschäftigen. Einer der Gründe
betrifft, so führt Schopenhauer im Wesentlichen die in dafür, dass die zweite »Preisschrift über die Grundlage
dem Manuskript »Zu Kant« schon vorgebrachte Kritik der Moral« nicht gekrönt wurde, ist Schopenhauers
an Kants Lehre von der praktischen Vernunft weiter im II. Kapitel harsch und polemisch vorgebrachte
aus. In der Ästhetik sieht er zwar ein Verdienst Kants »Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fun-
darin, den Blick auf die subjektive Seite, die Rezeption daments«; immerhin umfasst dieser Abschnitt mit 8
von Kunst gewendet zu haben, aber aufgrund der feh- von 22 Paragraphen mehr als ein Drittel des Gesamt-
lenden Kenntnis der Kontemplation habe er sich da- umfangs der Schrift.
bei nicht auf die Anschauung des Schönen, sondern Schon im Anhang zur Welt als Wille und Vorstellung
nur auf Urteile darüber bezogen. Obgleich dieser bringt Schopenhauer zum Ausdruck, dass Kants Feh-
Mangel schon früh von Schopenhauer bemerkt wur- ler, innere und äußere Erfahrung als Quelle der Er-
de, überrascht die kurze und oberflächliche Abferti- kenntnis auszuschließen, insbesondere für den Be-
gung der kantischen Ästhetik doch angesichts der in- reich der Moralphilosophie zu einem falschen Ansatz
tensiven frühen Beschäftigung mit der Kritik der Ur- und eben solchen Konsequenzen führt. Eine auf das
teilskraft und der Tatsache, dass sich drei Exemplare Handeln gerichtete Philosophie kann nicht auf empiri-
dieses Buchs in seinem Besitz befanden; Kants Kon- sche Erkenntnis verzichten, ohne in Widersprüche zu
zeption der ästhetischen Idee etwa, die als Anschau- geraten. Dieser Hauptvorwurf Schopenhauers gegen-
ung, der kein Begriff adäquat ist, durchaus das Interes- über Kants rationaler Ethik liegt der en détail durch-
se Schopenhauers hätte finden können, wird nicht er- geführten »Kritik des von Kant der Ethik gegebenen
wähnt (vgl. Kamata 1988, 168 ff.). Fundaments« zugrunde, wobei zunächst (in § 3, Ue-
bersicht) erläutert wird, warum auf Kants Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten Bezug zu nehmen ist: In
Spätere Auseinandersetzungen mit der
»konciser und strengerer Form« (E, 119) als die Kritik
kantischen Philosophie
der praktischen Vernunft enthalte dieses Buch das We-
Neben vielen einzelnen Bezugnahmen auf Kant, die sentliche der kantischen Ethik, »streng systematisch,
sich sowohl in Schopenhauers veröffentlichten Schrif- bündig und scharf dargestellt, wie sonst in keinem an-
ten als auch im handschriftlichen Nachlass immer dern« (E, 118). Die Kritik der praktischen Vernunft gibt
wieder bis zu seinem Lebensende finden, sind nach zu erkennen, »was Kant eigentlich damit gewollt hat«
dem Erscheinen des Hauptwerks wiederum vier rele- (E, 119), nämlich eine Moraltheologie; die Metaphysik
vante Texte größeren Umfangs herauszuheben: (1) das der Sitten, insbesondere die Tugendlehre, taugt da-
Kapitel »Kritik des von Kant der Ethik gegebenen gegen für Schopenhauer gar nicht zum Leitfaden sei-
Fundaments« in der 1839 eingereichten und 1841 pu- ner kritischen Auseinandersetzung: hier sei »der Ein-
blizierten »Preisschrift über die Grundlage der Mo- fluß der Altersschwäche überwiegend« (ebd.).
17  Immanuel Kant 219

Die wichtigsten Vorwürfe Schopenhauers bestehen aber umgedeutet und in eine moralphilosophische
darin, dass Kant (1) statt der angestrebten Moralphi- Lehre des selbstlosen Mitempfindens auf willensmeta-
losophie eine Moraltheologie vorgelegt habe, indem physischer Grundlage integriert.
er zu Inhalten der traditionellen Metaphysik zurück- Die Änderungen, die Schopenhauer im Anhang des
gekehrt sei, die er (bereits in der Kritik der reinen Ver- Hauptwerks vorgenommen hat, sind zu einem guten
nunft) als die »drei Kardinalsätze« deklariere; das im- Teil darauf zurückzuführen, dass er inzwischen die
perativische Moment, das sich letztlich (sogar die Or- erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft kennenge-
thographie bestätige dies) von dem »Du sollst ...« des lernt hatte. Diese Korrekturen seines Kant-Bildes be-
Dekalogs herleite, verstärke den theologischen Cha- treffen die bereits erwähnte Bewertung des transzen-
rakter der kantischen Ethik. Damit gehe (2) die Ein- dentalen Idealismus im Vergleich zu Berkeley und
führung des Eudämonismus einher, die »auf Glück­ Locke (vgl. W I, 494 ff., 514 ff.), das Verhältnis von Ob-
säligkeit ausgehende, folglich auf Eigennutz gestützte jekt überhaupt und Ding an sich (vgl. W I, 524 ff.), den
Moral [...], welche Kant als heteronomisch feierlich Begriff der Kategorie (vgl. W I, 530 ff., 557), die Be-
zur Hauptthüre seines Systems hinausgeworfen hatte, handlung der rationalen Psychologie (vgl. W I, 579 ff.)
und die sich nun unter dem Namen höchstes Gut zur sowie die Stellung zu Schopenhauers eigener Philoso-
Hinterthüre wieder hereinschleicht« (E, 124). Kristal- phie (vgl. W I, 595 ff.). Hinzu kommen Ergänzungen,
lisationspunkt der Kritik ist schließlich die Begrün- die durch die weitere Entwicklung der nachkantischen
dung der kantischen Moralphilosophie durch den ka- Philosophie, die Erweiterung der Literaturkenntnisse
tegorischen Imperativ, der für Schopenhauer »beim oder – in selteneren Fällen – erneutes Nachdenken
Licht betrachtet, nichts Anderes, als ein indirekter veranlasst wurden. Die Ausführungen zur praktischen
und verblümter Ausdruck des alten, einfachen Grund- Philosophie und zur Kritik der Urteilskraft dagegen er-
satzes, quod tibi fieri non vis, alteri non feceris« (E, hielten abgesehen von Verweisen auf die Kritik an
158), ist. Weil Kant auch für die Grundlegung der Mo- Kant in der »Preisschrift über die Grundlage der Mo-
ralphilosophie die Forderung nach Apriorität auf- ral« (W I, 610) und in den Parerga und Paralipomena
gestellt habe und folgerichtig den kategorischen Impe- (W I, 633) keine nennenswerten Änderungen.
rativ durch einen erfahrungsunabhängigen, subtilen Bei der Bestreitung des kantischen Beweises für die
»Gedankenproceß« (E, 141 ff.) nachweisen wollte, ist Apriorität des Kausalitätsgesetzes war in der zweiten
ein auf abstrakte Begriffe gegründetes Moralgesetz in Auflage der Schrift über den Satz vom Grunde vor al-
den Mittelpunkt der Ethik gelangt, dessen Inhalt lem zu berücksichtigen, dass Schopenhauer in der ers-
nichts mehr als seine Form, nämlich die Verallgemei- ten Auflage noch die Kategorienlehre Kants anerkannt
nerbarkeit, sei. Einer so gearteten »Grundlegung« und erst in den folgenden Jahren die Reduktion der 12
aber spricht Schopenhauer Wirksamkeit und damit Kategorien auf die eine der Kausalität vorgenommen
Wirklichkeit selbst ab (vgl. E, 138, 142 ff.). hatte; dies musste zu einer Korrektur der Argumentati-
Dennoch gesteht Schopenhauer Kant ein »glänzen- on führen. Insgesamt aber wurde die Auseinanderset-
des Verdienst um die Ethik« (E, 174) zu, das in der zung eher verkürzt und vereinfacht (vgl. Nussbaum
»Lehre vom Zusammenbestehn der Freiheit mit der 1985). Zu dieser Zeit (1847) hatte Schopenhauer längst
Nothwendigkeit« (ebd.) besteht: In der großen Denk- die Skrupel abgelegt, die es ihm in der Jugend noch an-
leistung im Theoretischen, der Unterscheidung von gebracht zu scheinen ließen, auf allerlei mögliche Ein-
Ding an sich und Erscheinung, liegt auch der Schlüssel wände gegen seine Kritik an Kant einzugehen.
zum richtigen moralischen Selbstverständnis – die Dieses erstarkte Selbstbewusstsein wird noch deut-
Lehre vom erscheinungshaften empirischen Charak- licher in der letzten größeren Auseinandersetzung mit
ter des Individuums, dem der unveränderliche, intel- Kant, dem Kapitel »Noch einige Erläuterungen zur
ligible Charakter zugrunde liegt. Schopenhauer adap- Kantischen Philosophie« der Parerga und Paralipome-
tiert den kantischen Begriff des intelligiblen Charak- na. Die Themen und Kritikpunkte sind im Wesentli-
ters und übernimmt das »Zusammenbestehn der Frei- chen dieselben wie auch in dem Anhang des Haupt-
heit mit der Nothwendigkeit« (ebd.) als Fazit der werks; die Kritik tritt hier weniger als argumentative
kantischen Unterscheidung der im Empirischen wir- Auseinandersetzung mit den Lehren Kants auf, son-
kenden Kausalität der Natur und der moralitäts- dern wird eher dadurch zum Ausdruck gebracht, dass
begründenden Kausalität der Freiheit. Im Kontext der Schopenhauer demonstrieren will, wie die Gedanken
geforderten Darstellung der empirischen »Grundlage und Absichten Kants auf der Grundlage seiner eige-
der Moral« werden die kantischen Reflexionsgänge nen Philosophie besser zu erläutern und auszuführen
220 III  Einflüsse und Kontext

sind. So wird etwa eine klarere Darlegung des Paralo- Koßler, Matthias: The ›Perfected System of Criticism‹. Scho-
gismus der Personalität vorgeschlagen (vgl. P I, 100) penhauer’s Initial Disagreements with Kant. In: Kantian
oder eine tiefere Fassung des »Begriffs einer Trans- Review 17/3 (2012), 459–478.
Koßler, Matthias: »Ein kühner Unsinn« – Anschauung und
scendentalphilosophie« im »innersten Geist der Kan- Begriff in Schopenhauers Kant-Kritik. In: Stefano Bacin/
tischen Philosophie« (P I, 88). Am Ende seines Lebens Alfredo Ferrarin/Claudio La Rocca/Margit Ruffing (Hg.):
sieht sich Schopenhauer nicht mehr nur als Vollender, Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten
sondern als Überwinder Kants. des XI. Internationalen Kant-Kongresses Pisa 2010. Bd. 5.
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18  Jakob Friedrich Fries, Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jacobi 221

18 Jakob Friedrich Fries, Gottlob der Philosophie Hegels entgegengestellt hat, wenn er
Ernst Schulze, Friedrich Heinrich auch im gleichen Atemzug vom »Friesischen Altwei-
bergeschwätz« (P I, 194) spricht.
Jacobi Vorwiegend äußert sich Schopenhauer jedoch ab-
lehnend zu Fries. In seinem Kommentar der Fries-
Jakob Friedrich Fries
schen Kritik etwa über dessen »grundfalsche Erklä-
Jakob Friedrich Fries (1773–1843), Professor für Phi- rung der sinnlichen Wahrnehmung« oder den Ge-
losophie, Physik und Mathematik, gehört, obwohl bei danken unmittelbar dem Gemüt gegebener Erkennt-
Fichte promoviert und habilitiert, zu den Antipoden nisse (HN II, 361, 363), in Ueber die vierfache Wurzel
des sogenannten Deutschen Idealismus. Er richtet des Satzes vom zureichenden Grunde über die fälsch-
sich gegen Reinhold, Fichte und Schelling und gilt ins- liche Erklärung der fallacia non causae ut causa als
besondere als Gegenspieler Hegels – beide äußern sich die Angabe einer physischen Ursache; letzteres ist ein
wenig anerkennend dem jeweils anderen gegenüber – Vorwurf, den er dort auch Schulze macht (vgl. G, 8).
ohne freilich eine vergleichbare Wirkung zu errei- Kritisiert wird auch der Friessche Gedanke, dass
chen, nicht zuletzt wegen seiner Zwangsemeritierung Schönheit ein Wert sei, den ein Ding rein in sich
als Philosophieprofessor von 1819 bis 1838 aufgrund selbst trägt und nicht durch ein Anderes erhält (vgl.
politischer Äußerungen. Bereits 1825 konnte er je- Fries 1811, 313). Tatsächlich ist Schönheit nach
doch seine Lehrtätigkeit als Physik- und Mathematik- Schopenhauer ein Relationsbegriff. Ihr einen unbe-
professor, deren Einfluss auf seine philosophischen dingten Wert zuzusprechen, sei somit unsinnig (vgl.
Arbeiten er betont, wieder aufnehmen. Zu seinen phi- HN I, 435).
losophischen Hauptwerken gehört die 1807 erschie- Ihren Fokus findet die Schopenhauersche Kritik
nene Neue Kritik der Vernunft, die – wie der Name jedoch in der Bezichtigung des Unverständnisses ge-
schon andeutet – als eine Neukonzeption der kanti- genüber der Kritik der reinen Vernunft: Schopenhau-
schen Philosophie auf Grundlage von Selbstreflexion er meint, dass Fries die von Kant erledigte Metaphy-
angelegt ist. Mit dieser Arbeit hat sich Fries – wohl zu sik mittels der Einführung »angeborener Ideen« wie-
Unrecht – über lange Zeit den von Schopenhauer derbelebt. Der Tatsache, dass die Vorstellungen er-
nicht unterstützen Vorwurf des Psychologismus ein- kenntnistheoretisch nicht zu übersteigen sind, eine
gehandelt. Außenwelt also nicht vernünftig zu fassen ist, setzt
Schopenhauer kommentiert in seinen Studienhef- Fries, so der nicht überzeugte Schopenhauer, einen
ten vermutlich in den Jahren 1812/13 – nur die letzten festen Vernunftglauben daran entgegen, dass den
Absätze stammen wohl aus dem Jahr 1817 (vgl. HN Vernunftideen auch Gegenstände zugrunde liegen –
II, XXIX, 434) – die Friessche Neue Kritik, insbeson- selbst wenn diese Gegenstände, so lässt Schopenhau-
dere den ersten aber auch den zweiten und dritten er Fries einräumen, von unseren Ideen sehr verschie-
Band (vgl. HN II, 361–366). Er untersucht exempla- den sein können. Fries glaubt dementsprechend
risch einzelne Aussagen en détail und erschließt sich nicht nur an die Außenwelt, sondern auch an »die
so die Friessche »Ansicht, die sich als höchst verwor- Realität unsrer individuellen unsterblichen Seele, de-
ren, dumpf und seicht bewährt: obgleich hin und wie- ren Freiheit und de[n] lieben Gott Schöpfer« (HN II,
der ein Gedanke ist« (HN II, 364). Zu den wenigen als 366; Hervorh. V. P.; vgl. auch G, 93). An den Vorwurf
positiv hervorgehobenen Gedanken gehören Fries’ einer verfälschenden Auffassung der Philosophie
Ausführungen zur Unmöglichkeit eines obersten Kants reihen sich weitere Bemerkungen, die sich zu
Prinzips allen Wissens und zur Leerheit des Begriffs Fries im Werk Schopenhauers finden lassen: »Kants
des Absoluten. »Sehr viel Wahres« schreibt Fries ein- hohe Lehre [wird] herabgezogen und verdorben
zig über die Freiheit und nimmt damit in Schopen- [...], durch Fries, Krug, Salat und ähnliche Leute«
hauers Augen zum Teil Schellings Philosophische Un- (P II, 360), und Kants richtige Einsicht der intuitiven
tersuchungen über das Wesen der menschlichen Frei- und unmittelbaren Konstruktion des Raumes durch
heit von 1809 vorweg (HN II, 364; vgl. Fries 1807, eine Verstandesoperation wird durch Fries geleugnet
Bd. 2, 242 f.). In seinem Erstlingsmanuskript von (vgl. G, 53).
1817 hebt er darüber hinaus noch das, was Fries »über Trotz der überwiegend negativen Äußerungen zu
Begründung der Urteile und Beweis« (HN I, 457 Fries gibt es Hinweise auf eine Aufnahme Friesscher
Anm.) sagt, als sehr lesenswert hervor. Im Übrigen Gedanken in die Philosophie Schopenhauers. So be-
rechnet Schopenhauer es Fries hoch an, dass er sich merkt Matthias Koßler:
222 III  Einflüsse und Kontext

»Weniger bekannt und untersucht ist die Wirkung, die kann den Werken Fichtes wie auch Schellings – Hegel
Jakob Friedrich Fries auf Schopenhauer hatte. Mögli- erfährt bei Schulze nie explizit Erwähnung (vgl. d’Al-
cherweise hatte dessen anthropologische Umdeutung fonso 2008, 12 f., 22 f.) – nichts abgewinnen. Er bleibt
der Kritik der reinen Vernunft, mit der sich Schopenhau- vielmehr bei seiner skeptischen Haltung gegenüber
er während seines Studiums intensiver beschäftigte, den menschlichen Erkenntniskräften, der Transzen-
dazu beigetragen, dass er den transzendentalphiloso- dentalphilosophie und dem Idealismus überhaupt, die
phischen Ansatz durch physikalische Betrachtung des er 1801 in seiner Kritik der theoretischen Philosophie
Intellekts und durch empirisch-psychologische Be- noch einmal bestärkt, und tritt in Annäherung an Ja-
obachtungen ergänzen zu müssen meinte« (Koßler cobi – und im Gegensatz auch zur Philosophie Scho-
2006, 368 f.). penhauers – für einen natürlichen Realismus ein, um
dessen Grundlegung er bemüht ist.
Darüber hinaus könnte der – oben angeführte – po- Es ist, laut eigener Auskunft, Schulze, der Schopen-
sitive Hinweis Schopenhauers auf Fries’ Ausführun- hauer zur Philosophie und insbesondere zur Philoso-
gen zur Freiheit ein Indiz dafür sein, dass Friessches phie Kants und Platons bringt:
Gedankengut in die gegenüber Kant gewandelte, on-
tologisierte Auffassung vom intelligiblen Charakter »1809 [habe ich] die Universität Göttingen bezogen
eingegangen ist und damit zur Wandlung des Ver- [...], wo ich Naturwissenschaft und Geschichte hörte,
ständnisses transzendentaler Freiheit von Kant zu als ich im 2ten Semester, durch die Vorträge des G. E.
Schopenhauer beitragen hat (vgl. Koßler 1995, 196 f.). Schulze, Aenesidemus, zur Philosophie auferweckt
Zumindest auf eine Verwandtschaft zwischen Fries wurde. Dieser gab mir darauf den weisen Rath, meinen
und Schopenhauer verweist auch Papousado: In sei- Privatfleiß fürs Erste ausschließlich dem Plato und
nem Aufsatz »Ueber das Verhältnis der empirischen Kanten zuzuwenden und, bis ich diese bewältigt ha-
Psychologie zur Metaphysik« postuliert Fries den ben würde, keine andern anzusehen, namentlich nicht
Aufweis des Apriorischen als notwendig empirisch, den Aristoteles, oder den Spinoza« (GBr, 260 f.).
mit der Begründung, nur so dem sich ansonsten er-
gebenden Zirkel einer apriorischen Begründung des Schopenhauer hört in Göttingen bei Schulze drei Kol-
Apriorischen entgehen zu können. Genau diese Ein- legia: im Wintersemester 1810/11 die Vorlesungen
sicht schlägt sich nach Papousado (1999, 24) auch in über Metaphysik und Psychologie, im Sommersemes-
Schopenhauers »induktivem Apriorismus« nieder. ter 1811 die Vorlesung über Logik. Von allen drei Ver-
Insgesamt kann das Verhältnis von Schopenhauer zu anstaltungen liegen die Kollegnachschriften Schopen-
Fries aber noch nicht als ausreichend erforscht gelten. hauers vor (vgl. d’Alfonso 2008, 11). Darüber hinaus
ist vor allem der junge Schopenhauer eng mit Schulzes
Büchern vertraut, insbesondere mit dem Aeneside-
Gottlob Ernst Schulze
mus, der Kritik der theoretischen Philosophie und den
Als Gottlob Ernst Schulze (1761–1833) 1810 Profes- Grundsätzen der allgemeinen Logik (1810).
sor in Göttingen wird, wo er bald darauf auch von Im Zentrum der Metaphysikvorlesung Schulzes
Schopenhauer gehört wurde, ist er bereits ein be- steht die Philosophie Kants. Seinen Hörern muss dem-
rühmter Mann: 1792 hatte er anonym seinen Aenesi- entsprechend deren enorme Wichtigkeit für die Phi-
demus – nach dem antiken Skeptiker – veröffentlicht, losophie überhaupt vermittelt worden sein, ungeachtet
in dem er nicht nur die Elementarphilosophie Rein- der Tatsache, dass Schulze einer der einflussreichsten
holds einer als vernichtend wahrgenommenen Kritik Kant-Kritiker ist. Wenig positiv und umso kritischer
unterzieht, sondern auch eines der wirkmächtigsten werden dagegen die nachkantischen Systeme Fichtes
Argumente gegen die Stimmigkeit der Philosophie und Schellings dargestellt. Positive Aufnahme erfah-
Kants liefert, obgleich er dessen Philosophie zeit- ren wiederum der Kant-Kritiker und Realist Jacobi wie
lebens mit Hochachtung gegenübersteht. Schulze, auch Friedrich Ludewig Bouterwek, der selbst Profes-
dessen Name bald mit seinem berühmtesten Werk sor in Göttingen ist und ebenfalls einen nicht unerheb-
verschmilzt, gibt mit seiner Kritik einen wesentlichen lichen Einfluss auf den jungen Schopenhauer ausübte
Impuls zur Entwicklung des sogenannten Deutschen (vgl. Schröder 1911, 72 f., der Einflüsse auf Schopen-
Idealismus. Denn es ist Fichte, der Schulzes Kritik re- hauers Konzept von Willen und Leib ausmacht). Scho-
zensiert, aufnimmt und sie mit seinem neuen Konzept penhauer mag seine Bewertungen der unterschiedli-
der Tathandlung zu überwinden meint. Schulze selbst chen Philosophen, die zum Teil noch in seiner Kritik
18  Jakob Friedrich Fries, Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jacobi 223

der Professorenphilosophie wiederzufinden sind (vgl. bleibt ein Überwindungsversuch, der gleichwohl den
d’Alfonso 2008, 23; s. Kap. 9.3), also von Schulze über- Status der Krankheit nicht in Frage stellt, dieser doch
nommen haben, auch wenn er 1811 zunächst nach immer unweigerlich verbunden« (Booms 2003, 124 ff.).
Berlin geht, und zwar nicht zuletzt, um Fichte zu hö-
ren, mit dessen damaligen Stand der Wissenschafts- Neben diesem Hauptkritikpunkt an Kant durch
lehre er – wiederum durch Schulze – durchaus in An- Schulze übernimmt Schopenhauer weitere Fragestel-
sätzen vertraut war (vgl. d’Alfonso 2008, 21 f.). lungen, die Schulze gegenüber der kantischen Phi-
Während sich Schulze sehr lobend zur Dissertation losophie aufwirft, wie etwa die Frage um die Bedeu-
Schopenhauers äußert (vgl. Fischer 1901, 115), sind tung der Kausalität und die nach dem Verhältnis refle-
Schopenhauers Stellungnahmen zu Schulze von eher xiver und intuitiver Erkenntnisart (vgl. Fischer 1901,
zurückhaltender Anerkennung: Wenngleich er Schul- 101–104). Ganz unabhängig von Kant – so meint
zes »schwerfällige und weitläufige Manier« (P I, 96) Schröder (vgl. 1911, 60) – findet sich bei Schulze und
tadelt, nennt er ihn doch einen der scharfsinnigsten Schopenhauer schließlich der Gedanke, dass Subjekt
Gegner Kants (vgl. W I, 519, 544) und erkennt dessen und Objekt Korrelate sein: Kein Subjekt ohne Objekt,
Differenzierung von Grund und Ursache (vgl. G, 22) kein Objekt ohne Subjekt (vgl. Diss, 71 f.; Schulze
oder auch dessen Kritik der Annahme eines inneren 1801, Bd. 2, 61, 66, 69 u. ö.). Insgesamt kann davon
Sinns als philosophische Leistung an (vgl. W I, 519). ausgegangen werden, dass die Lehre Schulzes zumin-
Vor allem aber nennt er ihn – allerdings erst nach des- dest auf den jungen Schopenhauer einen erheblichen
sen Tod 1844 – im Zusammenhang mit Kants »Ein- Einfluss hatte.
führung des Dinges an sich, [...] deren Unstatthaftig-
keit von G. E. Schulze im ›Aenesidemus‹ weitläufig
Friedrich Heinrich Jacobi
dargethan und bald als der unhaltbare Punkt seines
[Kants] Systems anerkannt wurde« (W I, 516). Schul- Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) ist ein, viel-
ze hatte Kant dafür kritisiert, dass dieser in der Ästhe- leicht der Schnittpunkt der literarisch-philosophi-
tik von einem kausalen Verhältnis zwischen affektie- schen Debatten seiner Zeit. Seine kritische schriftstel-
renden Dingen an sich und dem Subjekt ausgehen lerische Arbeit ebnet in gewollt unsystematischer Art
müsse, während er im weiteren Verlauf der Kritik der u. a. in Brief-, Dialog- und Romanform den zeitgenös-
reinen Vernunft die Kategorie der Kausalität streng als sischen Geistesgrößen regelmäßig den Weg, geistiges
subjektive Denkform bestimmt. Dementsprechend Neuland zu betreten. Seine Arbeiten sind gekenn-
kann von Kausalität nur hinsichtlich des Verhältnisses zeichnet von der Ablehnung einer sich alles – ein-
von Vorstellungen gesprochen werden. Der Gedanke schließlich des Unendlichen – unterwerfenden Ratio-
eines subjektexternen und dennoch verursachenden nalität zugunsten eines unmittelbaren, nicht restlos ge-
›Dinges an sich‹ dürfte in der Kritik der reinen Ver- danklich erschließbaren Vernehmens von Wirklich-
nunft also eigentlich nicht auftreten (vgl. Schulze keit, das das Unendliche einschließt. Jacobi führt 1785
1792, 128 f., 263 f., 304 ff.). Indem Schopenhauer diese – gegen seine Intention – Spinoza wieder in die phi-
Kritik an Kant akzeptiert, übernimmt er zugleich das losophische Debatte ein und initiiert damit den Pan-
dieser Kritik zugrundeliegende und Kant damit unter- theismusstreit. Er steht mit seiner Schrift David Hume
stellte Subjektkonzept. Während Schulze jedoch von (1787) am Beginn der Debatte um Idealismus und
der kantischen Philosophie zumindest in dieser Hin- Realismus, wobei sich Jacobi auf die Seite des Realis-
sicht abrückt, bleibt Schopenhauer ihr und damit auch mus stellt und in seiner berühmten »Beilage« wirk-
dem ihr von Schulze zugesprochenen Subjektkonzept mächtig den transzendentalen Idealismus Kants an-
im Prinzip treu. Er importiert damit die durch Schulze greift, und zwar je nach Interpretation entweder – wie
bei Kant aufgefundene und kritisierte Aporetik und später bei Aenesidemus-Schulze – weil Kant gezwun-
Zirkelhaftigkeit in seine eigene Philosophie: gen ist, ein kausales Verhältnis jenseits der Vorstellun-
gen anzunehmen, obwohl er dessen Anwendung zu-
»Wenn ein [...] dem Subjektivismus geradezu verdäch- gleich auf die Sphäre der Vorstellungen begrenzt, oder
tiges System, als welches das Kantische in der Folge der weil Kant innerhalb dieser Sphäre der Vorstellungen
Schulzeschen Sichtweise und damit auch von Schopen- von Kausalität bzw. Verursachung spricht, also dort,
hauer betrachtet wird, gerade aufgrund seiner subjek- wo es eigentlich lediglich um Begründungen gehen
tiven Verfaßtheit unheilbar krank ist – [mit] Symp- kann. In die Studienzeit Schopenhauers fällt schließlich
tomen der Zirkularität und Aporiebehaftetheit –, dann der 1811 mit Schelling geführte Streit um die ›Gött-
224 III  Einflüsse und Kontext

lichen Dinge‹, dessen Vorläufer sich bis zum Athe- mitgetheilten Gedanken« (W I, 44), wie bei Schopen-
ismusstreit 1798/99 zurückverfolgen lassen. hauer. Vielmehr führt die Wortableitung der Vernunft
Niemand steht zumindest dem frühen Schopen-
hauer – bis 1814 – philosophisch so nahe, wie Jacobi. »die Fasel-Philosophen, Jacobi an der Spitze, auf jene
So meint jedenfalls Rudolf Haym und macht diese Nä- das ›Uebersinnliche‹ unmittelbar vernehmende Ver-
he im Einzelnen an der »Lehre von der Duplicität des nunft und auf die absurde Behauptung, die Vernunft
Bewußtseins« respektive des »besseren Bewußtseins« sei ein wesentlich auf Dinge jenseits aller Erfahrung,
fest (Haym 1864, 67; vgl. auch Schröder 1911, 83): »Ich also auf Metaphysik angelegtes Vermögen und erken-
aber sage in dieser Zeitlichen, Sinnlichen, Verständli- ne unmittelbar und intuitiv die letzten Gründe aller
chen Welt giebt es wohl Persönlichkeit und Kausalität, Dinge und alles Daseyns, das Uebersinnliche, das Ab-
ja sie sind sogar nothwendig. – Aber das bessere Be- solute, die Gottheit u. dergl. m.« (E, 150 f.).
wusstsein in mir erhebt mich in eine Welt wo es weder
Persönlichkeit noch Kausalität noch Subjekt und Ob- Das ist ein Gedanke, den Kant, nach Schopenhauer,
jekt mehr giebt« (HN I, 42; vgl. auch HN II, 369 f.). für unterhalb der Schwelle der Kritikwürdigkeit be-
Schopenhauer selbst bringt sein ›besseres Bewusst- funden hätte (vgl. ebd.).
sein‹ (unter Verweis auf Jacobi 1811, 18; wenngleich Ein prinzipielles Missverständnis der kantischen
der Begriff dort nicht explizit fällt) mit dem Denken Philosophie liegt bei Jacobi auch dann vor, wenn er
Jacobis in seinen Erstlingsmanuskripten in Verbin- Kant vorwirft, dessen empirischer Realität käme keine
dung. In einem Atemzug wirft er Jacobi allerdings zu- eigentliche Wirklichkeit zu. Schopenhauer kontert
gleich vor, dass er das ›bessere Bewusstsein‹ mit dem ganz kantisch, wenn er den Spieß umdreht und darauf
Instinkt vermische und damit einen Synkretismus an verweist, dass die Verankerung der Wirklichkeit in ei-
den Tag lege, »dessen nur ein so unphilosophischer ner dem erkennenden Subjekt jenseitigen Außenwelt,
Kopf als Jacobi fähig ist« (HN I, 23). In affirmativer deren Existenz nicht zu beweisen sei, sondern ge-
Verkehrung kennzeichnet Jacobi freilich selbst seine glaubt werden müsse, der empirisch erfahrbaren Rea-
Philosophie als Unphilosophie. Für Schopenhauer lität den Status eigentlicher Wirklichkeit abspräche.
dagegen ist dessen synkretistische Unphilosophie »Jacobi, in seinem Philosophem über die auf Glauben
schlicht die »Unfähigkeit zur Ph[ilosophie], welche angenommene Realität der Außenwelt, ist ganz genau
Kriticismus ist« (HN I, 368). der von Kant [...] getadelte ›transscendentale Realist,
Neben dem ›besseren Bewusstsein‹ – und abge- der den empirischen Idealisten spielt‹« (W II, 9).
sehen von einigen Einzelsentenzen – erkennt Scho- Nun lässt die Annahme einer dem Subjekt jenseiti-
penhauer lediglich Jacobis Differenzierung von gen Außenwelt deshalb die erscheinende Welt der
Grund und Ursache als philosophische Leistung an, Vorstellung fraglich werden, weil der Vermittlungs-
wenn auch mit der Einschränkung, dass es sich bei Ja- gang von externer Außenwelt zu vorgestellter Welt
cobis Ausführungen »wie gewöhnlich bei ihm, mehr systematisch nicht gedanklich nachzuvollziehen ist.
[um] ein selbstgefälliges Spiel mit Phrasen, als ernst- Eine solche Abbildtheorie ist bei Jacobi zweifelsfrei zu
liches Philosophiren« (G, 22) handele. Darüber hi- finden (vgl. etwa Jacobi 1787, 56). Ebenso findet sich
naus lässt Schopenhauer den Vorwurf Jacobis, Kant jedoch die Idee des unmittelbaren Zuganges zur ei-
hätte sich ignorant gegenüber dem Unterschied von gentlichen Wirklichkeit respektive zu dem Aspekt der
Grund und Ursache gezeigt, nicht gelten, denn diese Wirklichkeit, der nicht nur Vorstellung ist (vgl. ebd.,
Differenzierung sei auch schon bei Kant zu finden. 64). In diesem Zusammenhang tritt wieder die Ver-
Auf die Beilage »Ueber den transscendentalen Idealis- nunft auf, denn diese vernimmt bei Jacobi nicht nur
mus« (Jacobi 1787, 209–230), in der – zumindest metaphysische Entitäten, sondern genauso unmittel-
nach einer Auslegung – Jacobi den argumentativen bar die eigentliche Wirklichkeit, und zwar an erster
Kern dieser Kant-Kritik formuliert, geht Schopen- Stelle vermittelt über das Vermögen zu handeln (vgl.
hauer allerdings in dieser Hinsicht nicht ein. Viel- Jacobi 1787, 102), das an einen physischen Körper
mehr wird Jacobi ein generelles Unverständnis gegen- bzw. Leib gebunden ist.
über den Errungenschaften der Kritik der reinen Ver- Eine ganze Reihe derartiger Parallelen zwischen
nunft attestiert. einzelnen Aspekten des Denkens Schopenhauers und
Dies zeigt sich insbesondere an der Auffassung Ja- Jacobis können gerade im Hinblick auf Jacobis Schrift
cobis, die Vernunft sei ein Vermögen, zu vernehmen, David Hume ausgemacht werden. So nennt Günther
und zwar nicht als »das Innewerden der durch Worte Baum (vgl. 2005, 89 f.) die Thematisierung des Unbe-
18  Jakob Friedrich Fries, Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jacobi 225

wussten, die Assoziation von Traumwahrnehmungen Fries, Jakob Friedrich: Ueber das Verhältniß der empiri-
und Wahnsinn, das Hervorheben des Begriffs des In- schen Psychologie zur Metaphysik. In: Psychologisches
dividuums, die Abgestuftheit des Willens sowie die Magazin (Hg. von Carl Christian Erhard Schmid) 3
(1798), 156–203 (= Sämtliche Schriften, Bd. 2. Hg. von
Idee der willenlosen Erkenntnis und eben nicht zu- Gert König und Lutz Geldsetzer. Aalen 1982, 251–298).
letzt die Komplementarität von Wille und Leiblichkeit Fries, Jakob Friedrich: Neue Kritik der Vernunft. 3 Bde. Hei-
bzw. reiner Erkenntnis und Idee sowie auch die Wech- delberg 1807.
selwirkung zwischen Wille und Leib. Letzteres greift Fries, Jakob Friedrich: System der Logik. Ein Handbuch für
allerdings nur, sofern Jacobis Begriff der Seele mit Lehrer und zum Selbstgebrauch. Heidelberg 1811.
Haym, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Berlin 1864.
dem Schopenhauerschen Willen gleichgesetzt wird.
Jacobi, Friedrich Heinrich: David Hume über den Glauben
Die gleiche Strategie findet sich auch bei Schröder oder Idealismus und Realismus [1787] (= Werke, Bd. 2,1).
(vgl. 1911, 89), der beide Denker zumindest teilweise Hg. von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske. Ham-
durch die Identifikation von Jacobis Vernunft mit dem burg 2004, 5–112.
Schopenhauerschen ›besseren Bewusstsein‹ versöh- Jacobi, Friedrich Heinrich: Von den göttlichen Dingen und
nen möchte. Ob es sich dabei im Einzelnen tatsächlich Ihrer Offenbahrung. Leipzig 1811.
Koßler, Matthias: Empirischer und intelligibler Charakter:
um direkte Einflüsse oder lediglich um Analogien im Von Kant über Fries und Schelling zu Schopenhauer. In:
ansonsten sehr unterschiedlichen Denken zweier Phi- Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1995), 195–201.
losophen handelt, die sich gegen eine Überbetonung Koßler, Matthias: Schopenhauer als Philosoph des Über-
der menschlichen Rationalität aussprechen, ist eine gangs. In Marta Kopij/Wojciech Kunicke (Hg.): Nietzsche
noch zu klärende Forschungsfrage. und Schopenhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezei-
ten. Leipzig 2006, 365–379.
Papousado, Denis: Der Schnitt zwischen dem Idealen und
Literatur dem Realen. Untersuchungen zu Schopenhauers Erkennt-
d’Alfonso, Matteo Vincenzo (Hg.): Schopenhauers Kolleg- nistheorie. Bonn 1999.
nachschriften der Metaphysik- und Psychologievorlesungen Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Unter-
von G. E. Schulze (Göttingen, 1810–11). Würzburg 2008. suchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit
Baum, Günther: Imagination, Ich und Wille: Zur Rezeption [1809]. Hamburg 2001.
Arthur Schopenhauers in der bildenden Kunst des 19. Schröder, Wilhelm: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der
und 20. Jahrhunderts. In: Ders./Dieter Birnbacher (Hg.): Philosophie Schopenhauers. Rostock 1911.
Schopenhauer und die Künste. Göttingen 2005, 79–117. Schulze, Gottlob Ernst: Aenesidemus oder über die Fun-
Booms, Martin: Aporie und Subjekt. Die erkenntnistheoreti- damente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena geliefer-
sche Entfaltungslogik der Philosophie Schopenhauers. ten Elementar-Philosphie. Nebst einer Vertheidigung des
Würzburg 2003. Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik.
De Cian, Nicoletta/Stollberg, Jochen (Hg.): G. E. Schulze. Anonym und o. O. 1792.
Vorlesung über Metaphysik. Corso di metafisica secondo il Schulze, Gottlob Ernst: Kritik der theoretischen Philosophie.
manuscritto di A. Schopenhauer. Trento 2009. 2 Bde. Hamburg 1801.
Fischer, Ernst: Von G. E. Schulze zu A. Schopenhauer. Ein Schulze, Gottlob Ernst: Grundsätze der allgemeinen Logik
Beitrag zur Geschichte der Kantischen Erkenntnistheorie. [1802]. Helmstädt 21810.
Aarau 1901.
Valentin Pluder
226 III  Einflüsse und Kontext

19 Johann Wolfgang von Goethe lässt ihn warten und reagiert auch auf einen Mahnbrief
vom 3. September 1815 zurückhaltend und reserviert.
Biographischer Kontext – psychologische
Er lässt durchblicken, dass aus seiner Sicht unüber-
Aspekte
windliche sachliche Differenzen bestehen, vermeidet
Als Schopenhauer 1807/08 – zu Beginn seines philoso- es aber, sich auf eine inhaltliche Auseinandersetzung
phischen Lebens und noch keine 20 Jahre alt – Goethe einzulassen, die er für vergeblich zu halten scheint.
in Weimar erstmals begegnet, hat Goethe im Alter von »Und so sah ich denn nur allzu deutlich, daß es ein ver-
fast 60 Jahren den Höhepunkt seiner Laufbahn bereits gebnes Bemühen wäre, uns wechselseitig verständigen
erreicht (zu den biographischen Details der Bekannt- zu wollen« (Lütkehaus 1992, 31). Als Schopenhauers
schaft zwischen Goethe und Schopenhauer vgl. u. a. Hoffnung auf Goethes Herausgeberschaft »allmählig
Zimmer 2016). Faust I erscheint 1808, die Arbeit an zerstöhrt« ist, wie er im Januar 1816 Goethe gegenüber
der Farbenlehre, der Goethe eine höhere Bedeutung feststellt (ebd., 28 f.), erbittet er das Manuskript zu-
beimaß als seinen literarischen Werken, wird nach rück, um es selbstständig zu veröffentlichen, was noch
mehr als 20 Jahren abgeschlossen und steht ebenfalls im selben Jahr geschieht. Es kommt dadurch jedoch zu
kurz vor der Publikation (1810). Schopenhauer liest, keinem Bruch zwischen den beiden. Sowohl Goethes
bewundert und verehrt Goethe bereits, wird aber von Respekt für Schopenhauer als Philosoph als auch
ihm auf den Teegesellschaften im literarischen Salon Schopenhauers Bewunderung für Goethe als Dichter
seiner Mutter Johanna Schopenhauer kaum beachtet. und Farbenlehrer bleiben bestehen. Goethe gehört zu
Das ändert sich erst, als er nach seinem Studium in den von Schopenhauer am meisten zitierten Autoren
Göttingen und Berlin im Oktober 1813 mit der Schrift (zu den gegenseitigen »Wechsellektüren« vgl. Regehly
Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden 2016). Der Briefwechsel endet jedoch 1818, eine letzte
Grunde in Jena promoviert. Goethe liest die Schrift be- Begegnung in Weimar findet im August 1819 statt.
reits Anfang November 1813 und führt darüber mit
Schopenhauer am 6. November bei einem Teeabend
Goethes Farbenlehre
seiner Mutter ein längeres Gespräch. »Der junge Scho-
penhauer« habe sich ihm, wie er Karl Ludwig von Kne- Ausgangspunkt und Hintergrund für Goethes großes
bel schreibt, »als einen merkwürdigen und interessan- Interesse an der Farbenlehre ist die Kunsttheorie. Hier
ten jungen Mann dargestellt [...] Er ist mit einem ge- findet er zwar eine ausgefeilte Theorie der Zeichnung
wissen scharfsinnigen Eigensinn beschäftigt ein Paroli und der Perspektive, eine vergleichbare Theorie der
und Sixleva in das Kartenspiel unserer neuen Philoso- Farbgebung, des ›Kolorits‹, aber sucht er vergebens
phie zu bringen [...]; ich finde ihn geistreich« (Goethe (vgl. Rehbock 1995, Kap.VI). Er wendet sich der Physik
1988, 247). Auch wenn es eine Vielzahl an Möglichkei- zu, um hier eine Farbtheorie zu finden, die für die
ten gibt, die Werke Goethes und Schopenhauers mit- Kunst von Nutzen sein könnte, stößt aber dort auf die-
einander in ein Gespräch zu bringen (vgl. u. a. die Bei- selbe Geringschätzung der Farbe. Die Farben, so lautet
träge in Schubbe/Fauth 2016), so dominiert in der For- die zu Goethes Zeit anerkannte Newtonsche Theorie,
schung doch die Auseinandersetzung über die Farben- seien nichts anderes als verschieden brechbare Licht-
lehre. Dies hat auch historische Gründe: In der strahlen. Dazu Goethe in seinen Maximen und Refle-
Hoffnung, einen Mitstreiter für seinen Kampf gegen xionen: »Der Newtonische Irrtum steht so nett im Kon-
die Vorherrschaft der Newtonschen Theorie der Far- versationslexikon, daß man die Oktavseite nur aus-
ben und für seine Farbenlehre zu finden, lädt Goethe wendig lernen darf, um die Farben fürs ganze Leben los
Schopenhauer bis zum Frühjahr 1814 mehrfach zu ge- zu sein« (MuR, 463). An die Stelle der sichtbaren Far-
meinsamen Experimenten und philosophischen Ge- ben tritt hier aus Goethes Sicht ein abstraktes, gewis-
sprächen ein. Mit einer eigenen kleinen Schrift Ueber sermaßen farbloses geometrisches Konstrukt als ver-
das Sehn und die Farben (1815; s. Kap. 5) unternimmt meintlich reale Gegebenheit. Die Farben selbst werden
Schopenhauer daraufhin den selbstbewussten Ver- zu bloß subjektiven Sinnesempfindungen, die angeb-
such, Goethes Farbenlehre zu verteidigen und, wie er lich – durch die Einwirkung der Lichtstrahlen auf das
meint, sogar zu vollenden, indem er ihr eine theoreti- Auge und über die Nervenbahnen auf das Gehirn – im
sche Grundlage verschafft. Er schickt diese Schrift im menschlichen Bewusstsein erzeugt werden. Goethe
Juli 1815 an Goethe, verbunden mit der Bitte, er möge wendet sich gegen diese Subjektivierung der Farben,
die Herausgeberschaft für dieses Werk übernehmen. die Farben als Farben sind aus seiner Sicht ebenso un-
Goethe aber, zurzeit mit anderen Dingen beschäftigt, aufhebbar objektive Qualitäten der äußeren Welt wie
19  Johann Wolfgang von Goethe 227

die quantifizierbaren Eigenschaften der Ausdehnung man zudem Goethes Farbenlehre nicht als eine physi-
oder Gestalt. Was die Farben ihrem Begriff oder Wesen kalische Theorie der Farben verstanden, sondern als
nach sind, sei nicht durch bloßes Denken jenseits der eine systematisch geordnete Sammlung von Beobach-
sinnlichen Phänomene, sondern nur durch sinnliche tungen und Experimenten, die für die Sinnes- und
Anschauung in den Phänomenen selbst zu finden: Neurophysiologie der Farben von Nutzen seien (ebd.,
»Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische 269–277). Auf dieser Linie einer physiologischen Deu-
schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns tung liegt auch Schopenhauers Versuch einer Verteidi-
das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts gung der Goetheschen Farbenlehre.
hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre«
(MuR, 432). Dieses die Farben konstituierende Grund-
Schopenhauers Theorie der Farben
gesetz der Chromatik formuliert Goethe im »Urphä-
nomen«. Dessen Hauptelemente sind die Polarität zwi- Schopenhauer lehnt die Newtonsche Theorie der Far-
schen dem Licht bzw. dem Hellen und der Finsternis ben ebenso ab wie Goethe. Er ist jedoch der Meinung,
bzw. dem Dunklen sowie das trübe Mittel (Luft, Rauch, Goethe habe zwar »die Phänomene zuerst und höchst
Atmosphäre, Glas, das Prisma usw.) als Vermittlung vollkommen dargestellt« (Lütkehaus 1992, 21), er
zwischen den beiden Polen (Goethe 1966, 368). Daraus selbst, Schopenhauer, aber habe mit seiner Schrift Ue-
resultiert das »Schattenhafte der Farbe (σκιερον)« ber das Sehn und die Farben »die erste wahre Theorie
(ebd., 386). Aufgrund dessen seien Farben notwendi- der Farbe geliefert« (ebd., 20), die es ermögliche, die
gerweise dunkler als Weiß und heller als Schwarz, und Phänomene zu »beweisen« (ebd., 21). Diese Theorie
Farbtöne seien hinsichtlich ihrer Nähe oder Ferne zu sei gewissermaßen die noch fehlende Spitze, welche
Schwarz und Weiß zu ordnen: Blau ist dem Schwarz, die von Goethe erbaute Pyramide vollende (vgl. ebd.),
Gelb dem Weiß am nächsten (vgl. Rehbock 1995, 228– »indem sie vor allen Dingen zu erklären sucht, was die
230). Goethe nimmt zudem eine systematische Eintei- Farbe ihrem Wesen nach sei« (F, 200). Dieses Wesen
lung der Farben hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von der Farbe liege weder in einer ursprünglichen Teilung
den Funktionen des Auges in physiologische (z. B. des Lichtstrahls, wie für Newton, noch in der Polarität
Nachbilder), physische (z. B. prismatische Farben, der von Licht und Finsternis, wie Goethe meinte, sondern
Regenbogen) und chemische (den Dingen anhaftende) allein im Auge. Auch das Goethesche Urphänomen
Farben vor. Diese Einteilung bestimmt die Gliederung sei, entgegen Goethes Behauptung, nicht eine ur-
der Farbenlehre, hinzu kommen allgemeinere Bemer- sprüngliche und nicht weiter erklärbare Gegebenheit,
kungen zur Beziehung der Farbenlehre zu verschiede- sondern nur äußerer Anlass für das »eigentliche Ur-
nen Disziplinen und zur ›sinnlich-sittlichen Wirkung phänomen« (F, 275) der »qualitativ geteilten Tätigkeit
der Farbe‹, d. h. zu psychologischen, ästhetisch-sym- der Retina« (F, § 5), d. h. der »organische[n] Fähigkeit
bolischen und ethisch-sittlichen Aspekten. der Retina, ihre Nerventätigkeit in zwei qualitativ ent-
Aus naturwissenschaftlicher Sicht wurde und wird gegengesetzte, bald gleiche, bald ungleiche Hälften
Goethes Farbenlehre nicht als eine alternative Theorie auseinandergehn und sukzessiv hervortreten zu las-
der Farben angesehen, die mit der Newtonschen Theo- sen« (F, 275). »Die Farben selbst, ihre Verhältnisse zu-
rie irgendwie konkurrieren könnte. Goethe, so scheint einander und die Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinung,
es, hält an einer vorwissenschaftlichen, anschauungs- dies alles liegt im Auge selbst und ist nur eine beson-
orientierten, poetischen Weltanschauung und Denk- dere Modifikation der Tätigkeit der Retina« (F, 270).
weise fest und stellt sich damit dem naturwissenschaft- Dass Schopenhauer mit dem Anspruch auftritt, in
lichen Fortschritt entgegen. Seine Farbenlehre sei, so nur wenigen Monaten Goethes Werk, an dem dieser
Emil du Bois-Reymond, die »todtgeborne Spielerei ei- mehr als 20 Jahre gearbeitet hatte, nicht nur zu vertei-
nes autodidaktischen Dilletanten« (vgl. Rehbock 1995, digen, sondern zu vollenden und zu korrigieren,
264–269). Es gibt aber bis heute auch Versuche, Goe- musste Goethe an sich schon als kaum akzeptable An-
thes Farbenlehre zu retten, indem man sie, im Sinne maßung erscheinen. Seinen Unmut darüber äußert er
einer Fundamentalkritik der klassischen Physik bzw. in zwei Epigrammen, die Schopenhauer in der Einlei-
der Naturwissenschaften überhaupt, als ein alternati- tung zur zweiten Auflage seiner Schrift selbst zitiert:
ves Paradigma von Wissenschaft versteht (vgl. ebd. »Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, / Wenn
277–315). Im Zuge der Entwicklung der Psychologie Schüler nur nicht gleich zu Lehrern würden.« Und:
bzw. Physiologie im 19. Jahrhundert (Johannes Müller, »Dein Gutgedachtes, in fremden Adern, / Wird so-
Jan E. Purkinje, Hermann von Helmholtz u. a.) hat gleich mit dir selber hadern« (F, 201). Die Gründe für
228 III  Einflüsse und Kontext

seine Ablehnung der Schopenhauerschen Farbent- begrifflich geformt und strukturiert ist, wenn er sagt,
heorie hat er nicht genauer angegeben, sie lassen sich »daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die
aber rekonstruieren, wenn man sich das jeweils zen- Welt theoretisieren« (Goethe 1966, 317), und wenn er
trale Anliegen ihrer Theorien im Gesamtkontext ihres auf die das Anschauen leitenden ›Vorstellungsarten‹
philosophischen Denkens verdeutlicht und dabei aufmerksam macht, die kritischer Reflexion bedürfen
auch die Gemeinsamkeiten nicht übersieht. (vgl. Rehbock 1995, 260). Schiller charakterisiert Goe-
thes Methode als eine »rationelle Empirie«, die eine
»Erkenntnis der Methode« einschließe und die, wie
Anschauung und Begriff
Goethe mit offensichtlicher Anspielung auf Kant hin-
Es wird oft erwähnt, an Schopenhauers Dissertation zufügt, auf dem »höchsten Punkte auch nur kritisch
hätten besonders die Ausführungen zum Begriff der werden« könne (vgl. ebd., 357). Dass Anschauung oh-
Anschauung Goethes Interesse geweckt (vgl. Döll ne Begriffe blind ist, so wie Begriffe ohne Anschauung
1904, 13 f.; Safranski 1990, 266; Kisner 2016). Da ihr leer sind, diese kantische Einsicht hat Goethe sich
Verständnis der Anschauung aber sehr verschieden noch entschiedener zu eigen gemacht als Kant selbst.
sei, beruhe dieses Interesse wohl eher auf einem Miss- Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass er
verständnis (vgl. Zimmer 2010, 97 f.). Goethes Ver- auch Schopenhauers über Kant hinausgehende Aus-
ständnis von Anschauung sei auf die objektive Welt ge- führungen zur wechselseitigen Bedingtheit von An-
richtet, während sie für Schopenhauer die durch das schauung und Begriff nicht nur verstanden, sondern
Subjekt (den Verstand) geformte Erscheinung der sie vermutlich mit Sympathie betrachtet hat. Scho-
»Welt als Vorstellung« ausmache. Damit wird zwar der penhauer ging es einerseits darum, die vorreflexive, in
Gegensatz zwischen beiden zutreffend charakterisiert; unserer leiblichen Verfassung gründende Strukturie-
es ist aber zu berücksichtigen, dass Goethe keineswegs rung der Anschauung durch den Verstand (Raum,
ein so naiver Realist und Anti-Kantianer ist, als der er, Zeit, Kausalität) zu analysieren; er betont aber ande-
auch durch Schopenhauer selbst, dargestellt wird: rerseits auch die Abhängigkeit der Begriffe von der
»anschaulichen Auffassung der Dinge« (W II, 432; vgl.
»Aber dieser Goethe [...] war so ganz Realist, daß es ihm Spierling 2010, 19 f.). Aufgrund dessen ist auch die äs-
durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als sol- thetische Dimension seiner Philosophie von großer
che nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Bedeutung (vgl. Spierling 2002, 74–85), was ihn eben-
Subjekt vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit falls mit Goethe verbindet. Es ist daher gerade die be-
seinen Jupiteraugen mich anblickend, das Licht sollte sondere Hinwendung zu den Phänomenen in der
nur da seyn, insofern Sie es sehen? Sie wären nicht da, sinnlichen Anschauung, die umgekehrt Schopenhau-
wenn das Licht Sie nicht sähe« (Gespr, 31). er an Goethe besonders schätzt und als notwendiges
Korrektiv der kantischen Vernunftkritik betrachtet,
Goethe lehnt damit Schopenhauers ›idealistische‹ wenn er bemerkt: »Wäre nicht mit Kant zu gleicher
Auffassung der Welt, und damit auch der Farben, als Zeit Goethe der Welt gesandt, gleichsam um ihm das
›Vorstellung‹ und bloßes Produkt des Verstandes ab, Gegengewicht im Zeitgeist zu halten, so hätte jener auf
negiert aber nicht die Bedingtheit der Realität der Far- manchem strebenden Gemüt wie ein Alp gelegen und
ben durch das Auge als leibliches Organ. Diese Ein- es unter großer Qual niedergedrückt, jetzt aber wir-
sicht dient ihm vielmehr im Gegenteil als Hauptargu- ken beide aus entgegengesetzten Richtungen und un-
ment gegen Newtons Fiktion einer vom Auge un- endlich wohlthätig« (HN I, 13).
abhängigen, im Grunde unsichtbaren und farblosen Vor diesem Hintergrund lässt sich präzisieren, wo-
Realität der Farben in Form verschieden brechbarer rin die gleichwohl grundlegenden Differenzpunkte
Lichtstrahlen, wenn er sagt, »die Farbe sei die gesetz- zwischen Goethe und Schopenhauer bestehen.
mäßige Natur in bezug auf den Sinn des Auges. [...]
mit dem Blinden läßt sich nicht von der Farbe reden«
Die Farben: Subjektive Empfindung
(Goethe 1966, 324).
(Schopenhauer) oder objektive Qualität
Goethe hat zudem Kants Schriften, auch die Kritik
(Goethe)?
der reinen Vernunft, gründlich gelesen (vgl. Vorländer
1907) und sich das Grundanliegen der kantischen Für Schopenhauer ist die Welt nicht nur, wie für Kant,
Vernunftkritik zu eigen gemacht (vgl. Rehbock 1995, durch Anschauungsformen und Verstandeskatego-
353–369). Goethe betont selbst, dass die Anschauung rien konstituierte »Erscheinung«. Deren objektive
19  Johann Wolfgang von Goethe 229

Realität ist für Kant – als unsere Sinne affizierendes, der Begriffe und Methoden mathematischer Physik
aber prinzipiell unerkennbares »Ding an sich« – zu- einhergeht, so etwa bei George Berkeley und Gottfried
gleich notwendigerweise vorauszusetzen. Für Scho- W. Leibniz, schon unter dem Einfluss Goethes bei
penhauer ist dagegen die Anschauung der objektiven Georg W. F. Hegel, und im 20. Jahrhundert insbesonde-
Welt ein durch den Willen erzeugter trügerischer re in der philosophischen Phänomenologie Edmund
»Schein«, der mittels der Formen des Verstandes Husserls und der Spätphilosophie Ludwig Wittgen-
(Raum, Zeit, Kausalität) aus dem rohen Material der steins. Goethes hartnäckiges Beharren auf der objekti-
sinnlichen Empfindungen erzeugt wird, wie ein Bild ven Realität der Farben lässt sich als ein Beitrag zu die-
durch den Künstler mit Hilfe von »vielerlei Farbfle- ser philosophischen Kritik des naturwissenschaftli-
cken auf einer Malerpalette« (F, 206). Zu diesem rohen chen Weltbilds begreifen (vgl. Rehbock 1995). Die ob-
Stoff der Empfindungen gehören, als Affektionen der jektive Realität der Farben hat Goethe aus dieser Sicht
Retina, auch die Farben. Sie seien, »im engsten Sinne dadurch verteidigt, dass er die materialen Strukturen in
genommen, Zustände, Modifikationen des Auges [...], der sinnlichen Anschauung der Farbphänomene offen-
welche unmittelbar bloß empfunden werden« (F, 219), legt, die für die Realität der Dinge nicht weniger kon-
nicht aber – bzw. nur scheinbar – objektive Qualitäten stitutiv und notwendig sind als die formalen Bestim-
der Dinge. Die Formen des Verstandes, die diese Illu- mungen von Raum, Zeit und Kausalität. Wittgenstein
sion erzeugen, seien »nichts weiter als Funktionen des vermutet wohl zu Recht, es sei Goethe eigentlich um ei-
Gehirns« (W II, 18), die Welt selbst sei ein bloßes »Ge- ne Analyse der unsere sinnliche Anschauung konsti-
hirnphänomen« (G, 71). tuierenden begrifflichen »Grammatik« der Farben ge-
Die Auffassung der Farben als bloß subjektive Sin- gangen (vgl. Rehbock 1995, Kap. VIII). Schon Hegel hat
nesempfindung bzw. Vorstellung im Bewusstsein ist diese philosophische Bedeutung der Goetheschen Far-
nicht nur schon im antiken Atomismus (Demokrit) so- benlehre erheblich besser verstanden und umgesetzt
wie zu Beginn der Neuzeit bei Galilei, Descartes, John als Schopenhauer, wurde aber von den Naturwissen-
Locke und vielen anderen zu finden, sie stimmt auch schaftlern des 19. Jahrhunderts, die sich von der aus ih-
mit Newtons Auffassung der Farben völlig überein. rer Sicht fortschrittsfeindlichen Goetheschen, idealisti-
Newton betont: »the Rays to speak properly are not co- schen und romantischen Naturphilosophie entschie-
loured«, sie seien nicht eigentlich rot, gelb usw., son- den abwandten, ebenso wenig verstanden.
dern »Red-making« oder »Yellow-making« (Newton Wie die genannten philosophischen Kritiker der
1952, 124), insofern sie die Disposition besitzen, die Naturwissenschaften ist Goethe allerdings keineswegs
Empfindung bzw. Vorstellung der Farbe im Auge bzw. ein so radikaler Gegner der mathematischen Physik,
Bewusstsein des Betrachters zu erzeugen. Schopenhau- als der er oft gesehen wird. Seine Ablehnung be-
ers folgende Aussage könnte daher ebenso von Newton schränkt sich auf Newtons Theorie der Farben. Deren
stammen: »›Der Körper ist rot‹ bedeutet, daß er im Au- positive Bedeutung für ein physikalisches Verständnis
ge die rote Farbe bewirkt« (F, 218). Auch für Helmholtz der Farben hat er nicht erkannt und gewürdigt. Seine
– dessen Handbuch der physiologischen Optik (1856) ei- kritische Sicht auf Newton hat gleichwohl ihre be-
ne Schopenhauer nahestehende Theorie der Farben grenzte Berechtigung, sofern sie sich gegen die Auf-
enthält, ohne dass er Schopenhauer nennt, weshalb der fassung der Newtonschen Optik als der vermeintlich
Vorwurf des Plagiats bis heute nicht entkräftet werden allein gültigen objektiven Erklärung der Farben als
konnte (vgl. Gerlach 1982, 415) – steht die physiologi- Farben versteht. Diese Auffassung verkennt, dass die
sche Theorie der Farben in keiner Weise im Gegensatz Anwendung der Mathematik auf die Natur in der Phy-
zur Newtonschen Optik. Wilhelm Ostwald macht klar, sik mit einer idealisierten und begrenzten Sichtweise
dass Schopenhauers Theorie, als folgerichtige Ergän- auf die Realität verbunden ist. Die Bedingungen und
zung der Newtonschen Theorie, völlig mit ihr harmo- Grenzen dieser Sichtweise sind nur in einem größeren
niert. Auch für Newton sei »die Farbe eine Empfindung lebenspraktischen Erfahrungskontext zu begreifen.
und das Licht ihre Ursache« (Ostwald 1931, 116). Goethes Farbenlehre lässt sich aus phänomenologi-
Diese Auffassung der nicht (direkt) mathematisier- scher Sicht als Versuch verstehen, diesen größeren
baren »sekundären Qualitäten« (John Locke) als bloß Kontext hinsichtlich der objektiven Realität der Far-
subjektive Sinnesempfindungen im Inneren des Be- ben begrifflich und theoretisch zu erschließen und als
wusstseins wurde aber von Anfang an in der Philoso- nicht weiter erklärbares »Urphänomen« zu erweisen.
phie einer Kritik unterzogen, die mit einer fundamen- Daran hält Goethe mit gutem Grund gegenüber Scho-
talen Kritik metaphysisch-ontologischer Deutungen penhauer fest (vgl. Rehbock 2016).
230 III  Einflüsse und Kontext

Zwar besteht eine Gemeinsamkeit zwischen Goe- Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen.
the und Schopenhauer darin, dass aus ihrer Sicht auch In: Hamburger Ausgabe. Bd. XII. Hg. von Erich Trunz.
die kantische Vernunftkritik gegenüber der Newton- München 1973, 365–547 [MuR].
Goethe, Johann Wolfgang von: Briefe III. Hg. von Karl
schen Physik noch nicht radikal genug verfährt und Robert Mandelkow. München 1988.
deshalb zu erfahrungs- und wirklichkeitsfern bleibt, Helmholtz, Hermann von: Vorträge und Reden I. Braun-
insofern Kants Begriffe der Anschauung, der Erfah- schweig 1903.
rung und der Natur sich zu ausschließlich an der ma- Kisner, Manja: In der Anschauung liegt die Wahrheit. Eine
thematischen Newtonschen Physik orientieren (zu Analyse von Schopenhauers Intellektualität der Anschau-
ung in ihrem Bezug zu Goethes Naturlehre. In: Schubbe/
Schopenhauer vgl. Gabriel 1993, 127 f.). Goethe dis-
Fauth 2016, 223–246.
tanziert sich gegenüber Kant in dieser Hinsicht aber Lütkehaus, Ludger (Hg.): Arthur Schopenhauer. Der Brief-
erheblich entschiedener als Schopenhauer. Dass auch wechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farben-
für Kant Farben »nicht als Beschaffenheiten der Din- lehre. Zürich 1992.
ge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts« Newton, Isaac: Opticks or A Treatise of the Reflections,
(KrV, B 45/A 28) anzusehen sind, ist für ihn ebenso Refractions, Inflections & Colours of Light [1704]. New
York 1952.
unhaltbar wie die Auffassung, dass sie in der Kunst an- Ostwald, Wilhelm: Goethe, Schopenhauer und die Farben-
geblich nicht zur Schönheit, sondern bloß »zum Reiz« lehre [1917]. Leipzig 1931.
und damit zum bloß »Angenehmen« gehören und Regehly, Thomas: ›Licht aus dem Osten‹. Wechsellektüren
»den Gegenstand [...] zwar für die Empfindung belebt, im Zeichen des Westöstlichen Divans und anderer Werke
aber nicht anschauungswürdig und schön machen« Goethes und Schopenhauers. In: Schubbe/Fauth 2016,
59–97.
(KdU, § 14, B 42/A 41 f.) können. Ähnlich wie Kant
Rehbock, Theda: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹.
betont auch Schopenhauer, dass »die Farbe [...] als ei- Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds
ne allenfalls entbehrliche Zugabe die angeschauten am Beispiel der Farbenlehre. Konstanz 1995.
Körper bekleidet« (F, 217) und dass die »Harmonie Rehbock, Theda: Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre
der Farben« in der Malerei, hinsichtlich ihres Beitra- verstanden? In: Schubbe/Fauth 2016, 371–405.
ges zur Erkenntnis der »(Platonischen) Ideen« nur ei- Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
Philosophie. Eine Biographie [1987]. Reinbek bei Hamburg
ne »untergeordnete Art der Schönheit« (W I, 303)
1990.
darstelle. Bei Kant und Schopenhauer ist also – nicht Scheer, Brigitte: Goethes und Schopenhauers Ansichten
zuletzt unter dem Einfluss der Newtonschen Physik – vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst. In:
die gleiche Geringschätzung der Farbe zu finden, die Schubbe/Fauth 2016, 119–149.
Goethe in der Kunsttheorie seiner Zeit vorfand. Schubbe, Daniel/Fauth, Søren R. (Hg.): Schopenhauer und
Goethe. Biographische und philosophische Perspektiven.
Hamburg 2016.
Literatur Spierling, Volker: Arthur Schopenhauer zur Einführung.
Döll, Heinrich: Goethe und Schopenhauer. Ein Beitrag zur Hamburg 2002.
Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philoso- Spierling, Volker: Kleines Schopenhauer-Lexikon [2003].
phie. Berlin 1904. Stuttgart 2010.
Gabriel, Gottfried: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Vorländer, Karl: Kant – Schiller – Goethe. Gesammelte Auf-
Von Descartes zu Wittgenstein. Paderborn 1993. sätze. Leipzig 1907.
Gerlach, Joachim: Schopenhauers Farbenlehre und die Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer
moderne Sinnesphysiologie. In: Wolfgang Schirmacher Weltbürger. München 2010.
(Hg.): Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopen- Zimmer, Robert: Baccalaureus und der Einzige. Schopen-
hauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum hauer und Goethe: Die Geschichte einer Begegnung. In:
85. Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, 413–421. Schubbe/Fauth 2016, 29–58.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Didakti-
scher Teil. In: Hamburger Ausgabe. Bd. XIII. Hg. von Erich Theda Rehbock
Trunz. München 1966, 314–523.
20  Johann Gottlieb Fichte 231

20 Johann Gottlieb Fichte tenen Stoffes« (HN II, XV) darstelle, nicht plausibel
ist. Hingegen scheint Schopenhauer den Vortrag
Die Hoffnung, in Fichte »einen ächten Philosophen Fichtes meistens »ziemlich wörtlich« und während
und großen Geist« (GBr 1978, 261) finden zu können, der Vorlesung protokolliert zu haben (vgl. HN II,
soll dem jungen Schopenhauer durch Gottlob E. 58 f.; Novembre 2011, 10–21).
Schulze gekommen sein. In dessen Metaphysikvor- Wenn man nun die Auseinandersetzungen des jun-
lesungen, die Schopenhauer an der Universität Göttin- gen Schopenhauer mit den Vorlesungen und Werken
gen im Wintersemester 1810/11 besuchte, bestimmt Fichtes untersucht, so findet man als Schopenhauers
nämlich Schulze die Philosophie Fichtes und Schel- theoretischen Haupteinwand, dass Fichte einen »trans-
lings als den »Versuch, vermittelst einer intellektuellen cendenten Gebrauch des Verstandes« mache: Fichtes
Anschauung des Absoluten, den Zweck der Metaphy- Versuch, über etwas Übersinnliches und über die Er-
sik zu erreichen und das Rätsel der Welt aufzulösen« fahrung Hinausgehendes zu sprechen, sei vom kanti-
(d’Alfonso 2008, 100). Dadurch hätten Fichte und schen kritischen Standpunkt aus als unstatthaft zu be-
Schelling die Grenze ausdrücklich überschreiten wol- trachten (vgl. HN II, 21, 60 f., 143, 346, 356); selbst das
len, die der kantische Kritizismus dem menschlichen Verhältnis zwischen Ich und Nicht-Ich habe Fichte
Erkenntnisvermögen gesetzt hatte (vgl. ebd). Auf der »nach den Gesetzen, die nur innerhalb der Erfahrung
Suche nach der Möglichkeit einer solchen Überschrei- gelten, nach Kausalität und Wechselwirkung« (HN II,
tung war auch der junge Arthur, dem die »Kritik der 340 f.) gedacht, während das Ich und das Nicht-Ich, als
reinen Vernunft« als »der Selbstmord des Verstandes« »Factoren der Erfahrung«, doch außer jenen Gesetzen
und Kant als »ein Alp« (HN I, 12 f.) für jedes nach ab- liegen (vgl. HN II, 340 f., W I, 16 f., 31 f.). Dieselbe Kri-
soluter Wahrheit strebende Gemüt erschienen. tik äußerte Schopenhauer auch gegenüber Schelling
Im Sommer 1811 entschied er sich, von Göttingen (vgl. HN II, 306 f., 325 f., 331 f.).
nach Berlin umzuziehen, um Fichtes Vorlesungen hö- Zu dieser Zeit war Schopenhauer tief davon über-
ren zu können (zu dieser Zeit hatte Schelling seine aka- zeugt, dass »der Mensch« durch den »Verstand« nur
demische Lehrtätigkeit vorübergehend unterbrochen). die »Sinnenwelt«, aber »durch andre Kräfte« doch
Er besuchte vier Vorlesungen »Über das Studium der auch »das Uebersinnliche« »erkennt« (HN I, 20).
Philosophie«, die in der Woche vor Beginn des Winter- Demzufolge entwarf er einen ›wahren‹ bzw. ›echten‹
semesters (21. Oktober 1811) gehalten wurden, und oder auch ›vollkommenen‹ Kritizismus, den er gegen-
anschließend die Vorlesungen »Ueber die Tatsachen über dem kantischen Kritizismus und den Philoso-
des Bewußtseyns« (vom 21. Oktober bis zum 20. De- phien Fichtes und Schellings geltend machte (vgl. HN
zember 1811) und »Ueber die Wissenschaftslehre« II, 359–360; auch 311 f., 325 f., 356 f.): Die Aufgabe des
(vom 6. Januar bis zum 20. März 1812). Er gab aber sei- ›wahren Kritizismus‹ sollte die genaueste »Sonderung
ne erwähnte Hoffnung ziemlich schnell auf: Wie er dieser Kräfte [zur Erkenntnis des Übersinnlichen]
selbst erzählt, »verwandelte sich« seine »Verehrung a vom Verstande« und die »Mittheilung des durch sie
priori« für Fichte bald »in Geringschaetzung und Erkannten an den Verstand nach Maasgabe seiner Na-
Spott« (GBr 1978, 261), wie auch die von Schopenhau- tur (auf immanente Weise)« sein (HN I, 20). Hierbei ist
er mit dem Titel »Fichte’s bleiernes Märchen in nuce« daran zu erinnern, dass Fichtes Ansicht nach die Wis-
verfasste Parodie auf die Vorlesung »Ueber die Tatsa- senschaftslehre ebenfalls ein »echter durchgeführter
chen des Bewußtseyns« zeigt (HN II, 341 f.; vgl. Zöller Kritizismus« hätte sein sollen (Fichte I/2, 254). Der
2006, 375 f.). junge Schopenhauer scheint daher dasjenige liefern zu
Schopenhauer hat nicht nur den Vortrag Fichtes wollen, das Fichte und Schelling seiner Meinung nach
aufgeschrieben, sondern auch seine (fast immer nur versprochen, aber nicht geleistet hatten, und zwar
durch »Ego« gekennzeichneten) eigenen Bemerkun- die Vollendung der Philosophie Kants durch eine
gen notiert (vgl. HN II, 16–216). Seine Hefte doku- neue, kritizistisch berechtigte Metaphysik. Das Ver-
mentieren also nicht nur das, was er gehört hat, son- mögen, das Übersinnliche zu erkennen, nannte er
dern auch seine auf die Vorlesungen bezogenen Ein- ›besseres Bewusstsein‹ und setzte es dem in Verstand
wände und Glossen. Es sei hier nur kurz erwähnt, und Sinnlichkeit befangenen, ›empirischen‹ Bewusst-
dass die These Arthur Hübschers, der zufolge die gan- sein entgegen. Auf diese Weise glaubte er, die kantische
ze Nachschrift Schopenhauers auswendig »nach dem Erkenntnisgrenze überschreiten zu dürfen. Gerade
Kollegio niedergeschrieben« worden sei und »eine mit dem Versuch, diesen ›wahren Kritizismus‹ und mit
durchaus selbständige Formung des von Fichte gebo- ihm eine Philosophie des doppelten Bewusstseins auf-
232 III  Einflüsse und Kontext

zubauen, begann 1812 der lange und komplexe Denk- das faktische Wissen unterworfen ist (vgl. ebd., 83–87).
prozess, der Schopenhauer schließlich zum System Auf diese Weise wird er frei, sich dem höheren Wissen
von Die Welt als Wille und Vorstellung gebracht hat. (der Wissenschaftslehre) »hinzugeben« (ebd., 86). Das
Dass der junge Schopenhauer bei Fichte und Schel- Bewusstsein des Wissens (d. h., des Gewussten als sol-
ling nicht gerade das antreffen konnte, was er zuerst chen) nennt Fichte immer noch »innige Besonnenheit«
suchte, heißt nicht, dass er bei ihnen überhaupt nichts (ebd., 97). Nur von dem, der diesen Standpunkt er-
fand. Seiner Aussage, dass er in seinem Hauptwerk langt, kann »der eine Gedanke« erfasst werden, in dem
»unmittelbar« an Kant »anknüpfe«, als wäre in der die Wissenschaftslehre besteht (vgl. ebd., 91, 27).
Philosophie zwischen Kant und ihm überhaupt nichts Es ist sehr bemerkenswert, dass Schopenhauer am
geschehen (W I, 493), darf nicht zu viel Glauben ge- Anfang von Die Welt als Wille und Vorstellung dem
schenkt werden – wie im Folgenden hinsichtlich der Terminus ›Besonnenheit‹, der traditionell dem Be-
Wirkung Fichtes gezeigt werden soll. reich der Tugendlehre angehören sollte, eine theoreti-
Die Grundidee einer Duplizität des Bewusstseins, sche, und zwar mit der Fichteschen verwandte Bedeu-
aus der sich sein erster Systemversuch entwickelte, tung zuschreibt. Dort steht nämlich, die eigentliche
scheint Schopenhauer von Fichte, und zwar von des- »philosophische Besonnenheit« sei durch das Prinzip
sen Begriff der »absoluten Besonnenheit«, übernom- »Die Welt ist meine Vorstellung« ausgedrückt: Wenn
men zu haben. Schopenhauers Aufzeichnungen zufol- sie eintritt, »wird« es dem Menschen »deutlich und
ge bestimmt Fichte in der dritten Vorlesung »Über das gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; son-
Studium der Philosophie« den eigentlichen Stand- dern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine
punkt der Philosophie als »Bewußtseyn des Wissens« Hand, die eine Erde fühlt«, »daß Alles, was für die Er-
(HN II, 26). Letztes wird in der ersten Vorlesung »Ue- kenntniß daist, also diese ganze Welt, nur Objekt in
ber die Thatsachen des Bewußtseyns« als »Wahrneh- Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des An-
mung der Wahrnehmung« oder »absolute Besonnen- schauenden, mit einem Wort, Vorstellung« (W I, 3 f.).
heit« (HN II, 30) gekennzeichnet. Fichte unterschei- Die Besonnenheit der Philosophie bestehe also in dem
det dadurch das gemeine Bewusstsein, dessen ›Fokus‹ klaren Bewusstsein der Welt als etwas Vorgestelltes,
bloß die Dinge (als solche) sind, von dem philosophi- d. h. der vorgestellten Welt als solcher. Außerdem
schen, »höhern Bewußtseyn«, dessen ›Fokus‹ das kennzeichnet auch Schopenhauer sein eigenes System
Wissen oder das Wahrnehmen der Dinge ist, d. h. die als »ein[en] einzige[n] Gedanke[n]« (W I, VIII; vgl.
Dinge, insofern sie wahrgenommen oder gewusst sind Malter 1988; Koßler 2006).
(vgl. ebd.). Um philosophieren zu können, ist es Fich- In zwei Glossen zu Fichte behandelt Schopenhauer
tes Ansicht nach unbedingt notwendig, dieses zweite zwei Themen, die im reifen System eine hohe Relevanz
Bewusstsein zu erlangen (vgl. ebd.). Zu dieser Stelle erhalten werden (vgl. d’Alfonso 2006). In Bezug auf
des Vortrags schreibt Schopenhauer eine ziemlich lan- die erste Vorlesung Ȇber das Studium der Philoso-
ge Glosse, in der er die »absolute Besonnenheit« als phie« meint er, das Genie sei zu einer übersinnlichen
ein »für sich bestehendes von der Wahrnehmung Erkenntnis fähig und drücke sie in seinen Kunstwer-
nicht abhängiges und nicht durch sie gegebenes Be- ken aus (vgl. HN II, 18 f.). In einer Notiz zur 35. Vor-
wußtseyn« (ebd., 30) auslegt. Ungefähr dieselben lesung steht sogar, dass der Wille, »als ein Ding an
(metaempirischen) Prädikate wird er kurz darauf dem sich, über alle Zeit steht« (HN II, 57; das »als« sollte
»bessern Bewußtseyn« zuschreiben (vgl. HN I, 22 f.; hier allerdings als »wie« verstanden werden, vgl. No-
Novembre 2013, 60 f.). vembre 2012, 28–31). Diesen zwei Glossen scheint
Auch im Vortrag »Ueber die Wissenschaftslehre« aber eher der Einfluss Schellings zugrunde zu liegen,
spricht Fichte ausdrücklich von zwei Arten von Be- und zwar durch zwei Werke, die Schopenhauer eben
wusstsein, und zwar von dem faktischen, gemeinen Be- im Jahre 1811 gelesen hat: die Vorlesungen über die
wusstsein und dessen Bewusstsein: Objekt des Letzte- Methode des akademischen Studiums (vgl. insbesonde-
ren ist das Wissen der Faktizität, in dem das Erstere re die 14. Vorlesung) und Philosophische Untersuchun-
aufgeht (vgl. HN II, 83). Der Übergang vom ersten zum gen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die
zweiten Bewusstsein, oder vom (bloßen) Wissen zum damit zusammenhängenden Gegenstände.
Wissen des Wissens, geschieht nach Fichte durch eine Nicht zu bezweifeln ist hingegen, dass sich Scho-
entscheidende Losreißung: Um sich zum höheren Be- penhauer in der Glosse zur sechsunddreißigsten Vor-
wusstsein zu »erheben«, muss sich der Lehrling der lesung »Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns« (die
Wissenschaftslehre von dem Gesetz »losreißen«, dem am 10. Dezember 1811 gehalten wurde) direkt auf den
20  Johann Gottlieb Fichte 233

Vortrag Fichtes bezieht. Hier setzt Fichte einen un- senschaftslehre (1794) Fichtes zu verhalten scheinen:
endlichen, fortschreitenden Kreis vom menschlichen Indem das Ich über das ihm jeweils Äußere und von
Streben (oder »Gefühl«, in dem »ein Trieb [liegt,] der ihm Unabhängige – das »Ding an sich« – reflektiert
strebt«) zur »Erfüllung« oder »Befriedigung« des Trie- und es damit zu einem Produkt seiner eigenen »Denk-
bes, und von dieser wieder zu einem erneuten Streben kraft« macht (d. h. einnimmt), »so ist doch dadurch
– woraus »eine unendliche Reihe« (HN II, 59 f.) von das Unabhängige nicht gehoben, sondern nur weiter
Handlungen des Ich entsteht. Der Trieb ist nämlich hinausgesetzt, und so könnte man in das unbegrenzte
»der unmittelbare Ausdruck des überfaktischen hinaus verfahren, ohne dass dasselbe je aufgehoben
Seyns«: Daher »kann [...] nicht gesprochen seyn von würde« (Fichte I/2, 412). Das ist eben ein »Zirkel, den
Aufhebung [d. h. von definitiver Befriedigung] dessel- er [der Mensch] in das unendliche erweitern, aus wel-
ben [des Triebes], denn er ist unvergänglich, wie das chem er aber nie herausgehen kann« (ebd.). Daher ist
was er repräsentiert« (HN II, 59). Schopenhauer kom- »das Streben« des Ich schlechthin »unendlich«: Es er-
mentiert, dass Fichte der menschlichen Seele »einen reicht nie ein letztes Ziel (vgl. ebd., 404 ff.).
Trieb« zuschreibt, »der eben so närrisch ist, immer et- Nun kann sich das Ich in Fichtes Vortrag von 1811
was will und wenn ers hat, wieder etwas andres will« dem vom Trieb bedingten endlosen Handeln mit ei-
(HN II, 60). Dies klingt bereits wie eine Vorwegnahme nem Schlag doch entziehen, indem es sich vom Trieb
der späteren Willenslehre. Der junge Schopenhauer selbst »losreißt« (vgl. HN II, 69 f.). Dadurch erhebt es
interpretiert den Vortrag Fichtes so, als wären »Trieb« sich zu einem ›höheren Bewusstsein‹ (oder einer ›hö-
und »Wollen« gleichbedeutend. heren Anschauung‹, ›Ansicht‹, vgl. HN II, 63 f.). 1814
1812 notiert Schopenhauer, das »Leben« des Men- schreibt Schopenhauer in seinen Manuskripten, der
schen, der dem »Scepter« des Erdgeistes unterworfen Übergang vom empirischen zum besseren Bewusst-
ist, bestehe in einem »vom Bedürfnis zur Erfüllung« sein sei nur durch ein ›Losreißen‹ vom Wollen mög-
und wieder »von der Erfüllung zum Bedürfnis« (HN lich (vgl. HN I, 155).
II, 340) unaufhörlichen Getriebenwerden. In den Ma- Auch in Die Welt als Wille und Vorstellung kann der
nuskripten von 1814 wird die Sache schließlich tief- Mensch sein endloses Streben mit einem Schlage doch
greifender erarbeitet, um das wesentliche Unglück des unterbrechen, indem er sich vom Wollen losreißt (vgl.
wollenden Subjekts zu begründen: »Das Wollen [...] W I, 233). Dadurch »erhebt« er sich (W I, 232) zum
kann nie befriedigt werden«, denn »das gewollte Ob- reinen Subjekt des Erkennens und gibt sich »dem rei-
jekt, nimmt sobald es erlangt ist, nur eine andere Ge- nen willenlosen Erkennen« (W I, 238) hin – denn der
stalt an und ist gleich wieder da« (HN I, 120). Nun er- Wille ist eben das, dem die empirische (dem Satz vom
hält bei Fichte der an sich »gestaltlose« Trieb auch eine Grunde folgende) Erkenntnis unterworfen ist (vgl.
immer neue »Gestalt«, indem er in einen immer neu- W I, 232). Diesen innerhalb desselben Betrachters
en »Zweckbegriff« ins Unendliche übersetzt wird (vgl. stattfindenden Gegensatz zwischen dem reinen Sub-
HN II, 59 f.). Infolgedessen kann man vermuten, dass jekt des Erkennens und dem einzelnen Subjekt oder
die Lehre Fichtes über die Unmöglichkeit einer defini- »Individuum« bezeichnet Schopenhauer als »Duplizi-
tiven »Erfüllung« oder »Befriedigung« des (vom jun- tät seines [des Betrachters] Bewußtseyns« (W I, 241;
gen Schopenhauer als Wollen verstandenen) Triebes vgl. Novembre 2016). Im Hauptwerk wird auch die
Schopenhauer den Anstoß gegeben hat, bereits 1812 Verneinung des Willens zum Leben als ein Losreißen
das endlose Getriebenwerden des Menschen »vom vom Wollen beschrieben (vgl. W II, 642). Dieser Ge-
Bedürfnis zur Erfüllung, von der Erfüllung zum Be- brauch des Ausdrucks ›vom Wollen losreißen‹ in Die
dürfnis« einzusehen und später seine Grundtheorie Welt als Wille und Vorstellung liefert ein bedeutendes
darauf aufzubauen: »Dauernde, nicht mehr weichen- Indiz dafür, dass die Figur des reinen Subjekts des Er-
de Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wol- kennens und die der Willensverneinung aus der Ent-
lens geben« (W I, 231); »vielmehr ist sie stets nur der zweiung der sich widersprechenden Bestimmungen
Anfangspunkt eines neuen Strebens« (W I, 365), das entstanden sind, die das »bessre Bewußtseyn« aus-
»ins Unendliche« geht, weil ihm »kein erreichtes Ziel machten (vgl. Novembre 2011, 435–439).
ein Ende macht« (W I, 364). Den wichtigsten und direktesten Einfluss auf Scho-
Nebenbei kann auch angemerkt werden, dass der penhauer hat aber Fichte offensichtlich durch sein
Zweck des Triebes in Fichtes Vortrag 1811 und das Werk Das System der Sittenlehre ausgeübt. An mehre-
Objekt des Wollens bei Schopenhauer sich wie das ren Stellen seiner Hefte 1811/12 wendet Schopenhauer
»Ding an sich« in der Grundlage der gesammten Wis- gegen Fichtes und Schellings Begriff der »intellektuel-
234 III  Einflüsse und Kontext

len Anschauung« ein, dass die Selbsterkenntnis des Willens« ist nämlich »das unmittelbare Objekt des In-
Subjekts überhaupt unmöglich ist: »Daß das Subjekt neren Sinnes« (Diss, 71 (De); vgl. G, 248 (De)). Solche
sich nie Objekt werden kann, folgt aus der einfachen Aussagen ähneln sehr stark dem oben erwähnten
Wahrheit daß dann nichts mehr da wäre, dem dies Ob- Lehrsatz Fichtes. Nun kann sich das Subjekt bei Scho-
jekt [das Subjekt] Objekt wäre« (HN II, 335). Daher penhauer eben nur als wollend erkennen, weil »das
muss festgestellt werden: »Das Subjekt erkennt sich vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens nie selbst
nicht« (HN II, 336). Diesen Aussagen liegt die Voraus- Vorstellung oder Objekt werden kann« (Diss, 71 (De);
setzung zugrunde, dass der »Begriff Subjekt [...] nur G 249, (De)). Bereits Fichte hatte aber im System der
ein einziges Merkmal [hat], nämlich daß es Objekte Sittenlehre erläutert, dass »Denken«, »im weitesten
wahrnehme« (HN II, 332), d. h., das Subjekt ist nur ein Sinne des Wortes, Vorstellen oder Bewußtseyn über-
Wahrnehmendes oder Erkennendes. Wenn das Sub- haupt« bedeute und »ursprünglich und unmittelbar
jekt nur etwas Erkennendes ist, so würde seine Selbst- für sich gar nicht Object eines besonderen neuen Be-
erkenntnis darin bestehen, dass es sich als erkennend wußtseyns, sondern das Bewußtseyn selbst« sei (Fich-
erkennen würde. Dies wäre aber schlechthin wider- te I/5, 38–39, § 1).
sprüchlich, weil das Subjekt dann in einer und dersel- Der zweite Punkt betrifft den Begriff ›Wille‹. »Was
ben Hinsicht oder sub eodem (hinsichtlich des Erken- wollen heiße«, wird von Fichte »als bekannt voraus-
nens) in actu (als erkennend) und nicht in actu (als er- gesetzt. Dieser Begriff ist keiner Realerklärung fähig,
kannt) wäre (vgl. HN II, 348). Mit einem Worte: Wenn und er bedarf keiner. Jeder muß in sich selbst, durch
das einzige ›Merkmal‹ des Subjekts das Erkennen ist, intellectuelle Anschauung, innewerden, was er bedeu-
so muss seine Selbsterkenntnis als widersprüchlich be- te, und er wird es ohne alle Schwierigkeit vermögen«
trachtet und daher ausgeschlossen werden. (ebd., 38, § 1). Auch laut Schopenhauer »läßt sich
In Fichtes System der Sittenlehre (das Schopenhauer nicht weiter definiren oder beschreiben was Wollen
1812 las), und zwar in dessen erstem »Lehrsatz«, sey«, eben »weil nun das Subjekt des Wollens dem in-
konnte Schopenhauer aber doch ein zweites ›Merk- nern Sinn unmittelbar gegeben ist [...]. Deshalb darf
mal‹ des Subjekts finden, und zwar das Wollen. Jener man, und muß sogar, als bekannt voraussetzen was
Lehrsatz lautet nämlich: »Ich finde mich selbst, als Wollen sey« (Diss, 76 (De); vgl. G, 252 (De)).
mich selbst, nur wollend« (Fichte I/5, 37). Aus den Drittens stellt Fichte fest, »[es] giebt [...] nur zwei
Glossen Schopenhauers zu diesem Werk (vgl. HN II, Aeußerungen, die unmittelbar jener Substanz [wel-
348 f.) wird klar, dass es sich hierbei für ihn um eine che dem Ich entsprechen soll] zugeschrieben werden:
große Entdeckung handelte (vgl. Haym 1864, 60): Er Denken (im weitesten Sinne des Wortes, Vorstellen
konnte nämlich bei Fichte die Antwort auf den Ein- oder Bewußtseyn überhaupt) und Wollen« (Fichte
wand finden, den er selbst gegen Fichte und Schelling I/5, 38, § 1). In einer Glosse von 1812 zu dieser Stelle
erhoben hatte. Wenn nämlich das Subjekt zugleich ein interpretiert Schopenhauer »Denken« als »Erken-
Erkennendes und ein Wollendes ist, so ist seine Selbst- nen« (vgl. HN II, 348); in der Dissertation von 1813
erkenntnis kein Widerspruch mehr: Das Subjekt, als schreibt er, dass das Wort »Ich« zugleich »das Subjekt
das Wollende, kann sich selbst, als dem Erkennenden, des Erkennens« und das »des Wollens [...] einschließt
›Objekt werden‹. und bezeichnet« (Diss, 76 (De); vgl. G, 251 (De)). Das
Es ist bemerkenswert, dass viele den Willen betref- Ich ist für Schopenhauer ein Erkennendes und ein
fende Passagen der Dissertation Schopenhauers eini- Wollendes. Wie nach Fichte die »bewußtseyende
gen Stellen aus dem System der Sittenlehre Fichtes fast Substanz mir ebendieselbe [ist], welche auch will«
wörtlich entsprechen, was allem Anschein nach in der (Fichte I/5, 38, § 1), so besteht nach Schopenhauer
Forschung lange unbemerkt blieb (vgl. Novembre »eine wirkliche Identität des Erkennenden mit dem
2011, 388 ff.) Dies soll kurz an einigen Beispielen ge- als wollend Erkannten« oder »des Subjekts des Wol-
zeigt werden: lens mit dem erkennenden Subjekt« (Diss, 76 (De); G,
Der erste Punkt betrifft die Selbsterkenntnis des 251 (De)).
Subjekts. In der Dissertation (1813) steht: »Erkannt Hier muss aber ein sehr bedeutender Unterschied
wird das Subjekt nur als ein Wollendes« (Diss, 71 hervorgehoben werden, und zwar dass der Satz »Ich
(De)); in der zweiten Auflage von 1847 lautet es: »Das finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend« nach
Subjekt [erkennt] sich nur als ein Wollendes [...]. Fichte bewiesen werden kann (es ist eigentlich ein
Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns im- »Lehrsatz«), während die Identität des Subjekts des
mer als wollend« (G, 249, 143 (De)). Das »Subjekt des Wollens mit dem erkennenden Subjekt nach Scho-
20  Johann Gottlieb Fichte 235

penhauer »unmittelbar gegeben«, »schlechthin unbe- von der Verneinung des Willens zum Leben im Haupt-
greiflich«, »das Wunder κατ’ εξοχην« ist (Diss, 76 werk interpretiert werden: Der Wille oder der »Eigen-
(De); G, 251 (De)). wille«, der hier vernichtet werden soll, bedeutet noch
In dem System der Sittenlehre behandelt Fichte nicht das, was Schopenhauer erst ab 1814 als »Wille
auch die Verbindung zwischen Leib, Kausalität und zum Leben« bestimmt. Es ist hingegen sehr wahr-
Willen: Letzterer habe auf den Leib »eine unmittel- scheinlich, dass Schopenhauer an diesen Stellen eine
bare Kausalität«, die sich als dessen Bewegung äußert mystische ›Selbstvernichtung‹ meint, die er, dem
(vgl. Fichte I/5, 28 f.): »Unser Wille wird [...] in unse- Lehrsatz Fichtes zufolge (»Ich finde mich selbst, als
rem Leibe unmittelbar Ursache« (ebd., 196). Nach der mich selbst, nur wollend«), als eine ›Wollensvernich-
Dissertation Schopenhauers von 1813 ist das »Han- tung‹ bestimmt.
deln [...] Wirkung des kausal gewordenen Wollens«: Da in den Manuskripten Schopenhauers vor 1812
Dieses wirkt »ursächlich auf die realen Objekte«, »un- überhaupt keine Spur einer Erarbeitung der Willens-
ter denen das unmittelbare Objekt des Erkennens, der lehre auffindbar ist, diese in der Dissertation 1813
Leib, auch unmittelbares Objekt des Wollens ist« aber plötzlich auftaucht, so ist diesbezüglich ein Ein-
(Diss, 76–77 (De)). In Die Welt als Wille und Vorstel- fluss durch Fichtes System der Sittenlehre zu vermuten.
lung (und in der zweiten Auflage der Dissertation) Auch die Lehre, dass – wie in der Dissertation 1813
wird dennoch das Verhältnis zwischen dem »Willens- behauptet – die Anschauung der Außenwelt durch die
akt« und der »Aktion des Leibes« nicht mehr als Kau- unbewusste Anwendung der Verstandeskategorie
salität, sondern als Identität bestimmt (vgl. W I, 119 f. ›Kausalität‹ auf den Stoff der Empfindung geschieht
(De)): Der Wille ist »das Wesen an sich« unseres Lei- (was in der zweiten Auflage als »Intellektualität der
bes (W I, 126 (De)). empirischen Anschauung« bezeichnet wird [vgl. G,
Ebenfalls anzumerken ist, dass in der Dissertation 159 f. (De)]), könnte Schopenhauer in Auseinander-
von 1813 sozusagen eine ›Deduktion‹ des intelligiblen setzung mit Fichte und zwar mit dessen Werk Die Be-
Charakters gegeben wird, deren Grund eine Tatsache stimmung des Menschen entwickelt haben (vgl. Zöller
des sich als wollend findenden Bewusstseins ist. Der 2006, 371 f.; Decher 1990).
punctus deductionis a quo ist nämlich, dass derselbe In den Manuskripten von 1814 bis 1818 zeigt sich,
Mensch »unter ganz gleichen Umständen« immer dass die Charakterlehre der Dissertation in Kom-
»auf ganz gleiche Weise« handelt und trotzdem bination mit dem Studium der indischen Weisheit
Schopenhauer die Tür zu seinen wichtigsten, speku-
»das lebendigste Bewußtseyn hat, daß er auf ganz an- lativen Gedanken öffnet (vgl. Koßler 2011; Novembre
dre Weise handeln könnte, wenn er nur wollte, d. h. 2011; App 2011). In Die Welt als Wille und Vorstellung
daß sein Wille durch nichts Fremdes bestimmt ist und ist die Selbsterkenntnis des Subjekts als Wille (sofern
hier also von keinem Können die Rede ist, sondern nur es einen Leib hat oder eher ein Leib ist) der ›Grund‹
von einem Wollen, welches seiner Natur nach im des entscheidenden Analogieschlusses: Der Wille
höchsten Grade frey, ja das innerste von allem Andern kann eben nur in Analogie zu unserem Leib als das
unabhängige Wesen des Menschen selbst ist« (Diss, Wesen an sich aller Objekte, ja als »das Ding an sich«
79 f. (De)). gedacht werden, wohingegen die Welt »Erscheinung«
ist (vgl. W I, 125 f. (De)). Nur insofern das Subjekt
Allein dadurch kann Schopenhauer den Begriff »intel- sich selbst – in einem gewissen Maße – erkennen
ligibler Charakter« in seiner Philosophie überhaupt kann, kann nach Schopenhauer das ›Rätsel der Welt‹
annehmen, ohne diese zu ›transzendent‹ zu machen. aufgelöst werden.
Die Charakterlehre der Dissertation ist aber hinsicht- Auf diese Weise scheint Schopenhauer letztendlich
lich vieler wichtiger Elemente auf die von Schelling in – genau wie die verhassten Fichte und Schelling mit ih-
der Freiheitsschrift dargelegten Lehre des ›intelligi- rer ›intellektuellen Anschauung‹ – die Selbsterkennt-
blen Wesens‹ des Menschen zurückzuführen (vgl. No- nis des Ich (oder die »unmittelbare Identität des Er-
vembre 2012, 51 ff.). kennenden mit dem [...] Erkannten«) als den einzigen
In weiteren Glossen zum System der Sittenlehre er- magischen ›Schlüssel‹ verstanden zu haben, der das
wähnt Schopenhauer die »Vernichtung des ganzen Ei- von Kant ›verbotene‹ Reich des »Dinges an sich« – in
genwillens« als eigentliche Bedeutung des Sittengeset- einem gewissen Maße – doch eröffnen kann.
zes (vgl. HN II, 349–350; Zöller 2006, 384 ff.). Dies Abschließend sei zum einen noch erwähnt, dass
kann aber keinesfalls als eine Vorwegnahme der Lehre der menschliche Wille anders als in Fichtes System der
236 III  Einflüsse und Kontext

Sittenlehre dem reifen Schopenhauer nach überhaupt Herbart, Johann Friedrich: Rezension der Welt als Wille und
nicht sittlich-vernünftig zu bestimmen ist, sondern Vorstellung. In: Hermes oder Kritisches Jahrbuch der Litera-
als ein schlechthin »blinder Drang und erkenntnis- tur. Drittes Stück für das Jahr 1820, Nr. 7, 131–147
(Nachdr. in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 6
loses Streben« (W I, 178 (De)): Dem Willen sind die [1917], 89–117).
menschliche Erkenntnis und Vernunft umgekehrt Hühn, Lore (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Aus-
»in der Regel immer unterworfen« (W I, 209 (De)). gang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling). Würz-
Zum anderen ist die Selbsterkenntnis des Subjekts burg 2006.
Schopenhauer zufolge überhaupt keine absolute Er- Kamata, Yasuo: Der junge Schopenhauer. Freiburg/München
1988.
kenntnis: Der eigene Wille, in dem der Mensch sein
Koßler, Matthias: Substantielles Wissen und subjektives Han-
eigenes Wesen erkennt, ist doch kein Ding an sich, deln, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopen-
sondern selbst eine »bloße Erscheinung« des Dings hauer. Frankfurt a. M. u. a. 1990.
an sich – wenn auch »die vollkommenste, d. h. die Koßler, Matthias: Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhe-
deutlichste, am meisten entfaltete« (W I, 131–132 tik Arthur Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 83
(De)) unter allen. Vielmehr sei das Wort ›Wille‹ nur (2002), 119–133.
Koßler, Matthias: Die eine Anschauung – der eine Gedanke.
eine denominatio a potiori für das Ding an sich (ebd.). Zur Systemfrage bei Fichte und Schopenhauer. In: Hühn
Demzufolge führt die Selbsterkenntnis des Subjekts 2006, 350–364.
nach Schopenhauer keinesfalls darauf, die Unter- Koßler, Matthias: »Der Gipfel der Aufklärung«. Aufklärung
scheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich und Besonnenheit beim jungen Schopenhauer. In: Kon-
aufzuheben, sondern nur darauf, das bestimmen zu stantin Broese/Andreas Hütig/Oliver Immel/Renate
Reschke (Hg.): Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der
können, was »die Welt als Welt sei« und dadurch »die
Vernunft. Festschrift für Hans Martin Gerlach. Berlin
ganze Erscheinung, ihrem Zusammenhang nach, zu 2006a, 207–216.
entziffern« (W II, 735 (De)). Auf diese Weise meint Koßler, Matthias: Die Entstehung von Schopenhauers Wil-
Schopenhauer, einen nur »immanenten Dogmatis- lensmetaphysik. In: Giuliano Campioni/Leonardo Pica
mus« aufgestellt zu haben und daher, trotz seiner Ciamarra/Marco Segala (Hg.): Goethe, Schopenhauer,
Willensmetaphysik, im Gegensatz zu Fichte und Nietzsche. Saggi in memoria di Sandro Barbera. Pisa 2011,
441–449.
Schelling Kant doch treu geblieben zu sein (vgl. P I, Malter, Rudolf: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philoso-
149 (De)). phie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi-
Literatur losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
d’Alfonso, Matteo Vincenzo: Schopenhauer als Schüler Fich- statt 1991.
tes. In: Fichte Studien 30 (2006), 201–211. Metz, Wilhelm: Der Begriff des Willens bei Fichte und Scho-
d’Alfonso, Matteo Vincenzo (Hg.): Schopenhauers Kolleg- penhauer. In: Hühn 2006, 386–398.
nachschriften der Metaphysik- und Psychologievorlesungen Novembre, Alessandro: Il giovane Schopenhauer e Fichte. La
von G. E. Schulze (Göttingen 1810–11). Würzburg 2008. duplicità della coscienza. Diss. Lecce/Mainz 2011.
App, Urs: Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philoso- Novembre, Alessandro: Die Vorgeschichte der Schopen-
phie. Rorschach 2011. hauer’schen Theorie des Willens als Ding an sich. In: Scho-
Chenet, François-Xavier: Conscience empirique et consci- penhauer-Studien (= Jahrbuch der japanischen Schopen-
ence meilleure chez le jeune Schopenhauer. In: Les Cahiers hauer-Gesellschaft) XVII (2012), 19–76.
de l’Herne 69 (1997), 103–130. Novembre, Alessandro: Schopenhauers Verständnis der
Decher, Friedhelm: Schopenhauer und Fichtes Schrift »Die Fichte’schen »absoluten Besonnenheit«. In: Schopenhauer-
Bestimmung des Menschen«. In: Schopenhauer-Jahrbuch Jahrbuch 93 (2013), 53–64.
71 (1990), 45–67. Novembre, Alessandro: Das »Losreißen« des Wissens: Von
De Cian, Nicoletta: Redenzione, colpa, salvezza. All’ origine der Schopenhauer’schen Nachschrift der Vorlesungen
della filosofia di Schopenhauer. Trento 2002. Fichtes »Ueber die Tatsachen des Bewusstseins« und
De Pascale, Carla: Fichtes Einfluß auf Schopenhauer. In: »Ueber die Wissenschaftslehre« (1811/12) zur Ästhetik
Fichte-Studien 36 (2012), 45–59. von Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Fichte-Studien
Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen 43 (2016), 315–336.
Akademie der Wissenschaften. Hg. von Reinhard Lauth, Novembre, Alessandro: Invito alla libertà: il principio della
Hans Gliwitzky, Hans Jacob, Erich Fuchs, Peter K. Schnei- filosofia. Il corso di Fichte »Sui fatti della coscienza«
der und Günter Zöller. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. 1811/12. Roma 2018 (im Erscheinen).
(Bd. I/2: Werke 1793–1795, 1965; Bd. I/5: Werke 1798– Schöndorf, Harald: Der Leib im Denken Schopenhauers und
1799, 1977; Bd. II/13: Nachgelassene Schriften 1812, 2002; Fichtes. München 1982.
Bd. IV/4: Kollegnachschriften 1810–1812, 2004). Schwabe, Gerhard: Fichtes und Schopenhauers Lehre vom
Haym, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Berlin 1864. Willen mit ihren Konsequenzen für Weltbegreifung und
Lebensführung. Jena 1887.
20  Johann Gottlieb Fichte 237

Seydel, Rudolf: Schopenhauers philosophisches System dar- Bewußtseins. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft
gestellt und beurtheilt. Leipzig 1857. 10 (1921), 3–45.
Waibel, Violetta L.: Die Natur des Wollens. Zu einer Grund- Zöller, Günter: Kichtenhauer. Der Ursprung von Schopen-
figur Fichtes im Ausblick auf Schopenhauer. In: Hühn hauers Welt als Wille und Vorstellung in Fichtes Wissen-
2006, 402–422. schaftslehre 1812 und System der Sittenlehre. In: Hühn
Zint, Hans: Schopenhauers Philosophie des doppelten 2006, 365–386.

Alessandro Novembre
238 III  Einflüsse und Kontext

21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel nicht anzunehmen, dass Bezüge zwischen den Lehren
beider Denker auf eine Aneignung durch Schopen-
Wenn die Namen Schopenhauer und Hegel zusam- hauer zurückgehen. Umgekehrt ist freilich auch eine
men genannt werden, dann stehen in der Regel die Rezeption Schopenhauers bei Hegel ausgeschlossen.
Gegensätzlichkeiten im Vordergrund. Der ›Panlogis- Das einzige Zusammentreffen der beiden Philoso-
mus‹ Hegels wird dem ›Irrationalismus‹ Schopenhau- phen, auf das sich Hübscher bei seiner Rede vom Be-
ers gegenübergestellt, die Rolle der Geschichte bei He- ginn des historischen Kampfes beruft, fand anlässlich
gel dem Ahistorismus Schopenhauers, der optimisti- der Probevorlesung Schopenhauers in Berlin am
sche Fortschrittsgedanke der pessimistischen Welt- 23. März 1820 statt: Bei der anschließenden Diskussi-
verneinung. Infolge der außerordentlichen Wirkung, on, an der Hegel als Prüfer teilnahm, kam es zu einer
die beiden Philosophen beschieden war, hatte die kurzen Auseinandersetzung über den Begriff der ›ani-
Konfrontation philosophiehistorische Dimensionen malischen Funktionen‹. Der Vorgang ist aus der Er-
angenommen. So sprach Ernst Bloch von der Ent- innerung Carl Bährs an ein Gespräch überliefert (vgl.
wicklungslinie »Schopenhauer-Nietzsche-Wagner, Gespr, 47 f.; Grigenti 2000, 533–562), in dem er schon
der nicht eben heilvollen ›Parallellinie‹ zu Hegel-Feu- von Schopenhauer selbst aus der Distanz von über 30
erbach-Marx« (Bloch 1962, 380), für Rudolf Steiner Jahren zu einer denkwürdigen Konfrontation stilisiert
stehen Hegel und Schopenhauer für Okzident und wurde. Diese Stilisierung wurde später gern aufgegrif-
Orient (vgl. Steiner 1931) und Arthur Hübscher sieht fen und verstärkt. Wie die Akten der Habilitation (vgl.
bei der einzigen Begegnung der beiden Philosophen De XVI, 135 ff.) und andere Quellen zeigen (vgl. Hoff-
den »Kampf zwischen Schopenhauer und Hegel« be- meister 1956, 587 ff.), war Hegel dem jungen Kandida-
ginnen, der »für das kommende Jahrhundert, bis in ten eher wohlgesonnen, denn er unterstützte auch die
die Gegenwart hinein, entscheidende Bedeutung er- vorzeitige Ankündigung seiner Lehrveranstaltungen.
langen sollte« (Hübscher 1956, 14). Bei Karl R. Popper Schopenhauer dagegen ging bereits mit dieser An-
(1966, 27–80) und Georg Lukács (1962, 172–219) kündigung auf Konfrontationskurs gegen Hegel, in-
wird der politisch-weltanschauliche Hintergrund die- dem er seine Vorlesung auf die Zeit legte, in der dieser
ser Entgegensetzung besonders deutlich. Demgegen- sein Hauptkolleg las (vgl. GBr, 55). In der mit dem An-
über hat es immer schon Stimmen gegeben, die auf ei- tritt seiner Lehrtätigkeit verknüpften »Lobrede auf die
ne innere Verwandtschaft oder ein komplementäres Philosophie« zeichnet er – ohne Namen zu nennen –
Verhältnis im Denken der beiden Philosophen auf- ein Bild des Niedergangs der Philosophie in seiner
merksam gemacht haben – Stimmen, die dann ver- Zeit, der zu früherem Glanz zu verhelfen, er einen
nehmlicher wurden, wenn die politische Konfrontati- »Rächer« (VN I, 58 (De)) in Aussicht stellt. Hegel wird
on nicht so stark war. für ihn bald zur Symbolfigur dieses Niedergangs. Be-
Derartige Übereinstimmungen sind vor dem Hin- reits ein Jahr später wird er in den handschriftlichen
tergrund der gemeinsamen Einbindung in die klassi- Aufzeichnungen »Erznarr« (HN III, 87) genannt, und
sche deutsche Philosophie zu betrachten. Obwohl He- 1827 erhält er erstmals die Bezeichnung »Scharlatan«
gel (1770–1831), älter noch als Schelling (1775–1854), (HN III, 363), die genau der in der Lobrede beklagten
einer früheren Generation angehört, gibt es keine Niedergangsform der Philosophie entspricht und die
Hinweise, die auf einen wie auch immer gearteten später auch in den publizierten Schriften gleichsam als
Einfluss auf die Entstehung der Philosophie Schopen- Titel verwendet wird. Auch für die »Professoren-Phi-
hauers schließen lassen (vgl. Schmidt 1988, 11 f.). Bis losophie«, die Schopenhauer in dieser Zeit anzugrei-
zum Jahr 1814, in dem Schopenhauer nach eigenen fen beginnt (s. Kap. 9.3), wird Hegel zum paradigmati-
Angaben die Grundzüge seiner Philosophie ent- schen Repräsentanten.
wickelt hatte, wird Hegel nur einmal in einem Brief er- Wenn man bei dem Verhältnis zwischen Schopen-
wähnt, in dem Schopenhauer ein ausgeliehenes Exem- hauer und Hegel auch nicht von einem »Kampf« oder
plar der Wissenschaft der Logik mit den Worten zu- von »grimmigen Antipoden« (Bloch 1962, 117) spre-
rückschickte: »ich würde diese nicht so lange behalten chen kann, weil Hegel Schopenhauer kaum zur Kennt-
haben, hätte ich nicht gewußt, daß Sie solche so wenig nis nahm, so geht die einseitige Gegnerschaft des letz-
lesen als ich« (GBr, 6). Im Handschriftlichen Nachlaß teren doch über eine persönliche oder sachliche Aus-
taucht der Name Hegels erstmals 1818 auf (vgl. HN einandersetzung hinaus ins Prinzipielle (vgl. Schmidt
III, 26), eine im Ansatz inhaltliche Auseinanderset- 1988, 16): Der Name Hegel steht (a) für unverständli-
zung ist aber nicht vor 1827 auszumachen. Es ist also che, in sich widersprüchliche Gedanken, (b) deren In-
21  Georg Wilhelm Friedrich Hegel 239

haltslosigkeit durch einen »höchst krausen, prunken- wussten »Geist« (ebd., 16, 49 f.), den er seiner einfluss-
den, vornehmen und hochtrabenden Wortgalli- reichen Philosophie des Unbewußten zugrunde legt
mathias« (HN III, 363) verschleiert wird, und die (c) (s. Kap. 28). Den Gedanken einer Synthese der Phi-
durch die Absicht, der weltlichen und geistlichen Ob- losophien Hegels und Schopenhauers versuchten
rigkeit zu gefallen, korrumpiert sind. »Im Ganzen ent- auch Julius Bahnsen und später Rudolf Steiner frucht-
hält Hegels Philosophie 3/4 baaren Unsinn und 1/4 bar zu machen.
korrupte Einfälle« (HN III, 364). Es mag sein, dass der Eine neue Tendenz in der Rezeption der beiden Phi-
Misserfolg der Vorlesung, die kaum besucht wurde, zu losophen kündigt sich bei Josiah Royce an, der, aus-
dieser Überfrachtung der Gegnerschaft beigetragen gehend von einer »apparently hopeless divergence«
hatte. Sicher spielte aber die Vormachtstellung, die die zwischen ihnen, dennoch »certain striking similari-
Hegelsche Philosophie in den 1820er Jahren an den ties« (Royce 1891, 45) insbesondere beim Vergleich
deutschen Universitäten gewonnen hatte, eine zentra- von Die Welt als Wille und Vorstellung mit Hegels Phä-
le Rolle. In dem Zusammenhang ist es interessant, nomenologie des Geistes bemerkt. Diese Tendenz, trotz
dass in Schopenhauers veröffentlichten Werken die der Anerkennung einer grundsätzlichen Diskrepanz
Angriffe auf Hegel erst nach dessen Tod einsetzen und (die keine Synthese zulässt) signifikante Parallelen im
dass auch in den Vorlesungen der Name nie gefallen Denken Hegels und Schopenhauers aufzuzeigen, wird
ist. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass sie nicht in bei Bloch und Johannes Volkelt fortgeführt, die die Ge-
erster Linie auf die Person und das Werk, sondern auf meinsamkeiten vor allem in der Systemgestalt sehen
die Anhänger und Nachahmer zielten, auf das, was (Bloch 1962, 201 f.; Volkelt 1923, 59). In der Tat haben
Schopenhauer unter dem Begriff »Hegelei« zusam- ja Hegel und Schopenhauer fast zur gleichen Zeit (die
menfasste (vgl. Kamata 1988, 94 f.). Die ausführlichs- Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften He-
te, wenn auch rein polemische Auseinandersetzung gels erschien erstmals 1817, Die Welt als Wille und Vor-
mit der Hegelschen Philosophie findet sich in der Vor- stellung 1818) die einzigen Beispiele eines die Totalität
rede zu Die beiden Grundprobleme der Ethik (1840); aller Erfahrung umfassenden philosophischen Sys-
mit ihr reagiert Schopenhauer auf die Ablehnung der tems vorgelegt, wie es in der Nachfolge Kants gefordert
Preisschrift »Über die Grundlage der Moral« durch war. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die
die Königlich Dänische Sozietät der Wissenschaften, Einordnung in ideologische Zusammenhänge, wie sie
die er in eine Reihe mit den »besoldeten Professoren eingangs erwähnt wurde (vgl. auch Hübscher 1945–
der Hegelei« stellt (E, XVIII). 48) im Vordergrund und verhinderte eine sachliche
Im Gegensatz zur Selbsteinschätzung Schopenhau- Auseinandersetzung, obwohl auch Max Horkheimer
ers steht die Tatsache, dass er in den frühen Rezensio- 1961 in seinem Vortrag »Die Aktualität Schopenhau-
nen seines Hauptwerks ganz selbstverständlich in die ers« darauf aufmerksam machte, dass »der Schopen-
Nachfolge der von ihm bekämpften Philosophen des hauer so verhaßte Hegel [...] ihm nicht so fern« sei
Deutschen Idealismus eingereiht wird (vgl. Piper (Horkheimer 1974, 260). Auf die Notwendigkeit einer
1917, z. B. 82, 88, 90, 117). Die frühesten Schriften, die ausführlichen inhaltlichen Untersuchung des Verhält-
ihn mit Hegel in einen Vergleich bringen, sind eher nisses zwischen Hegel und Schopenhauer verwies
bestrebt, Gemeinsamkeiten herauszustellen (vgl. dann 1977 Wolfgang Weimer in seiner Dissertation
Koßler 1990, 16 f.; Kamata 1988, 47 ff.), wobei teils die Die Aporie der reinen Vernunft. Bald darauf entstanden
deskriptiv-empirische Darstellungsweise Schopen- mehrere Aufsätze zu dem Thema (vgl. Koßler 1990,
hauers als Mangel, teils seine Betonung des Leiblichen 19 f.), und schließlich kamen drei Monographien der
und Anschaulichen sowie der lebendige Stil als Vor- Forderung Weimers in unterschiedlicher Weise nach:
teile gewertet werden. Während Alfred Schmidt (1988) aufzeigt, inwiefern
Erst nach dem Tod Schopenhauers setzt mit der sich hinter Schopenhauers Schmähreden gegen Hegel
immer größeren Bedeutung, die seine Philosophie er- durchaus eine substantielle Kritik verbirgt, versucht
langt, die Gegenüberstellung der beiden Philosophen Koßler nachzuweisen, »daß beide philosophischen
ein. Für Eduard von Hartmann sind sie bereits die Systeme sich bis auf einen, allerdings wesentlichen
»polarisch entgegengesetzten Spitzen der bisherigen Punkt vollständig entsprechen« (Koßler 1990, 15).
Entwickelung« (Hartmann 1869, 60). Durch die Zu- Wiederum dagegen betont Ramos bei allen zugestan-
sammenfügung der derart zugespitzten Extreme, »die denen Übereinstimmungen einen prinzipiellen »Ab-
logische Idee« (Hegel) und »der unlogische Wille« grund«, der die beiden Philosophien trennt, weil ihnen
(Schopenhauer), kommt Hartmann zu dem unbe- zwei »absolut entgegengesetzte Weltsichten [duas vi-
240 III  Einflüsse und Kontext

sões de mundo absolutamente opostas]« zugrunde lie- Der zentrale Punkt, an dem die beiden Philosophen
gen (Ramos 2008, 150, 156). trotz der genannten Parallelen so auseinandergehen,
Das erweckt den Eindruck, als stünden sich in die- dass grundsätzliche inhaltliche Differenzen, etwa in
sen neueren Arbeiten die Auffassungen von der Di- der Bewertung der Rolle von Leiblichkeit, Geschichte
versität und der Kongruenz beider Philosophien noch und Kunst zu Tage treten (vgl. ebd.), liegt in der unter-
immer so unversöhnlich gegenüber wie in den Anfän- schiedlichen Bestimmung des Verhältnisses von An-
gen der Schopenhauer-Rezeption. Bei genauerem schauung und Begriff. Wenn man auch die sehr unter-
Hinsehen stellt man aber fest, dass die Auseinander- schiedlichen Auffassungen von ›Anschauung‹ und
setzung sachlicher geworden ist: Während eine gewis- ›Begriff‹ berücksichtigt, so lässt sich doch die sekundä-
se Einigkeit über Unterschiede und Gemeinsamkeiten re Stellung des Begriffs gegenüber der Anschauung bei
herrscht, konzentriert sich die Debatte mehr auf deren Schopenhauer im Verhältnis zur Einordnung der An-
Bewertung und Gewicht. Die philosophischen Syste- schauung in die Bewegung des Begriffs bei Hegel inso-
me Hegels und Schopenhauers stimmen, wie schon fern als fundamentale Differenz festhalten, als Scho-
bei Volkelt und Bloch angedeutet, darin überein, dass penhauer damit einen Bereich unmittelbarer Erfah-
sie eine die Welt in ihrer Totalität umfassende Sicht rung in seine Philosophie zu integrieren sucht, der sich
darbieten, die dadurch entsteht, dass das, was die Welt aller begrifflichen Vermittlung entzieht (vgl. Rometsch
bestimmt – bei Hegel der Geist, bei Schopenhauer der 2011, 84 f.; Koßler 1990, 195 ff.). Dies hat Auswirkun-
Wille – sich seiner selbst bewusst wird (vgl. Roten- gen auf die Bestimmung des Wesens der Welt, das bei
streich 1989; Rometsch 2011). Beide beschäftigen sich allem Bewusstwerden seiner selbst ein unergründli-
mit dem »Ganzen der Erfahrung«: Ist für Schopen- ches bleibt, auf die Beschränkung der Rolle der Ver-
hauer Philosophie »Lehre vom Bewußtseyn und des- nunft und auf das Selbstverständnis philosophischer
sen Inhalt überhaupt, oder vom Ganzen der Erfah- Erkenntnis, die als Deutung der Welt anhand des »un-
rung als solcher« (W II, 140), so lautete der ursprüng- mittelbarsten« (W II, 221) Gewahrwerdens dieses Un-
liche Titel von Hegels Phänomenologie des Geistes ergründlichen kein absolutes Wissen sein kann, son-
»Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns« (He- dern sich als bedingt durch die Erfahrung und als rela-
gel 1980, 444). Auf die gemeinsame Rezeption der Na- tiv zu anderen Zugangsweisen zur Wahrheit wie Kunst
turphilosophie Schellings gehen Parallelen in der spe- oder Mystik weiß.
kulativen Naturbetrachtung zurück, die bei Schopen-
hauer wie bei Hegel die Form einer in Stufen aufstei- Literatur
genden dialektischen Bewegung der Idee hat (vgl. Bloch, Ernst: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel [1951]
Koßler 1990, 119 f.; Ramos 2008, 114 ff.). Methodisch (= Gesamtausgabe, Bd. 8). Frankfurt a. M. 21962.
Deussen, Paul (Hg.): Der Briefwechsel Arthur Schopenhau-
werden auch Bezüge zwischen der kreisförmigen ers. Bd. 3 (= Sämtliche Werke, Bd. 16. Hg. von Paul Deus-
Struktur des Hegelschen Systems, bei dem der An- sen). München 1942 [De XVI].
fang, das Prinzip oder das Absolute »wesentlich Re- Grigenti, Fabio: Natura e rappresentazione. Genesi e struttura
sultat« ist (Hegel 1980, 19) und Schopenhauers »orga- della natura in Arthur Schopenhauer. Neapel 2000.
nischer« Gestalt des »einzigen Gedankens«, aufgrund Hartmann, Eduard von: Schelling’s positive Philosophie als
Einheit von Hegel und Schopenhauer. Berlin 1869.
derer »auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geis-
werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher ver- tes (= Gesammelte Werke, Bd. 9). Hg. von Wolfgang Bon-
standen sey« (W I, VIII), hergestellt (vgl. Koßler 1990, siepen und Reinhard Heede. Hamburg 1980.
156). Diese hauptsächlich formalen Übereinstim- Hoffmeister, Johannes (Hg.): G. W. F. Hegel: Berliner Schrif-
mungen werden indessen durch die inhaltlichen Be- ten 1818–1831 (= Sämtliche Werke, Bd. 11). Hamburg
stimmungen relativiert. Dabei ist es zu kurz gegriffen, 1956.
Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft.
sich einfach auf die Gegenüberstellung von ›irrationa-
Frankfurt a. M. 1974.
lem Willen‹ und ›rationalem Geist‹ zu stützen (auch Hübscher, Arthur: Hegel und Schopenhauer. Ihre Nachfolge
Schopenhauer verwendet übrigens, wenn auch nur – ihre Gegenwart. In: Schopenhauer-Jahrbuch 32 (1945–
vereinzelt, Begriffe wie »Geistesphilosophie«, W II, 48), 23–42.
198, und »Weltgeist«, W II, 370, 574; P II 340 f., für Hübscher, Arthur: Denker unserer Zeit. München 1956.
seine eigene Lehre). Auch die Etikettierung Hegels als Kamata, Yasuo: Der junge Schopenhauer. Genese des Grund-
gedankens der Welt als Wille und Vorstellung. München
›Optimisten‹ und Schopenhauers als ›Pessimisten‹ ist 1988.
heute als inhaltliches Unterscheidungsmerkmal frag- Koßler, Matthias: Substantielles Wissen und subjektives Han-
würdig geworden (vgl. Schmidt 1988, 120 f.).
21  Georg Wilhelm Friedrich Hegel 241

deln, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopen- konstitution bei Hegel und Schopenhauer. In: Schopen-
hauer. Frankfurt a. M. 1990. hauer-Jahrbuch 92 (2011), 69–86.
Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft [1954] (= Werke, Rotenstreich, Nathan: Self-Knowledge of the World. In:
Bd. 9). Neuwied 21962. Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1989), 66–74.
Piper, Reinhard: Die zeitgenössischen Rezensionen der Royce, Josiah: Two Philosophers of the Paradoxical. In:
Werke Arthur Schopenhauers. In: Jahrbuch der Schopen- Atlantic Monthly 67 (1891), 45–60 und 161–172.
hauer-Gesellschaft 6 (1917), 47–178. Schmidt, Alfred: Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kriti-
Popper, Karl R.: The Open Society and its Enemies. Bd. 2: The ker Hegels. München 1988.
High Tide of Prophecy: Hegel, Marx and the Aftermath Steiner, Rudolf: Hegel und Schopenhauer. In: Goetheanum
[1945]. London 51966. 10 (1931), 341–349.
Ramos, Flamarion Caldeira: A »miragem« do absoluto. Sobre Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer. Stuttgart 51923.
a contraposição de Schopenhauer a Hegel: Crítica, especula- Weimer, Wolfgang: Die Aporie der reinen Vernunft. Düssel-
ção e filosofia da religião. São Paulo 2008. dorf 1977.
Rometsch, Jens: Wirklichkeitskonstitution und Erkenntnis-
Matthias Koßler
242 III  Einflüsse und Kontext

22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling wird in den Briefen Schopenhauers und


Schelling in dessen Schriften verschiedentlich erwähnt. Trotz
der meist bissigen Bemerkungen zu Schellings Person
und Philosophie weist Schopenhauer ihm doch unter
Schopenhauer und Friedrich Wilhelm Joseph Schel- den drei Idealisten (Fichte, Schelling und Hegel) einen
ling (1775–1854) waren, obwohl man Schopenhauer gewissen Vorrang zu, er sei, so heißt es beispielsweise,
schon der nachidealistischen Philosophie im 19. Jahr- »entschieden der Begabteste unter den Dreien« (P I,
hundert zuordnen mag, Zeitgenossen. Dessen un- 34 (ZA)). Im Gespräch verwahrt er Schelling auch ge-
geachtet ist ihrer beider Verhältnis, und dies trägt zur gen den Vorwurf der Unsinnigkeit (vgl. Gespr, 184); in
Klassifikation des einen als Idealisten und des Ande- diesem Sinne verteidigt er ihn in einem Brief an Julius
ren als Nachidealisten sicherlich bei, ein asymmetri- Frauenstädt vom 11. September 1854:
sches. Schelling als der dreizehn Jahre Ältere hat sich
auf Schopenhauer weder in irgendeiner inhaltlichen »Vielen Dank für Ihren Aufsatz über Schelling. Was Sie
noch persönlichen Weise bezogen. Zwar weiß man, darin sagen, ist Alles wahr: aber Sie sind doch nicht ge-
dass Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und recht gegen ihn, sofern Sie das Gute verschweigen,
Vorstellung in den Auflagen von 1819 und 1844 Teil was ihm doch nachzurühmen ist. Trotz allen seinen
von Schellings persönlicher Bibliothek war (vgl. Mül- Possen und den größern seiner Anhänger, hat er doch
ler-Bergen 2007, 67, 121), er erwähnt Schopenhauer die Auffassung der Natur überhaupt wesentlich ver-
aber weder in seinen Werken noch Briefen auch nur bessert und gefördert; wie ich denn auch Manches an
ein einziges Mal. Darüber hinaus besaß er auch eine ihm gelobt habe« (GBr, 350).
Ausgabe der Frauenstädtschen Briefe über die Scho-
penhauer’sche Philosophie von 1854 (Schellings letz- Die Entwicklung von Schopenhauers eigener Philoso-
tem Lebensjahr; vgl. Müller-Bergen 2007, 143). Ins- phie geschieht in stetiger Auseinandersetzung mit
gesamt darf aber vermutet werden, dass Schelling sich Schellings Denken. Insbesondere dessen Theorie des
nie mit Schopenhauers Philosophie befasst hat. Absoluten (vgl. die Philosophische Briefe über Dogma-
Umgekehrt ist die inhaltliche Bezugnahme Scho- tismus und Kritizismus von 1795) regt den jungen
penhauers auf Schelling, in meist polemischer Form, Schopenhauer zu eigenen Gedanken über das Sub-
sehr vielfältig. Nicht nur hat Schopenhauer zahlreiche jekt-Objekt-Verhältnis an (vgl. Koßler 2008, 68 f.).
Schriften von Schelling aus allen Schaffensphasen Das für den jungen Schopenhauer zentrale Konzept
selbst besessen (vgl. HN V, 143–149), Schopenhauer des »bessern Bewußtseyn[s]« (HN I, 23) rekurriert auf
hat viele dieser Texte auch ausführlich kommentiert. Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung
So hat er schon früh eine Reihe von Notizen auf losen (vgl. Kamata 1988, 119–128) und die darin gedachte
Blättern sowie in Studienheften angefertigt (vgl. HN Identität von Subjekt und Objekt.
II, 304–341), die unter der Bezeichnung Schelling I, II Es ist dann vor allem die Freiheitsschrift Schellings,
und III in den von Arthur Hübscher herausgegebenen die beim reiferen Schopenhauer Beachtung findet: In
Nachlassbänden versammelt sind (vgl. HN II, 432 f.) Die beiden Grundprobleme der Ethik erwähnt Scho-
und Kommentare sowie kurze Exzerpte zu Schellings penhauer die Lehre über den intelligiblen Charakter
Schriften von 1795 (Vom Ich als Princip der Philoso- (vgl. E, 123–125 (ZA), nochmals E, 216 (ZA)); diese
phie oder über das Unbedingte im menschlichen Wis- wird auch im Satz vom Grund angeführt (in der Fas-
sen) bis 1809 (Philosophische Untersuchungen über das sung von 1813, vgl. Diss, 80 f. (De)). In den »Fragmen-
Wesen der menschlichen Freiheit, die sogenannte Frei- ten zur Geschichte der Philosophie« der Parerga und
heitsschrift) enthalten. Paralipomena kommt er auf die Schellingsche Formel
Insbesondere den 1809 bei Felix Krüll erschienen vom Wollen als Ursein zu sprechen (vgl. P I, 150 f.
Band F. W. J. Schelling’s philosophische Schriften, der (ZA)). In der »Skitze einer Geschichte des Realen und
auch Schellings berühmt gewordene Freiheitsschrift Idealen« unterstellt er Schelling Eklektizismus und
als einzig neuen Text enthält (wahrscheinlich der nennt Plotin, Spinoza, Böhme und Kant als maßgebli-
wirkmächtigste Text Schellings), hat Schopenhauer che Quellen Schellings (vgl. P I, 34 (ZA)), ebendort
mit zahlreichen Anstreichungen und Randglossen nennt er die Freiheitsschrift, wenig wohlwollend, einen
versehen. Es ist vor allem die Schellingsche Freiheits- »metaphysischen Versuch« (ebd.), dennoch hebt er
schrift, der man einen maßgeblichen Einfluss auf auch das »Verdienst Schellings in seiner Naturphiloso-
Schopenhauers Philosophie nachsagen kann. phie, die eben auch das Beste unter seinen mannigfa-
22  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 243

chen Versuchen und neuen Anläufen« (ebd.) sei, her- danke ist es, den Willen als Ansichsein in der Natur zu
vor. Er bezieht sich dabei auf Schellings Programm in fassen. Er bestimmt den transzendentalen Bezugs-
der Freiheitsschrift, dem abstrakten System Spinozas, punkt einer jeden Vorstellung (das in Anlehnung an
der »Leblosigkeit seines Systems«, der »Dürftigkeit der Kant sogenannte ›Ding an sich‹) als Willen und damit
Begriffe und Ausdrücke« (SW VII, 349) eine lebendige diesen als Wesen der Objektwelt. Diese Identifikation
Naturphilosophie entgegenzusetzen. Wo Schelling in bildet den Hauptgegenstand des zweiten, der Natur-
der Freiheitsschrift seines Erachtens lediglich die Er- philosophie gewidmeten Buches der Welt als Wille
gebnisse seiner bereits vor 1809 publizierten iden- und Vorstellung: »Dieses Ding an sich [...] mußte [...]
titäts- und naturphilosophischen Schriften zu referie- Namen und Begriff von einem Objekt borgen, von et-
ren glaubt, bewertet Schopenhauer dieses Programm was irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer
differenziert: auf der einen Seite die für ihn maßgebli- seiner Erscheinungen; [...] diese aber eben ist des
che und zu würdigende Einsicht in die Natur als einer Menschen Wille« (W I, 155 (ZA)).
Ausdrucksform des Wollens, auf der anderen Seite die Die Grundzüge der Schopenhauerschen Naturphi-
»falsche [...] Anwendung« (P I, 34 (ZA)) der Naturwis- losophie zeigen ihn als einen Denker, der die kantisch-
senschaft auf die Philosophie, womit vermutlich vor idealistische Philosophie aufnimmt und auf einen
allem Schellings naturphilosophische Texte vor 1809 neuen Boden stellt. Insbesondere am zentralen Termi-
kritisch benannt sein dürften. nus seiner Metaphysik, dem Willensbegriff, ist dies
Aus diesen Verweisen wird ersichtlich, an welchen überdeutlich abzulesen. Kant bestimmt den Willen
Themen der reife Schopenhauer interessiert ist: Es anders als Schopenhauer, jener versteht den Willen
sind dies vor allem (1) die willensmetaphysische Deu- nämlich noch ganz von der praktischen Vernunft her,
tung der Natur und des Seins überhaupt in Schellings d. h. von der Weise wie Vernunft durch Begriffe einen
Freiheitsschrift sowie (2) die eben dort entfaltete, an Willen bestimmt. Kants Rede von einer reinen prakti-
Kant und Fichte angelehnte Lehre von der intelligi- schen Vernunft ist für Schopenhauer inakzeptabel, da
blen Tat. Beide Theoreme sind für Schopenhauer Vernunft ihm zufolge nie im kantischen Sinne wil-
maßgeblich geworden und in dessen eigene Konzepti- lensbestimmend ist und niemals das Fundament der
on der Natur als Objektivation des Willens und des Moral sein kann. Die Vernunft in der Schopenhauer-
Menschen als intelligiblem Charakter eingegangen schen Variante ist ganz und gar Diener des an sich sei-
(vgl. Hühn 1998, 55 f., 85). enden Willens, mithin nur zur nachträglichen Er-
kenntnis des ursprünglichen Willens da und zu die-
1) »Man hatte aber bis jetzt die Identität des Wesens sem Zwecke vom Willen selbst instantiiert.
jeder irgend strebenden und wirkenden Kraft in der Dieser gewandelte Begriff des Willens weist auf
Natur mit dem Willen nicht erkannt, und daher die Schellings Naturphilosophie zurück. Schelling scheint
mannigfaltigen Erscheinungen, welche nur verschie- durch seine Fundamentalthese vom Willen als Ursein
dene Species des selben Genus sind, nicht dafür ange- (»Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein
sehn, sondern als heterogen betrachtet« (W I, 155 anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn«, SW VII,
(ZA)). Schopenhauer markiert mit dieser Einschät- 350) eine nicht unbedeutende Vermittlungsfunktion
zung im § 22 der Welt als Wille und Vorstellung seine zwischen der kantischen und der Schopenhauerschen
eigene herausgehobene Stellung innerhalb der Phi- Philosophie zu haben. Den Schritt von der Unerkenn-
losophiegeschichte, zumindest diejenige, die er sich barkeit des Ansichseins bei Kant hin zu Schopenhau-
selbst gerne zuschreiben möchte. Die behauptete Ori- ers Bestimmung des Ansichseins als Wollen versteht
ginalität, nämlich als Erster die Identität der Natur- man erst dann, wenn man Schelling als entscheiden-
kräfte mit dem Willen und darüber hinaus vielmehr de, da wegbereitende Stufe dieses Schrittes versteht. In
die Identität des Ansichseins alles Seienden mit dem seinen Randnotizen zum Text der Schellingschen
Willen, wovon die zitierte Gleichsetzung nur ein Spe- Freiheitsschrift notiert Schopenhauer selbst an ent-
zialfall ist, erkannt zu haben, mag man kritisch be- scheidender Stelle: »Vorspuk von mir« (HN V, 147;
trachten, bildet doch bereits die Schellingsche Phi- vgl. dazu Regehly 2008, 88, 100). Die These vom Ur-
losophie paradigmatisch den Gedanken einer Iden- sein als Wollen (SW VII, 350) hat er im Text deutlich
tifikation des Ansichseins mit der Freiheit aus, wel- unterstrichen. Die Vorläuferschaft Schellings in Bezug
cher den unmittelbaren Vorläufer für Schopenhauers auf seine eigene Metaphysik des Willens ist ihm also
naturphilosophische Überlegungen darstellt. nicht entgangen. Die Ähnlichkeit seiner eigenen Me-
Schopenhauers naturphilosophischer Grundge­ taphysik mit der Schellings erklärt er mit Hinblick auf
244 III  Einflüsse und Kontext

den gemeinsamen Ausgangspunkt bei Kant (vgl. P I, philosophie darum, alles Seiende, und nicht nur den
150 f. (ZA)) – eine Erklärung, mit der Schopenhauer Menschen, von der Freiheit her zu verstehen. Laut
auch auf Plagiatsvorwürfe reagiert hat, mit denen er Schelling liegt dies in der emphatischen Erfahrung der
sich konfrontiert sah. Freiheit selbst begründet: »Nur wer Freiheit gekostet
Schopenhauers Identifikation von Ding an sich hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu
und Wille hat ihre historische Voraussetzung in Schel- machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten«
lings Identifikation von Ding an sich und Freiheit. (SW VII, 351). Der Begriff der Freiheit findet damit
Zwar ist es bezeichnend für die Differenz beider Auto- über den Zusammenhang der Subjektivität hinaus
ren, dass für Schopenhauer der Freiheitsbegriff weit Anwendung, was nach kantischer Vorstellungsweise
weniger zentral ist, gleichwohl gehört Schellings Glei- unmöglich wäre, insofern die Erfahrungswelt durch
chung ›Ding an sich = Freiheit‹ strukturell zu Scho- Naturgesetze geregelt und in diesem Sinne unfrei (he-
penhauers Theorie. Grundsätzlich ist diese Identifika- teronom) ist.
tion aus kantischer Sicht problematisch, da sie bei Die Möglichkeit einer Ausweitung des Freiheits-
Schelling wie bei Schopenhauer gleichermaßen über begriffes wird in Schellings System des transzendenta-
den engen praktischen Gebrauch der Vernunft hi- len Idealismus von 1800 begründet, indem Freiheit
nausgeht, der für Kant Bedingung ist, um die Freiheit dort nicht mehr an den Begriff praktischer Autonomie
positiv als Noumenon zu bestimmen. im kantischen Sinne gebunden ist, sondern weiter ge-
1809, in den Philosophischen Untersuchungen über fasst wird, nämlich als schlechthinnige Produktivität.
das Wesen der menschlichen Freiheit, entwickelt Schel- Es ist Schelling darum zu tun, das transzendentalphi-
ling seine Theorie der Freiheit vor dem Hintergrund losophische Paradigma des Selbstbewusstseins zu
der kantischen und frühidealistischen Philosophie. problematisieren, indem die Struktur der Subjektivität
Hier wird der kantische Ausdruck des Noumenon, d. h. auf eine Weise bestimmt wird, die nur schwer als die
des Dinges an sich, enggeführt mit dem der Freiheit. eines bewussten Subjektes zu identifizieren ist, das ei-
ner an sich bewusstlosen Natur gegenübersteht. Das
»Es wird aber immer merkwürdig bleiben, daß Kant, Subjekt rückt als unbewusstes vielmehr Schellings Be-
nachdem er zuerst Dinge an sich von Erscheinungen griff der schaffend-lebendigen Natur, der natura na-
nur negativ, durch die Unabhängigkeit von der Zeit, turans, dem Prinzip seiner Naturphilosophie, so nahe,
unterschieden, nachher in den metaphysischen Er- dass beide letztlich nicht zu unterscheiden sind (vgl.
örterungen seiner Kritik der praktischen Vernunft Un- Schwenzfeuer 2012, 146–155). Diese Subjekttheorie
abhängigkeit von der Zeit und Freiheit wirklich als kor- bildet den Hintergrund für Schellings Identifikation
relate Begriffe behandelt hatte, nicht zu dem Gedan- von Freiheit und Ansichsein, wodurch die (durch
ken fortging, diesen einzig möglichen positiven Begriff Kant vorgezeichneten) Grenzen von Subjekt und Ob-
des An-sich auch auf die Dinge überzutragen« (SW VII, jekt, Geist und Natur, Idealismus und Realismus un-
351 f.). terlaufen werden können.
Wo Natur und Subjekt als bloße Produktivität gar
Anders als Kant will Schelling grundsätzlich den Ter- nicht zu unterscheiden und daher in letzter Instanz
minus ›Ding an sich‹ mit ›Freiheit‹ übersetzt wissen, identisch sind, da kann das eine auch je durch das an-
d. h. auch über den engen praktischen Zusammen- dere begrifflich erläutert werden. In dieser Weise soll
hang hinaus, innerhalb dessen Kant selber schon die der Begriff der Freiheit in der Freiheitsschrift verstan-
Freiheit der Person als intelligibel dartut. Das wird in den und auf alles Seiende angewendet werden, als ein
Schellings Text dort deutlich, wo er fordert, die Ichheit Begriff der das Sein überhaupt soll erläutern können;
nicht als den Inbegriff von Allem, sondern auch Alles menschliche Freiheit ist damit im Gegenzug ein spezi-
als Ichheit zu verstehen: »[E]s wird vielmehr gefor- eller, wenn auch ausgezeichneter Fall von Freiheit
dert, auch umgekehrt zu zeigen, daß alles Wirkliche überhaupt und der Mensch dasjenige Seiende, an dem
(die Natur, die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und sich das Ganze des Seins erschließen lässt. Die Unter-
Freiheit zu Grunde habe, oder im Fichteschen Aus- suchung des Seins des Seienden – die nach Kant gar
druck, daß nicht allein die Ichheit alles, sondern auch nicht möglich ist, da wie die Dinge an sich sind, nicht
umgekehrt alles Ichheit sei« (SW VII, 351; s. Kap. 20). gewusst werden kann – wird anhand des Begriffes der
Freiheit ist zunächst der Leitbegriff, unter dem das Freiheit durchgeführt, was nach Kant genauso un-
Subjekt (das Ich bzw. die Ichheit) vorgestellt wird. Es möglich ist, da Freiheit in theoretischer Hinsicht nur
geht dann aber im Kontext der Schellingschen Natur- negativ bestimmt werden kann.
22  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 245

Schelling ermöglicht so eine spezifische Form von terpretiert Schelling das idealistische Freiheitsver-
Naturphilosophie, welche »die verborgene Spur der ständnis in Anlehnung an Kants Religionsschrift als in-
Freiheit« (SW III, 13) in der Natur aufsucht. Dies kann telligible Tat.
nur heißen, dass alles Seiende aus Freiheit ist und da- Schelling diskutiert in diesem Zusammenhang den
mit anders als bei Kant auch als autonom begriffen sogenannten formellen Begriff der Freiheit, d. h. den
werden muss. »Da sie [die Natur] sich selbst ihre Freiheitsbegriff des Idealismus (namentlich Fichtes),
Sphäre gibt, so kann keine fremde Macht in sie ein- und leitet im Anschluss über in seine Konzeption der
greifen; alle ihre Gesetze sind immanent, oder: die Na- intelligiblen Tat (vgl. SW VII, 382–389). Der idealisti-
tur ist ihre eigne Gesetzgeberin (Autonomie der Na- sche Freiheitsbegriff wird trotz seiner Grundlegung
tur)« (SW III, 17). ›Aus Freiheit sein‹ bedeutet aber und Umdeutung in Schellings Naturphilosophie kei-
wiederum ›aus sich selbst heraus sein‹. Willenstheo- neswegs verworfen, denn es gilt nach Schelling:
retisch interpretiert heißt dies, dass das Seiende da- »Überhaupt erst der Idealismus hat die Lehre von der
raufhin betrachtet wird, dass es selbst sein will. Freiheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein ver-
Eine Naturphilosophie bestünde dann darin, das ständlich ist« (SW VII, 383). Der idealistische Begriff
naturhaft Seiende als Offenbarung des Willens der Na- der Freiheit besteht aber im Begriff eines selbstgegebe-
tur zu verstehen. So dargestellt, sieht dies dem Scho- nen Gesetzes, d. h. der Autonomie. Dieses Freiheits-
penhauerschen Programm einer Metaphysik der Na- verständnis steht in der Mitte zwischen reiner Will-
tur ähnlich, die alles naturhaft Seiende als Objektiva- kürfreiheit und bloßem Determinismus.
tionen des Willens interpretiert. In dieser Hinsicht Willkür ist das bloße Unbestimmtsein. Zu Ende ge-
setzt Schopenhauer fort, was bei Schelling bereits dacht geht Willkür in bloßen Zufall über, da für Ent-
grundgelegt ist; diese Fortführung allerdings verlässt scheidungen und Handlungsoptionen kein Grund au-
die Voraussetzungen des idealistischen Denkens im ßer der bloßen Willkür selbst angeführt werden kann.
engeren Sinne. Diese in Schopenhauers Metaphysik Der Freiheit als Willkür steht der Determinismus
der Natur bemerklichen Veränderungen sind auf die »entgegen, indem er die empirische Nothwendigkeit
semantischen Verschiebungen im Begriff der Freiheit aller Handlungen aus dem Grunde behauptet, weil je-
zu beziehen. Schelling hält nämlich am Primat des In- de derselben durch Vorstellungen oder andere Ursa-
tellekts trotz seiner naturphilosophischen Fundierung chen bestimmt sey, die in einer vergangenen Zeit lie-
durchaus fest, das Modell des Selbstbewusstwerdens gen, und die bei der Handlung selbst nicht mehr in
bleibt stets das leitende und das sich wissende Wissen unserer Gewalt stehen« (SW VII, 383). Den Determi-
der Zielpunkt der naturphilosophischen Erkenntnis. nismus konsequent zu Ende gedacht, muss man die
Die Priorität der Natur als Fundament des Subjektes ist Freiheit leugnen. Die vollständige und durchgängige
zu unterscheiden von der Rangordnung: Die Natur Bestimmtheit lässt keinen Raum für Freiheit.
bleibt dem Subjekt, das Reale dem Idealen stets unter- Den eigentlich idealistischen Freiheitsbegriff sieht
geordnet, »indem der Verstand eigentlich der Wille in Schelling als zwischen diesen beiden extremen Kon-
dem Willen ist« (SW VII, 359), d. h. das eigentliche zeptionen in der Mitte stehend. »Beiden gleich unbe-
Wesen des Willens ausmacht. Gleichwohl ist die Ana- kannt ist jene höhere Notwendigkeit, die gleich weit
logisierung des Willens mit dem Ansichsein der Natur, entfernt ist von Zufall als Zwang oder äußerem Be-
insofern naturhaft Seiendes als Objektivation des Wil- stimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem We-
lens gedacht wird, schon in Schellings Grundlegung sen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit
der Naturphilosophie ausgearbeitet. ist« (SW VII, 383).
Diese Argumentation erlaubt, die Konzeption des
2) Schelling entwickelt in der Freiheitsschrift in Aus- Zufalls einerseits und die des äußeren Bestimmtwer-
einandersetzung mit Kant und Fichte eine Theorie der dens andererseits zurückzuweisen und die Betrach-
intelligiblen Tat, die eine Vorform von Schopenhauers tung ins Innere des menschlichen Wesens zu verlegen.
Lehre vom intelligiblen Charakter darstellt. Dort ent- Der nächste Schritt, das transzendentale Argument der
wickelt er auch den Begriff menschlicher Freiheit, mit Vorgängigkeit des Intelligiblen, enthebt das mensch-
dem er das Prinzip der Fichteschen Philosophie neu liche Wesen der äußeren Reihe der Bestimmungen, des
zu interpretieren sucht, in zwei Schritten. Zuerst zeigt Kausalnexus. »Die freie Handlung folgt unmittelbar
er die Notwendigkeit des idealistischen Freiheits- aus dem Intelligiblen des Menschen. Aber sie ist not-
begriffes (d. h. des Begriffes der Autonomie in seiner wendig eine bestimmte Handlung, z. B. um das Nächs-
Fichteschen Auslegung). In einem zweiten Schritt in- te anzuführen, eine gute oder böse« (SW VII, 384). Der
246 III  Einflüsse und Kontext

Gedanke, dass die einzelne Handlung unmittelbar aus Wirklichkeit des Bösen mitbedacht werden. Letztere
dem Wesen des Menschen folge, bedeutet modaltheo- muss in der intelligiblen Tat wiedererkannt werden.
retisch, dass sie mit Notwendigkeit aus seinem Wesen Die intelligible Tat bringt auf den Begriff, dass die
folgt. Notwendigkeit und Freiheit gehören daher im Selbstsetzung des Menschen in die konkreten mensch-
Begriff menschlicher Freiheit zusammen. lichen Freiheitsakte als eine unhintergehbare Vorgän-
Bewiesen wird diese Zusammengehörigkeit folgen- gigkeit hineinreicht. In diesem Sinne redet Schelling
dermaßen: »Das Wesen des Menschen ist wesentlich davon, dass die intelligible Tat durch die Zeit hindurch
seine eigene Tat« (SW VII, 385). Damit ist, wie Schel- gehe (vgl. SW VII, 385 f.). Dies ist die Weise, wie die
ling selber gleich bemerkt, nichts anderes als die Fich- Natur das Ich in seinen ihm eigenen Vollzügen er-
tesche Tathandlung reformuliert. »Das Ich, sagt Fichte, möglicht. Die Freiheit der Natur ermöglicht nämlich
ist seine eigne That; Bewußtseyn ist Selbstsetzen – aber noch die menschliche Freiheit oder anders gesagt: Die
das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes, sondern Freiheit der Natur wird in der menschlichen Freiheit
eben das Selbstsetzen selber« (SW VII, 385). Die Fich- als deren eigener Grund aufgewiesen, ohne dass dies
tesche Tathandlung besteht gerade in der wechselseiti- der menschlichen Autonomie Abbruch tun würde.
gen Angewiesenheit von Gebundenheit an ein und Dieses Verhältnis von Freiheit der Natur und Freiheit
Ungebundenheit gegenüber einem Gesetz, die nur in des Menschen ist es, was die zentrale Funktion des Ge-
der Identität von Notwendigkeit und Freiheit zusam- fühls in der Schellingschen Freiheitsschrift erklärt,
mengedacht werden kann. Diese Identität muss sich kommt es doch laut Schelling zunächst darauf an, die
aber in der Evidenz transzendentalphilosophisch aus- »Thatsache der Freiheit«, nämlich »das Gefühl dersel-
gelegter Freiheit demonstrieren lassen. Das Ich ist ge- ben« (SW VII, 336) als Ausgangspunkt philosophi-
nau dies: seine eigene Setzung und sein eigenes Gesetz. scher Reflexion zu bestimmen. Die von der Natur er-
Die behauptete Identität von Notwendigkeit und Frei- möglichte menschliche Freiheit kann als dieses Er-
heit wird also im Rückgriff auf transzendentalphiloso- möglichende nur aufgefunden und damit empfunden
phisches Denken einsichtig gemacht. Soll menschliche oder gefühlt werden, da dieser Grund nur gegeben
Freiheit überhaupt gedacht werden, dann muss sie zu- sein kann, gleichwohl er selber Freiheit ist und damit
erst auf diese idealistische Weise gedacht werden. Die auch als Freiheit auftreten muss. Das Gefühl der Frei-
Tathandlung selbst gehört, wie Schelling in zeittheo- heit begründet sich demnach seinerseits in der intel-
retischer Hinsicht ergänzt, der Ewigkeit an, wirkt sich ligiblen Tat und folgt strukturell aus ihr.
aber in der Zeit aus. Was also das Wesen des Menschen Das an Kant angelehnte Theorem der intelligiblen
ist, ist durch den Menschen selber von Ewigkeit her be- Tat besagt in seiner weiteren Ausführung, dass die
stimmt. Die einzelnen Handlungen, die aus dem We- menschliche Freiheit stets im Horizont von Gut und
sen sich ergeben, fallen hingegen in die Zeit. Böse gedacht werden muss – ein Horizont, der durch
Darauf folgt nun ein weiterer Argumentations- die Vorgängigkeit der intelligiblen Tat immer schon
schritt (»Aber in viel bestimmterem als diesem all- gegeben ist. Die Selbstsetzung des Ich ist nämlich das-
gemeinen Sinne gelten jene Wahrheiten in der unmit- selbe wie das ursprüngliche Böse (theologisch gese-
telbaren Beziehung auf den Menschen«, SW VII, 385). hen ist die Selbstsetzung der Sündenfall). So versteht
Dieser wird in der Interpretation der Tathandlung als Schelling die Fichtesche Tathandlung ja gerade als
intelligibler Tat vorgenommen. Deutlich unterschie- »ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas
den ist dieser Schritt schon allein durch die historische macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit
Referenz, hier die kantische Religionsschrift (vgl. ist« (SW VII, 385), ein solches Wollen aber wiederum
SW VII, 388), die anzeigt, dass es hierbei um etwas an- als den Anfang der Sünde. »So ist denn der Anfang der
deres geht, antwortet doch das an Kant angelehnte Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in
Theorem der intelligiblen Tat auf ein ganz anderes das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem
Problem als die Fichtesche Tathandlung. So bindet Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender
Kant die Freiheit in seiner praktischen Philosophie an Grund zu werden« (SW VII, 390). Allerdings ist die
die Moral, kommt also in Erklärungsnöte hinsichtlich Tathandlung nicht per se das Böse. »Denn nicht die er-
des faktisch Bösen, da scheinbar nur das moralisch regte Selbstheit an sich ist das Böse, sondern nur so-
gute Handeln ein freies heißen kann. In dem Über- fern sie sich gänzlich von ihrem Gegensatz, dem Licht
gang der Diskussion des idealistischen Begriffs der oder dem Universalwillen, losgerissen hat. Aber eben
Freiheit zur Konzeption der Freiheit als intelligibler dieses Lossagen vom Guten ist erst die Sünde«
Tat in der Freiheitsschrift muss dann zugleich die (SW VII, 399 f.). Der entscheidende Punkt ist also erst
22  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 247

das bewusste Lossagen vom Guten. Insofern das Gute Hühn, Lore/Schwenzfeuer, Sebastian (Hg.): Schopenhauer
das wahrhaft Seiende ist, ist die Lossagung von diesem liest Schelling. Arthur Schopenhauers handschriftlich kom-
zugleich die Wendung ins Nichtsein. mentiertes Handexemplar von F. W. J. Schelling: »Philoso-
phische Untersuchung über das Wesen der menschlichen
Schopenhauer hat diese Stelle in der Freiheitsschrift Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegen-
als bloß »erläuternde Paraphrase« (E, 123 (ZA)) von stände«. Stuttgart-Bad Cannstatt (erscheint 2018).
Kant verstanden und lobt an ihr, dass sie »durch die Kamata, Yasuo: Der junge Schopenhauer. Genese des Grund-
Lebhaftigkeit ihres Kolorits, dienen [kann], Manchem gedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg/
die Sache faßlicher zu machen« (E, 123 f. (ZA)). Zwar München 1988.
Kisner, Manja: Der Wille und das Ding an sich. Schopenhau-
betont Schopenhauer hier zu Recht die sachliche Nähe
ers Willensmetaphysik in ihrem Bezug zu Kants kritischer
zu Kant und dessen Vorläuferschaft, übergeht aber an- Philosophie und dem nachkantischen Idealismus. Würz-
dererseits auch einen wesentlichen Unterschied: burg 2016.
Schellings Theorie der intelligiblen Tat bekommt ihre Koßler, Matthias: Empirischer und intelligibler Charakter.
Valenz erst vor dem Hintergrund seiner Naturphi- Von Kant über Fries und Schelling zu Schopenhauer. In:
losophie. Erst dadurch erhält nämlich menschliche Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1995), 195–201.
Koßler, Matthias: ›Nichts‹ zwischen Mystik und Philosophie
Freiheit Bezug auf das Ganze des Seins und wird Aus- bei Schopenhauer. In: Günther Bonheim/Thomas Regehly
druck der an sich seienden Freiheit der Natur – ein (Hg.): Philosophien des Willens. Böhme, Schelling, Scho-
Zusammenhang, den es im Kontext der kantischen penhauer. Berlin 2008, 65–80.
Philosophie natürlich nicht geben kann. Gerade die- Malter, Rudolf: Schopenhauer und die Biologie: Metaphysik
ser Zusammenhang ist es aber, der für Schopenhauer der Lebenskraft auf empirischer Grundlage. In: Berichte
zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), 41–58.
in eigener Sache entscheidend ist, insofern der an sich
Müller-Bergen, Anna-Lena (Hg.): Schellings Bibliothek. Die
seiende Wille sich in der Welt als Vorstellung spiegelt Verzeichnisse von F. W. J. Schellings Buchnachlaß. Stuttgart-
und sich erst im Menschen am deutlichsten erkennt Bad Cannstatt 2007.
(vgl. W I, 347 (ZA)). Auch und gerade die Ethik Scho- Müller-Lauter, Wolfgang: Das Verhältnis des intelligiblen
penhauers baut auf einer Naturphilosophie auf, die zum empirischen Charakter bei Kant, Schelling und Scho-
wie bei Schelling zur Voraussetzung hat, dass in der penhauer. In: Klaus Held/Jochem Henningfeld (Hg.):
Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Janke. Würzburg
menschlichen Freiheit auch das Ganze des Seins auf
1993, 31–60.
dem Spiel steht und von der her die negative Grund- Regehly, Thomas: Fabula docet. Vom Oupnek’hat über Ire-
verfassung der Welt (bei Schelling als Sündenfall, bei näus zu Böhme, Schelling und Schopenhauer. In: Günther
Schopenhauer als Leiden) erschlossen werden kann. Bonheim/Ders. (Hg.): Philosophien des Willens. Böhme,
Schelling, Schopenhauer. Berlin 2008, 81–104.
Literatur Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke. Hg.
Berg, Robert Jan: Objektiver Idealismus und Voluntarismus von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg
in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers. Würz- 1856–1861 [SW].
burg 2003. Schwenzfeuer, Sebastian: Natur und Subjekt: Die Grund-
Fehér, István M./Jacobs, Wilhelm G. (Hg.): Zeit und Freiheit. legung der schellingschen Naturphilosophie. Freiburg 2012.
Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger. Buda- Ulrichs, Lars-Thade: Das Ganze der Erfahrung. Metaphysik
pest 1999. und Wissenschaften bei Schopenhauer und Schelling. In:
Hühn, Lore: Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 8
Schellings und Schopenhauers. In: Christian Iber/ (2012), 251–281.
Romano Pocai (Hg.): Selbstbesinnung der philosophischen Zöller, Günther: German Realism. The Self-Limitation of
Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Idealist Thinking in Fichte, Schelling and Schopenhauer.
Grundbegriffe. Cuxhaven/Dartford 1998, 55–94. In: Karl Ameriks (Hg.): The Cambridge Companion to
Hühn, Lore (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Aus- German Idealism. Cambridge 2000, 200–218.
gang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling). Würz- Sebastian Schwenzfeuer
burg 2006.
248 III  Einflüsse und Kontext

23 Medizin: Naturphilosophie und lische und chemische Phänomene der unbelebten Ma-
Experimentalphysiologie terie reduzierbar. In Deutschland begegnete zur
Entstehungszeit von Schopenhauers Hauptwerk der
Vitalismus als Lehre von der Lebenskraft, die promi-
Im Oktober 1809 begann Schopenhauer an der Uni- nent von Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836)
versität Göttingen zunächst ein Studium der Medizin. vertreten wurde, einem der wohl bekanntesten und
Auch wenn er später zur Philosophie wechselte, ver- meistgelesenen Ärzte der Goethezeit. Hufeland, zu-
folgte er zeitlebens die Entwicklungen der Naturfor- nächst leitender Arzt an der Charité und später Pro-
schung und der Medizin. In einem Brief an Julius fessor der Medizin an der Universität Berlin, wird
Frauenstädt vom 12. Oktober 1852 betonte er den Ein- heute als Wegbereiter der klassischen Naturheilkunde
fluss physiologischer und naturwissenschaftlicher angesehen. Sein Hauptwerk Die Kunst das menschliche
Theorien auf seine Philosophie: »Ueberhaupt zeugen Leben zu verlängern besaß Schopenhauer in der
meine Werke von gründlichem Naturstudio, wären 2. Auflage von 1798 (vgl. HN V, 261). Darin wird die
auch sonst unmöglich« (GBr, 296). In diesem Brief be- vitalistische Grundthese aufgestellt, dass »durch den
zeichnete er die Physiologie als den »Gipfel gesammter Beytritt der Lebenskraft« ein Körper »aus der mecha-
Naturwissenschaft und ihr dunkelstes Gebiet« (ebd.). nischen und chemischen Welt in eine neue, die orga-
Diese Einschätzung spiegelt den nach der Publikation nische oder belebte versezt« werde (Hufeland 1798,
von Schopenhauers Hauptwerk schrittweise erfolgen- Bd. 1, 54 f.). In einem belebten Körper sei »kein blos
den Wandel medizinischer Theorien. Zu Beginn des mechanischer oder chemischer Prozess möglich«
19. Jahrhunderts war die Physiologie noch naturphi- (ebd., 55). Ähnlich wie Hufeland betrachtete Scho-
losophisch und vitalistisch ausgerichtet. Spätestens ab penhauer die Heilkraft der Natur (»vis naturae medi-
den 1840er Jahren erfolgte eine radikale Abkehr vom catrix«) als Manifestation der Lebenskraft (vgl. W II,
Vitalismus. Spekulative naturphilosophische Erklä- 295, 396; P I, 275, 277; P II, 171) und interpretierte
rungen wurden durch empirische Erkenntnisse der Krankheitssymptome als Reaktionen der Lebenskraft
Experimentalphysiologie und durch materialistische auf pathogene Reize (vgl. W II, 295).
Modelle der zu dieser Zeit florierenden Naturwissen- Mit vitalistischen Theorien kam Schopenhauer
schaften ersetzt. Bei Schopenhauers Auseinanderset- schon als Medizinstudent in Göttingen in Kontakt. Ab
zung mit medizinischen Theorien sind zwei Aspekte 1809 wurde er beeinflusst von Johann Friedrich Blu-
besonders relevant: (1) Während der Entstehungszeit menbach (1752–1840), der den Bildungstrieb (nisus
des Hauptwerks spielten naturphilosophische und ins- formativus) in die Physiologie einführte (vgl. Stoll-
besondere vitalistische Theorien in der Medizin eine berg/Böker 2013, insbesondere den Beitrag von Mar-
zentrale Rolle. Zeitgenössische vitalistische Konzepte co Segala, 13–40). Blumenbachs Monographie Ueber
wie die Lehre von der Lebenskraft hat Schopenhauer den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781)
aufgegriffen und früh mit seiner Willensmetaphysik besaß Schopenhauer in der 3. Auflage von 1791 (vgl.
verknüpft. Daher verteidigte er die Lebenskraft gegen HN V, 239). Den Bildungstrieb, eine Unterform der
reduktionistische und materialistische Tendenzen, die Lebenskraft, konzeptualisierte Blumenbach als eine
in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Physiologie qualitas occulta: eine Kraft, die nur durch ihr Ergebnis
verbreitet waren. (2) Nach der Publikation seines erkennbar werde. Wirksam sei der Bildungstrieb bei
Hauptwerks verfolgte Schopenhauer die Entwicklun- der Zeugung, Fortpflanzung und Regeneration. Auch
gen der Medizin und der Naturwissenschaften auf der Schopenhauer versteht die Lebenskraft als qualitas oc-
Suche nach empirischen Belegen, die seine metaphysi- culta (vgl. G, 144; N, 25; W II, 357).
schen Thesen bestätigen oder zumindest unterstützen Schopenhauer übernahm das traditionelle Konzept
sollten. Insbesondere beschäftigte ihn die Frage einer der Lebenskraft als verborgene und nur indirekt aus
Lokalisation des Willens im Körper. ihren Wirkungen zu erschließende Naturkraft. Die
Lebenskraft agiere teleologisch, sie beherrsche, lenke
und modifiziere die physikalischen und chemischen
Vitalismus
Kräfte der unorganischen Natur auf instinktartige
Die Hauptthese des Vitalismus lautet, dass alle Le- Weise (vgl. Brunner 2014, 207). Irritabilität, Sensibili-
bensphänomene durch ein unhinterschreitbares Le- tät und Reproduktionskraft wurden zu Beginn des
bensprinzip zu erklären seien. Für Vitalisten sind vita- 19. Jahrhunderts als klassische Manifestationen der
le Eigenschaften der belebten Natur nicht auf physika- Lebenskraft betrachtet (vgl. Hufeland 1798, Bd. 1,
23  Medizin: Naturphilosophie und Experimentalphysiologie 249

74 f.). Auch in Friedrich Wilhelm Schellings (1775– nuskript von 1816 belegt (vgl. HN I, 366). Er zieht in
1854) Naturphilosophie spielen diese Begriffe eine seinem Hauptwerk eine direkte Traditionslinie von
Rolle. Diese von Schelling aufgegriffene Triplizität der Reils eliminativistischer Konzeption der Lebenskraft
Lebenskraft geht zurück auf eine Rede von Carl Fried- zu dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv dis-
rich Kielmeyer (1765–1844) aus dem Jahr 1793, die kutierten mechanistischen Materialismus (vgl. W I,
Schopenhauer in gedruckter Form in der 2. Auflage 168 ff.). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts be-
von 1814 besaß (vgl. HN V, 265) und auf die er in gann in der Physiologie die sukzessive Abkehr vom Vi-
den »Pandectae« verwies (vgl. HN IV (1), 182). Auch talismus. Nachdem Schopenhauer schon früh vitalisti-
Schopenhauer betrachtet Sensibilität, Irritabilität und sche Elemente in seine Philosophie übernommen hat-
Reproduktionskraft als Erscheinungsformen der Le- te, verteidigte er den Vitalismus und lehnte die reduk-
benskraft (vgl. N, 31; P II, 173). tionistische Programmatik ab, die insbesondere in der
Schopenhauer verknüpfte das zeitgenössische Kon- Mitte des 19. Jahrhunderts virulent wurde (vgl. W II,
zept der Lebenskraft mit seiner Transzendentalphi- 357; N, X; E, 37; P II, 119, 535). Weil das Konzept der
losophie zu einer »Lebenskraftmetaphysik« (Malter Lebenskraft einen nicht unwesentlichen Bestandteil
1983, 41; vgl. Schmidt 1989, 47 ff.). Ausgehend von seiner Theoriebildung ausmacht, blieb er noch in den
den introspektiv wahrnehmbaren Willensakten etab- 1850er Jahren ein hartnäckiger Verfechter der Lebens-
lierte er eine Stufenleiter der Willensobjektivationen kraft, als dieses Konzept bereits von der Mehrheit der
und identifizierte die als Naturkraft aufgefasste Le- Physiologen als obsolet betrachtet wurde (vgl. P II,
benskraft (vgl. W II, 539 f.) sowie physikalische und 171 ff.; GBr, 297).
chemische Naturkräfte mit dem Willen (vgl. W II, 335; Eine für Schopenhauer zentrale vitalistische Theo-
P II, 172 f.). Die Lebenskraft bezeichnete er als »meta- rie explizierte der philosophische Arzt Pierre Jean
physisch, Ding an sich, Wille zum Leben« (HN III, Georges Cabanis (1757–1808) in seinem Werk Rap-
311). Bei seinem Analogieschluss stellt die Lebens- ports du physique et du moral de l’homme (1. Auf-
kraft eine wichtige Zwischenstufe dar: »Bloß aus der lage 1802). Dieses Buch lernte Schopenhauer 1824
Analogie mit dieser schließen wir, daß auch die übri- kennen (vgl. HN V, 244). Im Manuskriptbuch »Quar-
gen Naturkräfte im Grunde mit dem Willen identisch tant« (1825) bezeichnet er es als »ein sehr gehaltvolles
sind; nur daß er in diesen auf einer niedrigeren Stufe Buch, dessen Inhalt ein Haupttheil einer ächten An-
seiner Objektivation steht« (P II, 173). In den »Spicile- thropologie ausmachen müßte« (HN III, 227). Caba-
gia« schreibt er: »Zunächst ist die Lebenskraft iden- nis steht in der Tradition des französischen Vitalis-
tisch mit dem Willen. Nächst ihr sind es auch alle an- mus, der von den Ärzten Théophile de Bordeu (1722–
deren Naturkräfte« (HN IV (1), 288). 1776) und Paul-Joseph Barthez (1734–1806) ent-
Ontologisch ist die als Willensobjektivation inter- wickelt wurde, welche die Schule von Montpellier
pretierte Lebenskraft für Schopenhauer eine eigene begründeten. Zwischen den vitalistischen Theorien
Substanz und nicht eine emergente Eigenschaft der des »médecin-philosophe« Cabanis und Schopen-
Materie (vgl. Brunner 2014, 206–213). Besonders hauers Willensmetaphysik lassen sich erstaunliche
deutlich wird dies im Kontrast zu dem Konzept der Le- Parallelen nachweisen: Als irreduzibles Vitalprinzip
benskraft des philosophischen Arztes Johann Chris- postuliert Cabanis die physische Sensibilität (»sensi-
tian Reil (1759–1813), der die Lebenskraft auf physika- bilité physique«), die er vage definiert als das letzte
lische und chemische Eigenschaften der Materie redu- Ende (»le dernier terme«), an dem man bei der Erfor-
ziert. Die Lebenskraft ist für Reil nichts anderes als der schung sämtlicher Lebensphänomene ankomme. Die
»Inbegriff der physischen, chemischen und mecha- Analyse der intellektuellen Fähigkeiten (»facultés in-
nischen Kräfte der organischen Materie« (Reil 1799, tellectuelles«) und der seelischen Regungen (»affecti-
424). Sie wird als Resultat aus »Mischung und Form« ons de l’ame«) ergebe als letztes Ergebnis (»le dernier
(ebd., 425) der Materie aufgefasst. Nach Reils Konzept résultat«) die physische Sensibilität (Cabanis 1805,
ist die Lebenskraft keine eigene Substanz, sondern eine Bd. 1, 39 f.). Die Zurückführung auf dieses allge­
»Eigenschaft der organischen Materie« (ebd., 426), al- meinste Prinzip (»le principe le plus général«) mache
so ein emergenter Faktor. Damit wird der Begriff Le- eine immaterielle Seele überflüssig. Die physische
benskraft zu einer façon de parler. Schopenhauer setzte Sensibilität sei irreduzibel auf physikalische und che-
sich schon in der Entstehungszeit seines Hauptwerks mische Eigenschaften der Materie. Physische Sensibi-
mit diesem Aufsatz Reils auseinander und lehnte einen lität, Gravitationskraft und chemische Affinität hält
derartigen Reduktionismus ab, wie ein Dresdner Ma- Cabanis für Manifestationen einer Art von univer-
250 III  Einflüsse und Kontext

salem Instinkt (»une espèce d’instinct universel«, Ca- Brunner 2015, 46 ff.), verknüpfte den Vitalismus der
banis 1805, Bd. 2, 325). In der chemischen Affinität Schule von Montpellier mit dem französischen Mate-
sei die Anziehung nicht nur eine blinde Kraft, sie rialismus zu einem hirnphysiologischen Naturalismus
äußere hier eine Art von Willen (»une sorte de volon- auf vitalistischer Grundlage. Unter dem Einfluss von
té«, Cabanis 1805, Bd. 2, 319). Bei Pflanzen und Tie- Cabanis betrachtete Schopenhauer den Intellekt als
ren zeige sich eine noch stärkere Analogie zu Willens- Gehirnfunktion. Er übernahm Cabanis’ Analogie zwi-
bestimmungen. Möglicherweise, vermutet Cabanis, schen Gehirn und Verdauungsorganen, die zu einem
lassen sich auch intellektuelle Phänomene auf den locus classicus des Materialismusdiskurses im 19. Jahr-
universalen Instinkt zurückführen. Vielleicht könne hundert wurde. Cabanis ist überzeugt, dass das Ge-
sich dieser Instinkt sogar erheben zu den erstaun- hirn auf gewisse Weise die Eindrücke verdaue und die
lichsten Wundern der Intelligenz und des Gefühls Gedanken organisch ausscheide (»que le cerveau di-
(»s’élever jusqu’aux merveilles les plus admirées de gère en quelque sorte les impressions; qu’il fait organi-
l’intelligence et du sentiment«, Cabanis 1805, Bd. 2, quement la sécrétion de la pensée«, Cabanis 1805,
325). Die physische Sensibilität betrachtet Cabanis als Bd. 1, 154). Entsprechend formuliert Schopenhauer:
Emanation eines allgemeinen Prinzips, das durch In- »Im metaphysischen Sinn bedeutet Geist ein immate-
telligenz und Willen charakterisiert sei. Dieses Prin- rielles, denkendes Wesen. Von so etwas zu reden, den
zip fasst er als unzerstörbare Entität, als real existie- Fortschritten der heutigen Physiologie gegenüber, die
rende Substanz (»une substance, un être réel«) auf ein denkendes Wesen ohne Gehirn gerade so ansehn
(vgl. Brunner 2015, 50 f.). muß wie ein verdauendes Wesen ohne Magen, ist sehr
Cabanis wählte einen ähnlichen Weg wie später dreist« (HN IV (1), 265).
Schopenhauer, indem er vorschlug, von den komple- Alfred Schmidt verweist auf die vitalistischen Ele-
xeren, introspektiv erfahrbaren Phänomenen aus- mente bei Cabanis, rückt ihn aber in die Nähe des me-
zugehen, denn die Introspektion könnte Aufschluss chanistischen Materialismus (vgl. Schmidt 2012, 23 f.,
geben über einfachere und entferntere Naturerschei- 30 ff.). Zutreffender könnte man Cabanis als vitalisti-
nungen. Die physische Sensibilität sei möglicherweise schen Materialisten bezeichnen, denn er führt menta-
in primitiver Form auch in der unbelebten Materie le Ereignisse auf ein Vitalprinzip zurück und lehnt ei-
omnipräsent. Die Zurückführung biologischer Pro- ne Reduktion auf physikalische Eigenschaften der un-
zesse auf chemische und physikalische Gesetzmäßig- belebten Materie strikt ab (vgl. Brunner 2015, 48 ff.;
keiten hält Cabanis nicht für aussichtsreich. Cabanis’ Staum 1980, 179 ff.). Ganz in diesem Sinne warnte be-
Rückschluss von der Introspektion auf biologische, reits Schopenhauer davor, Cabanis als mechanis-
chemische und physikalische Phänomene sowie seine tischen Materialisten misszuverstehen. Er betonte,
Interpretation von Gravitationskraft und chemischer dass nur »Unwissenheit und Vorurtheil gegen diese
Affinität als willens- oder instinktähnlich kommt Betrachtungsweise die Anklage des Materialismus er-
frappierend nahe heran an Schopenhauers denomina- hoben« (W II, 308) hätten. Wie Materie »als Gehirn-
tio a potiori, an sein »revolutionaires Princip«, das er brei denken« kann, ist für Schopenhauer genauso
selbst 1816 als »die eigentliche Originalität« seiner enigmatisch wie das eigentliche Wesen der Gravitati-
Lehre bezeichnete (HN I, 421). Es ist erstaunlich, dass onskraft. Mechanische Eigenschaften der Materie sei-
Schopenhauer gerade auf das zehnte, metaphysische en nicht weniger geheimnisvoll und unbegreiflich als
Kapitel der Rapports in seinen publizierten Schriften »das Denken im Menschenkopf« (P II, 110 ff.). Auch
nicht eingeht, obwohl er 1825 daraus exzerpierte (vgl. für Cabanis ist der im Gehirn stattfindende Denkvor-
HN III, 230; Cabanis 1805, Bd. 2, 325) – vielleicht weil gang ähnlich mysteriös wie die Verdauung (vgl. Caba-
er seinen Anspruch auf Priorität und Originalität nis 1805, Bd. 1, 153 f.). Für den in der Tradition des
durch den Verweis auf Cabanis’ Rapports (1. Auf- Vitalismus stehenden Schopenhauer ist es am Ende
lage 1802) gefährdet sah? Zweifellos weist Cabanis’ die Lebenskraft, »welche im Gehirn Gedanken bildet«
komplexe Konzeption des universalen Instinkts vo- (P I, 471; vgl. P II, 173).
raus auf Schopenhauers Konzept des ubiquitären Wil- Eine herausragende Rolle unter den medizinischen
lens (vgl. Brunner 2015, 38). Schopenhauer selbst Autoren seiner Zeit spielte für Schopenhauer der in
identifizierte 1825 Cabanis’ omnipräsente physische Paris tätige Arzt Marie François Xavier Bichat (1771–
Sensibilität mit dem Willen (vgl. HN III, 230). 1802). Er soll exzessiv gearbeitet und den Sektionssaal,
Cabanis, der zu den französischen Ideologen zählt in dem er sogar gewohnt und geschlafen haben soll,
und eine »idéologie physiologique« etablierte (vgl. kaum noch verlassen haben. Allein im Winter 1801/­
23  Medizin: Naturphilosophie und Experimentalphysiologie 251

1802 soll er 600 Leichen seziert haben (vgl. Haigh


Der Wille im Körper
1984, 13). Bichat starb 1802 im Alter von nur 30 Jahren
an den Folgen eines Sturzes. Den frühen Tod Bichats Schon früh interessierte sich Schopenhauer dafür,
erwähnt Schopenhauer (vgl. W II, 299). Bichat amal- welche Strukturen des Körpers bei Phänomenen in-
gamierte den Vitalismus der Schule von Montpellier volviert sein könnten, die er dem Willen zuschrieb.
mit solidarpathologischen Theorien des 18. Jahrhun- Bereits während seiner Ausbildung zum Kaufmann in
derts. Bichats 1800 erschienenes Werk Recherches phy- Hamburg besuchte er Vorträge des damals berühmten
siologiques sur la vie et la mort entdeckte Schopen- Wiener Arztes und Hirnforschers Franz Joseph Gall
hauer nach eigener Aussage erst 1838 (vgl. GBr, 297). (1758–1828) und kam dort mit dessen Organologie
Dieses Buch betrachtete er geradezu als Bestätigung (Phrenologie) in Berührung. Später lehnte er dessen
seiner Philosophie durch die Physiologie: »Seine [Bi- Lokalisation moralischer Eigenschaften und des Wil-
chats] und meine Betrachtungen unterstützen sich lens im Gehirn ab (vgl. W II, 302; P II, 181).
wechselseitig, indem die seinigen der physiologische 1815 lokalisierte Schopenhauer den Willen außer-
Kommentar der meinigen, und diese der philosophi- halb des Gehirns im Gangliensystem. Sein polares Lo-
sche Kommentar der seinigen sind und man uns bei- kalisationsmodell ist beeinflusst von Reils Aufsatz Ue-
derseits zusammengelesen am besten verstehn wird« ber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein
(W II, 296). Schopenhauer bezieht sich fast exklusiv Verhältniß zum Cerebral-Systeme von 1807. Darin lo-
auf den hochgradig spekulativen ersten Teil der Re- kalisiert Reil die Vernunft im Gehirn, Gefühle aber im
cherches. Der zweite, experimentalphysiologische Teil gesamten Organismus. Triebe und Instinkte ordnet
spielt für seine Bichat-Rezeption kaum eine Rolle. In- Reil nicht dem Gehirn zu, sondern den inneren Orga-
sofern ist es mehr als gewagt, wenn Schopenhauer Bi- nen. Unter Berufung auf diesen Text betrachtete Scho-
chats Werk als quasi empirische Bestätigung seiner penhauer 1815 das Gehirn als materiellen Repräsen-
Philosophie ausgibt. Im ersten Teil vertritt Bichat klas- tanten des Erkennens und ordnete den Willen dem
sische vitalistische Positionen: Phänomene der un- Gangliensystem zu (vgl. HN I, 338). Entsprechend
organischen Natur unterliegen physikalischen und nannte er auch 1821 das Gangliensystem »die unmit-
chemischen Gesetzen, während für die belebte Mate- telbare Objektivation des Willens« (HN III, 125).
rie besondere vitale Gesetzmäßigkeiten gelten sollen. Reils Polaritätsmodell von Cerebral- und Ganglien-
Für Bichat sind vitale Eigenschaften nicht auf physika- system beeinflusste die Naturphilosophie und die An-
lische und chemische Phänomene der unbelebten Ma- thropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
terie reduzierbar. Zu den irreduziblen vitalen Eigen- Sein polares Lokalisationskonzept knüpft an Vorstel-
schaften oder Kräften (»propriétés vitales«, »forces vi- lungen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an
tales«) zählt Bichat Sensibilität und Kontraktilität. (vgl. Brunner 2015, 43 f.). Der Anatom Jacques Bénig-
Hier knüpft er unmittelbar an vitalistische Konzepte ne Winslow (1669–1760) fasste 1732 die Ganglien als
des 18. Jahrhunderts an. Unter Sensibilität verstand kleine Gehirne (»petits Cerveaux«) auf, die unabhän-
Albrecht von Haller (1708–1777) die ausschließlich gig vom Großhirn arbeiten. Auch Bordeu bezeichnete
den Nerven zukommende Empfindungsfähigkeit. Ir- 1751 die Ganglien als »petits cerveaux«. In medizini-
ritabilität (Reizbarkeit) ist die Fähigkeit der Muskeln schen Texten des 18. Jahrhunderts wird die Arbeits-
zur Kontraktion. Bichats Kontraktilität entspricht et- weise der Ganglien als analog zum Gehirn beschrie-
wa Hallers Irritabilität. ben. Entsprechend schrieb Schopenhauer dem Gan-
Derartige vitalistische Konzepte sind auch ein fes- gliensystem eine »diminutive Gehirnrolle« (W II, 290)
ter Bestandteil in Schopenhauers System. In einem für zu. Zur Betonung der Eigenständigkeit gegenüber dem
die Genese der Willensmetaphysik relevanten frühen Gehirn nannte Reil das Gangliensystem »cerebrum
Manuskript von 1814 heißt es, der Leib sei »unmittel- abdominale« (Reil 1807, 194). Auch Schopenhauer ge-
bares Objekt des Erkennens«, dies nenne man in der brauchte diesen damals geläufigen Begriff.
Physiologie »Sensibilität«; zugleich sei der Leib »Er- Das Gangliensystem ist für Reil das morphologi-
scheinung des Willens«, dies sei identisch mit der »Ir- sche Substrat für Irrationalität, Emotionen und Trieb-
ritabilität« (HN I, 180). Im Hauptwerk ist Schopen- impulse. Es stellt den instinkthaften unbewussten Ge-
hauer überzeugt, dass sich der Wille insbesondere in genpol zum Cerebralsystem als dem Repräsentanten
der Irritabilität objektiviere (vgl. W II, 281). In den von Bewusstsein, Rationalität, Vernunft und logi-
»Pandectae« (1837) wird die Irritabilität mit dem Wil- schem Denken dar. Reil postulierte eine Verbindung
len identifiziert (vgl. HN IV (1), 232). zwischen Gehirn und Gangliensystem über einen
252 III  Einflüsse und Kontext

»Apparat der Halbleitung« (Reil 1807, 192). Diese Vor- Franz Anton Mesmer (1734–1815) zurückgehenden
stellung übernahm Schopenhauer. Reils polares Loka- animalischen Magnetismus. In der Mitte des 19. Jahr-
lisationskonzept ermöglichte eine Erklärung für die hunderts war die Annahme eines vom Gehirn un-
Existenz und die Dynamik unbewusster und irrationa- abhängigen Gangliensystems noch weithin akzeptiert.
ler Impulse. Dieses von Schopenhauer übernommene In dem Kapitel über das Geistersehen formuliert
topographische Modell gilt als bedeutender Schritt für Schopenhauer auch seine auf Cabanis (vgl. Cabanis
die Entwicklung einer Theorie des dynamischen Un- 1805, Bd. 1, 185 f.) zurückgehende Leibreiztheorie der
bewussten, die sich spätestens im 19. Jahrhundert zu Traumentstehung, die Sigmund Freud (1856–1939) in
formieren begann (vgl. Brunner 2015, 45 f.). seiner Traumdeutung (1900) rezipierte (vgl. Brunner
Nach der Lektüre von Cabanis’ Rapports verknüpf- 2015, 53). Im Schlaf gelangten die schwachen Eindrü-
te Schopenhauer 1825 im Manuskriptbuch »Quar- cke aus dem »innern Nervenheerde des organischen
tant« (vgl. HN III, 228 ff.) den Polaritätsgedanken Lebens« (P I, 250) zum Gehirn und könnten Träume
Reils mit ganz ähnlichen Vorstellungen bei Cabanis, auslösen, weil sie nicht mit äußeren Sinneseindrücken
der periphere Zentren der Sensibilität im Abdomen konkurrierten. Dieser Gedanke begegnet 1828 im Ma-
und im Genitalsystem postulierte, die vom Gehirn nuskriptbuch »Adversaria« (vgl. HN III, 524–529).
unabhängig seien (vgl. Cabanis 1805, Bd. 1, 502 f.). In Bichats 1800 publizierten Recherches, die Scho-
Cabanis’ Doktrin von peripheren Zentren der Sensibi- penhauer erst 38 Jahre später entdeckte, sah er eine
lität steht in der plurizentristischen Tradition der vita- nachträgliche empirische Bestätigung seiner Philoso-
listischen Schule von Montpellier, die eine Dominanz phie durch die Physiologie. Wahrscheinlicher ist, dass
des Gehirns gegenüber anderen Organen ablehnte. Bichats Werk bereits 1815 eine indirekte Quelle für
Unter dem Einfluss von Cabanis nahm Schopenhauer Schopenhauer darstellte, denn zwischen den Recher-
1825 an, dass die inneren Nervenenden unter der Lei- ches und Reils Aufsatz über das Cerebral- und Gan-
tung der Ganglien Willensakte ausüben, die unbe- gliensystem von 1807 lassen sich zum Teil wörtliche
wusst geschehen, weil die Nerven hier nicht direkt mit Übereinstimmungen nachweisen (vgl. Brunner 2014,
dem Gehirn kommunizieren, sondern nur mit den 195 f.). Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt Bichat
Ganglien. Die Affektionen der inneren Nervenenden die Priorität zu. Vermutlich hat Reil Bichats Zwei-Le-
wirken unmittelbar auf die Neigungen, also auf den ben-Doktrin rezipiert und in sein Konzept des Cere-
Willen (vgl. HN III, 230 f.). Die Affektionen des inne- bral- und Gangliensystems integriert, ohne Bichat zu
ren Nervenendes bleiben im Wachzustand unbe- zitieren (vgl. Brunner 2014, 196; Brunner 2015, 64 f.).
wusst, können aber rational nicht begründbare Stim- Im ersten Teil seiner Recherches expliziert Bichat
mungsänderungen verursachen (vgl. P I, 250; HN III, seine Dichotomie zwischen animalem und organi-
525 ff.; Cabanis 1805, Bd. 1, 113). In Cabanis’ pluri- schem Leben. Diese Zwei-Leben-Doktrin wurde in
zentristischer Theorie wird wie in Reils Polaritäts- der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach rezi-
modell versucht, die Eigendynamik des Unbewussten piert. Alle intellektuellen Funktionen rechnet Bichat
neuroanatomisch zu fundieren. Durch die Betonung zum animalen Leben. Allerdings zählt Bichat auch
der somatischen Disposition wird zudem die traditio- den Willen (»la volonté«) zum animalen Leben. Scho-
nelle Vorherrschaft des Rationalen erheblich ein- penhauer betont, dass Bichat darunter jedoch »bloß
geschränkt. Dieses Modell ist daher konform mit die bewußte Willkür versteht, welche allerdings vom
Schopenhauers Primat des Willens und der Abstu- Gehirn ausgeht« (W II, 296). Die Leidenschaften ord-
fung des Intellekts als das Sekundäre. net Bichat dem organischen Leben zu (vgl. Bichat
Schopenhauer fertigte in den Jahren 1825 (vgl. HN 1800, 61). Die Begriffe Leidenschaft (»passion«) und
III, 227–232) und 1828 (vgl. HN III, 524–529) Exzerp- Gefühl (»émotion«, »affection«) verwendet Bichat sy-
te aus Cabanis’ Rapports an, auf die er 1851 im Versuch nonym (vgl. ebd., 376). Das Gehirn werde durch Lei-
über das Geistersehn und was damit zusammenhängt denschaften nicht direkt affiziert, deren alleiniger Sitz
zurückgriff. Darin explizierte er am ausführlichsten in die inneren Organe seien (vgl. ebd., 62). Die Leiden-
seinen publizierten Schriften das damals verbreitete schaften hätten weder ihren Endpunkt noch ihren
polare Lokalisationskonzept mit dem Gehirn als dem Ausgangspunkt in den Organen des animalen Lebens
»bewußten Pol« und dem Gangliensystem als dem (vgl. W II, 297). Leidenschaften übten ihren Einfluss
»unbewußten Pol« (P I, 278). Reils und Cabanis’ Mo- immer auf das organische und nicht auf das animale
dell ermöglichte Schopenhauer eine mit dem dama- Leben aus (vgl. Bichat 1800, 67, 232). Die Beschaffen-
ligen Kenntnisstand vereinbare Erklärung des auf heit der inneren Organe trage zur Entstehung der Lei-
23  Medizin: Naturphilosophie und Experimentalphysiologie 253

denschaften bei (vgl. ebd., 69). Das organische Leben zept einer spirituellen Seele hat bei ihm nur noch mar-
sei der Endpunkt, in den die Leidenschaften einmün- ginale Bedeutung. Der Seelenbegriff wird zwar nicht
deten, und das Zentrum, von dem sie ausgingen (vgl. komplett aufgegeben, taucht aber nur noch rudimen-
ebd., 71; W II, 298). Obwohl die Leidenschaften ihren tär in den Recherches auf. Buffon ordnete noch ganz in
Sitz im organischen Leben hätten, modifizierten sie der Tradition des cartesianischen Dualismus der spiri-
die Akte des animalen Lebens (vgl. Bichat 1800, 72 ff.). tuellen Seele Rationalität, Vernunft sowie Abstrakti-
Die Erziehung beeinflusse das animale Leben, könne ons- und Reflexionsvermögen zu. Das alles verlagert
jedoch nicht das physische Temperament und den Bichat in das animale Leben. Emotionen und amora-
moralischen Charakter ändern, denn beide gehörten lische Triebimpulse, die Buffon der materiellen anima-
zum organischen Leben (vgl. ebd., 175 ff.). Der Cha- len Sphäre zuordnete, verortet Bichat im organischen
rakter sei die Physiognomie der Leidenschaften, das Leben. Bei Buffon wurden interindividuelle mora-
Temperament die Physiognomie der inneren organi- lische Charakterunterschiede noch traditionell der
schen Funktionen. Beide blieben stets dieselben und spirituellen Seele zugeschrieben. Bei Bichat werden sie
könnten weder durch Übung noch durch Gewohnheit zu einer bloßen Angelegenheit der somatischen Dis-
modifiziert werden. Die Erziehung könne den Cha- position und damit als nativistisch und konstant kon-
rakter nur durch Stärkung der Urteilskraft mäßigen. zipiert. Der entseelte moralische Charakter wird nun
Dadurch könnten die unwillkürlichen Triebimpulse umstandslos dem organischen Leben zugeordnet. Da-
des organischen Lebens beherrscht werden. Allein her gilt Bichat als Vertreter einer monistischen Form
durch Erziehung könnten der Charakter und die des Vitalismus (vgl. Haigh 1984, 16). Entsprechend
Leidenschaften nicht verändert werden. Dies sei eben- lobt Schopenhauer an Bichat, dass er »weder Seele,
so unmöglich wie die willkürliche Veränderung des noch Leib, sondern bloß ein animales und ein organi-
Herzschlags (vgl. ebd., 176). sches Leben kennt« (W II, 301).
Schopenhauer zieht eine Parallele zwischen Bichats Ab den 1820er Jahren setzte sich Schopenhauer mit
Dichotomie von organischem und animalem Leben den Experimenten des französischen Experimental-
und seiner eigenen Unterscheidung zwischen Willen physiologen Marie Jean Pierre Flourens (1794–1867)
und Intellekt (vgl. W II, 296 ff.). Bichats Konzept des auseinander, dessen Publikationen von Anfang an ei-
organischen Lebens dient ihm als Bestätigung seiner ne implizite philosophische Intention verfolgen, denn
These, dass der Wille das Primäre und Ursprüngliche sie zielen auf die Untermauerung eines neocartesia-
sei, der Intellekt hingegen als reine Gehirnfunktion nischen Dualismus sowie die Widerlegung des Mate-
das Sekundäre und Abgeleitete. Auch sieht er seine rialismus und des Determinismus (vgl. Brunner 2016;
These vom angeborenen und unveränderlichen mora- Clarke/Jacyna 1987, 281). Ein hirnphysiologischer
lischen Charakter durch Bichat bestätigt. Naturalismus, wie er von den französischen Ideologen
Die wesentliche Inspirationsquelle für Bichats und insbesondere von Cabanis (auf vitalistischer
Zwei-Leben-Doktrin dürfte das Homo-duplex-Modell Grundlage) vertreten wurde, war mit dem Wieder-
von Georges Louis Leclerc Buffon (1707–1788) sein, erstarken des Katholizismus im nachrevolutionären
das dieser 1753 im Discours sur la nature des animaux Frankreich während der Restauration weniger ver-
explizierte (vgl. Brunner 2015, 61 ff.). Ganz ähnlich träglich als der von Flourens propagierte Neocartesia-
wie später Bichat differenzierte Buffon zwischen »vie nismus. Der Reanimationsversuch des Dualismus im
végétale« und »vie animale«. Das Gehirn sei das Organ Paris des frühen 19. Jahrhunderts richtete sich ins-
des inneren materiellen Sinns (»sens intérieur maté- besondere gegen die von Gall begründete und mit
riel«), über den sowohl Menschen als auch Tiere ver- dem Odium des Materialismus behaftete Organolo-
fügten. Zusätzlich habe der Mensch im Unterschied gie. In seiner frühen Pariser Zeit bekannte sich Flou-
zum Tier eine spirituelle Seele. Der Seele, dem spiri- rens noch offen zum Materialismus und Monismus
tuellen Prinzip, stehe das materielle animale Prinzip (vgl. Clarke/Jacyna 1987, 278 f.). 1819 und 1820 be-
antagonistisch gegenüber. Die Seele repräsentiere die wertete er Galls Phrenologie noch als zukunftsträchtig
Vernunft. Ihr sprach Buffon nur moralisch akzeptable und sprach sich für eine naturalistische und monis-
Eigenschaften zu. Moralisch inakzeptable Motive und tische Konzeption des Geistes aus (vgl. Brunner 2016,
Triebimpulse, welche die triebhaft-tierischen Anteile 21). Zwischen 1820 und seinen 1824 publizierten Re-
des Menschen repräsentieren, ordnete Buffon der ani- cherches expérimentales sur les propriétés et les fonc-
malen Sphäre zu. Buffons Homo-duplex-Modell mo- tions du système nerveux dans les animaux vertébrés
difizierte Bichat in entscheidenden Punkten: Das Kon- vollzog sich ein grundlegender Wandel seiner phi-
254 III  Einflüsse und Kontext

losophischen Überzeugungen, der zwar anfangs noch von Haller, sondern auch von Bichat vertreten, der aus
nicht explizit formuliert wurde, jedoch aus seinen Pu- der morphologischen Symmetrie der Großhirnhemi-
blikationen zu erschließen ist (vgl. Clarke/Jacyna sphären deren funktionelle Äquipotenz ableitete (vgl.
1987, 280). Ab 1822 wurde Georges Cuvier (1769– Brunner 2016, 25). Flourens’ holistische Äquipotenz-
1832) Flourens’ Mentor. Flourens übernahm Cuviers theorie dominierte die Physiologie ab den 1820er Jah-
Sichtweise des Gehirns als materielles Instrument ei- ren bis in die 1870er Jahre hinein. Flourens nahm an,
ner unteilbaren immateriellen Seele und hielt an die- dass die Großhirnhemisphären als globale Einheit
ser Doktrin lebenslang fest (vgl. ebd., 250). Die von funktionieren. Im Großhirn lokalisierte er Verstand
Flourens durchgeführten und in erster Linie gegen (intelligence), Gedächtnis (mémoire), Urteilsver-
Gall gerichteten Experimente verfolgten das Ziel, tier- mögen (jugement), Wahrnehmung von Sinneseindrü-
experimentelle Daten zu generieren, deren Interpreta- cken (perception) und den Willen (volonté).
tion als empirische Bestätigung einer neocartesia- In den »Adversaria« bemühte sich Schopenhauer
nischen Metaphysik fungieren sollten, wie sie im Paris 1828/29, eine Brücke zu schlagen zwischen seinem
des frühen 19. Jahrhunderts von Cuvier und anderen 1818 erschienenen Hauptwerk und der französischen
Wissenschaftlern vertreten wurde. Experimentalphysiologie, die zu dieser Zeit en vogue
Dass Flourens’ Experimente von Anfang an den war. Unter dem Einfluss von Flourens vermutete er,
Dualismus untermauern sollten, ist Schopenhauer in dass Intellekt und Wille in verschiedenen Teilen des
den 1820er Jahren offensichtlich entgangen, denn Nervensystems zu lokalisieren seien. Unter Berufung
Flourens und Cuvier formulierten ihre dualistische auf die von Flourens durchgeführten Läsionsexpe-
Position in ihren Publikationen der 1820er Jahre noch rimente lokalisierte er den Willen im Kleinhirn (vgl.
nicht explizit. In seiner 1842 publizierten Schrift Exa- Brunner 2016, 28 ff.), denn dort vermutete er den
men de la phrénologie gab Flourens dann unumwun- »Uebergang von der bloßen Vorstellung zur Bewe-
den zu, dass es seine Absicht war, eine aus seiner Sicht gung des Leibes, welches eben der eigentliche Akt der
schlechte Philosophie (den Materialismus) zu be- Willkühr, d. i. des sich bewußten Willens ist« (HN III,
kämpfen und durch eine gute Philosophie (den Dua- 557). In den »Cogitata« bezieht sich Schopenhauer
lismus) zu ersetzen. Flourens lehnte den Materialis- ausführlich auf Experimente, die Flourens und Cuvier
mus ab und setzte sich für die immaterielle Seele und 1824 und 1828 publiziert hatten. Schopenhauer wie-
die Willensfreiheit ein, die er als das Vermögen de- derholte dort seine bereits in den »Adversaria« formu-
finierte, sich unabhängig von Motiven zu entscheiden lierte Hypothese, dass im Kleinhirn die Transformati-
(vgl. Brunner 2016, 23). Insbesondere auf das von on vom Motiv zum Willensakt stattfinde. In den »Co-
Flourens 1858 publizierte Buch De la vie et de l’intelli- gitata« bezeichnete er das Kleinhirn noch als »Sitz«
gence reagierte Schopenhauer mit Protest und Pole- und als »Organ des Willens« (vgl. Brunner 2016, 34).
mik, die er in den »Senilia« formulierte und in kaum Das Kleinhirn als Organ des Willens ist auch noch im
abgemilderter Form in die 3. Auflage der Welt als Wille »Cholerabuch« (1832) zu finden (vgl. HN IV (1), 94).
und Vorstellung übernahm. Besonders übel nahm er Dort beruft er sich auf Gall, der den Geschlechtstrieb
Flourens, dass er Bichats spekulative Zwei-Leben- im Kleinhirn lokalisierte. Naturphilosophen betrach-
Doktrin als antiquiert und unhaltbar ablehnte. Ein teten im 19. Jahrhundert das Kleinhirn als Sitz des
weiterer Kritikpunkt an Flourens ist dessen dualis- Willens, der Irritabilität und von Instinkten. In den
tisch-neocartesianische Position. Er bezichtigte den »Cogitata« nahm Schopenhauer auch an, der Wille sei
berühmten und einflussreichen Physiologen der ober- in der Medulla oblongata zu verorten. Diese Struktur
flächlichen Gedankenarmut und des exzessiven Ex- betrachtete er offensichtlich als eine Art Umschlags-
perimentierens (vgl. W II, 303). oder Transformationspunkt zwischen intellektuellen
Flourens unterteilte das Nervensystem in sechs Prozessen (Großhirn) und der Initiierung spontaner
Komponenten (Großhirn, Kleinhirn, Vierhügelplatte, Körperbewegungen (vgl. Brunner 2016, 34 f.).
Medulla oblongata, Rückenmark, Nerven), denen er Diese frühe Hypothese einer Lokalisation des Wil-
jeweils eine spezifische Funktion zuwies. Diese Glie- lens im Kleinhirn und in der Medulla oblongata ver-
derung übernahm Schopenhauer. Eine funktionelle warf Schopenhauer später in einer nachträglichen An-
Kompartimentierung des Großhirns lehnte Flourens merkung zu seiner Konzeption in den »Adversaria«
ab. Er vertrat eine Äquipotenztheorie der Großhirn- von 1828. Beeinflusst durch Bichats Recherches lehnte
hemisphären. Die These einer Äquipotenz der Groß- er eine Lokalisation des Willens in einzelnen Teilen
hirnhemisphären wurde in radikaler Form nicht nur des Nervensystems ab: »Unmittelbare Objektität des
23  Medizin: Naturphilosophie und Experimentalphysiologie 255

Willens ist nicht das Nervensystem sondern der übri- Brunner, Jürgen: Schopenhauers topographisches Modell
ge Organismus« (HN III, 509). Das Kleinhirn wurde des Unbewußten aus wissenschaftshistorischer Perspek-
abgestuft vom Organ des Willens zum Leiter der Mo- tive. In: Schopenhauer-Jahrbuch 96 (2015), 41–70.
Cabanis, Pierre Jean Georges: Rapports du physique et du
tive (vgl. Brunner 2016, 36 f.). Diese revidierte Theorie moral de l’homme. Paris 21805.
ist prägnant zusammengefasst in einem späteren Zu- Clarke, Edwin/Jacyna, L. S.: Nineteenth-Century Origins of
satz zu seiner Flourens-Rezeption der 1820er Jahre in Neuroscientific Concepts. Berkeley/Los Angeles/London
den »Adversaria«. Dort bezeichnet Schopenhauer den 1987.
Gesamtorganismus als »Objektität des Willens« (HN Haigh, Elizabeth: Xavier Bichat and the Medical Theory of the
Eighteenth Century. London 1984.
III, 509). In den »Pandectae« (1837) heißt es: »er selbst
Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst das menschliche
[der Wille] ist an keinen Ort gebunden, sondern der Leben zu verlängern. Jena 21798.
ganze Leib, das Blut selbst, ist seine Objektität« (HN Malter, Rudolf: Schopenhauer und die Biologie: Metaphysik
IV (1), 232). Diese Theorie stellt eine Abkehr von sei- der Lebenskraft auf empirischer Grundlage. In: Berichte
nen tentativen Lokalisationsversuchen des Willens in zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), 41–58.
spezifischen Strukturen des Gehirns aus den 1820er Reil, Johann Christian: Ueber die Eigenschaften des Gan-
glien-Systems und sein Verhältniß zum Cerebral-Systeme.
Jahren dar und wurde 1855 in den »Senilia« ausfor- In: Archiv für die Physiologie 7/2 (1807), 189–254.
muliert (vgl. Brunner 2016, 37 f.). Dort legte sich Reil, Johann Christian: Veränderte Mischung und Form der
Schopenhauer darauf fest, dass der Sitz des Willens thierischen Materie, als Krankheit oder nächste Ursache
der ganze Mensch sei. Der Wille sei im ganzen Leib der Krankheitszufälle betrachtet. In: Archiv für die Physio-
gleichmäßig gegenwärtig. Dieser Text in den »Senilia« logie 3/3 (1799), 424–461.
Schmidt, Alfred: Physiologie und Transzendentalphiloso-
wurde verwendet im 20. Kapitel (»Objektivation des
phie bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70
Willens im thierischen Organismus«) der 3. Auflage (1989), 43–53 (überarbeitete Version in: Ders.: Tugend
der Welt als Wille und Vorstellung von 1859. Damit und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über die Philosophie
kehrte Schopenhauer in seinem Spätwerk zu seiner Schopenhauers (1960–2003). Frankfurt a. M. 2004, 191–
bereits 1814 notierten These zurück, dass der ganze 203).
Körper die Sichtbarkeit des Willens und der Leib mit Schmidt, Alfred: Von den philosophischen Ärzten des
18. Jahrhunderts zu Feuerbach, Schopenhauer und Nietz-
dem Willen identisch sei (vgl. HN I, 174, 180).
sche. In: Matthias Koßler/Michael Jeske (Hg.): Philosophie
des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach.
Literatur Würzburg 2012, 11–57.
Bichat, Xavier: Recherches physiologiques sur la vie et la mort. Staum, Martin S.: Cabanis. Enlightenment and Medical Phi-
Paris 1800. losophy in the French Revolution. Princeton/New Jersey
Brunner, Jürgen: Arthur Schopenhauer und Johann Chris- 1980.
tian Reil. In: Florian Steger (Hg.): Johann Christian Reil. Stollberg, Jochen/Böker, Wolfgang (Hg.): »... die Kunst zu
Universalmediziner, Stadtphysikus, Wegbereiter von Psych­ sehn«. Arthur Schopenhauers Mitschriften der Vorlesungen
iatrie und Neurologie. Gießen 2014, 189–214. Johann Friedrich Blumenbachs (1809–1811). Göttingen
Brunner, Jürgen: Der Wille im Gehirn? Der Einfluß des 2013.
Experimentalphysiologen Pierre Flourens auf Schopen-
hauers Handlungstheorie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 97 Jürgen Brunner
(2016), 15–43.
256 III  Einflüsse und Kontext

24 Romantik in der deutschen Literatur [...] die sogenannte Roman-


tik, indem sie auf den Geist des Christenthums hin-
Die Beziehungen zwischen Schopenhauers Philoso- wies, als welches pessimistisch ist« (HN IV (2), 12).
phie und dem Dichten und Denken der Romantik
sind reichhaltig und wurden von der Forschung Schopenhauers Werk ist wesentlich mit dem romanti-
schon früh erkannt. Auch wenn Schopenhauer sich schen Lebensgefühl durch mannigfaltige Zusammen-
zeit seines Lebens unmissverständlich – meist scharf hänge seiner deskriptiven Ethik zur mystischen Tradi-
polemisch – gegen die idealistisch-romantische Phi- tion und die Verflechtung seines Denkens mit der in-
losophie der Epoche wandte (Fichte, Hegel, Jacobi, dischen (buddhistischen) Gedankenwelt verbunden
Schelling), können bei allen offensichtlichen Unter- (s. Kap. 11). Dem philosophischen System Schellings
schieden (vgl. hierzu u. a. Hübscher 1988, 31) auffal- steht seine Willensmetaphysik näher, als die in seinem
lende Berührungspunkte und Übereinstimmungen Werk allenthalben wiederkehrenden, gegen die idea-
zwischen seinem Denken und dem der Idealisten listische Philosophie gerichteten Invektiven seinen
festgestellt werden. Besonders ertragreich ist der Ver- Lesern glauben lassen (s. Kap. 22). Schließlich hatte
gleich mit der romantischen Literatur seiner Zeit, Schelling noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes
nicht nur der deutschen (beispielhaft seien hier ge- der Welt als Wille und Vorstellung in seiner Freiheits-
nannt Brentano, Chamisso, Eichendorff, Herder, schrift aus dem Jahr 1809 behauptet, es gebe »in der
E. T. A. Hoffmann, Hölderlin, Kleist, Klingemann, letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als
Lenau, Mörike, Novalis, Jean Paul, Platen, Tieck, Wa- Wollen«, denn »Wollen« sei »Ursein« (Schelling 2012,
ckenroder, Zacharias Werner), sondern auch mit der 23), und damit eine Deutung des Seins vorgelegt, die
englischen (William Blake, Lord Byron, Samuel T. Schopenhauers wohl fundamentalste Denkfigur, d. h.
Coleridge, John Keats, Thomas Moore, Percy B. Shel- die des Wollens als des Wesens der Welt, vorgreift (zu
ley, Robert Southey, William Wordsworth und Ed- Schelling und Schopenhauer vgl. Berg 2003; Hühn
ward Young), italienischen (Vittorio Alfieri, Ugo Fos- 1998; 2005; 2006; Hühn 2005 verweist darauf, dass
colo, Giacomo Leopardi), russischen (Evgenij A. Ba- Schopenhauers Lehre von der Verneinung des Willens
ratynskij, Michail J. Lermontov, Fürst Wladimir Fjo- zum Leben bei Schelling vorgeprägt sei; s. Kap. 22).
dorowitsch Odojewski, Alexander Puschkin, Fjodor Als Eigenwille »der Kreatur«, der noch nicht durch
Tjutschew, Dmitrij W. Wenewitinow) und französi- das Licht des Verstandes erleuchtet wurde, ist dieses
schen (Benjamin Constant, François-René de Cha- Wollen »bloße Sucht und Begierde, d. h. blinder Wil-
teaubriand, Victor Hugo, Alfred de Musset, Sten- le« (Schelling 2012, 35). Mit anderen Worten: bis in
dhal). Neben der Neigung der Romantiker zum Phan- die gleichlautende Begriffsbildung werden Grund-
tastischen und Unbewussten, ihrem Hang zur Mystik, gedanken, wenn nicht sogar der Grundgedanke, Scho-
dem Weltschmerz und dem keimenden – lange vor penhauers in Schellings Freiheitsschrift vorweg-
Nietzsche – von F. H. Jacobi eingeführten (»Send- genommen, wobei hinzuzufügen ist, dass die Ein-
schreiben an Fichte«, 1799) und von Jean Paul, Klin- schätzung des Kräfteverhältnisses zwischen Wille und
gemann und Tieck geprägten Nihilismus bietet die Verstand bei Schelling dem Schopenhauerschen Be-
romantische Ästhetik, wie sie vor allem bei Wacken- fund konträr gegenübersteht: Der ›böse‹ Eigenwille ist
roder und Tieck zum Ausdruck kam, eine Fülle »als bloßes Werkzeug« (ebd.) dem ›guten‹ Universal-
fruchtbarer Vergleichsmöglichkeiten. Kurz: Auch willen des Verstandes untergeordnet. Geist, Vernunft
dort, wo eine direkte Rezeption nicht nachweisbar ist, und Verstand walten bei Schelling über die dunklen
gehört die Romantik zu den bedeutsamsten Kontex- Triebe, während diese bei Schopenhauer dem blinden
ten der Schopenhauerschen Philosophie. Willen unterworfen sind.
Schopenhauer besaß ein ausgesprochenes Gespür Matthias Koßler (1995) hat gezeigt, wie eng Scho-
für die pessimistische Seite der Romantik, welches u. a. penhauers Charakterologie (die Idee des intelligiblen,
aus einer Aufzeichnung aus dem handschriftlichen empirischen und erworbenen Charakters) in ihrer
Nachlass hervorgeht, die auf die Verbindung zwischen von den Vorstellungen Kants deutlich abweichenden
Romantik und Christentum aufmerksam macht: ontologischen Variante derjenigen Jakob Friedrich
Fries’ und Schellings verpflichtet ist.
»Der Humanismus trägt den Optimismus in sich und ist Yasuo Kamata legt in seiner Schrift Der junge Scho-
in sofern falsch, einseitig und oberflächlich. – Darum penhauer (1988, 119 ff.) u. a. dar, dass Schopenhauers
eben erhob sich vor 40 Jahren gegen seine Herrschaft Idee vom Weg nach Innen, als dem zur Einsicht in das
24 Romantik 257

wahre Sein und Wesen der Dinge führende, in Schel- phern für die sinnlose, durch »Hunger und Ge-
lings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kri- schlechtstrieb« (P II, 303) getriebene menschliche
ticismus (1809) präfiguriert ist. Die offensichtliche Af- Existenz sind die des Theaters und des Puppen- und
finität zwischen Schelling und Schopenhauer, die u. a. Marionettenspiels (vgl. u. a. W I, 537; W II, 408 f., 442;
im zentralen Stellenwert des Wollens beider Denksys- P II, 447). Balder, einem Freund Lovells, erscheint die
teme begründet ist, lässt sich auch zwischen Schopen- »ganze Welt« »als ein nichtswürdiges, fades Marionet-
hauer und einem weiteren Vertreter der idealistischen tenspiel«, deren Teilnehmer, die Menschen, in einer
Philosophie feststellen, bei Johann Gottlieb Fichte ›Vorstellungswelt‹ realitätsverleugnender Illusionen
(s. Kap. 20). Die Übereinstimmungen liegen hier vor leben, die einen Blick hinter den Vorhang verhindern:
allem im Bereich der Ethik (intelligible Freiheit, empi- »Wir adeln aus einem thörichten Stolze alle unsre Ge-
rische Determination), aber nicht nur darin: Auch fühle, wir bewundern die Seele und den erhabenen
Fichte unterscheidet in seiner Schrift Die Bestimmung Geist unsrer Empfindungen und wollen durchaus
des Menschen (1800) erkenntnistheoretisch zwischen nicht hinter den Vorhang sehn, wo uns ein flüchtiger
einer realitätslosen Welt der Vorstellungen und einer Blick das verächtliche Spiel der Maschinen enträth-
Welt der Realität, die unseren Handlungen und dem- seln würde« (Tieck 1828, 82 f.). Das »verächtliche
nach unserem Wollen entspringen (zu Fichte und Spiel der Maschinen« ist die sinnliche, dem ›erhabe-
Schopenhauer vgl. Hühn 2006, darin die einschlägi- nen Geist‹ widerstrebende Wollust, die bei Schopen-
gen Beiträge von Matthias Koßler, Günter Zöller, Wil- hauer im Willen verortet wird. Tiecks von Melancho-
helm Metz und Violetta L. Waibel; produktive Ver- lie und Pessimismus geprägter Roman erschließt sich
gleichsmöglichkeiten bietet auch die Bedeutung des überdies gänzlich als Ouvertüre zu Schopenhauers
Leibes bei Fichte und Schopenhauer, dazu grund- enttarnender Dekonstruktion romantischer Liebes-
legend Schöndorf 1982). vorstellungen, die am schärfsten und systematischsten
im Kapitel »Metaphysik der Geschlechtsliebe« des
zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung
Schopenhauer und die nihilistische Romantik
formuliert wird (W II, 607–651). Auch Tiecks Mär-
oder »von der Nichtigkeit des Daseyns«
chen-Novelle Der blonde Eckbert (1797), seine Erzäh-
Ludwig Tiecks Briefroman William Lovell (1795/96) lung Abdallah (1796) und zahlreiche seiner Gedichte
greift in seiner Thematik dem Schopenhauerschen sind von Stimmungen und Daseinsdeutungen geprägt
Pessimismus, seiner Vernunft- und Fortschrittskritik – Themen wie Melancholie, Schwermut und Wahn-
und seinem Aufklärungsskeptizismus vor. Als die sinn dominieren –, die im Mittelpunkt des Schopen-
schwermütige, reizbare und unter einer krankhaften hauerschen Leidens- und Nichtigkeitsdenkens stehen.
Phantasie leidende Hauptperson des Tieckschen Ro- Während Jean Paul (zu den würdigenden Hinwei-
mans, der junge Engländer William Lovell, in Paris die sen Schopenhauers auf Jean Paul vgl. die kurze Notiz
Comtesse Louise Blainville kennenlernt, die auf ihn von Hübscher 1964) in seiner Vorschule der Ästhetik
eine sinnlich verführerische Macht ausübt (Tieck und in der den Roman Siebenkäs abschließenden Rede
1828, 67 f., 80 f.), wird ihm klar, dass das Vertrauen der des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein
Aufklärung in die Hegemonie der Vernunft einer Kor- Gott sei vor den nihilistischen Tendenzen der Roman-
rektur bedarf, die mit der Behauptung Schopenhauers tik warnt, finden wir in Bonaventuras Nachtwachen
vom Primat des Willens im Selbstbewusstsein, d. h. aus dem Jahr 1804 eine ironische Umkehr typisch ro-
der Dominanz sinnlicher Irrationalität, Sexualität und mantischer Ideale: des Unendlichkeitsideals und Stre-
Leidenschaft über die Rationalität, weitgehend kon- bens nach Verwirklichung vollkommener Existenz
gruiert (vgl. u. a. W II, 224–276). Die zu Beginn des durch Verschmelzung des weltlichen Ichs mit der
Briefromans von Lovell romantisch als ewig währende göttlichen Transzendenz zugunsten einer defätisti-
seelische Verbundenheit verklärte Liebe weicht all- schen Darstellung einer von Gott verlassenen sinn-
mählich einer ernüchternden Erkenntnis ihres trieb- losen Welt des Nichts. Kurz: Bonaventuras Nacht-
haften Ursprungs. »Wollust«, so Lovell in einem des- wachen präsentieren sich als ironischer und sinnent-
illusionierten Brief aus Rom an seinen Freund Eduard leerter Kommentar jeder frühromantischen und idea-
Burton, sei »das große Geheimniß unsers Wesens« listischen Verklärung der Realität. Jean Paul meinte
und »nichts als Sinnlichkeit das erste bewegende Rad nach der Lektüre des Romans, den Philosophen F. W. J.
in unserer Maschine« (Tieck 1828, 212 f.). Schelling als hinter dem Pseudonym sich verbergen-
Bei Schopenhauer immer wiederkehrende Meta- den Autor erkannt zu haben. Gegenwärtig hat sich die
258 III  Einflüsse und Kontext

Philologie, dank der Entdeckungen Jost Schillemeits lis und Platen hervorzuheben. Die dezidiert nihilisti-
und Ruth Haags, auf den zur Zeit der Romantik nur sche Tendenz bei Tieck, Jean Paul und Bonaventura,
wenig bekannten Schriftsteller Ernst August Friedrich deren philosophischer Ursprung u. a. bei Jacobi und
Klingemann als Urheber des Textes geeinigt. Die in Fichte zu suchen ist, kehrt bei den oben genannten
der Frühromantik verbreitete Auffassung der Nacht Dichtern in abgewandelter und modifizierter Form als
(man denke u. a. an Novalis’ Hymnen an die Nacht) als Sehnsucht, Daseinsqual, Desillusionierung und Me-
idealen Zeitpunkt dichterischer Eingebungen und er- lancholie wieder. In den Ghaselen und Sonetten Pla-
habener Einsichten in die Tiefe der eigenen Seele und tens berührt die Schwermut bisweilen den Nihilismus
der Welt wird in den Nachtwachen zugleich aufgegrif- eines Tieck oder Bonaventura, so exemplarisch im
fen und kontrafaktisch unterlaufen. Wie Tiecks Ghasel »Es liegt an eines Menschen Schmerz«, in dem
Hauptperson William Lovell die Welt als eine Bühne das Wort »nichts« in 14 Langversen, die je in zwei
fremdgesteuerter Puppen erlebt, sieht der Nachtwäch- Halbverse geteilt sind, insgesamt achtmal wiederkehrt
ter Kreuzgang den Menschen als einen Narren, der im und damit jegliche Positivität ins Negative umschlagen
großen Marionettenspiel des Welttheaters die Haupt- lässt. Die beiden letzten Halbverse »Denn Jeder sucht
rolle spielt. Im letzten von 16 Kapiteln erfährt er auf ein All zu sein, / und jeder ist im Grunde nichts« wei-
einem Friedhof, wer seine Eltern waren. Der des Ver- sen das Nihil als das alles beherrschende und alles auf-
gänglichen und Todes stets gedenkende Kreuzgang lösende Prinzip einer nichtswürdigen, vergänglichen
bezeichnet den Friedhof als seinen »Lieblingsort« Existenz auf. Selbst die von Platen so einprägsam he-
(Bonaventura 2010, 132), der mit einem »Vorstadt- raufbeschworene Krankheit und das allgegenwärtige
stheater« zu vergleichen sei, »wo der Tod dirigiert, Leid des Menschen gerät in diesem Ghasel in den Sog
und tolle poetische Possen als Nachspiele hinter den des Nichts (»Es liegt an eines Menschen Schmerz, / an
prosaischen Dramen aufführt, die auf dem Hof- und eines Menschen Wunde nichts«). Das Sonett »Wem
Welttheater dargestellt werden« (ebd.). Lange vor der Leben Leiden ist und Leiden Leben« deutet – hier ohne
Frage des ›tollen Menschen‹ in Nietzsches Die fröhli- das relativierende Nihil – das Leben als Synonym des
che Wissenschaft, ob wir nicht, nachdem wir Gott ge- Leidens, darin übereinstimmend mit dem Schopen-
tötet, »durch ein unendliches Nichts [irren]?« (Nietz- hauerschen Diktum, »das Leben« stelle sich »als ein
sche 1988, 481), haben die poetischen Nihilisten und fortgesetzter Betrug« dar (W II, 657), und unser von
Pessimisten Gott durch den Teufel ersetzt und die lee- unbefriedigten Bedürfnissen, Schmerz und Qual heil-
re Nichtigkeit und Vergänglichkeit aller Dinge herauf- loser »Zustand« sei »etwas«, »das besser nicht wäre«
beschworen. (W II, 662). Im Sonett »Wer wußte je das Leben recht
Die auf das Zeitalter des Barock zurückweisende zu fassen« wird die Vergeblichkeit allen Strebens nach
Vorstellung des theatrum mundi korrespondiert mit Glück in den beiden letzten Terzetten zum Ausdruck
einer anderen, in der romantischen Dichtung wieder- gebracht, während in einem weiteren Sonett eine die
holt und in unterschiedlichen Bedeutungen auftreten- Welt verachtende Position formuliert wird, die der
den Daseinsmetapher: die des Traums. Herder hat – Schopenhauerschen entspricht: »Es sei gesegnet, wer
um nur ein Beispiel anzuführen – im Gedicht »Ein die Welt verachtet.«
Traum ist unser Leben«, die von Schopenhauer, Tieck Die Gedichte Eichendorffs sind gleichfalls von
und Klingemann hervorgehobene Traum- und Stimmungen der Sehnsucht und des Unglücks ge-
Scheinhaftigkeit der Vorstellungswelt poetisch formu- prägt. So wird bereits in der ersten Strophe des Ge-
liert. In Eichendorffs und Brentanos Dichtung gebä- dichts »Wehmut« das Trügerische des Glücks als
ren die Träume der Nacht nicht nur Ungeheuer, son- Grundempfinden des lyrischen Ichs durch das kon-
dern der verschleierte, zwischen dem hellen Tages- junktivische »Als ob« der zweiten Zeile ausgewiesen
bewusstsein und dem gedankenlosen Schlaf schillern- (»Ich kann wohl manchmal singen, / Als ob ich fröh-
de Zustand des Traums ist zugleich der produktive lich sei«). Von allen »Herzen«, die dem lyrischen Ich
Moment dichterischer Schöpfung und Annäherung kontrapunktisch gegenüberstehen fühlt keines die nur
an die heiß ersehnte, harmonische Verschmelzung der vom Ich erfahrenen »Schmerzen« und das »tiefe Leid«
mangelhaften Endlichkeit mit der vollkommenen beim Gesang der Nachtigallen aus »ihres Käfigs
(poetischen) Unendlichkeit. Gruft«. Im Gedicht »Das zerbrochene Ringlein« löst
Unter den deutschsprachigen Dichtergestalten der treulose Liebe eine weltverneinende Todessehnsucht
Romantik sind die Namen Brentano, Eichendorff, Hei- aus (»Ich möcht am liebsten sterben, / Da wär’s auf
ne, E. T. A. Hoffmann, Hölderlin, Kleist, Lenau, Nova- einmal still!«).
24 Romantik 259

Heines Buch der Lieder umkreist neben zahlrei- fen, die an Gestalt und Gehalt Themen der Schopen-
chen weiteren Themen dasjenige der unglücklichen hauerschen Ethik antizipieren:
Liebe (zu Heines Pessimismus vgl. u. a. Stockhammer
1962). Die Vertonung von insgesamt 16 Gedichten »[I]ndes könne jener große Zeitpunkt nicht ausbleiben,
aus dem »Lyrischen Intermezzo« (Buch der Lieder) wo sich die sämtlichen Menschen durch einen großen
durch Robert Schumann unter dem Titel Dichterliebe gemeinschaftlichen Entschluß aus dieser peinlichen
(Opus 48) suggeriert – bei aller Hoffnung und blitz- Lage, aus diesem furchtbaren Gefängnisse reißen und
artig aufleuchtender Heiterkeit und Souveränität – durch eine freiwillige Entsagung ihrer bisherigen Be-
Liebesqual, Angst, Zweifel und Resignation und lie- sitztümer auf ewig ihr Geschlecht aus diesem Jammer
fert damit einen musikalischen Beitrag zur melan- erlösen« (zit. nach Hübscher 1988, 30 f.).
cholischen Romantik. Eine ähnliche Tendenz zu
schwermütiger Resignation lässt sich in der Poesie Wendet man sich dem Dichten und Denken der Epo-
Friedrich Rückerts erkennen, vor allem in den 428 che außerhalb des deutschen Sprachraums zu, wird
Gedichten, die der Dichter in der Zeit zwischen 1833 ersichtlich, dass die oben erörterte, mit zentralen Ge-
und 1834 unter dem Eindruck des Todes seiner bei- danken der Schopenhauerschen Philosophie korres-
den Kinder Ernst und Luise verfasste. Eine kleine pondierende ›dunkle‹ Seite der Romantik keineswegs
Auswahl dieser Gedichte wurde von Gustav Mahler nur ein deutsches, sondern ein paneuropäisches Phä-
als neoromantischer von Schmerz und Leid durch- nomen darstellte. Zur Bestätigung seiner Lehre von
tränkter Liederzyklus unter dem gleichnamigen Titel der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens verweist
der Gedichtsammlung Rückerts, Kindertotenlieder, Schopenhauer wiederholt auf den von ihm hoch-
1904 abgeschlossen (zu Rückert und Schopenhauer geschätzten englischen homme de lettres Lord Byron,
vgl. Mühlmann 1976). dessen lyrische Dramen Kain, Don Juan, Manfred und
Der junge Novalis, dem später der Nihilismus ei- Childe Harold zu den dichterischen Höhepunkten der
nes Tieck, Bonaventura und Jean Paul fern lag, richtet englischen Romantik gehören. Schopenhauer be-
mehrfach in seinem Tagebuch eine an Lebensüber- trachtet den Kain als ein »unsterbliches Meisterwerk«
druss und Desillusionierung derjenigen Schopen- (W II, 672) und stellt das Drama des englischen Ro-
hauers in nichts nachstehende Anklage an das Leben. mantikers als tragisches Gegenstück an die Seite des
Der Mensch werde, so Novalis in einer von Lothar berühmten Candide Voltaires, in dem sarkastisch ge-
Pikulik hervorgehobenen Aufzeichnung des 18-jähri- gen die optimistische Philosophie eines Leibniz’ pole-
gen Dichters, seit seiner Geburt von »Schwachheiten« misiert und dessen Credo von ›der besten aller mögli-
und »Mängel[n]« verfolgt; mehr noch: alle »unsre chen Welten‹ ironisch unterlaufen wird. Byrons Ge-
Wünsche bleiben«, notiert Novalis, »unerfüllt, unsre dicht »Count o’er the joys thine hours have seen«
Pläne« scheitern und »unsre schönsten Hoffnungen, (»Ueberzähle die Freuden, welche deine Stunden ge-
unsre blühendsten Aussichten verschwinden« (Piku- sehn haben«) dient Schopenhauer als Beispiel der von
lik 2005, 58). Schopenhauer stellt dementsprechend ihm vertretenen Haltung, das Nichtsein wäre dem
in seinen »Nachträgen zur Lehre von der Nichtigkeit Sein vorzuziehen, oder wie es am Ende der von Scho-
des Daseyns« aus dem zweiten Band der Parerga und penhauer zitierten Strophe Byrons lautet: »und wisse,
Paralipomena fest, das »organische Leben« sei »ein daß, was immer du gewesen seyn magst, es etwas Bes-
beständiges Bedürfen, stets wiederkehrender Mangel seres ist, nicht zu seyn« (W II, 675). Auch das Schaffen
und endlose Noth« (P II, 303). Der niemals ruhende, der englischen Dichter William Blake (z. B. das Ge-
stets maßlos strebende, blinde Wille, der – wenn erst dicht »O Rose, du krankst!«), Samuel T. Coleridge,
durch die Vorstellungswelt des principium individua- John Keats, Thomas Moore, Percy B. Shelley (z. B. das
tionis in Erscheinung getreten – unaufhaltsam zwi- Gedicht »Klage«), Robert Southey, Edward Young
schen Verlangen, kurzzeitiger Befriedigung und Lan- (vor allem Klagen, oder Nachtgedanken über Leben,
geweile pendelt, macht das Dasein zu einer heiklen Tod und Unsterblichkeit) und William Wordsworth
Affäre, in der die Qualen und das Elend dergestalt do- gehören zum einschlägigen Kontext der düsteren Ro-
minieren, dass das Nichtsein dem Sein vorzuziehen mantik in den die Philosophie Schopenhauers pro-
wäre. In Novalis’ Die Lehrlinge zu Saïs wird die Erlö- duktiv eingebettet ist.
sungsbedürftigkeit der Menschen vor dem Hinter- Unter den fremdsprachigen Autoren ist der italie-
grund einer im Zeichen des Leidens stehenden Exis- nische Dichter, Essayist und klassische Philologe Gia-
tenz dargestellt und eine Entsagungsvision entwor- como Leopardi eigens hervorzuheben. Schopenhauer
260 III  Einflüsse und Kontext

verweist mehrfach und oftmals mit nachdrücklicher Kunstformen, indem diese im Gegensatz zur Dichtung
Zustimmung auf den zeitgenössischen Italiener. Kein die menschlichen Empfindungen unmittelbar und ad-
anderer habe nach Schopenhauer »den Jammer« und äquat wiedergibt. Dank dieser Unmittelbarkeit vermag
die Vergeblichkeit des Daseins »so gründlich und er- die Musik, wie keine andere Kunst, das geplagte Be-
schöpfend behandelt« (W II, 675) wie Leopardi. wusstsein aus seinen Fesseln zu lösen, Zeit und Raum
aufzuheben, die Vergänglichkeit, den Tod und das Lei-
den an der Welt durch die »Beständigkeit« der großen,
Schopenhauer und die romantische Ästhetik
»bis in die Ewigkeit« (Wackenroder/Tieck 2005, 77) hi-
oder »das Rad des Ixion steht still«
nausreichenden Kunst für Augenblicke außer Kraft zu
Wackenroders und Tiecks ästhetische Hauptschriften setzen. Die Musik, so Schopenhauer, bringt »das tiefste
Phantasien über die Kunst (1799) und die Herzens- Innere unsers Wesens zur Sprache« (W I, 302), und da
ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) das innere Wesen des Selbst – der Organismusidee der
weisen, besonders was die Einschätzung der Musik an- Romantik entsprechend – mit dem der Welt identisch
belangt, eine bemerkenswerte Korrespondenz mit ist, vermittelt sie einen direkten Zugang zum wahren
Grundgedanken der Schopenhauerschen Metaphysik Wesen aller Dinge.
des Schönen auf. Nicht nur konvergiert die pessimisti-
sche Anthropologie und Leidensphilosophie des Den- Literatur
kers, wie bereits geschildert, weitgehend mit Topoi der Arendt, Dieter: Der poetische Nihilismus der Romantik.
schwarzen Romantik, auch seine Auffassung der Kunst Tübingen 1972.
Benz, Richard: Jean Paul und Schopenhauer. In: Ders.:
als Resultat gesteigerter Erkenntnis und mögliche Genius im Wort. Jena 1936, 49–57.
Quelle willenloser Kontemplation, d. h. als Ursprung Benz, Richard: Schopenhauer und die Romantik. In: Deut-
vorübergehender Aufhebung der qualvollen Existenz, scher Almanach für das Jahr 1939. Leipzig 1939, 113–131.
wird in bemerkenswerter Weise in den genannten Berg, Robert Jan: Objektiver Idealismus und Voluntarismus
Schriften vorweggenommen. Besondere Aufmerk- in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers. Würz-
burg 2003.
samkeit verdienen die Aufsätze zur Musik Joseph Berg-
Bonaventura: Nachtwachen. Stuttgart 42010.
lingers, dessen fiktives Leben in den Herzensergießun- Byron, Lord: Sämtliche Werke. 3 Bde. In den Übertragungen
gen eines kunstliebenden Klosterbruders beschrieben von Otto Gildemeister, Alexander Neidhardt und Adolf
wird, und der als Verfasser einiger Abhandlungen über Seubert. Düsseldorf/Zürich 1996.
das Wesen der Kunst in den Phantasien erneut in Er- Gebhardt, Carl: Schopenhauer und die Romantik. Eine
scheinung tritt. Unter den Aufsätzen Berglingers sind Skizze. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 10
(1921), 46–54.
die im 2. Kapitel formulierten Gedanken über »Die Hübscher, Arthur: Der Philosoph der Romantik. In: Scho-
Wunder der Tonkunst«, die im 5. Kapitel präsentierten penhauer-Jahrbuch 34 (1951/52), 1–17.
Thesen über »Das eigentümliche innere Wesen der Hübscher, Arthur: Jean Paul und Schopenhauer. In: Scho-
Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumen- penhauer-Jahrbuch 45 (1964), 159–160.
talmusik« und das 8. Kapitel über »Die Töne« von Be- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Bonn 41988.
Hühn, Lore: Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit
lang. Die durch Musik hervorgerufene Kontemplation
Schellings und Schopenhauers. In: Christian Iber/
führt das in der Vorstellungswelt befangene Subjekt des Romano Pocai (Hg.): Selbstbesinnung der philosophischen
Wollens über seine Grenzen hinaus und zeitigt einen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer
leidensfreien Zustand jenseits von Schmerz und Da- Grundbegriffe. Cuxhaven/Dartfort 1998, 55–94.
seinskampf. Berglinger entrinnt mit Hilfe der Musik Hühn, Lore: Die Wiederkehr des Verdrängten. Überlegun-
»dem Kriege der Welt« (Wackenroder/Tieck 2005, 65), gen zur Rolle des Anfangs bei Schelling und Schopen-
hauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2005), 55–69.
wird von seinem »Zweifel« und seinen »Leiden« be-
Hühn, Lore (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Aus-
freit, und »auf einmal« von der »Angst« seines »Her- gang vom deutschen Idealismus (Fichte/Schelling). Würz-
zens [...] geheilt« (ebd.). Er befindet sich mit anderen burg 2006.
Worten in einem kontemplativen Zustand, den Scho- Ingenkamp, Heinz Gerd: Der Ginster. Giacomo Leopardi
penhauer unter der Bezeichnung des »reine[n], willen- über das würdige Leben und Sterben. In: Schopenhauer-
lose[n] Subjekt[s] der Erkenntniß« (W I, 209) in seinen Jahrbuch 73 (1992), 133–154.
Jacoby, Günther: Herder und Schopenhauer. In: Jahrbuch
ästhetischen Erörterungen des ersten und zweiten der Schopenhauer-Gesellschaft 7 (1918), 156–211.
Bandes der Welt als Wille und Vorstellung einprägsam Jean Paul: Siebenkäs (= Jean Paul Sämtliche Werke, Bd. 2).
geschildert hat. Wie Schopenhauer betrachten Wa- München/Wien 41987.
ckenroder und Tieck die Musik als die höchste aller
24 Romantik 261

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (= Jean Paul Sämtliche ther Baum/Dieter Birnbacher (Hg.): Schopenhauer und die
Werke, Bd. 5). München/Wien 41987. Künste. Göttingen 2005, 55–78.
Kamata, Yasuo: Der junge Schopenhauer. Genese des Grund- Ponomarev, Alexey: Der Nihilismus und seine Erfahrung in
gedankens der Welt als Wille und Vorstellung. München der Romantik. Marburg 2010.
1988. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
Kormann, Friedrich: Zur Novalisfrage. In: Schopenhauer- Philosophie. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 52008.
Jahrbuch 38 (1957), 133–136. Schelling, Friedrich W. J.: Über das Wesen der menschlichen
Koßler, Matthias: Empirischer und intelligibler Charakter: Freiheit. Hamburg 22012.
Von Kant über Fries und Schelling zu Schopenhauer. In: Schöndorf, Harald: Der Leib im Denken Schopenhauers und
Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1995), 195–201. Fichtes. München 1982.
Leopardi, Giacomo: Theorie des schönen Wahns und Kritik Stockhammer, Morris: Heinrich Heine als Pessimist. In:
der modernen Zeit. München 1949. Schopenhauer-Jahrbuch 43 (1962), 111–116.
Leopardi, Giacomo: Das Gedankenbuch. Aufzeichnungen Tieck, Ludwig: William Lovell (= Ludwig Tieck’s Schriften,
eines Skeptikers. München 1985. Bde. 6 und 7). Berlin 1828.
Mühlmann, Wilhelm E.: Schopenhauer und Rückert. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig: Phantasien
Schopenhauer-Jahrbuch 57 (1976), 145–147. über die Kunst. Stuttgart 32005.
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (= Kritische Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig: Herzens-
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Pikulik, Lothar: Schopenhauer und die Romantik. In: Gün-
Søren R. Fauth
IV Wirkung
A Personen

25 Ludwig Feuerbach Welt erschaffenden Ich zur sinnlich fundierten, an-


schaulichen Einheit von Ich und Du, der zeitlich in die
Schopenhauer und Feuerbach (1804–1872) stehen am frühen 1840er Jahre fällt, insbesondere auf das essen-
Ausgang der klassischen deutschen Philosophie und tielle Sein des leibhaftigen Menschen an (vgl. GW 9,
leiten mit ihren unterschiedlich akzentuierten Ant- 292 f.). Ihn stellt er neben der Natur, die er, darin be-
worten auf die Frage nach dem leiblichen Subjekt des steht im Wesentlichen die Antithese zur bisherigen
Erkennens zum nachhegelschen Bewusstsein über, Philosophie, als seiend voraussetzt, an den Anfang
das der Vernunft eine deutlich bescheidenere Rolle seines anthropologischen Materialismus. Seine his-
zubilligt. Während Schopenhauer expressis verbis an torische Rolle erblickt der »Denker der Menschlich-
Idealismus und Metaphysik festhält, begründet Feuer- keit«, als den Josef Winiger Feuerbach im gleichnami-
bach einen anthropologischen Materialismus, der gen Titel seiner 2004 vorgelegten Biographie feierte,
durch eine – darin Nietzsche vorwegnehmende – ra- denn auch in der »Verwirklichung der Vermensch-
dikale Diesseitigkeit gekennzeichnet ist und ob seiner lichung Gottes«, d. h. in der »Verwandlung und Auf-
Scharnierfunktion im materialistischen Diskurs mit lösung der Theologie in Anthropologie« (ebd., 265).
historischem Recht als Wegbereiter der materialisti- Schopenhauers Sonderstellung im Übergang zum
schen Geschichtsauffassung gilt, ohne dass sich seine modernen Bewusstsein besteht im Wesentlichen da-
Philosophie darin erschöpfte. rin, dass er als intimer Kenner der abendländischen
Während Schopenhauer sich Zeit seines intellek- Kultur, mit deutlich positiven Bezugnahmen etwa auf
tuellen Lebens als Antipode Hegels verstanden hat Platon, Hume und Kant, zu den Ersten zählt, die zen-
(s. Kap. 21), ist Feuerbach, Vollender und Überwin- trale Motive der indischen Geisteswelt in die europäi-
der des Linkshegelianismus, aus dessen Schule her- sche Debatte der damaligen Zeit einführten. Dem-
vorgegangen. Ersterer wies die Grundannahme des gegenüber nimmt sich Feuerbachs immanentes Auf-
spekulativen Idealismus zurück, wonach die Welt sprengen des spekulativen Systems Hegels eher be-
vernünftig sein soll, während die phänomenale Welt scheiden aus. Beide aber verbinden Tradiertes mit
doch offensichtlich von einem alogischen Willen radikal Neuem. Während Schopenhauer Individuali-
zum Leben durchherrscht sei, den es in allen seinen tät als Phänomen der Vorstellungswelt ausweist, das
Objektivationen allein zu Dasein und Wohlsein im Tode vergeht, und darüber das Bleibende im Wer-
dränge. Dieser sich selbst zerfleischende Wille sei den und Vergehen, das sich in der Vielheit von Singu-
schlechterdings sinnwidrig. Das durch dieses egoisti- lärem objektivierende Wesen der Welt, hervorhebt,
sche Streben evozierte Leid ruft nach Schopenhauer weist Feuerbach in Orientierung an der Leiblichkeit
im wahrhaft besonnen Denker das Phänomen des des Menschen das leiblich-sinnlich fundierte, zum
Mitleids als ethischer Grundhaltung hervor. Da die Teil unbewusst wirksame Ich-Du-Verhältnis als das
menschliche Existenz somit wesentlich leidvoll ist, Geheimnis der Individualität aus.
nimmt es nicht Wunder, dass die ethische Endabsicht Wie sich eine direkte Wirkung des einen auf den
seiner Philosophie auf die Negation des Willens zum anderen Denker nicht nachweisen lässt, so sind die
Leben abzielt. wechselseitigen Wahrnehmungen des jeweils anderen
Anders Feuerbach. Als Kritiker des »noch im Denkansatzes zumeist durch bedeutsame Dritte ver-
Theismus befangene[n] Idealismus« Kants, des »theis- mittelt; dazu gehören der Verleger der Schriften Feu-
tische[n] Idealismus« Fichtes und des »pantheisti- erbachs, Andreas Wilhelm Bolin, sowie die Vertreter
sche[n] Idealismus« (Feuerbach 1996, 53) Hegels der ersten Schopenhauer-Schule Julius Frauenstädt
kommt es ihm beim Übergang vom übersinnlichen, und Friedrich Andreas Ludwig Dorguth (s. Kap. 27).
25  Ludwig Feuerbach 265

beruht, finden wir durch ihn eingelöst, »was sein Zeit-


Philosophie des Leibes: Was Schopenhauer und
genosse Feuerbach lediglich programmatisch andeu-
Feuerbach bei aller Distanz verbindet
tet, wenn er dem Leib eine ›metaphysische Bedeutung‹
Zu einer Annäherung kommt es etwa hinsichtlich des zuerkennt, die uns den ›Grund der Welt‹ offenbart«
Erkenntnisgegenstands bei der jeweiligen Begrün- (Schmidt 2012, 49, Anm. 218; vgl. GW 9, 152).
dung einer Philosophie des Leibes, denn in der nach-
hegelschen Philosophie sind es Schopenhauer und
Materialisierung des Subjekts und Vermitteltheit
Feuerbach, denen sich neben der medizinisch-phy-
des Objekts
siologischen, die spezifisch philosophische Bedeutung
der Leiblichkeit des Menschen für die Erkenntnis von Gleichwohl berühren sich die Welterklärungen Scho-
Welt und für sein existentielles In-der-Welt-Sein er- penhauers und Feuerbachs noch in einem anderen,
schließt (vgl. Jeske/Koßler 2012). zentralen Punkt, dem »Problem einer [...] ›Materiali-
Über den einheitlichen Grundzug, die Vernunft als sierung‹ von Subjektivität« (Schmidt 1973, 126). In-
Vermögen des existierenden Menschen, dem leibhaf- dem Schopenhauer Kants transzendentales ›Ich den-
tigen Subjekt des Erkennens, auszuweisen, gilt es, da- ke‹ hirnphysiologisch unterbaut, gelangt er insbeson-
rüber nicht die grundlegend verschiedenen Intentio- dere in der zweiten Auflage seines Hauptwerks (1844)
nen beider leibphilosophischer Ansätze aus dem Blick und in den Parerga und Paralipomena (1851) zu einer
zu verlieren. Für Feuerbach ist das Leib-Sein des Men- doppelten Betrachtungsweise des Intellekts: Physiolo-
schen gleichbedeutend mit seinem In-der-Welt-Sein, gisch betrachtet ist der Intellekt eine Funktion des Ge-
das er sub specie humanitatis zum Ausgangspunkt hirns, metaphysisch aber ist der Intellekt ein Produkt
künftiger philosophischer Reflexion bestimmt. Scho- des sich in ihm als seiner höchsten Stufe objektivie-
penhauers Willenshermeneutik zielt vergleichsweise renden Willens. Alles in der Welt als Vorstellung sub-
tiefer. Im Ausgang von der intuitiven Erkenntnis des jektiv anschaulich Gegebene lässt sich objektiv als
Leibes sucht sie zu jener Sphäre vorzustoßen, die der Hirnphänomen deuten. Das Gehirn produziert die
raum-zeitlichen Ordnung der Dinge vorausgeht, die, phänomenale Welt, der es zugleich selbst angehört.
da nicht Vorstellung, wesentlich Wille ist. Wer wie Nicht nur ist die Welt im Kopf, sondern dieser ist im-
Feuerbach an der sinnlich-leiblich erfahrbaren Welt mer auch in der Welt (›Zellerscher Zirkel‹, s. Kap. 43).
als einer unhinterschreitbaren Größe festhält, dem Vom Materialismus trennt ihn die Grundüberzeu-
bleibt, aus der Perspektive Schopenhauers gesehen, gung, dass sich »eine objektive Welt ohne erkennendes
das Wesen der Welt vom ›Schleier der Maya‹ verhüllt. Subjekt« nur »imaginiren« lasse (W II, 6). Daher muss-
Schopenhauer lehrt, an der »idealistischen Grund- te die »Frage nach der Realität der Außenwelt«, wie
ansicht« (W II, 3) seiner Philosophie festhaltend, dass Schopenhauer glaubt verbindlich dargelegt zu haben,
sich uns mittels des sogenannten ›Analogieschlusses‹ »nach Erforschung des ganzen Wesens des Satzes vom
das metaphysische Wesen der Welt einzig über genaue Grunde, der Relation zwischen Objekt und Subjekt
Wahrnehmungen unserer eigenen Leibesaktionen er- und der eigentlichen Beschaffenheit der sinnlichen
schließt, die er mit den ihnen entsprechenden Willens- Anschauung, sich selbst aufheben, weil ihr eben gar
aktionen identifiziert. Seine Metaphysik erhebt sich keine Bedeutung mehr blieb« (W 1, 22). Stattdessen
auf der Ordnung der physischen Phänomene derart, belehrt Schopenhauer uns darüber, »daß der Intellekt
dass er erwiesene Resultate der modernen Naturfor- und die Materie Korrelata sind«, d. h., beide bilden das
schung (insbesondere der Medizin und Physiologie) »Grundgerüst« der »Erscheinung«, gehören nicht
nicht nur für vereinbar mit seiner Willenslehre erach- »dem Dinge an sich« an (W II, 18), weshalb auch »der
tet, sondern diese bisweilen durch jene sogar bestätigt Ursprung der Welt in keinem von Beiden zu suchen
sieht. Bei aller betonten Diesseitigkeit der von Feuer- ist« (W II, 19).
bach inaugurierten ›Philosophie der Zukunft‹ stößt je- Feuerbachs Anthropologismus zeichnet sich hin-
doch auch dessen Sensualismus an Erkenntnisgren- gegen dadurch aus, dass er »menschlichen Empfin-
zen, so dass auch er nicht umhinkommt, den Leib zu- dungen [...] keine empirische, anthropologische Be-
gleich als »die vernünftige Schranke der Subjektivität« deutung im Sinne der alten transzendenten Philoso-
und als »oberstes principium metaphysicum« anzuer- phie« beimisst, sondern ihnen eine »ontologische,
kennen (GW 9, 311). In dem Maße, wie »Schopenhau- metaphysische Bedeutung« zubilligt: »In den [...] all-
ers Welterklärung auf der Analyse der dranghaft-so- täglichen Empfindungen sind die tiefsten und höchs-
matischen Tiefendimension des Selbstbewusstseins« ten Wahrheiten verborgen. So ist die Liebe der wahre
266 IV Wirkung – A Personen

ontologische Beweis vom Dasein eines Gegenstands 126). Feuerbach überwindet die auf Descartes zurück-
außer unserm Kopfe« (GW 9, 318). Schopenhauer reichende, letztlich abstrakt bleibende Gegenüberstel-
wird vom späten Feuerbach im Kontext seiner Refle- lung von Vernunft und Sinnlichkeit, die »die unaus-
xionen über die Subjekt-Objekt-Problematik als ein weichliche Dialektik der erkenntnistheoretischen Be-
»von der ›Epidemie‹ des Materialismus angesteckter griffe« blockierte (ebd., 124). Feuerbachs Auseinander-
Idealist« bezeichnet, der trotz aller Welthaltigkeit sei- setzung mit Descartes hinsichtlich der Frage nach dem
ner Kategorien letztlich »auf das Gebiet innerhalb der Verhältnis von Empfindung und Denken rührt am »er-
Haut beschränkt« bleibe, weshalb er nicht anzugeben kenntnistheoretischen Nerv des Streits zwischen Ma-
wisse, was »jenseits dieser Haut, also außer uns, läge« terialismus und Idealismus [...]; ›denn die Empfindung
(GW 11, 176). Für Feuerbach besteht hingegen kein ist durchaus materialistisch, körperlich‹« (ebd., 125).
Zweifel daran, dass die »objektive Welt«, die wir »in- Die hiermit angestoßene Debatte motiviert noch
nerhalb der Haut« haben, alleiniger Grund dafür sei, Adornos in der Negativen Dialektik (1966) vollzogenen
»daß wir eine ihr entsprechende außer unsre Haut hi- »Übergang zum Materialismus« insofern, als »die
naussetzen«; die Haut aber, gibt er zu bedenken, ist Tatsachen des Bewusstseins keine – wie Schopenhauer
porös, d. h. durch sie atmen wir die Luft der Außen- versichert – letzte bleibende Unmittelbarkeit aus-
welt (GW 11, 177). Hier kehrt ein frühes Motiv des machen, sondern in sich somatisch und gesellschaft-
Feuerbachschen Sensualismus wieder, wonach das Ich lich vermittelt sind« (Schmidt 1973, 125). Dies wusste
»keineswegs ›durch sich selbst‹ als solches, sondern schon Marx, der diese Problematik im dritten seiner
durch sich als leibliches Wesen, also durch den Leib, Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844) tref-
der ›Welt offen‹« ist. »Durch den Leib ist Ich nicht Ich, fend benennt mit der knappen Formulierung: »Die Bil-
sondern Objekt. Im Leib sein heißt in der Welt sein. dung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen
Soviel Sinne – soviel Poren, soviel Blößen. Der Leib ist Weltgeschichte« (Marx 1990, 541 f.).
nichts als das poröse Ich« (GW 9, 151). Mit »dem Idea- Wie Schopenhauers »idealistische Grundansicht«
lismus« stimmt Feuerbach insoweit überein, »als vom lehrt auch ein »reflektierter Materialismus Objektivi-
Subjekt, vom Ich« auszugehen ist, insofern, was un- tät als subjektiv vermittelte« (Schmidt 1973, 123), oh-
strittig sei, das ne sich jedoch an der idealistischen Trivialität zu be-
ruhigen, wonach kein Objekt ohne Subjekt wie auch
»Wesen der Welt, [...] wie sie mir Gegenstand [ist,] nur kein Subjekt ohne Objekt soll gedacht werden können.
mein vergegenständlichtes Selbst ist; aber ich be- Vielmehr gilt es, »die Frage nach dem Genetischen,
haupte, daß das Ich, wovon der Idealist ausgeht, das nach dem Hervorgang des Geistes aus der Natur und
Ich welches die Existenz der sinnlichen Dinge auf- ihrer Geschichte zu unterscheiden von der Frage, wie
hebt, selbst keine Existenz hat, nur ein gedachtes, sich Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß zu-
nicht das wirkliche Ich ist. Das wirkliche Ich ist nur das einander verhalten« (ebd., 136). Beide Aspekte, der
Ich, dem ein Du gegenübersteht, und das selbst ei- genetische, der die Relation von Sein und Denken
nem andern Du, Objekt ist; aber für das idealistische problematisiert, und der kognitive, der das Verhältnis
Ich existiert, wie kein Objekt überhaupt, so auch kein von Subjekt und Objekt thematisiert, müssen sich dia-
Du« (GW 11, 171). lektisch aneinander abarbeiten.

Wie Schopenhauer geht Feuerbach bei der Konzeption


Religiöser Atheismus
des Weltganzen »von der somatisch-triebhaften Exis-
tenz« des Menschen aus, gelangt aber über den Men- Schopenhauer wie Feuerbach sind immer wieder zu
schen zur Natur, während Schopenhauer über den Leib Atheisten gestempelt worden. Sehen wir aber näher
zum Willen als dem weitgehend intuitiv erkennbaren zu, erweisen sich die religionskritischen Reflexionen
Ding an sich vordringt. Im Hinblick auf die erkenntnis- beider Denker als zu komplex, als dass sie durch einen
theoretisch relevante Frage nach dem Verhältnis von platten Atheismus hinreichend beschrieben wären.
Objekt und Subjekt ist Feuerbach der erste nichtidea- Unter Atheismus, wie er im 19. Jahrhundert einzig
listische Denker, der zu einer tragfähigen »Kritik an noch auftreten konnte, verstand Feuerbach den
weltkonstitutiver, gar -erzeugender Subjektivität« vor- emanzipatorischen Akt, der auf Wiederherstellung
stößt, indem er »den Gedanken der ›Abhängigkeit‹ des der »Urreligion« abzielt, »aber nicht mehr« im Sinne
Seins der Welt von dem des Menschen nicht einfach »eines Gegenstands kindlicher Phantasie, sondern
durchstreicht, sondern neu formuliert« (Schmidt 1973, des reifern, männlichen Bewußtseins« (GW 10, 299).
25  Ludwig Feuerbach 267

Atheismus bedeutete für Feuerbach »nichts anderes »als ein – in seinem Sinn einziges – reales, positives
als die Religion der Sinnlichkeit und Menschlichkeit« Prinzip der Moral [...], wenn er die Moral als etwas we-
(GW 10, 299). sentlich sich nur auf andere Beziehendes faßt und da-
Auch im Falle Schopenhauers liegen die Dinge an- her die Pflichten gegen sich selbst ausstreicht, wenn er
ders als sie dem Leser prima vista erscheinen mögen. den Unterschied zwischen Gut und Böse nur auf den
Obwohl Schopenhauer nicht mit Kritik am Theismus Unterschied von Wohl und Wehe gründet, wenn er
spart, betrachtet er die Religionen doch im Für und endlich die Unveränderlichkeit des Charakters des
Wider, nach ihrer kulturstiftenden Rolle als Volks- Menschen behauptet« (GW 20, 371 f.).
metaphysik einerseits und nach der durch sie verhüll-
ten Wahrheit andererseits. Seine Philosophie weist so- Gleichwohl bemängelt Feuerbach an Schopenhauers
wohl eine »Affinität [...] zur empirischen Weltbetrach- Fundierung der Mitleidsethik »auf ein metaphysi-
tung als auch zum Christentum« (Koßler 1999, 20) auf. sches Prinzip«, dass sie »darin einseitig, beschränkt«
Gerade die von Schopenhauer vertretene empirische sei als sie einers[eits] noch im Kantianismus, ande-
Ethik verdankt ihre Leuchtkraft der metaphysischen rers[eits] im Brahmanentum« befangen bleibe. Indem
Auslegung, nach der sich die »philosophisch-systema- er vom wohlverstandenen »Egoismus«, von Schopen-
tische Ethik« als »die Lehre von der Durchschauung hauer durchweg negativ gefasst, absehe, verbanne er
des principium individuationis« erweist (ebd., 454). Feuerbach zufolge den »Eudämonismus aus der Mo-
Mit Feuerbach teilt Schopenhauer die Auffassung, ral«, die er danach nur mehr »im Widerspruch mit
wonach die Religion dem bedrängten menschlichen dem mensch[lichen] Egoismus«, der ethischen Di-
Herzen entspringt, das übernatürlichen Schutz im mension des sensualistischen Prinzips, fassen könne
Gebet dort erbittet, wo unbeherrschbare Natur als (ebd.). Unbeschadet dessen ist ihm, wie er dem zitier-
überwältigende Kraft den Menschen in Angst und ten Brief hinzufügt, »die nähere Bekanntschaft mit
Schrecken versetzt. Auch über den bildhaften Cha- Sch[openhauer] eben wegen dieser großen Überein-
rakter der Religionen sind sich beide Philosophen ei- stimmung als Entgegensetzung seiner und meiner,
nig: »Wer der Religion das Bild nimmt«, schreibt Feu- teils ausgesprochenen, teils noch im Kopf zurück-
erbach im Vorwort zu seinem frühen Hauptwerk Das behaltenen Gedanken von hohem Wert und Interes-
Wesen des Christentums, »der nimmt ihr die Sache, se«. Einem weiteren Brief an Bolin vom 26. September
hat nur das caput mortuum in Händen. Das Bild ist 1861 ist zu entnehmen, dass Feuerbach sich mit dem
als Bild Sache« (GW 5, 6). Wie für Feuerbach so ver- Gedanken beschäftigte, die »›Probleme der Ethik‹ und
birgt sich auch für Schopenhauer in der Religion die ›4fache Wurzel des Satzes v[om] zur[eichenden]
Wahrheit »unter dem Schleier der Allegorie«, die es Grunde‹« im Rahmen einer weiteren Schrift, »wenn
durch Begriffsarbeit aus dem »Gewande der Lüge« zu auch nur kurz«, zu behandeln (GW 21, 386). Als Feu-
entkleiden gelte, um auf dem Wege rationaler Er- erbach dem Freund die zitierten Zeilen schrieb, arbei-
kenntnis »den mythischen Bestand des Religiösen« tete er, wann immer er die Zeit dazu fand, bereits seit
(Schmidt 1986, 47) zu erschließen. mehreren Jahren an einer entsprechenden Abhand-
lung, die er 1886 unter dem Titel Über Spiritualismus
und Materialismus, besonders in Beziehung auf die
Egoismus oder Glückseligkeitstrieb
Willensfreiheit publizierte. Darin findet sich eine kriti-
Feuerbachs erste Kenntnisnahme Schopenhauers sche Bemerkung zu Schopenhauer, die belegt, wie we-
dürfte sich Dorguths Schrift Kritik des Idealismus und nig sein Anthropologismus vereinbar ist mit den
Materialien zur Grundlage des apodiktischen Realra- Grundannahmen der Schopenhauerschen Religions-
tionalismus verdanken, die Feuerbach 1837 in den kritik und Willenslehre:
Hallischen Jahrbüchern rezensierte. Als Feuerbach (24
Jahre später) von Bolin im Juli 1861 ein Exemplar von »Es ist nichts ungereimter, als dem Menschen ein be-
Schopenhauers Schrift über Die beiden Grundproble- sonderes, von seinem Glückseligkeitstrieb unabhän-
me der Ethik erhält, interessierte in, wie er am 16. des- giges ›metaphysisches Bedürfnis‹ anzudichten und
selben Monats in einem Brief an seinen Gönner und nun gar zum Grund und Wesen der Religion zu ma-
Editor schreibt, zunächst »das ›Fundament der Mo- chen, da doch gerade die prima philosophia, die allen
ral‹«. Einig wusste er sich mit Schopenhauer in der anderen Philosophien vorangehende Philosophie der
»gegen die bodenlose idealistische Moral« geltend ge- Menschheit, die Religion, aufs schlagendste beweist,
machten Bestimmung des Mitleids daß dieses metaphysische Bedürfnis nur im Dienste
268 IV Wirkung – A Personen

des Glückseligkeitstriebes sich befriedigt [...]. Selbst bedeutendsten Autoren des deutschen Vormärz. Viele
die Grundunterscheidung, die Unterscheidung zwi- der führenden progressiven Köpfe jener Tage (also kei-
schen Ursache und Wirkung, zwischen Gegenstand neswegs nur Kommunisten) waren Feuerbachianer.
und Ich, stützt sich nicht nur, wie einseitige Verstan- Einer aber war gewiss kein Anhänger des abtrünnigen
desmenschen behaupten, auf meinen Verstand, son- Hegelschülers: Schopenhauer. In dem bis in unsere
dern wesentlich zugleich auf meinen Willen, folglich Zeit erhalten gebliebenen Handexemplar Schopen-
meinen Glückseligkeitstrieb, denn wo kein Glück- hauers finden sich nur die wenig schmeichelhaften
seligkeitstrieb, ist auch kein Wille, höchstens nur ein Anmerkungen »Hier war er besoffen« (9) und etwas
Schopenhauerischer, d. h. ein Wille, der nichts will« später: »noch immer besoffen« (9). Fraglos wird sich
(GW 11, 71). Schopenhauer an Feuerbachs dortigen Ausführungen
gestört haben, wonach das Gegenstandsbewusstsein
Während Feuerbach Natur und Mensch an den An- dem Selbstbewusstsein des Menschen entspreche. In
fang seines Entwurfs einer Philosophie der Zukunft einem Gespräch mit Carl Hebler am 28. August 1855
setzt, läuft Schopenhauers Entzifferung der Welt ge- gesteht Schopenhauer Feuerbach »nur das Verdienst«
mäß der ethischen Endabsicht seiner Philosophie auf zu, »den asketischen Charakter des Christenthums
die Negation des Leid schaffenden Willens zum Leben richtig erklärt« zu haben. Dieser aber sei nicht, wie
hinaus. Schopenhauer will, um den Grundgedanken Feuerbach ausgeführt, der »Fehler dieser Religion«,
seiner Lehre zuzuspitzen, den Menschen und mit ihm sondern »das Asketische sei gerade das Wahre an ihr«
den Willen zum Leben überwinden. Feuerbach hin- (Gespr, 208). Ein weiterer Gesprächspartner Schopen-
gegen macht den wohlverstandenen Egoismus zur Ba- hauers, Robert von Hornstein, erinnert folgende auf-
sis seines ethischen Grundprinzips, das er im »Glück- schlussreiche Bemerkung:
seligkeitstrieb« verankert.
»Mit Feuerbach habe ich so viel gemein, wie Tell mit
Parricida [...]. Feuerbachs Devise kann doch nur sein:
Pantheismus
Post mortem nulla voluptas, edite, bibite. Sein ›Wesen
Im Vollzug des Übergangs von der Theologie zur An- des Christentums‹ hat viele gute Stellen, nur ist sein
thropologie kommt dem enttheologisierten Pantheis- Ausspruch falsch: Theologie ist Anthropologie, nein:
mus, den Feuerbach im Rückgriff auf den durch ihn Theologie ist Anthropomorphismus« (Gespr, 218).
radikalisierten Naturbegriff Spinozas als ein heuristi-
sches Prinzip handhabt, eine denkstrategische Funk- Ein weiteres Mal offenbart Schopenhauer seinen Ekel
tion zu, die es ihm gestattet, einen Standpunkt außer- vor allem philosophischen Materialismus, den er hier
halb der tradierten Alternative zwischen Materialis- im Einklang mit den weitverbreiteten Vorurteilen als
mus und Idealismus zu beziehen (vgl. Jeske 2012a). moralisch verwerflich verwirft (hier der gute Tell, dem
Schopenhauer, der den mechanischen Materialismus er sich gleichstellt, während er Feuerbach identifiziert
als absolute Physik verwirft, vermag auch dem Pan- mit dem ›bösen‹ Verwandtenmörder: Parricida).
theismus nichts abzugewinnen. Wenn überhaupt, Ein weiterer Beleg für konsequentes Aneinander-
dann lässt er den Pantheismus nur als eine höfliche vorbei-Reden. Denn Feuerbachs wissenschaftlicher
Form des Atheismus gelten. Hätte die Welt, wie sie seit Ehrgeiz richtet sich weniger darauf, ein weiteres Mal
alters her ist, dessen ist er sich sicher, ihren Ursprung den seit Xenophanes bekannten Aufweis zu erbringen,
in einem personalen supranaturalistischen Wesen, dass sich – mit Worten Schillerscher Poesie – der
dann wäre dieses keinesfalls ein gütiger oder gesetz- Mensch in seinen Göttern malt, sondern darauf, das
gebender Gott, wie ihn die monotheistischen Religio- Phänomen der institutionalisierten Religion aus dem
nen lehren, sondern erwiese sich angesichts des all- psychologischen Wesen des Menschen zu erklären.
gegenwärtigen Leids als »ein böser, uns umtreibender Wie Schopenhauer vergottet auch Feuerbach die Na-
Dämon« (Schmidt 1986, 35). tur nicht. Auch ihm leuchtet diese keinesfalls nur in
den schönsten Farben entgegen, sondern erweist sich
bisweilen gegenüber den physischen Bedürfnissen des
Schopenhauer liest Feuerbach
Menschen als kalt, sinnwidrig und abweisend. Daher
Mit der im Jahr 1841 erschienen Schrift Das Wesen des muss der Mensch wider die Unbilden der Natur, der,
Christentums gelangte Feuerbach gleichsam über wie Schopenhauer sagt, »bloß unser Daseyn, nicht un-
Nacht zu schriftstellerischem Ruhm und zählte zu den ser Wohlseyn am Herzen« (Schopenhauer 2010, 238)
25  Ludwig Feuerbach 269

liegt, Zuflucht suchen bei transzendenten Wesenhei- kam (vgl. hierzu Fleiter 2010), weilte auch Feuerbach
ten. Soweit stimmen Schopenhauer und Feuerbach in in der Stadt am Main. Ein Brief an seine Frau Bertha
dieser Frage überein. Aber Schopenhauer, darauf informiert darüber, dass er beinahe in den von
weist Schmidt hin, ist fest davon überzeugt, dass preußischem und österreichischem Militär einerseits
»durch eine zum Atheismus gesteigerte Religionskri- und Freiheitskämpfern andererseits entfachten Kugel-
tik« (Schmidt 1986, 35) dem metaphysischen Bedürf- hagel geraten wäre. Es wäre wahrlich ein trauriges Ka-
nis, hervorgerufen durch »das Wissen um den Tod, pitel in der Chronologie der Erzähler der Philosophie-
und neben diesem« durch »die Betrachtung des Lei- geschichte gewesen, wenn durch Schopenhauers
dens und der Noth des Lebens« (W II, 176), letztlich »großen doppelten Opernkucker«, den der Misan-
nicht beizukommen ist. Kurz, Schopenhauers Kritik throp einem der Österreicher in die Hand gedrückt
an Feuerbach entzündet sich an metaphysischen Fra- hatte, damit dieser besser auf die »souveräne Kanaille«
gen, die sowohl das Verständnis der Natur, deren in- (GBr, 234) schießen könne, ein österreichischer Sol-
neres Wesen nach Schopenhauer »der Wille zum Le- dat den Philanthropen Feuerbach aufs Korn genom-
ben in seiner Objektivation« (W II, 175) ist, als auch men hätte (vgl. GW 19, 187; Jeske 2013a, 138). Wie
die Religionskritik betreffen. Anders als den beken- auch immer: Die Frage, ob diese beiden mit einer
nenden Metaphysiker Schopenhauer nötigt das harte Neubegründung von Philosophie befassten Denker
Faktum des Todes Feuerbach dazu, das eine Leben, einander wahrgenommen haben, lässt sich bejahen.
das wir haben, zu bejahen und es wertzuschätzen. Das Zu verneinen sind hingegen Fragen nach einer inten-
Leben ist für Feuerbach nicht etwas, das wir als den siven Auseinandersetzung mit den Philosophemen
Schleier der Maya ablegen und hinter uns lassen des jeweils anderen; zu ihr ist es nicht gekommen. So
könnten, sondern es allein verbürgt ihm Wahrheit. kann auch von einem direkten Einfluss des einen auf
»Der Tod«, dichtet bereits der junge Feuerbach, »ist den jeweils anderen schlechterdings keine Rede sein.
nicht ein leerer Spaß«, vielmehr ende er »die Indenti- Dessen unbeschadet finden sich, wie gezeigt werden
tas« (GW 1, 361). Feuerbach und Schopenhauer ha- konnte, in Feuerbachs Spätschrift Über Spiritualismus
ben sich gleichermaßen unmissverständlich gegen und Materialismus und in den überlieferten Briefen
Materialismen verwehrt, die sich zu einer Form des und Gesprächen einige bemerkenswerte Äußerungen
Wissens – Schopenhauer nennt sie die absolute Physik und Bezugnahmen, aus denen erhellt, warum der be-
– aufspreizen, die es scheinbar gestattet, die Welt bün- kennende Metaphysiker Schopenhauer keinen Gefal-
dig aus der Materie zu erklären. Schopenhauer steht len an der radikalen Diesseitigkeit finden konnte, die
als Verfechter einer Metaphysik auf induktiver Basis Feuerbachs anthropologischen Materialismus kenn-
ein für eine Philosophie, die ergründen will, was die zeichnet, und umgekehrt. Zu Recht gelten Schopen-
Welt in ihrem Innersten zusammenhält, während für hauer und Feuerbach als Begründer der Philosophie
Feuerbach die Philosophie als Anthropologie mit ih- des Leibes, die fraglos einen Wendepunkt in der Ge-
rer Antithese, mit dem Menschen und der all-einen schichte der Philosophie markiert.
Natur als dem Grund aller sinnlich wahrnehmbaren
und damit kognitiv erkennbaren Dinge anheben Literatur
muss. Feuerbachs »emanzipatorische Sinnlichkeit« Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
(Schmidt 1973) zielt durch den herbeigeführten Wan- Fleiter, Michael: Augenzeuge der Revolution. In: Ders. (Hg.):
Die Wahrheit ist nackt am schönsten. Arthur Schopenhau-
del des Bewusstseins letztlich auf das Erreichen des ers philosophische Provokation. Frankfurt a. M. 2010,
weltgeschichtlichen Wendepunkts ab: »Homo homini 57–66.
deus est« (GW 5, 444). Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke. Hg. von Werner
Im Leben aber geht es freilich, damals wie heute, Schuffenhauer. Berlin 1967 ff. [GW].
nach dem anderen Hobbesschen Grundsatz zu: Homo Feuerbach, Ludwig: Entwürfe zu einer Neuen Philoso-
phie. Hg. und mit einer Einleitung vers. von Walter
homini lupus est. Darüber belehrt uns nicht zuletzt die
Jaeschke und Werner Schuffenhauer. Hamburg 1996.
abschließend zu erwähnende Nicht-Begegnung der Jeske, Michael: »Sensualistischer Pantheismus«. Seine heuris-
beiden Denker in Frankfurt am Main im Revolutions- tische Bedeutung im Werk Ludwig Feuerbachs. Diss. Frank-
jahr 1848. Als es dort am 18. September in den Wirren furt a. M. 2012a.
des gewaltsamen Sturmes auf die Paulskirche in der Jeske, Michael: Zur Aktualität von Feuerbachs existenziel-
Bornheimer Heide zur Ermordung des Generals von lem Leibbegriff im Kontext psychoanalytischer Fragestel-
lungen. In: Ders./Koßler 2012, 213–240 [2012b].
Auerswald und des Fürsten Lichnowsky, beide
Jeske, Michael: Spurensuche: Ludwig Feuerbachs Philoso-
preußische Abgeordnete des Paulskirchenparlaments,
270 IV Wirkung – A Personen

phie der Menschlichkeit, zur 140. Wiederkehr seines Schmidt, Alfred: Diskussionsbeiträge. In: Johannes Henrich
Todestages. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies von Heiseler/Robert Steigerwald/Josef Schleifstein (Hg.):
Denken und humanistische Philosophie 20/1 (2013a), 130– Die »Frankfurter Schule« im Lichte des Marxismus. Zur
140. Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer,
Jeske, Michael: Feuerbach und Freud – Von der psychologi- Adorno, Marcuse, Habermas. Frankfurt a. M. 1970.
schen Erklärung der Religion zur Psychologie des Unbe- Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwigs
wussten. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Feuerbachs anthropologischer Materialismus. München
Denken und humanistische Philosophie 20/3 (2013b), 144– 1973.
159. Schmidt, Alfred: Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Scho-
Jeske, Michael/Koßler, Matthias (Hg.): Philosophie des Lei- penhauers Religionsphilosophie. München 1986.
bes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach. Würz- Schmidt, Alfred: Von den philosophischen Ärzten des
burg 2012. 18. Jahrhunderts zu Feuerbach, Schopenhauer und Nietz-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral. sche. In: Jeske/Koßler 2012, 11–57.
Zur Differenz einer areligiösen Grundlegung der Ethik am Schopenhauer, Arthur: Senilia. Gedanken im Alter. Hg. von
Beispiel der Gegenüberstellung Schopenhauers mit Augusti- Franco Volpi. München 2010.
nus, der Scholastik und Luther. Würzburg 1999.
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) Michael Jeske
(= Marx/Engels Werke, Bd. 40). Berlin 1990.
26  Søren Kierkegaard 271

26 Søren Kierkegaard ke‹ – die konkret existierende Singularität – soll gera-


de kein systembegründender Gedanke mehr sein; viel-
Schopenhauer und Kierkegaard (1813–1855) sind mehr möchte Kierkegaards Denken allein hindeuten
zwei zentrale und wirkmächtige Denker der nachidea- auf den je undelegierbaren existentiellen Vollzug des
listischen Epoche. Schon auf den ersten Blick treffen Einzelnen, der in keinem System mehr seinen Ort hat.
sie sich in ihrer beißenden Polemik gegen den ›Deut- Trotz dieser fundamentalen Differenz ist das Ver-
schen Idealismus‹ und insbesondere gegen Hegel. Bei hältnis ›Schopenhauer – Kierkegaard‹ vielschichtig
beiden verzerrt dabei die Polemik den ›Gegner‹ oft- und lässt sich nicht auf die simple Opposition ›System
mals bis zur unkenntlichen Karikatur – und verdeckt versus Existenz‹ reduzieren. Vielmehr zeigt sich im
zugleich, dass beide stärker an die Klassische deutsche Einzelnen eine Fülle gemeinsamer Themen und sach-
Philosophie anschließen, als es zunächst scheinen licher Affinitäten. Gerade indem beide gegen den ›op-
mag. Gleichwohl ist beiden gerade aufgrund ihrer Ab- timistischen Panlogismus‹ des Idealismus Einspruch
stoßungsbewegung vom Idealismus – in auffälliger Pa- erheben, stellen sie in verwandter, wenngleich je ver-
rallele – eine verspätete, aber dann desto breitere Wir- schiedener Weise Phänomene der Negativität in den
kungsgeschichte zuteil geworden: Schopenhauer als Mittelpunkt – so etwa Leiden und Langeweile oder
Vorgänger der Lebensphilosophie und der Psychoana- Unfreiheit und (Erb-)Schuld. Sodann wird aber auch
lyse; Kierkegaard als ›Vater‹ der Existenz- und der Dia- noch die ›Lösung‹, die sich bei Schopenhauer und
logphilosophie. Schopenhauer und Kierkegaard geben Kierkegaard von den Analysen der Negativität her ab-
eben darin dem Denken des späteren 19. und des zeichnet, in sachlich verwandten Figuren greifbar:
20. Jahrhunderts Impulse, dass sie gegen den – in der Beide sind – obschon wiederum in differierender Ak-
Perspektive der Kritik – allzu ›optimistischen‹ Ver- zentuierung – Denker ausgezeichneter Zeiterfahrun-
nunftabsolutismus idealistischen Typs das ›Andere der gen des Plötzlichen, des Sprungs und der Konversion
Vernunft‹ meinen einklagen zu müssen: Schopenhau- (vgl. Hühn 2011).
er, indem er als Prinzip seines Systems den einen, an Dieses spannungsreiche Verhältnis von Nähe und
sich blinden und vorrationalen Willen auszuweisen Distanz ist im Folgenden in seinen Grundlinien zu
sucht; Kierkegaard, indem er sein ganzes Denken auf skizzieren. Dabei geht die Darstellung von dem ein-
den je singulären Existenzvollzug ausrichtet, der einer zigen direkten Berührungspunkt aus, den späten
Repräsentation im Begriff wesentlich entzogen bleibe. Journalaufzeichnungen Kierkegaards zu Schopen-
Bereits an diesem Punkt größter Nähe zeigt sich al- hauer. Hier ist im Anschluss an Kierkegaards Kritik
lerdings auch der wesentliche Unterschied beider die sachliche Differenz beider Denker sichtbar zu ma-
Denker – nämlich in der je eigenen Art und Weise des chen. In einem zweiten Schritt werden kurz und
Einspruchs gegen den Idealismus. Schon die zeitliche exemplarisch einige der benannten Parallelen umris-
Distanz beider gibt dazu einen Hinweis. Schopenhau- sen – die sich Kierkegaards Notizen keineswegs voll-
ers erstes Auftreten ist mit den großen Systemen der ständig ablesen lassen.
Idealisten noch unmittelbar gleichzeitig. Kierkegaards
Auseinandersetzung mit der Klassischen deutschen
Kierkegaards Journalnotizen zu Schopenhauer
Philosophie hingegen ist vermittelt durch den epigo-
1854
nalen dänischen Hegelianismus und die späteste Ge-
stalt des Idealismus, die von ihm selbst gehörte Berli- Kierkegaards nachweisbare Auseinandersetzung mit
ner Antrittsvorlesung Schellings 1841/42; seine frü- Schopenhauer beginnt erst knapp eineinhalb Jahre
hesten Schriften erscheinen etwa eine Dekade nach vor seinem Tod und wird in den späten Journalen des
Hegels Tod. Diesem geschichtlichen Abstand korres- Jahres 1854 mit den Titeln NB29, NB30, NB32 und
pondiert die entscheidende sachliche Differenz. Scho- NB35 geführt (zur Interpretation vgl. Schwab 2006;
penhauer folgt mit seiner monistischen Willensmeta- 2011; zum Hintergrund Cappelørn 2011).
physik noch der Systemforderung Kants und erhebt In den insgesamt 25 Aufzeichnungen, die explizit
den Anspruch, er allein – und nicht etwa Fichte, Schel- Schopenhauers Namen nennen, finden sich zunächst
ling oder Hegel – habe in seinem ›einzigen Gedanken‹ durchaus positive, ja in Teilen emphatische Kommen-
(vgl. W I, VIII; s. Kap. 6.2) das wahre System vorgelegt tare. Immer wieder hält Kierkegaard Formulierungen
und somit das kantische Projekt vollendet. Kierke- Schopenhauers fest und versieht sie mit kurzen und zu-
gaard hingegen widerspricht dem Ansatz einer Phi- stimmenden Bemerkungen. Schon die erste Notiz zu
losophie als System überhaupt. Sein ›einziger Gedan- Schopenhauer bezeichnet eine Passage über das Dozie-
272 IV Wirkung – A Personen

ren als »[v]ortrefflich« (NB29:62, JA, 336; vgl. zu den gen für seine zweite Preisschrift nicht gekrönt worden
Referenzstellen bei Schopenhauer die Anmerkungen zu sein (ebd.). So kann auch Kierkegaard Schopenhau-
der zitierten Übersetzung). Ebenfalls »vortrefflich« ers Angriff auf die ›Professoren-Philosophie‹ letztlich
nennt Kierkegaard eine Stelle bei Schopenhauer, nach nicht gelten lassen: »Aber was ist nun S.s Unterschied
der die Kaufleute »die einzigen redlichen M[en]schen vom ›Professor‹? Zu guter Letzt doch nur der, dass S.
in dieser Welt« seien, nämlich »redlich genug, offiziell Vermögen hat« (NB32:35, JA, 349).
einzugestehen – dass sie betrügen« (NB29:91, JA, 336). Diese zunächst etwas irritierende Kritik ist aber
Auch nach der ersten kritischen Auseinanderset- keineswegs bloße Polemik ad hominem, sie verweist
zung mit Schopenhauer in NB29:95 notiert Kierke- vielmehr auf die sachliche Dimension der Auseinan-
gaard weiterhin zustimmend ›Lesefrüchte‹. Wenig dersetzung. Kierkegaard kritisiert an Schopenhauer
später bemerkt er, es sei den »theologischen Studen- erstens den theoretischen, betrachtenden Zugang zu
ten, die hier in Dänemark in diesem unsinnigen Fragestellungen der Ethik – und zugleich zweitens die
(christlichen) Optimismus leben müssen«, zu »emp- Stellung, die Schopenhauer als Existierender zu sei-
fehlen, jeden Tag eine kleine Dosis von Ss Ethik ein- nem Werk einnimmt. In zweifacher Hinsicht wird
zunehmen, um sich davor zu schützen, mit diesem mithin eine Existenzferne der Ethik Schopenhauers
Gefasel infiziert zu werden« (NB29:114, JA, 342). Es kritisch konstatiert. Dieser gedoppelte Einwand zeigt
ist offenbar vor allem Schopenhauers Stil, der Kierke- sich insbesondere in der Aufzeichnung NB32:35. Dort
gaard fasziniert. So notiert er etwa, der polemische schreibt Kierkegaard, Schopenhauer weise nicht »oh-
Ausdruck »Windbeutel« sei ein »ausgezeichnetes ne große Selbstzufriedenheit [...] der Askese [einen]
Wort«, und Schopenhauer mache davon »einen vor- Platz im System« zu (NB32:35, JA, 348). Dies aber sei
trefflichen Gebrauch« (NB30:13, JA, 345 f.). Und na- »ein indirektes Zeichen dafür«, dass die Zeit der Aske-
türlich erkennt Kierkegaard in Schopenhauer auch se »vorbei ist«; in früheren Zeiten sei man »Asket dem
aufgrund seiner Polemik gegen die ›Professoren-Phi- Charakter nach« gewesen, nun aber »prahlt einer da-
losophie‹ einen Gesinnungsgenossen. Es habe ihn, so mit: der erste zu sein, der ihr [einen] Platz im System
vermerkt Kierkegaard, »unsagbar vergnügt, Schopen- anweist« (ebd.). Hier formuliert Kierkegaard seinen
hauer zu lesen. Es ist vollkommen wahr, was er sagt, zentralen Kritikpunkt: »Aber eben das, sich mit der
und wiederum, was ich den Deutschen gönne, so grob Askese auf die Weise zu beschäftigen, zeigt ja, dass sie
wie nur ein Deutscher sein kann« (NB30:11, JA, 343). nicht in einem wahreren Sinne für ihn da ist« (ebd.).
Schopenhauers »ganzes Dasein und dessen Geschich- Nimmt man die polemische Einkleidung fort, so lässt
te« sei »eine tiefe Wunde [...], die der Professoren-Phi- sich die Kritik folgendermaßen reformulieren: Indem
losophie beigebracht wird« (NB32:35, JA, 348). die Existenzform des Asketen zum Gegenstand theo-
An diesem Punkt von Kierkegaard emphatisch be- retischer Erörterung gemacht und in ein System ein-
grüßter Gemeinsamkeit aber setzt in den ausführliche- geordnet wird, ist sie gerade nicht als Vollzug der Exis-
ren Notizen auch die Kritik an. Dabei ist die Stoßrich- tenz ›anempfohlen‹, sondern gleichsam ›neutral‹, in
tung dieser Kritik durchaus bemerkenswert. Die um- kontemplierender, d. h. distanzierter Betrachtung dar-
fänglichste Eintragung NB29:95 beginnt zwar damit, gestellt. In eins mit der Kritik einer theoretisch kon-
zwei »Einwände« gegen Schopenhauers Ethik zu skiz- zipierten Ethik zeigt sich sogleich der zweite Einwand
zieren (JA, 337–339), richtet sich aber bald auf Scho- gegen eine Differenz zwischen dem Dargestellten und
penhauer als Person im Verhältnis zu seinem Werk dem Darstellenden: Der Denker, der die Askese bloß
(vgl. dazu Adorno 1997, 16; Sørensen 1969). Gerade theoretisch beschreibt, verhält sich selbst nicht anders
Schopenhauers »Schicksal in Deutschland« und seine als eben betrachtend zu ihr.
beginnende Rezeption sind es, die Kierkegaard »sehr Diese zweifache Kritik wird auch in der Eintragung
interessier[en]« (NB29:95, JA, 339). Schopenhauer sei NB29:95 deutlich. Man erfahre nämlich nach der Lek-
letztlich, so lautet das harte Urteil, »doch ein deutscher türe von Schopenhauers Ethik, »dass er nicht selbst
Denker, versessen auf Anerkennung«: »S. verhält sich ein solcher Asket ist« (NB29:95, JA, 338). Schopen-
unmittelbar zur Anerkennung, das hat er gewünscht, hauer sei also »nicht selbst die durch Askese erreichte
danach hat er gestrebt« (NB29:95, JA, 340). Schopen- Kontemplation, sondern eine Kontemplation, die sich
hauers Stolz über die Auszeichnung seiner Preisschrift kontemplierend zu jener Askese verhält« – es sei aber
in Trondheim (»Du guter Gott, in Trondheim«) wird »immer misslich [...], eine Ethik vorzutragen, die
dann ebenso zum Gegenstand des Spotts wie sein nicht die Macht über den Lehrer ausübt, dass er es
»ganz ernsthaft[es]« ›Lärmen‹ darüber, in Kopenha- selbst ausdrückt« (ebd.). Dieselbe Kritik wird auch in
26  Søren Kierkegaard 273

der Notiz NB32:35 polemisch an der Figur des Sophis- aufgefordert, sie selbst im undelegierbaren Vollzug sei-
ten illustriert. Dieser sei nicht zuerst dadurch gekenn- ner je eigenen Existenz erst zu erwerben. Diese Kon-
zeichnet, dass er sich für seine Unterweisung bezahlen stellation bildet offenkundig den Hintergrund für
lasse: »Nein, das Sophistische liegt in: dem Abstand Kierkegaards Kritik an der ›kontemplierenden‹ Ethik
zwischen dem, was man versteht und dem, was man Schopenhauers – und bezeichnet zugleich die wesent-
ist, derjenige, der nicht in seinem Charakter seinem liche Differenz der beiden denkerischen Ansätze.
Verstehen entspricht, der ist Sophist. Aber dies ist der Für den späten Kierkegaard aber verschärft sich die
Fall bei Schopenhauer« (NB32:35, JA, 349). Ein Ab- Existenzbezogenheit des Denkens noch einmal unter
stand zwischen dem, was man versteht, und dem, was christlichen Vorzeichen: In seinen vertiefenden Refle-
man ist – auf diese Formel lässt sich der zweite und xionen über die ›Nachfolge Christi‹ erhebt Kierke-
zentrale Aspekt der Kritik Kierkegaards an Schopen- gaard ab etwa 1848 die Forderung, der Denker müsse
hauer bringen. für das von ihm Gelehrte auch existentiell einstehen.
Die Kritik Kierkegaards misst nun offenkundig Dieser Anspruch ist im Begriff der Reduplikation
Schopenhauer nicht an dessen eigenem Maßstab. konzentriert – der ›Verdopplung‹ des Gelehrten und
Dass es bei einem Philosophen wesentlich darauf an- Gedachten in der Existenz. Das Ausbleiben einer sol-
komme, wie er sich zu dem von ihm theoretisch Ge- chen existentiellen Reduplikation ist offenkundig der
fassten existentiell verhalte, weist nämlich Schopen- Kern von Kierkegaards später Kritik an Schopenhau-
hauer am Ende seines Hauptwerks explizit zurück: Es er, die vor diesem Hintergrund als indirekte, eigene
sei »so wenig nöthig, daß der Heilige ein Philosoph, Positionsbestimmung lesbar wird (vgl. ausführlich
als daß der Philosoph ein Heiliger sei« – vielmehr sei Schwab 2011 sowie Holm 1962, 10; Viallaneix 1981,
es »eine seltsame Anforderung an einen Moralisten, 61; Garff 2004, 807).
daß er keine andere Tugend empfehlen soll, als die er Dass aber Kierkegaard sich zu dieser Kritik über-
selbst besitzt« (W I, 453). Weiter heißt es: »Das ganze haupt herausgefordert sieht, ist offenkundig darin be-
Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in gründet, dass ihm Schopenhauer in der systemschlie-
Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektirtes Ab- ßenden Existenzgestalt des Asketen – bei aller Diffe-
bild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen renz beider Ansätze – doch näher kommt, als er selbst
der Vernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ausdrücklich vermerkt. In dieser Hinsicht konstatiert
ist Philosophie« (ebd.). Franz Rosenzweig, mit implizitem Verweis auf Kier-
In der Tat kann die Kritik Kierkegaards an Schopen- kegaard, eine Ambivalenz in Schopenhauers »syste-
hauer nur dann zureichend verstanden werden, wenn merzeugte[m] Heiligen des Schlußteils«: Schopen-
sie auf die gänzlich verschiedene Auffassung dessen hauer habe als erster die »Frage nach dem Wert der
bezogen wird, was Philosophie jeweils zu leisten hat. Welt [...] für den Menschen« gestellt, aber zugleich
Der Schopenhauerschen Definition nämlich würde »dieser Frage [...] die Giftzähne ausgebrochen, indem
Kierkegaard keineswegs zustimmen – vielmehr ist eine sie schließlich doch ihre Lösung wieder in einem Sys-
›abstrakte und allgemeine Wiederholung der Welt in tem der Welt fand«, – gleichwohl sei es »etwas in der
Begriffen‹ gerade dasjenige Verständnis von Philoso- Philosophie Unerhörtes, daß ein Menschentyp und
phie, dem er widerspricht. Kierkegaards gesamtes nicht ein Begriff den Systembogen schloß, wirklich als
Denken zielt auf den praktischen Vollzug der Existenz, Schlußstein schloß« (Rosenzweig 1988, 8 f.; vgl. Hühn
und gerade deshalb darf die Existenz nicht theoretisch 2006, 93 f.; Schwab 2006).
betrachtet und dargestellt werden – hieße doch dies für
Kierkegaard, den ›Gegenstand‹ wesentlich zu verfäl-
Sachliche Parallelen – Langeweile und Sprung
schen. Daraus speist sich Kierkegaards entschieden
antisystematischer Impuls, der in der Methode einer Zweifelsohne ist Kierkegaards Kritik an Schopenhau-
›indirekten Existenzmitteilung‹ Gestalt gewinnt: In der er also in einer gewissen Einseitigkeit befangen. Ge-
pseudonymen Verschachtelung seiner Werke und in meinsamkeiten werden allenfalls am Rande und im
perspektivischen Brechungen umkreist Kierkegaard Einzelnen erwähnt, zumeist aber unterschlagen, um
die Frage nach der Existenz, ohne sie jemals in Form die Kritik desto pointierter zu formulieren. In der Tat
eines einfachen und allgemeingültigen Resultats de- lassen sich aber, bei aller Differenz des philosophi-
finitiv zu beantworten. Damit verbindet sich ein Ap- schen Grundanliegens, bemerkenswerte sachliche Pa-
pell existentieller Aneignung: Sofern dem Leser eine rallelen zwischen beiden Denkern nachweisen, die
›letzte Antwort‹ vorenthalten wird, ist er zugleich dazu zum Abschluss wenigstens exemplarisch anzudeuten
274 IV Wirkung – A Personen

sind (vgl. hierzu bes. die Beiträge in Cappelørn/Hühn/ darstellt, andererseits Ausgangspunkt seiner Kritik an
Fauth/Schwab 2011). der Übergangskategorie der hegelschen Dialektik (vgl.
Einen ersten Hinweis auf eine weiterreichende bes. FZ, 42 f.; PB, 41, 55–62; BA, 29 f., 82–86; AUN1,
Verwandtschaft gibt der zitierte Passus, in dem Kier- 85–98). Schopenhauer betont in seiner Ästhetik, der
kegaard Schopenhauer als ›Gegengift‹ gegen den ›un- »schmerzenslose Zustand« willensfreier Betrachtung
sinnigen Optimismus‹ des Jahrhunderts empfiehlt. stelle sich »plötzlich« und »mit einem Male« ein (W I,
Entsprechend konvergiert nämlich Schopenhauers 231); und auch im vierten Buch der Welt als Wille und
pessimistische These, nach der das Leben wesentlich Vorstellung heißt es, die »Verneinung des Wollens«
Leiden sei (vgl. W I, 366), mit dem Verfahren Kierke- komme »plötzlich und wie von außen angeflogen«
gaards, Grundstrukturen der Existenz im Ausgang (W I, 478). Wenn Schopenhauer diesen Akt per analo-
von negativen Phänomenen wie etwa der Schwermut, giam mit dem Begriff der »Wiedergeburt« (ebd.) fasst
der Angst und der Verzweiflung auszuweisen. Die und dabei in Anspielung auf Epheser 4, 22–24 schreibt,
Klage des jungen Menschen in der Wiederholung »in Folge solcher Gnadenwirkung« werde »das ganze
über die Sinnleere des Daseins (vgl. W, 70–74) trifft Wesen des Menschen von Grund aus geändert und
sich mit Schopenhauers These von der Welt als der umgekehrt« (W I, 479), dann trifft sich dies abermals
schlechtesten aller möglichen, die, wäre sie nur ein beinahe wörtlich mit der Formulierung des Sprungs
wenig schlechter, gar nicht mehr bestehen könnte und der Wiedergeburt in Kierkegaards Philosophi-
(vgl. W II, 669). Dabei ist es eine Zeiterfahrung, die in schen Brocken (vgl. PB, 16 f.).
der Analyse der Sinnlosigkeit des Daseins eine we- Freilich zeigt sich auch in diesen hier nur angedeu-
sentliche Gemeinsamkeit markiert: das negative Phä- teten sachlichen Parallelen die grundlegende Diffe-
nomen der Langeweile. Schon in Über den Begriff der renz beider Ansätze, die als Hintergrund von Kierke-
Ironie hatte Kierkegaard die Langeweile – »diese in- gaards Kritik aufgewiesen worden ist. Während näm-
haltslose Ewigkeit, diese genußlose Seligkeit, diese lich bei Kierkegaard die Analyse negativer Grund-
oberflächliche Tiefe, diese hungrige Übersättigung« phänomene wie auch die Charakterisierung des
– als Wesen der romantischen Ironie ausgewiesen Sprungs stets auf die Frage nach der konkreten Exis-
und so den Typus einer an ihrer Zeitlichkeit schei- tenz bezogen ist, sind Schopenhauers Beschreibun-
ternden Existenz charakterisiert (BI, 291). Auch für gen der Langeweile und des Augenblicks willens-
Schopenhauer kommt der Langeweile eine zentrale metaphysisch fundiert und verweisen so auf die syste-
Bedeutung zu. Da der Wille »ein beständiges Streben, matische Ausarbeitung seines ›einzigen Gedankens‹
ohne Ziel und Rast« ist, bestimmt Schopenhauer das (vgl. W I, VIII). Gleichwohl sollte deutlich geworden
Wesen des Menschen als »Bedürftigkeit, Mangel, also sein, dass die Parallelen weiter reichen, als Kierke-
Schmerz« (W I, 367). Der Mensch muss beständig gaards Kritik zunächst suggeriert. Eine eingehende
nach »Objekten des Wollens« streben; fehlt es aber an Aufarbeitung des Verhältnisses beider Denker könnte
diesen, »befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile« insbesondere dazu beitragen, von Kierkegaard her die
(W I, 367 f.). So sind für Schopenhauer »Schmerz ›existenzphilosophischen‹ Implikationen bei Scho-
und [...] Langeweile« die beiden Pole, zwischen de- penhauer zu beleuchten (vgl. hierzu auch die Beiträge
nen das Leben des Menschen, »gleich einem Pendel, in Regehly/Schubbe 2016).
hin und her[schwingt]« (W I, 368). Dabei lassen sich
beinahe gleich lautende Formulierungen nachwei- Literatur
sen: Schopenhauers Wendung, die Langeweile sei Kierkegaard, Søren: Gesammelte Werke. Übers. und hg. von
»nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel« Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Jung-
hans. 36 Abtlg. in 26 Bdn. und Registerbd. Düsseldorf/
(W I, 369), nimmt Kierkegaards Bestimmung der Köln 1950–1969 [GW].
Langeweile als »Wurzel alles Übels« in Entweder/
Oder vorweg (EO1, 308). AUN1 Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu
den Philosophischen Brocken 1 [1846], GW 10.
Bemerkenswerterweise steht aber bei beiden Den- BA Der Begriff Angst [1844], GW 7.
kern nicht nur für die ›Negativität des Daseins‹, son- BI Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht
dern auch für Aspekte des ›Gelingens‹ eine Zeiterfah- auf Sokrates [1841], GW 21.
rung ein – im Motiv des Augenblicks, des Plötzlichen EO1 Entweder/Oder, 1. Teil [1843], GW 1.
FZ Furcht und Zittern [1843], GW 3.
und des Sprungs. Für Kierkegaard ist die Figur des PB Philosophische Brocken [1844], GW 6.
Sprunges einerseits Chiffre der unverfügbaren Ent- W Die Wiederholung [1843], GW 4.
scheidung des Einzelnen, die nie allein seine eigene Tat
26  Søren Kierkegaard 275

Kierkegaard, Søren: Kierkegaards Journalaufzeichnungen zu Regehly, Thomas/Schubbe, Daniel (Hg.): Schopenhauer und
Schopenhauer 1854. Übers. von Philipp Schwab. In: Cap- die Deutung der Existenz. Perspektiven auf Phänomenolo-
pelørn/Hühn/Fauth/Schwab 2011, 329–390 [JA]. gie, Existenzphilosophie und Hermeneutik. Stuttgart 2016.
Adorno, Theodor W.: Kierkegaard. Konstruktion des Ästheti- Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung [1921]. Frankfurt
schen [1933]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2. a. M. 1988.
Frankfurt a. M. 1997. Schwab, Philipp: Der Asket im System. Zu Kierkegaards Kri-
Cappelørn, Niels Jørgen: Historical Introduction: When and tik an der Kontemplation als Fundament der Ethik Scho-
Why Did Kierkegaard Begin Reading Schopenhauer? In: penhauers. In: Lore Hühn (Hg. in redakt. Zusammenarb.
Ders./Hühn/Fauth/Schwab 2011, 19–32. mit Philipp Schwab): Die Ethik Arthur Schopenhauers im
Cappelørn, Niels Jørgen/Hühn, Lore/Fauth, Søren/Schwab, Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling).
Philipp (Hg.): Schopenhauer – Kierkegaard. Von der Meta- Würzburg 2006, 321–345.
physik des Willens zur Philosophie der Existenz. Berlin/ Schwab, Philipp: Reduplikation. Zum methodischen Hinter-
Boston 2011. grund von Kierkegaards später Auseinandersetzung mit
Garff, Joakim: Kierkegaard. Biografie. Übers. von Herbert Schopenhauer. In: Cappelørn/Hühn/Fauth/Ders. 2011,
Zeichner/Hermann Schmid. München 2004 [dän. 2000]. 81–102.
Holm, Søren: Schopenhauer und Kierkegaard. In: Schopen- Sørensen, Villy: Schopenhauer og Kierkegaard. In: Ders.:
hauer-Jahrbuch 43 (1962), 5–14. Schopenhauer. Kopenhagen 1969, 101–106 (Nachdr.:
Hühn, Lore: Sinn und Sinnkritik: Kierkegaards Weg zu einer Arthur Schopenhauer. In: Gert Posselt (Hg.): Sørensen om
konkret-maieutischen Ethik. In: Brigitte Hilmer/Georg Kierkegaard. Villy Sørensens udvalgte artikler om Søren
Lohmann/Tilo Wesche (Hg.): Anfang und Grenzen des Kierkegaard. Kopenhagen 2007, 253–258).
Sinns. Weilerswist 2006, 93–105. Viallaneix, Nelly: A. S./S. A.: Schopenhauer et Kierkegaard.
Hühn, Lore: Systematische Einleitung: Schopenhauer und In: Romantisme 32 (1981), 47–64.
Kierkegaard in der philosophiegeschichtlichen Konstella-
tion des Nachidealismus. In: Cappelørn/Dies./Fauth/ Philipp Schwab
Schwab 2011, 1–17.
276 IV Wirkung – A Personen

27 Die ›Schopenhauer-Schule‹ Frauenstädt erzählte, wie er als Student auf Scho-


penhauers Die Welt als Wille und Vorstellung gestoßen
Eine neue Richtung der Schopenhauer-Forschung, die war, indem er das Werk zufällig 1836 zwischen den
ihren Ursprung in den Untersuchungen von Franco Büchern der Königlichen Bibliothek der Universität
Volpi (vgl. 2000, XII) und in der 2005 veranstalteten Berlin fand (vgl. Lindner/Frauenstädt 1863, 134). In
internationalen Tagung »Schopenhauer und die ›Scho- einer seiner Schriften aus dem Jahre 1840 wird Scho-
penhauer-Schule‹« hat, setzt sich das Ziel, nicht nur die penhauer zum ersten Mal als einer der tiefsten Kenner
Schopenhauer-Schule im engeren Sinne zu unter- und Kritiker Kants genannt (vgl. Frauenstädt 1840,
suchen (vgl. Fischer 1934, 103–113), sondern auch die 50–52); 1841 finden wir in einem Artikel einen zwei-
Diskussionen über den in der Vergangenheit geläu- ten Bezug auf den »genialen, tiefsinnigen Schopen-
figen Begriff einer Schopenhauer-Schule im weiteren hauer« (Frauenstädt 1841, 610). Im Juli 1846 stattete
Sinne wieder aufzunehmen (vgl. Fazio/Koßler/Lütke- Frauenstädt Schopenhauer seinen ersten Besuch ab.
haus 2007; Ciracì/Fazio/Koßler 2009; Centro 2009). Bereits im Oktober desselben Jahres war er wieder in
Schopenhauer nannte seine Anhänger, die nicht Frankfurt, wo er bis Ende Februar 1847 blieb: »Diese
über ihn schrieben, »Jünger« oder »Apostel«; »wer für Stunden [schrieb er] muß ich zu den schönsten und
ihn die Feder ergriff, war [hingegen] ein Evangelist« gehaltvollsten meines Lebens rechnen« (Gespr, 94).
(Gespr, 219). Apostel und Evangelisten sind Vertreter Seither war Frauenstädt ein überzeugter Anhänger
dessen, was man als die Schopenhauer-Schule im en- Schopenhauers, ja noch mehr, der fleißigste und ak-
geren Sinne bezeichnen kann und was Schopenhauer tivste Vertreter seiner Schule: 1848 widmete er »dem
selbst als seine Schule betrachtete. Anlässlich des To- großen Meister« das Buch Über das wahre Verhältnis
des Friedrich Dorguths z. B. schrieb Schopenhauer der Vernunft zur Offenbarung (vgl. Frauenstädt 1848,
1855 in einem Brief: »Die Schule hat einen schmerzli- VII), und 1849 veröffentlichte er eine Sammlung der
chen Verlust erlitten« (GBr, 359). Zur Abgrenzung des wichtigsten Urteile seitens der Kritiker über Schopen-
Begriffs ›Schule‹ kann wieder eine Aussage Schopen- hauer (vgl. Frauenstädt 1849); 1852 publizierte er
hauers angeführt werden. 1852 schrieb er nämlich, auch eine Rezension zu den Parerga (vgl. Frauenstädt
dass er »nur wenige Apostel« hatte, und von denen, 1852); 1854 schrieb er dann seine Briefe über die Scho-
die sich »bis jetzt zu [ihm] bekannten, nur 7« (GBr, penhauer’sche Philosophie mit dem Ziel, die Lehre
287). Zu ihnen gehörte der Magdeburger Justiz- und Schopenhauers auch dem großen Leserpublikum na-
Oberlandgerichtsrat Friedrich Dorguth (1776–1854), hezubringen. Auch nach dem Tod des Meisters bra-
der erste Anhänger Schopenhauers, der ihm zwischen chen seine Bemühungen, Schopenhauers Gedanken
1843 und 1852 eine Reihe von Schriften widmete (vgl. zu verbreiten, nicht ab: Ihm verdanken wir denn auch
Dorguth 1843; 1845; 1852), was ihm den Ehrentitel die erste Ausgabe des Nachlasses (Frauenstädt 1864),
»Urevangelist« einbrachte. das erste Schopenhauer-Lexikon (Frauenstädt 1871)
Ab 1844 zählte noch ein anderer Jurist zu den An- und die erste Gesamtausgabe (Frauenstädt 1873–
hängern Schopenhauers, nämlich Johann August Be- 1874). Zusätzlich zum bereits genannten, mit Lindner
cker (1803–1881). Sein Briefwechsel mit ihm (vgl. herausgegebenen Titel vom Jahre 1863 schrieb Frau-
Deussen 1911–1942, Bd. 15), ist vom philosophischen enstädt noch zwei weitere Werke: die Anthologie Ar-
Standpunkt aus sehr wichtig, weil die Fragen und Ein- thur Schopenhauer. Lichtstrahlen aus seinen Werken
wände, die Becker gegen Schopenhauer erhob, scharf (1862) und den zweiten Band der Briefe über Scho-
und tiefsinnig sind (s. Kap. 10.4). Daher nannte ihn penhauers Lehre Neue Briefe über die Schopenhau-
Schopenhauer seinen »gelehrtesten Apostel« (Gespr, er’sche Philosophie (1876).
218) und forderte ihn erfolglos dazu auf, sein aktiver Der vierte Anhänger Schopenhauers, der ihn 1849
»Evangelist«, ja sogar »der eigentliche kanonische erstmals traf und der sein »Apostel Johannes« (GBr,
Evangelist« zu werden (GBr, 337). 362) werden sollte, war Adam von Doß (1820–1873).
Die Freundschaft mit Julius Frauenstädt (1813– Auch er war Jurist und hatte 1846 Die Welt als Wille
1879) begann um 1846; anfangs betrachtete ihn und Vorstellung zufällig entdeckt. Drei Jahre später be-
Schopenhauer als seinen »apostolus activus, militans, schloss er, nach Frankfurt zu reisen, um Schopenhau-
strenuus et acerrimus« (GBr, 230), nach der Veröffent- er persönlich kennenzulernen. Ihn nannte Schopen-
lichung der Briefe über die Schopenhauer’sche Philoso- hauer den »tiefsinnigen Apostel in München« (Gespr,
phie (1854) ehrte er ihn mit der Bezeichung »Erz-­ 218) und als ihm von Doß 1852 einen achtseitigen
Evangelist« (GBr, 328). Brief über seine Philosophie sandte – »das lange apos-
27  Die ›Schopenhauer-Schule‹ 277

tolische Sendschreiben«, wie ihn Schopenhauer nann- Martin Emden (1858 verstorben); aber wenn dem so
te (GBr, 287) –, versuchte er erfolglos, ihn dazu zu be- wäre, so müsste man ihn als den ersten Schopenhauer-
wegen, doch der Gruppe der Evangelisten beizutreten. Schüler betrachten, da doch die Freundschaft mit dem
Noch im Jahr darauf bezeichnete ihn Schopenhauer Philosophen bis in die zweite Hälfte der dreißiger Jah-
folgendermaßen: »mein alter Apostel, dem zum Evan- re zurückgeht. Aus dem Wenigen, was bekannt ist,
gelisten nichts als die Courage fehlt« (GBr, 318). geht hervor, dass er die Entwicklung von Schopenhau-
Der fünfte Schopenhauer-Schüler war der Berliner ers Philosophie mit großer Aufmerksamkeit verfolgte
Ernst Otto Lindner (1820–1867), der den Titel »Doc- und dem Philosophen mit rechtlicher Beratung zur
tor infatigabilis [bekam] nach Analogie der Scholasti- Seite stand.
ker, welche sich Dr. angelicus, Dr. subtilissimus, Dr. ir- Mit der Veröffentlichung der Parerga und Paralipo-
refragabilis, Dr. resolutissimus u. s. w. nannten« (GBr, mena begann eine neue Phase der Verbreitung von
316). Im Jahre 1851 waren ihm die Parerga und Parali- Schopenhauers Lehre, die plötzlich weithin geschätzt
pomena in die Hände gefallen und im Sommer 1852 wurde. Nach 1852 stießen neue Anhänger zur Schule.
machte er Schopenhauers persönliche Bekanntschaft. Darunter waren Wilhelm Gwinner, David Asher und
Eine kurze lesenswerte Beschreibung Lindners findet Carl Georg Bähr. Ein besonderer Fall war hingegen Ju-
sich in einem Brief Schopenhauers vom Juni 1853: lius Bahnsen (1830–1881), der Schopenhauer zwar
persönlich kennengelernt hatte und mit ihm einen re-
»Dr. Lindner ist ein sehr junger Mann, der sich als Pri- gen Briefkontakt pflegte, jedoch eher als Fortführer
vatdocent der Philosophie in Breslau habilitirt hatte, denn als »Apostel« oder gar »Evangelist« betrachtet
aber dem sein jus legendi sogleich wieder entzogen werden muss; er gehörte also zur Schopenhauer-Schu-
wurde, wegen seines Mangels an christlich religiöser le im weiteren Sinne (s. Kap. 28).
Gesinnung: darauf ist er Mitredakteur der Vossischen Wilhelm von Gwinner (1825–1917) hatte 1845 be-
Zeitung geworden. Nachdem er mich vor einem Jahr gonnen an der Universität Tübingen Philosophie und
besucht hat, ist er nicht nur ein eifriger Apostel, son- Jura zu studieren und war zuerst ein Anhänger Schlei-
dern auch ein tätiger Evangelist meiner Lehre gewor- ermachers und Baaders. 1847 hatte er die Gelegenheit,
den, indem er sie bereits in mehreren Aufsätzen in sei- in einem Restaurant Schopenhauers Beweis der Gül-
ner Zeitung celebrirt hat« (GBr, 314). tigkeit des ›Identitäts- und Widerspruchsprinzips‹ zu
hören: Es schien ihm, »als sprach’ er mit seiner Gelieb-
Als tätiger »Evangelist« veröffentlichte Lindner nicht ten von der Liebe« (Gespr, 380). Erst im April des Jah-
nur zahlreiche Artikel (vgl. Lindner 1853b; 1854; res 1854 bat er den Weisen von Frankfurt um eine
1855), sondern auch die deutsche Fassung von John Sprechstunde, »um ihn zu sehen und zu kennen«
Oxenfords Artikel Iconoclasm in German Philosophy (GBr, 338). Ab 1857 wurde seine Beziehung zu Scho-
und zwar mit dem Titel Deutsche Philosophie im Aus- penhauer enger und nach Emdens Tod ernannte ihn
lande (Lindner 1853a). Schopenhauer zu seinem Testamentsvollstrecker. Ihm
Der sechste Schüler ist höchstwahrscheinlich der verdanken wir die erste Biographie Schopenhauers
Bankangestellte August Gabriel Kilzer (1798–1864), (vgl. Gwinner 1862), die Frauenstädts und Lindners
der im April 1852 eine sehr positive Rezension der polemischen Protest (vgl. Lindner/Frauenstädt 1863)
Parerga und Paralipomena veröffentlichte (vgl. Kilzer auslöste. Die Tatsache, dass ihn Schopenhauer jedoch
1852). Über ihn schrieb Schopenhauer Anfang Sep- zu seinem Testamentsvollstrecker gewählt hat, ist für
tember 1852 in einem Brief: »Der neue Apostel, ja (als die enge Beziehung zwischen den beiden derart be-
Verfasser des kleinen Artikels in der Didaskalia) an- zeichnend, dass wir keiner anderen Beweise bedürfen,
gehende Evangelist Kilzer ist wirklich ein überlegener um Gwinner als Mitglied der Schopenhauer-Schule
Kopf, und jammerschade, dass er kein Gelehrter ist« im engen Sinne zu betrachten. Von ihm könnte man
(GBr, 294). Obwohl Kilzer sich weiterhin der Verbrei- sogar sagen, dass er Schopenhauers posthumer, ja
tung von Schopenhauers Lehre auch über dessen Tod apokrypher »Evangelist« gewesen ist.
hinaus gewidmet hat (vgl. Kilzer 1854; 1860a; 1860b), Der Sprachlehrer David Asher aus Leipzig (1818–
kann man sagen, dass er lediglich ein »angehender 1890) besuchte 1854 Schopenhauer zum ersten Mal
Evangelist« geblieben ist. und veröffentlichte danach eine begeisterte Beschrei-
Was hingegen den siebten Apostel betrifft, darüber bung jenes Treffens (vgl. Asher 1854). So trat er dem
können nur Vermutungen angestellt werden. Viel- engeren Kreise seiner Schüler bei und leistete seinen
leicht handelt es sich um den Frankfurter Anwalt Beitrag zur Verbreitung dessen Lehren, unter ande-
278 IV Wirkung – A Personen

rem mit einem offenen Brief, den er 1855 veröffent- grund des unbestreitbaren Werts seines Buchs ver-
lichte (vgl. Asher 1855) und der ihm den Titel »neues dient hätte.
Apöstelchen« (GBr, 382) einbrachte. 1856 ließ er ei- Nach Schopenhauers Tod begann die Diskussion
nen Aufsatz über Schopenhauer’s Ansicht über Musik darüber, ob es neben einer Schopenhauer-Schule im
drucken (vgl. Asher 1871), den Schopenhauer lobte engen Sinne auch eine Schopenhauer-Schule im wei-
(vgl. GBr, 405). Noch im selben Jahr nahm Asher die teren Sinne gebe, also eine Gruppe von Denkern, die
Feder in die Hand, um den Vorrang Schopenhauers zwar keine direkten Anhänger des Frankfurter Phi-
gegenüber Schelling in Bezug auf den Begriff des Wil- losophen gewesen waren, sich jedoch verschiedent-
lens zu bekräftigen (vgl. Asher 1856). 1857 und 1858 lich durch seine Lehre inspirieren ließen und selbst-
veröffentlichte er zwei Artikel, in denen er die Konver- ständige, ja manchmal originelle Denkrichtungen
genz zwischen Schopenhauers Lehre und der Lehre entwickelten. Der Dichter und Dramaturg Hans Her-
des Judentums zu beweisen versuchte (vgl. Asher rig stellte 1872 erstmals die Frage und platzte damit
1857; 1858). Aber nicht einmal das 1859 erschienene mitten in die rege Diskussion um den philosophi-
Büchlein, in dem Asher den Namen Schopenhauers schen Pessimismus, die seit der 1869 erfolgten Ver-
mit demjenigen des großen Goethe in Verbindung öffentlichung der Philosophie des Unbewussten von
setzte (vgl. Asher 1859), trug ihm seitens des Meisters Eduard von Hartmann (1842–1906) in Deutschland
den Ehrentitel »Evangelist« ein, den er doch eigentlich im Gange war. Mit seinem Artikel wollte Herrig so-
verdient hatte. In ihm sah Schopenhauer vielmehr den wohl die Einseitigkeit einer aus pessimistischer Sicht
ersehnten Übersetzer seiner Werke ins Englische. So erfolgten Auslegung von Schopenhauers Lehre unter-
schrieb er 1859 an ihn: »I see in you the future rare and streichen als auch die Fruchtbarkeit und Aktualität
unparalleled translator of my works, it’s for that you von dessen Überlegungen hervorheben, die auf sehr
have come into the world. Believe me, it’s so« (GBr, verschiedene Arten weiterentwickelt werden konnten.
439). Auch nach Schopenhauers Tod führte Asher sei- Dazu musste Herrig jedoch beweisen, dass Hartmann
ne literarische Tätigkeit fort, aber dessen Werke über- nicht der einzige war, der Schopenhauers Lehre wei-
setzte er nie ins Englische. terführte, und dass Schopenhauer eine regelrechte
Der in der zeitlichen Folge zuletzt zu Schopenhauer Schule gegründet hatte (vgl. Herrig 1894). Zu ihr ge-
gestoßene »Apostel« Carl Georg Bähr (1833–1893) hörte z. B. Julius Bahnsen, der Autor der 1867 erschie-
war auch Anwalt. Nachdem er sich in Leipzig für das nenen Beiträge zur Charakterologie.
Fach Jura immatrikuliert hatte, begann er das Bedürf- Vier Jahre nach der Veröffentlichung von Herrigs
nis nach einer philosophischen Ausbildung zu spüren Schrift vom Jahr 1872 wurde die Diskussion um das
und nahm deshalb an den Diskussionsrunden über Bestehen der Schopenhauer-Schule lato sensu vom
die neuen philosophischen Systeme teil, die der Schel- Neukantianer Hans Vaihinger in dem 1876 erschiene-
lingianer Hermann Weiße in einem kleinen Kreis aus- nen Band Hartmann, Dühring und Lange wieder auf-
gesuchter Studenten organisierte. Auf Anfrage Bährs genommen. Während Vaihinger einerseits die Exis-
hatte im Wintersemester 1854/55 in der Leipziger Phi- tenz einer Schopenhauer-Schule als geschlossener
losophischen Gesellschaft ein Streitgespräch über Einheit, deren Leiter Hartmann sein sollte, verneinte,
Schopenhauers System stattgefunden: Kurze Zeit da- erhob er andererseits den Anspruch, mit den übrigen
rauf schrieb die Philosophische Fakultät der Univer- Neukantianern das fruchtbarste Erbe von Schopen-
sität eine Preisfrage über Schopenhauers Philosophie hauers Lehre zu repräsentieren.
als Thema aus. Bähr, der Schopenhauer im April 1856 Im darauffolgenden Jahr antwortete Hartmann auf
persönlich hatte kennenlernen können, reichte eine Vaihingers Aussagen mit dem Buch Neukantianismus,
tiefgründige Arbeit mit dem Titel Die Schopenhau- Schopenhauerismus und Hegelianismus, in dem er ne-
er’sche Philosophie in ihren Grundzügen ein, in der ben der Hegel-Schule von der Existenz einer »Schule
Schopenhauer als der wichtigste und originellste Schopenhauer’s« (Hartmann 1877, III) ausging. Als
Nachfolger Kants dargestellt wurde. Auf Vorschlag der originellste Vertreter war dabei nicht so sehr Frau-
Schopenhauers wurde Bährs Arbeit 1857 in Dresden enstädt (dessen grundlegendes Verdienst es doch ge-
veröffentlicht (vgl. Bähr 1857) und erhielt dessen be- wesen sei, zur Verbreitung der Lehre Schopenhauers
geisterte Glückwünsche: »Sie haben mehr Kantische beigetragen und sie dem Volk näher gebracht zu ha-
Philosophie inne, als 6 Professoren zusammengenom- ben), sondern vielmehr Julius Bahnsen erwähnt: Die-
men« (GBr, 408). Und trotzdem ehrte Schopenhauer ser stelle nämlich »das einzige Talent der Schopenhau-
Bähr nie mit dem Titel »Evangelist«, den er doch auf- er’schen Schule« (ebd., 13) dar.
27  Die ›Schopenhauer-Schule‹ 279

In den Streit um die Existenz einer Schopenhauer- Wenn man heute von einer Schopenhauer-Schule im
Schule mischte sich 1881 Hartmanns Schülerin Olga weiteren Sinne sprechen will, sollte man sie nicht als
Plümacher mit der Schrift Zwei Individualisten der einen homogenen Block von Denkern darstellen. Man
Schopenhauer’schen Schule wieder in die Diskussion muss eher über Unterscheidungen als über Analogien
ein. In deren Titel sind einerseits Philipp Mainländer verfahren; so zählen zur Schopenhauer-Schule im
(1841–1876) (s. Kap. 28), der 1876 sein Werk Philoso- weiteren Sinne die Philosophen und Gelehrten, die
phie der Erlösung veröffentlicht hatte, und andrerseits durch Schopenhauer in unterschiedlicher Hinsicht in-
Baron Paczolay Lazar Hellenbach gemeint. spiriert wurden: erstens die, welche eine neue, an der
Olga Plümacher wollte auf diese Weise die von Her- Lehre Schopenhauers orientierte Metaphysik aufbau-
rig und Vaihinger aufgeworfene Frage beantworten, ten, zweites die, welche einige wesentliche Aspekte des
ob es eine Schopenhauer-Schule gebe oder nicht: Schopenhauerschen Denkens originell entwickelten,
drittens die, welche in der Schopenhauer-Forschung
»Wir fassen den Begriff der Schule im weitesten Sinne arbeiteten, um die Lehre des Philosophen zu behaup-
und verstehen unter den Schopenhauerianern nicht ten, zu verbreiten und zu verteidigen. Dieser Dreitei-
sowohl solche, deren Geist beim Meister Ruhe und lung entspricht die Klassifizierung, die seit kurzem
bleibende Rast gefunden, als vor allem diejenigen, die aufgeworfen wurde (vgl. Centro 2009) und die die
von ihm aus ihren Ausgang genommen; und es er- »Metaphysiker«, die »Ketzer« und die »Gründungs-
scheinen uns die Schopenhauerianer um so interes- väter« der Schopenhauer-Forschung und der Scho-
santer, je mehr der Zweifel berechtigt scheint, ob man penhauer-Gesellschaft unterscheidet.
sie überhaupt noch als solche bezeichnen dürfe« (Plü- Zur ersten Gruppe, die man auch die Schule des Pes-
macher 1881, 2). simismus nennen kann, gehören der Denker der Real-
dialektik, Julius Bahnsen (vgl. 1880–1882), der Philo-
Daher erachtete Plümacher sowohl Mainländer als soph des Unbewussten, Eduard von Hartmann (vgl.
auch Hellenbach für regelrechte Schopenhauerianer, 1873), und der Theoretiker der Erlösung des Willens
und zwar gerade weil sie eine originelle und un- durch die Keuschheit, Philipp Mainländer (vgl. 1996).
abhängige Sicht von der Lehre des Meisters ent- In die zweite Gruppe kann man den großen ›Ket-
wickelt hatten. Viel weniger interessant waren in ih- zer‹ der Schopenhauer-Schule Friedrich Nietzsche
ren Augen dementsprechend Frauenstädt, den sie für (1844–1900) einordnen, der Schopenhauer als »einen
einen einfachen Verbreiter hielt, und Paul Deussen Lehrer und Zuchtmeister, dessen ich mich zu rühmen
mit seinem zwar Schopenhauers Lehre treuen, je- habe« bezeichnete (Nietzsche 1999, 341). Dabei darf
doch umso unkritischeren Werk Elemente der Meta- man auch Folgende nicht außer Acht lassen: den Phi-
physik (vgl. Deussen 1877). Zu den Vertretern der losophen, Arzt und Philanthropen Paul Rée (1849–
Schopenhauer-Schule zählte die Autorin auch Fried- 1901), der den Schopenhauerschen Begriff des Mit-
rich Nietzsche (s. Kap. 30), der Schopenhauers Lehre leids in eine philanthropische Tätigkeit konsequent
in einer »skeptischen Richtung« (Plümacher 1881, 3) umsetzte (vgl. Fazio 2005); den Sozialphilosophen
entwickelt habe, und Julius Bahnsen, der für sie ein Georg Simmel (1858–1918), der Schopenhauer als Le-
»origineller Philosoph und philosophischer Sonder- bensphilosoph deutete (vgl. Simmel 1918; s. Kap. 32);
ling« (ebd., 4) war. den Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialfor-
Zwei Jahre später griff Eduard von Hartmann per- schung Max Horkheimer (1895–1973), dessen Kriti-
sönlich mit einem Artikel über Die Schopenhauer’sche sche Theorie von Schopenhauer und Marx entschei-
Schule in die Debatte ein. Dort schrieb Hartmann: dend beeinflusst wurde (vgl. Horkheimer 1972, 162;
s. Kap. 42) und der die ›linksgerichtete‹ Interpretation
»Es ist begreiflich, daß die Schopenhauer’sche Philoso- der Philosophie Schopenhauers begründete (vgl.
phie [...] außer Stande war, eine Schule im engeren Sin- Horkheimer 1961), die Alfred Schmidt (1931–2012)
ne zu begründen, was ihr außerdem auch durch den weitergeführt hat (vgl. Schmidt 1977; 1989; s. Kap. 42).
Mangel einer persönlichen Lehrtätigkeit ihres Urhe- Aus der dritten Gruppe, der die Gründungsväter
bers erschwert war. [...] Wohl aber kann man von einer der Schopenhauer-Forschung und der Schopenhauer-
Schopenhauer’schen Schule im weiteren Sinne reden, Gesellschaft angehören, muss man den Philosophen
wenn man alle von Schopenhauer ausgegangenen und Indologen Paul Deussen (1845–1919) erwähnen,
Versuche einer Umbildung seiner Philosophie darun- der die Lehre Schopenhauers mit der christlichen
ter befaßt« (Hartmann 1885, 39). Ethik und der Philosophie Indiens zu versöhnen ver-
280 IV Wirkung – A Personen

suchte (vgl. Deussen 1877) und 1911 die Schopenhau- Ciracì, Fabio: Verso l’assoluto nulla. La Filosofia della reden-
er-Gesellschaft gründete, sowie die Präsidenten der zione di Philipp Mainländer. Lecce 2006.
Schopenhauer-Gesellschaft, die der Schopenhauer- Ciracì, Fabio: In lotta per Schopenhauer. La »Schopenhauer-
Gesellschaft« fra ricerca filosofica e manipolazione ideo-
Forschung besondere Impulse gegeben haben, wie logica. 1911–1948. Lecce 2011.
Hans Zint (1882–1945), Arthur Hübscher (1897– Ciracì, Fabio/Fazio, Domenico M./Koßler, Matthias (Hg.):
1985) und Rudolf Malter (1937–1994) (vgl. Hansert Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule. Würzburg
2011; Ciracì 2011). 2009.
Endlich muss man an eine Gruppe von Denkerin- Deussen, Paul: Elemente der Metaphysik. Aachen 1877.
Deussen, Paul (Hg.): Arthur Schopenhauers Sämtliche Werke.
nen, die durch Schopenhauer inspiriert wurden, er-
16 Bde. Leipzig 1911–1942. Bd. XIV, XV, XVI.
innern (vgl. Fazio 2011): nämlich die Frauen der Scho- Dorguth, Friedrich: Die falsche Wurzel des Ideal-Realismus.
penhauer-Schule. Es handelt sich um die deutsch-eng- Magdeburg 1843.
lische Schriftstellerin Helen Zimmern, die Schopen- Dorguth, Friedrich: Schopenhauer in seiner Wahrheit. Mag-
hauer in England eingeführt hat (vgl. Zimmern 1876), deburg 1845.
die bereits genannte Olga Plümacher (1837–1900?), Dorguth, Friedrich: Vermischte Bemerkungen über die Phi-
losophie Schopenhauers. Ein Brief an den Meister. Magde-
die die erste Historikerin der Schopenhauer-Schule burg 1852.
war, die radikale Feministin Helene von Druskowitz Druskowitz von, Helene: Wie ist Verantwortung und Zurech-
(1856–1918), die 1887 eine Schrift über die Begriffe nung ohne Annahme der Willensfreiheit möglich? Heidel-
von Verantwortung und Zurechnung veröffentlichte, berg 1887.
welche eine ausgesprochene Schopenhauersche Ten- Fazio, Domenico M.: Paul Rée. Philosoph, Arzt, Philanthrop.
München 2005.
denz offenbart (vgl. Druskowitz 1887), und schließlich
Fazio, Domenico M.: Einleitung. Die »Schopenhauer-
die Wiener Schriftstellerin, Kulturphilosophin, Male- Schule«. Zur Geschichte eines Begriffs. In: Ciracì/Ders./
rin und Vertreterin der Frauenbewegung Rosa Mayre- Koßler 2009, 15–41.
der (1858–1938) (vgl. Mayreder 1988, 171 f.). Fazio, Domenico M.: Richard Wagner und die Frauen der
Schopenhauer-Schule. In: Schopenhauer-Jahrbuch 92
Literatur (2011), 203–222.
Asher, David: Ein Besuch bei Schopenhauer. In: Unterhal- Fazio, Domenico M./Koßler, Matthias/Lutkehaus, Lüdger:
tungen am häuslichen Herd (1854), 27–30. Arthur Schopenhauer e la sua scuola. Lecce 2007.
Asher, David: Offenes Sendschreiben an den hochgelehrten Fischer, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre
Herrn Dr. Arthur Schopenhauer. Leipzig 1855. [1893]. In: Geschichte der neueren Philosophie. Bd. IX. Hei-
Asher, David: Nochmals Schelling und Schopenhauer. In: delberg 1934.
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haltung (1857), 955–957. Krause’schen Philosophie. In: Hallische Jahrbücher (1841),
Asher, David: Lewes und Schopenhauer über den Charak- 609–620.
ter. In: Blätter für litterarische Unterhaltung (1858), 591– Frauenstädt, Julius: Über das wahre Verhältnis der Vernunft
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the’schen Faust. Ein Erläuterungsversuch des ersten Theils für litterarische Unterhaltung (1849), 1105–1107; 1109–
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In: Ders.: Arthur Schopenhauer. Neues von ihm und über und Paralipomena. In: Blätter für litterarische Unterhal-
ihn. Berlin 1871, 43–64. tung (1852), 196–202.
Bähr, Carl Georg: Die Schopenhauer’sche Philosophie in ihren Frauenstädt, Julius: Briefe über die Schopenhauer’sche Phi-
Grundzügen dargestellt und kritisch beleuchtet. Dresden losophie. Leipzig 1854.
1857. Frauenstädt, Julius: Arthur Schopenhauer. Lichtsrahlen aus
Bahnsen, Julius: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer seinen Werken. Leipzig 1862.
Berücksichtigung pädagogischer Fragen. 2 Bde. Leipzig Frauenstädt, Julius (Hg.): Arthur Schopenhauer’s hand-
1867. schriftlicher Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Apho-
Bahnsen, Julius: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der rismen und Fragmente. Leipzig 1864.
Welt. Prinzip und Einzelbewährung der Realdialektik. Frauenstädt, Julius: Schopenhauer-Lexikon. 2 Bde. Leipzig
2 Bde. Leipzig 1880–1882. 1871.
Centro interdipartimentale di ricerca su Arthur Schopen- Frauenstädt, Julius (Hg.): Arthur Schopenhauer’s sämtliche
hauer e la sua scuola dell’Università del Salento: La scuola Werke. 6 Bde. Leipzig 1873–1874.
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27  Die ›Schopenhauer-Schule‹ 281

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Kilzer, Agust Gabriel: Arthur Schopenhauer. Ein Wort zu Metaphysik der Entropie. Berlin 2000, IX–XV.
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Lindner, Ernst Otto: Deutsche Philosophie im Auslande. In losophy. London 1876.
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Lindner, Ernst Otto: Eine Lösung. In: Vossische Zeitung Domenico M. Fazio
(23. April 1853b).
282 IV Wirkung – A Personen

28 Voluntarismus im Anschluss an higkeit, sein innerstes Wesen zu entdecken und zu be-


Schopenhauer: Philipp Main- merken, dass es sich in Gefühl und Selbstbewusstsein
unterscheidet. Die Vorstellung gerinnt zum unbewuss-
länder, Julius Bahnsen, Eduard ten ›Werk des Geistes‹ und wird erst bewusst, wenn die
von Hartmann Beziehung zum Gefühl oder zum Selbstbewusstsein
wahrgenommen wird. Mainländer fasst deshalb den
Philipp Mainländer
Begriff des Willens als einen individuellen, weil er sich
Philipp Mainländer (1841–1876) gilt als Hauptpro- nur als fühlend und erkennend seiner selbst bewusst
tagonist der Schule Schopenhauers. Seine Philosophie wird. Er bestimmt am Ende in seiner postkantischen
der Erlösung modifiziert Schopenhauers Willensmeta- und an Schopenhauer angelehnten Erkenntnistheorie
physik zu einer individualistischen Metaphysik der apodiktisch: Das Ding an sich ist ein Individuelles, das
Entropie, die in eine transkulturelle Soteriologie aus- Wahrnehmende ein Subjektives.
läuft. Eine strukturelle Anlehnung an Schopenhauers Dieser individuelle Wille, welcher durch eine so-
Hauptwerk ist nicht nur wegen der Darstellung der genannte Kraftsphäre mit den unzähligen Individua-
Philosophie der Erlösung in zwei Bänden und der tionen interagiert und wirkt, ist nach Mainländer
diesbezüglichen Kapitelaufteilung ersichtlich. Vor al- Produkt eines Übergangs von einer transzendenten
lem die Grundbegriffe der Mainländerschen Philo­ Einheit zu einer immanenten Vielheit. Deren »Um-
sophie, seine Fragestellungen und philosophiege­ wandelung des Wesens« (M I, 89) bestand in ihrem
schichtlichen Wurzeln orientieren sich an jenen Scho- Untergang und ermöglichte, dass ein Diesseits der
penhauers – und Kants. Die ausdrücklichen Verweise Vielheit existiert. Mainländers ›wissenschaftliche Be-
auf seine Vor-Denker (vgl. M[ainländer] I, 361 f.; M II, gründung des Atheismus‹ verzichtet zwar nicht auf ei-
242) und deren Einflüsse auf seinen philosophischen nen Gottes-Begriff, lässt diesen aber als Transzendenz
Pessimismus überdecken jedoch nicht die grund- eine Entscheidung fällen und »als erste und einzige
legenden Modifikationen, die die Philosophie Scho- That der einfachen Einheit« (M I, 321) die Entstehung
penhauers (und Kants) durch Mainländer erfahren: der Welt mit dem Tod Gottes koinzidieren. Aus die-
explizit der Begriff des Willens und dessen metaphysi- sem Kontext der Thanatologie Gottes geht Mainlän-
sche Relevanz, die Bedeutung der Ethik und ihre ge- ders Zentralthese hervor, die dann unter dem Namen
schichtsphilosophische Implikation sowie die Um- des Mainländer-Lesers Friedrich Nietzsche mit der
deutung der Schopenhauerschen Willensverneinung kupierten Variante ›Gott ist tot‹ in der Philosophie-
zu einer individualistischen Eschatologie. geschichte reüssierte: »Gott ist gestorben und sein Tod
Mainländers Willensbegriff wirkt auf den ersten war das Leben der Welt« (M I, 108). Im Unterschied zu
Blick identisch mit dem Schopenhauers. Es ist ebenso Nietzsche, dessen Gott von den Menschen ›getötet‹
vom Willen zum Leben, vom Willen als Ding an sich, wurde, erledigt das bei Mainländer die Transzendenz
von Wille und Erkenntnis oder von der Objektivation selbst, da nichts weiter als diese vorweltliche Einheit
des Willens die Rede. Außerdem ist jener die zentrale existierte. Über das Motiv, so ist sich Mainländer be-
Stütze in der Philosophie Mainländers. Im Unter- wusst, können wir nichts wissen. Deshalb fasst Main-
schied zu Schopenhauer kommt Mainländer jedoch länder die Dezision der Transzendenz auf, als ob sie
nicht im Anschluss an metaphysische Fragestellungen eine motivierte Handlung – gewesen – sei. Der vor-
zu seinem Willensbegriff, sondern er sieht ihn aus sei- weltlichen All-Einheit wird die Erkenntnis unterstellt,
ner transzendentalen Analyse hervorgehen. Danach dass sie nur über den Zerfall in die reale Welt der Viel-
ist der Mainländersche ›individuelle‹ Wille Ausdruck heit »aus dem Übersein in das Nichtsein treten kön-
einer Entwicklung, die sich als bewegender Wille zum ne« (M I, 325). Jegliches universelle Sein ist demzufol-
Leben erfährt, aber ihre Ursache im ›Willen zum Tode‹ ge »Mittel zum Zwecke des Nichtseins«, und die Welt
hat. Im Gegensatz zu Schopenhauer leitet Mainländer ist »das einzig mögliche Mittel zum Zweck« (ebd.). Da-
den Willen zum Leben nicht aus der erscheinenden nach vollziehen alle individuellen Willen durch ihre
Natur oder Lebenswelt ab, sondern führt ihn als reale Existenz den vorweltlichen Impuls. Alles in der Welt
Individualität ein, die aufgrund des Gefühls über die ist Wille zum Tode, obzwar er »mehr oder weniger
Wirksamkeitssphäre der selbstbewussten Kraft er- verhüllt, als Wille zum Leben auftritt« (M I, 334). Mit
kennbar wird. Diese Kraft wirkt im Individuum und Schopenhauers Naturphilosophie wäre diese Meta-
ermöglicht den Drang zum Dasein und das Verharren physik der Entropie nicht zu begründen. Allerdings
in ihm. Das Bewusstsein gibt dem Menschen die Fä- lassen sich im 20. Jahrhundert die Chaos- und Entro-
28  Voluntarismus im Anschluss an Schopenhauer 283

pie-Theorie sowie die Kosmologie des ›Urknalls‹ mit als erster abendländischer Philosoph buddhistisches
Mainländers Naturphilosophie grundieren. Denken in seine Philosophie und verspleißte es mit
Auch Mainländers Morallehre entwickelte sich christlichen Grundideen zu einer transkulturellen So-
hauptsächlich vor dem Hintergrund der Schopenhau- teriologie. Diese gipfelt in dem Resümee, dass »das
erschen Problematisierung der Willensfreiheit (libe- Himmelreich nach dem Tode, Nirwana und das absolu-
rum arbitrium indifferentiae) und der gemeinsamen te Nichts Eines und dasselbe« (M I, 620) sei.
Ablehnung der Pflichtenlehre Kants. Seine Aussagen Dabei ist der Erkenntnisakt der Vernunft keinesfalls
stützen sich hier allerdings »nur auf Daten der Erfah- ein freier, sondern er entspringt ebenso der ersten Be-
rung, auf die Natur allein« (M I, 529). In Auseinander- wegung, der Mainländer als einziger Freiheit zubilligt.
setzung mit Schopenhauers Mitleidspostulat entwirft So ist selbst das »befreiende Princip« der Vernunft mit
Mainländer dann seine Eudämonologie. Deren Hand- Notwendigkeit geworden und wirkt mit Notwendig-
lungen können, müssen aber nicht aus Mitleid gesche- keit: »In der Welt ist kein Platz für die Freiheit« (M I,
hen. Indem wir den Leidenden leidlos machen, befrei- 106). Da diese Welt als ein Produkt einer transzenden-
en wir uns vom empfundenen Mitleid. Es ist mithin ten Einheit gilt, die den Weg zum Nichtsein als Zweck
eine gewöhnliche Handlung aus Egoismus, weil das ihres Daseins innehat, sind demnach alle Handlungen
Motiv das Befreien vom eigenen empfundenen Leid für Mainländer moralisch oder ethisch begründet, die
ist. Das Individuum »hilft sich im wahren Sinne des dem Willen die Erlösung im Nichtsein ermöglichen.
Wortes selbst, ob es gleich dem Anderen hilft; denn Die sich daraus ergebenden geschichtsphilosophi-
nur indem es dem Anderen hilft, kann es sich selbst schen Implikationen als Vorstufe zur Erlösung (Entste-
helfen« (M I, 570). Obwohl ein ›barmherziger‹ oder hung des idealen Staates u. a. durch Aussöhnung von
»guter Wille« (M I, 573) durchaus moralischen Hand- Kapital und Arbeit und der Lösung der sozialen Frage
lungen zugrunde liegen kann, ist er nach Mainländer durch allgemeine Bildung und freie Schulen) stehen
nicht konstitutiv. Dessen Moralbegründung sieht also ebenso in einem krassen Gegensatz zu Schopenhauers
nicht vom Egoismus ab, sondern wird auf diesen zu- Ansichten über den Staat, geben aber die Folie ab, vor
rückgeführt. deren Hintergrund sich das – philosophische – Kon-
Mainländer schaltet das Mitleid nicht ganz aus der zept einer ›Schopenhauerschen Linken‹ (Ludger Lüt-
Ethik aus. Braucht er es doch als eine Art Sekundärtu- kehaus) entwickelte. Lässt Schopenhauer eine causa fi-
gend, deren Ausführung und Verbreitung im Sinne nalis offen, steht sie für Mainländer unumstößlich fest.
des höchsten Gebotes – das Streben zum Nichtsein – Das Streben nach Erlösung vom Sein gilt allerdings
wirksam sein kann. Es ist weder Ursprung noch beiden Voluntaristen als unbestritten.
Zweck ethischen Handelns, sondern nur Mittel. Main- Basiert auf dem soteriologischen Element nach
länder sieht demzufolge »die Schopenhauer’sche Ethik, Mainländer überhaupt die Entstehung der Welt als
wie die Kantische, trotz allen energischen Protesten, Selbsterlösung der transzendenten Einheit, so ist für
auf dem Egoismus aufgerichtet« und sein Fazit fällt Schopenhauer Erlösung nur möglich über die Selbst-
entsprechend klar aus: »es giebt nur egoistische Hand- verneinung des Willens zum Leben, als ›Aufhebung
lungen« (M I, 572). und Selbstverneinung‹. Demzufolge kann sich der
Nicht Mitleid, sondern Erkenntnis liegt Mainlän- Wille als Ding an sich nur als Akt der Freiheit selbst
ders Ethik zugrunde. Sie ermöglicht dem Menschen die negieren – in der Erscheinung nur als Heilige und As-
Einsicht, dass das Leben Leid und das Sein fortwähren- keten erkennbar. Diesem ›großen Mysterium der
de Qual ist. Der Mainländer-Kenner Friedrich Nietz- Ethik‹ stellt Mainländers Soteriologie ebenfalls eine
sche sah ebenfalls die außergewöhnliche Rolle, welche Selbstverneinung eines Willens zum Leben gegen-
die Erkenntnis spielt. In einem Nachlaß-Fragment von über. Allerdings ist es der Wille einer Individuation, in
Ende 1876 reflektiert er über den »Ersatz der Religion« der Transzendenz und Erscheinung identisch sind.
und negiert die diesbezügliche Rolle der Kunst. Er ist Der soteriologische Akt jener Willen endet in der
sich mit Mainländer einig, dass die Kunst nur eine »Bei- Selbstauslöschung des Individuums oder – als Summe
hülfe der Erkenntniß« sein kann und dass ein »Ersatz aller Individuen – der Welt. Mainländer umgeht Scho-
der Religion nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß« penhauers Konstrukt, indem er die Individuation, die
(KGW IV/2, 19 [99], 450) sei. Mit seinem Verständnis ja Erscheinung der vorweltlichen All-Einheit ist, als
über die Rolle der Erkenntnis greift Mainländer außer- Negation und Erlösung immanent setzt, da sie – die
dem »dem Buddhismusverständnis über ein gutes Individuation – aufgrund des ersten Impulses der
Jahrhundert voraus« (Gerhard 2002, 45). Er übernahm Transzendenz zur Welt wurde und Immanenz und
284 IV Wirkung – A Personen

Transzendenz zusammenfallen. Braucht Schopenhau- suche, eine Versöhnung der Weltgegensätze zu betrei-
er als Akt der Selbstverneinung des monistischen Wil- ben, haben den Charakter des Scheins.
lens die ›Durchschauung des principii individuationis‹ Bahnsen erklärt die schon von Schopenhauer er-
von Asketen und Heiligen, können Mainländers Indi- kannte Unvernünftigkeit des universalen Willens aus
vidualwillen eschatologisch agieren, indem sie – zum seiner Zerrissenheit. Dieser Wille ist nicht logisch, er
Beispiel via Suizid oder Virginität – Selbsterlösung ist Wollen und ebenso Nicht-Wollen. Aus dieser
unvermittelt erreichen. Der Wille zum Tode wird nur Selbstentzweiung des Willens geht nach Bahnsen das
von den Willen zum Leben verhüllt. Der Erkennende Leid der Welt hervor. Deshalb wendet sich Bahnsen
agiert daher im Unterschied zum Lebenshungrigen gegen eine aufrechnende Bilanz über den ›Wert des
unmittelbar: »Der Rohe will das Leben als ein vorzüg- Daseins‹ (vs. Eugen Dührung) und ein aufgestelltes
liches Mittel zum Tode, der Weise will den Tod direkt« »Soll und Haben, um aus der Zusammenstellung des
(M II, 251). Lagerinventars der Glücksgüter und des Ausgaben-
kontos im Hauptbuch des Lebens [...] das resultieren-
de Deficit an Lustgehalt nachzuweisen« (Bahnsen
Julius Bahnsen
1905, 166). Das pessimistische Fazit lässt sich für ihn
Julius Bahnsen (1830–1881) hatte unter den Protago- sicherer aus den Prämissen der Individualpsycho-
nisten der Schule Schopenhauers, neben Frauenstädt, logie, als aus einer ›negativen Lust-Bilanz‹ (vs. Eduard
auch persönlichen Kontakt zu Schopenhauer. Seine von Hartmann) herleiten.
Besuche beim Meister in Frankfurt am Main und sein Bevor Bahnsen die Realdialektik veröffentlichte, re-
Briefwechsel mit ihm spiegeln Bahnsens Schopenhau- üssierte er mit seiner voluminösen zweibändigen Cha-
er-Verehrung, die sich bis zur Identifizierung auswei- rakterologie. Seither gilt er als Begründer der wissen-
ten. In seiner Autobiographie lässt er sich von den schaftlichen Charakterkunde. In ihr formulierte er an-
»Freundlichstgesinnten« über den Status des Schülers, hand von Charakterdeskriptionen seine Erkenntnis,
›Jüngers‹ und ›Apostels‹ (s.  Kap. 
27) hinaus zum dass »wir alle nur zusammengehalten werden durch
»Fortführer und Vollender« der Philosophie Scho- die Verschlingungen unserer Widersprüche, und wie
penhauers apostrophieren (Bahnsen 1905, 49). das Sterben und der Tod – also das ganze Leben – eben
Dass sich Schopenhauers Willensmonismus in ei- nur darin besteht, daß das In- und Uebereinander-
nen Willenspluralismus umformen lässt, der nicht geschobene zerreißt und zerschleißt« (Bahnsen 1867,
dem Mainländerschen Individualwillen entspricht, I, 13). Obwohl Bahnsen sich als Willensmetaphysiker
zeigt sich in der pluralistischen Willensmetaphysik versteht und die Grundlagen seiner Charakterogra-
Bahnsens. Er artikuliert darin eine Vielheit von Wil- phien aus dem Voluntarismus Schopenhauers herlei-
len, die in und außer sich zerrissen sind. Es handelt tet, sind doch einige abweichende – und für den
sich um »Wollewesen«, deren »[e]ns volens idemque Selbstdenker Bahnsen typische – Zuordnungen im
nolens« nicht nur darin besteht, in zwei entgegen- Blick auf das Wesen des Willens zu erkennen. Zum
gesetzte Richtungen auseinanderzustreben, »sondern Beispiel nimmt das ›Gemüt‹ – ein Sonderling in der
der Inhalt selber« ist »ein in sich selbst widerspre- Willenslehre Schopenhauers – unter den charaktero-
chender« (Bahnsen 1880, I, 174). Daher bestimmt logischen Begriffen eine zentrale Stellung und ein ein-
Bahnsens Realdialektik als Willensmetaphysik die hundertseitiges zentrales Kapitel im ersten Band der
Zerspaltenheit der Willenspartikel nicht als eine dua- Beiträge zur Charakterologie ein.
listische Position (vergleichbar mit der cartesiani­ Dass er dem charakterologischen Erstling (er ver-
schen Dualität von Geist und Materie), sondern er öffentlichte noch einige kleinere Schriften zur Charak-
gibt ihr durchaus nur eine Substanz, aber die ist in in- terlehre) »auf dem von Arthur Schopenhauer gelegten
finitum et in indefinitum gespalten. Eine Erlösung ist Fundamente Fuß fassen« lässt, begründet seinen An-
nicht möglich. spruch, in einer Phänomenologie des Willens den Wil-
Im Gegensatz zu dem von Bahnsen vor Schopen- len »in Individualitäten« (ebd., 1) überhaupt zur Er-
hauer stark rezipierten Philosophen Hegel, ist der Wi- scheinung zu bringen. Die weiterführende Charakter-
derspruch analog zu Schopenhauers alogischem und kunde (Ludwig Klages) basiert ebenso auf Bahnsens
völlig sinnlosem, monistischen Willen kein bloßes Realdialektik, wie die moderne Reformpädagogik mit
Durchgangsmittel für das Erkennen und Sein, son- Bahnsen einen Stammvater besitzt. Aufgrund seiner
dern der Widerspruch entspricht dem unmittelbaren fast 20-jährigen Erfahrung als Oberlehrer in einem
und unaufhebbaren Wesen der Welt selbst. Alle Ver- preußischen Realgymnasium festigt sich bei ihm die
28  Voluntarismus im Anschluss an Schopenhauer 285

Erkenntnis, dass es eine sinnvolle Pädagogik nur durch mögen wirklicher Verneinung‹ konzentriert sich dann
die individuelle Entwicklung und Förderung von konsequent auf die Möglichkeit der ideellen Selbst-
Schülern geben kann. negation und schreckt auch vor der eigenen Vernei-
Da Bahnsen den Menschen als »intellectträchtige nung nicht zurück. Der Humor respektiert nicht ein-
Henade« auch in seinem Bestreben nach Erkenntnis mal seine Souveränität, und sein freies Spiel unterliegt
widerspruchsvoll agieren sieht, also weder »potentiell ebenso dem »Verachtungsdecret«, indem »dieser sich
Vernünftiges, oder latent Logisches« (Bahnsen 1880, I, selber persiflirt dadurch, dass er das Wesen des Hu-
164) am Werke sieht, versucht er mit seiner Kleinen moristischen selber zum Gegenstand humoristischer
Ästhetik der Welt einen Spiegel vorzuhalten. Er ist sich Ironie macht« (ebd., 126). Die neuere Forschung sieht
bewusst, dass er mit der durchaus logisch strukturier- aus diesem Grund Bahnsens Denken als Antizipation
ten Sprache die unlogische Wirklichkeit und das Anti- des Absurden, die dann im 20. Jahrhundert (Albert
logische nicht erfassen und demzufolge seine Aus- Camus) ihre Wirkung entfaltete (vgl. Alogas 2014).
einandersetzung nie enden kann. In der Reflexion des Bahnsens pluralistischer Voluntarismus basiert auf
Tragischen kommt für Bahnsen die wesentliche seiner als 17-Jähriger formulierten Erkenntnis: »Der
Selbstentzweiung des Weltwillens zur Erscheinung. Mensch ist nur ein sich bewusstes Nichts« (Bahnsen
Das Kriterium des Tragischen sieht er in der totalen 1905, XXXVII). Diese Aussage grundiert sein späteres
Unverträglichkeit des Gewollten mit sich selber: »Nur Denken, dessen philosophischer Pessimismus vor allem
Eines von Beiden thun können, wo man Beides will, ist durch einen durchgängigen Nihilismus geprägt ist.
das unerbittliche Gesetz der Wirklichkeit, das allen Rückblickend erkennt Bahnsen seinen philosophi-
tragischen Monologen ihren Inhalt giebt« (Bahnsen schen Werdegang in der »Wahrnehmung von der Ne-
1877, 14). Der sich selbst entzweiende Wille erkennt gativität des Weltcharakters; an diesem quasi He-
im Tragischen seine Grundeigenschaft, wird jedoch gel’schen Kern hatte sich erst späterhin die Schopen-
aufgrund der Tatsache, dass er in seinen beiden kon- hauer’sche Willenslehre herumkristallisirt, zur todten
tradiktorisch entgegengesetzten Hälften doch eines, Abstraction jener das lebendige Beweismaterial lie-
nämlich Wille, ist, zusammengehalten. Dadurch wird fernd« (Bahnsen 1880, I, 199).
das Zerfallen der Welt verhindert, und durch diese
primäre, essentielle Einheit ergibt sich die Möglichkeit
Eduard von Hartmann
des Schönen, in dem sich der Wille über seine Selbst-
entzweiung belügt. Der Wille sättigt sich also am Eduard von Hartmann (1842–1906) verwies als einer
Schönen, das nichts ist als Schein, nämlich die vorgeb- der ersten auf eine existierende Schule Schopenhau-
liche Vereinigung des Widersprechenden und die da- ers, ohne seine Zugehörigkeit zu bezeugen (s. Kap. 27).
mit verbundene Beseitigung des Weltzwiespalts. Das Die Verweise auf Schopenhauer sind in seinem phi-
gelingt selbstredend nur durch Verdrängung der losophischen Erstling – welchen er als 24/25-jähriger
Wirklichkeit vermittels eines Rausches, welcher sich Autodidakt verfasste und 1868 (mit der Jahreszahl
als »Körper- und Schwerelosigkeit vorspiegelnden 1869) veröffentlichte – mehr systematischer, begriffs-
Seelenhaschisch« versteht und sich das vormacht, geschichtlicher Art, denn als explizite Schopenhauer-
nach dem er in anderen Bereichen seit »Ewigkeiten« Exegese zu verstehen. Die Philosophie des Unbewußten
(ebd., 6) vergeblich suchte. wurde zu Hartmanns bekanntester Veröffentlichung,
In einem Dritten, dem Humor, sieht Bahnsen die obwohl ihm einzelne Schriften seines vielbändigen
Wahrheit in die Form des Scheins übergehen, wird der Gesamtwerks mehr galten, als das Werk, das Hart-
Willensgehalt in die Intellektssphäre gehoben und er- manns Ruhm begründete. Die folgenden Jahre wur-
reicht damit die Möglichkeit, vermittels der Gegen- den aus philosophischer Sicht das Jahrzehnt des
überstellung des Geistes mit dem Gewollten über sich ›Hartmannianismus‹ (so Friedrich Nietzsche), was die
selbst hinaus zu gelangen. Neben dem Leid wird durch acht Auflagen bis 1878 erklärt. Selten musste ein Phi-
diese ästhetische Erkenntnisfunktion die andere Seite losoph jedoch Ruhm und Vergessen erleben wie Hart-
der Lebenswelt, das ungeheuerlich Groteske und Ko- mann. Als 1904 die bis auf drei Bände erweiterte elfte
mische, vom reinen Humor erfasst. Der spezifische Auflage erschien, galt der einstige ›Modephilosoph‹
Inhalt des Humors besteht in dem unerbittlichen Ta- nach eigener Einschätzung nur noch als ›ausgegrabe-
xieren von Lebenswerten an einem Maßstab, der sich nes Fossil‹ (vgl. Hartmann 1989, Einl. I).
selber als nichtig darstellt. Diese ›Selbstbesinnung im Die Erfolgsgeschichte der Philosophie des Unbe-
Tiefsten‹ und das ›zusichselberkommende Unver- wußten verdankt sich im Wesentlichen dem Versuch
286 IV Wirkung – A Personen

Hartmanns, in jener Zeit der die philosophische Dis- schaftlich, wie sie ihre unterschiedlichen und gegen-
kussion beherrschenden Schopenhauer-Rezeption, sätzlichen Positionen in der Auseinandersetzung um
sein Werk als das des wahren und einzigen Vollenders die Nachfolge Schopenhauers zuspitzten. Als radi-
der Philosophie Schopenhauers einzuführen. Seinen kalstes ›System‹ wurde von einem zeitgenössischen
Anspruch, den Schopenhauerschen Begriff des Wil- Schopenhauer-Multiplikator die Realdialektik Bahn-
lens mit dem im 19. Jahrhundert geläufigen und nicht sens ausgemacht. Er habe »das non plus ultra im Pessi-
erst durch Sigmund Freud ›entdeckten‹, markanten mismus geleistet« (Volkelt 1873, 271).
Begriff des Unbewussten zu verbinden, begründet er
mit der Synthese vom ›unbewussten Willen‹ mit der Literatur
›unbewussten Vorstellung‹. Vor dem Hintergrund der Alogas, Konstantin: Das Prinzip des Absurden. Eine his-
Lehren von Hegel, Schelling, Darwin und Schopen- torisch-systematische Untersuchung zur modernen
Erkenntniskritik. Würzburg 2014.
hauer entwirft Hartmann einen ›evolutionären Opti- Bahnsen, Julius: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer
mismus‹, der das Ende vom allgegenwärtigen Leid in Berücksichtigung pädagogischer Fragen. 2 Bde. Leipzig
der ›kollektiven Erlösung‹ der Menschheit sieht. Dem 1867.
voraus gehen die drei Etappen der Desillusion, die mit Bahnsen, Julius: Zur Philosophie der Geschichte. Eine kriti-
den mensch(männ)lichen Entwicklungsstadien und sche Besprechung des Hegel-Hartmannschen Evolutionis-
mus aus Schopenhauerschen Principien. Berlin 1872.
den Geschichtsepochen korrespondieren: Kindheit
Bahnsen, Julius: Das Tragische als Weltgesetz und der Humor
(Antike) – Jüngling (Mittelalter) – Mann/Greis (Neu- als ästhetische Gestalt des Metaphysischen. Monographien
zeit). Auf die Erkenntnis, dass kein Glück in der Ge- aus den Grenzgebieten der Realdialektik. Hg. von Winfried
genwart, im Leben nach dem Tode oder in der Zu- H. Müller-Seyfarth. Berlin 1995 (Nachdr. von 1877).
kunft liegen kann, folgt der unweigerliche Entschluss Bahnsen, Julius: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der
der Gesamtheit der Individuen zur gleichzeitigen Welt. Princip und Einzelbewährung der Realdialektik.
2 Bde. Hg. von Winfried H. Müller-Seyfarth. Hildesheim/
Selbsterlösung. Im Blick auf das Problem der Theo-
Zürich/New York 2003 (Bd. I: Nachdr. von 1880; Bd. II:
dizee gilt Hartmann die Welt als die beste aller mögli- Nachdr. von 1882).
chen, ›aber sie ist schlimmer als keine‹. Bahnsen, Julius: Die Stunden bei Schopenhauer. In: Ders.:
Die Kritik der zeitgenössischen Rezipienten fiel ent- Wie ich wurde, was ich ward. Hg. von Rudolf Louis. Mün-
sprechend aus. Nietzsche und Bahnsen verhöhnten, chen/Leipzig 1905, 45–49.
Gerhard, Michael: Der ›flammende Osten der Zukunft‹. Phi-
nach anfänglicher Zustimmung, Hartmanns ›kollekti-
lipp Mainländer, der ›Budhaismus‹ und das späte 19. Jahr-
ven Suizid‹. Mainländer widmete den 13. Essay im hundert. In: Winfried H. Müller-Seyfarth (Hg.): Was Phi-
zweiten Band seiner Philosophie der Erlösung einer lipp Mainländer ausmacht. Offenbacher Mainländer-Sym-
scharfen, polemischen Replik auf Hartmanns Entwurf. posium 2001. Würzburg 2002, 39–47.
Eine Gemeinsamkeit des Nachschopenhauerschen Hartmann, Eduard von: Philosophie des Unbewußten. Ver-
philosophischen Pessimismus, deren Analyse Hart- such einer Weltanschauung. Hg. und eingel. von Ludger
Lütkehaus. Hildesheim/Zürich/New York 1989 (Nachdr.
mann mehrere Schriften widmete, bestand in der Ab-
von 1869).
lehnung des Mitleids als Grundlage moralischen Han- Hartmann, Eduard von: Die Gefühlsmoral. Mit einer Einlei-
delns. Hartmann lässt in seinem ethischen Haupt- tung hg. von Jean-Claude Wolf. Hamburg 2006.
werk, der Gefühlsmoral, ebenso nur eudämonistische Hartmann, Eduard von: Phänomenologie des sittlichen
Motive gelten, die, im Gegensatz zum Mitleid, aus- Bewußtseins. Eine Entwicklung seiner mannigfaltigen
drücklich in der Mitfreude ihr Hauptmotiv erblickt Gestalten in ihrem inneren Zusammenhang. Mit einem
Nachwort hg. von Jean-Claude Wolf. Göttingen 42009.
(vgl. Hartmann 2006). Heydorn, Heinz-Joachim: Julius Bahnsen. Eine Unter-
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Modifi- suchung zur Vorgeschichte der modernen Existenz. Göttin-
kation von Schopenhauers monistischer Metaphysik gen/Frankfurt a. M. 1952.
des Willens. Der Nachschopenhauersche Voluntaris- Horstmann, Ulrich: Schopenhauers Satellitenschüssel. Der
mus differenzierte einen Begriff des individuellen Meisterdenker und seine Rezeption. In: Fabio Ciracì/
Domenico M. Fazio/Matthias Koßler (Hg.): Schopen-
Willens aus, der sich einerseits zu individuell-partiku-
hauer und die Schopenhauer-Schule. Würzburg 2009,
laren, nach Erlösung strebenden (Philipp Mainländer, 141–148.
Eduard von Hartmann), andererseits zu exponentiell- Lerchner, Thorsten: Der Begriff des »Charakters« in der Phi-
pluralistischen, ewig widerspruchsvoll agierenden losophie Arthur Schopenhauers und seines Schülers Philipp
Willenskonzepten (Julius Bahnsen, Friedrich Nietz- Mainländer. Bonn 2010 (Diss. Bonn 2010; pdf-Doku-
sche) weiterentwickelte. Die Ablösung von Schopen- ment unter: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2010/2264/2264.
htm).
hauer geschah bei diesen Protagonisten so leiden-
28  Voluntarismus im Anschluss an Schopenhauer 287

Lerchner, Thorsten: Mainländer-Reflexionen. Quellen – Kon- metaphysische Relevanz. Mit einem Vorwort von Franco
text – Wirkung (= Internationale Mainländer-Studien, Volpi. Berlin 2000.
Bd. 3). Würzburg 2016. Müller-Seyfarth, Winfried H.: Julius Bahnsen. Realdialektik
Lütkehaus, Ludger (Hg.): ›Dieses wahre innere Afrika‹. Texte und Willenshenadologie im Blick auf die ›postmoderne‹
zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Mit einer Ein- Moderne. In: Fabio Ciracì/Domenico F. Fazio/Matthias
leitung von Ludger Lütkehaus. Frankfurt a. M. 1989. Koßler (Hg.): Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule.
Mainländer, Philipp: Schriften. 4 Bde. Hg. von Winfried H. Würzburg 2009, 231–246.
Müller-Seyfarth. Hildesheim/Zürich/New York 1996– Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg.
1999 (Bd. I: Die Philosophie der Erlösung. Erster Band von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New
[Nachdr. von 1876]; Bd. II: Die Philosophie der Erlösung. York 1967 ff. [KGW].
Zweiter Band. Zwölf philosophische Essays [Nachdr. von Pauen, Michael: Eduard von Hartmann. In: Ders.: Pessimis-
1886]; Bd. III: Die Letzten Hohenstaufen. Ein dramatisches mus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von
Gedicht in drei Theilen: Enzo-Manfred-Conradino Nietzsche bis Spengler. Berlin 1997, 122–131.
[Nachdr. von 1876]; Bd. IV: Die Macht der Motive. Litera- Rademacher, Guido: Der Zerfall der Welt. Philipp Mainlän-
rischer Nachlaß von 1857 bis 1875. Vorw. von Ulrich der – kurz gelebt und lange vergessen. Vita und Werk eines
Horstmann. Mit-Hg. Joachim Hoell [Erstdr. 1999]; text- Optimisten. Mit einem Vorw. von Franco Volpi. London
identisch: Mainländer im Kontext. Gesammelte Werke auf 2008.
CD-ROM. Mit Nachträgen zur Biographie, Herausgebe- Volkelt, Johannes: Das Unbewußte und der Pessimismus.
reinleitungen, Gesamtbibliographie und Personenregister. Berlin 1873.
ViewLit-Professional. Karsten Worm/InfoSoftWare Berlin Wolf, Jean-Claude: Eduard von Hartmann. Ein Philosoph der
2011) [M]. Gründerzeit. Würzburg 2006.
Mainländer, Philipp: Vom Verwesen der Welt und andere Wolf, Jean-Claude: Eduard von Hartmann als Schopenhaue-
Restposten. Eine Werkauswahl. Hg. und eingel. von Ulrich rianer? In: Fabio Ciracì/Domenico F. Fazio/Matthias
Horstmann. Waltrop/Leipzig 2004. Koßler (Hg.): Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule.
Müller-Seyfarth, Winfried H.: Metaphysik der Entropie. Phi- Würzburg 2009, 189–214.
lipp Mainländers transzendentale Analyse und ihre ethisch-
Winfried H. Müller-Seyfarth
288 IV Wirkung – A Personen

29 Wilhelm Dilthey Schopenhauers in den Schriften Diltheys finden las-


sen (s. u.). Dilthey widmet Schopenhauer keine länge-
Neben einem allgemeinen Interesse an der Wirkungs- re systematische Auseinandersetzung, ein einheitli-
geschichte der Philosophie Schopenhauers ist deren ches Schopenhauerbild ist in den eher fragmentari-
Einfluss auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) in letzter schen Stellungnahmen nicht zu erkennen. Unabhän-
Zeit durch die Betonung ›hermeneutischer‹ Grund- gig davon lässt sich aber zeigen, dass Dilthey eine
strömungen im Werk Schopenhauers bedeutsam ge- detaillierte Kenntnis der Werke Schopenhauers besaß
worden (s. Kap. 40). Da Dilthey eine Art ›Scharnier- sowie einen umfassenden Überblick über die seiner
funktion‹ zwischen der klassischen Hermeneutik im Zeit gängigen Kommentare zu Schopenhauer. Zu nen-
19. Jahrhundert und der Philosophischen Hermeneu- nen sind hier die Arbeiten von Rudolf Seydel, Gerhard
tik des 20. Jahrhunderts einnimmt, ließen sich hier Schwabe, Louis-Alexandre Foucher de Careil, Georg
nicht nur Aspekte der Wirkungsgeschichte themati- von Gizycki, Eduard Grisebach, Wilhelm Gwinner,
sieren, sondern zudem Schopenhauers Verbindung Friedrich Haacke, Julius Frauenstädt, Kuno Fischer
zur Hermeneutik des 20. Jahrhunderts präzisieren so- und Adolf Trendelenburg. Rudolf Haym scheint durch
wie die hermeneutische Linie von Schleiermacher zu Anregung von Dilthey zu Schopenhauer gekommen
Dilthey um Einflüsse durch Schopenhauer ergänzen. zu sein (vgl. Haym 1902, 281).
Dieser Gesichtspunkt wäre auch insofern von Belang, An längeren Schriften mit Bezug zu Schopenhauer
als Schopenhauer bisher für die Geschichte der Her- erscheinen 1862 (wohl eher aus finanziellen Gründen,
meneutik weitgehend unbeachtet geblieben ist. vgl. Dilthey 2011, 287) in der Berliner Allgemeine[n]
Obwohl Dilthey an vielen Punkten Bezüge zu Scho- Zeitung zwei von Dilthey anonym veröffentlichte
penhauer – sei es zustimmend, sei es ablehnend – her- Buchbesprechungen, von denen die eine in Auseinan-
gestellt hat, ist die Verbindung der beiden kaum er- dersetzung mit einem Buch Ernst Otto Lindners und
forscht (zu den wenigen Ausnahmen gehören Müller mit Nachlassveröffentlichungen von Julius Frauen-
1985 und Fellmann 1991, 74–83). Bis jetzt lässt sich in städt Dilthey Gelegenheit gibt, scharfe Kritik an Scho-
biographischer Hinsicht weder rekonstruieren, wann penhauer zu üben, dem er im Wesentlichen vorwirft,
Dilthey begonnen hat, Schopenhauer zu rezipieren, dank seiner problematischen Methode »anstatt wirk-
noch welche Rolle dieser für die Konzeption seines liche Untersuchung überall den Scheinbeweis, der in
Werkes gespielt hat. Hier liegt ein Desiderat sowohl der Übereinstimmung einzelner Phänomene und all-
der Schopenhauer- als auch der Dilthey-Forschung. gemeiner Theorien liegt, und der für jede, noch so ab-
Ungeachtet der ungeklärten biographischen und surde, wenn nur hinlänglich unbestimmte und all-
werkgeschichtlichen Einflüsse verbinden Schopen- gemeine Theorie gewonnen werden kann, hinzustel-
hauer und Dilthey in systematischer Hinsicht viele len«, ein Werk geschaffen zu haben, in dem eine
Aspekte. Da ist z. B. ihre ambivalente Anknüpfung an »merkwürdige beständige Verwandlung des Persönli-
die Transzendentalphilosophie Kants: Beide sehen in chen, Subjektiven der psychologischen Erfahrung in
Kants kritischer Philosophie einen wesentlichen Be- metaphysische Ideen« (GS XVI, 361) vorherrscht. Zu-
zugspunkt ihres eigenen Denkens, betonen aber auch stimmung signalisiert Dilthey nur zu den
deren Unzulänglichkeit. So versucht Schopenhauer
die Einseitigkeit der Überlegungen Kants durch eine »wenigen und sehr einfachen richtigen metaphysisch-
am menschlichen Leib ansetzende immanent-herme- psychologischen Gedanken, zu welchen wir vor allen
neutische Metaphysik zu überwinden, während Dil­ die erneuerte und schärfer durchgeführte Unterschei-
they ergänzend eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ dung der verschiedenen Formen des Satzes vom Grun-
zu entwerfen sucht. Für beide bildet das Erleben des de rechnen, dann die Hinweisung auf die Intellektuali-
Menschen den Bezugspunkt des Denkens und beide tät der Sinneswahrnehmungen, [...] endlich aber einige
suchen einen auslegenden, verstehenden Zugang zu psychologisch-ethische Erkenntnisse über den Willen
den Ausdrucksgehalten des Lebens. im Individuum und seine Schicksale, welche sich an
Erschwert wird ein systematischer Vergleich aller- Fichtes und Schellings Gedanken über denselben an-
dings dadurch, dass viele Überlegungen Diltheys frag- schließen [...]« (ebd., 356).
mentarisch geblieben und im Laufe seiner denkeri-
schen Entwicklung umbewertet worden sind. Dies In der anderen Besprechung widmet er sich unter dem
könnte auch ein Grund dafür sein, dass sich durchaus Titel »Schopenhauers Lehre und Leben« einem Buch
unterschiedliche Einschätzungen der Bedeutsamkeit von Wilhelm Gwinner. 1864 veröffentlicht Dilthey
29  Wilhelm Dilthey 289

unter dem Pseudonym Wilhelm Hoffner schließlich lich der Ethik Schopenhauers, genauer: zu dessen Mit-
noch eine längere und sehr gut informierte biographi- leidskonzeption (vgl. Müller 1985, 221). So argumen-
sche Darstellung in Westermanns Monatshefte[n]. tiert Dilthey, dass das Mitleid kein »Urphänomen« (GS
Hier betont Dilthey nun, dass insbesondere Schopen- X, 69) sei, ja Schopenhauers »Lehre vom Mitleid [...] ei-
hauers Lebenserfahrung, sein Pessimismus und seine ne Animalisierung der Sittlichkeit ist« (ebd., 102).
»Gedanken von Stärke und Schwäche der mensch- Affirmativer nehmen sich die Textstellen in den
lichen Natur« (GS XV, 74) durchaus interessant seien späteren Schriften Diltheys aus, die sich auf metho-
für weitergehende Betrachtungen (vgl. ebd.), wenn dologische Weichenstellungen Schopenhauers bezie-
auch mit der Einschränkung: »ohne daß man die hen und damit ja gerade interessant sind für die in
Schlüsse zugleich untersucht, zu welchen sie Schopen- Frage stehende hermeneutische Linie. Ausgangspunk-
hauer geführt haben« (ebd.). Methodologisch schätzt te scheinen hier Schopenhauers Immanenzgedanke
Dilthey Schopenhauers Philosophie an dieser Stelle und seine Inthronisierung der Erfahrung zu sein. Be-
nun so ein, dass sie »beansprucht, die Phänomene des kanntlich beansprucht Schopenhauer eine »Auslegung
menschlichen Lebens und seines Verlaufs ganz unbe- des in der Außenwelt und dem Selbstbewußtseyn Ge-
fangen und mit induktivem Geiste für sich aufzufas- gebenen« (W II, 744 (Lü)) zu geben. Wenn die äußere
sen und für sie erst, nachdem sie klar und deutlich an die innere Erfahrung geknüpft wird, muss das
festgestellt sind, die Begründung aufzustellen, welche »Ganze der Erfahrung [...] aus sich selbst gedeutet,
sie dann freilich erst völlig verständlich und sozusa- ausgelegt werden können« (W II, 212 (Lü)). Wie sehr
gen durchsichtig mache« (ebd.; vgl. auch GS VIII, 197; Dilthey der Anspruch, das Auslegen und Deuten ohne
kritisch zur Methode auch GS V, 355; GS VI, 35). transzendente Zielsetzung als methodische Grundlage
Auch in den frühen Vorlesungen Diltheys in Berlin philosophischen Denkens in Anschlag zu bringen,
und Basel zwischen 1864 und 1868 spielt Schopen- überzeugt, zeigt eine Textstelle in dem Fragment »Die
hauer eher die Rolle eines kritischen Bezugspunkts. deutsche Philosophie in der Epoche Hegels«, wo es
Zwischen 1875 und 1892 setzt sich Dilthey im Rah- heißt: »Darin aber liegt nun inmitten dieser Entwick-
men psychologischer Studien mit Schopenhauers lung Schopenhauers einsame Stellung und seine über-
Willensbegriff auseinander. In den »Breslauer Vor- legene Größe, daß er diese aus dem Erlebnis geschöpf-
lesungen« lässt sich in dem Abschnitt »Psychologie« ten Anschauungen ausschließlich verwertet hat, die
von 1878 dann nachlesen, dass – gemäß Diltheys kriti- Welt, wie sie gegeben ist, zu interpretieren, ohne durch
scher Einstellung gegenüber Metaphysik – Schopen- eine Art von Mystik sie überschreiten zu wollen.« Und
hauers Metaphysik zwar »haltlos« (GS XXI, 121) sei, weiter: »[F]olgerichtiger als irgendein anderer Denker
aber seine Psychologie »wertvoll« (ebd.): »Wir wollen dieser Zeit hat er [Schopenhauer] die Interpretation
den Ausgangspunkt Schopenhauers teilen, [...] dem- der Welt aus ihr selbst durchzuführen unternommen.
gemäß der menschliche Wille etwas Primäres ist« Das ist seine Größe. [...] Sein tiefes Auge blickt in das
(ebd., 122). Zahlreiche weitere Bezugnahmen liefern Antlitz der Welt, um ihr in die Seele zu dringen« (GS
u. a. Schopenhauers Begriff der Vorstellung (vgl. GS IV, 262; vgl. auch ebd., 211). Es ist daher nur kon-
XIX, 18 f.), seine Wahrnehmungslehre (vgl. GS V, 93) sequent, wenn Dilthey Schopenhauer neben anderen
und das Kausalprinzip (vgl. GS XIX, 373). Dilthey für diese Leistung an den Anfang seiner eigenen phi-
lehnt zwar dessen A-Priorität ab (vgl. ebd.), erkennt losophischen Tradition setzt: »[...] das Leben soll aus
aber Schopenhauers Beitrag für die ihm so wichtige ihm selber gedeutet werden – das ist der große Gedan-
»Intellektualität der Sinneswahrnehmung« (ebd., 335; ke, der diese Lebensphilosophen mit der Welterfah-
vgl. auch GS XXIII, 329) an, wenn auch mit der Ein- rung und mit der Dichtung verknüpft. Von Schopen-
schränkung, dass diese aber erst von Helmholtz aus- hauer ab hat dieser Gedanke sich immer feindlicher
gearbeitet worden sei. gegen die systematische Philosophie entwickelt; jetzt
Zudem begegnet dem Leser Diltheys die Einschät- bildet er den Mittelpunkt der philosophischen Interes-
zung der Philosophie Schopenhauers als »metaphysi- sen der jungen Generation« (GS V, 370 f.). Dass Dil­
sche[r] Dichtung« (GS XIX, 328) und als »Lebensphi- they die Basis seines eigenen philosophischen Projekts
losophie« (GS VIII, 197). In seiner Typologie philoso- in eben diesem Bereich ansiedelt, legen zahlreiche
phischer Theorien ordnet Dilthey Schopenhauer unter Selbstaussagen nahe, so heißt es beispielsweise: »[D]er
den »Objektiven Idealismus« ein (vgl. Berg 2003, 19 ff.). herrschende Impuls in meinem philosophischen Den-
Kritisch äußert sich Dilthey – in einer der wenigen aus- ken [ist], das Leben aus ihm selber verstehen zu wol-
führlicheren Auseinandersetzungen – auch hinsicht- len« (ebd., 4; vgl. auch Kohl 2014, 86–97). Doch gilt es
290 IV Wirkung – A Personen

an dieser Stelle genauer zu fragen, was das für Dilthey nicht hinter das Leben »zurückgehen« kann, denn
bedeutet. Zumindest phasenweise versucht Dilthey die »[w]ie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein
Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wol-
über die Pole von Erklären und Verstehen, aber auch len« (GS I, 394). Allerdings unterscheiden sich Scho-
über unterschiedliche Gegenstandsbereiche zu be- penhauer und Dilthey auch hier: Nicht nur lehnt Dil­
schreiben. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften they die von Schopenhauer vollzogene metaphysische
richten die Geisteswissenschaften, die die »geschicht- Überhöhung des Willens ab (vgl. ebd., 390; Fellmann
lich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegen- 1991, 81 f.), auch ein erkenntnistheoretischer Punkt
stande haben« (GS I, 4), ihren Blick auf das Leben als trennt beide; während Schopenhauer in der unmittel-
das »von innen Bekannte« (GS VII, 261). Auch in die- baren Erfahrung des Willens durch den Leib noch er-
sem Punkt lässt sich die Parallele aufgreifen. Obgleich kenntnisbedingt eine Trennung von Selbstbewusst-
Schopenhauer Anknüpfungspunkte zu naturwissen- sein und Wille sieht, mithin der Wille nicht vollstän-
schaftlichen Erkenntnissen gesucht hat – und diese dig erkannt werden kann, ist das Erlebnis für Dilthey
auch als Auszeichnung seines Denkens verstanden etwas, in dem Erkennendes und Erkanntes bereits zu
wissen wollte –, hat er doch stets betont, dass die Phi- einer Einheit verschmelzen. Es zeigt sich aber eine Pa-
losophie eine eigene Methode gegenüber den Natur- rallele in Bezug auf das »Innewerden«: In Diltheys
wissenschaften verfolge: Während die Naturwissen- Berliner Logik-Vorlesungen findet sich ähnlich wie
schaften Relationen anhand des Satzes vom Grund bei Schopenhauer eine Unterscheidung zwischen dem
nachgehen, konzentriert sich die Philosophie auf das Vorstellen von Objekten und dem Innewerden unse-
›Was‹ der Welt. Ihre Zusammenhänge sollen aus ihr rer selbst (vgl. GS XX, 170). Hier formuliert Dilthey
selbst – wie bereits erwähnt – gedeutet werden, wobei auch: »Den Anfang aller ernsten Philosophie bildet
der Wille den Schlüssel zur Auslegung bietet. Auch bei die Einsicht: Was für mich da ist, ist es nur als Inhalt
Schopenhauer fällt somit eine ähnliche Unterschei- meines Bewußtseins« (ebd., 169). Jedoch ist hier Vor-
dung wie die zwischen Erklären und Verstehen ins Au- sicht geboten: Auch wenn diese Formulierung auf
ge: ein Denken nach Maßgabe des Satzes vom Grund den ersten Blick an Schopenhauers Eingangssätze von
und eine Auslegung des Weltzusammenhangs (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung erinnert, so ist diese
Langbehn 2005, 26; Schubbe 2012). von Dilthey doch eher in kritischer Absetzung zu
Weitere Parallelen zwischen den philosophischen Schopenhauer gemeint, insofern jener den Begriff
Konzepten Diltheys und Schopenhauers lassen sich »Vorstellung« durch den »der Totalität unsres Be-
anhand der Unterscheidung von innerer und äußerer wußtseins, unsres geistigen Wesens ersetze. Diese ist
Erfahrung gewinnen. Für Dilthey ermöglichen die in- die Bedingung für das Dasein von Gegenständen für
nere und äußere Erfahrung zwei deutlich voneinander uns, nicht aber unser bloß vorstellendes Verhalten.
zu unterscheidende Wirklichkeitszugänge, denn dem Realität, Wirklichkeit bedeutet das für das Ganze uns-
»bloßen Vorstellen bleibt die Außenwelt immer nur res geistigen Lebens Gegebensein. Ich bezeichne das
Phänomen« (GS I, XIX). Doch da er mit der »gan- so Gegebene in Unterscheidung von der bloßen Wahr-
ze[n], volle[n], unverstümmelte[n] Erfahrung« (ebd., nehmung als Erfahrung« (ebd., 152 f.).
123) zu Philosophieren sucht, kann für ihn das Er- Für Dilthey sind es unsere eigenen »Lebensbezü-
kenntnissubjekt, das zum Leben als solches durch- ge«, die uns die Bedeutung unseres Daseins aufschlie-
zudringen vermag, nur der Mensch mit seinem »gan- ßen und uns erkennen lassen, welchen Platz wir in
zen wollend fühlend vorstellenden Wesen« (ebd., ihm einnehmen:
XIX) sein. Im »willenerfüllte[n] Ich« ist »die ganze
Welt erst da« (ebd., 190; vgl. Fellmann 1991, 81). Auch »Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist uns nur ein Au-
für Schopenhauer lässt sich der einseitige Zugang zur ßen, kein Inneres. Die Gesellschaft ist unsere Welt. Das
Welt über die Vorstellung nur überwinden, indem ge- Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit, in
genüber dem vorstellenden Denken das eigene Erle- aller Kraft unseres ganzen Wesens, da wir in uns selber
ben des Leibes miteinbezogen wird. Es geht beiden von innen, in lebendigster Unruhe, die Zustände und
darum, das Leben »aus ihm selber« verstehen zu wol- Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut«
len (vgl. Müller 1985, 219 f.). In der Formulierung (GS I, 36 f.).
»Leben erfaßt hier Leben« (GS VII, 136) zeigt sich die
Gemeinsamkeit zu Schopenhauer hinsichtlich der ge- Die für die Lebensphilosophie und Hermeneutik
forderten Immanenz dadurch, dass das Erkennen wichtige Trennung von Innen und Außen, die sich
29  Wilhelm Dilthey 291

hier zeigt (zu diesem Punkt vgl. Fellmann 1991, 80 f.), bereits erwähnten Artikeln in der Berliner Allgemei-
findet eine Parallele bei Schopenhauer, der ebenfalls ne[n] Zeitung polemisiert Dilthey insbesondere gegen
zwischen einer äußeren und inneren Erfahrung un- Schopenhauers pessimistische Weltsicht. Er sieht hier
terscheidet, deren »Zusammenbringen« zur Aus- in Schopenhauer aufgrund dessen Defätismus einen
legung der Welt führen soll. Im Zentrum steht dabei »Sonderling von einem beinahe an Narrheit streifen-
für Schopenhauer der eigene Leib, der sich mittelbar den Egoismus und einem halbwahnsinnigen Mißtrau-
von außen und unmittelbar von innen erkennen lässt, en gegen alle Welt« und fragt sich, ob man von ihm
wobei die komplexe innere Leiberkenntnis von Scho- ȟberhaupt gerade Gedanken und eine wahre und ge-
penhauer unter dem Begriff »Wille« gebündelt wird. sunde Empfindung der Welt gegenüber erwarten dür-
Die doppelte Leiberkenntnis wird schließlich per fe« (GS XVI, 357). An dieser Stelle erkennt man deut-
Analogie auf die übrige Welt übertragen (s. Kap. 6.4). lich die Kluft zwischen Diltheys Bewertung der Scho-
In den Vorlesungen zur »Systematik der Philoso- penhauerschen Metaphysik und dessen Weltanschau-
phie« (Berlin 1899–1903) nimmt Dilthey in einem ung. Denn diese Aussage beißt sich seltsam mit der
Abschnitt, in dem er die »Verbindung der äußern oben zitierten Aussage, Schopenhauer sei in der Lage,
mit der innern Wirklichkeit in dem Verstehen« (GS »in das Antlitz der Welt [zu blicken], um ihr in die
XX, 310) erläutert, fragmentarisch Bezug auf Scho- Seele zu dringen«. Dilthey ist hingegen hier der An-
penhauer: sicht, dass Schopenhauers Klagen nicht nur unglaub-
würdig, sondern tatsächlich komisch wirken, denn
»Hierin liegt der unermeßliche Vorzug, welchen die nur der Verkaterte oder an Zahnschmerzen Leidende
Auffassung der innern Zustände und der gesamten ge- könnte hier ernstlich zustimmen, »jeder andere Leser
schichtlichen Welt besitzt – daher denn auch alle Me- wird sich durch solche Übertreibungen eher zum Ge-
taphysik nie etwas anderes tat, als den erlebten Zu- lächter als zur Bestimmung angeregt fühlen« (ebd.,
sammenhang im Innern zu übertragen auf das Univer- 395; dagegen heißt es 1894, dass »Schopenhauers pes-
sum, bald einen logischen, bald einen Willens-Zusam- simistische Lehre von dem Überwiegen des Schmer-
menhang; hierfür ja Schopenhauers System am zes im organischen Leben durch die Tatsachen bestä-
besten, er hat ganz unbefangen erklärt, daß wir nur tigt« werde, GS V, 208).
durch das Analogon des Willens dasjenige verstehen, Schlimmer noch wiegt für Dilthey aber der »Zwie-
was in dem Universum...« (ebd., 311). spalt zwischen Lehre und Leben«, den er bei Schopen-
hauer zu beobachten meint. Dieser »häßliche[.] Feh-
Im Anschluss hebt Dilthey auch die Analogie hervor, ler« (GS XVI, 397) zeige sich nicht nur in Schopen-
denn hauers Eskapismus, sondern vor allem in seiner Über-
zeugung, zur Aristokratie des Geistes zu gehören.
»wir glauben, in das Innere eines andern Menschen hi- Hätte Schopenhauer seinen Gedanken, dass jeder
neinzublicken, indem wir ein Wort, eine Gebärde ver- Mensch nur eine Objektivation des einen Willens zum
stehen. Dieser hier vorliegende Vorgang faßbar als ein Leben ist, ernst genommen, wäre es ihm nicht mög-
Schluß der Analogie [...]; in letzter Instanz ist es diese lich gewesen, sich selbst als etwas Höherwertigeres als
von innen von uns erlebte, von außen wahrgenom- seine Mitmenschen anzusehen. Die Konsequenz die-
mene Verknüpfung eines innern Vorgangs mit einem ses »unbegrenzte[n] Hochmut[s]« (ebd., 394) liege
äußern, worauf alle Schlüsse beruhen, die, einem Ana- schließlich darin, dass Schopenhauer seine Erlösungs-
logieschluß vergleichbar, als Verstehen, Interpretieren lehre selbst nicht anwandte: »Seine Mission war es, die
bezeichnet werden können« (ebd., 312 f.). Lehre aufzustellen, und um diese Mission erfüllen zu
können, bedurfte er des ungestörten Genusses eines
Obgleich die Tragweite der Analogiebildung und die beträchtlichen Vermögens und einer kräftigen und
durch sie verbundenen Gegenstandsbereiche bei Dil­ reichlichen Nahrung [...]« (ebd., 397).
they und Schopenhauer durchaus divergieren, bildet Der eigentliche Grund für die Ablehnung des Pessi-
die Analogiebildung doch eine zentrale Parallele hin- mismus Schopenhauers liegt für Dilthey wohl aber in
sichtlich der Verknüpfung von äußerer und innerer dessen mangelndem Geschichtsbewusstsein (vgl.
Erfahrung (zu den diesbezüglichen Differenzen vgl. ebd., 396; vgl. zur Geschichte auch GS XX, 98) und der
Homann 1996, 19 f.). Ablehnung eines Fortschritts der Menschheits-
Inhaltliche Divergenzen konterkarieren hingegen geschichte. Gerade dies reizt Dilthey wieder zu einer
die aufgezeigten methodologischen Parallelen. In den polemischen Aussage:
292 IV Wirkung – A Personen

»Anstatt die Welt zu genießen, sollen wir strenge Aske- zung der Bedeutung von Geschichte gibt – er bezieht
se üben, anstatt unsere geistigen Kräfte dazu an- sich z. B. auf das Kapitel 38 des zweiten Bandes von Die
zuwenden, die menschliche Lage durch neue Erfindun- Welt als Wille und Vorstellung –, aber er erkennt hierin
gen und bessere Staatseinrichtungen zu verbessern, nur die Anerkennung eines »relativen Wert[s] der Ge-
sollen wir mit kreuzweise gelegten Beinen, die Augen schichte« (GS XVI, 366) – für Dilthey zu wenig.
auf die Nasenspitze gerichtet, sitzen und sechstau-
sendmal mit geschlossenen Lippen das heilige Wort Literatur
›Om‹ wiederholen, um dereinst zum Nirwana zu ge- Berg, Robert Jan: Objektiver Idealismus und Voluntarismus
langen« (GS XVI, 396 f.). in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers. Würz-
burg 2003.
Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Göttingen 1914 ff.
An anderer Stelle heißt es: »Immer sind Wände da, die [GS].
uns einschränken. Tumultuarische Bemühung, sie Dilthey, Wilhelm: Briefwechsel. Band I: 1852–1882. Göttin-
ganz loszuwerden, in Feuerbach, Schopenhauer und gen 2011.
Nietzsche. Unmöglichkeit hiervon; denn man stößt Fellmann, Ferdinand: Symbolischer Pragmatismus. Herme-
neutik nach Dilthey. Reinbek bei Hamburg 1991.
hier eben an die Geschichtlichkeit des menschlichen
Haym, Rudolf: Aus meinem Leben. Erinnerungen. Berlin
Bewußtseins als eine Grundeigenschaft desselben« 1902.
(GS VIII, 38). Dabei zeigt sich, dass die Geschichte für Homann, Arne: Verstehen und Menschheit. Zu einem Motiv
Dilthey einerseits einen anderen Stellenwert, aber auch der Philosophie Diltheys. In: Dilthey-Jahrbuch für Philoso-
eine andere Bedeutung hat. Es geht ihm nicht um die phie und Geschichte der Geisteswissenschaften 10 (1996),
Katalogisierung der res gestae und damit um die nach- 13–37.
Kohl, Sarah: Die Komödie der Kultur. Die Philosophie Scho-
trägliche Rekonstruktion einzelner historischer Ereig- penhauers als Rezeptionsphänomen unter besonderer
nisse, sondern um ein historisches Bewusstsein. Durch Berücksichtigung der literarischen Aufnahme durch Tho-
die Geschichtlichkeit wird ein »innerer Struktur- mas Bernhard. Hamburg 2014.
zusammenhang« der Welt erzeugt, in den sich der Langbehn, Claus: Metaphysik der Erfahrung. Zur Grund-
Mensch einzuordnen weiß, und so kann er erst sich legung einer Philosophie der Rechtfertigung beim frühen
Nietzsche. Würzburg 2005.
selbst und seinem Leben eine Bedeutung zusprechen.
Müller, Wolfgang Hermann: Über den Einfluß Schopenhau-
Diesen Vorgang nennt Dilthey »historische Selbst- ers auf die Ausbildung der Philosophie von Wilhelm Dil­
besinnung«. Verstehen wir die Welt, in der wir unseren they. In: Schopenhauer-Jahrbuch 66 (1985), 215–223.
individuellen Platz eingenommen haben, verstehen Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis. Ein morpholo-
wir auch uns. Und diese Annahme führt schließlich zu gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/
Diltheys vielzitiertem Diktum: »Was der Mensch sei, Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe
fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten.
sagt ihm nur seine Geschichte« (ebd., 224). Für Dilthey
Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität.
haben »[a]lle letzten Fragen nach dem Wert der Ge- Gießen 2012, 359–385.
schichte [...] schließlich ihre Lösung darin, daß der
Mensch in ihr sich selbst erkennt. Nicht durch Intro- Sarah Kohl / Daniel Schubbe
spektion erfassen wir die menschliche Natur« (GS VII, (Die Autoren danken Gudrun Kühne-Bertram für die
250). Dilthey übersieht zwar nicht, dass es bei Scho- kritische Durchsicht und hilfreiche Kommentierung
penhauer auch Anklänge an eine positivere Einschät- einer ersten Fassung dieses Beitrags.)
30  Friedrich Nietzsche 293

30 Friedrich Nietzsche Status als metaphysische Entität. Deshalb ist es kon-


sequent, dass er Schopenhauers »unbeweisbare Lehre
Prolegomena
von Einem Willen« (KSA 3, 454) durch die Annahme
Die Philosophie Arthur Schopenhauers hatte fun- einer Pluralität von Willensimpulsen substituiert, die
damentale Bedeutung für die Theorien, die Friedrich alle durch ein fundamentales Machtstreben bestimmt
Nietzsche (1844–1900) entwickelte. Sie sind in wesent- sind. Übereinstimmungen zwischen Schopenhauer
lichen Aspekten maßgeblich von Schopenhauer ge- und Nietzsche lassen sich allerdings im Hinblick auf
prägt. Und obwohl sich Nietzsche später entschieden eine monistische Grundposition und die Bedeutung
von seinem philosophischen Lehrer abgrenzte, blieb von Leiblichkeit in ihren Reflexionen feststellen (vgl.
Schopenhauer durch zahlreiche Zitate und vielfältige Salaquarda 1989, 278, 281–282).
kritische Anspielungen in seinen Schriften präsent. Im Zusammenhang mit der ›Umwertung der Wer-
Schon während seiner Leipziger Studienzeit wurde te‹, mithin der etablierten moralischen Normen, die
Nietzsche 1865 mit Schopenhauer vertraut. Am 8. Ok- Nietzsche in den 1880er Jahren intendiert und
tober 1868 erklärte er seinem Freund Erwin Rohde in schließlich bis zu einem atheistischen Immoralismus
einem Brief: »Mir behagt an Wagner, was mir an Scho- forciert, ist seine Polemik gegen Schopenhauers Mit-
penhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, leidspostulat und Askese-Ethos sowie gegen die christ-
Kreuz, Tod und Gruft etc.« (KSB 2, 322). Und am liche Mitleidsmoral von zentraler Bedeutung (vgl.
11. März 1870 schrieb Nietzsche an Carl von Gersdorff: Goe­dert 1988). Er kritisiert sie als Ausdruck einer de-
»Für mich knüpft sich alles Beste und Schönste an die kadenten Herdenmoral, die von lebensverneinenden
Namen Schopenhauer und Wagner« (KSB 3, 105). Werten bestimmt sei. Seine Metaphysik- und Moral-
Trotz andersgearteter Zielsetzungen und Darstel- kritik verbindet Nietzsche mit einer Psychologie der
lungsstrategien ist bereits Nietzsches Erstlingswerk Entlarvung, die hinter vermeintlich ›objektiven‹ Wer-
Die Geburt der Tragödie, das er 1872 publizierte, weit- ten subjektive Interessen aufspürt und hinter angeb-
gehend durch philosophische Prämissen Schopen- lich altruistischen Handlungsmotiven egoistische An-
hauers bestimmt. Und die dritte der Unzeitgemässen triebe dekuvriert. Trotz Nietzsches entschiedener Ab-
Betrachtungen, die 1874 erschien, trägt nicht zufällig grenzung von Schopenhauer wirkt in der Gegenüber-
den Titel Schopenhauer als Erzieher: Hier erweist stellung von Herren- und Herdenmoral die Opposition
Nietzsche der Denkerpersönlichkeit Schopenhauers zwischen dem Genie und der bloßen »Fabrikwaare der
seine Reverenz. Allerdings folgte dem ersten Enthu- Natur« (P I, 209, 189) weiter, die Schopenhauer vo-
siasmus für den pessimistischen Philosophen später raussetzte. Auch im Hinblick auf die Dimension des
eine allmähliche Distanzierung von seiner Lehre, die Unbewussten und auf einige Aspekte des Atheismus
schließlich sogar in scharfer Polemik Ausdruck fand. lassen sich Affinitäten zu Schopenhauer feststellen.
Schon in der Geburt der Tragödie hält Nietzsche Während Nietzsche in der Frühphase seines Schaf-
dem Ethos der Resignation als der Quintessenz von fens Schopenhauers Abwertung der Geschichte gegen-
Schopenhauers Willensmetaphysik seine Thesen zu über der Philosophie noch vorbehaltlos übernimmt
einer universellen Rechtfertigung der Existenz durch (vgl. W II, 501–510; KSA 1, 410), bezeichnet er später in
die Kunst entgegen (vgl. KSA 1, 57). Im Hinblick auf Menschliches, Allzumenschliches den »Mangel an his-
die antike Tragödie gewinnt er durch die Polarität von torischem Sinn« als fundamentales Defizit, ja als den
apollinischem und dionysischem Kunstprinzip phi- »Erbfehler aller Philosophen«, die seines Erachtens da-
losophische Präferenzen, mit denen der metaphysi- zu neigen, ihre Erkenntnis irrtümlich zur »aeterna ve-
sche Pessimismus Schopenhauers immer weniger ritas« zu stilisieren (KSA 2, 24). Nietzsche propagiert
kompatibel ist. Nietzsche propagiert eine dionysische stattdessen »das historische Philosophiren [...] und mit
Lebensbejahung, die eine Akzeptanz auch der Negati- ihm die Tugend der Bescheidung« (KSA 2, 24, 25).
vität des Daseins im fortwährenden Prozess des Wer- Vielfach lässt selbst Nietzsches Abkehr von den
dens und Vergehens miteinschließt. Auch das vitalis- Theorien des einstigen Vorbilds noch das Ausmaß der
tische Konzept des ›Willens zur Macht‹ seit Nietzsches früheren Prägung erkennen. Oft kommt sie in implizi-
mittlerer Schaffensphase fungiert als Gegenentwurf ter Kritik zum Ausdruck. So distanziert er sich in sei-
zu Schopenhauers Reflexionen zur Verneinung des ner Schrift Zur Genealogie der Moral von »der gefähr-
›Willens zum Leben‹. Dabei übernimmt Nietzsche lichen alten Begriffs-Fabelei«, die ein »reines, willen-
den Willensbegriff Schopenhauers als Bezeichnung loses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkennt-
für das Urprinzip alles Seienden, nicht jedoch dessen niss« voraussetzt (KSA 5, 365), und zitiert damit
294 IV Wirkung – A Personen

wörtlich aus der Welt als Wille und Vorstellung: Hier bringt Nietzsche hier einen Heroismus des Leidens
erklärt Schopenhauer, der Übergang zur objektiven und ein philosophisches Ethos der Wahrhaftigkeit in
»Erkenntniß der Idee« geschehe »plötzlich, indem die Verbindung, das ebenfalls Schopenhauer verpflichtet
Erkenntniß sich vom Dienste des Willens losreißt«, so ist. Zustimmend zitiert Nietzsche (vgl. KSA 1, 373) ei-
dass der »in dieser Anschauung Begriffene [...] reines, ne Sentenz aus den Parerga und Paralipomena, die wie
willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Er- eine Quintessenz von Schopenhauers pessimistischer
kenntniß« werde (W I, 209–211). Dieser Auffassung Willensmetaphysik erscheint: »Ein glückliches Leben
hält Nietzsche dezidiert seine These entgegen: »Es ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen
giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspek- kann, ist ein heroischer Lebenslauf« (P II, 342).
tivisches ›Erkennen‹« (KSA 5, 365). Die Überzeugung, gerade Schopenhauer führe
Auch zu Schopenhauers produktionsästhetischen »zur Höhe der tragischen Betrachtung« (KSA 1, 356),
Prämissen formuliert Nietzsche einen entschiedenen lässt Nietzsches anfängliche Affinität zur Ästhetik des
Gegenentwurf. Nach seiner »Psychologie des Künst- Trauerspiels und zur Ethik der Resignation in der Welt
lers« in der Götzen-Dämmerung verdankt sich die als Wille und Vorstellung erkennen. Zugleich integriert
Kunst dem »Rausch« als »physiologische[r] Vorbedin- er noch weitere Zentralthemen aus Schopenhauers
gung« und damit dem »Gefühl der Kraftsteigerung Philosophie in die dritte seiner Unzeitgemässen Be-
und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge trachtungen, etwa anthropomorphe Aussagen über
ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewal- den ›Willen der Natur‹ (vgl. KSA 1, 404–405), die Auf-
tigt sie [...]. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt fassung, die animalische Existenz sei von quälenden
die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Begierden und fortwährendem Kampf bestimmt (vgl.
Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwan- KSA 1, 377–378), sowie das Postulat des Mitleids (vgl.
deln-müssen in’s Vollkommne ist – Kunst« (KSA 6, KSA 1, 377) und der Verneinung des Eigenwillens aus
116–117). Außer der Kunst charakterisiert Nietzsche einer »Sehnsucht nach Heiligung und Errettung«
in Jenseits von Gut und Böse auch »jede grosse Philoso- (KSA 1, 372). Analog zu Schopenhauer beschreibt
phie« als subjektives »Selbstbekenntnis ihres Urhe- Nietzsche die Menschen als die durch Bewusstsein
bers« (KSA 5, 19). Das Konzept des Perspektivismus, »verfeinerten Raubthiere« (KSA 1, 378), aber auch als
das eine zentrale Kategorie seiner Erkenntnistheorie »Spiegel« der Natur zum Zweck ihrer »Selbsterkennt-
darstellt und für seine Experimentalphilosophie Be- niss« (KSA 1, 378, 382). Indem Nietzsche später diese
deutung hat, unterscheidet sich – ebenso wie sein dio- und andere Prämissen revidiert, wird er zu Schopen-
nysischer Vitalismus – fundamental von den Prämis- hauers Antipoden.
sen Schopenhauers, der den Philosophen wie den Besonders nachhaltig ist das kulturkritisch akzen-
Künstler durch eine Haltung willenloser Kontemplati- tuierte Verdikt über den Typus des Gelehrten durch
on, durch reine interesselose Objektivität ausgezeich- Schopenhauer geprägt, das Nietzsche in seiner Schrift
net sieht (vgl. W II, 422–424). Schopenhauer als Erzieher formuliert. Von zentraler
Bedeutung ist hier der Einfluss der Abhandlung »Ue-
ber die Universitäts-Philosophie« (P I, 147–210), die
Der Einfluss von Schopenhauers Abhandlung
Schopenhauer 1851 in seinen Parerga und Paralipome-
»Ueber die Universitäts-Philosophie« auf ­
na publizierte (s. Kap. 9.3). Obwohl Nietzsche diese
Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher –
Abhandlung in Schopenhauer als Erzieher nur zweimal
und die spätere Revision
explizit erwähnt (vgl. KSA 1, 413, 418), lässt sich an-
Von autobiographischen Erfahrungen ausgehend, die hand zahlreicher Parallelstellen nachweisen, dass sie
sein Selbstverständnis als Schüler Schopenhauers be- die entscheidende Quelle für die dritte der Unzeitge-
stimmen (vgl. KSA 1, 341–350), charakterisiert Nietz- mässen Betrachtungen war (vgl. Neymeyr 2018) und als
sche sein damaliges Vorbild in der 1874 veröffentlich- Stimulans für Nietzsches Kritik am zeitgenössischen
ten Frühschrift Schopenhauer als Erzieher (vgl. KSA 1, Bildungssystem und Wissenschaftsbetrieb fungierte.
335–427) durch eine paradigmatische Authentizität Schopenhauer und Nietzsche sehen die Univer-
und geistige Autonomie: In der Abkehr von zeitgenös- sitätsphilosophie ihrer Epoche durch die Substanzlo-
sischen Denkkonventionen sei es Schopenhauer ge- sigkeit staatlich besoldeter »Katheder-Philosophen«
lungen, seine Individualität zu entwickeln und sich (P I, 149, 168, 203; KSA 1, 426) »in Mißkredit« geraten
dadurch von seiner Epoche zu emanzipieren. Mit sei- (P I, 194, 207; KSA 1, 418). Diese Problematik führen
ner eigenen Idealvorstellung ›unzeitgemäßen‹ Lebens sie auf eine Instrumentalisierung der Philosophie
30  Friedrich Nietzsche 295

durch fremde – religiöse oder staatliche – Instanzen Engagement für die eigentliche Aufgabe der Philoso-
zurück. Während Schopenhauer primär gegen die phie, das »Problem des Daseins« zu lösen (P I, 153,
theologische Vereinnahmung der Philosophie als 169; KSA 1, 349, 365), nicht durch ökonomische Ab-
»Apologie der Landesreligion« (P I, 151) und gegen ih- hängigkeit beeinträchtigt werden dürfe.
re Verbindung mit »spekulative[r] Theologie« polemi- Während sich Schopenhauers Kritik in der Ab-
siert (P I, 196, 203), bleibt dieser religiöse Aspekt in der handlung »Ueber die Universitäts-Philosophie« fast
dritten der Unzeitgemässen Betrachtungen eher margi- ausschließlich auf die philosophischen Katheder-Ge-
nal (vgl. KSA 1, 415). Nietzsche wendet sich vor allem lehrten bezieht, erweitert Nietzsche den gedank-
gegen die Depravation der Philosophie durch Staats- lichen Horizont in Schopenhauer als Erzieher be-
interessen (vgl. KSA 1, 415, 422). Doch auch Schopen- trächtlich: Er will mit seiner Zeitkritik dem »Ziel der
hauer kritisiert Philosophen, die eine »Apotheose des Kultur« (KSA 1, 400) zuarbeiten, der »Erzeugung des
Staats« (P I, 156, 205) vollziehen und sich durch staatli- Genius« (KSA 1, 358, 386) in Gestalt des Philoso-
che Einflüsse instrumentalisieren lassen (vgl. P I, 192). phen, Künstlers und Heiligen (vgl. KSA 1, 380, 382).
Nietzsche entfaltet seine Vorstellung vom genuinen Aber auch damit orientiert sich Nietzsche an Konzep-
Philosophen und seine Idee einer Bildungsreform, die ten, die bereits Schopenhauer in seiner Welt als Wille
eine höhere Kultur ermöglichen soll, im Spannungs- und Vorstellung entfaltet.
feld von Polemik und Programmatik. Seine kritische Analogien und partielle Differenzen weisen die an-
Kulturdiagnose verbindet er mit einem positiven Zu- thropologischen Prämissen der beiden Schriften auf:
kunftskonzept und der Hoffnung auf einen ›unzeitge- Während Schopenhauer gegenüber »Erziehung und
mäßen‹ Philosophen, der sich – wie bereits Schopen- Bildung« (P I, 209) die Bedeutung der »angeborenen
hauer erklärt – durch Originalität, Objektivität, Klar- Talente« für die Entstehung echter Philosophen be-
heit, Redlichkeit und Besonnenheit auszeichnen soll tont (P I, 209), ist Nietzsches kulturkritisches Interesse
(vgl. P I, 181, 182, 204). Analog zu Schopenhauer kon- von einem pädagogischen Eros inspiriert, der nach
trastiert Nietzsche die echten Philosophen als seltene dem Vorbild der Antike auf eine Entfaltung des Indi-
Geistesheroen (vgl. P I, 189; KSA 1, 372–375) mit der viduums durch Erziehung und Bildung zielt (vgl. KSA
bloßen »Fabrikwaare der Natur« (P I, 209, 189; KSA 1, 1, 341–345, 350), um dadurch letztlich den Fortschritt
338) und übernimmt von seinem Lehrer sogar diese der Kultur zu fördern (vgl. KSA 1, 382–387; P I, 176).
pejorative Metapher. Aber auch hier sind Interferenzen zu erkennen: Ana-
Nach Nietzsches Überzeugung schadet der zeitge- log zu Schopenhauers Überzeugung vom Primat der
nössische Wissenschaftsbetrieb einem humanen Bil- Naturanlage (vgl. P I, 209) erklärt Nietzsche, der
dungsideal, weil er die Persönlichkeit des Gelehrten »Grundstoff« des Individuums sei »etwas durchaus
verkümmern lässt. Übereinstimmend kritisieren Unerziehbares und Unbildbares« (KSA 1, 341). Und
Schopenhauer und Nietzsche den Typus des akademi- wie Nietzsche betrachtet schon Schopenhauer die
schen Gelehrten als verschroben (vgl. P I, 177, 179; Lektüre »der selbsteigenen Werke wirklicher Philoso-
KSA 1, 344), überangepasst, schmeichlerisch, devot phen« (P I, 208) als ein wichtiges Stimulans auto-
(vgl. P I, 206; KSA 1, 395, 411, 414) und geltungssüch- nomer intellektueller Tätigkeit. Dieser Auffassung
tig (vgl. P I, 162; KSA 1, 411). Ihm fehle die zur Wahr- entsprechen Nietzsches eigene Erfahrungen mit Scho-
heitssuche notwendige Unabhängigkeit, weil er sich penhauers Schriften (vgl. KSA 1, 341, 346–350). In-
durch Geld, Titel, Ämter und Reputation korrumpie- dem er die Orientierung an Vorbildern als den besten
ren lasse (vgl. P I, 164, 167, 190; KSA 1, 398). Durch Weg zur Selbstfindung bezeichnet (vgl. KSA 1, 341),
die Anpassung an Interessen der Regierung, Zwecke generalisiert er sein eigenes Schopenhauer-Erlebnis.
der Religion oder Tendenzen des Zeitgeistes (vgl. P I, Die kritischen Kulturdiagnosen Nietzsches (vgl.
159; KSA 1, 425) vernachlässige die Universitätsphi- KSA 1, 343–346, 366–368) entsprechen der Skepsis
losophie ihre eigentliche Aufgabe, die kompromiss- Schopenhauers gegenüber der eigenen Epoche (vgl.
lose »Wahrheitsforschung« (P I, 149, 167, 190–191; P I, 166, 177, 184–185). Nietzsche konstatiert einen
KSA 1, 411). Aus dieser Problematik ziehen Schopen- Mangel an authentischen Vorbildfiguren, die in der
hauer und Nietzsche radikale Konsequenzen: Über- zeitgenössischen Krisensituation Orientierung ver-
einstimmend plädieren sie für die Abschaffung der mitteln könnten. Nach seiner Vorstellung soll Scho-
staatlich besoldeten akademischen Philosophie (vgl. penhauer gerade in der vom Epigonensyndrom be-
P I, 167, 192–193, 207–208; KSA 1, 421–425) als ›Brot- stimmten Epoche als Korrektiv wirken: als ›unzeitge-
gewerbe‹ (vgl. P I, 164, 196; KSA 1, 398, 413), weil ein mäße‹ Alternative zu modernen Depravationen.
296 IV Wirkung – A Personen

Schopenhauer exemplifiziert die Kritik an den be- 157, 178, 205; KSA 1, 423) als primäre Ursache für die
soldeten »Katheder-Philosophen« (P I, 149, 168, 203; Misere der Philosophie ansieht (vgl. P I, 184), bringt
KSA 1, 426) durch scharfe Attacken vor allem auf die Nietzsche die kulturelle Krisensituation seiner Epoche
»drei Sophisten« (P I, 195) Fichte, Schelling und Hegel generell und die Problematik der Universitätsphiloso-
(vgl. P I, 172–174, 179, 188), die er für die skandalöse phie speziell (vgl. KSA 1, 418) in den Unzeitgemässen
Verdrängung Kants verantwortlich macht (vgl. P I, Betrachtungen mit dem zeitgenössischen Epigonen-
191–194). Bis zu seinem späten Publikumserfolg litt syndrom in Verbindung (vgl. KSA 1, 169, 295, 307–
Schopenhauer jahrzehntelang unter dem Mangel an 308). Aber auch Schopenhauer stellt die Philosophie in
öffentlicher Resonanz. Er selbst führte seine philoso- einen übergreifenden Kulturzusammenhang: Da »die
phische Existenz im Schatten der akademisch arrivier- herrschende Philosophie einer Zeit« (P I, 184) die
ten nachkantischen Idealisten auf eine Verschwörung »Denkungsart« der gesamten Epoche begründe (P I,
mediokrer Geister gegen die intellektuelle Elite zurück 166, 188), schade jede nachhaltige Depravation der
(vgl. P I, 175–176). Nietzsche betrachtet dieses Trauma Philosophie zugleich der »Bildung des Zeitalters« (P I,
Schopenhauers als eine für echte Philosophen symp- 184). Vom »Tribunal der Nachwelt« (P I, 155; KSA 1,
tomatische Leidenserfahrung, deren Bewältigung he- 425) erhoffen sich Schopenhauer und Nietzsche eine
roische Stärke erfordere (vgl. KSA 1, 373–375). Dass er Instanz, welche die Fehlurteile der Zeitgenossen zu re-
sich – aufgrund analoger Erfahrungen – mit Schopen- vidieren (vgl. P I, 185, 188; KSA 1, 339, 360–364) und
hauers Hoffnung auf eine umfassende Rezeption durch die Würde der Philosophie, ihr heroisches Potential
die Nachwelt identifiziert, erhellt auch noch aus Ecce und ihre für die Kultur produktive Gefährlichkeit wie-
homo: »Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige derherzustellen vermag (vgl. P I, 154; KSA 1, 426–427).
werden posthum geboren« (KSA 6, 298). Zwar avanciert Schopenhauer in der kulturpädago-
Während Schopenhauer implizit für eine Kant-Re- gischen Utopie der dritten Unzeitgemässen Betrach-
naissance plädiert, spricht sich Nietzsche für die För- tung zur zentralen Vorbildfigur, mit der Nietzsche vor
derung »des philosophischen Genius« (KSA 1, 418, dem Hintergrund kritischer Gegenwartsdiagnosen
407) nach dem unzeitgemäßen Vorbild Schopenhau- konstruktive Zukunftsperspektiven verbindet (vgl.
ers aus (vgl. KSA 1, 361–363), den er zum Antagonis- KSA 1, 404, 407). Aber schon am 19. Dezember 1876,
ten des Universitätsphilosophen Kant stilisiert (vgl. kaum mehr als zwei Jahre nach der Publikation der
KSA 1, 351, 414). Nietzsches Ziel besteht darin, »die Schrift, betont Nietzsche in einem Brief an Cosima
Wiedererzeugung Schopenhauers, das heisst des phi- Wagner seine wachsende Distanz zu »Schopenhauer’s
losophischen Genius vorzubereiten« (KSA 1, 407). Lehre«: »Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen
Übereinstimmend stellen Schopenhauer und Nietz- nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb,
sche fest, dass nur »sehr wenige Philosophen« zu- merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hin-
gleich »Professoren der Philosophie« waren (P I, 161; weg sei; mir lag alles am Menschen« (KSB 5, 210). In
KSA 1, 413–419). einem Nachlass-Notat von 1878 wendet Nietzsche
Mit kreativer Genialität kontrastieren Schopen- ausgerechnet seine Reflexionen über den »Schopen-
hauer und Nietzsche die reine Bücher-Gelehrsamkeit hauerischen Menschen« (KSA 1, 371) gegen seinen
steriler Köpfe (vgl. P I, 170; KSA 1, 399–400, 410, 416– einstigen Lehrer: »Der Schopenhauersche Mensch
417) und philosophischer Philister (vgl. P I, 158, 164; trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hoch-
KSA 1, 401), die durch Obskurantismus ihre geistige gehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen
Substanzlosigkeit zu kaschieren versuchen (vgl. P I, Schopenhauer Wagner)« (KSA 8, 500). Und in Ecce
172–173, 186; KSA 1, 419). Dem Imponiergehabe (vgl. homo behauptet Nietzsche 1888 im Rückblick auf sei-
P I, 162) bloßer »Spaaßphilosophen« (P I, 169, 183; ne Frühschriften Schopenhauer als Erzieher und Ri-
KSA 1, 365) stellen sie die Ernsthaftigkeit der originel- chard Wagner in Bayreuth sogar, er habe auf dem Weg
len »Selbstdenker« gegenüber (P I, 161, 163, 208; KSA zu »welthistorischen Aufgaben« (KSA 6, 319) »unzeit-
1, 346–347), die eine »zusammenhängende Grund- gemässe Typen par excellence« beschrieben: »Scho-
ansicht« von der Welt vermitteln (P I, 170; KSA 1, 356) penhauer und Wagner oder, mit einem Wort, Nietz-
und ihre Leser zu eigenständigem Denken animieren sche ...« (KSA 6, 316–317).
können (vgl. P I, 208; KSA 1, 338–339). Die forcierte Umdeutung dieser beiden Werke, mit
Insgesamt fällt Nietzsches Urteil über die kulturelle der Nietzsche die Vorbilder zu überholten Etappen
Décadence differenzierter aus als die Einschätzung der eigenen Entwicklung depotenziert und zugleich
Schopenhauers: Während dieser die »Hegelei« (P I, seinem Selbstverständnis als »unzeitgemässe« Exis-
30  Friedrich Nietzsche 297

tenz Rechnung trägt, kulminiert in der Behauptung: Nietzsches spekulativer Entwurf in der Geburt der
»Die Schrift ›Wagner in Bayreuth‹ ist eine Vision mei- Tragödie hat eine andere Ausrichtung. Er versucht den
ner Zukunft; dagegen ist in ›Schopenhauer als Erzie- Ursprung der griechischen Tragödie aus einer Synthe-
her‹ meine innerste Geschichte, mein Werden ein- se der beiden Kunstprinzipien des Apollinischen und
geschrieben. Vor Allem mein Gelöbniss! ...« (KSA 6, Dionysischen herzuleiten, an deren »Duplicität« er
320). Nietzsches »unzeitgemässe« Selbststilisierung »die Fortentwickelung der Kunst« gebunden sieht
reicht dabei sogar bis zur nachträglichen Infragestel- (KSA 1, 25). Dabei will Nietzsche zugleich eine kultur-
lung des Werktitels: So behauptet er, in seiner Schrift historische Entwicklung rekonstruieren: Nach seiner
komme »im Grunde nicht ›Schopenhauer als Erzie- Auffassung hat ein mit unerschütterlichem Erkennt-
her‹, sondern sein Gegensatz, ›Nietzsche als Erzieher‹, nisoptimismus verbundener Rationalismus die ur-
zu Worte« (KSA 6, 320). sprüngliche instinktsichere Empfindung abgelöst und
dadurch auch die tragische Weltbetrachtung der Anti-
ke paralysiert. In seiner eigenen Epoche erhofft sich
Die Ästhetik des Tragischen als Konfliktfeld seit
Nietzsche eine Renaissance der griechischen Tragödie
der Geburt der Tragödie: Analogien und Differen­
durch Richard Wagners Musikdrama. Obwohl sich
zen zwischen Schopenhauer und Nietzsche
die Geburt der Tragödie in der Gesamtintention gra-
Wenn Nietzsche Schopenhauer in der dritten Unzeit- vierend von Schopenhauers Willensmetaphysik un-
gemässen Betrachtung als den Philosophen würdigt, terscheidet, sind zugleich vielfältige Affinitäten fest-
der aus der »Entsagung hinauf zur Höhe der tragi- zustellen: Wenn Nietzsche den ›Willen‹ hier »im
schen Betrachtung leitet« (KSA 1, 356), dann bringt er Schopenhauerischen Sinne« definiert, nämlich »als
damit noch eine Affinität zu der Theorie des Trauer- Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen wil-
spiels zum Ausdruck, die Schopenhauer in wirkungs- lenlosen Stimmung« (KSA 1, 50), dann übernimmt er
ästhetischer Hinsicht mit einem Ethos der Vernei- sowohl den Zentralbegriff Schopenhauers als auch
nung des Willens zum Leben korreliert. Bereits in der den Grundansatz seiner Ästhetik.
Geburt der Tragödie finden sich Leitbegriffe und Zen- Nicht nur die Definition des Willens als »das innere
tralmotive aus der Philosophie Schopenhauers, die oft Wesen« (KSA 1, 111 f.) und die Bestimmung der Indi-
sogar in Nietzsches argumentativen Duktus hinein- viduation als »Urgrund alles Leidens« (KSA 1, 72)
wirkt. Andere Wege als sein ›Erzieher‹ beschreitet er adaptiert Nietzsche von Schopenhauer, sondern auch
allerdings durch die kulturhistorische und geschichts- die markante Metaphorik, wenn er das »Zerbrechen
philosophische Ausrichtung seines Erstlingswerks. des principii individuationis« mit der Imagination ver-
Schopenhauer schreibt dem Trauerspiel als literari- bindet, dass »der Schleier der Maja zerrissen« sei (KSA
scher Gattung in der Welt als Wille und Vorstellung ei- 1, 28 f.). Schopenhauer bezeichnet mit der aus der in-
nen Sonderstatus zu, weil es den »Widerstreit des Wil- dischen Philosophie entlehnten Metapher »Schleier
lens mit sich selbst« am Leiden des Menschen beson- der Maja« das Täuschende der Erscheinungssphäre,
ders intensiv entfalte (W I, 298). Wie sehr die Charak- das er letztlich auf das principium individuationis zu-
terisierung des Trauerspiels den Prämissen von rückführt (vgl. W I, 299, 416, 441). Auf diesen Zusam-
Schopenhauers pessimistischer Willensmetaphysik menhang bezieht sich Nietzsche in der Geburt der Tra-
entspricht, erhellt auch aus seiner These, »jedes Men- gödie auch mit einem ausführlichen Zitat aus Schopen-
schenleben« zeige, »im Ganzen überblickt, die Eigen- hauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung
schaften eines Trauerspiels« (P II, 341). Indem es »der (vgl. W I, 416–417; KSA 1, 28). Allerdings transfor-
schrecklichen Seite des Lebens« Ausdruck verleihe, al- miert er die Schleier-Metaphorik ins Ästhetische: Der
so Schmerz, Bosheit und katastrophale Zufallskon- »verführerische Schönheitsschleier der Kunst« (KSA
stellationen vorführe (W I, 298), veranschauliche es 1, 115) soll den Urgrund des Leidens verhüllen, um Il-
den Zuschauern, dass das Leben »wesentlich ein viel- lusionen zu erzeugen, die »das Dasein überhaupt le-
gestaltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zu- benswerth« erscheinen lassen (KSA 1, 155).
stand ist«, dem »gänzliches Nichtseyn [...] entschie- Sogar Schopenhauers metaphorische Vorstellung,
den vorzuziehn wäre« (W I, 381, 383). Nach Schopen- das ästhetische Subjekt werde zum klaren »Weltauge«
hauers Überzeugung motiviert die Erfahrung des Tra- (W I, 219; W II, 424), findet einen Reflex in Nietzsches
gischen deshalb zur Verneinung des Willens zum These, dass der Genius, »völlig losgelöst von der Gier
Leben und vermittelt auf diese Weise zwischen Ästhe- des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge« sei (KSA
tik und Ethik. 1, 51). Schopenhauers Utopie einer »gänzliche[n]
298 IV Wirkung – A Personen

Meeresstille des Gemüths« (W I, 486), die antike Ata- »als Arten des Rausches«: Den visionären Rausch der
raxie-Vorstellungen mit dem indischen Nirwana-Ide- Maler, Plastiker und Epiker unterscheidet er nun vom
al verschmilzt, paraphrasiert Nietzsche, indem er von Affekt-Rausch der Ausdruckskünstler, der Schauspie-
der »stillen Meeresruhe der apollinischen Betrach- ler, Tänzer und Musiker (vgl. KSA 6, 117–118).
tung« spricht, die er als ein »beglückte[s] Verharren in Den Hintergrund auch für den ästhetischen Dualis-
willenlosem Anschaun« beschreibt (KSA 1, 51, 140). mus in der Geburt der Tragödie bildet die Willensmeta-
Und wenn er in der Geburt der Tragödie »ohne Objec- physik Schopenhauers. Wie er differenziert Nietzsche
tivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an zwischen dem Willen als dem Urgrund alles Seienden
die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glau- und der durch das principium individuationis beding-
ben« kann (KSA 1, 43) und die Vorstellung der Welt ten Vielheit der Einzelwesen. Zwar lassen die »weis-
als Spiegel des Willens betrachtet (vgl. KSA 1, 36, 38), heitsvolle Ruhe« des Apollinischen (KSA 1, 28) und
dann folgt er ebenfalls den Prämissen von Schopen- die Entgrenzung des Individuums im dionysischen
hauers Ästhetik (vgl. W I, 196, 315, 339). Zustand Analogien zu Schopenhauers Konzept ästhe-
Später wird Nietzsche dem Postulat der ästheti- tischer Erfahrung erkennen, aber zugleich fallen hier
schen Interesselosigkeit, mit dem Schopenhauer auf markante Differenzen auf: Einerseits lässt sich der dio-
Kants Kritik der Urtheilskraft zurückgreift, die These nysische Rausch nicht mit Schopenhauers Konzept
entgegenhalten, in aestheticis sei eine »rücksichtslos willenloser Kontemplation in Einklang bringen, und
interessirte Zurechtmachung der Dinge« am Werke, die andererseits ist das Moment des schönen Scheins, das
der Selbstbehauptung des Menschen diene und jeden Nietzsche in der Tragödienschrift als Charakteristi-
objektiven Erkenntnisanspruch prinzipiell ausschließe kum des Apollinischen beschreibt und später zur Zen-
(KSA 12, 226). In der Fröhlichen Wissenschaft betont tralkategorie des Ästhetischen generell erhebt, nicht
Nietzsche, dass philosophische Konzepte generell auf problemlos kompatibel mit Schopenhauers Postulat
sehr unterschiedliche Weise durch individuelle Fak- einer objektiven Erkenntnis der Ideen, das durch die
toren geprägt sein können: »Bei dem Einen sind es sei- Philosophie Platons inspiriert ist (vgl. Neymeyr 1996,
ne Mängel, welche philosophiren, bei dem Andern sei- 213–263). Zudem entfernt sich Nietzsche bereits in der
ne Reichthümer und Kräfte. Ersterer hat seine Philoso- Geburt der Tragödie von Schopenhauers pessimisti-
phie nöthig, sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlö- scher Ethik der Resignation, wenn er die These vertritt:
sung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die
sie nur ein schöner Luxus« (KSA 3, 347). In diesem Welt ewig gerechtfertigt« (KSA 1, 47).
Sinne erlaube eine Tendenz zu Friedensideologien Während Schopenhauer »ein Hinwenden zur Re-
oder negativ definierten Glücksidealen, zu religiöser signation, zur Verneinung des Willens zum Leben«
Jenseitssehnsucht oder zu ästhetischen Gegenwelten als »letzte Absicht des Trauerspiels« bezeichnet (W II,
jeweils psychologische Rückschlüsse auf subjektive 500), betrachtet Nietzsche den »metaphysische[n]
Wünsche: »Die unbewusste Verkleidung physiologi- Trost«, das Leben sei trotz allem »unzerstörbar mäch-
scher Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, tig und lustvoll«, als Wirkung jeder wahren Tragödie
Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken (KSA 1, 56). Dabei beschreibt er »die Kunst« als es-
weit« (KSA 3, 348). Auch diese These Nietzsches ent- sentielles Therapeutikum: Als »rettende, heilkundige
hält eine implizite Kritik an Schopenhauer. Zauberin« vermöge sie »Ekelgedanken über das Ent-
In der Geburt der Tragödie korreliert er den Gegen- setzliche oder Absurde des Daseins« in erträgliche
satz zwischen der apollinischen »Kunst des Bildners« Vorstellungen »umzubiegen« (KSA 1, 57). Die thera-
und »der unbildlichen Kunst der Musik als der des peutische Funktion und den kreativen Charakter von
Dionysus« mit der Polarität von Traum und Rausch Schein und Illusion betont Nietzsche erstmals in der
(KSA 1, 25 f.): »Jeder Künstler ist apollinischer Traum- Geburt der Tragödie. In seinen späteren Werken lässt
künstler oder dionysischer Rauschkünstler« (KSA 1, sich diese Auffassung wiederholt belegen – auch nach
30). Aber je stärker sich eine vitalistische Grundten- seiner Abwendung von der Artisten-Metaphysik der
denz in Nietzsches Denken durchsetzt, desto mehr ge- Geburt der Tragödie.
winnt der Rausch an Bedeutung, bis er ihn in der Göt- In der Fröhlichen Wissenschaft propagiert Nietzsche
zen-Dämmerung schließlich sogar zur physiologi- den ästhetischen Schein als vitalisierendes Prinzip:
schen conditio sine qua non von Kunst generell erklärt Nur die »übermüthige, schwebende, tanzende« Kunst
(vgl. KSA 6, 116). Hier deutet Nietzsche die Kunstprin- lasse uns als »Cultus des Unwahren« und der schönen
zipien des Apollinischen und des Dionysischen beide Illusion trotz der sinnentleerten und grausamen Welt
30  Friedrich Nietzsche 299

das Dasein lebenswert erscheinen (KSA 3, 464 f.). Und »den äussersten Gegensatz und Antipoden eines pessi-
wenn Nietzsche später sogar ein »Künstler-Vermögen mistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umset-
par excellence« postuliert, kraft dessen der Mensch zung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos
»die Realität durch die Lüge vergewaltigt« (KSA 13, nicht: es fehlt die tragische Weisheit« (KSA 6, 312). Die-
193), dann ist die Opposition zur willenlosen Kontem- se Selbstdefinition Nietzsches lässt seine Umorientie-
plation und zur objektiven Ideenerkenntnis in Scho- rung seit der Geburt der Tragödie und Schopenhauer als
penhauers Ästhetik vollends evident. In der Götzen- Erzieher deutlich erkennen. Deshalb hat er der Geburt
Dämmerung versteht Nietzsche seine eigene Kunst- der Tragödie in der Neuausgabe 1886 nachträglich den
theorie ausdrücklich als Antidot gegen eine »Pessimis- »Versuch einer Selbstkritik« vorangestellt, in dem er
ten-Optik« (KSA 6, 127), die auch die Tragödie sich vorwirft, in seinem Erstlingswerk »mit Schopen-
dementsprechend funktionalisiere. Explizit grenzt er hauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdun-
sich hier von Schopenhauers Auffassung ab, das Trau- kelt« und das »grandiose griechische Problem« durch
erspiel solle »zur Resignation stimmen« (KSA 6, 127). Kontamination mit modernen Vorstellungen verdor-
Nietzsche widerspricht seinem einstigen ›Erzieher‹ ben zu haben (KSA 1, 20). Unter Berufung auf Diony-
mit der These, der »tragische Künstler« verherrliche sos distanziert sich Nietzsche hier nachdrücklich von
stattdessen einen »siegreiche[n] Zustand«: »der hero- Schopenhauers These, »der tragische Geist« leite »zur
ische Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein« Resignation hin« (W II, 495; KSA 1, 20).
(KSA 6, 128). Demgemäß unterscheiden sich auch die Bei seinen Attacken auf Schopenhauer übersieht
wirkungsästhetischen Bestimmungen grundlegend: Nietzsche allerdings wichtige Differenzierungen und
Während das Trauerspiel für Schopenhauer als »Quie- damit auch aufschlussreiche Affinitäten. Die von ihm
tiv alles Wollens« fungiert (W I, 275), weil es die Zu- betonte ästhetische Qualität von Schein, Fiktion und
schauer zur Verneinung des Willens zum Leben ani- Täuschung ist nachweislich bereits in der Welt als Wil-
miert, betrachtet Nietzsche die Tragödie wie die Kunst le und Vorstellung angelegt. Obwohl Schopenhauer
generell als »das grosse Stimulans zum Leben« (KSA 6, unter dem Einfluss der platonischen Ideenlehre vom
127), schreibt ihr also eine vitalisierende Wirkung zu. Erkenntnispotential ästhetischer Kontemplation aus-
Vor dem Hintergrund dieses Antagonismus insze- geht, schreibt er seiner Ästhetik gewisse Ambivalen-
niert Nietzsche in der Götzen-Dämmerung sogar eine zen ein, da er zugleich auch ›Zauber‹, ›verschönerndes
polemische Attacke: Er unterstellt Schopenhauer »die Licht‹, ›Selbsttäuschung‹ und ›Illusion‹ mit dem »rei-
grösste psychologische Falschmünzerei«, weil er »zu nen willenlosen Erkennen« verbunden sieht (W I,
Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung 234; W II, 428; vgl. Neymeyr 1996, 2011).
des Lebens« ausgerechnet »die Exuberanz-Formen Hinzu kommen noch zwei weitere Argumente:
des Lebens« wie Kunst, Heroismus, Genie, Schönheit, Nietzsche fixiert Schopenhauers Theorie des Tragi-
Erkenntnis, Wahrheitsstreben und Tragödie benutzt schen und darüber hinaus seine Ästhetik insgesamt
und als Folgen einer »Verneinungs-Bedürftigkeit des vorschnell auf eine einheitliche negativistische Grund-
›Willens‹ interpretirt« habe (KSA 6, 125). Nietzsches tendenz. Anders, als Nietzsche behauptet, enthält das
vehemente Abgrenzung von Schopenhauer hängt mit Telos der Resignation für Schopenhauer aber durchaus
seinem dionysischen Vitalismus und Amor fati zu- positive Komponenten. Obwohl die Tragödie durch
sammen, durch die sich seine Vorstellung vom Tragi- den »Widerstreit« der Willensbestrebungen von Indi-
schen fundamental veränderte: Er verbindet den »Be- viduen, den sie darstellt, exemplarisch die Negativität
griff des tragischen Gefühls« mit der »Psychologie des des Lebens präsentiert (W I, 298), kann sie laut Scho-
Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und penhauer »ein hoher Genuß« für die Zuschauer sein
Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz (W II, 497). Das »Gefallen am Trauerspiel« bezeichnet
noch als Stimulans wirkt« (KSA 6, 160). er sogar als den »höchste[n] Grad« des Gefühls des Er-
In seiner Spätschrift Ecce homo formuliert Nietz- habenen (W II, 495). Indem Schopenhauer die spezifi-
sche 1888 eine selbstkritische Retrospektive auf Die sche Ambivalenz in der Einstellung des ästhetischen
Geburt der Tragödie. Nun rühmt er nicht mehr Scho- Subjekts zum Tragischen betont, die »Duplicität seines
penhauers Weg »zur Höhe der tragischen Betrach- Bewußtseyns« (W I, 241), knüpft er an Kants Theorie
tung« (KSA 1, 356), sondern beansprucht eine avant- des Erhabenen an. Während sich Kant in seiner Kritik
gardistische Position für sich, indem er »das Recht« re- der Urtheilskraft von 1790 (§§ 23–29) allerdings auf
klamiert, sich »selber als den ersten tragischen Philoso- das Naturerhabene konzentriert (vgl. Bd. V, 244–278),
phen zu verstehn« (KSA 6, 312). Damit meint er jetzt reflektiert Schopenhauer das Erhabene in Natur und
300 IV Wirkung – A Personen

Kunst und arbeitet die bei Kant noch fehlende Theorie Philosophie als Kunst seyn« (ebd., 301). Was er hier als
der Tragödie als des Kunsterhabenen aus. Schopen- ein Nacheinander im Sinne einer qualitativen Ent-
hauer analogisiert »die Wirkung des Trauerspiels« mit wicklung beschreibt, charakterisiert er im Kontext al-
der »des dynamisch Erhabenen«, weil es »uns über den lerdings auch als ein synthetisches Zugleich: Zwar sei
Willen und sein Interesse« auf ähnliche Weise hinaus- die Philosophie durch die »Erkenntniß der Ideen [...]
hebt, so »daß wir am Anblick des ihm geradezu Wider- der Kunst beizuzählen«, aber durch ihre Begriffsarbeit
strebenden Gefallen finden« (W II, 495). erweise sie sich als »eine Wissenschaft: eigentlich ist sie
Als Instanz der Vermittlung zwischen Ästhetik und ein Mittleres von Kunst und Wissenschaft«, das »beide
Ethik erhält die Tragödie bei Schopenhauer einen vereinigt« (ebd., 303).
Sonderstatus. Denn der »tragische Geist« leitet »zur Diesem Konzept Schopenhauers folgt Nietzsche
Resignation hin« (W II, 495), so dass sich die Zu- (vgl. Neymeyr 2016, 323–331), wenn er den systemati-
schauer durch die tragische Katastrophe zur Abwen- schen Sonderstatus der Philosophie bereits 1872/73 in
dung des Willens vom Leben aufgefordert fühlen. Un- nachgelassenen Notaten mithilfe der Zweck-Mittel-
ter dem Einfluss antiker Ataraxie-Konzepte und in- Relation bestimmt: »Es ist eine Kunst in ihren Zwecken
discher Nirwana-Vorstellungen avanciert die ›Resig- und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstel-
nation‹ bei Schopenhauer allerdings zum »summum lung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein.
bonum«, das mehr bedeutet als »alle erfüllten Wün- Es ist eine Form der Dichtkunst« (KSA 7, 439). Wieder-
sche und alles erlangte Glück« (W I, 428). Wahre Ge- holt betont Nietzsche zukunftsweisende Interferenzen
lassenheit ermöglicht nach seiner Auffassung einen zwischen Philosophie und Literatur. So favorisiert er
Zustand »unanfechtbarer Ruhe, Säligkeit und Erha- synthetische Denkstrategien und Gestaltungsprinzi-
benheit« (W I, 464). So mündet die Selbstaufhebung pien, wenn er erklärt, er könne »eine ganz neue Art des
des Willens in »wahres Heil, Erlösung vom Leben und Philosophen-Künstlers imaginiren, der ein Kunstwerk
Leiden« (W I, 470), tiefen Frieden, unerschütterliche hinein in die Lücke stellt, mit ästhetischem Werthe«
Ruhe und Heiterkeit, ja »gänzliche Meeresstille des (KSA 7, 431). Nietzsche sucht nach Auswegen aus der
Gemüths« (W I, 486). Auch diese Umwertung der Re- systematischen »Verlegenheit, ob die Philosophie eine
signation in eine positive Erfahrung übersieht Nietz- Kunst oder eine Wissenschaft ist« (KSA 7, 439), und
sche bei seiner Polemik gegen Schopenhauer. greift dabei zugleich auf die bereits von Schopenhauer
reflektierte Problematik zurück. Aus dem Dilemma,
dass die Philosophie »nicht unterzubringen« ist, zieht
Schopenhauer und Nietzsche über Philosophie
Nietzsche die Konsequenz: »deshalb müssen wir eine
als Wissenschaft und Kunst
Species erfinden und charakterisiren« (KSA 7, 439), in
Wichtige Aspekte von Nietzsches Philosophie-Kon- der sich Erkennen und Dichten verbinden.
zept sind bereits in Schopenhauers handschriftlichem In Übereinstimmung mit Schopenhauers späten
Nachlass präfiguriert, dessen Druckfassung sich in Manuskript-Entwürfen versucht Nietzsche den Hiat
Nietzsches Bibliothek befand (NPB 543). In seinen zwischen Philosophie und Kunst sogar durch die pro-
Manuskripten entwirft Schopenhauer einen Sonder- grammatische These zu überbrücken: Der Philosoph
status für die Philosophie und formuliert dazu unter- »erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er er-
schiedliche Thesen: Einerseits betont er die Einheit kennt« (KSA 7, 439). Mit diesem ganz auf Vermittlung
von Wissenschaft und Kunst in der Philosophie, ande- ausgerichteten Konzept suggeriert Nietzsche, das ge-
rerseits sagt er der Philosophie sogar eine Zukunft vo- nuine Potential philosophischer Reflexion könne sich
raus, in der sie den Weg der Wissenschaft verlassen erst durch Synthesen mit poetischer Kreativität voll
und in die Sphäre der Künste übertreten werde (Scho- entfalten. So grenzt er sich implizit auch von dem Vor-
penhauer 1864, 299–304, 317). Dabei differenziert urteil ab, ein seriöser philosophischer Erkenntnis-
Schopenhauer zwischen »zwei Perioden« der Philoso- anspruch sei mit dem experimentellen Gestus literari-
phie: »die erste war die, wo sie, Wissenschaft seyn wol- scher Fiktion inkompatibel.
lend, am Satz vom Grunde fortschritt und immer fehl- Auch Nietzsches eigenes Selbstverständnis als Au-
te [...]. Die zweite Periode der Philosophie wird die tor zielt darauf, den Typus des Künstlers und des Phi-
seyn, wo sie, als Kunst auftretend, [...] die Platonische losophen in Personalunion zu repräsentieren. In die-
Idee« betrachtet und begrifflich festhält (ebd., 317). sem Sinne bekennt er bereits 1870 in einem Brief:
Auf der Basis dieser Erwartung prognostiziert Scho- »Wissenschaft Kunst und Philosophie wachsen jetzt
penhauer für seine eigene Philosophie: »sie wird eben so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal
30  Friedrich Nietzsche 301

Centauren gebären werde« (KSB 3, 95). Im November Potentialität auf spezifische Weise ins Zentrum phi-
1882 kann er dann auf die von ihm zwischenzeitlich losophischen Denkens.
vollzogenen Entwicklungen zurückblicken: »ich war Radikaler als Schopenhauer, der unter Rückgriff
auf Einmal / Philolog, Schriftsteller Musiker Philo- auf den platonischen Idealismus prinzipiell am phi-
soph / Freidenker usw (vielleicht Dichter? usw)« (KSB losophischen Wahrheitsanspruch festhält, transzen-
6, 282). Mit diesem Selbstkonzept korrespondiert im diert Nietzsche die Tradition, und zwar durch einen
experimentellen Denkgestus Nietzsches nicht nur ei- experimentellen Gestus, der sowohl assoziative Denk-
ne Offenheit für produktive Wechselwirkungen zwi- räume und Möglichkeitshorizonte eröffnet als auch li-
schen philosophischen und poetischen Entwürfen. terarisierende Ausdrucksformen nahelegt. In diesem
Darüber hinaus macht er sogar den Wert einer Phi- Sinne beschreibt Nietzsche das »philosophische Den-
losophie von ästhetischen Kriterien abhängig, wenn ken« metaphorisch als »Flügelschlag der Phantasie«,
er erklärt: »Die Schönheit und die Großartigkeit einer mithin als »ein Weiterspringen von Möglichkeit zu
Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt Möglichkeit« (KSA 7, 443). Dabei sind die spezi-
über ihren Werth – d. h. sie wird als Kunst beurtheilt« fischen Reflexionsweisen des Philosophen, der nach
(KSA 7, 434). Zudem postuliert Nietzsche für den Phi- Nietzsches Konzept »erkennt, indem er dichtet« (KSA
losophen auch einen Sonderstatus in der kulturellen 7, 439), mit entsprechenden Formen sprachlicher Ge-
Sphäre, indem er ihm dort eine richtungsweisende staltung verbunden. Der »Dichter-Philosoph« Nietz-
Metaposition zuspricht: »Der Philosoph der Zukunft? sche (KSA 12, 240) nutzt die Sprache insofern mit
er muß das Obertribunal einer künstlerischen Kultur neuartiger Kreativität, als er sie nicht auf eine proposi-
werden« (KSA 7, 443). tionale Aussagefunktion reduziert, sondern ihr durch
In der Götzen-Dämmerung bringt Nietzsche seine rhythmische Musikalität, Klangmagie und Bilder-
Abkehr von der philosophischen Tradition mit einem reichtum eine besondere poetische Suggestivkraft ver-
dezidierten moralischen Verdikt zum Ausdruck: »Ich leiht, die über distinkte Begrifflichkeit und logische
misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus Stringenz der Argumentation im Sinne traditioneller
dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Philosophie hinausweist.
Rechtschaffenheit« (KSA 6, 63). Bereits Schopenhauer Schon in seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber
konnte sich mit den methodischen Implikationen ei- Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von
nes philosophischen Systemanspruchs nicht mehr 1873 (vgl. dazu Hödl 1997) betrachtet Nietzsche die
identifizieren. Schon in der Vorrede zur ersten Auf- Sprache als ein Medium für die »verwegensten Kunst-
lage seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstel- stücke«, sofern der Intellekt des Menschen »seinem
lung I stellt Schopenhauer einem »System von Gedan- sonstigen Sklavendienste enthoben« (KSA 1, 888) und
ken«, das »allemal einen architektonischen Zusam- dadurch von jedem zweckorientierten Pragmatismus
menhang« haben muss, seine eigene Konzeption ge- befreit ist. Indem Nietzsche vom »Sklavendienste« des
genüber: »ein einziger Gedanke«, und zwar »von Intellekts als eines ›Werkzeugs‹ spricht, übernimmt er
verschiedenen Seiten betrachtet«, ist sein philosophi- Metaphern aus Schopenhauers Willensmetaphysik
sches Sujet, das aus mehreren Themenfeldern besteht; (vgl. W I, 231, 345, W II, 228, 238, 247, 260), aus der er
dabei soll »der Zusammenhang dieser Theile ein orga- hier (KSA 1, 888) auch die Charakterisierung von
nischer« sein – mit einer Korrelation zwischen dem Willen und Intellekt durch die Korrelation zwischen
Ganzen und seinen Aspekten, so dass »jeder Theil »Herrn« und »Diener« adaptiert (vgl. W II, 233, 243).
eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen ge- Entsprechendes gilt für die komplementäre Vorstel-
halten wird« (W I, VII–VIII). Die Pluralität der Per- lung vom »freigewordenen Intellekt« (KSA 1, 888),
spektiven, die Schopenhauer bereits in dieser Vorrede dessen selbstbestimmte Tätigkeit laut Schopenhauer
hervorhebt, führt Nietzsche später durch seinen Per- für ästhetische Betrachtung und philosophische Re-
spektivismus weiter, der sogar eine Vielzahl von Inter- flexion gleichermaßen konstitutiv ist. Wiederholt be-
pretationen der Wirklichkeit an die Stelle des traditio- tont er in der Welt als Wille und Vorstellung die Auto-
nellen Wahrheitsanspruchs treten lässt und insofern nomie des vom Willensdienst befreiten Intellekts (vgl.
über Schopenhauers Konzeption hinausweist. So sta- dazu Neymeyr 1995; 1996) und die Anschaulichkeit
tuiert Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der kontemplativer Erkenntnis, die er Künstlern und Phi-
Moral: »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur losophen attestiert.
ein perspektivisches ›Erkennen‹« (KSA 5, 365). Unter In entschiedener Abgrenzung von der »unwürdi-
solchen Prämissen rückt dann auch die Kategorie der ge[n] Definition der Philosophie, die aber sogar noch
302 IV Wirkung – A Personen

Kant giebt, [...] daß sie eine Wissenschaft aus bloßen philosophischer Sprache ermöglichen. Mit Schopen-
Begriffen wäre« (P II, 9), erklärt Schopenhauer: »Alle hauers Tendenz zur Veranschaulichung philosophi-
Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen«, scher Gedankengänge durch prägnante Gleichnisse
mithin »bloß durch Wegdenken entstanden. Alle tiefe korrespondiert in Nietzsches Œuvre ein breites Spek-
Erkenntniß, sogar die eigentliche Weisheit, wurzelt in trum von Metaphern unterschiedlicher Provenienz,
der anschaulichen Auffassung der Dinge«, durch die die sich bisweilen sogar zu allegorischen Bildkomple-
»jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, xen erweitern und auf spezifische Weise dem Anschau-
den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht lichkeitspostulat Schopenhauers Rechnung tragen.
in Bildern« (W II, 432–433). Daher muss die Philoso- Inwiefern die zu effizienter Realitätsbewältigung
phie laut Schopenhauer ebenso »wie Kunst und Poe- elementar notwendige Fähigkeit des menschlichen
sie, ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Intellekts, »bei allem Aehnlichen sofort [...] Gleich-
Welt haben« (P II, 9), die er als Fundament für »alles heit« zu vermuten (KSA 3, 471), im kreativen »Bilder-
wahre und ächte Verständniß« der Phänomene vo- denken« (KSA 7, 454) neue Funktionen jenseits prak-
raussetzt (PP II, 51). Diese Prämissen übernimmt tischer Handlungszusammenhänge erhält, zeigt Die
Nietzsche, wenn er die Erkenntnis »des beschauli- fröhliche Wissenschaft. Hier reflektiert Nietzsche über
chen Philosophen und des Künstlers« in einem »un- die Genese der Logik »aus der Unlogik« (ebd.) und
bewußte[n] Denken« sieht, das »sich ohne Begriffe bringt zugleich das Spannungsfeld von Ähnlichkeit
vollziehn« muss, »also in Anschauungen«, mithin als und Gleichheit ins Spiel, das für die Produktion von
»Bilderdenken« (KSA 7, 454). Bezeichnenderweise Begriffen und Metaphern konstitutive Bedeutung hat.
finden sich diese Konzepte in Nietzsches Nachlass- Den Erfolg des Menschen im Evolutionsprozess er-
Notaten von 1872/73 in der Nähe des Kapitels »Weis- klärt er sich mit einer pragmatischen Urteilsfähigkeit,
heit und Wissenschaft. Über die Philosophen«, das er die Ähnliches hypothetisch wie Identisches behandelt
»Arthur Schopenhauer dem Unsterblichen geweiht« und durch effiziente »Subsumption« von Erfahrun-
hat (KSA 7, 448). gen das Überleben sichert. Maßgeblich sei dafür die
›unlogische‹ Tendenz, »das Aehnliche als gleich zu
behandeln«, obwohl es »an sich nichts Gleiches« gebe
Gleichnis und Metaphorik als Produkt und ­
(KSA 3, 471).
Stimulans experimentellen Denkens
Schon in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im
Dem Anschaulichkeitspostulat Schopenhauers und aussermoralischen Sinne reflektiert Nietzsche über das
seiner These vom »Urdenken«, das sich »in Bildern« Prinzip der Ähnlichkeit und seine Funktion für die
vollziehe (W II, 433), folgt Nietzsche mit seiner Vor- Begriffsbildung, indem er konstatiert: »Jeder Begriff
stellung vom »Bilderdenken« (KSA 7, 454), das ihm in- entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen«
novative Strategien sprachlicher Gestaltung eröffnet. (KSA 1, 880). Ganz analog hatte zuvor bereits Scho-
Auf vielfältige Weise nutzt er das heuristische Erkennt- penhauer in den Parerga und Paralipomena II konsta-
nispotential der Metaphorik, um Gedankenwege jen- tiert, dass »alle Begriffsbildung im Grunde auf Gleich-
seits der Konvention zu erkunden, Gewohntes zu ver- nissen« beruht, »sofern sie aus dem Auffassen des
fremden, überraschende Verbindungen zu schaffen Aehnlichen, und Fallenlassen des Unähnlichen in den
und unerwartete Perspektiven zu erproben. Durch Dingen erwächst« (P II, 584). Das Erkennen von Ana-
eine suggestive Fülle von Konnotationen und Assozia- logien als Basis der Begriffskonstitution stellt auch die
tionsmöglichkeiten sowie durch überraschende Poin- Grundlage für die Bildung der Metapher dar, die
tierungen und subversiven Esprit können Metaphern Nietzsche in der Geburt der Tragödie als »stellvertre-
etablierte Wahrnehmungsschablonen aufsprengen tendes Bild« beschreibt, das den Begriff ersetzt (KSA
und neue Horizonte jenseits eingeschliffener Denk- 1, 60). In einem Nachlass-Notat bezeichnet er die Me-
muster eröffnen. Gerade die gedankliche Offenheit es- tapher als »Analogieschluß« (KSA 7, 483, 490): »Die
sayistischer und aphoristischer Reflexionen eignet sich Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Spra-
besonders als Versuchsfeld für Nietzsches facettenrei- che«, die auch »ein unlogisches Element in sich« hat:
che ›Experimental-Metaphorik‹ (vgl. Neymeyr 2016). »die Metapher« (KSA 7, 625). Nietzsche konstatiert:
Sowohl für Schopenhauer als auch für Nietzsche bil- »Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man
det das Prinzip der Analogiebildung ein Stimulans für in einem Punkte als ähnlich erkannt hat« (KSA 7, 498).
die Produktion erkenntnisfördernder Gleichnisse und Insofern sieht er sowohl die Produktion von Begriffen
Metaphern, die Synthesen zwischen literarischer und als auch die Erfindung von Metaphern durch eine
30  Friedrich Nietzsche 303

mentale Transferleistung bedingt: Wenn Analoges wie Literatur


Identisches behandelt wird, entsteht eine jeweils spe- Aus Arthur Schopenhauer’s handschriftlichem Nachlaß. Hg.
zifische ›Unschärferelation‹ im Verhältnis zur Realität. von Julius Frauenstädt. Leipzig 1864.
Birnbacher, Dieter/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik
Dabei verdanken sich die durch die Bildung originel- bei Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg 2013.
ler Metaphern konstituierten Vernetzungen und As- Campioni, Giuliano/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/
soziationsspielräume in besonderem Maße einer Fronterotta, Francesco/Orsucci, Andrea (Hg.): Nietzsches
schöpferischen Tätigkeit des Intellekts. persönliche Bibliothek. Unter Mitarb. von Renate Müller-
Die Konzepte Schopenhauers und Nietzsches las- Buck. Berlin/New York 2003 [NPB].
Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine
sen auch im Hinblick auf das kreative Potential der
Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg
Bildlichkeit deutliche Affinitäten erkennen. So betont 1984.
bereits Schopenhauer in den Parerga und Paralipome- Giametta, Sossio: Schopenhauer e Nietzsche. Padova 2008.
na II, dass Gleichnisse als wichtiges Erkenntnissti- Goedert, Georges: Nietzsche und Schopenhauer. In: Nietz-
mulans fungieren können, »sofern sie ein unbekann- sche-Studien 7 (1978), 1–15.
tes Verhältniß auf ein bekanntes zurückführen« (P II, Goedert, Georges: Nietzsche der Überwinder Schopenhauers
und des Mitleids. Amsterdam/Würzburg 1988.
584). Den bildhaften Darstellungsweisen von »Meta-
Hödl, Hans Gerald: Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren
pher, Gleichnis, Parabel und Allegorie« schreibt er ein zu ›Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
Vermittlungspotential »von trefflicher Wirkung« zu, (1873)‹. Wien 1997.
das er selbst wiederholt strategisch nutzt, um »abs- Hödl, Hans Gerald: Interesseloses Wohlgefallen. Nietzsches
trakte Gedanke[n]« zu veranschaulichen (W I, 283– Kritik an Kants Ästhetik als Kritik an Schopenhauers
284). Nach Schopenhauers Auffassung »zeugt das Soteriologie. In: Beatrix Himmelmann (Hg.): Kant und
Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der
Aufstellen überraschender und dabei treffender Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-
Gleichnisse von einem tiefen Verstande« (P II, 584). Gesellschaft: Naumburg an der Saale, 26.–29. August 2004.
Mit dieser Einschätzung beruft er sich auf die Poetik Berlin/New York 2005, 186–195.
und Rhetorik von Aristoteles (vgl. ebd.), der die meta- Hühn, Lore: Von Arthur Schopenhauer zu Friedrich Nietz-
phorische Diktion als Signum eines genialen Intellekts sche. In: Barbara Neymeyr/Andreas Urs Sommer (Hg. im
Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften):
und als Ausweis philosophischen Scharfsinns be-
Nietzsche als Philosoph der Moderne. Heidelberg 2012,
trachtet, ihr höchste poetische Dignität zuschreibt 123–159.
und zugleich ihren Erkenntniswert betont. Janaway, Christopher: Willing and Nothingness. Schopen-
Zwar teilt Nietzsche mit Schopenhauer die Präfe- hauer as Nietzsche’s Educator. Oxford 1998.
renz für prägnante Bildlichkeit als Medium philoso- Kant, Immanuel: Kritik der Urtheilskraft. In: Kants Werke,
phischer Reflexion, aber in seiner Schrift Ueber Wahr- Bd. V. Akademie-Textausgabe. Berlin 1968.
Kopij, Marta/Kunicki, Wojciech (Hg.): Nietzsche und Scho-
heit und Lüge im aussermoralischen Sinne formuliert penhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezeiten. Leipzig
er auch radikale sprach- und erkenntniskritische The- 2006.
sen, mit denen er sich weit von Schopenhauers Wahr- Koßler, Matthias: Ästhetik als Aufklärungskritik bei Scho-
heitsanspruch entfernt. So charakterisiert er »Wahr- penhauer und Nietzsche. In: Renate Reschke (Hg.): Nietz-
heit« als ein »bewegliches Heer von Metaphern, Meto- sche: Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?
Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusam-
nymien, Anthropomorphismen«, die »poetisch und
menarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der
rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wur- Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom
den«, bis sie aufgrund von Gewohnheit »verbindlich« 15.–17. Mai 2003 in Weimar. Berlin 2004, 255–262.
erschienen; sein Fazit lautet: »die Wahrheiten sind Il- Margreiter, Reinhard: Allverneinung und Allbejahung. Der
lusionen, von denen man vergessen hat, dass sie wel- Grund des Willens bei Schopenhauer und Nietzsche. In:
che sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraft- Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984), 103–115.
Neymeyr, Barbara: Ästhetische Subjektivität als interesselo-
los geworden sind« (KSA 1, 880–881). Mit dieser pro-
ser Spiegel? Zu Heideggers und Nietzsches Auseinander-
vokativen These stellt Nietzsche die philosophische setzung mit Schopenhauer und Kant. In: Philosophisches
Tradition radikal in Frage und suspendiert mit dem Jahrbuch 102 (1995), 225–248.
Wahrheitsbegriff zugleich auch die Opposition von Neymeyr, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität.
Wahrheit und Falschheit. Dem gedanklichen Duktus Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont
seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermo- seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996 (Reprint
2011).
ralischen Sinne zufolge bleibt anstelle des Wahrheits- Neymeyr, Barbara: Das Tragische – Quietiv oder Stimulans
anspruchs am Ende nur noch die universalisierte Me- des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer. In: Lore
taphorik (vgl. Neymeyr 2016, 350–353).
304 IV Wirkung – A Personen

Hühn/Philipp Schwab (Hg.): Die Philosophie des Tragi- Salaquarda, Jörg: Zur gegenseitigen Verdrängung von Scho-
schen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche. Berlin/Boston penhauer und Nietzsche. In: Schopenhauer-Jahrbuch 65
2011, 369–391. (1984), 13–30.
Neymeyr, Barbara: Sprache als Medium für die »verwegens- Salaquarda, Jörg: Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vor-
ten Kunststücke«. Nietzsches Experimental-Metaphorik. bereitung durch Schopenhauer. In: Günter Abel/Ders.:
In: Katharina Grätz/Sebastian Kaufmann (Hg.): Nietzsche (Hg.): Krisis der Metaphysik. Berlin/NewYork 1989, 258–
zwischen Philosophie und Literatur. Von der ›Fröhlichen 282.
Wissenschaft‹ zu ›Also sprach Zarathustra‹ (= Akademie- Schmidt, Jochen: Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem
konferenzen, Bd. 25). Heidelberg 2016, 323–353. Geist Schopenhauers und Wagners. In: Barbara Neymeyr/
Neymeyr, Barbara: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemäs- Andreas Urs Sommer (Hg. im Auftrag der Heidelberger
sen Betrachtungen I–IV (= Historischer und kritischer Akademie der Wissenschaften): Nietzsche als Philosoph
Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hg. von der der Moderne. Heidelberg 2012, 161–174.
Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/2). Schmidt, Jochen: Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der
Berlin/Boston 2018. Tragödie (= Historischer und kritischer Kommentar zu
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus- Friedrich Nietzsches Werken. Hg. von der Heidelberger
gabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/1). Berlin/Boston
Montinari. München/Berlin/New York 31999 [KSA; 2012.
Nietzsches Hervorhebungen werden einheitlich durch Schirmacher, Wolfgang (Hg.): Schopenhauer, Nietzsche und
Kursivierung wiedergegeben]. die Kunst. Wien 1991.
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienaus- Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortrags-
gabe in 8 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino zyklus. Leipzig 1907.
Montinari. München/Berlin/New York 22003 [KSB]. Taylor, Charles Senn: Nietzsche’s Schopenhauerianism. In:
Nussbaum, Martha: Nietzsche, Schopenhauer and Diony- Nietzsche-Studien 17 (1988), 45–73.
sus. In: Christopher Janaway (Hg.): The Cambridge Com-
panion to Schopenhauer. Cambridge 1999, 344–374. Barbara Neymeyr
31  Sigmund Freud 305

31 Sigmund Freud kens Freuds« (1994, 261 f.) in seiner Schopenhauer-


Rezeption herausgestellt.
In der Zeit von 1870 bis 1920 gehörte Schopenhauer Bei aller Übereinstimmung ist allerdings nach wie
zu den meistgelesenen Philosophen in Deutschland. vor unklar, wie Freud sich mit Schopenhauers Denken
Bemerkenswert ist, dass der junge Freud bereits wäh- auseinander gesetzt hat. Hat er über dessen Denken
rend seines Medizinstudiums erstmals mit Schopen- nur aus Gesprächen, Diskussionen, Zeitungslektüre
hauers Denken in Berührung kam. Im »Leseverein und ähnlichen Sekundärquellen erfahren, oder hat er
der deutschen Studenten Wiens«, dem er von 1873 bis Primärtexte von ihm mehr oder weniger gründlich
1878 angehörte, gab es eine tonangebende Gruppie- studiert, und wenn ja, wann hat er sich der Lektüre
rung um Viktor Adler, Otto Pernerstorfer und Freuds welcher Schriften Schopenhauers gewidmet und was
Jugendfreund Heinrich Braun, die sich für Schopen- hat das für die Herausbildung der Psychoanalyse zu
hauers Philosophie begeisterte und dazu öffentliche bedeuten? Freud selbst hat ein solches Studium wie-
Diskussionen initiierte. Auf große Resonanz stieß so- derholt in Abrede gestellt: »Die weitgehenden Über-
wohl Schopenhauers Metaphysik des ›unbewussten einstimmungen der Psychoanalyse mit der Philoso-
Willens‹, die den Optimismus und die Fortschritts- phie Schopenhauers [...] lassen sich nicht auf meine
gläubigkeit seiner philosophischen Vorgänger unter- Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückführen. Ich ha-
minierte, als auch seine neue Sozialethik, die im be Schopenhauer sehr spät im Leben gelesen« (Freud
schroffen Gegensatz zur individualistischen Doktrin 1925, 86). Diese Behauptung impliziert, dass Scho-
des Liberalismus stand (vgl. Safranski 1987; Koßler penhauer keinen maßgeblichen Einfluss auf die Ent-
2005; Fleiter 2010; Schubbe 2010; Zimmer 2010). In stehung der Psychoanalyse gehabt habe, und gab An-
seinen Jugendbriefen an Eduard Silberstein äußerte lass zu einer noch immer anhaltenden Kontroverse
sich Freud mehrmals über den Leseverein, ohne di- über die Art und das Ausmaß der Schopenhauer-Re-
rekt auf Schopenhauer zu sprechen zu kommen (vgl. zeption Freuds (vgl. Becker 1971; Zentner 1995; At-
Freud 1989). Die intensiven Diskussionen über Scho- zert 2005; Gödde 2012).
penhauer können jedoch nicht spurlos an ihm vorü- Wenn man zwei Briefen Freuds an Anna Freud und
bergegangen sein (vgl. Gödde 1991a). Lou Andreas-Salomé Glauben schenken darf, hat er
Schon Thomas Mann hat darauf hingewiesen, dass erst 1919 mit einer Lektüre Schopenhauers begonnen
von Schopenhauer als »Vater aller modernen Seelen- (vgl. S. Freud/A. Freud 2006, 232; Freud/Andreas-Salo-
kunde [...], über den psychologischen Radikalismus mé 1980, 109). Das könnte bedeuten, dass das Jahr 1919
Nietzsche’s, eine gerade Linie zu Freud und denen, die eine Zäsur in Freuds psychoanalytischer Schopenhau-
seine Tiefenpsychologie ausbauten« (Mann 1978b, er-Rezeption war, so dass sich die Art und Qualität sei-
232), führe. Wesentlich mehr ins Detail gehend hat ner Auseinandersetzung mit Schopenhauer nach dem
Aloys Becker aufgezeigt, dass es sich bei den Überein- Ersten Weltkrieg deutlich intensiviert und qualitativ
stimmungen zwischen Schopenhauer und Freud um verändert hat (vgl. Gödde 2013). Zur Klärung dieser
»strukturell verankerte und in einem gefügehaften Frage soll ein Vergleich zwischen Freuds Schopenhau-
Zusammenhang stehende ›Haupt- und Grund-Ge- er-Rezeption bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und
danken‹« (Becker 1971, 114) handle. Zu diesen Über- derjenigen im Spätwerk gezogen werden.
einstimmungen, die Freud selbst nach und nach er-
kannt und explizit angesprochen hat, gehören u. a.,
Freuds psychoanalytische Schopenhauer-
dass das Unbewusste das »eigentlich reale Psychische«
Rezeption bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
(Freud 1900, 617) ist, dass es seinen Brennpunkt in der
Sexualität hat, dass es durch den Dualismus gegen- In Freuds 1900 veröffentlichter Traumdeutung finden
sätzlicher Kräfte aufgespalten und dass diese Aufspal- sich erste konkrete Spuren einer Schopenhauer-Re-
tung durch den Mechanismus der Verdrängung ver- zeption. Bei der Durcharbeitung der damaligen »wis-
schärft wird (vgl. Gödde 1991b; 1998). Ist die geistige senschaftlichen Literatur der Traumprobleme« (auf
Nähe und Verwandtschaft Schopenhauers und Freuds fast 100 Seiten) knüpfte er neben Traumwissenschaft-
mittels struktureller Vergleiche von Themenkomple- lern des 19. Jahrhunderts auch an die philosophische
xen, Texten und Textpassagen überzeugend nach- Tradition an. Schopenhauer wird an drei Stellen er-
gewiesen worden (vgl. Zentner 1995; Gödde 2009; wähnt, die aus seiner Abhandlung »Versuch über das
Schmidt 2004), so hat Wucherer-Huldenfeld ein- Geistersehn und was damit zusammenhängt« (1851)
schränkend die »Eigenständigkeit des Grundgedan- stammen.
306 IV Wirkung – A Personen

Beim Topos »Traumreize und Traumquellen« geht Topos »Traum und Geisteskrankheiten« mit folgen-
Freud auf den Anteil organisch bedingter Empfindun- den Worten auf: »Schopenhauer nennt den Traum ei-
gen an der Traumentstehung ein und nimmt dabei nen kurzen Wahnsinn und den Wahnsinn einen lan-
erstmals Bezug auf Schopenhauer: gen Traum« (Freud 1900, 94). Auch hier könnte Freud
direkt den Originaltext von Schopenhauer zugrunde
»Das Weltbild entsteht in uns dadurch, daß unser In- gelegt haben.
tellekt die ihn von außen treffenden Eindrücke in die Im Zeitraum von 1909 bis 1919 gibt es in Freuds
Formen der Zeit, des Raums und der Kausalität um- Schriften mehrere Bezugnahmen auf Schopenhauer,
gießt. Die Reize aus dem Inneren des Organismus, vom die in einem engen Kontext mit den Diskussionen in
sympathischen Nervensystem her, äußern bei Tag der 1902 gegründeten »Mittwoch-Gesellschaft« bzw.
höchstens einen unbewußten Einfluß auf unsere »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« (WPV)
Stimmung. Bei Nacht aber, wenn die übertäubende stehen. In den von Otto Rank geführten Protokollen
Wirkung der Tageseindrücke aufgehört hat, vermögen dieser Diskussionen wird Schopenhauer in den Jahren
jene aus dem Innern heraufdringenden Eindrücke sich 1907 bis 1912 insgesamt etwa 30 Mal erwähnt.
Aufmerksamkeit zu verschaffen – ähnlich wie wir bei In unserem Zusammenhang soll es hauptsächlich
Nacht die Quelle rieseln hören, die der Lärm des Tages um die Frage gehen, inwieweit Schopenhauer psycho-
uns vernehmbar machte. Wie anders aber soll der In- analytische Positionen vorweggenommen hat (vgl.
tellekt auf diese Reize reagieren, als indem er seine ihm Gödde 2009, 283 ff.). Als eine erste Vorwegnahme
eigentümliche Funktion vollzieht? Er wird also die Rei- Schopenhauers wird die Konzeption der Verdrängung
ze zu raum- und zeiterfüllenden Gestalten, die sich am angesprochen. Otto Rank machte in der Sitzung vom
Leitfaden der Kausalität bewegen, umformen, und so 22. Dezember 1909 auf eine Textstelle bei Schopen-
entsteht der Traum« (Freud 1900, 39). hauer (W II, 458) aufmerksam, in der jener »die Ent-
stehung des Wahnsinns in Zusammenhang bringt mit
Man könnte nun annehmen, Freud habe unmittelbar dem gewaltsamen ›Sich-aus-dem-Kopf-Schlagen‹ ei-
aus der genannten Primärquelle Schopenhauers (vgl. ner Sache« (Nunberg/Federn 1977, 338 m. Anm. 10).
P I, 249 ff.) geschöpft, mit der es durchaus Überein- Ein ausdrückliches Anerkenntnis der Priorität Scho-
stimmungen gibt. Einen anderen Eindruck gewinnt penhauers hinsichtlich der Verdrängung findet sich in
man jedoch, wenn man Johannes Volkelts Buch Die Freuds Aufsatz »Zur Geschichte der psychoanalyti-
Traumphantasie zur Hand nimmt und im Kapitel schen Bewegung« (Freud 1914, 53).
»Schopenhauer’s Theorie des Traums« nachliest (1875, Hinsichtlich der Bedeutung der Sexualität als
113). Vergleicht man die drei Texte, so sieht man, dass Brennpunkt des unbewussten Geschehens führte Otto
Freud viele Formulierungen von Volkelt wortwörtlich Juliusburger eine ganze Reihe von Textstellen an, in
übernommen hat und sein Text im Wesentlichen eine der Schopenhauer die wichtige Rolle unterstreicht,
verkürzte Fassung von dessen Text darstellt (vgl. Gold- »welche das Geschlechtsverhältnis in der Menschen-
mann 2003, 149 ff.). welt spielt, als wo es eigentlich der unsichtbare Mittel-
Eine zweite Bezugnahme auf Schopenhauer findet punkt alles Tuns und Treibens ist und trotz allen ihm
sich beim Topos »Die ethischen Gefühle im Traum«. überworfenen Schleiern überall hervorguckt« (Julius-
In diesem Kontext nahm Schopenhauer an, dass »je- burger 1911, 173; vgl. W II, 601). Jahre später ging
der Mensch [im Traum] in vollster Gemäßheit seines Freud dann darauf ein, dass bereits Schopenhauer »in
Charakters handelt und redet« (P I, 253). Bei Freud Worten von unvergesslichem Nachdruck die Men-
wird dieser Satz dahingehend abgewandelt, dass »je- schen an die immer noch unterschätzte Bedeutung ih-
der im Traum in vollster Gemäßheit seines Charakters res Sexualstrebens gemahnt hat« (Freud 1917, 12).
redet und handelt« (Freud 1900, 69). Dagegen hat Vol- Ein drittes großes Thema war die Nähe zwischen
kelt auf diese zweite Textstelle bei Schopenhauer nicht Freuds psychoanalytischer Konzeption des Unbe-
Bezug genommen. Dies könnte dafür sprechen, dass wussten und Schopenhauers Philosophie des Willens.
Freud Schopenhauers Traumtheorie aus erster Hand Hanns Sachs brachte in der Sitzung der WPV vom
gekannt hat. 8. November 1911 die von Freud postulierte »Zeitlo-
Ähnlich steht es mit der dritten Textstelle bei Scho- sigkeit des Unbewussten« mit dem metaphysischen
penhauer, nämlich dass »der Traum als ein kurzer Zeitbegriff Schopenhauers in Verbindung (vgl. Nun-
Wahnsinn, der Wahn als ein langer Traum« (P I, 254) berg/Federn 1977, 292), und am 13. Dezember 1911
bezeichnet werden kann. Freud greift diese Stelle beim ging er noch einen Schritt weiter, indem er den Zu-
31  Sigmund Freud 307

sammenhang zwischen den Sexualtrieben der Psy- seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, seine Ab-
choanalyse und dem Schopenhauerschen Willen the- wehr gegen Philosophie im Allgemeinen und seine
matisierte (vgl. ebd., 333 f.). Sorge, in die Nähe von Schopenhauers Willensmeta-
Besondere Beachtung verdient ein am 8. Mai 1912 physik gerückt zu werden. Es gibt jedenfalls keine
gehaltener Vortrag von Eduard Hitschmann in der Hinweise darauf, dass er sich bis 1919 eingehender mit
einzigen ganz auf Schopenhauer bezogenen Sitzung den Schriften Schopenhauers auseinandergesetzt hat.
der WPV, der ein Jahr später in der Imago erschien.
Den Ausgangspunkt für einen Vergleich zwischen
Explizite und implizite Bezugnahmen
Schopenhauer und Freud bildet die Lehre vom Willen
auf Schopenhauer in Freuds Werken nach dem
als Trieb im weitesten Sinne. Jenes »hinter dem Be-
Ersten Weltkrieg
wußtsein, der Erkenntnis und dem Wollen als Dunk-
les, Blindes und eigentlich nicht Erkennbares Walten- Nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierte sich Freud
de« (Hitschmann 1913, 128) entspreche dem, was die zunächst auf eine tiefgreifende Umarbeitung seiner
Psychoanalytiker als das Unbewusste bezeichnen. Triebtheorie (in Jenseits des Lustprinzips, 1920) und
Am 11. Dezember 1912 hielt Alfred von Winter- seiner Konzeption des Unbewussten (in Das Ich und
stein in der WPV einen Vortrag über »Psychoanalyti- das Es, 1923), um sich dann verstärkt der Gesell-
sche Anmerkungen zur Geschichte der Psychoana- schafts- und Kulturtheorie, insbesondere der Religi-
lyse«, der ebenfalls 1913 in der Imago veröffentlicht onskritik (in Die Zukunft einer Illusion, 1927) und der
wurde. In diesem Text weist er darauf hin, dass Scho- Kulturkritik (in Das Unbehagen in der Kultur, 1930)
penhauer das Todesproblem an den Eingang der Phi- zuzuwenden. Diese vier Schriften könnten von Scho-
losophie gestellt habe (vgl. Winterstein 1913, 232; penhauers Denken beeinflusst sein, obwohl es nur in
W II, 526). Bemerkenswert ist, dass sich in Freuds Jenseits des Lustprinzips eine explizite Bezugnahme
Schrift Totem und Tabu aus demselben Jahre eine auf Schopenhauer gibt (vgl. 1920, 53), die in der Neu-
gleichlautende Formulierung findet: »Das Todespro- en Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psycho-
blem steht nach Schopenhauer am Eingang jeder Phi- analyse nochmals aufgegriffen wird (vgl. 1933, 114 f.).
losophie« (Freud 1912–13, 108). Aufgrund klinischer Beobachtungen, vor allem an
Freud hat Hitschmann und Winterstein ausdrück- Unfall- und Kriegsneurotikern, erschien Freud der
lich gewürdigt, da sie »mit der psychoanalytischen Be- bisherige Interpretationsrahmen von Lust- und Reali-
leuchtung von philosophischen Systemen und Per- tätsprinzip nicht mehr ausreichend. Aus der zwang-
sönlichkeiten [...] einen Anfang gemacht [hätten], haften Wiederholung unlustvoller, vor allem schmerz-
dem Fortführung und Vertiefung zu wünschen bleibt« voller und traumatischer Erfahrungen leitete er in sei-
(Freud 1914, 78). Drei Jahre später gab er allerdings zu ner Schrift Jenseits des Lustprinzips die Annahme eines
bedenken, dass die Psychoanalyse »die beiden dem »Wiederholungszwangs« ab, in dem er dann den wich-
Narzissmus so peinlichen Sätze von der psychischen tigsten Grund für die Annahme eines »Todestriebs«
Bedeutung der Sexualität und von der Unbewußtheit sah. Bei seiner Todestrieb-Hypothese ließ er sich von
des Seelenlebens nicht abstrakt behauptet, sondern an Anregungen sowohl moderner Biologen wie Weis-
einem Material erweist, welches jeden einzelnen per- mann, Hering u. a. als auch der Metaphysiker Empe-
sönlich angeht und seine Stellungnahme zu diesen dokles und Schopenhauer inspirieren. Wie dem Lust-
Problemen erzwingt« (Freud 1917, 12). prinzip der Anspruch der Lebenstriebe und dem Rea-
Anhand der Sitzungsprotokolle, einiger Zeitschrif- litätsprinzip der Einfluss der Außenwelt, so wird den
tenartikel und Briefe lässt sich zeigen, wie Mitglieder Todestrieben das Nirwanaprinzip zugeordnet: das Be-
der WPV – neben Hitschmann, Rank, Sachs und von streben des psychischen Apparats, jede Erregungsqua-
Winterstein auch Adler, Ferenczi, Graf, Häutler, Op- lität äußeren oder inneren Ursprungs auf völlige Ent-
penheim, Sadger, Tausk und Wittels – damit umge- spannung zurückzuführen. Damit war Freud, wie er
gangen sind, dass Schopenhauer psychoanalytische selbst konstatierte, »unversehens in den Hafen der Phi-
Themen wie Verdrängung, Sexualität, Triebe, Unbe- losophie Schopenhauers eingelaufen [...], für den ja
wusstes und Tod vorweggenommen hat. Freuds Scho- der Tod ›das eigentliche Resultat‹ und insofern der
penhauer-Kenntnisse stammen allem Anschein nach Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die Verkör-
›aus zweiter Hand‹. Seine ›Statements‹ zu Schopen- perung des Willens zum Leben« (Freud 1920, 53).
hauer deuten nicht auf eine gründliche Textkenntnis An dieser zentralen Stelle wird Schopenhauers Ab-
hin, sondern sind sehr allgemein gehalten. Man spürt handlung »Transscendente Spekulation über die an-
308 IV Wirkung – A Personen

scheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzel- gen, das Leben durchwirkenden Stellung des Todes,
nen« (1851) als Quelle angegeben. Darin taucht der sondern im Triebhaften, d. h. der Lenkung durch den
Begriff des Todes allerdings erst ganz am Ende und Willen angesichts des Todes« (Atzert 2005, 190). Was
nur ein einziges Mal auf. Schopenhauer erklärt in die- bei Schopenhauer als ›unbewusste Schicksalswahl‹ er-
ser Textpassage, dass »das Abwenden des Willens vom scheint, hat sein Pendant bei Freud in der unbewuss-
Leben als das letzte Ziel des zeitlichen Daseyns« zu be- ten Determiniertheit der menschlichen Handlungen
trachten sei und dass »dahin ein Jeder, auf die ihm und Entscheidungen.
ganz individuell angemessene Art, also auch oft auf Dass der Bezugnahme auf Schopenhauers Schrift
weiten Umwegen, allmälig geleitet werde« (P I, 236). »Transscendente Spekulation über die anscheinende
Was hat es zu bedeuten, dass schließlich vom Tode als Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen« nicht nur
dem »eigentlichen Resultat und insofern Zweck des periphere Bedeutung zukommt, lässt sich daran er-
Lebens« (ebd., 236) gesprochen wird? Bei einer Inter- kennen, dass Freud sie in der Neuen Folge der Vor-
pretation dieser Textstelle ist zu berücksichtigen, dass lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse erneut
Schopenhauer den Zweck des Lebens nicht wie Freud aufgreift, als er den Dualismus von erotischen und To-
(vgl. 1920, 40) in einem biologisch-triebhaften »Ziel« destrieben behandelt:
gesehen hat. In seinem Hauptwerk ist er vielmehr zu
dem Schluss gelangt, dass es zur Erlösung des Men- »Sie werden vielleicht achselzuckend sagen: Das ist
schen einer »Verneinung« des Willens bedürfe. Daher nicht Naturwissenschaft, das ist Schopenhauersche
kommt dem Tode eine »ethische und pädagogische« Philosophie. Aber warum, meine Damen und Herren,
(Zentner 1995, 127 f.) Bedeutung als letzte Möglich- sollte nicht ein kühner Denker erraten haben, was
keit zur Entsagung vom Willen und zur Läuterung zu. dann nüchterne und mühselige Detailforschung be-
Für diese Annahme spricht, dass Schopenhauer am stätigt? Und dann, alles ist schon einmal gesagt wor-
Ende seiner Abhandlung unterstreicht, welcher den und vor Schopenhauer haben viele Ähnliches ge-
»hochernste, wichtige, feierliche und furchtbare Cha- sagt. Und weiter, was wir sagen, ist nicht einmal richti-
rakter« (P I, 236) der Todesstunde beizumessen sei. ger Schopenhauer. Wir behaupten nicht, der Tod sei
Nach Marcel Zentners Auffassung das einzige Ziel des Lebens; wir übersehen nicht neben
dem Tod das Leben. Wir anerkennen zwei Grundtriebe
»rangiert der Tod in Schopenhauers ›Skala der Lebens- und lassen jedem sein eigenes Ziel« (Freud 1933, 115).
zwecke‹ ganz oben: offenbar, weil er sich für Schopen-
hauer mehr als andere Erscheinungen des Lebens dazu So lassen sich bei einem Vergleich der beiden Texte
eignet, zur Verneinung des Wollens und damit zum von Schopenhauer und Freud »ausgeprägte Gemein-
höchsten moralischen Ziel ebenso wie zur Erlösung samkeiten im der Bedeutungsentwicklung zugrunde
anzuhalten. Seine pädagogische und ethische Bedeu- liegenden Sinngefüge« (Atzert 2005, 193) feststellen,
tung darf aber nicht über den Umstand hinwegtäu- auch wenn die grundlegende Differenz zwischen der
schen, daß er nie Ziel oder Zweck des Lebens, sondern vernunft- und erkenntnisgeleiteten Verneinung des
Mittel, Antrieb dazu ist« (Zentner 1995, 128). Willens bei Schopenhauer und dem biologisch ver-
ankerten Wirken von Todestrieben bei Freud nicht zu
Hier wird ein tiefgreifender Unterschied zwischen leugnen ist.
Schopenhauers Konzept der Willensverneinung und Nach der Todestriebhypothese bedeutete die Ein-
Freuds Hypothese vom Todestrieb sichtbar: Während führung des Strukturmodells in Das Ich und das Es ei-
Freud »eine Hauptquelle des Bösen und des Leides im ne zweite große Revision der Metapsychologie in
Walten des Todestriebs erblickt, sieht Schopenhauer Freuds Spätwerk. An die Stelle des topographischen
in der Verneinung des Willens zum Leben ganz im Modells mit den drei Systemen von Bewusstem, Vor-
Gegenteil das höchste moralische Ziel« (ebd., 131). bewusstem und Unbewusstem trat das Strukturmodell
Wenn nicht im Konzept des Todestriebes selbst, mit den drei Instanzen von Es, Ich und Über-Ich. Tho-
worin kann man dann eine »strukturelle Gemeinsam- mas Mann war einer der ersten, der in diesem Zusam-
keit« von Schopenhauers Abhandlung »Transcenden- menhang eine Brücke zu Schopenhauer geschlagen
te Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit hat: »Freuds Beschreibung des ›Es‹ und ›Ich‹ – ist sie
im Schicksal des Einzelnen« und Freuds Schrift Jen- nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers
seits des Lustprinzips sehen? Stephan Atzert erkennt ›Wille‹ und ›Intellekt‹, – eine Übersetzung seiner Me-
eine solche Gemeinsamkeit »nicht nur in der wichti- taphysik ins Psychologische?« (Mann 1978a, 180).
31  Sigmund Freud 309

Verfolgen wir diese Spur in Freuds Abhandlung Das schen Wille und Intellekt verwendet hat, mit denen
Ich und das Es, um dann nach Übereinstimmungen Freud das Verhältnis zwischen Es und Ich veranschau-
mit Schopenhauers Text »Vom Primat des Willens im licht hat, nämlich: die Pferd-Reiter-, die Herr-Diener-
Selbstbewußtseyn« (W II, Kap. 19) zu suchen. Eine Be- und die Herr-Knecht-Metapher (vgl. W II, 233, 238;
schreibung des Es erscheint Freud am ehesten vom Ge- Freud 1923, 86; 1933, 84).
gensatz zum Ich her möglich. Das Ich gleiche »im Ver- Auch ein Vergleich der Prädikate von Es und Ich
hältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des mit denen des Willens und Intellekts zeigt, dass Freuds
Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Rei- Strukturmodell der Psyche mit Schopenhauers Wil-
ter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit ge- lensmetaphysik »nicht nur der Idee, sondern häufig
borgten.« Dieses Gleichnis trage ein Stück weiter. »Wie auch dem Wort nach übereinstimmt« (Zentner 1995,
dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft 86). Für Schopenhauer ist der Wille das »Tiefere«, das
nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wo- »Innere«, die »Basis«, das »Primäre und Substantiale«
hin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des sowie der »Kern unseres Wesens« und Freud spricht
Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre« in ganz ähnlicher Weise vom Es als dem »Tieferen«,
(Freud 1923, 253). Auffällig ist an dieser Stelle, dass der »Innenwelt«, dem »Ursprünglichen« bzw. »Pri-
vom »Willen des Es« die Rede ist. Es liegt nahe, die märvorgang« sowie dem »Kern unseres Wesens«
Verwendung dieses Begriffs als Anspielung auf Scho- (ebd., 84–111). Zusammenfassend kann man sagen:
penhauer und die konzeptuelle Nähe von Es und Wille »Es gibt hier keine Eigenschaft des Willens Schopen-
zu verstehen. Wenn Freud am Ende des Textes davon hauers, die sich nicht auch dem Es Freuds zuerkennen
spricht, das Es habe »keinen einheitlichen Willen« ließe; und keine Eigenschaft des Intellektes Schopen-
(ebd., 289) zustande gebracht, da Eros und Todestrieb hauers, die man nicht in den Beschreibungen von
in ihm kämpfen, so kann man auch darin eine implizi- Freuds Ich wieder erkennen könnte« (ebd., 109).
te Bezugnahme auf Schopenhauer sehen, bei der die Für Schopenhauers Religionsphilosophie sind die
monistische Willensmetaphysik als Kontrastfolie für beiden Abhandlungen »Über das metaphysische Be-
Freuds dualistische Triebkonzeption dient. dürfniß des Menschen« (W II, Kap. 17) und »Ueber
Zur weiteren Klärung seiner Vorstellungen vom Ich Religion« (P II, Kap. 15) mit dem Dialog zwischen Phi-
führt Freud aus, dass das Ich als Grenzwesen »zwi- lalethes und Demopheles maßgeblich. Im Hinblick auf
schen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der Welt Freuds Auffassungen über Religion lassen sich die Kul-
gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskel- turschriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbe-
aktionen dem Es-Wunsch gerecht machen [will]. Es hagen in der Kultur zum Vergleich heranziehen.
ist nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger Hinsichtlich der von ihm benutzten Quellen findet
Knecht, der um die Liebe seines Herrn wirbt« (ebd., man bei Freud nur den lapidaren Hinweis, er habe in
286 f.). Ganz analog wirkt der Wille bei Schopenhauer seiner Religionskritik »nichts gesagt, was nicht andere
dadurch auf den Intellekt ein, dass »er ihm gewisse bessere Männer viel vollständiger, kraftvoller und ein-
Vorstellungen verbietet, gewisse Gedankenreihen gar drucksvoller vor mir gesagt haben« (Freud 1927, 358).
nicht aufkommen läßt«, bisweilen den Intellekt »zü- Man wird dabei in erster Linie an Aufklärer des
gelt« und ihn zwingt, sich auf andere Dinge zu richten. 18. Jahrhunderts wie Voltaire, Lessing und Diderot
»Man nennt dies ›Herr über sich seyn‹: offenbar ist und Religionskritiker des 19. Jahrhunderts wie Feuer-
hier der Herr der Wille, der Diener der Intellekt; da je- bach, Strauß und Nietzsche denken. Aber auch Scho-
ner in letzter Instanz stets das Regiment behält« (W II, penhauer verdanken wir wichtige Beiträge zur Psy-
232 f.). Fasst man umgekehrt den Einfluss des Intel- chologie und Hermeneutik der Religion (vgl. die Bei-
lekts auf den Willen näher ins Auge, so sucht er »die träge von Jörg Salaquarda in Broese/Koßler/Salaquar-
Rolle des Trösters zu übernehmen, seinen Herrn, wie da 2007). Wie später Freud ist er insbesondere der
die Amme das Kind, mit Mährchen zu beschwichtigen emotionalen Bedürftigkeit der Gläubigen, ihren Wün-
und diese aufzustutzen, daß sie Schein gewinnen; [...] schen, Ängsten, Begierden und Hoffnungen auf den
um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf ei- Grund gegangen:
ne Weile zu beschwichtigen, zu beruhigen und ein-
zuschläfern« (ebd., 242). »Die beständige Noth, welche das Herz (Willen) des
Bemerkenswert ist, dass Schopenhauer in seinem Menschen bald schwer beängstigt, bald heftig bewegt
Text »Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn« und ihn fortwährend im Zustande des Fürchtens und
genau jene drei Metaphern für das Verhältnis zwi- Hoffens erhält, während die Dinge, von denen er hofft
310 IV Wirkung – A Personen

und fürchtet, nicht in seiner Gewalt stehn, [...] – diese oder Andersgläubigen; sie werden von den einen als
Noth, dies stete Fürchten und Hoffen, bringt ihn dahin, »praktische Fiktion« (Hans Vaihinger) für unentbehr-
daß er die Hypostase persönlicher Wesen macht, von lich gehalten, während andere sie als »Infantilismus«
denen alles abhienge« (P I, 125). unbedingt abschaffen wollen, um eine »Erziehung zur
Realität« zu ermöglichen (Freud 1927, 351 und 373).
Besondere Beachtung verdient die These von Philipp Schopenhauer lässt die Kontroverse zwischen Phi-
Rieff, dass Schopenhauers Dialog »Über Religion« ei- lalethes und Demopheles am Ende spielerisch, ja ver-
ne maßgebliche Grundlage für Freuds eigenen Dialog söhnlich ausklingen. Die Religionen hätten eben
mit einem Verteidiger der Religion in Die Zukunft ei- »zwei Gesichter«, und die beiden Dialogpartner geste-
ner Illusion bildete: hen sich ein, sie hätten eben jeder auf seine Weise »ein
anderes in’s Auge gefasst« (P II, 381). Anders Freud,
»I should guess that Freud had read it, so closely does der auf seiner Überzeugung beharrt, dass der Mensch
his own dialogue in The Future of an Illusion follow it. »nicht ewig Kind bleiben« könne. »Dadurch, daß er
The friendly disputants created by Schopenhauer raise seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle frei-
exactly the problem Freud raised. Both take for granted gewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzen-
the absurdity of religious belief for rational men. The triert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß
issue is only whether belief is necessary to control the das Leben für alle erträglich wird und die Kultur kei-
unenlightened many (this is the position of ›Demo- nen mehr erdrückt« (Freud 1927, 373 f.).
pheles‹) or whether the value of religion, now decli- In beiden Dialogen geht es um den Sinn und die Be-
ning anyway, has not been overestimated and is not rechtigung der Desillusionierung, wobei sich zwischen
actually a force constructing the Enlightenment goals: »Illusionen des Es« (Vertrauen, Liebe, Glück, Harmo-
reason, progress, the true betterment of mankind (the nie), »Illusionen des Über-Ich« (Fortschritt, Brüder-
position of ›Philalethes‹)« (Rieff 1979, 295; vgl. auch lichkeit, Vater-Ideal und Gesundheit) sowie der »Ich-
Gupta 1985, 174). Illusion der Vernunft« unterscheiden lässt. Die An-
nahme, dass Freuds religionspsychologische Sicht der
Freuds atheistische Position in Die Zukunft einer Illu- conditio humana »mit dem allgemeinen Schema und
sion lässt sich tatsächlich in einer Reihe von Argumen- der Struktur von Schopenhauers Philosophie« über-
ten mit der des Religionskritikers Philalethes verglei- einstimmt (Gupta 1985, 175), hat viel für sich.
chen, während die insgesamt elf Einwände seines pro- Wenn sich Freud in seiner Abhandlung Das Unbe-
religiösen Gegenspielers weitgehend mit der des Reli- hagen in der Kultur mit der Begrenztheit menschlicher
gionsverteidigers Demopheles übereinstimmen. So Glücksmöglichkeiten auseinandersetzt, glaubt man,
zieht Demopheles mehrmals das Argument heran, in seinen Worten deutliche Anklänge an Schopenhau-
dass man die breite Masse mit der Religion und ihren ers Sicht des menschlichen Leidens zu vernehmen.
ethischen Implikationen »lenken und bändigen« müs- Das Programm des Lustprinzips sei »überhaupt nicht
se, um sie von Unrecht und Grausamkeiten abzuhal- durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstre-
ten (P II, 374). In ganz ähnlicher Weise befürchtet der ben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der
Gegenspieler Freuds, dass sich die Menschen, wenn Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹
sie den Glauben an Gott aufgeben würden, »aller Ver- nicht enthalten« (Freud 1930, 434). In vergleichbarer
pflichtung zur Befolgung der Kulturvorschriften ledig Weise hat Schopenhauer vom Leidenscharakter des
fühlen. Jeder wird ungehemmt, angstfrei, seinen aso- menschlichen Lebens gesprochen: »Keiner ist glück-
zialen, egoistischen Trieben folgen, seine Macht zu be- lich, sondern strebt sein Leben lang nach einem ver-
stätigen suchen [...]« (Freud 1927, 357). meintlichen Glücke, welches er selten erreicht und
Das Auseinanderdriften in zwei gegensätzliche auch dann nur, um enttäuscht zu werden; in der Regel
Einstellungen zur Religion lässt sich darauf zurück- läuft Jeder zuletzt schiffbrüchig und entmastet in den
führen, dass Religionen bei ihren Anhängern und Hafen ein« (P II, 303).
Gegnern Ambivalenzen hervorrufen (vgl. Salaquarda Für Freud sind die menschlichen Glücksmöglich-
2007). Sie bieten Orientierung und Halt in einem keiten schon durch die »Konstitution« beschränkt.
Weltbild an, neigen aber auch zur Unterdrückung von Vorrangige Quellen des Unglücks seien der eigene
Erkenntnissen; sie propagieren soziale Einstellungen Körper, die Außenwelt und die sozialen Beziehungen,
wie Menschenliebe und Humanität, fördern aber auch unter deren Druck die Menschen ihren Glücks-
Feindschaft und Intoleranz gegenüber den Nicht- anspruch zu ermäßigen pflegen, so dass »die Aufgabe
31  Sigmund Freud 311

der Leidvermeidung die der Lustgewinnung in den te Befriedigung der eigenen Wünsche hat Aussicht auf
Hintergrund drängt« (Freud 1930, 434 f.). Auch Scho- Erfolg. Eine gewisse Ausnahme bilden für Schopen-
penhauer geht auf diese drei Quellen des Unglücks ein. hauer ästhetische Kontemplation und künstlerisches
Er betont, dass der Mensch »schon der ganzen Anlage Schaffen (vgl. W I, 295). Aber auch sie bringen nur ei-
nach, keiner wahren Glücksäligkeit fähig, sondern we- ne »Erlösung auf Abruf« (Rudolf Malter) mit sich. Mit
sentlich ein vielgestaltetes Leiden ist« (W I, 359). Hin- noch größerer Skepsis begegnet Freud der Kunst als
zu kämen ungünstige Einflüsse aus der Außenwelt wie Befreiungsstrategie, da bei ihr der Zusammenhang
Unfälle, Naturkatastrophen u. Ä. Besonderes Gewicht mit der Realität gelockert und die Befriedigung aus Il-
wird den sozialen Beziehungen beigemessen: »Dabei lusionen gewonnen werde. Die »milde Narkose«, in
ist die Hauptquelle der ernstlichen Uebel, die den die uns die Kunst versetze, vermöge »nicht mehr als
Menschen treffen, der Mensch selbst: homo homini lu- eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens
pus« (W II, 663; vgl. auch Freud 1930, 471). herbeizuführen« (Freud 1930, 439).
Nach den Reflexionen über die Leidensquellen Das Glück der Erlösung, auf das Schopenhauer
wendet sich Freud den Strategien zur Befreiung vom große Hoffnungen setzt, wird nur in negativen Formu-
Leiden zu. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den lierungen wie »Willenlosigkeit«, »Ruhe« und »Entsa-
Möglichkeiten der Triebunterdrückung, -beherr- gung« umschrieben (vgl. Morgenstern 2008, 117). Hier
schung und -sublimierung: Die erste Möglichkeit be- handelt es sich um einen Grundtyp der Erlösungslehre,
stehe darin, dass man »die Triebe ertötet, wie die ori- bei dem die Erlösung durch Selbstaufhebung zustande
entalische Lebensweisheit lehrt und die Yogapraxis kommt. Freud hält der von Schopenhauer betonten
ausführt« (Freud 1930, 437). Freud hätte hier auch auf Triebabtötung entgegen, dass man damit »auch alle an-
Schopenhauers Plädoyer für eine konsequente Trieb­ dere Tätigkeit aufgegeben (das Leben geopfert)«
entsagung Bezug nehmen können. Der Entsagende (Freud 1930, 437) habe. Ganz klar, dass er die Beherr-
höre auf, irgendetwas zu wollen, hüte sich, an irgend- schung des Trieblebens und dessen Sublimierung der
etwas sein Herz zu hängen. Auf diese Weise suche er radikalen Askese Schopenhauers vorzieht.
die »größte Gleichgültigkeit gegen alle Dinge in sich Trotz dieser Differenz stimmen Freuds Ausführun-
zu befestigen« (W I, 455). Auch andere Äußerungen gen zu den menschlichen Glücksmöglichkeiten mit
Freuds kommen Schopenhauers quietistischer Erlö- Schopenhauers diesbezüglichen Gedankengängen in
sungslehre nahe. »Gewollte Vereinsamung, Fernhal- wichtigen Punkten überein. Dies wird noch deutlicher
tung von den anderen« (Freud 1930, 435) diene dem sichtbar, wenn man nicht bei Schopenhauers Erlö-
Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen sungslehre stehen bleibt, sondern sich seiner Glücks-
Beziehungen erwachsen kann. Gegen die gefürchtete lehre zuwendet, die schon in seinem Hauptwerk (W I,
Außenwelt könne man sich nicht anders als durch »ir- § 56–58) angelegt, aber dann in den Parerga und Para-
gendeine Art der Abwendung« (ebd.) verteidigen, lipomena und insbesondere in den »Aphorismen zur
wenn man diese Aufgabe für sich allein lösen wolle. Lebensweisheit« (1851) wesentlich breiter ausgearbei-
Der Eremit kehre der Welt den Rücken, er wolle nichts tet worden ist. Glücks- und Erlösungslehre lassen sich
mit ihr zu schaffen haben (vgl. ebd., 439). Diese Äuße- zwei verschiedenen Stufen zuordnen: die Erlösungs-
rungen lassen eine elitäre Rückzugsstrategie erken- lehre der Stufe der Willensverneinung, die von den
nen, die für Schopenhauers betont individualistische meisten Menschen nicht erreicht wird, die Glückslehre
Einstellung charakteristisch ist. Freud gibt diese Stra- hingegen der Stufe der alltäglichen Lebensbewältigung
tegie der Leidvermeidung allerdings nur wieder, ohne (vgl. Morgenstern 2008, 118; Zimmer 2010).
sich damit zu identifizieren. In den »Aphorismen« orientiert sich Schopenhauer
Schopenhauer ist bekannt dafür, dass er in seiner stark am Glück der Persönlichkeit, das mit positiven
Willensmetaphysik und Erlösungslehre von der Nega- Attributen wie geistige Freude, sinnliche Genüsse,
tivität des Glücks ausgeht: »Alle Befriedigung oder Wohlgefallen und Heiterkeit versehen wird. Der späte
was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und Schopenhauer hat sich aus einem harten Pessimisten
wesentlich immer nur negativ und durchaus nie posi- in einen eher gelassenen Realisten verwandelt, der
tiv« (W I, 376). Die Negativitätsthese bedeutet, dass »die Menschen nicht nur vor den Illusionen und Irr-
Glück und Lust nicht dauerhaft als Zustand, sondern wegen des Glücksstrebens bewahren will, sondern zu-
nur augenblicks- oder zeitweise in der Überwindung gleich auch auf Erfahrungen aufmerksam macht, die
von Unglück und Leiden realisiert werden können. um ihrer selbst willen erstrebens- und lebenswert
Nur die Vermeidung von Unlust, nicht aber die direk- sind« (Morgenstern 2008, 134). Hier lässt sich wiede-
312 IV Wirkung – A Personen

rum eine Brücke zum späten Freud schlagen, der sich ureigensten Betroffenheit von den Zielsetzungen der
ebenfalls mit den positiven Glücksquellen auseinan- Welt (vor allem seiner unausweichlichen Endlichkeit)
dersetzt. Besonders aussichtsreich sei es, »wenn man Ausdruck zu geben« (Birnbacher 2009, 15). Freud
den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und in- war Anti-Metaphysiker, der wie vor ihm Schopen-
tellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht«. hauer und Nietzsche Grundannahmen der traditio-
Als Vorbild werden »die Freude des Künstlers am nellen Geist- und Vernunftmetaphysik hinterfragt
Schaffen« und die »des Forschers an der Lösung von hat, und zugleich Metaphysiker, der Schopenhauers
Problemen und am Erkennen der Wahrheit« (Freud hypothetisch-induktiver und expressiv-existentieller
1930, 438) hingestellt. Allerdings sei diese Methode Metaphysik nahesteht und doch auf der Basis um-
nur den Gebildeten zugänglich. fangreicher klinischer Erfahrungen eine eigenständi-
ge und systematisierte Psychologie des Unbewussten
entwickelt hat.
Folgerungen
Aus dem Dargelegten kann man den Schluss ziehen, Literatur
dass sich Freud nach dem Ersten Weltkrieg intensiver Atzert, Stephan: Zwei Aufsätze über Leben und Tod: Sig-
als früher mit dem Werk Schopenhauers auseinander- mund Freuds Jenseits des Lustprinzips und Arthur Scho-
penhauers Transscendente Spekulation über die anschei-
gesetzt und einige von dessen Schriften ›gelesen‹ hat. nende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen. In: Scho-
Daher kann man von einer Zäsur in Freuds Schopen- penhauer-Jahrbuch 86 (2005), 179–194.
hauer-Rezeption sprechen. In Freuds Spätwerk finden Becker, Aloys: Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud.
sich Argumentationen und Stellungnahmen zum To- Historische und charakterologische Grundlagen ihrer
desproblem, zum Menschenbild, zur Religionspsy- Denkstrukturen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 52 (1971),
114–156.
chologie und zum Glück, die auf eine Auseinanderset-
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
zung mit Schopenhauers Denken hindeuten. Das soll Broese, Konstantin/Koßler, Matthias/Salaquarda, Barbara
aber keineswegs heißen, dass Freud die diesbezüg- (Hg.): Die Deutung der Welt. Jörg Salaquardas Schriften zu
lichen Auffassungen einfach »übernommen« (Gupta Arthur Schopenhauer. Würzburg 2007.
1985, 165) habe. Adäquater erscheint es, von einer Fleiter, Michael (Hg.): Die Wahrheit ist nackt am schönsten.
›Verwendung‹ Schopenhauers durch Freud im Sinne Arthur Schopenhauers philosophische Provokation (= Kata-
log der Ausstellung zum 150. Todestag Schopenhauers am
einer mehr oder weniger bewussten und aktiven An-
24. September 2010). Frankfurt a. M. 2010.
eignung zu sprechen. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke in 18 Bänden. Frankfurt
Was bedeutet es für das Verständnis der Psycho- a. M. 1999 [GW].
analyse, dass sich der späte Freud sowohl in seiner Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900]. GW II/III.
Metapsychologie als auch in seiner Kulturtheorie den Freud, Sigmund: Totem und Tabu [1912–13]. GW IX.
Freud, Sigmund: Zur Geschichte der psychoanalytischen
Vorannahmen Schopenhauers angenähert hat? Mit
Bewegung [1914]. GW X, 43–113.
der These vom Primat des Willens und dem Werk- Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse
zeugcharakter der Vernunft hat Schopenhauer eine [1917]. GW XII, 3–12.
Art ›Gegenmetaphysik‹ angebahnt, die durch Nietz- Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips [1920]. GW XIII,
sche, Freud, Heidegger, Horkheimer und die Philoso- 1–69.
phische Anthropologie verschiedene Variationen er- Freud, Sigmund: Das Ich und das Es [1923]. GW XIII, 237–
289.
fahren hat (vgl. Schnädelbach 1983, 178). Zugleich
Freud, Sigmund: »Selbstdarstellung« [1925]. GW XIV, 31–96.
hat er die Weichen für eine erfahrungsbasierte und Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion [1927]. GW XIV,
›induktive‹ Metaphysik gestellt, in deren Rahmen mit 324–380.
Hypothesen gearbeitet wird, die teilweise über den Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930].
Bereich des Erfahrbaren hinausgehen, aber durch GW XIV, 419–506.
empirische Befunde so weit wie möglich bestätigt Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse [1933]. GW XV.
werden sollen. Darüber hinaus kann man bei Scho- Freud, Sigmund: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–
penhauer von einer »Metaphysik als einer Form ex- 1881. Hg. von Walter Boehlich. Frankfurt a. M. 1989.
pressiver Beschreibung« sprechen, die hochgradig sub- Freud, Sigmund/Andreas-Salomé, Lou: Briefwechsel. Hg.
jektiv, individuell und existentiell ist und dem Einzel- von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 21980.
nen dazu dient, sich »über seine höchstpersönliche Freud, Sigmund/Freud, Anna: Briefwechsel. Hg. von Inge-
borg Meyer-Palmedo. Frankfurt a. M. 2006.
Existenz klar zu werden, sich mit einer individuellen
Gödde, Günter: Freuds philosophische Diskussionskreise in
Erfahrung der Welt auseinanderzusetzen und seiner
31  Sigmund Freud 313

der Studentenzeit. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 27 ten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und
(1991a), 73–113. Psychoanalyse. Das Unbewusste. Bd. I. Gießen 2005, 180–
Gödde, Günter: Schopenhauer als Vordenker der Freud- 202.
schen Metapsychologie. In: Psyche – Z Psychoanal 45 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft [1936]. In: Ders.:
(1991b), 994–1035. Essays. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1978, 173–192.
Gödde, Günter: Freud, Schopenhauer und die Entdeckung Mann, Thomas: Schopenhauer [1938]. In: Ders.:
der Verdrängung. In: Psyche – Z Psychoanal 52 (1998), Essays. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1978, 193–234.
143–174. Morgenstern, Martin: Schopenhauers Lehre vom Glück. In:
Gödde, Günter: Traditionslinien des »Unbewußten«. Scho- Aufklärung und Kritik Sonderheft 14 (2008): Glück und
penhauer, Nietzsche, Freud [1999]. Gießen 22009. Lebenskunst. Hg. von Robert Zimmer, 116–135.
Gödde, Günter: Warum es so wichtig ist, dass Freud eine Nunberg, Hermann/Federn, Ernst (Hg.): Protokolle II der
eigene Philosophie entwickelt hat. In: Ders./Michael B. Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (1908–1910).
Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wis- Frankfurt a. M. 1977.
senschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 2. Gießen Nunberg, Hermann/Federn, Ernst (Hg.): Protokolle III der
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Gödde, Günter: Das Ende des Ersten Weltkriegs als Zäsur in Frankfurt a. M. 1979.
Freuds Schopenhauer-Rezeption. In: Ludger M. Her- Rieff, Philipp: Freud: The Mind of the Moralist [1959]. Chi-
manns/Albrecht Hirschmüller (Hg.): Vom Sammeln, cago 31979.
Bedenken und Deuten in Geschichte, Kunst und Psychoana- Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
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Koßler, Matthias: Wege zum Unbewussten in der Philoso- Weltbürger. München 2010.
phie Arthur Schopenhauers. In: Michael B. Buchholz/
Günter Gödde (Hg.): Macht und Dynamik des Unbewuss- Günter Gödde
314 IV Wirkung – A Personen

32 Georg Simmel mische Einheit ist, die sich jederzeit im Fluss befindet.
Durch die Betonung der dialektischen Beziehung von
Schopenhauer gilt in der Forschung als »Vater der mo- Leben und Form hebt sich Simmel jedoch von Berg-
dernen Lebensphilosophie« (Fellmann 1996, 280). son ab und formuliert den fundamentalen Wider-
Dieses Urteil rührt zum einen daher, dass Schopenhau- spruch, mit dem seiner Meinung nach das Leben be-
ers Willensmetaphysik als direkter Vorläufer der le- haftet ist: Es kann »nur in Formen unterkommen [...]
bensphilosophischen Vorstellung vom Leben als un- und doch in Formen nicht unterkommen« (GSG 16,
aufhaltsam vorwärtsfließendem Strom, mithin als Vor- 231). Das Leben strebt nach der Individuation, doch
griff auf den von Henri Bergson geprägten Begriff des in dem Augenblick, in dem es in diese gebannt ist,
»élan vital« angesehen wird, aber auch angesichts der greift es über sie hinaus, streckt sich »sozusagen nach
Forderung Schopenhauers, das »Ganze der Erfahrung dem Absoluten des Lebens hin und wird in dieser
[...] aus sich selbst« zu deuten (W II, 203). Aufgrund Richtung Mehr-Leben« (GSG 16, 229). Diese Bewe-
des hermeneutischen Aspekts der Willensmetaphysik gung zum »Mehr«, die Selbsttranszendenz, durch die
zählt Georg Simmel (1858–1918) Schopenhauer zu sich nach Simmel das Leben auszeichnet, sieht er be-
den »großen philosophischen Schöpfern, zu den Ent- reits in dem nicht zu befriedigenden Objektivations-
deckern einer neuen Möglichkeit, das Dasein zu deu- trieb des Schopenhauerschen Willens, denn dessen
ten« (GSG 10, 209). Die Schopenhauer-Rezeption Sim- Rastlosigkeit sei eben nicht »eine wesentliche Eigen-
mels hebt sich von derjenigen der anderen sogenann- schaft der Welt«, sondern »ihre Substanz selbst« (GSG
ten Lebensphilosophen zunächst dadurch ab, dass 10, 267). Ebenso wie sich das Leben an seinen eigenen
Simmel der Auseinandersetzung mit Schopenhauer Formen wund schlägt und über diese hinausgreifen
(und Nietzsche) eine eigene Monographie gewidmet will, ruht auch der Wille nicht in seinen einzelnen In-
hat. Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus dividuationen, sondern strebt stetig nach der Steige-
erscheint 1907, zu einer Zeit, in der sich Simmel noch rung seines momentanen Selbst. Werden wir uns der
vornehmlich mit soziologischen und kulturphiloso- Willensbewegung in uns bewusst, erklärt Simmel,
phischen Fragestellungen auseinandersetzt und noch »fühlen wir uns in jedem Augenblick als ein Mehr, als
nicht in seine lebensphilosophische Werkphase ein- ein über unsere dargebotene Wirklichkeit Hinauslan-
getreten ist. Dennoch finden sich schon hier zahlreiche gendes« (GSG 10, 206).
Aspekte, die seine lebensphilosophischen Hauptwerke Und innerhalb dieser gemeinsamen Auslegung des
Lebensanschauung (1918) und Rembrandt (1916) be- Lebendigen zeigt sich gleichzeitig der Punkt, an dem
stimmen werden. Daher ist Schopenhauer und Nietz- sich Simmel von Schopenhauer entscheidend abhebt.
sche nicht nur ein Buch über die beiden Willensmeta- Schopenhauer habe nicht erkannt, dass schon in der
physiker, sondern dokumentiert sehr genau die Ein- bloßen Bewegung des »Mehr« eine Qualität liegt, und
flussnahme, die das Werk Schopenhauers auf Simmel so den schöpferischen Grundgedanken übersehen,
ausgeübt hat, und zeigt, dass sich Simmel in vielen Din- den er selbst ausgesprochen habe. Da für den Pessimis-
gen durch die Kritik an Schopenhauer selbst philoso- mus Schopenhauers »alles ›mehr leben‹ das Schlimme
phisch positioniert. Dabei kann diese Kritik rückwir- schlechthin« (GSG 10, 183) sei, konnte Schopenhauer
kend für Schopenhauer fruchtbar gemacht werden, gar nicht alle Dimensionen seiner eigenen Willens-
denn Simmel legt gleichzeitig Aspekte und Dimensio- metaphysik erkennen. Stattdessen strahle das pessi-
nen des Denkens Schopenhauers frei, die dieser selbst mistische Gepräge seines Werks eine »usurpatorische
zwar implizit ausgesprochen, innerhalb seines Systems Energie« aus, da er »das Prinzip des Pessimismus um
aber nicht weiter berücksichtigt hatte. jeden Preis mit anderen Denkmotiven verschmilzt«
Während andere Lebensphilosophen nur einzelne (GSG 10, 301). Schopenhauer gehe dabei »völlig das
Aspekte von Schopenhauers Philosophie hervorgeho- Gefühl ab, das bei Nietzsche überall durchbricht: das
ben und für sich selbst nutzbar gemacht haben, sieht Gefühl für die Feierlichkeit des Lebens« (GSG 10, 179).
Simmel Schopenhauers spezifische Leistung in der Trotzdem sieht Simmel Schopenhauer als den hoch-
Beantwortung der Frage: »Was ist das Leben, was ist karätigeren Denker an, der mit »den besseren Kräften
seine Bedeutung rein als Leben?« (GSG 16, 188; vgl. die schlechtere Sache verteidigt« habe (GSG 10, 188;
W II, 463). In Schopenhauers Antwort – »Wille« – vgl. Solies 2009, 326 ff.).
spiegelt sich Simmels zentraler Anknüpfungspunkt. Simmel ist in der Forschung schon früh für seine
Simmels Verständnis des Lebens deckt sich zunächst Interpretation des Schopenhauerschen Denkens und
mit der Auffassung Bergsons, dass jenes eine dyna- die Betonung von dessen lebensphilosophischen Ele-
32  Georg Simmel 315

menten gerügt worden (vgl. Tromnau 1926, 19 ff.), Schopenhauer selbst: das Erleben und damit die In-
dennoch ist der Pessimismus und dessen Kritik einer nenseite der Vorstellungswelt.
der zentralen Ausgangspunkte von Simmels Beschäf- Etwas Ähnliches kann man erkennen, wenn man
tigung mit Schopenhauer. Die gesamte Denkrichtung Simmels Bewertung der Kunst mit Schopenhauers
des Pessimismus sei nach Simmel mit der Lebensphi- Ästhetik in ein Verhältnis setzt. In den beiden Berei-
losophie unvereinbar, denn »[w]o wirklich größere chen des Lebens, die Simmel unterscheidet – »Mehr-
Kreise einem ernsthaften Pessimismus ergeben sind, Leben« und »Mehr-als-Leben« –, nimmt das Kunst-
[...] da ist eine Lähmung aller praktischen Kräfte und werk eine besondere Stellung ein. Zwar gehört es dem
ein allmählicher Verfall des Lebens unvermeidlich« geistigen Ideenkosmos des Menschen an und ist damit
(GSG 5, 543). Besonders zu rügen sei laut Simmel die »Mehr-als-Leben«, jedoch unterscheidet es sich von
Ablehnung des Lebens aufgrund der simplen Auf- den anderen Teilen des kulturellen Gefüges. Es hat ei-
rechnung von Glück und Leid. Er kritisiert in seinen ne »inselhafte Stellung«, ist eine eigene Bedeutungs-
Essays zur Geschichte und Bewertung des Pessimis- einheit, ein Sinnganzes, das nicht in Abhängigkeit zu
mus Schopenhauer und besonders Eduard von Hart- anderen kulturellen Objektivationen geschaffen wur-
mann für die Annahme einer eudämonistischen Ge- de. Durch seinen »Rahmen« entsteht das Wohlgefal-
samtsumme, durch die der Wert des Lebens bestimmt len, das »Erlösende in der Hingabe an ein Kunstwerk«,
werden könne. Denn eine »sozialistische Glückstheo- denn das »Kunstwerk nimmt uns in einen Bezirk hi-
rie« sei schlichtweg widersinnig, da die ungerechte nein, dessen Rahmen alle umgebende Weltwirklich-
Verteilung von Heil und Leid die Voraussetzung sei, keit, und damit uns selbst, insoweit wir deren Teil
dass so etwas wie Glück überhaupt empfunden wer- sind, von sich ausschließt« (GSG 13, 13). Damit ist
den könne. Glück sei kein absoluter, sondern ein rela- Simmel jedoch noch kein Vertreter der l’art pour l’art-
tiver Wert und entstehe in vielen Fällen aufgrund des Bewegung, sondern sieht im Kunstwerk eher eine
»Sich-abheben[s] des subjectiven Lebensgefühles von »l’art pour la vie« (GSG 13, 15). Schließlich sei »das
dem allgemeinen Menschenlose«, das im Falle der Genossenwerden dieses vom Leben Befreiten und Be-
»durchgängigen Ausgeglichenheit der Lagen nicht freienden [...] doch ein Stück Leben selbst«, legt dieses
mehr stattfinden kann« (GSG 5, 556). Darüber hinaus offen und zeigt es in seiner »Ganzheit« (GSG 13, 13).
betont Simmel, indem er die Kosten-Nutzen-Rech- Diese Eigenschaft hat das Kunstwerk auch innerhalb
nung des Glücks- und Leidertrages mit Aspekten der von Schopenhauers Ästhetik, denn indem das Werk
Geldwirtschaft vergleicht, die Absurdität des Gedan- keine individuierten Gegenstände, sondern deren
kens, »die Gesammtheit oder der Durchschnitt der (platonische) Idee abbildet, verfügt es ebenfalls über
Freuden des Lebens sei mit seinen Schmerzen zu eine Inselstellung: Die noch nicht in das Kausalgefüge
theuer bezahlt« worden, da dies »ebenso unmöglich« der Vorstellungen eingetretene Idee steht ebenso au-
sei wie die Annahme, dass »alle Waren durchschnitt- ßerhalb des tätigen Lebens wie das Werk bei Simmel.
lich mit dem dafür aufgewendeten Gelde zu theuer Auch die platonische Idee hat in Schopenhauers Äs-
bezahlt seien« (GSG 5, 552; vgl. Solies 2009, 328). Den thetik einen »Rahmen«, und auch hier ist – Simmel
zentralen Einwand gegenüber Schopenhauers Ver- betont dies selbst – »der aus allen Verflechtungen mit
bindung von Glück und Leid mit der Dichotomie von dem Begehren und dem bloß Praktischen heraus ge-
Haben und Nicht-Haben äußert Simmel jedoch er- wonnene Vorstellungsinhalt der Dinge und Geschicke
neut in seiner Schopenhauer-Nietzsche-Monogra- zu einem eignen Dasein geronnen« (GSG 10, 272). So
phie. Denn Schopenhauer unterschlage an dieser kann auch die Kunst bei Schopenhauer als »l’art pour
Stelle seine eigene Aussage, dass wir uns der Willens- la vie« verstanden werden, da der Kunstgenuss, von
bewegung nicht als erkennende, sondern nur als füh- dem er innerhalb seiner Ästhetik ausgeht, ebenfalls
lende Wesen bewusst werden können. Wird der Wert von der Herausnahme aus dem Vorstellungsgefüge
des Lebens nur mittels eines Lustquantums bestimmt, herrührt, die dem Rezipienten zeitweilig zuteilwird.
wird nicht berücksichtigt, dass Lust »nicht nur die Doch auch hier sieht Simmel wieder die »usurpatori-
Wirkung des Besitzes, sondern seine Innenseite, seine sche Energie« des Pessimismus, die seiner Meinung
subjektive Wirklichkeit für uns ist« (GSG 10, 246). nach Schopenhauers gesamtes Werk durchziehe: »Wie
Die Aufrechnung von Heil und Leid berücksichtige der pessimistische Absolutismus ihm [Schopenhauer;
nur die quantitative Seite des Glücks und lasse den S. K.] die Gefühlsbedeutung des Wollens gefälscht
Bereich aus, der für die gesamte Strömung der Le- hatte, [...] so hat er ihm auch die spezifischen Bedeu-
bensphilosophie ebenso zentral war wie schon für tungen der Kunst verborgen« (GSG 10, 286), die eben
316 IV Wirkung – A Personen

darin liegt, das Wesen des Lebens zu erfassen bzw. – schaft [ist] ›meine Vorstellung‹« (GSG 11, 44; vgl.
und dies betont Schopenhauer schließlich selbst expli- Ruggieri 2008, 169–186). Schließlich aber sieht Sim-
zit – in der Beantwortung der Frage »Was ist das Le- mel das zentrale Element, mit dem Schopenhauer
ben?«. Darüber hinaus meint Simmel, dass Schopen- dem Zustand des modernen Menschen vorgegriffen
hauers These, der einzige Wert der Kunst liege aus- habe, in dessen Willensmetaphysik. Nur in den For-
schließlich in dem seligen Zustand der zeitweiligen men, die der Wille in der Welt der Vorstellungen aus-
Willenlosigkeit, mit seinen pessimistischen Grund- bildet, manifestiert sich der Sinngehalt des einzelnen
annahmen nicht vereinbar sei, denn »[w]ie kann die Individuums. Weil der Wille aber in seinen einzelnen
reine und tiefe Erkenntnis der Dinge, die das Wesen Erscheinungsformen nicht unterkommen kann, strebt
der Kunst ist, uns beglücken, wenn das Erkannte selbst er ständig nach einer Steigerung, weist stets über sich
nichts als Qual ist?« (GSG 10, 295). hinaus. »Der Wille ist die Substanz unseres subjekti-
Bei aller Kritik ist Simmel der Ansicht, dass Scho- ven Lebens, wie und weil das Absolute des Seins über-
penhauer innerhalb seines metaphysischen Pessimis- haupt ein rastloses Drängen, ein stetes Übersich-
mus etwas darlege, das er selbst Jahrzehnte später be- hinausgehen ist, das aber, gerade weil es der erschöp-
schreiben und zum Gegenstand seiner Kulturphiloso- fende Grund aller Dinge ist, zu ewiger Unbefriedigt-
phie machen wird. Denn Schopenhauers Philosophie heit verurteilt ist«, sagt Simmel und zeigt auf, dass
ist nach Simmel »der absolute, philosophische Aus- auch die Willensbewegung in sich keinen finalen Aus-
druck für [den] inneren Zustand des modernen Men- gang birgt, sich ewig in einem Leerlauf befindet (GSG
schen« (GSG 10, 178). Schopenhauer habe der Tragik 10, 178; vgl. Kohl 2014, 115 ff.). Damit drückte Scho-
vorgegriffen, der sich der Mensch der Moderne hoff- penhauer innerhalb seiner Willensmetaphysik schon
nungslos ausgesetzt sieht. Es ist die Unzahl der geisti- Anfang des 19. Jahrhunderts »die Lage der momenta-
gen Objektivationen, denen sich das kulturelle Subjekt nen Kultur aus, wie sie von der Sehnsucht nach einem
nicht entziehen kann, die es braucht, um die Bedeu- Endzweck des Lebens erfüllt ist, den sie als für immer
tung seines Lebens in den symbolischen Formen der entschwunden oder illusorisch empfindet« (GSG 10,
Gesellschaft und Kultur zu verstehen. Doch ebenso 179). Doch auch an dieser Stelle teilt Simmel nicht den
wie das Leben unaufhaltsam weiterströmt, unendliche pessimistischen Grundton des Schopenhauerschen
Formen ausbildet, aber in diesen nicht verharrt, bildet Denkens, sondern hebt hervor, dass die Dialektik von
das Leben auch auf geistiger Ebene eine unbegrenzte Form und Leben auch auf kulturell-geistiger Ebene je-
Anzahl von Gebilden aus. Dadurch erscheint dem derzeit als ein fruchtbarer Konflikt zu werten ist, der
kulturellen Subjekt das Leben stets als etwas Vorläu- trotz seiner inhärenten Tragik den Fortschritt des
figes, etwas das ebenso unabgeschlossen wie un- menschlichen Daseins ermöglicht. Denn auch hier
abschließbar scheint. Das Leben zeigt sich innerhalb zeigt sich »das Leben selbst [...] mit seinem Drängen
der Formen des »Mehr-als-Leben« niemals in seiner und Überholen-Wollen, seinem Sich-Wandeln und
Totalität, sondern nur als Fragment, das im Gegensatz Differenzieren, das die Dynamik zu der ganzen Bewe-
zu der Erwartung des kulturellen Subjekts, seinem gung hergibt« (GSG 16, 185).
Dasein eine Bedeutung zu geben, antwortlos bleibt
und aufgrund der Fülle an Bedeutung, die es in sich Literatur
trägt, die Bedeutung des einzelnen Kulturteilnehmers Fellmann, Ferdinand: Schopenhauer. In: Ders. (Hg.):
tilgt. Die »Tragödie der Kultur« entsteht nach Simmel Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivis-
mus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantia-
nun dadurch, dass sich der Mensch trotz allem kulti- nismus, Lebensphilosophie. Reinbek bei Hamburg 1996,
vieren und in den geistigen Formen des gesellschaftli- 273–291.
chen Lebens unterkommen muss. Das, was ihm seine Kohl, Sarah: Die Komödie der Kultur. Die Philosophie Scho-
geistige Heimat aufschlüsseln sollte, lässt ihn erst hei- penhauers als Rezeptionsphänomen unter besonderer
matlos werden und verdammt ihn zu einer ewigen Su- Berücksichtigung der literarischen Aufnahme durch Tho-
mas Bernhard. Hamburg 2014.
che nach dem, was er erst durch den Prozess der Kul-
Lenarda, Antonio: Metafisiche della forma. Schopenhauer,
tur verloren hat. Nietzsche, Simmel. Milano 2013.
Eine Ähnlichkeit seines Konzepts zu demjenigen Ruggieri, Davide: Georg Simmel and the Question of Pessi-
Schopenhauers sieht Simmel zunächst darin, dass sich mism. A Socio-philosophical Analysis between »Wert-
die geistige Welt und die Gesellschaft so erst durch das frage« and »Lebensphilosophie«. In: Simmel Studies 16/2
erkennende Subjekt konstituieren, wenn er in direk- (2006), 161–181.
Ruggieri, Davide: Die Gesellschaft ist ›meine Vorstellung‹.
tem Zugriff auf Schopenhauer sagt: »[D]ie Gesell-
32  Georg Simmel 317

Prolegomena to a Nominalist Interpretation of Simmel’s Solies, Dirk: Ist Simmel ein Schopenhauerianer? In: Fabio
Social Philosophy. In: Simmel Studies 18/1 (2008), 169– Ciracì/Domenico M. Fazio/Matthias Koßler (Hg.): Scho-
186. penhauer und die Schopenhauer-Schule. Würzburg 2009,
Ruggieri, Davide: Il conflitto della società moderna: la rice- 327–333.
zione del pensiero di Arthur Schopenhauer nell’opera di Tromnau, Erich: Georg Simmels Schopenhauerauffassung.
Georg Simmel (1887–1918). Lecce 2010. Darstellung und Nachprüfung ihrer Eigenheiten. Königs-
Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Ramm- berg 1926.
stedt. Frankfurt a. M. 1989 ff. [GSG].
Sarah Kohl
318 IV Wirkung – A Personen

33 Henri Bergson Berthelot 1913, 83–111, 151; Stebbing 1914, 122–123;


Joad 1923; Baillot 1928; Reynaud 1929, 125; Mayer
Der Vergleich zwischen dem Schopenhauerschen Be- 1949, 112–115; Joussain 1963, 78).
griff ›Wille‹ und dem Bergsonschen Begriff – oder Doch handelt es sich beim Verhältnis Schopenhau-
Gleichnis – élan vital (Lebensschwung), den der fran- ers zu Bergson nicht um einen Einfluss. Bergson hat
zösische Philosoph in seinem 1907 veröffentlichten freilich versichert, er habe Schopenhauer »sehr ge-
Buch L ’ évolution créatrice (Die schöpferische Entwick- nau« (Bergson 2002, 410; Übers. A. F.) gelesen; aber
lung) entfaltet, wurde sowohl in Frankreich als auch in als er in seinem letzten Buch Die beiden Quellen der
Deutschland so oft unternommen, dass die Ähnlich- Moral und der Religion die Lehre des »élan vital« er-
keiten beider Begriffe sogar als Argument im Rahmen neut darlegt, ist es der Schopenhauersche Begriff des
einer Polemik während des Ersten Weltkriegs benutzt »Willens«, von dem er seinen eigenen Begriff streng
wurden, und zwar von Autoren, die aufzuweisen ver- trennen möchte: »Dies waren die Vorstellungen, die
suchten, dass Bergson lediglich ein Plagiator Scho- wir in das Bild vom ›Lebensschwung‹ eingeschlossen
penhauers sei (vgl. Antal 1914; Bönke 1916; Jacoby haben. Vernachlässigt man sie, wie man es nur zu oft
1916; Klimke 1916; Knudsen 1919). An dieser Aus- getan hat, so steht man begreiflicherweise vor einem
einandersetzung nahmen solche Hauptfiguren wie leeren Begriff, wie dem des reinen ›Lebenswillens‹,
Georg Simmel (1914) und Max Scheler (1982, 205) und vor einer sterilen Metaphysik« (Bergson 1933,
teil, um Bergson zu verteidigen, und Wilhelm Wundt 112–113). Diese Zeilen sind zweifellos durch die
(1915), um ihn anzuschuldigen (zu dieser ganzen Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und der oben
Streitfrage vgl. auch François 2005). Philosophisch erwähnten Polemik geprägt. Aber sie verbieten nichts-
ernstzunehmender waren die Seiten, die Albert Thi- destoweniger dem Historiker die Annahme, die Scho-
baudet einerseits, Vladimir Jankélévitch andererseits penhauersche Lehre des Willens könne als irgendein
in ihren jeweiligen Bergson-Büchern Schopenhauer Vorbild für die Bergsonsche Lehre des »élan vitals« ge-
widmeten. Diese Seiten beziehen sich genau auf die dient haben.
Frage des Verhältnisses des Willens zum élan vital Es existieren meines Erachtens zumindest fünf un-
(vgl. Thibaudet 1924, Bd. 1, 186–187; Bd. 2, 214–215; bestreitbare und wichtige Ähnlichkeiten zwischen
Jankélévitch 1999, 135). Während der 1920er und 30er den Begriffen »Wille« und »élan vital«. Zuerst ist der
Jahre bildete sich eine (zum Teil richtige) weitverbrei- Schopenhauersche Wille als Wille zum Leben be-
tete Interpretation, die unter dem häufig verwendeten stimmt, ebenso wie das Gleichnis des »élan« das Le-
Titel »Pragmatismus« die Lehren Schopenhauers und ben bezeichnet (insofern das Leben nach Bergson we-
Bergsons (zu denen man auch die Lehre Nietzsches sentlich Wille ist). So drückt sich Schopenhauer in ei-
hinzufügte) beschrieb. Sie enthielt drei Hauptteile: ei- nem berühmten Satz aus: »[...] so ist es einerlei und
ne Kritik der praktischen Täuschungen, eine Ontolo- nur ein Pleonasmus, wenn wir, statt schlechthin zu sa-
gie des Willens bzw. des Lebens und eine vitalistisch gen ›der Wille‹, sagen ›Wille zum Leben‹« (W I, 380
orientierte Ethik (vgl. vor allem Simmel 1922, 126– (Lö)), während nach Bergson »alles Lebendige in der
145; Scheler 1976, 223–224; in kritischer Hinsicht Ri- Richtung des Willensmäßigen liegt« (Bergson 1912,
ckert 1920, 178). In dem ausgezeichneten Buch Théo- 228). Die vitale Bestimmung des Begriffs des Willens
dore Ruyssens, der einer der Ersten war, die Schopen- bei beiden Autoren und die tiefe Verwurzelung ihrer
hauer in Frankreich rezipierten, wird unverhohlen ge- beiden Lehren in der Wirklichkeit des Lebens, hat den
fragt: »Was ist im Grunde der Bergsonsche ›élan vital‹, Anschluss dieser Denker an eine allgemeinere »Phi-
wenn nicht der Schopenhauersche ›Wille zum Le- losophie des Lebens« begründet und macht auf jeden
ben‹?« (Ruyssen 1911, 373; Übers. A. F.). Und der gro- Fall die enge Verwandtschaft zwischen ihnen aus. Ein
ße Psychoanalytiker Jung (s. Kap. 34) hält es für selbst- großer Unterschied liegt jedoch darin, dass Bergsons
verständlich, dass die Bergsonschen Begriffe »élan vi- Lehre des Lebens evolutionistisch ist, während Scho-
tal« oder sogar »Dauer« und der Schopenhauersche penhauer die tierischen und pflanzlichen Arten als
Begriff »Wille« sich im als »Lebenstrieb« verstande- Ideen, also ewigdauernd, betrachtet. Aber selbst diese
nen Unbewussten treffen (vgl. Jung 1991, 171). Abge- Kluft wird schmaler, wenn man sich daran erinnert,
sehen von jenen Schriftstellern haben viele »minores« dass der späte Schopenhauer, schon in Ueber den Wil-
vergleichende Studien über Schopenhauer und Berg- len in der Natur (N, 366–376 (Lö)) aber hauptsächlich
son mit Blick auf die Verwandtschaft zwischen »Wil- in »Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur«
len« und »élan vital« verfasst (vgl. Weber 1907, 668; (P II, Kap. 6 (Lö)), anerkennt, dass die Spezies »eine
33  Henri Bergson 319

aus der anderen hervorgegangen sind« (N, 376 (Lö); tärsten Lebensformen an ihre Umwelt festgestellt hat,
zur Frage eines »Evolutionismus« bei Schopenhauer dass die Fortsetzung des Lebensstroms nach diesen
vgl. Lovejoy 1911, der mit Bergson befreundet war). Stufen unbegreiflich wäre, wenn keine »ursprüngliche
Wie der Begriff ›Wille‹ intensional bei beiden Auto- Schwungkraft« (Bergson 1912, 107), d. h. kein »inne-
ren eine ähnliche Bedeutung bekommt, und zwar ei- re[r] Drang [...], der das Leben über immer vielgliedri-
ne ans Leben gebundene Bedeutung, so nimmt er ex- gere Formen zu immer höheren Bestimmungen em-
tensional in beiden Fällen eine außergewöhnliche Er- porträgt« (ebd.), hier am Werk wäre. Sicher ist die Fra-
weiterung an: ein »reine[s] Wollen« sei, so Bergson, ge bezüglich Schopenhauer ein wenig komplizierter,
»Prinzip des Lebens [...], Prinzip auch aller Materiali- weil man bei diesem Denker keine romantische Be-
tät« (Bergson 1912, 242), und nach Schopenhauer be- geisterung für die »verschwenderische Natur« finden
steht »das innere Wesen der Welt« (W I, 238 (Lö)) in kann. Aber, wie insbesondere Sandro Barbera (2004)
diesem Willen. Diese umfassende Gültigkeit des Be- zeigt, findet in der Schopenhauerschen Welt ein »Stei-
griffs ›Wille‹ ist sowohl bei Schopenhauer als auch bei gerungs«prozess statt, der mittels eines fortwährenden
Bergson von einer Umkehrung des Prioritätsverhält- Konflikts der Arten gegeneinander die Natur von Stufe
nisses zwischen Wille und Intellekt begleitet. Die zwei zu Stufe immer höher führt, bis zur Erscheinung des
Darstellungsweisen liegen hier überraschend nah bei- menschlichen Bewusstseins, das endlich fähig ist, den
einander: »alle mir vorhergegangenen Philosophen«, Willen zu verneinen (vgl. W I, § 27 (Lö)).
schreibt Schopenhauer, Am eindrücklichsten ist vielleicht die vierte Paralle-
le, da sie beiden Autoren Anlass zu vielfachen Verglei-
»vom ersten bis zum letzten [setzen] das eigentliche chen und Metaphern gibt. Man sieht in beiden Fällen
Wesen oder den Kern des Menschen in das erkennende eine doppelte Widerlegung des Mechanismus und des
Bewußtsein und demnach [haben sie] das Ich oder bei Finalismus, oder genauer gesagt, einer Relativierung
vielen dessen transzendente Hypostase, genannt See- beider Theorien, da sie nur für die menschliche Tätig-
le, als zunächst und wesentlich erkennend, ja denkend keit gelten, aber keinesfalls das Verfahren der Natur,
und erst infolge hievon sekundärer und asbgeleiteter bzw. des Willens oder des élan vital, erklären können.
Weise als wollend aufgefaßt und dargestellt. Dieser Diese Widerlegung spricht sich namentlich in Form
uralte und ausnahmslose Grundirrtum, dieses enorme einer Kritik des teleologischen Erstaunens aus:
πρῶτον ψεῦδος und fundamentale ὕστερον πρότερον
ist vor allen Dingen zu beseitigen« (W II, 257 (Lö)). »Wir freilich können etwas Regelmäßiges und Gesetz-
mäßiges [...] nur zustande bringen unter Leitung des
Und Bergson schreibt in einem der seltenen Texte, in Gesetzes und der Regel und ebenso etwas Zweckmäßi-
dem der Name Schopenhauers auftaucht: »Die Annah- ges nur unter Leitung des Zweckbegriffs: aber keines-
me, dass der Wille den Vorrang vor dem Verstand hat, wegs sind wir berechtigt, diese unsere Beschränkung
die Annahme, wie Schopenhauer sagen wird, des Pri- auf die Natur zu übertragen, als welche selbst ein prius
mats des Willens, hätten als schockierend die Alten zu- alles Intellektes ist und deren Wirken von dem unseri-
rückgewiesen; sie ist doch eine beherrschende Annah- gen [...] sich der ganzen Art nach unterscheidet« (W II,
me der modernen Philosophie« (Bergson 2016, 204). 423 f. (Lö)).
Die dritte Ähnlichkeit könnte als erste erwähnt wer-
den, so sehr kennzeichnet sie das Merkmal, an dem Diese strenge Unterscheidung zwischen zwei Vor-
man einen Philosophen des Lebens im präzisen Sinn gehensweisen, der des Menschen und der der Natur,
erkennen kann, nämlich die Unterscheidung zwischen findet sich auch bei Bergson, wenn er als Beispiel die
zwei Lebenstendenzen oder -trieben, die Tendenz zur Entstehung des Auges nennt:
Selbsterhaltung bzw. Anpassung und die Tendenz zur
Erweiterung bzw. zum Wachstum. Man erinnert sich »In anderem Sinne gehen beide, Finalismus und Me-
natürlich an die gegen Spencer und Darwin gerichte- chanismus, zu weit; denn sie verlangen die ungeheu-
ten Aphorismen Nietzsches (Jenseits von Gut und Böse, erlichste Herkulesarbeit von der Natur, wenn sie be-
§ 13; Die fröhliche Wissenschaft, § 349; Zur Genealogie haupten, bis zum einfachen Sehakt habe sie eine Un-
der Moral, II, § 12; ich denke auch an Jean-Marie endlichkeit unendlich komplizierter Elemente über-
Guyaus ›freigiebige Überfülle‹ und an Georges Batail- einander getürmt; während doch die Natur nicht mehr
les ›Aufwand‹), aber Bergson selbst behauptet, nach- Mühe hatte, ein Auge zu schaffen, als ich habe, meine
dem er die vollkommene Anpassung der rudimen- Hand zu heben« (Bergson 1912, 97).
320 IV Wirkung – A Personen

Daher wenden beide Autoren mehrere Gleichnisse des »Leidens«, der auch dem lateinischen pati ent-
neuplatonischen Ursprungs (Licht, Kristall, Laterne, spricht, vereinigt zu haben: als Leid (= passio, z. B. im
Glas mit tausend Facetten) an, um die Unvergleich- Ausdruck passio Christi), als Leidenschaft (deswegen
barkeit des Einen – das Vorgehen der Natur – und des hat der Schopenhauersche Wille die traditionellen Be-
Vielfältigen – die Ursachen und Zwecke – fühlen zu stimmungen der Affektivität erhalten, vgl. Henry 2003,
lassen: »daher das abstrakte Wissen sich zu ihnen ver- 217–225) und als Gegenteil einer Handlung (im Sinne,
hält wie ein musivisches Bild zu einem van der Werft dass man die actio einer passio entgegensetzt). Diese
oder Denner: wie, so fein auch die Musaik ist, die drei Bestimmungen finden sich auch bei Bergson wie-
Grenzen der Steine doch stets bleiben und daher kein der: Die Zeit bzw. Dauer empfängt sich aus sich selbst
stetiger Übergang einer Tinte in die andere möglich und ist in diesem Sinn passiv, sie wird letztendlich –
ist« (W I, 102 (Lö)), schreibt Schopenhauer zum Bei- d. h. in den Beiden Quellen – als »Emotion« bezeichnet,
spiel; und Bergson: und diese Emotion wird, in ihrem höchsten Grad, als
»Lust« – jedoch nicht als Schmerz (zu dieser Unter-
»Oder aber gesetzt unser Verstand sei so eingerich- scheidung s. u.) – charakterisiert. Trotzdem schließt
tet, daß er sich die Sichtbarwerdung der Gestalt auf diese Passivität des Willens und des élan vital keine Ak-
der Leinwand nur als Folge einer Mosaikarbeit zu er- tivität aus, ganz im Gegenteil: Schopenhauer und Berg-
klären vermöchte. Dann könnten wir einfach von ei- son gehören nämlich zu jenen Denkern, die am ent-
ner Zusammenfügung kleiner Würfel reden und wä- schiedensten die These eines tätigen Wesens der Welt
ren mitten in der mechanischen Hypothese. Weiter behauptet haben. So liest man bei Schopenhauer: »der
könnten wir hinzufügen, daß außer der materiellen Wille [...] als das Ding an sich ist nie träge, absolut un-
Zusammenfügung ein Plan vonnöten gewesen sei, ermüdlich, seine Tätigkeit ist seine Essenz, er hört nie
nach welchem der Mosaikkünstler arbeitete: in die- auf zu wollen« (W II, 276 (Lö)); und nach Bergson ist
sem Falle hätten wir uns als Teleologe ausgedrückt. die Dauer kein Milieu, sondern ein Akt, der eine Syn-
Den realen Prozeß hätten wir aber weder im einen these leistet, und der in verschiedenen Graden einer
noch im anderen Fall ergriffen; denn keine zusam- »Spannung«, und zwar einer willensmäßigen, stattfin-
mengefügten Würfel überhaupt hat es gegeben« den kann: Um »wahrhaft freie Handlungen« (Bergson
(Bergson 1912, 96). 1912, 205) auszuführen, um »das Reich unseres Wil-
lens [...] ins Unendliche« (ebd.) zu spannen, müssen
Die doppelte Kritik des Mechanismus und Finalismus wir »in gewaltsamer Zusammenballung unserer Per-
wiederholt sich, bei Schopenhauer wie auch bei Berg- sönlichkeit [...] unsere sich fortstehlende Vergangen-
son, in einer Kritik der vernünftigen Motivation: Die heit aufraffen, um sie kompakt und ungeteilt in eine
beiden Philosophen prangern eine Komödie der Gegenwart hineinzustoßen, die sie eben in diesem Ein-
Überlegung an, der eine (Schopenhauer) aufgrund dringen erschafft« (ebd., 205). Der Begriff »Spannung«
der unüberbrückbaren Trennung zwischen dem We- selbst besitzt eine philosophische und psychologische
sentlichen an meinem Willen und den phänomenalen Geschichte, die zur Lehre Schopenhauers als ihrem Ur-
Anlässen, bei denen er sich zeigt (vgl. W I, 164–165 sprung zurückführt. Der Begriff wurde hauptsächlich
(Lö)), der zweite (Bergson) aufgrund der notwendi- von Pierre Janet (1903) betont, aber Janet selbst ver-
gen Einseitigkeit irgendeines Motivs im Verhältnis weist auf Théodule Ribot (1885), der seinerseits Scho-
zum temporalen Strom der Persönlichkeit (vgl. Berg- penhauer als Vorbereiter nennt. Eine Parallele zeigt
son 1911, 119 f.). sich gleichzeitig in Deutschland, wo Griesinger, der die
Die fünfte Parallele ist wahrscheinlich die tiefgrei- Zeitschrift Archiv für Psychiatrie gegründet hatte, die
fendste, da sie nicht nur die Bestimmung der Begriffe ›Grübelsucht‹ bzw. den ›Fragetrieb‹ als eine Ent-span-
›Wille‹ und élan vital betrifft, sondern auch die Pro- nung beschreibt. Aber in beiden Fällen, bei Schopen-
bleme, die sie mit sich bringen. Das Problem, das mit hauer wie bei Bergson, ist die ›Passivität‹ keinesfalls der
der Schopenhauerschen Entscheidung, den Willen als Gegensatz einer ›Aktivität‹, sondern eher ihre Bedin-
Schmerz, also als Passivität, zu deuten, einhergeht, gung und gleichzeitig der Name eines ganz neuen Pro-
könnte mit der folgenden Frage zusammengefasst wer- blems, nämlich des Problems des Willens selbst, wel-
den: Wie kann die Passivität eine Aktivität bedeuten, ches der eine Philosoph mittels des Begriffs ›Schmerz‹,
und umgekehrt, wie kann die höchste Aktivität gleich- der andere mittels des Begriffs ›Emotion‹ stellt.
zeitig eine Passivität sein? Die hier treffende Schopen- Der Schopenhauersche Wille und der Bergsonsche
hauersche Position besteht darin, den dreifachen Sinn élan vital sind demzufolge insoweit verwandt, als sie
33  Henri Bergson 321

beide ein vital bestimmtes, nicht nur bewahrendes, Formen wiederkehren, fallen wir der Täuschung zum
sondern auch produktives, sich jenseits aller Ursa- Opfer, dass das Geschehen der Welt eine andere
chen und Zwecke entwickelndes, gleichzeitig aktives Richtung annehmen könnte; aber das Ergebnis ent-
und passives Streben darstellen. Um die besondere täuscht uns unvermeidlich. Nicht die Wiederholung
Natur dieses Strebens auszudrücken, benutzen Scho- selbst, sondern die immer ein wenig veränderte Wie-
penhauer und Bergson eine letzte Analogie, und zwar derholung, erzeugt die Verzweiflung. Und deswegen
die der nicht von vorn, sondern von hinten kommen- hat Nietzsche aus seiner eigenen Lehre der ›ewigen
den Bewegung (vis a tergo), d. h. des Drangs. Scho- Wiederkehr‹ dieses letzte Element der Differenz aus-
penhauer: »Die Menschen werden nur scheinbar von geschlossen. Übrigens entwickelt sich die ›Schöpfung
vorne gezogen, eigentlich aber von hinten geschoben: vs. Wiederholung‹-Antinomie durch eine zweite An-
nicht das Leben lockt sie an, sondern die Not drängt tinomie hindurch, die zwischen Freiheit und Not-
sie vorwärts. Das Gesetz der Motivation ist wie alle wendigkeit besteht. Aber man kann diese letzte Anti-
Kausalität bloße Form der Erscheinung« (W II, 465 nomie, im Gegensatz zur ersten, ein wenig abmil-
(Lö)). Und Bergson redet vom »inneren Drang, [...] dern, indem man bemerkt, dass die Bestimmtheiten,
der das Leben über immer vielgliedrigere Formen zu die Schopenhauer der »intelligibilen Freiheit« zu-
immer höheren Bestimmungen emporträgt« (Berg- schreibt, sich mit den Bestimmtheiten der Bergson-
son 1912, 107). schen (intelligibilen und empirischen) Freiheit de-
Aber die zwei Begriffe des Willens und des élan vi- cken: die Freiheit bezieht sich nicht auf einzelne
tal sind, trotz ihrer Ähnlichkeiten, entgegengesetzten Handlungen, sondern auf ein ganzes Leben. Sie liegt
Wertungen unterworfen. Ich habe schon erwähnt, also nicht im operari, sondern im esse; und sie ist kein
dass nach Schopenhauer der eigene Affekt des Willens Gesetzesbruch (sei es in Hinsicht auf die Vernunft,
›Schmerz‹ heißt, während es nach Bergson die ›Lust‹ oder auf die Natur), sondern deckt sich mit dem je-
ist. Dieser Unterschied, den man auf einen bloßen Wi- weiligen »Charakter«.
derspruch ›Optimismus vs. Pessimismus‹ allzu schnell Nun ergibt sich aus diesen beiden Auffassungen
reduzieren könnte, besitzt in Wirklichkeit eine viel des Geschehens ein dritter fundamentaler Unter-
weniger oberflächliche Bedeutung: Er führt die bei- schied, der sich auf den jeweils der Zeit verliehenen
den Denker zu einer völlig verschiedenen Bestim- Status bezieht. Die Realität der Zeit – im Gegensatz zu
mung der philosophischen Erfahrung des Willens ihrer Phänomenalität – ist nämlich, so Bergson, die
selbst (vgl. N, 476 (Lö); Bergson 1912, 205), die tat- Bedingung der Schöpfung innerhalb der Welt. Und
sächlich im einen Fall (Schopenhauer) im Schmerz Bergson zieht den radikalen Schluss daraus, wenn er
und im anderen Fall (Bergson, der sich philosophisch die Zeit selbst mit Wörtern bezeichnet, die er ge-
hier mit seinem entfernten Vorgänger Maine de Biran wöhnlich dem élan vital oder dem Willen zuschreibt:
trifft) in Anstrengung besteht. »Wenn das Nacheinander, als vom bloßen Neben-
Aber diese Verschiedenheit der jeweiligen Erleb- einander Unterschiedenes, keine reale Wirkungskraft
nisweisen der Welt folgt aus einem tieferen Grund, besitzt, wenn die Zeit nicht eine Art von Kraft ist, wa-
der im Unterschied zwischen ewiger Wiederholung – rum rollt das Universum seine nacheinanderfolgen-
und einer sich ewig wiederholenden Welt – einerseits den Zustände mit einer Geschwindigkeit ab, die in
und fortwährender Schöpfung – und einer sich fort- den Augen meines Bewusstseins etwas wahrhaft Ab-
während schöpfenden Welt – andererseits liegt. solutes ist?« (Bergson 1912, 342). Nun kann man bei
Wenn in der Tat die Bergsonsche Erfahrung des Wil- Schopenhauer eine exakt entgegengesetzte Behaup-
lens »Lust« heißt, dann weil »überall, wo Freude ist, tung lesen, und zwar: »[D]amit ein Mensch unter
Schöpfung ist« (Bergson 1928, 22); und sogar »ist die gleichen Umständen das eine Mal so, das andere Mal
Schöpfung um so reicher, je inniger die Freude ist« anders handeln« (W I, 402 (Lö)) könne, was Scho-
(ebd.). Die Lust gilt, anders gesagt, als emotionales penhauer natürlich verneint, »so müßte die Zeit eine
Kriterium oder index einer echten Schöpfung. Umge- Bestimmung des Dinges an sich sein« (W I, 402 (Lö)).
kehrt findet der Weltlauf nach Schopenhauer unter Aber gerade hier fängt eben die ganze Philosophie
der Leitung eines Wiederholungsprinzips statt, das Bergsons erst an.
die Geschichte nur »eadem, sed aliter« (W II, 570 Man wird also zu einem vierten und letzten Unter-
(Lö)) zu einem ewigen Abrollen verurteilt. Das wich- schied geführt, der der wesentlichste ist: Während
tigste Wort dieses berühmten Ausdrucks ist »aliter«: Schopenhauer die kantische Trennung zwischen den
Indem die gleichen Ereignisse unter immer anderen Erscheinungen und dem Ding an sich annimmt und
322 IV Wirkung – A Personen

sie erneuert, lehnt Bergson von Anfang an diese be- au Collège de France, 1904–1905. Hg. von Arnaud Fran-
griffliche Trennung ab. Der Bergsonsche élan vital ist çois. Paris 2016.
eine Bestimmung der Realität, wenn nicht die Realität Berthelot, René: Un romantisme utilitaire. Étude sur le mou-
vement pragmatiste. Bd. 2: Le pragmatisme chez Bergson.
selbst, während der Schopenhauersche Wille das Paris 1913.
Ding an sich, oder sogar ein Analogon des Dinges an Bönke, Hermann: Wörtliche Übereinstimmungen mit Scho-
sich (vgl. W II, 254–255 (Lö)) ist. Die anfängliche penhauer bei Bergson. In: Jahrbuch der Schopenhauer
Bergsonsche Ablehnung des Kritizismus lautete: Gesellschaft 5 (1916), 37–86.
»weil zwischen der ›Erscheinung‹ und dem ›Ding‹ François, Arnaud: Bergson plagiaire de Schopenhauer? Ana-
lyse d’une polémique. In: Études germaniques 60/3 (2005),
nicht die Beziehung des Scheins zur Wirklichkeit,
469–491.
sondern einfach des Teils zum Ganzen besteht« Henry, Michel: Généalogie de la psychanalyse. Le commence-
(Bergson 1991, 229). Schopenhauer seinerseits hat ment perdu. Paris 22003.
sich immer als ein Schüler und Fortsetzer Kants dar- Jacoby, Günther: Henri Bergson und Arthur Schopenhauer.
gestellt und verstanden. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst
Es ist also unbestreitbar, dass viele Ähnlichkeiten und Technik 10 (1916), 454–479.
Janet, Pierre: Les obsessions et la psychasthénie. Bd. 1. Paris
zwischen dem Schopenhauerschen Begriff ›Wille‹ und 1903.
dem Bergsonschen Gleichnis élan vital existieren. Jankélévitch, Vladimir: Henri Bergson. Paris 21999.
Diese zwei Begriffe sind so eng miteinander verwandt, Joad, Cyril E. M.: The Problem of Free Will in the Light of
wie es in der Geschichte der Philosophie einander Recent Developments in Philosophy. In: Proceedings of the
fremden Begriffen nur möglich sein kann. Aber es ist Aristotelian Society 23 (1923), 126–133.
Joussain, André: Schopenhauer et Bergson. In: Archives de
nicht weniger unbestreitbar, dass sich diese zwei Be-
philosophie 26/1 (1963), 71–89.
griffe wesentlich voneinander unterscheiden, und Jung, Carl Gustav: Die Bedeutung der Psychologie für die
wenn es so ist, dann weil sie zu höchst verschiedenen Gegenwart (1933). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10.
Untersuchungen gehören. Bergson erarbeitet seine Olten/Freiburg im Breisgau 41991.
Theorie des élan vital im Rahmen einer allgemeinen Klimke, Friedrich, S. J.: ›Plagiator Bergson‹ – eine Kultur-
Untersuchung des gesamten Wesen des Lebens und in frage. In: Stimmen der Zeit 90 (1916), 422–424.
Knudsen, Peter: Ist Bergson ein Plagiator Schopenhauers?
diesem Maß stimmt er mit Schopenhauer überein;
In: Archiv für Geschichte der Philosophie 25 (1919),
aber im Laufe seiner Untersuchung wendet er solche 89–107.
Begriffe wie ›Zeit‹ oder ›Bewusstsein‹ in einer Weise Lovejoy, Arthur O.: Schopenhauer as an Evolutionist. In: The
an, die freilich zu seiner eigenen Beschäftigung gehö- Monist 21/2 (1911), 195–222.
ren, aber nicht zur Schopenhauerschen. Zumindest Mayer, Hans: Welt und Wirkung Henri Bergsons. In: Ders.:
verbindet sie Schopenhauer nicht mit dem Willen, Literatur der Übergangszeit. Essays. Berlin 1949, 98–116.
Reynaud, Louis: La crise de notre littérature. Des romantiques
sondern mit der Erscheinung. à Proust, Gide et Valéry. Paris 1929.
Ribot, Théodule: Les maladies de la volonté. Paris 1885.
Literatur Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung
Antal, Illés: Bergson und Schopenhauer. In: Jahrbuch der und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer
Schopenhauer-Gesellschaft 3 (1914), 3–15. Zeit. Tübingen 1920.
Baillot, Alexandre: Bergson et Schopenhauer. In: Mercure de Ruyssen, Théodore: Schopenhauer. Paris 1911.
France 732/208 (15. Dezember 1928), 518–522. Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Werth
Barbera, Sandro: Schopenhauer, une philosophie du conflit. und Grenzen des Pragmatischen Motivs in der Erkenntnis
Paris 2004. der Welt [1925]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Bern/
Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die München 1976.
unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. Jena 1911 (frz. Scheler, Max: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg
1889). [1914]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Bern/Mün-
Bergson, Henri: Die schöpferische Entwicklung. Jena 1912 chen 1982.
(frz. 1907). Simmel, Georg: Bergson und der deutsche ›Zynismus‹. In:
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Jena 1928 (frz. 1919). Technik 9/9 (1914), 197–199.
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33  Henri Bergson 323

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Weber, Louis: L ’ évolution créatrice par Bergson. In: Revue Sciences durch Hermann Bönke. In: Literarisches Zentral-
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Wundt, Wilhelm: Plagiator Bergson, membre de l’Institut.
Zur Antwort auf die Herabsetzung der deutschen Wissen- Arnaud François
324 IV Wirkung – A Personen

34 Carl Gustav Jung Ausgabe der Werke Schopenhauers, Jung hat diese
aber erst in den Jahren 1897 (Bde. I–IV) und 1898
Darf man Jungs semi-autobiographischen Aufzeich- (Bde. V–VI) erworben, wie die Inschriften »Ex Libris
nungen Erinnerungen, Träume, Gedanken Glauben Caroli G. Jung. Basileae anno 1897« und »K. G. Jung.
schenken, so fällt seine erste Auseinandersetzung mit Anno 1898« belegen. Anhand des Verzeichnisses ent-
dem Denken Schopenhauers in die Zeit der Jahre 1891 liehener Bücher der Basler Bibliothek lässt sich nach-
bis 1894. Damals wandte sich der Basler Gymnasiast weisen, dass sich Jung die Parerga und Paralipomena
der Philosophie zu, um einen Weg zu finden, seine am 4. Mai 1897 ausgeliehen hat. Danach stand der
konkrete zeitgemäße Persönlichkeit mit einem von Band offenbar auf der Wunschliste des Studenten. Sei-
ihm empfundenen ahnungsvollen und zeitlosen Per- ne Mutter kam diesem Wunsch kurz darauf nach und
sönlichkeitshintergrund zu vereinen. Zwar konnten machte ihm die Parerga in der Ausgabe von Raphael
die philosophischen Studien ihm nicht helfen, diese von Koeber (Berlin: Verlag von Moritz Boas, 1891)
Spaltung zu überwinden, brachten ihn aber in Kon- zum Geschenk. Als Widmung findet sich der Eintrag:
takt mit den Werken von Denkern wie Schopenhauer, »d. d. d. [dedit, dedicavit und dat] mater carissima be-
den er als den großen Fund dieser Nachforschungen nevolentissima optime, filio«.
bezeichnete: Die Parerga spielten in der Folge eine zentrale Rolle
in fünf Vorträgen, die Jung in den Jahren 1896 bis
»Er war der erste, der vom Leiden der Welt sprach, wel- 1899 vor der Basler Burschenschaft Zofingia hielt. In
ches uns sichtbar und aufdringlich umgibt, von Verwir- seiner Darstellung der »Grenzgebiete der exakten
rung, Leidenschaft, Bösem, das alle anderen kaum zu Wissenschaften« war es Jung vor allem darum bestellt,
beachten schienen und immer in Harmonie und Ver- den wissenschaftlichen Positivismus, vertreten durch
ständlichkeit auflösen wollten. Hier war endlich einer, Forscher wie Emil du Bois-Reymond oder Ernst Brü-
der den Mut zur Einsicht hatte, daß es mit dem Welten- cke, in dessen Wiener Labor Sigmund Freud noch bis
grund irgendwie nicht zum Besten stand. Er sprach we- 1881 tätig gewesen war, anzugreifen. Interessanter-
der von einer allgültigen und allweisen Providenz der weise greift er dabei die Debatte um die empirische
Schöpfung, noch von einer Harmonie des Gewordenen, Nachweisbarkeit unbewusster Schlüsse, die bereits
sondern sagte deutlich, daß dem leidensvollen Ablauf Anfang der 1870er Jahre die Gemüter erregt hatte,
der Menschheitsgeschichte und der Grausamkeit der wieder auf. Schopenhauer hatte in Ueber die vierfache
Natur ein Fehler zugrunde lag, nämlich die Blindheit Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde dem Ver-
des weltschaffenden Willens« (Jung 1997b, 74). stand die alleinige Funktion zugeschrieben, durch ei-
nen unbewussten kausalen Schluss zu einer Empfin-
Schopenhauers Auffassung, nach der das Leiden eine dung, die als Wirkung aufgefasst wird, eine Ursache in
Grundbestimmung der Welt sei, fand Jungs Zustim- Zeit und Raum zu konstruieren. In ähnlicher Weise,
mung, nicht jedoch dessen Charakterisierung des Wil- sich allerdings ganz auf die Ergebnisse seiner physio-
lens zum Leben als blind. Noch befangen in den christ- logischen Forschung berufend, beschrieb Hermann
lichen Vorstellungen der protestantischen Erziehung von Helmholtz den sinnlichen Wahrnehmungsakt in
des elterlichen Pfarrhaushalts konnte er nicht anders, seinem Handbuch der physiologischen Optik (1867).
als den Willen zum Leben als Schopenhauers Gottes- Forscher wie Johann Nepomuk Czermak (1828–1873)
verständnis zu deuten. Demgemäß bestritt er die Mög- und der Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner (1834–
lichkeit des Intellekts, Einfluss auf den Willen, d. h. auf 1882) sahen daher in Helmholtz’ Theorie eine empiri-
einen allmächtigen Gott, nehmen zu können, wohin- sche Ausformulierung der philosophischen Position
gegen sich für Schopenhauer der Wille im Intellekt Schopenhauers. Das behauptete Nahverhältnis zu
selbst zu erkennen vermag. Nur ein pantheistisches Schopenhauer und Zöllners Entwurf einer a priori-
oder panentheistisches Verständnis hätte es Jung er- Physik auf Grundlage von Webers Elektrodynamik,
möglicht, den Gottesbegriff mit dem Willen zum Le- die der Energietheorie von Helmholtz entgegengesetzt
ben gleichzusetzen, wäre aber ebenso weit entfernt von war, veranlassten Helmholtz zu einem Angriff auf
Schopenhauers philosophischer Intention gewesen. Zöllner in der Zeitschrift Nature:
Die Zeitangabe dieser ersten Schopenhauer-Lektü-
re ist nicht vollkommen gesichert. Zwar verzeichnet »Judging from what he [i. e. Zöllner; M. L.] aims at his ul-
Jungs Handbibliothek in Küsnacht die von Eduard timate object, it comes to the same thing as Schopen-
Grisebach zwischen 1891 und 1895 herausgegebene hauer’s metaphysics. The stars are to love and hate one
34  Carl Gustav Jung 325

another, feel pleasure and displeasure, and to try to dies sogar als die »Todsünde« Schopenhauers (Jung
move in a way corresponding to these feelings. Indeed, 1997b, 75). Als dessen Verdienste hingegen nennt
in blurred imitation of the Principle of Least Action, Jung, als erster Kants Ding an sich für das philosophi-
Schopenhauer’s pessimism, which declares this world sche Denken fruchtbar gemacht und den Willen zum
to be indeed the best of possible worlds, but worse than Leben mit dem Leiden zusammengedacht zu haben.
none at all, is formulated as an ostensibly generally ap- Das Leiden entstamme dabei Schopenhauers monis-
plicable principle of the smallest amount of discomfort, tischem Verständnis der Welt gemäß der Blindheit des
and this is proclaimed as the highest law of the world, Willens. Demgegenüber vertritt Jung einen Dualis-
living as well as lifeless« (Helmholtz 1874, 150). mus, der das Leiden aus dem antagonistischen Cha-
rakter der Welt und dem unbefriedigten Streben nach
In Anlehnung an Nietzsches zweite Unzeitgemäße Be- Einheit erklärt (vgl. Jung 1997a, § 199; Ruffing 2005).
trachtung verteidigte Jung im Zofingia-Vortrag vom Noch 35 Jahre später, als Jung im Herbst 1933 seine
Mai 1897 »unseren noblen Zöllner«, der aufgrund sei- Vorlesungen an der ETH mit einem Streifzug durch
ner Nähe zu Schopenhauer ungerechtfertigten An- die Vorläufer der analytischen Psychologie aufnimmt,
griffen ausgesetzt gewesen sei. Geradezu leitmotivisch wird Schopenhauers Philosophie in ähnlicher Weise
findet sich in Jungs Text immer wieder das folgende dargestellt. Die historische Einzigartigkeit Schopen-
Zitat aus Schopenhauers »Versuch über das Geister­ hauers läge darin, so Jung, im Gegensatz zu seinen
sehn und was damit zusammenhängt«: empirischen Vorläufern etwas über die Bewusstseins-
vorgänge Hinausgehendes über die Seele ausgesagt zu
»[...] endlich auch habe ich keinen Beruf, den Skeptizis- haben:
mus der Ignoranz zu bekämpfen, dessen superkluge
Gebärden täglich mehr außer Kredit kommen und bald »Er spricht zum ersten Mal aus, dass die Seele des
nur noch in England Kurs haben werden. Wer heutzuta- Menschen Leiden bedeutet, nicht nur Ordnung und
ge die Tatsachen des animalischen Magnetismus und Zweckmässigkeit. Gegenüber aller rationalen Be-
seines Hellsehens bezweifelt, ist nicht ungläubig, son- wusstheit zeigt er einen klaffenden Riss auf, der durch
dern unwissend zu nennen« (P I, 277 f. (Lö)). die menschliche Seele hindurchgeht: zwischen dem
Intellekt und einem blinden Daseins- und Schöpferwil-
Zöllner, so argumentiert Jung, verteidigte den spiritua- len ohne Intelligenz. Er hätte diesen ›Willen‹ ebenso
listischen Standpunkt, dabei das Werk Schopenhauers gut ›das Unbewusste‹ nennen können« (Jung, 10. No-
weiterführend. Ihm zur Seite gestanden seien redliche vember 1933).
Forscher wie Wilhelm Weber (1804–1891), Gustav
Theodor Fechner (1801–1887), der Mathematiker Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Freud greift
Hermann Ulrici (1806–1884) sowie der einzige wahre Jung das Thema der Willensmetaphysik Schopenhau-
Vertreter des Spiritismus in Deutschland Carl Du Prel ers auf, um den Willen als einen Vorläufer des Begriffs
(1839–1899). Zum gegnerischen Lager zählt Jung Wil- der Libido darzustellen. Der Begriff sei weit genug,
helm Wundt (1832–1920), Carl Ludwig (1816–1893) heißt es in Wandlungen und Symbole der Libido, »um
und Emil du Bois-Reymond (1818–1896). Kant, Scho- alle die unerhört mannigfaltigen Manifestationen des
penhauer und Zöllner als Verteidiger des Anima- Willens im Schopenhauerschen Sinne zu decken, und
lischen Magnetismus würden im zeitgenössischen Kli- genügend inhaltsreich und prägnant, um die eigentli-
ma in Deutschland keine Beachtung mehr finden. che Natur der von ihm begriffenen psychologischen
Aber ein solcher Materialismus sei kurzlebig und Jung Entität zu charakterisieren« (Jung 1991, 130). Ein der-
prophezeit das Heraufkommen eines neuen Zeitalters, artig breit gefasstes Verständnis der Libido musste
in welchem die Menschen Denkmäler für Schopen- letztlich mit der (zu diesem Zeitpunkt) auf die sexuel-
hauer errichten würden, jenem Denker, der Materia- len Triebkräfte reduzierten Auffassung Freuds kolli-
lismus mit Unmenschlichkeit durch die Konjunktion dieren. Noch 1952 betont Jung, dass er die dynamische
»und« verbunden hätte (vgl. Jung 1997a, § 136). Sicht der Psyche Schopenhauer verdanke: »Der Scho-
In der vierten Vorlesung vom Sommer 1898, die penhauersche ›Wille‹ ist die Libido, die hinter allem
den Titel »Gedanken über Wesen und Wert spekulati- wirkt« (Jung 1994a, 62).
ver Forschung« trägt, kritisiert Jung Schopenhauer da- Seine Krisenerfahrung in der Zeit nach dem Bruch
für, ein noumenon, das Ding an sich, hypostasiert zu mit Freud dokumentierte Jung in dem Roten Buch
haben. In seinen Lebenserinnerungen bezeichnet Jung oder Liber Novus. In diesem Konglomerat aus Text
326 IV Wirkung – A Personen

und Bild stellte er jene Visionen der Jahre 1913 bis mals auf einen Aspekt der Philosophie Schopenhauers
1916 dar, die ihm das Material zu seiner künftigen beruft, diesmal auf dessen Verständnis der plato-
psychologischen Theorie des kollektiven Unbewuss- nischen Idee. Er zitiert dabei mehrere Passagen aus
ten lieferten. In dem »Die göttlichen Narrheiten« be- dem dritten Teil des ersten Bandes von Die Welt als
titelten Abschnitt stellt er die beiden Propheten der Wille und Vorstellung und leitet diese mit der Bemer-
neuen Zeit, unschwer als Schopenhauer und Nietz- kung ein, das Wort »Idee« sei hier jeweils durch »ur-
sche zu erkennen, dar, und beklagt sich, dass es ihm tümliches Bild« zu ersetzen, ein Begriff, den Jung bei
nicht gelungen sei, Christus mit diesen Propheten zu- Jakob Burckhardt entlehnt hat und der in den Schrif-
sammenzudenken (vgl. Jung 2009, 292). Ganz im Sin- ten Jungs allmählich von jenem des Archetyps abge-
ne von Nietzsches Zarathustra, wonach man es einem löst wird (Jung 1995, 449, § 697). Schopenhauer un-
Lehrer schlecht vergelte, wenn man immer nur der terscheidet an dieser Stelle zwischen dem abstrakten,
Schüler bleibe (vgl. KSA 4, 101) − ein Zitat, das Jung diskursiven und sprachlich mitteilbaren Begriff, der
auch in einem seiner letzten Briefe an Freud vom durch seine Definition vollkommen erschöpft sei, und
3. März 1912 wiedergibt −, wendet er sich nicht nur der Idee, die nur dem reinen Subjekt des Erkennens
gegen die Nachahmung Christi, sondern auch jener zugänglich ist:
der modernen Philosophen und Psychologen.
Diese Abwendung von dem tradierten Verständnis »[...] vom Individuo als solchem wird sie [sc. die Idee;
philosophischer und psychologischer Begrifflichkeiten M. L.] nie erkannt, sondern nur von dem, der sich über
eröffnet Jung erst die Möglichkeit zu einer eigenständi- das Wollen und alle Individualität zum reinen Subjekt
gen Entwicklung. So etwa, wenn er den Begriff des prin- des Erkennens erhoben hat: also ist sie nur dem Geni-
cipium individuationis, der im System Schopenhauers us und sodann dem, welcher durch meistens von den
eine so zentrale Rolle spielt, verwendet, um die Not- Werken des Genius veranlaßte Erhöhung seiner reinen
wendigkeit der Vereinzelung gegenüber der All- bzw. Erkenntniskraft in einer genialen Stimmung ist, er-
Nichtheit des gnostischen Pleroma hervorzuheben: reichbar: daher ist sie nicht schlechthin, sondern nur
»Also sterben wir in dem Maße, als wir nicht unter- bedingt mitteilbar, indem die aufgefaßte und im
scheiden. Darum geht das natürliche Streben der Krea- Kunstwerk wiederholte Idee jeden nur nach Maßgabe
tur auf Unterschiedenheit. Kampf gegen uranfängliche, seines eigenen intellektualen Wertes anspricht; [...]
gefährliche Gleichheit. Dies nennt man das principium Die Idee ist die vermöge der Zeit- und Raumform unse-
individuationis« (Jung 2009, 345). Für Schopenhauer rer intuitiven Apprehension in die Vielheit zerfallene
ist das principium individuationis Grundvoraussetzung Einheit: [...] Der Begriff gleicht einem toten Behältnis,
einer Vorstellungswelt, die zugleich mit dem finalen in welchem, was man hineingelegt hat, wirklich ne-
Quietiv des Willens zum Leben, d. i. dessen eigener beneinanderliegt, aus welchem sich aber auch nicht
Verneinung, ihr Ende findet. Damit kommt es zur Er- mehr herausnehmen läßt (durch analytische Urteile),
lösung von allem Leiden. Jung hingegen warnt vor dem als man hineingelegt hat (durch synthetische Reflexi-
Nichts (oder der Fülle) des Pleroma. Gerade die Diffe- on): die Idee hingegen entwickelt in dem, welcher sie
renzierung oder Individuation ist das Ziel seiner Psy- gefaßt hat, Vorstellungen, die in Hinsicht auf den ihr
chologie, und das Leiden stellt für Jung einen notwen- gleichnamigen Begriff neu sind: sie gleicht einem le-
digen Bestandteil des Lebens dar: bendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft be-
gabten Organismus, welcher hervorbringt, was nicht
»In der Psychotherapie versucht man, das Leiden des in ihm eingeschachtelt lag« (W I, 329 f. (Lö)).
Menschen zu mindern, aber irgendein Leiden ist ja im-
mer da. Es wäre auch nichts Schönes vorhanden, wenn Für Jung kann die Anwendung der Denkfunktion
es sich nicht abheben würde vom Häßlichen oder vom beim introvertierten Typus zu einer gedanklichen
Leiden. Der deutsche Philosoph Schopenhauer sagte Formulierung des urtümlichen Bildes, d. h. zur Idee,
einmal: ›Das Glück ist das Aufhören von Leiden.‹ Wir führen. Über die Idee hinaus gelange man aber nur
brauchen das Leiden, sonst wäre das Leben nicht mehr durch die Entwicklung der Gegenfunktion des Füh-
interessant« (Jung 1994b, 186). lens, denn das intellektuelle Begreifen der Idee fordere
letztlich auch eine Wirkung jener auf das Leben. Dies
Eine theoretisch reflexive Ausformulierung seiner kri- könne aber nur durch die Vereinigung der undifferen-
senhaften Erfahrungen erfolgte in späteren Jahren in zierten Funktion des Fühlens mit der Idee geschehen.
Werken wie Psychologische Typen, wo Jung sich aber- Das urtümliche Bild taucht dabei als vermittelndes
34  Carl Gustav Jung 327

Symbol auf, denn es »erfasst vermöge seiner konkre- allem als Stichwortgeber zur psychologischen Ampli-
ten Natur einerseits das in undifferenziertem konkre- fikation, kaum aber in ihrer Bedeutung als Vorläufer
tem Zustand befindliche Fühlen, ergreift aber auch wahrgenommen. Eine eingehende Auseinanderset-
vermöge seiner Bedeutung die Idee, deren Mutter es ja zung der theoretischen Gemeinsamkeiten steht da-
ist« (Jung 1995, 448, § 696). Die notwendige »geniale her noch aus.
Stimmung«, von der bei Schopenhauer die Rede ist,
sei demnach nichts anderes als ein bestimmter Ge- Literatur
fühlszustand, in dem die Funktion des Denkens bis Baum, Günther: Animus und Anima bei C. G. Jung und ihre
zur Idee und darüber hinaus in die Gegenfunktion ge- Entsprechung in Schopenhauers Philosophie. Eine Skizze.
In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2005), 213–216.
steigert werden könne. Die Idee, insofern sie den for- Brann, Henry Walter: C. G. Jung und Schopenhauer. In:
mulierten Sinn eines Urbildes darstellt, in welchem Schopenhauer-Jahrbuch 46 (1965), 76–87.
dieser schon früher symbolisch abgebildet war, be- Charet, F. X.: Spiritualism and the Foundations of C. G. Jung’s
zeichnet Jung als eine gegebene Möglichkeit von Ge- Psychology. Albany 1993.
dankenverbindungen überhaupt, eine a priori existie- Helmholtz, Hermann von: On the Use and Abuse of the
Deductive Method in Physical Science. In: Nature 11
rende und bedingende psychologische Größe.
(1874), 149–151.
Zur Veranschaulichung seines Begriffes der Idee Jarret, James L.: Schopenhauer and Jung. In: Spring: An
sucht Jung in Psychologische Typen nach philosophi- Annual of Archetypal Psychology and Jungian Thought
schen Vorläufern und findet die Trias Platon, Kant (1981), 193–204.
und Schopenhauer, wobei letzterem ein Zitat zur Seite Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole der Libido. Bei-
gestellt wird: »Ich verstehe also unter Idee jede be- träge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens [1912].
München 21991.
stimmte und feste Stufe der Objektivation des Willens,
Jung, Carl Gustav: Kommentare zu einer Dissertation.
sofern er Ding an sich und daher der Vielheit fremd Gespräch mit Xinema de Angulo [1952]. In: Jung. Ein
ist, welche Stufen zu den einzelnen Dingen sich aller- großer Psychologe im Gespräch. Freiburg/Basel/Wien
dings verhalten wie ihre ewigen Formen oder ihre 1994a (engl. 1986), 61–75.
Musterbilder« (W I, 195 (Lö)). Diese Ideen seien bei Jung, Carl Gustav: Gespräch mit einem Zen-Meister
Schopenhauer anschaulich, insofern sie ganz dem ent- (Shin’ichi Hisamatsu) [1958]. In: Jung. Ein großer Psycho-
loge im Gespräch. Freiburg/Basel/Wien 1994b (engl.
sprechen würden, was er, Jung, als urtümliche Bilder 1986), 186–197.
bezeichnet habe. Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen [1921] (= Gesam-
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass vor melte Werke, Bd. VI). Hg. von Marianne Niehus-Jung/
1913 die Gleichung von Willen zum Leben und Libido, Lena Hurwitz-Eisner/Franz Riklin/Leonie Zander. Düs-
nach 1916 die von Idee und urtümlichem Bild bzw. Ar- seldorf 1995.
Jung, Carl Gustav: Die Zofingia-Vorträge 1896–1899. Düssel-
chetyp im Zentrum von Jungs Schopenhauerrezeption
dorf 1997a (engl. 1984).
stand. Im Seminar zur Analytischen Psychologie von Jung, Carl Gustav: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Auf-
1925 findet sich schließlich der Versuch Jungs, rückbli- gezeichnet und hg. von Aniela Jaffé. Zürich/Düsseldorf
ckend diese beiden Aspekte zu vereinen. Er bezieht 101997b (engl. 1962).

sich dabei auf Schopenhauers Ueber den Willen in der Jung, Carl Gustav: Das Rote Buch. Liber Novus. Hg. von Sonu
Natur, worin Jung ein neues Verständnis des Willens Shamdasani. Ostfildern 2009 (engl. 2009).
Jung, Carl Gustav: Introduction to Jungian Psychology. Notes
zum Leben zu erkennen glaubt, nicht mehr blind, son- on the Seminar on Analytical Psychology Given in 1925.
dern zielgerichtet und kreativ. Eine derartige Auffas- Eingel., überarb. und hg. von Sonu Shamdasani,
sung sei mit seiner eigenen Sichtweise der Libido iden- ursprgl. hg. von William McGuire. Princeton 2011.
tisch. Der Libido-Begriff, der ursprünglichen Konzep- Jung, Carl Gustav: ETH Lectures 1933–1941. Hg. von Ernst
tion Jungs gemäß, sei daher nicht ziel- und formlos ge- Falzeder und Martin Liebscher. Princeton (im Erschei-
nen).
wesen, sondern von archetypischer Wesensart. Denn
Kropf, Andrea: Philosophie und Parapsychologie. Zur Rezep-
die Libido tauche niemals in formlosem Zustand aus tionsgeschichte parapsychologischer Phänomene am Bei-
dem Unbewussten auf, sondern immer in Bildern (vgl. spiel Kants, Schopenhauers und C. G. Jungs. Münster 2000.
Jung 2011, 4; Shamdasani 2003, 198). Liebscher, Martin: C. G. Jung. Die gedanklichen Werkzeuge
Es gehört zu den Eigenheiten der Jungschen Phi- des Unbewussten. In: Michael B. Buchholz/Günter Gödde
losophierezeption, philosophischen Begriffen eine (Hg.): Macht und Dynamik des Unbewussten. Berlin 2005,
391–404.
psychologische Umwertung zu geben. In diesem Sin- Lupo, Luca: »A Mighty Hand«. Father, God and Chance.
ne wurde die Philosophie Schopenhauers von der Jung reads Schopenhauer’s Transzendente Spekulation
analytischen Psychologie in der Nachfolge Jungs vor
328 IV Wirkung – A Personen

über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Ein- bei Schopenhauer und C. G. Jung, oder: 1 + 1 = 1. In: Scho-
zelnen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 94 (2013), 203–216. penhauer-Jahrbuch 86 (2005), 195–212.
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus- Shamdasani, Sonu: Jung and the Making of Modern Psycho-
gabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino logy. The Dream of a Science. Cambridge 2003.
Montinari. München/New York 1980 [KSA].
Ruffing, Margit: Die Duplizitätsstruktur des Bewußtseins Martin Liebscher
B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

35 Geometrie sich in der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte


immer wieder Thesen, die eine erstaunliche Ähnlich-
In Mathematiklehrbüchern und mathematischen Spe- keit untereinander vorweisen, obwohl sie offensicht-
zialabhandlungen tauchen bis heute immer wieder lich unabhängig voneinander aufgestellt wurden.
Themen und Thesen der Schopenhauerschen Elemen-
targeometrie auf. Da Schopenhauers Geometrie bzw.
Die positive Rezeption (ca. 1820–1880)
Philosophie der Geometrie in ihrer Figuren- und damit
Anschauungsbezogenheit im 19. und frühen 20. Jahr- Die wohl erste ernstzunehmende Rezeption der Scho-
hundert exemplarisch galt (vgl. Becker 1923, 5 f.), folgt penhauerschen Ansichten zur Geometrie erschien
die hier skizzenhaft dargestellte zweihundertjährige 1822 von dem Mathematikpädagogen Adolph Dies-
Rezeptionsgeschichte auch der von den mathemati- terweg, der die Geometrie als »intensivers Bildungs-
schen Paradigmen abhängenden Bewertung anschau- mittel« ansah, da »sie die Anschauung und den Begriff
ungsbezogener Geometrien (s. auch Kap. 6.3). Wissen- mit einander verbindet« (1822, 2). Im Unterschied zu
schaftshistoriker haben immer wieder betont, dass es in vielen Geometern in der Nachfolge Christian Wolffs
den Jahren zwischen 1880 und 1950 eine sogenannte sei Schopenhauer aktuell einer der wenigen, die eine
»Krise der Anschauung« gab, die durch die Entdeckung logische Grundlage der Geometrie nicht teile (vgl.
der Weierstraßschen ›Monsterkurven‹ in der zweiten ebd., 8). Diesterweg selbst hat ein an Schopenhauer
Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgelöst wurde und dass angelehntes Argument zu formulieren versucht, das
der daraus resultierende Formalismus sich erst ab der eine Vermittlung zwischen den visuellen Geometern
Mitte des 20. Jahrhunderts langsam relativierte (vgl. (Schopenhauer, Wagner, Schweins u. a.) auf der einen
Hahn 1933; Volkelt 1986). Seite und den logischen Geometern (Wolff, Maaß,
Die Rezeption der Schopenhauerschen Geo- Dilschneider u. a.) auf der anderen Seite herbeiführen
metrie folgt diesem ›Konjunkturzyklus‹: Während die soll, da mathematische Erkenntnisse sowohl auf An-
Beurteilungen in den Jahren zwischen 1820 und 1880 schauung als auch auf Begriffen zugleich beruhen
durchaus positiv ausfallen, setzt vor allem ab den würden (vgl. ebd., 9).
1890er Jahren eine nahezu schlagartig negative und 20 Jahre nach Diesterwegs Abhandlung erfuhr
abschätzige Bewertung ein, die besonders durch Wei- Schopenhauers Geometrie ihre intensivste Epoche po-
erstraß-Schüler und -Anhänger vorangetrieben wird. sitiver Rezeption und Fortführung. Neben Karl Mager
Erst langsam um das Jahr 1950 wird dann die Tabui- (vgl. Beckerath 1937) war es vor allem Karl Rudolf Ko-
sierung der Schopenhauerschen Philosophie der Geo- sack, der 1852 explizit eine ebene Geometrie nach
metrie relativiert und dadurch der Weg für ein ab den Schopenhauerschen Grundätzen zur öffentlichen Prü-
1990er Jahren erneutes, positives Interesse an Scho- fung vorlegte. Kosack erklärte, dass Euklids Geometrie
penhauers Philosophie der Geometrie geebnet. kein natürliches, sondern ein stark künstliches Pro-
Bis heute muss man aber feststellen, dass es keine dukt sei, das aufgrund der Willkürlichkeit der Beweise
aufeinander aufbauende Auseinandersetzung mit der und der Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Sätze
Schopenhauerschen Geometrie in der Forschung gibt. mit den Axiomen nur auf Überredung statt auf Über-
Die folgende Überblicksskizze zur Rezeption der Scho- zeugung abziele (vgl. Kosack 1852, 3). Daher sei es er-
penhauerschen Geometrie zeigt daher ein sehr hetero- forderlich, alle geometrischen Sätze auf die Anschau-
genes Bild: Einerseits legen die Rezipienten eine stark ung der produktiven Einbildungskraft zurückzufüh-
unterschiedliche Gewichtung auf die vielen Schopen- ren, so wie Schopenhauer es im Anschluss an Kant ge-
hauerschen Thesen zur Geometrie, anderseits zeigen lehrt habe (vgl. ebd., 5 ff.). Kosacks Programmschrift
330 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

ist kein reiner Schopenhauerianismus, sondern, wie Zeitschrift sticht besonders Carl Gusserows Kom-
der Autor betont, die Vollendung des kantischen Pro- mentar hervor, dass Schopenhauer hinsichtlich des
gramms der Geometrie aus der Anschauung und da- Satzes des Pythagoras eine »allgemein giltige Art des
mit der unwiderlegliche Sieg über den Logizismus. Beweises aus der Anschauung giebt, der Art, dass das
Schopenhauer und sein sich erst in diesen Jahren Hypotenusenquadrat in Teile zerlegt wird, aus dem
gebildeter Schüler- bzw. Anhängerkreis reagierten fast die Kathetenquadrate zusammengesetzt werden kön-
ausschließlich emphatisch auf Kosacks Schrift. Scho- nen« (Hoffmann 1885, 107).
penhauer nahm den Hinweis auf Kosacks Programm
in § 15 der der dritten Auflage des Hauptwerks auf. Ju-
Die Krise der Anschauung (1880–1950)
lius Frauenstädt schrieb, dass Kosacks Schüler die ers-
ten seien, die wieder ohne Krücken Geometrie erler- Erst der Aufsatz des Naumburger Realgymnasialleh-
nen und den pythagoreischen Lehrsatz wohl wieder rers Hermann Märtens kann als Ende der positiven
einst wie die alten Griechen erfassen könnten (vgl. Rezeptionsepoche der Schopenhauerschen Geometrie
Frauenstädt 1852, 836). Ähnlich positiv sprach sich angesehen werden. Schopenhauers Beweis des pytha-
auch der spätere Frankfurter und Darmstädter Ma- goreischen Lehrsatzes, so Märtens, sei zum einen un-
thematikprofessor Johann Christian Becker (1857) für vollständig, da er sich nur auf den Spezialfall des
Kosacks und Schopenhauers Ansatz aus. Nur Julius gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecks beschränke,
Bahnsen (1857) war nicht von Kosack überzeugt und und zum anderen sei der vollständige Beweis schon im
argumentierte, dass seine Vermischung von Erkennt- 12. Jahrhundert von dem indischen Mathematiker
nis- und Seinsgrund ein Rückfall in die kantische Phi- Bhaskara II. erbracht worden (vgl. Märtens 1885, 183).
losophie der Geometrie sei, die Schopenhauer eigent- 1891 legte Heinrich Leonhard, ein Schüler von Carl
lich vollendet habe. Weierstraß, eine Dissertation vor, die sich explizit, al-
Die zwischen Bahnsen, Kosack, Kehl u. v. a. entstan- lerdings stark negativ mit Schopenhauer und dem eu-
dene Debatte wurde Jahre später in Kapitel IV der Ab- klidischen Beweisverfahren beschäftigte. Leonhard
handlungen aus dem Grenzgebiete der Mathematik und eröffnete seine Dissertation mit der These, dass von
Philosophie von Becker (1870) zusammengefasst. In Schopenhauer ein Angriff auf die euklidische Elemen-
diesem damals sehr einschlägigen Werk argumentierte targeometrie von »so schwer wiegender Bedeutung
Becker, dass Schopenhauers Geometrie zwar nicht im- gemacht worden [sei], dass er, wenn seine Berechti-
mer sehr geschickt sei, Kosack dieses Programm aber gung zugestanden werden müsste, ein vernichtender
erfolgreich umgesetzt und verbessert habe. zu nennen wäre« (Leonhard 1891, 1).
Viel Berücksichtigung fand Benno Erdmanns zwie- Schopenhauer habe den Satz vom Grund unge-
spältiges Urteil über Schopenhauer in Die Axiome der rechtfertigt differenziert, da es nur den logischen Er-
Geometrie: Erdmann kritisierte, dass Schopenhauer kenntnisgrund gebe (vgl. ebd., 45, 50). Beweise seien
eine »bizarre« und »gekünstelt einseitige Ausbildung logisch-deduktiv und beruhen auf dem Satz vom Wi-
der kantischen Theorie« genossen habe (1877, 29, derspruch, während Schopenhauer subjektive ›Ge-
172). Er habe damals in einer anschauungsorientier- fühle‹ von Wahrheit suggeriere (vgl. ebd., 51 ff.). Alle
ten Tradition der Geometrie mit Carl Friedrich Gauß, anschaulichen Beweise seien »infolge häufiger Übung
Johann Friedrich Herbart etc. gestanden; doch auch und wegen der in diesem Falle vorliegenden Einfach-
sein später Ruhm habe nicht die Sucht verhindern heit und Durchsichtigkeit [eine] fast unbewusst er-
können, alles logisch begründen zu wollen. Seine Ein- folgende Zurückführung des Satzes auf die (begriff-
wände gegen das elfte wie gegen das achte Axiom der liche) Definition« (ebd., 64). Die visuelle Methode
euklidischen Geometrie zeugten allerdings von setze somit immer schon die logisch-diskursive vo-
»Scharfsinn« und seien bis heute aktuell (ebd., 65 f.). raus; Schopenhauer und seine Anhänger versuchten
Das Interesse an der Aktualität der Schopenhauer- dies allerdings durch »Unklarheit des Ausdrucks und
schen Geometrie wurde Mitte der 1880er Jahre in der Unvollständigkeit der Durchführung zu verdunkeln«
Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaft- (ebd., 65).
lichen Unterricht durch den Leibnizforscher Carl Im- Leonhards Angriff auf Schopenhauers visuelle Be-
manuel Gerhardt erneut angeregt, der den »wenig ge- weisführung galt lange Zeit als überzeugend. Robert
schmackvollen Namen ›Mausefallenbeweise‹« ver- Schlüter akzeptierte 1900 in Schopenhauers Philoso-
wendete (vgl. Buchbinder 1885, 67). Unter vielen Le- phie in Briefen Leonhards Argumente und zitierte da-
serbriefen und Artikeln in den Folgeheften der rüber hinaus einen pessimistischen Brief des späten
35 Geometrie 331

Schopenhauer an Becker, in dem jener seine eigene kantisch-visuellen und nicht im leibnizsch-logischen
und Beckers geometrischen Beweise als problema- Paradigma der Mathematik verhaftet blieb, sei da-
tisch und keinesfalls allgemeingültig eingestuft hatte rauf zurückzuführen, dass er in späteren Jahren die
(vgl. Schlüter 1900, 133 ff.). 1904 wiederholte der Wei- Entwicklung zur nicht-euklidischen Geometrie von
erstraß-Anhänger Alfred Pringsheim (1904) in einem Bernhard Riemann und Nikolai Iwanowitsch Lobat-
stark rezipierten Aufsatz die wesentlichen Argumente schewski in den Jahren 1854 und 1855 nicht mehr aus-
von Märtens und Leonhard, ohne beide aber nament- reichend würdigen konnte, da diese ja erst durch Her-
lich zu nennen; er argumentierte anhand einschlägi- mann von Helmholtz popularisiert wurde (vgl. ebd.,
ger Textpassagen aus dem zweiten Band der Welt als 216, 229) – eine These, die stark an Benno Erdmanns
Wille und Vorstellung, dass Schopenhauer ein Feind Axiome der Geometrie erinnert, ohne dass auf diese al-
der Mathematik sei. lerdings Bezug genommen wird.
Pringsheims Aufsatz kann als Meilenstein in der Wie in der Logik setzt ein stärkeres Interesse an
Rezeptionsgeschichte der Schopenhauerschen Geo- Anschauungsformen auch in der Geometrie-Rezepti-
metrie um 1900 angesehen werden. Er wurde in den on erst um die 1990er Jahre ein (vgl. Legg 2013; Bern-
folgenden Jahrzehnten im deutschen Sprachraum be- hard 2001, 11–17). Knut Radbruch, Professor für Ma-
sonders durch Felix Klein bekannt und dann im eng- thematik und ihre Didaktik an der TU Kaiserslautern,
lischsprachigen Raum stark rezipiert. In der ersten betont zwar, dass den heutigen Lesern mehrfache Pa-
Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich positive Bezü- radigmenwechsel in der Mathematik von Schopen-
ge auf Schopenhauers Geometrie nur bei Oscar Janzen hauer trennen würden, dennoch zeige sich bei der In-
(1909), der vor allem eine veränderte Lehre in der terpretation, »daß gewisse Fragestellungen, Einsich-
chronologischen Durchsicht der Schopenhauerschen ten und Perspektiven Schopenhauers zur Mathematik
Schriften erkannte, und bei dem führenden Intuitio- von erstaunlicher Aktualität sind« (Radbruch 1988,
nisten Luitzen E. J. Brouwer, der mit Schopenhauer 199). Radbruch sieht einen Optimismus bei Schopen-
die Anschauungsbezogenheit der Beweistheorie for- hauer, der auf dem Glauben beruhe, man müsse alle
derte und die universelle Gültigkeit logischer Prinzi- elementargeometrischen Beweise auf eine einfache
pien, insbesondere des tertium non datur in Frage Anschauung zurückführen können, obwohl die
stellte (vgl. Koetsier 2005). Eine intensive Erforschung newtonsche und leibnizsche Mathematik deutlich die
des Einflusses Schopenhauers auf Brouwers Werk »Grenzen der Anschauung« gezeigt hätten (ebd., 121).
steht aber noch aus. Seit dem Grundlagenstreit lebten Mathematiker aber
in zwei Welten, da man einerseits glauben müsse, dass
mathematische Sätze intuitionistisch seien und sich
Die Wiederentdeckung der Schopenhauerschen
anschaulich machen ließen, andererseits man aber in
Geometrie (1950 bis heute)
Zweifelsfällen sofort auf einen Formalismus zurück-
Etwa sechzig Jahre nach den vernichtenden Urteilen weiche. Schopenhauers Anschauungsaffinität sei zwar
von Leonhard, Märtens, Pringsheim, Klein u. a. legte gewiss zu radikal – ebenso wie die seines Zeitgenossen
der Topologe Kurt Reidemeister einen Artikel über Gauß –, aber komme grundsätzlich noch dem heuti-
die Anschauung als Erkenntnisquelle vor – ein Thema gen Wunsch nach Korrelation und Isomorphie zwi-
über das es keinen gesicherten Forschungsstand in der schen Anschauung und Logik in der Mathematik ent-
Mathematik gebe, so dass Reidemeister u. a. auf Scho- gegen (vgl. ebd., 121). Wenn es aber eine Möglichkeit
penhauer zurückgreift. Als Beispiel für Schopenhau- alogischer Beweise gebe, dann sei diese in der Mathe-
ers visuelle Methode nimmt er dessen figürliche Er- matik gegeben (vgl. ebd., 125).
klärung des Satz des Pythagoras, an der man »sehr Jean-Yves Béziau hat vor allem in den 1990er Jahren
rasch den Beweis ablesen kann: Die Figur ist eine vor- mehrere Studien zur Logik und Geometrie bei Scho-
zügliche ›Charakteristik‹ des Beweises, [...], d. h. ein penhauer vorgelegt: Heinrich Scholz hatte 1931 dem
Symbol, mit welchem sich die Struktur des Beweises Prinzip des zureichenden Grundes den logischen ›To-
genau abbildet« (Reidemeister 1946, 206). Sechs Jahre desstoß‹ geben wollen, da es seiner Meinung nach un-
später, 1953, veröffentlichte François Rostand eben- formalisierbar und daher selbst unlogisch sei. Béziaus
falls eine wohlwollende Interpretation der Schopen- Lehrer, Newton Da Costa, hatte Scholz’ These einer
hauerschen Demonstrationsmethode, die er vor al- Unformalisierbarkeit des Satzes vom zureichenden
lem mit Locke, Hume und Euler in Verbindung bringt Grund durch seinen modalquantifizierten Aussagen-
(vgl. Rostand 1953, 207 ff.). Dass Schopenhauer im kalkül widerlegt (Béziau 1992). Béziau sieht darin eine
332 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Tradition, die bis auf Schopenhauer zurückreiche. In Buchs der Welt als Wille und Vorstellung und den
der Geometrie und Philosophie der Geometrie, so Bé- geometrischen Figuren des ersten Buches herzustel-
ziau (1993), habe Schopenhauer noch mehrere andere len; er gibt aber selbst zu verstehen, dass dieser Ver-
moderne Positionen vorweggenommen: Arpad Szabôs gleich schief sei. 2014 hat Francesco Tortoriello in ei-
These einer rationalistischen Verwässerung Euklids, nem Aufsatz über Schopenhauers Geometriedidak-
Wittgensteins Diagrammatik, die Anschauungsaffini- tik seine langjährigen Lehrerfahrungen an einer hö-
tät der Zermelo-Fraenkelschen-Mengenlehre u. a. Ob- heren Schule in der Provinz Avellino festgehalten
wohl Schopenhauer natürlich Ähnlichkeit mit den und jene versucht, mit Schopenhauers Philosophie
Thesen Brouwers habe, müsse betont werden, dass zu verdeutlichen. Er stimme mit Schopenhauer über-
Schopenhauer nur eine der vier Wurzeln des Satzes ein, dass die didaktische Basis der Elementargeo-
vom Grund als intuitionistisch bezeichne und einen metrie die Anschauung sei, da die logische Abstrak-
Erkenntnisgrund in der Geometrie nicht vollständig tion erst nach und nach erlernt werden könne (vgl.
ablehne (vgl. Béziau 1993, 85). Tortoriello 2014, 86, 90 f.). Schopenhauer habe diese
1996 beschäftigte sich der Bayreuther Professor für Ansicht seiner Zeit auch mit den pädagogischen An-
Mathematik und Mathematikdidaktik Peter Baptist sätzen Herbarts und Trendelenburgs geteilt, und in
mit der Frage, ob der Satz des Pythagoras tatsächlich der Moderne werde diese noch in Piagets geometri-
eine qualitas occulta aufweise. Dabei argumentiert er, scher Entwicklungstheorie und in Van Hieles Denk-
dass Schopenhauer wirklich einen entscheidenden ebenentheorie vertreten (vgl. ebd., 89 f.). Insofern
Punkt getroffen habe, denn im »Unterschied bei- bleibe Schopenhauer aus pädagogischer Sicht ein
spielsweise zur Schnitteigenschaft der Mittelsenkrech- durchaus aktueller Denker (vgl. ebd., 86).
ten eines Dreiecks bleibt in diesem Fall [sc. beim Satz
des Pythagoras] die Aussage zunächst unsichtbar, sie Literatur
ist wirklich eine ›qualitas occulta‹« (Baptist 1996, 22). Bahnsen, Julius: Arthur Schopenhauer’s Urtheil über den
Zudem erklärt Baptist, dass Schopenhauer seine Kri- Bildungswerth der Mathematik. In: Schulzeitung für die
Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg 21, 25, 26
tik an der Willkürlichkeit der Hilfslinienkonstruktion (21 Feb., 21. und 28. Mar. 1857), 95–99, 113–116, 119–122.
mit Einstein teile und seine anschaulichen Beweise in Baptist, Peter: Der Satz des Pythagoras – eine qualitas
einer Tradition mit Alexis-Claude Clairaut, Henry Pe- occulta? In: Der Mathematikunterricht 42/3 (1996), 22–30.
rigal und Thabit ibn Qurra stehen (vgl. ebd.). Eine Becker, J. C.: Ueber den Bildungswerth der Mathematik. In:
ähnliche Traditionslinie sieht auch Alfred Schreiber Schulzeitung für die Herzogtümer Schleswig-Holstein und
Lauenburg 12, 13 (19. und 26. Dezember 1857), 58–62.
(2003), der darauf hinweist, dass man Schopenhauer
Becker, J. C.: Abhandlungen aus dem Grenzgebiete der
in den Kontext der seit den 1970er Jahren aufgekom- Mathematik und Philosophie. Zürich 1870.
menen »Proofs-without-Words-Bewegung« stellen Becker, Oskar: Beiträge zur phänomenologischen Begrün-
müsse, die gerade die Möglichkeiten anschaulicher dung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung.
Beweise betont. Freiburg i. Br. 1923.
2008 hat Jason M. Costanzo eine Darstellung der Beckerath, Ulrich von: Eine Anerkennung der mathemati-
schen Ansichten Schopenhauers aus dem Jahr 1847. In:
Schopenhauerschen Philosophie der Geometrie pu- Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 24 (1937), 158–
bliziert, die implizit auch auf die Rationalismusthese 161.
von Szabô anspielt, da seiner Meinung nach die grie- Bernhard, Peter: Euler-Diagramme. Zur Morphologie einer
chische Geometrie erst mit Euklid eine Wende zur Repräsentationsform in der Logik. Paderborn 2001.
synthetischen Mathematik genommen habe. Costan- Béziau, Jean-Yves: O princípio de razão suficiente e a lógica
segundo Arthur Schopenhauer. In: F. R. R. Évora (Hg.):
zo (2008) vertritt zudem die Meinung, dass Schopen-
Século XIX. O Nascimento da Ciência Contemporânea.
hauers Forderung nach einer analytischen Geo- Campinas 1992, 35–39.
metrie und seine Ablehnung der synthetischen Geo- Béziau, Jean-Yves: La Critique Schopenhaurienne de l’Usage
metrie Euklids vom Sprachgebrauch auf Pappus zu- de la Logique en Mathématiques. In: O Que Nos Faz Pen-
rückgehe. sar 7 (1993), 81–88.
Dale Jacquette hat 2012 einen Beitrag zu Schopen- Buchbinder, [Friedrich]: Verhandlung der Sektionen für
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht
hauers Logik und Mathematik verfasst, der aber lei-
auf der diesjährigen Versammlung deutscher Philologen
der wesentliche Aspekte unberücksichtigt lässt. Er- und Schulmänner, vom 1.–4. Oktober 1884 in Dessau. In:
wähnenswert ist, dass Jacquette (2012, 52 f.) ver- Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftli-
sucht, in seinem Geometrie-Kapitel vielmehr eine chen Unterricht 16/1 (1885), 66–76.
Verknüpfung zwischen der Ideenlehre des dritten Costanzo, Jason M.: The Euclidean Mousetrap. Schopen-
35 Geometrie 333

hauer’s Criticism of the Synthetic Method in Geometry. Legg, Catherine: What is a logical diagram? In: Sun-Joo
In: Journal of Idealistic Studies 38/3 (2008), 209–220. Shin, Amirouche Moktefi (Hg.): Visual Reasoning with
Diesterweg, F. A. W.: Leitfaden für den ersten Untericht in der Diagrams. Basel 2013, 1–18.
Formen-Größen- und räumlichen Verbindungslehre oder Leonhard, Heinrich: Beitrag zur Kritik der Schopen-
Vorübungen zur Geometrie für Schulen. Elberfeld 1822. hauer’schen Erkenntnistheorie, insbesondere in ihrer
Erdmann, Benno: Die Axiome der Geometrie. Eine philoso- Anwendung auf das Euklidsche Beweisverfahren. Bonn
phische Untersuchung der Riemann-Helmholtz’schen 1891.
Raumtheorie. Leipzig 1877. Märtens, [Hermann]: Schopenhauer über den ›Mausefallen-
Frauenstädt, Julius: Eine beachtenswerthe Erscheinung in beweis‹. In: Zeitschrift für mathematischen und naturwis-
der Mathematik. In: Blätter für literarische Unterhaltung senschaftlichen Unterricht 16/4 (1885), 181–186.
35 (28. August 1852), 836. Pringsheim, Alfred: Über den Wert und angeblichen Unwert
Hahn, Hans: Die Krise der Anschauung. In: Ders.: Krise und der Mathematik. In: Jahresberichte der deutschen Mathe-
Neuaufbau in den exakten Wissenschaften. Fünf Wiener matiker-Vereinigung 13 (1904), 357–382.
Vorträge. Wien 1933, 41–64. Radbruch, Knut: Anschauung und Beweis in der Mathe-
Hoffmann, Volkmar: Schopenhauer, der Philosoph, über die matik. Skeptische Anmerkungen zum Optimisten Scho-
Euklidische Methode und die ›Mausefallenbeweise‹. In: penhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 199–126.
Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftli- Reidemeister, Kurt: Anschauung als Erkenntnisquelle. In:
chen Unterricht 16/3 (1885), 105–107. Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1946), 197–210.
Jacquette, Dale: Schopenhauer’s Philosophy of Logic and Rostand, François: Schopenhauer et les démonstrations
Mathematics. In: Bart Vandenabeele (Hg.): A Companion mathématiques. In: Revue d’histoire des sciences et de leurs
to Schopenhauer. Hoboken 2012, 41–59. applications 6/3 (1953), 202–230.
Janzen, Oscar: Schopenhauers Auffassung des Verhältnisses Schlüter, Robert: Schopenhauers Philosophie in seinen Brie-
der mathematischen Begründung zur logischen. In: fen. Leipzig 1900.
Archiv für Geschichte der Philosophie 22 (1909), 342–364. Schreiber, Alfred: Vorsicht, Mausefalle! In: Mitteilungen der
Koetsier, Teun: Arthur Schopenhauer and L. E. J. Brouwer. A DMV 11/1 (2003), 58–59.
Comparison. In: Luc Bergmans/Teun Koetsier (Hg.): Tortoriello, Francesco Saverio: Schopenhauer e la didattica
Mathematics and the Divine. A Historical Study. Amster- della matematica. In: Archimede: Rivista per gli insegnanti
dam u. a. 2005, 571–595. e i cultori di matematiche pure e applicate 2 (2014), 86–91.
Kosack, C. R.: Beiträge zu einer systematischen Entwicke- Volkelt, Klaus Thomas: Die Krise der Anschauung. Eine Stu-
lung der Geometrie aus der Anschauung. In: Zu der öffent- die zu formalen und heuristischen Verfahren in der Mathe-
lichen Prüfung sämmtlicher Klassen des Gymnasiums zu matik seit 1850. Göttingen 1986.
Nordhausen [...]. Nordhausen 1852, 1–31.
Jens Lemanski
334 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

36 ›Evolutionstheorie‹ hauer die Stufen der Objektivation des Willens und


die Teleologie behandelt. Hier sehen viele Autoren
Charles Darwin gilt allgemein als der ›Erfinder‹ der auch eine Vorwegnahme darwinistischer Theorieele-
Evolutionstheorie. Dennoch sehen viele Wissen- mente, die mit Stichwörtern wie ›struggle for exis­
schaftshistoriker bereits in der Antike Anfänge und tence‹, ›survival of the fittest‹ und auch ›Adaptionis-
einzelne Vorwegnahmen der heutigen Entwicklungs- mus‹ umschrieben werden können. Aus der zweiten
biologie. Die Tatsache, dass der im Titel genannte Auflage von Ueber den Willen in der Natur ist beson-
Ausdruck ›Evolutionstheorie‹ in Anführungszeichen ders das Kapitel »Vergleichende Anatomie« und die
gesetzt wurde, ist somit kein Hinweis auf die Vorzei- darin enthaltene Teleologie analysiert worden. An
tigkeit Schopenhauers zu Darwin, sondern betrifft die mehreren botanischen und zoologischen Beispielen
kritische Frage, ob man Schopenhauer überhaupt in Schopenhauers sehen Interpreten besonders Hinwei-
diese Geschichte der Evolutionstheorie mit aufneh- se zur Deszendenz- und Anpassungslehre sowie eine
men sollte oder nicht. Auseinandersetzung mit damals einschlägigen Natur-
Wie der folgende Überblick zeigt, gehen bei diesem forschern. In den Kapiteln 24, 26–28, 44 haben viele
Thema die Einschätzungen der Rezipienten weit aus- Interpreten Parallelen zu Evolutionstheoretikern ge-
einander. Während beispielsweise Johannes Vanden- funden und vor allem die Themen ›Materie‹, ›Teleolo-
rath (1976) mehrere Gründe anführt, warum Scho- gie‹, ›Instinkt‹, ›Wille zum Leben‹ sowie ›Geschlechts-
penhauer kein Vorläufer der Evolutionstheorie sein liebe‹ untersucht. Besonders der letzte Aspekt bietet
kann, erklärt Karl Dietrich Adam (2011) Schopenhau- Anknüpfungspunkte des Vergleichs zu Darwins ›se-
er zu dem verkannten Wegbereiter Darwins. Die xual selection‹ und zum modernen Mutationismus.
meisten Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigt Im zweiten Band der Parerga und Paralipomena wur-
haben, tendieren zwar dazu, Schopenhauer tatsäch- de das Kapitel  6 verstärkt in der hier thematischen
lich als einen Vorläufer der Evolutionstheorie anzuse- Forschung untersucht. Die in § 91 zu findende An-
hen, nehmen aber eine differenziertere Stellung zwi- thropogenese, in der Schopenhauer den Ausdruck
schen den Radikalpositionen von Vandenrath und ›generatio in utero heterogeneo‹ (Zeugung in einem he-
Adam ein. Dabei bleibt allerdings zu berücksichtigen, terogenen Uterus) einführt, ist immer wieder lebhaft
dass die Interpretation der Schopenhauerschen ›Evo- diskutiert worden. Schopenhauer erklärt dort, dass
lutionstheorie‹ immer von der Textauswahl, von der die ersten Menschen in Asien vom Pongo und in Afri-
Lesart dieser Texte und von dem jeweiligen naturwis- ka vom Schimpansen geboren worden seien. Kritiker
senschaftlichen Paradigma abhängt, in dem sich die einer Evolutionstheorie bei Schopenhauer haben sich
jeweiligen Rezipienten befinden. hingegen vor allem auf eine Textstelle aus § 174 (Kap.
Im Folgenden werden die Schopenhauerschen Pri- XV) bezogen, in der Schopenhauer erklärt, dass die
märtexte zur Evolutionstheorie kurz vorgestellt und Menschheit nur 6000 Jahre alt sei.
anschließend die zentralen Forschungsthesen der seit Zu beachten ist, dass entweder Schopenhauer ei-
den 1870er Jahren fortlaufenden Rezeptionsgeschich- genständig die meisten seiner Texte in den späteren
te in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Dabei Auflagen verändert und ergänzt hat oder aber spätere
wird zwischen der Rezeption im späten 19. und frü- Editoren und Herausgeber erhebliche Änderungen an
hen 20. Jahrhundert und den Interpretationen im spä- den Werken vorgenommen haben. Die hier diskutier-
ten 20. und frühen 21. Jahrhundert unterschieden. ten Forschungsarbeiten beziehen sich fast aus-
Der vorliegende Überblicksartikel beruht wesentlich schließlich auf die letzten oder sogar von fremder
auf der viel ausführlicheren Forschungskritik in Le- Hand veränderten Auflagen der Werke.
manski (2016). Ergänzend zu dieser Kritik des For-
schungsstandes sei auch auf den Überblicksbericht
Die Rezeption im späten 19. und frühen 20. Jahr-
zur frühen Rezeption bei Ferruccio Zambonini (1935,
hundert
61 ff.) hingewiesen.
Im Jahr 1871 diskutiert David Asher erstmals die For-
schungsfrage, ob Schopenhauer eine Verwandtschaft
Primärtexte Schopenhauers
mit Evolutionstheoretikern aufweise. In diesem Arti-
In der Rezeptionsgeschichte wurden besonders die kel wird vor allem die These vertreten, dass Schopen-
§§ 25–29 der dritten Auflage von Die Welt als Wille hauer in Kapitel 44 der Welt als Wille und Vorstellung
und Vorstellung I herangezogen, in denen Schopen- II die Theorie einer durch die individuelle Ge-
36 ›Evolutionstheorie‹ 335

schlechtsliebe hervorgerufenen, aber den Arten we- u. a. teilweise gestützt worden. Nach Lovejoy habe der
sentlichen Selektion aufstelle (vgl. Ascher 1871, frühe Schopenhauer eine Artenkonstanz aus der pla-
325 f.). Schopenhauer habe daher deduktiv mit seiner tonischen Ideenlehre abgeleitet, der späte Schopen-
Theorie der »unbewußten Rücksichten in der Ge- hauer aber ab ca. 1850 evolutionistische Aspekte der
schlechtsliebe« das vorweggenommen, was Darwin Phylogenese und des Mutationismus vertreten (vgl.
induktiv als ›unconscious selection‹ bestätigt habe ebd., 199 f., 201, 210, 213, 219). Schopenhauer zeige in
(vgl. ebd., 330 f.). Vermittelt durch Asher hat sich Dar- späteren Jahren zwar im Detail eine Nähe zu Darwin
win selbst wenige Jahre später explizit auf Schopen- auf, stimme im Allgemeinen aber weder mit dem car-
hauer und dessen Idee einer ›sexual selection‹ berufen tesianischen Mechanismus, dem lamarckistischen
(vgl. Darwin 1874, 586). Ein Jahr nach Ashers Aufsatz Adaptionismus, dem theologisch geprägten Präfor-
findet man eine ähnliche These auch bei Hans Herrig mismus noch mit Darwins Selbstregularität externa-
(vgl. 1872, 63 f.). listischer Kräfte überein (vgl. ebd., 221).
1875 sah der Philosoph Ludwig Noiré Ähnlichkei- Der Würzburger Anatom Wilhelm Lubosch pflich-
ten zwischen Schopenhauer und der Evolutionstheo- tete bezüglich dieses Urteils Lovejoy bei: Im Detail se-
rie: (1) in der Entwicklung der scala naturae, (2) im he man zwar Ähnlichkeiten mit Darwin, im Allgemei-
Kampf ums Dasein (bellum omnium conta omnes) so- nen aber starke Unterschiede (vgl. Lubosch 1915,
wie (3) in der Teleologie (vgl. Noiré 1875, 238–253). 106). Schopenhauer sei im Einklang mit der Natur-
Schopenhauers Theorie sei aber insofern anderen Ar- wissenschaft seiner Zeit (vgl. ebd., 108, 122, 126), da er
beiten zur Entwicklungsbiologie überlegen, als sie die sowohl die Epigenetik als auch den Lamarckismus ab-
mechanistischen und bewusstlosen Prozesse der Evo- lehne. Wie Lovejoy betont auch Lubosch die Bedeut-
lutionstheorie begrifflich darstellen würde (vgl. ebd., samkeit der genannten Textstelle aus Kapitel VI der
345). Allerdings gäbe es auch »innere Widersprüche Paralipomena, in der Schopenhauer von einer ›genera-
in der Lehre des großen Denkers« (ebd., 253), die sich tio in utero heterogeneo‹ spricht. Hier erkläre Schopen-
in den Ausführungen zur Artenkonstanz, zu den Na- hauer »wie aus einer Schlange eine Eidechse, aus ei-
turgesetzen, zur Charakter- und zur Deszendenzlehre nem Habicht ein Adler, aus einem Affen ein Mensch«
zeigen. Diese gründen sich, so Noiré in Schopenhau- werden konnte (ebd., 123). Mit diesem Urteil steht Lu-
ers Befangenheit im kantischen Idealismus oder auch bosch nicht allein da: Viele Interpreten um die Wende
im Pessimismus (vgl. ebd., 253–272). zum 20. Jahrhundert haben die Bedeutsamkeit dieser
Eine Art Selbstmissverständnis Schopenhauers hat Textstelle ähnlich betont (vgl. dazu Schulz 1899, 280–
auch der Naturforscher Oskar Prochnow (1910) in 285). Allein Hans Herrig bezeichnet diese Idee Scho-
dessen kantischen Idealismus und in der platonischen penhauers als eine »kindliche Theorie« und »mytho-
Ideenlehre gesehen. Schopenhauer sei aber vor allem logische Vorstellung« (Herrig 1872, 52).
Eklektiker und könne daher nicht auf die Aufnahme
der zu seiner Zeit aufkommende Entwicklungslehre
Die Rezeption im späten 20. und frühen 21. Jahr-
verzichtet haben (vgl. ebd., 16). Die Hauptthese des
hundert
Aufsatzes lautet, dass Jean-Baptiste de Lamarcks »in-
neres Gefühl« oder »Begierde« eine Analogie zu Scho- Ähnlich wie Prochnow (1910) sieht auch der Zoo-
penhauers Willen bilden, da beides »von innen he- loge Hansjochen Autrum (1969, 89) in Schopenhau-
raus« entstünde und eine aktive Anpassung bewirke er einen Eklektiker, der die großen biologischen
(ebd., 6 f.). Prochnow argumentiert im Detail, dass der Werke seiner Zeit in seiner Metaphysik gespiegelt ha-
Lamarckismus aufgrund des von Schopenhauer vor- be. Schopenhauer habe richtig erkannt, dass La-
weggenommenen Kampfs der Arten, des Haeckel- marcks phylogenetisch verstandenes Urtier nicht
schen und Dolloschen Gesetzes »eine gewaltige, leider hätte real sein können, da es ohne ausgebildete Orga-
bis heute bei den Biologen noch wenig bekannte Aus- ne nicht lebensfähig sei (vgl. ebd., 51). Die Ableh-
gestaltung« erfuhr (ebd., 46, 70). nung des Lamarckismus und die Erkenntnis der os-
Eine bis heute lesenswerte Studie hat der Begrün- teologischen Verwandtschaft zwischen Hühner- und
der der Disziplin ›Ideengeschichte‹ Arthur O. Lovejoy Menschenschädel habe Schopenhauer zur Evoluti-
(1911) vorgelegt, in der er die These vertritt, dass onstheorie gebracht (vgl. ebd., 90, 92). Somit habe
Schopenhauer seine Lehre im Laufe der Jahre radikal Schopenhauer bereits »vor Darwin [...] die Abstam-
überarbeitet habe. Diese These ist später von Wilhelm mung durch Umwandlung der Arten anerkannt«
Lubosch, Hansjochen Autrum, Christoph Schröder (ebd., 91). Die bei Schopenhauer zu findenden inne-
336 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

ren Widersprüche und einige, aus heutiger Sicht als mögliche es ihm aber zu behaupten, dass die vier Stu-
Irrlehren erscheinende Ideen Schopenhauers seien fen nacheinander bei jeweils einer erdgeschichtlichen
aber nur ein Produkt seines Eklektizismus und daher Katastrophe entstanden seien und sich so vor 6000
der Situation der Naturwissenschaften im 19. Jahr- Jahren die Menschheit entwickelt habe (vgl. ebd.,
hundert geschuldet. 367 ff.). Im Unterschied zu allen anderen Forschern
Eine ganz andere Meinung vertrat der Philosoph und auch im Unterschied zu einigen seiner eigenen
Vandenrath, der die Aussage Arthur Hübschers be- Thesen behauptet Steppi zuletzt, dass Schopenhauer
tonte, derzufolge Schopenhauer aufgrund seiner pla- sich gegen die neuesten Entwicklungen in den Natur-
tonischen Ideenlehre kein Vorläufer einer Evoluti- wissenschaften seiner Zeit zunehmend mehr abge-
onstheorie seien könne (vgl. Vandenrath 1976, 40). schottet habe und eigentlich doch Präformist gewesen
Die für die Evolutionstheorie entscheidende Deszen- sei (vgl. ebd., 377).
denzlehre sei erst ein Jahr vor dem Tod Schopenhau- Anders sah dies Christoph Schröder, der in seiner
ers zum Durchbruch gekommen, weshalb Schopen- Dissertationsschrift die These Lovejoys wieder auf-
hauer, ähnlich wie Goethe, Lamarcks Urtier-Theorie griff, dass Schopenhauer in frühen Jahren aufgrund
favorisiert habe (vgl. ebd., 40 ff.). Da nach Schopen- eines platonischen Selbstmissverständnisses nur ei-
hauer die Hominisation zudem innerhalb der letzten nen latenten Evolutionismus vertrat, der erst in den
sechstausend Jahre erfolgt sei, fehle in Schopenhau- späteren Werken deutlicher hervortrete (vgl. Schröder
ers Weltbild die Zeit, um langandauernde Prozesse 1989, 4, 6). Evolutionistisch sei vor allem Schopen-
der Mutation, Vererbung und Auslese in Betracht zu hauers Anliegen, eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck-
ziehen (vgl. ebd., 44, 46, 49). Nur aufgrund dieser ursache« in der Natur auszumachen (ebd., 50). Resü-
knapp bemessenen Zeitspanne habe Schopenhauer mierend bestätigt Schröder die Eklektizismus-These
später erklärt, der Mensch sei in Asien vom Orang- seiner Vorgänger: Schopenhauer greife auf zahlreiche
Utan und in Afrika vom Schimpansen geboren wor- evolutionstheoretische Ansätze zurück, die damals in
den: Die Stelle zeige besonders deutlich, wie weit den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft
Schopenhauer davon entfernt war, sich den wirk- entwickelt worden seien (vgl. ebd., 64). Anhand der
lichen Vorgang der Entwicklung der Arten vorzustel- Untersuchung detaillierter Thesen aus Schopenhauers
len (vgl. ebd., 49 f.). Werk bestätige sich, dass Schopenhauers Lehre vom
In seiner Dissertationsschrift hat der Philosoph »›Anpassen der Ideen‹« kein Platonismus, sondern ein
Christian Steppi einen Entwicklungsaspekt in Scho- klarer Evolutionismus sei (ebd., 105). Eine detaillierte
penhauers platonisch anmutendem Vier-Stufen-Sys- Besprechung der Thesen Schröders findet sich in Le-
tem betont. Das Stufensystem besteht aus dem (1) Mi- manski (2015).
neralischen, (2) Vegetabilischen, (3) Animalischen In seiner Dissertationsschrift hat Wolfgang Rhode
und (4) Humanen. In dem biotischen Teil (2.–4.) bil- versucht, mehrere schon zuvor dargestellte Thesen der
den sich die Kräfte ›Reproduktion‹, ›Sensibilität‹ und Rezeptionsgeschichte neu zu stützen. Schopenhauer
›Irritabilität‹ zunehmend differenziert aus (vgl. Steppi stimme auf der einen Seite mit dem Vitalismus Johann
1987, 348). Da Schopenhauer beschreibe, wie die Or- Friedrich Blumenbachs und der Katastrophentheorie
gane des Animalischen perfekt auf konkrete Zwecke Cuviers überein, lehne auf der anderen Seite aber La-
ausgerichtet seien und wie die Übergänge im bioti- marcks Deszendenzlehre ab: Mit Blumenbach teile
schen Teil sich abhängig voneinander entwickelt hät- Schopenhauer seine Vorliebe für eine vitalistisch-ok-
ten, antizipiere er »ganz deutlich« und »in hervor- kulte Lebenskraft, der bei ihm Wille, bei Blumenbach
ragender Weise« die (neo)darwinistische Anpas- hingegen Bildungstrieb laute (vgl. Rhode 1991, 63,
sungs- und Selektionslehre, das biogenetische Grund- 68). Gegen die Annahme der Theorie Lamarcks durch
gesetz Haeckels und die darwinschen Ideen einer Schopenhauer spräche, dass ein »Alter des homo sa-
»Deszendenz des Menschen vom Affen« sowie den piens von 6000 Jahren« nicht ausreiche, um dessen ge-
»späteren Mutationsbegriff Darwins« (ebd., 353 f., mächliche Evolution zu erklären (ebd., 65). Wie Step-
371, 373). Zwar sei es richtig, dass Schopenhauers pi behauptet auch Rhode, dass Schopenhauer die Ab-
Antihistorismus einen Unterschied zu Darwin und stammung des Menschen mit Cuviers Kataklysmen-
seine Kritik an den französischen Deszendenzlehren theorie erkläre: »Die Erdgeschichte verlief in einem
Differenzen zu Lamarck und Étienne Geoffroy erken- ständigen Wechsel von Naturkatastrophen und Ent-
nen lasse; seine Bezugnahme auf die Katastrophen- wicklung des Lebens bis zu immer höheren Objektiva-
theorie Georges Cuviers (vgl. ebd., 361–366, 375) er- tionsstufen des Willens« (ebd., 67).
36 ›Evolutionstheorie‹ 337

Der Paläontologe Karl Dietrich Adam hat die The- ein Vorreiter der Evolutionstheorie im engeren Sinn«
se vertreten, dass die »veröffentlichten gehaltvollen genannt werden (ebd., 112). Schopenhauer sei aber
und aussagekräftigen phylogenetischen Überlegun- als »›Evolutionist‹ [...] weithin unbemerkt geblie-
gen« Schopenhauers bislang kaum Beachtung gefun- ben«, da seine Darstellung nicht nur Inkonsistenzen,
den hätten (Adam 2011, 8), obwohl man durch Ver- sondern auch einige, der Zeit der Abfassung geschul-
weis auf das Kapitel  6 der Paralipomena, besonders dete Irrlehren aufweise (ebd., 117).
§ 91, eine Vorläuferschaft Schopenhauers zu Darwin
untermauern zu könne (vgl. ebd., 14 f., 25 ff.). Bislang, Literatur
so Adam, hätten aber nur vier Forscher diese Ähn- Adam, Karl Dietrich: Die Abstammung des Menschen. Scho-
lichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen und zu- penhauer als verkannter Wegbereiter Darwins. Weinstadt
2011.
dem seien deren Forschungsergebnisse »fragwürdig« Asher, David: Schopenhauer and Darwinism. In: Journal of
(ebd., 50 ff.). Unter Evolutionstheorie verstehe man, Anthropology 1/3 (1871), 312–332.
so Adam, »gemeinhin die von Charles Robert Darwin Atzert, Stephan: Rezension »Karl Dietrich Adam: Die Ab­
1859 begründete darwinistische Deutung der biologi- stammung des Menschen. Schopenhauer als verkannter
schen Entwicklung«, von der Schopenhauer aber di- Wegbereiter Darwins«. In: Schopenhauer-Jahrbuch 96
(2016), 167–170.
rekt die Schwäche erkannt habe (ebd., 55), dass jene
Autrum, Hansjochen: Der Wille in der Natur und die Bio-
u. a. auf einer unzureichenden empirischen Methode logie heute. In: Schopenhauer-Jahrbuch 50 (1969), 89–101.
beruhe (vgl. ebd., 29 f.). Adam behauptet, dass Scho- Darwin, Charles: The Descent of Man, and Selection in Rela-
penhauer zwar Darwin kritisiere (vgl. ebd., 45), aber tion to Sex. London 21874.
Schopenhauer schon zu der Zeit verkannt war, als Herrig, Hans: Schopenhauer und Darwin. In: Ders.: Gesam-
Darwin seine Evolutionstheorie niederschrieb (vgl. melte Aufsätze über Schopenhauer. Hg. von Eduard Grise-
bach. Leipzig o. J. [1892], 42–73 (= Die Station [Sonntags-
ebd., 17, 29, 38 f., 42 f.). Die Schriften Schopenhauers zeitung des Berliner Börsen-Courier] 10–12 (10./17./­
blieben »selbst Charles Robert Darwin verborgen; 24.3.1872).
denn der Name des Frankfurter Philosophen ist in Lemanski, Jens: Rezension »Christoph Schröder: Evoluti-
den überaus umfangreichen Registern der gesammel- onstheorie und Willensmetaphysik. Der Entwicklungs-
ten Werke [...] nicht aufzuspüren« (ebd., 41). Aller- gedanke in der Philosophie Schopenhauers«. In: Schopen-
hauer-Jahrbuch 96 (2015), 176–181.
dings findet man durchaus eine längere Besprechung
Lemanski, Jens: Die ›Evolutionstheorien‹ Goethes und
von Schopenhauers Theoremen in Kapitel XX von Schopenhauers. Eine kritische Aufarbeitung des wissen-
Darwins Werk (1874), das in der deutschen Überset- schaftsgeschichtlichen Forschungsstandes. In: Daniel
zung denselben Titel wie Adams Buch trägt – Die Ab- Schubbe/Søren R. Fauth (Hg.): Goethe und Schopenhauer.
stammung des Menschen. Zudem wurde diese Aus- Biographische und philosophische Perspektiven. Hamburg
einandersetzung Darwins mit Schopenhauer bereits 2016, 247–299.
Lovejoy, Arthur O.: Schopenhauer as an Evolutionist. In: The
in mehreren Forschungsarbeiten vor Adam bespro-
Monist 21/2 (1911), 195–222.
chen. Eine ausführlichere Besprechung des Buchs von Lubosch, Wilhelm: Über den Würzburger Anatomen Ignaz
Adam findet man in Atzert (2016). Döllinger, eingeleitet und abgeschlossen durch Erörterun-
Der österreichische Biologe und Wissenschafts- gen über Schopenhauers Evolutionismus. In: Jahrbuch der
theoretiker Franz M. Wuketits hat sich in seinem Schopenhauer-Gesellschaft IV (1915), 105–127.
2016 veröffentlichten Aufsatz explizit an Lovejoy ori- Noiré, Ludwig: Der monistische Gedanke. Eine Concordanz
der Philosophie Schopenhauer’s, Darwin’s, R. Mayer’s und
entiert: In Anlehnung an die Eklektizismusthese er- L. Geiger’s. Leipzig 1875.
klärt Wuketits, dass sich die wissenschaftsgeschicht- Prochnow, Oskar: Die Theorien der aktiven Anpassung mit
liche Transformation vom Statizismus zum Dyna- besonderer Berücksichtigung der Deszendenztheorie Scho-
mismus erst im 18. Jahrhundert vollzogen habe, wes- penhauers. Leipzig 1910.
halb Schopenhauer in den frühen Jahren noch eine Rhode, Wolfgang: Schopenhauer heute. Seine Philosophie aus
der Sicht naturwissenschaftlicher Forschung. Rheinfelden
Artenkonstanz, ab den 1830er Jahren aber einen Ar-
1991.
tenwandel vertreten habe (vgl. Wuketits 2016, 111). Schröder, Christoph: Evolutionstheorie und Willensmetaphy-
Aufgrund späterer evolutionistischer Ideen wie etwa sik. Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie Schopen-
dem Artenwandel, dem Mutationismus, der Urzeu- hauers. Diss. Tübingen 1989.
gung im fremden Schoß, der Parallelentwicklungs- Schulz, Paul: Arthur Schopenhauer in seinen Beziehungen
hypothese in Bezug auf neue Pflanzen- und Tier- zu den Naturwissenschaften. In: Deutsche Rundschau 101
(1899), 263–288.
arten, dem Wettbewerb ums Dasein etc. könne Scho- Steppi, Christian R.: Der Mensch im Denken Arthur Schopen-
penhauer »ein Vertreter des Evolutionsdenkens und
338 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

hauers. Eine Anatomie der fundamentalen Aspekte philoso- schrift für freies Denken und humanistische Philosophie 2
phischer Anthropologie in des Denkers Konzeption als kriti- (2016), 109–121.
sche und systematische Würdigung. Frankfurt a. M. 1987. Zambonini, Ferruccio: Schopenhauer und die moderne
Vandenrath, Johannes: Schopenhauer und die heutige Evo- Naturwissenschaft. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesell-
lutionslehre. In: Schopenhauer-Jahrbuch 57 (1976), 40–57. schaft 22 (1935), 44–91.
Wuketits, Franz M.: Schopenhauer – ein skurriler Vorreiter
der Evolutionstheorie. In: Aufklärung und Kritik. Zeit- Jens Lemanski
37 Phänomenologie 339

37 Phänomenologie Franz Brentano


Sucht man nach möglichen Einflüssen des Schopen- Franz Brentano erwähnt Schopenhauer gelegentlich,
hauerschen Denkens auf die Phänomenologie, ist zu- etwa im Zusammenhang mit dem kantischen Erbe,
nächst zu klären, wie weit der Begriff der Phänomeno- dessen Fehler Schopenhauer nicht erkannt habe. So
logie gefasst werden soll. Bekanntlich handelt es sich kritisiert er in seinem Hauptwerk Psychologie vom em-
bei dieser um eine Bewegung, die weder ein System pirischen Standpunkt Schopenhauers Auffassung von
noch eine Schule bildet. Es gibt keine von allen Phäno- Zeit als Anschauungsform (vgl. Brentano 1971, 263).
menologen gleichermaßen anerkannte Menge von Schopenhauer dient Brentano fast immer zur Illustra-
Grundannahmen und Methoden. Dem Vorschlag tion bestimmter Aussagen oder Positionen, etwa eines
Herbert Spiegelbergs folgend, lässt sich die phänome- Pessimismus, der konsequenterweise als ein Athe-
nologische Bewegung in einem umfassenden Sinn an- ismus auftreten müsse. Die kritische Haltung Brenta-
hand der zwei folgenden Kriterien eingrenzen: (1) Di- nos gegenüber Kant und dem Idealismus, in den Scho-
rekte Anschauung dient als Quelle und letztgültige penhauer zumindest unter erkenntnistheoretischer
Überprüfung (final test) aller Erkenntnis, (2) Einsicht Perspektive von Brentano eingereiht wird, strahlte si-
in Wesensstrukturen gilt als genuine Möglichkeit und cher aus auf die Schulen der Gestaltpsychologie und
Notwendigkeit philosophischen Wissens (vgl. Spie- die Phänomenologie, für die Brentano von heraus-
gelberg 1994, 5 f.). Dieser weite Begriff wird durch en- ragender Bedeutung gewesen ist.
gere ergänzt, deren Kern von der Husserlschen Phä-
nomenologie sensu stricto gebildet wird. Entlang der
Edmund Husserl und die frühe Phänomenologie
Entwicklung bzw. Ausdifferenzierungen der Phäno-
menologie stößt man dann auf Denker, die zwar nicht Edmund Husserl kaufte 1880 Schopenhauers Werke
im engeren Sinn als Phänomenologen zu betrachten in sechs Bänden. In Halle hielt er im WS 1892/93 ein
sind, aber entscheidende Anstöße von der Phänome- Seminar »Philosophische Übung im Anschluß an
nologie erhielten oder ihr gaben, und dadurch teils zu Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung«, im SS
ihrer Entfaltung beigetragen haben. Ferner bestehen 1897 ein Seminar »Philosophische Anfängerübungen
große Überschneidungen von Phänomenologie und im Anschluß an eine auszuwählende Schrift Schopen-
existentialistischem Denken (in Bezug auf Schopen- hauers« (vgl. Schuhmann 1977, 9, 34, 51). Die bisher
hauer s. Kap. 39). erschienenen 42 Bände der Husserliana, die das ge-
Die Primärliteratur ebenso wie Handbücher und samte zu Lebzeiten veröffentlichte Werk neben zahl-
Einführungen zur Phänomenologie (wie auch zum reichen Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten
Existenzialismus) zeigen, dass hier eine Auseinander- enthalten, weisen etwa ein Dutzend Erwähnungen
setzung mit Schopenhauer – auf historiographischer Schopenhauers auf. Letzterer dient Husserl, ähnlich
oder thematischer Ebene, vergleichbar etwa den zahl- Brentano und vielen Zeitgenossen, meist zur pointie-
reichen Arbeiten zum Verhältnis zu Kant oder Hegel renden Illustration bestimmter Argumente oder Aus-
– bisher nicht stattgefunden hat. Diese Forschungs- sagen, bei Husserl durchaus auch affirmativ. So ver-
lücke beklagt bereits Wolfgang Weimer Anfang der weist letzterer im Zusammenhang der Unwiderleg-
1980er Jahre (vgl. Weimer 1982, 151), und sie hat sich lichkeit des Solipsismus zustimmend auf Schopen-
seitdem nicht annähernd geschlossen. Dagegen sind hauer oder führt ihn als Beispiel für die zahlreichen
in der Literatur zu Schopenhauer zumindest Berüh- Denker an, die versuchen, »abstrakte Verhältnisse an-
rungspunkte zur Phänomenologie bemerkt und in schaulich zu machen durch Gleichnisse, mögen sie
Ansätzen erörtert worden (vgl. Schmicking 2012; auch oft sehr hinken« (Husserl 1983, 295). In dem
Schubbe 2012). Der vorliegende Beitrag kann daher Werk, das nicht nur den Ausgangspunkt, sondern bis
keine Darstellung einer Rezeption der Schopenhauer- heute einen Hauptbezugspunkt für die gesamte phä-
schen Philosophie seitens der Phänomenologie bie- nomenologische Bewegung gebildet hat, den Logi-
ten, sondern nur eine erste Zusammenstellung ver- schen Untersuchungen von 1900/01, äußert sich Hus-
streuter Erwähnungen in einzelnen Werken, ohne serl genau zweimal zu Schopenhauer. In den Prolego-
Anspruch auf Vollständigkeit. mena zur reinen Logik dient dessen Ethik als Beispiel
dafür, dass Ethik, von einer Kunstlehre getrennt, als
normative Wissenschaft betrieben werden kann (vgl.
Husserl 1975, § 15, 59). In einer Beilage zur VI. Logi-
340 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

schen Untersuchung, »Elemente einer phänomenolo- der kritisiert auf Grundlage seiner feinkörnigen phä-
gischen Aufklärung der Erkenntnis«, legt Husserl die nomenologischen Untersuchung dann Schopenhau-
in seinem voranstehenden Text behandelten Äqui- ers Auffassung, die Motivation sei die Kausalität von
vokationen des Terminus ›Erscheinung‹ dar. Eine innen gesehen (vgl. G, § 43). Die (phänomenale) Ver-
Mehrdeutigkeit besteht darin, dass die ›reellen Be- ursachung eines Wollens könne unmöglich »etwas
standstücke‹ bzw. Empfindungsgehalte (z. B. die mo- außerhalb des Ich-Zentrums Liegendes« sein, denn
mentanen perspektivischen Farbmomente) nicht ter- das Wollen sei (phänomenal) notwendig frei; Motive
minologisch unterschieden werden von den ›erschei- werden zwar ›bestimmend‹ für das Wollen, aber nur
nenden Eigenschaften‹ (z. B. der zylindrischen Gestalt mittels jener Stützung aus dem Ich-Zentrum (vgl.
einer Tasse) innerhalb des Erlebnisses, das selbst wie- Pfänder 1963, 148 f.).
derum auch ›Erscheinung‹ genannt werden kann (im
Beispiel: die momentane Wahrnehmung der Tasse).
Max Scheler
Husserl bemerkt dazu, dass ›unkritische Erkenntnis-
theorie‹ diese Unterscheidungen ignoriere, so auch Deutlich mehr Erwähnungen und Hinweise auf Scho-
Autoren, »die es ablehnen würden, mit Schopenhauer penhauer finden sich im Werk Max Schelers (s. auch
zu sagen ›die Welt ist meine Vorstellung‹« (Husserl Kap. 41). Dessen Wesen und Formen der Sympathie
1984, 763 f.; Hervorh. i. O.). Hier klingt eine Kritik am (1973) bietet zumindest eine, wenn auch nur wenige
Vorstellungsbegriff an, die zwar allgemein Gültigkeit Seiten umfassende, Diskussion der Schopenhauer-
besitzt (Vorstellungsakt und Vorgestelltes sind ver- schen Mitleidslehre. Scheler unterstreicht zunächst
schieden und daher zu unterscheiden), aber der Posi- die positive Rolle Schopenhauers für das psychologi-
tion Schopenhauers nicht ganz gerecht wird (s. u.). sche und ethische Verständnis des Mitleids: Schopen-
Auch unter Husserls Schülern bzw. Schülerinnen hauer habe, entgegen Kant, die Bedeutung von Emo-
und im engeren Kreis der frühen Phänomenologie tionen für die Ethik erkannt und berücksichtigt. An-
findet Schopenhauer keine nennenswerte Beachtung. deren neuzeitlichen Lehren sei er darin überlegen, das
Edith Steins Arbeit zur Empathie etwa erwähnt Scho- Mitleiden nicht als ein nur mittelbares Vorstellen, son-
penhauer nicht einmal im Kontext von ›Wille und dern ein »›unmittelbares‹ Teilnehmen am fremden
Leib‹ (vgl. Stein 2010, 72 ff.). Auch Martin Heidegger, Leiden« aufzufassen, und dem Mitleiden einen inten-
dessen Existentialphilosophie Schopenhauer wahr- tionalen Sinn zuzuweisen, indem es nicht auf einen le-
scheinlich mehr verdankt als Heidegger zu erkennen diglich kausalen reaktiven Zustand reduziert werde
gibt (darauf hat wiederholt Julian Young hingewie- (ebd., 62). Auch eine Einheit der durch das Mitleiden
sen), diskutiert Schopenhauer nicht systematisch, verbundenen Lebewesen habe Schopenhauer richtig
verweist nur am Rande auf ihn (s. Kap. 39). Große, gesehen, aber bereits seine Deutung (der zugrunde
fast enthusiastische Zustimmung erfährt Schopen- liegende blinde Wille an sich) führe auf eine »grund-
hauer vielleicht nur bei einem Autor, allerdings in ei- lose Annahme« (ebd.). Die Verdienste Schopenhauers
nem eng begrenzten Kontext: Alfred Schütz stellt, im würden, so Scheler, weit überwogen von den Irr-
Rahmen seiner Betrachtungen zu Mozart, Schopen- tümern: Die eigentliche Bedeutung sehe Schopenhau-
hauers Philosophie der Musik als »unübertroffen im er im Leiden als solchem, gegenüber dem Mitfühlen,
modernen westlichen Denken« (Schütz 1976, 180) und damit erliege er geradezu einer Art ›Befriedigung‹
heraus; eine nähere Auseinandersetzung mit Scho- am fremden Leid. Indem das Leiden den ›Heilsweg‹
penhauer bietet aber auch Schütz nicht. Roman In- bilde, erhalte das Mitleiden überhaupt erst seinen
gardens Ontologie des musikalischen Werks nimmt Wert. Dabei stehe das Leiden als solches im Mittel-
Schopenhauers Musikphilosophie nicht zur Kennt- punkt, nicht die Linderung, die Erleichterung, wes-
nis. Alexander Pfänder, der Schopenhauer als wichti- halb Scheler sogar meint, die logische Konsequenz da-
gen denkerischen Anstoß seiner eigenen Entwick- raus müsste das absichtliche Vermehren von Leid sein,
lung betrachtete, behandelt ihn kaum je in seinen ver- um möglichst viel Gelegenheit zu dessen Erlebnis zu
öffentlichten Werken. In seiner Phänomenologie des geben (vgl. ebd., 62 f., 64). Schopenhauers Lehre ver-
Wollens (1963) ›suspendiert‹ Pfänder zugunsten einer rate einen »wenn auch verhüllten Zug grausamer Lust
detaillierten Deskription des menschlichen Wollens am Leiden anderer« (ebd., 63), ihr liege ein »krankhaf-
allgemeinere Annahmen, die unmittelbar an Scho- ter Trieb niedergehenden Lebens zugrunde« (ebd.,
penhauer denken lassen (so das Wollen im Tier- und 65). Ferner werde nicht klar, worin der eigentliche sitt-
Pflanzenreich und der anorganischen Natur). Pfän- liche Wert liege, wenn man wie Schopenhauer die
37 Phänomenologie 341

Identität der individuellen Lebewesen annehme, da der grobe Schopenhauer grobschlächtig sagt. Streng-
sich ›Mit-leiden‹ und das darin motivierte Handeln genommen und eigentlich existiert nur der Vorstel-
dann letztlich auf ein Wesen beziehe, das ich selbst lende, der Denkende, der Bewusste: ich selber – me
bin. Mitleiden werde so zum ›Schein‹ wie die raum- ipsum« (Ortega V, 437). »Schopenhauer verwechselt
zeitlichen Individuen nach Schopenhauers Lehre auf die elementarste Art und Weise in dem einen Wort
auch nur Schein seien (vgl. ebd., 66). ›Vorstellung‹ die zwei Partnerbegriffe, deren Verhält-
Entgegen Schelers eigenem kritischen Urteil zeigt nis gerade erörtert werden sollte: das Denken und das
Marie-Christine Beisel, dass dessen Verständnis von Gedachte« (ebd., 468; s. u.).
Mitleid »ganz in der Tradition Schopenhauers steht«
(Beisel 2016, 78). Denn konstitutiv für Schelers wie
Merleau-Ponty und die französische
bereits Schopenhauers Mitleidsbegriff ist, dass das
Phänomenologie
Leiden des Anderen als das eines Anderen erkannt
werde, ohne sich mit dem Anderen zu identifizieren Im Rahmen der französischen Phänomenologie und
(vgl. E (Lü), 568). Ein solcher Mitleidsbegriff, ohne Existenzphilosophie ist Schopenhauer ebenfalls nicht
verschleiernde Einsfühlung mit dem Anderen, kann angemessen rezipiert worden. Dabei sind es gerade
als Grundlage der Ethik dienen, und ist darüber hi- französische Denker wie Gabriel Marcel, Jean-Paul
naus anschlussfähig an aktuelle wissenschaftliche An- Sartre und Maurice Merleau-Ponty, die den Leib in
sätze der Ethikbegründung, insbesondere die Spiegel- seiner zentralen Bedeutung – nach Schopenhauer –
neuronentheorien (vgl. Beisel 2016). (wieder)entdecken, allerdings ohne sich mit dessen
Leibphilosophie adäquat auseinanderzusetzen, so et-
wa Gabriel Marcel im Rahmen seiner Untersuchun-
José Ortega y Gasset
gen zur inkarnierten Existenz, der Schopenhauer eher
José Ortega y Gasset gehört nur im weitesten Sinn in dort erwähnt, wo sich Dritte mit ihm beschäftigen,
den Umkreis der Phänomenologie. In seinem Werk z. B. in seiner Darstellung der Philosophie von Josiah
finden sich annähernd ein Dutzend Stellen, an denen Royce. Neben der Leibthematik legen eine Reihe wei-
er Meinungen Schopenhauers kurz erörtert oder ein- terer gemeinsamer Gegenstände und Sichtweisen eine
fach einen Punkt mit Schopenhauers Position aus- Auseinandersetzung mit Schopenhauer nahe, die aber
drückt. Diese Erwähnungen bilden keine eingehende weitgehend noch aussteht: die Thematisierung der
Auseinandersetzung mit dem Schopenhauerschen menschlichen Existenz und des Involviert-Seins des
Denken. Trotzdem ist die Weise, in der Ortega Scho- Philosophen in dessen originäre Fragestellungen, die
penhauer behandelt, aufschlussreich und für weite nüchterne Sicht auf die Natur des Menschen, die Skep-
Teile der Philosophie seiner Zeit charakteristisch: sis gegenüber der Vernunft und das Bestreiten eines
Man kannte Schopenhauers Schriften, aber diskutier- der Welt gegenüber transzendenten Sinnes.
te sie nicht angemessen. Ortega betrachtet Schopen- Wichtige Gründe, die dazu geführt haben dürften,
hauer primär als Voluntaristen und Pessimisten, der dass Schopenhauer in der französischen Philosophie
noch vor Wagner die Bedeutung der Musik überhöht, bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hi-
ja zum Ersatz für Religion gemacht habe (vgl. Ortega nein vernachlässigt oder ignoriert wurde, dürften
I, 240; auch II, 259). So rechnet Ortega Schopenhauer wohl die Folgenden bilden: Neben Théodule Ribots äl-
zu jenen Künstlern und Philosophen, die vom terer (EA 1874), mehrmals aufgelegter Darstellung
19. Jahrhundert in das 20. hinübergeleitet haben. Da- der Philosophie Schopenhauers, die letztere als eine
zu verweist er auch auf Schopenhauers Auffassung, ›demi-métaphysique‹ charakterisierte, und die wohl
der Intellekt sei in einem vorintellektuellen Bereich indirekt bis in unsere Tage nachgewirkt hat (vgl. Le-
verankert, der für die Vitalität und vorrangige Bedeu- franc 2002, 13, 97), ist es der bis in die Generation der
tung eines tätigen Lebens sorgt (vgl. Ortega I, 75 f.; fer- Lehrer von Sartre und Merleau-Ponty hinein domi-
ner V, 355). Eine sehr kurze argumentative Auseinan- nante Neukantianismus, aber dann v. a. die Rezeption
dersetzung mit Grundannahmen Schopenhauers fin- der Philosophien Hegels, Husserls und Heideggers,
det im Rahmen von Betrachtungen zur »Entdeckung die das Klima der ›Generation der drei H‹ bestimm-
der Subjektivität« statt. Hier kritisiert Ortega, dass ten, zu der neben Sartre und Merleau-Ponty auch Si-
Schopenhauers Begriff der Vorstellung zu einem So- mone de Beauvoir, Jacques Lacan und Raymond Aron
lipsismus führe und an einer prinzipiellen Äquivo- gehörten. Schopenhauer gerät angesichts der Domi-
kation leide: »Die Welt ist meine Vorstellung – wie nanz der ›drei H‹ nicht ins Blickfeld.
342 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Wohl die meisten sachlichen Anknüpfungspunkte webenden ›chair du monde‹ haben [...] ihren Vorläufer
an Schopenhauer bietet unter den französischen Phä- in Schopenhauers Lehre von einer pansomatischen
nomenologen Maurice Merleau-Ponty, indem beide Welt« (Bernet 2000, 170).
Autoren nicht nur ein ausgeprägtes Interesse an der
Natur besitzen, sondern das Verständnis des Leibs das
Anknüpfungspunkte, aktuelle Fragestellungen,
Zentrum ihres Denkens bildet, so dass jeder der bei-
Desiderate
den in der ihm gewidmeten Forschungsliteratur als
der Philosoph des Leibs betrachtet wird (vgl. Schmi- Hier ist nicht der Ort für eine systematisch-verglei-
cking 2012, 118–122). Die wenigen Bemerkungen zu chende Studie zu Schopenhauer und der Phänomeno-
Schopenhauer, die sich bei Merleau-Ponty (in post- logie. Wenige Punkte seien aber abschließend wenigs-
hum veröffentlichten Vorlesungsnotizen) finden, las- tens erwähnt.
sen nicht erkennen, in welchem Maße sich letzterer Oben ist bereits darauf hingewiesen worden, dass
mit Schopenhauer tatsächlich auseinandergesetzt hat. der bloße Vorwurf der Äquivokation in Schopenhau-
Die vielleicht ergiebigste Notiz lautet: ers Vorstellungsbegriff dessen Position nicht gerecht
zu werden vermag. Diesbezüglich scheint sich eher ei-
»Schopenhauer, philosophe en marge – mais enfin en ne interessante Ähnlichkeit zwischen Schopenhauer
consonance avec (la) recherche de ›l’homme souter- und der Phänomenologie abzuzeichnen: die zentrale
rain‹ – anticipe: Freud projection-introjection, sado- Voraussetzung der notwendigen Korrelation von Be-
masochisme, instinct de mort – anticipe l’inter-subjec- wusstsein und intentionalem Gegenstand (Husserl)
tivité sartrienne: (le) monde comme représentation bzw. die Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt bei
(est) pour autrui – (le) monde comme volonté (est) Schopenhauer. Letzterer betrachtet seine Philosophie
pour soi conséquent, co-responsable, assumant tout, gerade dadurch als dem subjektiven Idealismus ebenso
se sacrifiant pour que l’extérieur soit... Certes, (c’est) wie dem Materialismus überlegen, dass er ›weder vom
mythe de la volonté, mais recherche en deçà de la re- Subjekt noch vom Objekt‹ ausgehe, sondern von der
présentation, lien intérieur avec autrui. (Les) philoso- ›Vorstellung‹, die die Interdependenz von Subjekt und
phes académiques allemands négligent Schopenhau- Objekt voraussetze und die damit verbundenen Ein-
er [...]« (Merleau-Ponty 1996, 164 f.). seitigkeiten vermeide (vgl. W I, § 7). Ähnlich legt die
Phänomenologie, ungeachtet Husserls späterer Eigen-
Diese Aussagen zeigen zumindest, dass der späte Mer- interpretationen, die einen engen Anschluss an den
leau-Ponty Schopenhauers Nähe zum existentiellen deutschen Idealismus suggerieren, das Verhältnis von
Denken (der Hinweis auf Dostojewskis ›unterirdi- Subjektivität und Objektivität als einer ›Korrelation‹
schen Menschen‹) und v. a. Vorwegnahmen wichtiger zugrunde. Deskriptive Analysen sollen zum systemati-
theoretischer Grundgedanken von Freud und Sartre schen Verständnis aller wesensmöglichen Arten dieser
gesehen hat. Die Willenslehre betrachtet er zwar als Korrelation führen, so der Akte und Gegenstände der
›Mythos‹, aber auch als Untersuchung ›diesseits der Wahrnehmung, kategorialen Anschauung, Erinne-
Vorstellung‹, die offensichtlich auf ein ›inneres Band rung, Phantasie usw. sowie der Entwicklung (›Gene-
mit dem Anderen‹ führe. Merleau-Ponty mag also se‹) aller subjektiven Leistungen auf Basis ihrer Fun-
Schopenhauer bereits als Wegbereiter oder sogar Ver- dierungsbeziehungen, um daraus die Konstitution der
treter des Existenzialismus betrachtet haben. Zumin- objektiven Gegenstandstypen zu klären. Solche Kon-
dest in seinen veröffentlichten Werken und solchen, vergenzen und Unterschiede der Schopenhauerschen
die kurz vor Abschluss zur Veröffentlichung standen, und Husserlschen Auffassungen hinsichtlich Korrela-
scheint er aber die Nähe zu Schopenhauer nicht als tion von Subjekt und Objekt (bzw. Gegenstand) hat
ausreichend empfunden zu haben, um ihn explizit zu Daniel Schmicking (2016, 31–40) näher untersucht.
behandeln, wobei er bemerkt, dass bereits die aka- Die Dualität von Leib und Körper, die Zusammen-
demischen deutschen Philosophen Schopenhauer hänge von Leib, Emotionen, Vorstellung bzw. Bewusst-
vernachlässigt hatten. Dass eine Nähe nicht nur seiner sein und Intentionalität bilden für die Phänomenolo-
Leibphänomenologie (vgl. Merleau-Ponty 1966), son- gie zentrale inhaltlich-systematische Anknüpfungs-
dern auch seiner Spätphilosophie zu Schopenhauer punkte an Schopenhauers Denken und die Schopen-
bestehe, hat jüngst Rudolf Bernet erklärt: »Auch Mer- hauer-Forschung (vgl. auch Schmicking 2012; Schubbe
leau-Pontys Spekulationen zu einer die menschlichen 2012). Historische Analysen und Rekonstruktionen
Leiber und die weltlichen Dinge miteinander ver- könnten eine inhaltliche Auseinandersetzung wesent-
37 Phänomenologie 343

lich unterstützen und anregen. Rudolf Bernet hat in forschten Gehirns und Körpers zum subjektiven, phä-
den letzten Jahren, im Zusammenhang mit Grund- nomenalen Bewusstsein bzw. Erleben und Leib steht.
lagenreflexionen der Psychoanalyse bzw. des Unbe- Gerade hier könnte ein Blick auf die Lehre Schopen-
wussten, wiederholt auf die lohnende Auseinanderset- hauers wertvolle Anregungen liefern. Die Spannungen
zung mit Schopenhauers Philosophie verwiesen und zwischen der transzendentalen und materialistischen
exemplarische Studien hierzu vorgelegt (Bernet 1996, Dimension des Schopenhauerschen Denkens und die
2000 und 2005). Schopenhauers Analyse der Leib- resultierende Ambivalenz müssen nicht als Schwächen
erfahrung sei »aus phänomenologischer Sicht ebenso und Widersprüche betrachtet werden, sondern eher
bemerkenswert wie aus metaphysischer« (Bernet 2005, als Lösungsversuch, mit scheinbar inkompatiblen Per-
115). Lust und Unlust bestimme Schopenhauer, ähn- spektiven umzugehen. Eine solche konstruktive Lesart
lich Freud und bereits Leibniz, als Gefühle, die die hat etwa Volker Spierling vorgeschlagen (vgl. Spierling
Selbstverwirklichung bzw. die Be- oder Verhinderung 1998; zu verschiedenen Lesarten dieser Problematik
des leiblichen Triebs begleiten. Schopenhauer liefere s. Kap. 6.2). Phänomenologen und Kognitionswissen-
auch eine »präzise und wertvolle Antwort« auf die Fra- schaftler könnten die Möglichkeiten einer vermitteln-
ge nach dem Verhältnis von unmittelbar erlebtem Leib den Erklärung sondieren, angeregt vom kooperativen
und objektivem, physiologischem Körper: die Dualität Verhältnis der Perspektiven im Schopenhauerschen
unserer Erfahrung des Leibs als einer verstandes- Denken. Dies würde auch dem methodischen Pluralis-
mäßigen Vorstellung und eines unmittelbaren Wil- mus (›mutual enlightenment‹, ›triangulation‹) ent-
lensphänomens. Bernet betrachtet Schopenhauers sprechen, für den viele Autoren heute plädieren (vgl.
Analysen dieser Dualität als »Legitimation oder eine hierzu näher Schmicking 2016).
transzendentale Deduktion unserer Erfahrung der Die Auseinandersetzung mit Schopenhauers Phi-
Identität des libidinösen Leibs mit dem objektiven losophie erscheint für die Phänomenologie also inte-
Körper«, mittels derer man überhaupt erst das Projekt ressant und lohnend, ist aber ein Desiderat geblieben.
einer philosophischen Begründung der Freudschen Philosophische Ideen und Erklärungen können indi-
psychoanalytischen Theorien umreißen könne (ebd. rekt, ohne explizit rezipiert zu werden, Einfluss auf
2005, 117 f.). Schopenhauer sei daher nicht bloß als ein spätere Philosophien haben. In welchem Maße Scho-
Vorläufer Freuds zu betrachten, dessen Einsichten penhauers Denken einen solchen mittelbaren Ein-
Freud dann systematisch entfaltet und wissenschaftli- fluss auf die Phänomenologie ausgeübt haben mag,
cher Bearbeitung zugänglich gemacht habe, sondern ist zumindest nicht an den wenigen Stellungnahmen
hier bei Schopenhauer (wie auch bei Leibniz) zeichnen der Phänomenologen selbst abzulesen. Um hierüber
sich bereits Fragen und Lösungsmöglichkeiten ab, die Klarheit zu erhalten, wären historische, exegetische
dazu beitragen, Freudsche Grundannahmen zu klären Studien notwendig, darüber hinaus scheint eine syste-
und plausibel zu machen (vgl. ebd., 118; s. Kap. 31). matische Auseinandersetzung im Hinblick auf die zu-
Ähnlich heben Ferdinand Fellmann (2016) und letzt angesprochenen Themen lohnend. Die Positio-
Alina Noveanu (2016) in ihren vergleichenden Be- nen der Phänomenologie und Schopenhauers gegen-
trachtungen die Vorreiterrolle Schopenhauers hervor, seitig durch ihre Perspektiven zu betrachten, würde
dessen Leibverständnis demjenigen Husserls vorar­ vielleicht auch dazu führen, neue, wichtige Aspekte
beitet. Als eine weitere Gemeinsamkeit Schopenhau- an ihnen zu erfassen, die traditionelle Interpretatio-
ers und Husserls charakterisiert Damir Smiljanić die nen, darunter auch Selbstinterpretationen, tenden-
konsequente Verpflichtung des Denkens von den Sa- ziell verdecken.
chen her, in Verbindung mit der Problematisierung
des Selbstverständlichen. Dabei ist Schopenhauers in- Literatur
dividualistisches Selbstdenken »ein esoterisches Un- Beisel, Marie-Christine: Scheler, Schopenhauer und die
terfangen« (Smiljanić 2016, 19, 29), während Husserl Spiegelneurone. In: Regehly/Schubbe 2016, 66–79.
Bernet, Rudolf: The Unconscious Between Representation
mit der phänomenologischen Einstellungsänderung and Drive. Freud, Husserl, and Schopenhauer. In: John J.
auf eine kooperative Arbeitsphilosophie abzielt. Drummond/James G. Hart (Hg.): The Truthful and The
Auf einen letzten Punkt sei abschließend noch ver- Good. Essays in Honor of Robert Sokolowski. Dordrecht/
wiesen: Seit etwa zwei Jahrzehnten haben sich um die Boston/London 1996, 81–95.
Un-/Möglichkeit einer Naturalisierung der Phänome- Bernet, Rudolf: Der Mensch als Wille und Vorstellung. In:
Jürgen Trinks (Hg.): Bewußtsein und Unbewußtes. Wien
nologie wichtige Debatten entwickelt, in deren Mittel-
2000, 164–178.
punkt das Verhältnis des objektiv wissenschaftlich er-
344 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Bernet, Rudolf: Trieb, Lust und Unlust. Versuch einer phi- die Deutung der Existenz. Perspektiven auf Phänomenolo-
losophischen Grundlegung psychoanalytischer Begriffe. gie, Existenzphilosophie und Hermeneutik. Stuttgart 2016.
In: Ulrike Kadi/Gerhard Unterthurner (Hg.): sinn macht Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie [1913]. Die
unbewusstes unbewusstes macht sinn. Würzburg 2005, Deutsche Philosophie der Gegenwart [1922] (= Gesammelte
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Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Stand- 1973.
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nomene [21925]. Hg. von Oskar Kraus. Hamburg 1971. eine erste Annäherung. In: Matthias Koßler/Michael Jeske
Fellmann, Ferdinand: Vom Cogito zur Lebenswelt. Dreh- (Hg.): Philosophie des Leibes. Die Anfänge bei Schopen-
kreuz Schopenhauer. In: Regehly/Schubbe 2016, 9–18. hauer und Feuerbach. Würzburg 2012, 107–147.
Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Erster Band. Schmicking, Daniel: Die Korrelationslehren Schopenhauers
Prolegomena zur reinen Logik [1900] (= Husserliana, Bd. und Husserls – und was Schopenhauers Umgang mit
XVIII). Hg. von Elmar Holenstein. Den Haag 1975. Aporien für die gegenwärtigen Naturalisierungsdebatten
Husserl, Edmund: Studien zur Arithmetik und Geometrie. leisten kann. In: Regehly/Schubbe 2016, 31–45.
Texte aus dem Nachlass [1886–1901] (= Husserliana, Bd. Schubbe, Daniel: Schopenhauers verdeckende Entdeckung
XXI). Hg. von Ingeborg Strohmeyer. Den Haag 1983. des Leibes – Anknüpfungspunkte an phänomenologische
Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Beschreibungen der Leib-Körper-Differenz. In: Matthias
Band. II. Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Koßler/Michael Jeske: Philosophie des Leibes. Die Anfänge
Theorie der Erkenntnis [1901] (= Husserliana, Bd. XIX/2). bei Schopenhauer und Feuerbach. Würzburg 2012, 83–105.
Hg. von Ursula Panzer. Den Haag 1984. Schuhmann, Karl: Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg
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Regehly, Thomas/Daniel Schubbe (Hg.): Schopenhauer und
Daniel Schmicking
38  Analytische Philosophie 345

38 Analytische Philosophie Als Mittel gegen solche Verwirrungen empfiehlt Scho-


penhauer, indem er sich auf Locke beruft, eine »Unter-
Die Analytische Philosophie ist eine im 20. Jahrhun- suchung des Ursprungs der Begriffe« (W II, 47). Hie-
dert entstandene Richtung, im Grunde zunächst: Me- runter ist für ihn gemäß seiner Begriffstheorie – empi-
thode der Philosophie, welche der inhaltlichen Diskus- risch oder transzendental – die Anschauung zu verste-
sion philosophischer Fragen eine Reflexion über die hen. Werden demgemäß Worte auf ihren Ursprung in
Sprache, in der sie diskutiert werden, voranstellt. Ge- der Anschauung zurückgeführt, dann erledigt sich je-
zielt wird dabei nicht nur auf eine präzisere Formulie- der Gebrauch von ihnen, welcher den Bereich mögli-
rung der Fragestellung, sondern auch – und gerade – cher Anschauung verlässt. Es ist – um Rudolf Carnaps
auf die Eliminierung von Thesen und ganzen Theorien, berühmtes Beispiel aufzugreifen – als ob man das Wort
die ihre Existenz einer unzulänglichen, manchmal trü- »babig« verwendete, nur dass dabei, weil es offensicht-
gerischen Verwendung von Sprache verdanken. Dabei lich undefiniert ist, das Problem deutlicher auffällt. Ei-
bilden die sprachanalytischen Philosophen keine ge- ne methodische Kritik der Verwendung von Begriffen
schlossene, klar abgegrenzte Schule. Ihren Ursprung gegen die Verwendungsregeln (Definition, Bezug auf
hat diese Methode im sogenannten Wiener Kreis, und Anschauung oder auf Verifikationsverfahren) ist also
manche ihrer Anhänger kann man nur daran identifi- in Schopenhauers Denken angelegt, und in dieser Hin-
zieren, dass sie sich mehr oder weniger häufig dieser sicht berührt sich seine Philosophie mit der späteren
Methode bei ihrer Argumentation bedienen. Analytischen.
Die Fragen, denen ich mich dazu widmen möchte, In einer explizit analytischen Methode sind zwei
sind die folgenden: Schriften Schopenhauers verfasst: Ueber die vierfache
1. Gibt es für diese Methode einen Ansatz bereits in Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (ur-
Schopenhauers Philosophie? sprünglich seine Dissertation, später von ihm über-
2. Beziehen sich namhafte Autoren der Analytischen arbeitet) sowie die erste seiner beiden Preisschriften
Philosophie auf Schopenhauers Denken? »Preisschrift über die Freiheit des Willens«. In beiden
3. Lassen sich von der Analytischen Philosophie her Fällen geht er von einer Analyse des jeweils leitenden
spezielle Einwände gegen Schopenhauers Philoso- Begriffs (der Satz vom zureichenden Grunde, die Frei-
phie vorbringen? heit des Willens) aus, präzisiert dadurch die Fragestel-
Zu (1): Man kann feststellen, dass Schopenhauer, lung und differenziert mögliche Antworten: im einen
wenn er sich mit einem von ihm abgelehnten philoso- Fall vier Arten von Grund-Folge-Beziehungen (lo-
phischen Standpunkt seiner Zeitgenossen auseinan- gisch, empirisch, transzendental und metalogisch),
dersetzt, oft bei der Behauptung ansetzt, hier werde im anderen Fall drei Arten von Freiheit (physische
ein Wort bzw. Begriff sinnwidrig gerbraucht. Solche Freiheit, Willensfreiheit und intellektuelle Freiheit).
Fälle sind: Eingeschränkt wird diese analytische Herangehens-
•• gegen die Tradition seit Platon und Aristoteles ge- weise in beiden Fällen durch die im Grunde metaphy-
richtet: »Substanz, Grund, Ursache, das Gute,die sische (s. u.) Annahme, dass die verschiedenen Bezie-
Vollkommenheit, Nothwendigkeit, Möglichkeit hungen und Phänomene nicht zufällig, sondern aus
und gar viele andere« (W II, 46 f.), einem sachhaltigen Grund durch dieselben Worte
•• gegen Fichte gerichtet: »Handeln« (HN II, 352 f.) (›Grund‹, ›Freiheit‹) bezeichnet werden, dass die Phä-
sowie der substantivierte Gebrauch von »Ich«(»ei- nomene mithin eines gemeinsamen Wesens sind.
ne von Fichte eingeführte und seitdem habilitirte Dass beide Schriften gleichwohl in ihrer Methode
Erschleichung«, P II, 40), relativ modern sind, wird auch daran deutlich, dass sie
•• gegen Kant, Schelling und Hegel: »das Absolute« auch von solchen neueren Philosophen herangezogen
(vgl. G, 154; W I, 321, 573 f. u. a.), »das Übesinn- werden, die mit Schopenhauers Metaphysik wenig im
liche« (W I, 321), Sinn haben. Dies erweist die prinzipielle Fruchtbar-
•• an vielen Stellen: »Gott« (vgl. HN I, 75; HN II, keit einer philosophischen Begriffsanalyse.
338 f.; HN III, 344; HN IV (2), 5, 12), Weiterhin hat Jens Lemanski darauf aufmerksam
•• weiterhin die ideologisch motivierte Distanzie- gemacht, dass Schopenhauer – allerdings an einer sel-
rung des Menschen von den Tieren mittels des- ten gewürdigten Stelle seines Werkes, nämlich in sei-
sprachlichen Kniffs, ihren uns ähnlichen Verhal- nen Vorlesungen – im Ansatz eine Begriffstheorie vor-
tensweisen andere, pejorative Bezeichnungen- stellt, welche der seit Wittgenstein in der Analytischen
zuzuordnen (vgl. G, 98; E, 239 f.). Philosophie verbreiteten Gebrauchstheorie der Be-
346 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

deutung (»Die Bedeutung eines Wortes ist sein Ge- sich, als überzeitlich, als ein einziger usw. Dafür vor al-
brauch in der Sprache.«, s. u.) und auch dem Kontext- lem war seine Philosophie berühmt, von da aus hat
prinzip Freges (»Nur im Zusammenhang eines Satzes man sich ihr in der Regel genähert. Sieht man von sei-
bedeuten die Wörter etwas.«) sehr nahe kommt (VN I, nem Atheismus ab, so kann man sogar sagen, dass alles,
234 ff. (De), insbes. 245 f.). Will man diesen Gedanken was Schopenhauers eigentliches Anliegen ausmachte,
im Sinne einer Gebrauchstheorie deuten (vgl. Le- sich nicht mit der wissenschaftstheoretischen, meta-
manski 2016, 185 ff.), dann fällt allerdings auf, dass (1) physikkritischen Intention der Analytischen Philoso-
diese Stelle im Werk Schopenhauers isoliert steht, dass phie berührte. Ethik wie Ästhetik, selbstverständlich
es ihm (2) eigentlich um eine Sphärentheorie der zeit­ auch die Metaphysik standen ihr unter dem Sinnlosig-
invarianten Begriffe geht (für welche die Wörter zeit- keitsverdacht. In diese Richtung weist etwa die Darstel-
lich gebundene Zeichen der verschiedenen Sprachen lung Schopenhauers bei Moritz Schlick, dem Begrün-
sind) und dass er (3) explizit nur vom Erlernen einer der des Wiener Kreises, der ihn nicht unter die »wahr-
Fremdsprache redet und dabei das Problem einer haft grossen Philosophen« rechnet (Schlick 2013, 336)
Übersetzbarkeit berührt – dass er hingegen auch den und seine Philosophie als »Kunst, nicht Wissenschaft«
Erwerb der Muttersprache meint, müsste man ihm ansieht (ebd., 406 f.); dies mache »aesthet[ischen] Wert
unterstellen, was man am ehesten dann tun wird, aus, nicht Wahrheitswert« (ebd., 367) und ergebe »kei-
wenn man die Gebrauchstheorie bereits im Sinn hat. ne großen neuen wissenschaft[lichen] Wahrheiten.
Ferner müsste man reflektieren, dass Schopenhauer in Aber zahllose wahre [und] tiefe Einzelbeobacht[un]
seinem Hauptwerk (W I, 46 ff., 275 ff.) eine Konzepti- gen« (ebd., 445).
on des Verhältnisses von Wörtern zu Begriffen und Allenfalls wurde Schopenhauer innerhalb der phi-
von Begriffen zu Ideen entwickelt, wobei der Begriff losophischen Diskussion als Kronzeuge gegen Hegel
eine durch Abstraktion entstandene (nicht anschauli- zitiert (so von Karl R. Popper, soweit man ihn zu den
che: W I, 47) »unitas post rem«, die Idee »als adäqua- Analytikern rechnen darf (bspw. 1970, Bd. II, 43–66),
ter Repräsentant des Begriffs [...] unitas ante rem« ist und Bertrand Russell). Eine, allerdings berühmte,
(W I, 276 f., ohne Entsprechung in den Vorlesungen); Ausnahme bildet Ludwig Wittgenstein. Es lässt sich
einige dieser Begriffe sind empirisch, andere, die rei- zeigen, dass er vor allem in seiner Jugend und seinem
nen Begriffe, hingegen a priori (vgl. W II, 200), näm- Frühwerk von dessen Werk stark beeindruckt war
lich Grundlage einer reinen Vernunftwissenschaft (vgl. Weiner 1992, 9 ff.; Glock 1999, 422 ff.; Schroeder
(vgl. W I, 60). Dies läuft darauf hinaus, dass es Scho- 2012, 367 ff.). Dies manifestiert sich einerseits in der
penhauer – ganz im Gegensatz zu Wittgenstein – nicht Konzeption seines Tractatus logico-philosophicus
eigentlich um eine Gebrauchstheorie der Wörter geht, (TLP), andererseits in bestimmten Fragen, die Leit-
dass er vielmehr selbst dort, wo er dieses Konzept ein- themen seines Werkes ausmachen, welche von Scho-
mal berührt, kein zentrales Anliegen damit verbindet, penhauer ausgehen (manchmal auf Randthemen von
sondern letztlich im Sinn hat, platonische und kanti- dessen Werk bezogen) und sich bis in das Spätwerk
sche Gedanken zur Ontologie und Transzendental- (Philosophische Untersuchungen, PU) durchhalten.
philosophie mit einer an Ideen orientierten ästheti- Man muss dabei freilich feststellen, dass Wittgenstein
schen Theorie zusammenzuknüpfen. dort, wo er sich auf Schopenhauer bezieht (vgl. z. B.
Fraglich ist allerdings, ob einer der bekannteren PU, 611), meist dessen Namen nicht erwähnt; die Be-
Philosophen der analytischen Richtung, etwa Witt- ziehung erfordert daher eine nähere Interpretation.
genstein, davon überhaupt Kenntnis genommen hat; Wittgensteins Anliegen im TLP besteht darin, den
eine eindeutige Spur findet sich dazu nicht, auch nicht Bereich des präzise d. h. wissenschaftlich Sagbaren
in Wittgensteins Werk; Lemanski muss sich letztlich (Sinnvollen) zu charakterisieren und vom Unsag-
mit dem Hinweis begnügen, dass Wittgenstein Scho- baren (Sinnlosen) abzugrenzen, zu welch letzterem
penhauers Überlegung »hätte lesen können« (Le- Bereich für ihn Ethik und vor allem Religion gehören.
manski 2016, 184; vgl. Schroeder 2012, 378). Dabei ist er sich bewusst, dass gerade in diesen Be-
reich des Unsagbaren unsere eigentlichen Lebens-
Zu (2): Explizite Bezugnahmen von Philosophen der anliegen fallen (vgl. TLP, 6.52). Dies entspricht Scho-
sprachanalytischen Richtung sind extrem selten. Man penhauers Tendenz, sein Hauptwerk daraufhin zu
darf davon ausgehen, dass ihnen insbesondere Scho- konzipieren, dass die Welt als Wille und Vorstellung
penhauers Metaphysik fremd war, dass sie befremdet dasjenige ist, innerhalb dessen wir wollend leben und
waren von seiner Rede über den Willen als Ding an erkennen, dass aber diese Welt etwas ist, von dem sich
38  Analytische Philosophie 347

der einsichtig gewordene Wille abwendet, um sich et- nämlich. Dies ist aber unter der Prämisse der Privat-
was zuzuwenden, das dem auf die Welt des Wollens heit von Bewusstseinsinhalten unmöglich. Wittgen-
und Vorstellens beschränkten Erkenntnisvermögen stein, der in seiner frühen Philosophie dieses Problem
als Nichts gilt (vgl. W I, 487). Nichts ist also darüber nicht hatte systematisch bewältigen können, verwen-
zu sagen – obgleich es alles andere als unbedeutend det in seinem Spätwerk zu dessen Lösung und bezo-
ist. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß gen auf das Beispiel der Aussage »Ich habe Schmer-
man schweigen« (TLP, 7). Genau dort aber liegen »un- zen« sein Käfer-Gleichnis (vgl. PU, 293). Es ist, als ob
sere Lebensprobleme« (TLP, 6.52), und dort liegt für wir alle etwas in einer Schachtel hätten, das wir »Kä-
Schopenhauer »jener Friede, der höher ist als alle Ver- fer« nennen, ohne dass irgendjemand in die Schachtel
nunft« (W I, 486; vgl. Lange 1989, 9 ff.) (d. h. das Bewusstsein) des anderen schauen könnte.
Als ein Belegfall für den anderen Aspekt, den der Woher sollen wir wissen, ob wir alle das Gleiche mit
Inspiration Wittgensteins durch ein Randthema Scho- »Käfer« (bzw. »Schmerz«) meinen? Was hierdurch
penhauers, mag das Problem des Solipsismus dienen elementar gefährdet ist, ist das Verstehen anderer
(vgl. Lange 1989, 89 ff.). Schopenhauer, der diesen Menschen, sofern es Bedeutungen sind, die verstan-
Terminus nicht kennt, verwendet dafür im Rahmen den werden müssten, Bedeutungen aber durch eine
der Darlegung seines transzendentalen Idealismus die Beziehung auf etwas Privates, von außen Unzugäng-
Bezeichnung »theoretischer Egoismus«, und zwar an liches (Bewusstseinsinhalte) festgelegt werden. Scho-
zwei Stellen seines Werkes (W I, 124; W II, 216). Das penhauer erkennt die Schwierigkeit, die seiner meta-
Problem ist folgendes: Wenn wir vom Phänomen des physischen Deutung des Willens (der eben nicht nur
Bewusstseins ausgehen (als etwas zweifelsfrei Gegebe- auf den im Selbstbewusstsein zugänglichen eigenen
nes), dann ist dieses Bewusstsein subjektiv und die Willen beschränkt sein soll) im Wege steht, und will
Realität der Außenwelt zweifelhaft. Diese Möglichkeit sie durch den um 1900 viel diskutierten Analogie-
erklärt Schopenhauer für unwiderleglich, aber in den schluss lösen – eine logisch sehr fragwürdige, weil nur
Wahnsinn führend – hieße dies doch, dass nur ich auf einem einzigen belegbaren Fall (ich selbst) beru-
selbst zweifelsfrei existiere (da ich nur mein eigenes hende Schlussfolgerung (vgl. W I, 118 ff.). Wittgen-
Bewusstsein unmittelbar kenne), alles andere (die steins Lösung, der Metaphysik und speziell einer me-
Mitmenschen, die Welt: über die möglicherweise täu- taphysischen Deutung des Willens gegenüber ableh-
schenden Wahrnehmungsakte meines Bewusstseins) nend eingestellt (ein großer Unterschied zu Schopen-
entweder fragwürdig oder gar überhaupt nicht exis- hauer, vgl. Glock 1999, 449 ff.), ist vielmehr auf das
tent wäre. Dieser Gedanke einer völlig isolierten, Verstehensproblem bezogen und besteht in einer neu-
gleichsam die Welt phantasierenden Existenz hat et- en Konzeption von Sprache und Bedeutung, die an
was Beunruhigendes. Er hat um 1900 Karriere ge- der Verwendung von Sprache als Lebensform, d. h. als
macht (Otto Weininger u. a.) und anscheinend bei Interaktion von Menschen, orientiert ist; dabei kann
Wittgenstein erhebliche Ängste ausgelöst (vgl. Glock der »Käfer« (der Bewusstseinsinhalt) »gekürzt wer-
1999, 443 ff.; Schroeder 2012, 368 ff.). Denkt man das den; es hebt sich weg, was immer es ist« (PU, 293). Wir
Problem von der Funktionsweise der Sprache her, also verstehen einander, wenn wir miteinander handeln
im Rahmen der Analytischen Philosophie, dann ver- und dabei Sprache gebrauchen; so lehren, lernen und
wendet Schopenhauer ein traditionelles Sprach- korrigieren wir auch Sprachgebrauch, ohne auf Be-
modell, indem er von der Subjektivität von Bewusst- wusstseinsinhalte anderer Bezug zu nehmen. Weil wir
seinsakten ausgeht, welche sich mitteilbar machen alle nur in dieser Weise Sprache, die Bedeutung von
durch Zuordnung von wahrnehmbaren Zeichen als Sprechakten gelernt haben, muss deren Bedeutung
Bedeutungsträger (Worte, Gesten etc.). Diesen vom auch hierauf beschränkt sein.
kommunizierenden Subjekt geäußerten Zeichen muss Diese Aneignung von Schopenhauers Gedanken
der Rezipient, um die Bedeutungen zu verstehen, sei- durch eine intelligente, mitdenkende, kreative Lektüre
nerseits Bewusstseinszustände zuordnen – von denen ist sicherlich das Beste, was einem Autor, der sich
er aber unmöglich sagen kann, ob es die gleichen bzw. nicht mit schülerhafter Zustimmung zufriedengibt,
analoge Zustände sind wie beim Sprecher. Denn um widerfahren kann. Sie ist Schopenhauer durch Witt-
dies beurteilen zu können, müsste er über einen un- genstein zuteil geworden. Wie bereits gesagt, kann
mittelbaren Zugang nicht nur zu den eigenen Be- man allerdings fragen, ob nicht sogar Schopenhauer
wusstseinszuständen verfügen, sondern auch zu de- selbst auf den Gedanken gekommen ist, dass Wörter
nen des Sprechers, mit dem Zweck des Vergleichs ihre Bedeutung aus ihrem Gebrauch im Zusammen-
348 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

hang mit ihrer Verwendung beim Sprechen, mithin in se setzt bei Wittgenstein (vgl. PU, 65 ff.) mit einer Ana-
Sätzen, erhalten. Das darauf bezogene Zitat lautet: lyse des Sprachspiels, d. h. der Sprache als »Teil [...] ei-
ner Tätigkeit, oder einer Lebensform« (PU, 23), am
»Darum lernt man nicht den wahren Werth der Wörter Beispiel des Begriffs »Spiel« ein. Was dabei heraus-
einer fremden [sic!] Sprache durch das Lexikon, son- kommt, ist eine Destruktion der platonischen Annah-
dern erst ex usu, durch Lesen bei Alten Sprachen und me, wo immer man ein Wort für verschiedene Gegen-
durch sprechen, Aufenthalt im Lande, bei neuen Spra- stände gebrauche, müsse diesen Gegenständen etwas
chen: nämlich erst aus dem verschiednen Zusammen- Wesentliches (eine Idee) gemeinsam sein, da man sie
hang in dem man das Wort findet abstrahirt man sich andernfalls nicht mit diesem einen Wort bezeichnen
dessen wahre Bedeutung, findet den Begriff aus, den würde. Diese Annahme begründet die Metaphysik
das Wort bezeichnet« (VN I, 246 (De)). (sie führt zu Platons Ideenlehre), und sie ist laut Witt-
gensteins Argumentation falsch. Es ist nicht allen die-
Dies zu rekonstruieren, ist hier nicht der Platz. Wenn sen Gegenständen etwas gemeinsam, weil sie mit einer
man Schopenhauers Werk als ein Gesamtkonzept ver- Bezeichnung benannt werden; so funktioniert Spra-
steht (den berühmten »einzigen Gedanken« (W I, che nicht, da sie vielmehr Phänomene nach der Art
VII)), dann mag man wohl zu einem anderen Ver- von »Familienähnlichkeiten« sortiert (PU, 67), ein Be-
ständnis gelangen, als wenn man sich durch einzelne griff, den Wittgenstein möglicherweise von Schopen-
Textstellen angeregt fühlt; letzteres mag der Heran- hauer übernommen hat (vgl. W I, 115), ohne dass der
gehensweise Wittgensteins mehr entsprechen, doch es damit eine philosophische Theorie verbunden hätte
ist – wie gesagt – sehr zweifelhaft, ob er diese betref- (vgl. Schroeder 2012, 378): Das Phänomen 1 hat etwas
fende Schopenhauer-Stelle gekannt hat, und noch mit Phänomen 2 gemeinsam, aber etwas anderes mit
zweifelhafter, dass er dadurch zu seinem eigenen Ver- Phänomen 3, während Phänomen 3 vielleicht etwas
ständnis von Sprache angeregt worden sei. mit Phänomen 2 gemeinsam hat, das Phänomen 1 gar
nicht zukommt. Die Nase, die Ohren, die Augenfarbe,
Zu (3): Es wurde bereits festgestellt, dass Schopenhau- die Fußstellung usw. Wir gelangen so zu einem Set von
ers Willensmetaphysik und (Mitleids-)Ethik dem An- Eigenschaften, aus dem jedes Phänomen der bezeich-
satz der Analytischen Philosophie fremd ist. Deren neten Klasse einige, aber nicht alle besitzen muss, um
Methodik führt vielmehr dazu, viele Themen der tra- zu dieser Klasse zu gehören. Man kann sich das bei der
ditionellen Philosophie als sprachliche Regelverstöße Bestimmung des Wesens (platonisch: der Idee) ›des‹
zu eliminieren – was besonders deutlich in Wittgen- Menschen verdeutlichen: Einige Menschen sind ver-
steins Fall als Therapie aufgefasst wird: als Versuch nunftbegabt (andere nicht), einige haben einen auf-
nämlich, das Denken von falsch gestellten und deshalb rechten Gang (andere können gar nicht gehen), einige
unlösbaren Fragen zu befreien und so »der Fliege den besitzen eine bestimmte Gestalt (während andere
Ausweg aus dem Fliegenglas [zu] zeigen« (PU, 309). ›missgebildet‹ sind), viele können sprechen (andere
Wenn man Schopenhauers »einzigen Gedanken« können es noch nicht oder lernen es nie); von einem
(W I, VII), ausgehend von »die Welt ist die Selbst- Menschen sprechen wir dann, wenn er einige dieser
erkenntniß des Willens« (W I, 485; s. Kap. 6.2), fol- Eigenschaften besitzt.
gendermaßen zerlegt: Wenn man diese Einsicht auf Schopenhauers Wil-
1. Es gibt eine Selbsterkenntnis. lensbegriff anwendet (und natürlich auch auf seine ge-
2. Inhalt dieser Selbsterkenntnis ist der Wille. samte Ideenlehre), wird deutlich, dass sein Begriff des
3. Dieser Wille ist zugleich das Wesen der Welt. Willens eine Identität suggeriert, sie gar auf nicht-
4. Der Grundzug des Willens ist Leiden. menschliche Lebewesen und auf die anorganische Na-
5. Dieses Leiden kann in Stufen aufgehoben werden. tur ausdehnt, wo von vornherein nur eine »Familien-
6. Da die Welt wesentlich Wille ist, bedeutet diese ähnlichkeit« bestehen mag. Diese betrifft zudem den
Aufhebung zugleich eine Aufhebung der Welt (vgl. Sprachgebrauch und gibt keine Rechtfertigung zur
Weimer 1995, 17), Annahme einer metaphysischen Entität. Wir spre-
dann wird deutlich, dass Schopenhauer in der Tat – chen so, indem wir Sprache innerhalb unserer Lebens-
und zwar fundamental für sein Werk – auf eine meta- form benutzen, und wir sprechen so aufgrund gewis-
physische Annahme zielt, deren Struktur empfindlich ser Verwandtschaften in den Phänomenen, die wir je-
ist für eine jede Metaphysikkritik, wie sie mit der Ana- denfalls als Verwandtschaften deuten (vgl. Glock
lytischen Philosophie in der Regel verbunden ist. Die- 1999, 449 ff.; Schroeder 2012, 375 ff.).
38  Analytische Philosophie 349

Daneben gibt es weitere Diskussionen im Rahmen ebenfalls auf ein letztes Wort hin aus: »schweigen«;
der Analytischen Philosophie, welche Schopenhauers TLP 7), ist eine Frage für sich – einen metaphysischen
Annahmen betreffen (Sind wir aufgrund unseres Weg ist er dabei gewiss nicht gegangen. Da allerdings
Sprachgebrauchs dazu gezwungen, ein Bewusstsein auch philosophische Modelle Beliebtheits-Zyklen un-
anzunehmen, eine Gewissheit in manchen Aussagen, terliegen, ist über die Metaphysik das letzte Wort nicht
eine Freiheit des Willens? usw.), die aber dem genann- gesprochen.
ten zentralen Einwand untergeordnet sind: Eine Deu-
tung der gesamten Welt als Wille im Ausgang von be- Literatur
stimmten, vereinfachten und vereinheitlichten Gege- Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
benheiten meines Selbstbewusstseins ist schwerlich zu Carnap, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logi-
sche Analyse der Sprache [1931]. In: Georg Jánoska/Frank
rechtfertigen. Kauz (Hg.): Metapyhsik. Darmstadt 1977, 51–78
Schopenhauer, so kann man zusammenfassen, ist (Nachdr.).
im Lichte der Analytischen Philosophie stark dort, wo Glock, Hans-Joachim: Schopenhauer and Wittgenstein.
er – wie diese auch – den philosophischen Sprach- Language as Representation and Will. In: Christopher
gebrauch von der ursprünglichen Umgangssprache Janaway (Hg.): The Cambridge Companion to Schopen-
hauer. Cambridge 1999, 422–459.
her kritisiert; er ist schwach, wo er sich selbst von die-
Engel, S. Morris: Schopenhauer’s Impact on Wittgenstein.
ser Sprache entfernt und zu einer Gesamtdeutung der In: Michael Fox (Hg.): Schopenhauer – His Philosophical
Welt ansetzt, deren Sprachgebrauch selber zu einem Achievement. Brighton/Totowa 1980, 236–254.
künstlich-philosophischen mutiert ist, selbst wenn Lange, Ernst Michael: Wittgenstein und Schopenhauer. Cux-
Schopenhauer bemüht ist, seinen Ausgangspunkt bei haven 1989.
einem ganz alltäglichen Begriff zu nehmen: dem Wil- Lemanski, Jens: Schopenhauers Gebrauchstheorie der
Bedeutung und das Kontextprinzip. Eine Parallele zu
len eben. Damit dieser das tragen kann, was er tragen
Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. In: Scho-
soll – eine Metaphysik –, muss Schopenhauer eine penhauer-Jahrbuch 97 (2016), 171–195.
Grenze überschreiten, bei der ihm sprachanalytische Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.
Philosophen nicht folgen werden. Schopenhauer al- 2 Bde. Bern/München 21970.
lerdings von diesem metaphysischen ›Ballast‹ zu be- Schlick, Moritz: Arthur Schopenhauer (Vorlesung). In:
freien und in seinem Denken primär eine deskriptiv- Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Abt. II, Bd. 5.1: Nachgelas-
sene Schriften. Hg. von Mathias Iven. Dordrecht/Heidel-
empirisch-rationalistische Intention zu sehen (vgl. Le- berg/London/New York 2013, 363–449.
manski 2016, 180 f.), würde sein Werk eines wesentli- Schroeder, Severin: Schopenhauer’s Influence on Wittgen-
chen Anliegens berauben: »Quietiv des Willens« zu stein. In: Bart Vandenabeele (Hg.): A Companion to Scho-
werden, »wahre Resignation« zu befördern und »Weg penhauer. Oxford 2012, 367–384.
zur Erlösung« zu sein (W I, 469). Es ist auffallend und Weimer, Wolfgang: Ist eine Deutung der Welt als Wille und
Vorstellung heute noch möglich? Schopenhauer nach der
ohne die Intention auf eine Erlösung hin schwer zu er-
Sprachanalytischen Philosophie. In: Schopenhauer-Jahr-
klären, wie Schopenhauers Hauptwerk auf ein ein- buch 76 (1995), 11–51.
ziges Wort hin konzipiert ist – das Ziel seiner Philoso- Weiner, David Avraham: Genius and Talent. Schopenhauer’s
phie wie des Lebens: »Nichts« (W I, 487; zur Diskussi- Influence on Wittgenstein’s Early Philosophy. London/
on dieses Standpunkts s. Kap. 6.2). Toronto 1992.
Wie fern oder wie nah diesem Anliegen Wittgen- Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus; Phi-
losophische Untersuchungen. In: Ders.: Schriften 1. Frank-
stein persönlich steht (der frühe Wittgenstein zumin- furt a. M. 41980.
dest richtet sein Werk in auffallend analoger Weise
Wolfgang Weimer
350 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

39 Existenzphilosophie schließlich mit dem Stichwort ›Existenzialismus‹ eine


weitere Namenskategorie etabliert, auch wenn Camus
Die Aufgabe, das Verhältnis Schopenhauers zur Exis- diese für sich ablehnte und auch Sartre dieser nicht
tenzphilosophie zu klären, ist detektivischer Art: Sie uneingeschränkt offen gegenüber stand. Wenn hier
versucht etwas nachzuweisen, das von den Protago- vereinheitlichend von Autoren ›der Existenzphiloso-
nisten eher geleugnet wird. Anders als bei ›Lebensphi- phie‹ gesprochen wird, so sollen die Differenzen und
losophen‹ wie Bergson (s.  Kap. 33) oder Simmel Spannungen zwischen Existenzphilosophie, Existen-
(s. Kap. 32) finden sich bei Autoren wie Karl Jaspers, zialismus, Existenzialphilosophie und Philosophie
Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre oder Albert Ca- der Absurdität nicht geleugnet, aber hinsichtlich des
mus nur wenige ausdrückliche Bezugnahmen auf ins Auge gefassten Überblicks zurückgestellt werden.
Schopenhauer – und wenn, dann eher in polemisch-
kritischer Abgrenzung als zustimmend.
Thematische Parallelen
Auch wenn ein direkter Einfluss Schopenhauers
auf die genannten Autoren kaum nachzuweisen ist, so In der Schopenhauer-Forschung werden unterschied-
lässt den wohlwollenden Interpreten dennoch der liche Parallelen der Philosophie Schopenhauers zur
Eindruck nicht los, dass zu dem hier aufgeworfenen Existenzphilosophie zur Diskussion gestellt. Diese las-
Themenbereich mehr zu sagen ist, als eingeräumt sen sich grob in drei Bereiche einteilen:
wird. Daher hat Arthur Hübscher vermutlich Recht,
wenn er Schopenhauers Verhältnis zur Existenzphi- 1) Ein erster Bereich ist dadurch gekennzeichnet,
losophie als eines der »merkwürdigsten und dunkels- dass Parallelen in einzelnen Themen bis hin zur Ter-
ten Kapitel in der Wirkungsgeschichte Schopenhau- minologie (z. B. »Geworfenheit«, vgl. Hübscher 1962,
ers« versteht (Hübscher 1962, 3; vgl. auch Schirma- 3; Schirmacher 1984, 28) gesehen werden: Themati-
cher 1984, 28). Allgemein scheint sich abzuzeichnen, sche Parallelen sind dann beispielsweise die Beto-
dass die genannten Existenzphilosophen Schopen- nung der Sorgestruktur des Daseins (vgl. Möbuß
hauer nicht gründlich genug gelesen haben oder lesen 2015, Bd. 1, 146 ff.), die Hervorhebung der Gegen-
wollten, um die Verschiebungen im Selbstverständnis wart (vgl. Hübscher 1962), die Konzentration auf
der Philosophie und ihrer Methoden, die sich bei den ›bloßen‹ Menschen, dessen Wesen nicht mehr in
Schopenhauer abzuzeichnen beginnen aber letztlich seiner Geistigkeit gesehen wird, der Ausgang vom
durch Kierkegaard, Nietzsche oder Dilthey fruchtbar konkreten Leben (vgl. Diemer 1962; mit Blick auf
werden, zur Kenntnis zu nehmen. Franz Rosenzweig: Möbuß 2015, Bd. 1, 123–132),
Im Folgenden soll für die Frage nach Schopenhau- der Ablehnung des Selbstmords als Flucht (vgl. Die-
ers Verhältnis zur Existenzphilosophie anhand von mer 1962) und der Rolle der Verantwortung und
zwei Aspekten eine Orientierung angeboten werden: Moral (vgl. Möbuß 2015, Bd. 1, 160 ff.; Möbuß 2016,
Zum einen werden allgemeine thematische Parallelen 101 ff.). Problematischer nimmt sich der Versuch
skizziert, zum anderen (mögliche) Bezüge einzelner aus, Parallelen über die Bedeutsamkeit der Indivi-
Autoren zu Schopenhauer aufgezeigt. Aufgrund der dualität zu erarbeiten (vgl. Thyssen 1960/61; Barth
gebotenen Kürze sollen dabei exemplarisch Jaspers, 1962; Diemer 1962, 35 ff.). Dies liegt vor allem daran,
Heidegger, Sartre und Camus im Vordergrund ste- dass Schopenhauer das Thema ›Individualität‹ in sei-
hen. Søren Kierkegaard, der in dieser Hinsicht auch ner Philosophie letztlich selbst als unergründet he-
zu thematisieren wäre, wird nicht behandelt, da ihm rausstellt: Auf der einen Seite verortet er diese über
in diesem Handbuch ein eigenes Kapitel gewidmet ist die Bestimmung von Raum und Zeit als principium
(s. Kap. 26). Hinweise zu Gabriel Marcel und José Or- individuationis ganz im Bereich der Welt als Vorstel-
tega y Gasset finden sich ebenfalls an anderer Stelle lung, auf der anderen Seite wird der individuelle
(s. Kap. 37). Charakter des Menschen auch als eine jeweils einzel-
Noch eine Bemerkung in methodischer Hinsicht: ne Idee verstanden. Deutlich wird sein Selbstzweifel
Sicherlich ist es überhaupt problematisch, die genann- ob des von ihm vertretenen Verständnisses der Indi-
ten Autoren einheitlich unter dem Titel ›Existenzphi- vidualität u. a. an einer Stelle der Parerga und Parali-
losophie‹ abzuhandeln. Jaspers hat den Titel ›Exis- pomena, wo es heißt, dass »die Individualität nicht
tenzphilosophie‹ nur eingeschränkt für sein Werk gel- allein auf dem principio individuationis beruht und
ten lassen wollen, Heidegger hat diesen sogar abge- daher nicht durch und durch bloße Erscheinung ist;
lehnt. Für Autoren wie Sartre und Camus hat sich [...]. Wie tief nun aber hier ihre Wurzeln gehn, ge-
39 Existenzphilosophie 351

hört zu den Fragen, deren Beantwortung ich nicht


Karl Jaspers
unternehme« (P II, 206 (Lü); vgl. u. a. Barth 1962;
Schubbe 2010, 188, wo sich auch weitere Literatur- Jaspers’ Auseinandersetzungen mit Schopenhauer
angaben zu diesem Thema finden). sind spärlich. Bis auf eine Abhandlung zu dessen 100.
Todestag 1960 finden sich keine längeren Texte, die al-
2) Der zweite Bereich betrifft die »Gestimmtheit« des lein Schopenhauer gewidmet sind. Auch in der Jas-
Denkens. So wird eine weitere Parallele darin gese- pers- oder Schopenhauer-Forschung finden sich nur
hen, dass das menschliche Dasein sowohl bei Scho- wenige Bemühungen, sich mit dem Verhältnis der bei-
penhauer als auch in der Existenzphilosophie negativ den Denker auseinanderzusetzen (zu den seltenen
gesehen werde: »Menschsein heißt Geworfensein in Fällen gehören Schirmacher 1984, 29 ff.; Salaquarda
die irrationale Faktizität des Daß, des Jetzt und Hier. 2007; Schubbe 2009). Indessen ist Jörg Salaquarda si-
Um es herum ist nur das weite dunkle Meer der Sinn- cherlich zuzustimmen, dass der, der sich »mit beiden
losigkeit, der Nichthaftigkeit und der Absurdität, die Denkern beschäftigt, [...] nicht umhin [kann], sich zu
sich in der Lebens- und Todesangst bekundet, und wundern, daß Jaspers Schopenhauer so konsequent
die letztlich im Ausgeliefertsein an den Tod kul- übergangen bzw. ihn so schroff zurückgewiesen hat«
miniert« (Diemer 1962, 30; vgl. Salaquarda 2007a, (Salaquarda 2007, 106).
165 f.). Allerdings wäre diese Einschätzung allein ge- Wer bei Jaspers nach Schopenhauer sucht, der fin-
nommen nicht ohne weiteres zustimmungsfähig. Die det vor allem polemische Äußerungen. So berichtet
Rollen der Angst, Sorge oder auch der Grenzsituatio- beispielsweise Rolf Hochhuth:
nen, die von den Existenzphilosophen angeführt
werden, sind doch erheblich differenzierter zu be- »Jaspers lobte Schopenhauer zunächst mit einem Sar-
stimmen als dies eine einfache Parallelisierung mit kasmus, daß man sich genierte, so an ihm zu hängen;
Schopenhauers angeblichem Pessimismus leisten schließlich sagte er: ›Er bleibt natürlich eine immer
könnte (vgl. Thyssen 1960/61; Schirmacher 1984). noch sozusagen amüsante Lektüre – aber wodurch
Ähnliches gilt auch für die »erlösenden« Momente, wirkte er denn? Durch politische Verantwortungs-
deren Parallelen durch ein »metaphysisches Umgrei- losigkeit, durch seine Verachtung des Menschen, des
fendes, die Kunst oder die menschliche Mitwelt« Lebens, der Geschichte, des Staates, von dem er aber
(Diemer 1962, 38) umrissen sind, denn letztlich sind seine lebenslängliche Rente gegen Revolutionäre ge-
das existentielle Engagement der Existenzphiloso- schützt haben wollte – sein Bild der Welt verpflichtet
phie und Schopenhauers Verneinung des Willens zu gar nichts, jedes Tier stand ihm näher als jeder
zum Leben doch in getrennten Welten zu Hause (vgl. Mensch‹« (Hochhuth 1987, 223).
auch Müller-Lauter 1993, 120).
– Amüsante Lektüre? Man wird einen Philosophen
3) Ein dritter Bereich bezieht sich auf das Selbstver- mit systematischem Anspruch kaum stärker provozie-
ständnis des Philosophierens, das sich nach Susanne ren können. In seiner Einführung in die Philosophie
Möbuß bei Schopenhauer derart verschiebt, dass die warnt Jaspers sogar davor, sich von »fesselnder Lektü-
konkrete kontingente Existenz als Aufgabe gesehen re hinreißen zu lassen, so etwa von Schopenhauer
wird (vgl. Möbuß 2015, Bd. 1, 123–174; 2016). Scho- oder Nietzsche« (Jaspers 2005, 128). Anerkennung in
penhauers Verständnis der Erfahrung und Einsicht philosophisch-systematischer Hinsicht finden nur
sowie seine Konzeption des Begrifflichen ermöglichen wenige Punkte wie z. B. die Herausstellung der Sub-
eine Thematisierung der »existentiellen Situation« jekt-Objekt-Spaltung (vgl. ebd., 25). Dort, wo sich Jas-
(Möbuß 2015, Bd. 1, 173). pers Schopenhauer widmet, prasselt die Kritik meist
nur so nieder. Für Jaspers verbirgt sich hinter der ver-
Als Differenz zwischen Schopenhauer und der Exis- meintlichen »Klarheit« Schopenhauers nur eine »Ver-
tenzphilosophie wird hingegen seine Systemorientie- wirrung des Existentiellen«. Schopenhauer öffnete
rung und die Ausrichtung auf eine allgemeingültige »die Schleusen für die Verführung durch beliebige
»Wahrheit« gesehen. Ein Systemdenken scheint sich Subjektivitäten und vermeintlich befreiende Fanatis-
mit dem Anspruch existentiellen Denkens ebenso we- men, durch den Kult des Unbewußten, durch die Psy-
nig zu vertragen (vgl. Holm 1962, 6) wie Schopenhau- chologisierung der Welt. Er war beteiligt an der Erzeu-
ers Blick auf »allgemeine, zeitlose Wahrheiten und gung jener chaotischen Modernität, deren Überwin-
Werte« (Hübscher 1962, 4). dung die gigantische Aufgabe moderner Vernunft ist«
352 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

(Jaspers 1968, 295). Jaspers versteht Schopenhauers gem. Interessanterweise sieht Jaspers dieses uralte
Philosophie letztlich als »Ausdeutung [...] der Emoti- Problem vor allem durch Kierkegaard und Nietzsche
on eines verstimmten Daseins« (Jaspers 1981, 999). verschärft zu Bewusstsein gebracht (vgl. Jaspers 1987).
Lässt man sich von dieser Polemik und Kritik nicht Schopenhauer bleibt wieder außen vor. Das ist in die-
blenden, braucht es keiner langen Suche, um themati- sem Zusammenhang gleich doppelt misslich: Zum ei-
sche Parallelen zu finden. Einige lassen sich um die nen ist ja gerade das Verhältnis von Vernünftigem und
zentrale Fragestellung bündeln, was Philosophie ist Nichtvernünftigem bei Schopenhauer durch seine Be-
(vgl. Schubbe 2009). Obgleich Schopenhauer und Jas- stimmung von Wille und Vernunft exponiert themati-
pers Kants Kritik an einer dogmatischen Metaphysik siert und in den verschiedenen Bereichen philosophi-
zustimmen, bleibt metaphysisches Denken für sie ein schen Denkens entfaltet worden, zum anderen dürfte
zentraler Bestandteil philosophischen Denkens. Die gerade Schopenhauers Wirkung auf Nietzsche in die-
Frage, die damit allerdings aufbricht, ist: Wie ist nach sen Punkten eine derart wichtige Rolle spielen, dass
Kant metaphysisches Denken möglich? Sowohl Scho- Jaspers’ Hervorhebung Nietzsches eine Diskussion
penhauer als auch Jaspers reagieren auf Kants Kritik Schopenhauers zumindest nahelegt (vgl. auch Sala-
mit einer Abschwächung des Anspruchs von Meta- quarda 2007, 105 f.).
physik: Für Schopenhauer wird Metaphysik zu einem Weitere Parallelen hat Jörg Salaquarda mit Blick auf
empirischen Unternehmen, das nur noch beanspru- die Religionsphilosophien Schopenhauers und Jas-
chen könne, das Ding an sich in Relation zur Erschei- pers’ betont (vgl. ebd., 110–117): Er kommt dabei zu
nung bestimmen zu können (s. Kap. 6.4). Im Kern ver- dem Ergebnis, dass beide zwar streng zwischen Wis-
bindet er mit seiner Metaphysik den Anspruch, eine senschaft, Philosophie und Religion unterschieden, es
Auslegung der Welt zu liefern (s. Kap. 40), nicht aber aber durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Wissen-
die Bestimmung einer wie auch immer verstandenen schaft und Philosophie einerseits und Philosophie
Transzendenz. Für Jaspers bleibt die Frage nach dem und Religion andererseits gebe. So seien bei Schopen-
Sein als Transzendenz zentral, doch da das Sein nie- hauer und Jaspers »Wissenschaft und Philosophie
mals Gegenstand für uns werden kann, bringt Jaspers durch dieselbe (selbstkritische) Einstellung, Philoso-
metaphysisches Denken als Lesen von Chiffren ins phie und Religion durch das gemeinsame Thema ver-
Spiel, das auf die verschiedenen Formen des Umgrei- bunden« (ebd., 113). Die potentielle Wahrheit religiö-
fenden, letztlich auf das Sein selbst gerichtet ist. Jas- ser Aussagen sei aber »von philosophisch kontrollier-
pers’ Abschwächung des Anspruchs metaphysischen ter Aneignung abhängig [zu] machen« (ebd., 113).
Denkens zielt darauf, dieses als ein indirektes zu ver-
stehen, das im Gegenständlichen das Ungegenständli-
Martin Heidegger
che andeutet, letztlich aber dem eigenen existentiellen
Vollzug überlassen werden muss. Der gemeinsame Die entscheidenden Linien der vereinzelten Aus-
Versuch, metaphysisches Denken durch eine metho- einandersetzung Heideggers mit Schopenhauer ste-
dische Abschwächung vor der kantischen Kritik zu hen im Zeichen seiner Destruktion abendländischer
retten, darf allerdings nicht über gravierende Unter- Metaphysik. In diesem Zusammenhang gilt Scho-
schiede hinwegtäuschen: Jaspers zeigt sich als der penhauer für Heidegger als ein wichtiges unter den
›metaphysischere‹ Denker, der Schopenhauers Imma- vielen Beispielen für seine Diagnose, dass das »Sein
nentismus und die Wende zum Leib letztlich als phi- des Seienden [...] für die neuzeitliche Metaphysik als
losophisch unzureichend einstufen müsste: Zwar ist Wille« (Heidegger 2002, 96) erscheine und dass das
für Jaspers Weltorientierung auch ein Teil der Philoso- Denken als Vorstellen verstanden werde (vgl. ebd.,
phie, letztlich müsse diese aber metaphysisch über- 41 ff.). Gerade die Radikalität, mit der Heidegger die-
stiegen werden. Die Philosophie habe sich nicht mit se beiden Aspekte bei Schopenhauer ausgedrückt
dem »bloßen« Leben, sondern mit dem »transzendent sieht, macht diesen im Rahmen der Metaphysikkritik
bezogenen Leben[.]« (Jaspers 1987, 103) auseinander- Heideggers zu einem entscheidenden Gegenpol (an-
zusetzen. Allerdings führt Jaspers diese Diskussion ders Steppi 1991, 104, der diese Stellen in Was heißt
um die Aufgabe der Metaphysik und ihre Methode denken? als Parallelen zwischen Schopenhauer und
nicht mit Schopenhauer. Heidegger deutet, dabei aber den kritischen Impetus
Ein weiteres Thema, das für Jaspers in den Umkreis Heideggers übersieht). Aus dieser Perspektive er-
der Selbstbestimmung der Philosophie gehört, ist das scheint es nur konsequent, wenn Heidegger Scho-
Verhältnis von Vernünftigem und Nichtvernünfti- penhauer der Oberflächlichkeit bezichtigt (vgl. He-
39 Existenzphilosophie 353

cker 1990) und einen Zusammenhang zwischen des- Parallele verbirgt. Heideggers Thematisierung der Ge-
sen Denken und seinem eigenen vehement bestreitet. lassenheit muss im Kontext seiner Unterscheidung
Auf einen diesbezüglichen Versuch von Teodorico zwischen zwei Formen des Denkens gesehen werden:
Moretti Costanzi soll er in einem Brief geantwortet Der Vortrag »Gelassenheit« von 1955 erörtert die Ge-
haben: »Mit Schopenhauer hat mein Denken nicht lassenheit im Kontext der Unterscheidung zwischen
das Geringste zu tun. Man braucht nur Schopenhau- einem rechnenden und einem besinnlichen Denken.
ers Interpretation der beiden Denker, die er als seine 1956 charakterisiert Heidegger in dem Vortrag »Der
Philosophen nennt – Plato und Kant – zu kennen, Satz vom Grund« das rechnende Denken als ein Den-
um den abgründigen Unterschied, der zwischen ken nach Maßgabe des Satzes vom Grund, das para-
Schopenhauers Philosophie und meinem Denken digmatisch im wissenschaftlichen Erkennen zu finden
besteht, zu sehen« (Costanzi 1951, 12; zum Kontext ist. Auch Schopenhauer erläutert das wissenschaft-
dieses Briefes vgl. u. a. Diemer 1962, 28; Hecker 1990, liche Erkennen als ein Denken nach Maßgabe des
87; Thyssen 1960/61). Satzes vom Grund und sucht zudem – wie Heidegger
Wie bei Jaspers so muss man sich auch bei Heideg- auch – nach Formen des Denkens, die der philosophi-
ger ob der starken Ablehnung Schopenhauers wun- schen Haltung angemessener sind (vgl. Schubbe
dern (vgl. Zaborowski 2016, 195–197). Sicherlich wer- 2012). Der Terminus »Besonnenheit« ist in diesem
den – in Heideggers Terminologie – die Differenzen Kontext für Schopenhauer wichtig und markiert im-
zwischen ihm und Schopenhauer zu einem »abgrün- merhin eine terminologische Nähe zu Heideggers
digen Unterschied« führen, der zuletzt im allgemei- »besinnlichem Denken«. Die Suche nach einer an-
nen Gestus und Sinn des Denkens liegen mag. Den- gemessenen philosophischen Denkhaltung jenseits
noch gibt es wie bei Jaspers auch hier verschiedene eines Denkens nach Maßgabe des Satzes vom Grund
Punkte, an denen ein ›denkendes Gespräch‹ (Heideg- verbindet Schopenhauers und Heideggers Denken
ger) hätte anknüpfen können. Als solche sind bei- in einem durchaus nicht unwichtigen Punkt (aus-
spielsweise Parallelen in der Auffassung der Zeit, der führlicher zu diesem Themenkomplex vgl. Schubbe
Sprache, der Kunst, der Wahrheit, der ontologischen 2009a). Gerade hier zeigt sich, dass Heideggers Inter-
Differenz oder auch der Rolle des Menschen für die pretation Schopenhauers hinsichtlich eines Verständ-
Philosophie hervorgebracht worden (vgl. Steppi 1991; nisses des Denkens als Vorstellen nicht nur undiffe-
Young 1996; 2005). Weitere Anknüpfungspunkte er- renziert ist, sondern auch die Möglichkeit eines
geben sich hinsichtlich der Frage nach der Möglich- fruchtbaren Gesprächs hinsichtlich der Beziehung
keit, Schopenhauer und Heidegger über die herme- von Wissenschaft, Philosophie und Kunst unterläuft
neutische Ausrichtung der Metaphysik des ersteren in (vgl. Fauth 2013).
ein Gespräch zu bringen (s. Kap. 40) und des von In jüngster Zeit hat Holger Zaborowski auf »moti-
Wolfgang Schirmacher hervorgehobenen Themen- vische Parallelen« (Zaborowski 2016, 198) des Den-
komplex der Gelassenheit zu sein (vgl. Schirmacher kens bei Schopenhauer und Heidegger hingewiesen.
1982; zur Gelassenheit bei Schopenhauer vgl. auch Diese sieht er zum einen in der beiden gemeinsamen
Möbuß 2015, Bd. 1, 167–174). So hebt Schirmacher »Kritik der Universitätsphilosophie und [...] Beto-
hervor, dass sowohl Schopenhauer als auch Heidegger nung des ›Selbstdenkens‹« (ebd.). Mit dem Interesse
»ihre Weltauslegung in einer Gelassenheit gipfeln las- Schopenhauers an indischem Denken und Heideg-
sen, die weit mehr ist als eine bloße Haltung« (Schir- gers an ostasiatischem Denken finde sich zudem eine
macher 1982, 55) und zwar »nachdem sie mit unge­ Parallele in dem Versuch, den »westlichen philosophi-
heurer Radikalität das bis heute herrschende Weltver- schen Diskurs auf ›alternative Stimmen‹ hin zu durch-
ständnis kritisiert und verlassen haben« (ebd., 56). brechen« (ebd., 207).
Doch mischen sich in diese Parallelen auch Differen-
zen: Eine dieser Differenzen sieht Schirmacher in
Jean-Paul Sartre
Schopenhauers Verteidigung wissenschaftlicher Ra-
tionalität, die Heideggers »Mißtrauen gegen die Wis- Richtet man den Blick auf Sartre, fällt das Bild nicht
senschaften, die nur rechnen und nicht denken kön- anders aus. Der Name Schopenhauer fällt nur sehr sel-
nen« (ebd., 56) entgegenstehe. Allerdings erarbeitet ten, und wenn, dann ohne systematischen Gewinn. In
Schirmacher diesen Unterschied um den Preis einer Das Sein und das Nichts wird Schopenhauer nur zwei-
unangemessenen Entdifferenzierung, unter deren mal erwähnt: in Bezug auf den Solipsismus und seine
Deckmantel sich vielmehr eine noch weitreichendere Lehre vom Leib als unmittelbares Objekt. Beide Bezü-
354 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

ge sind in kritischer Distanz verfasst: So zeige Scho- ›eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft,
penhauers Abwehr des Solipsismus ein »Eingeständ- daß einer der Teufel des anderen sein muß‹« (Diemer
nis der Ohnmacht« (Sartre 2012, 418) gegenüber die- 1962, 28; vgl. auch Sötemann 2016, 118 f.). Aber wie
ser Position und sein Verständnis des Leibes als un- bereits bemerkt, dürfte die Übereinstimmung in Ne-
mittelbares Objekt beseitige »die absolute Distanz gativität und Absurdität eher auf der Ebene der Welt-
zwischen den Bewußtseinen nicht« (ebd., 421). beschreibung liegen, weniger in den Konsequenzen,
Obgleich Sartre selbst Schopenhauer kaum in seine die Sartre und Schopenhauer daraus ziehen.
Gedanken einbindet, so ist auch für das Verhältnis von Noch kurz verwiesen sei auf einen weiteren Aspekt,
Sartre und Schopenhauer versucht worden, diese den Sötemann in Betracht zieht. Er sieht u. a. eine Pa-
nachträglich in ein Gespräch zu bringen, wie es bei- rallele in der Grundlosigkeit des Daseins. Auch wenn
spielsweise Arbeiten von Jörg Salaquarda, Wolfgang nach Sötemann beide Denker aus anderen Gründen zu
Müller-Lauter und Christian Sötemann zeigen. Im ihrer Überzeugung gelangen, so gilt doch sowohl für
Mittelpunkt der Überlegungen Salaquardas und Mül- Schopenhauer als auch für Sartre, dass sich die Exis-
ler-Lauters steht der Vergleich der jeweiligen Freiheits- tenz dessen, was ist, nicht rechtfertigen lässt: »Kein
und Charakter-Lehre. Obgleich es massive Unter- Weltgeist, kein Theismus kann uns vor der Sinnlosig-
schiede in diesen Punkten zwischen Schopenhauer keit dieses grundlos Gegebenen erretten« (Sötemann
und Sartre gibt (Schopenhauers Determinismus in der 2016, 121).
empirischen Welt und seine Annahme eines angebore-
nen und unveränderlichen Charakters markieren sol-
Albert Camus
che Gegensätze zu Sartre), weist Salaquarda auf drei
der Freiheitsproblematik »zugrundeliegenden Erfah- Anders als z. B. Nietzsche spielt Schopenhauer in den
rungen« hin, deren »Ähnlichkeit [...] bestechend« sei Werken Camus’ wie bei Sartre nur eine sehr marginale
(Salaquarda 2007a, 165). Diese sieht er darin, dass bei Rolle. Systematische Analysen philosophischer Posi-
Sartre erstens der »Ort der Freiheit [...] nicht der Wille, tionen oder Argumente findet man bei ihm infolge sei-
sondern das Sein« sei, zweitens Freiheit »auch für Sar- ner Ablehnung systematischen Denkens nur selten.
tre zunächst eine negative Bestimmung« sei und drit- Möchte man nicht lediglich über den Hinweis auf die
tens Freiheit als »Vollzug des Negierens [...] zugleich Atmosphäre und Beschreibung eines absurden und
ein Bestimmen« sei (ebd., 164). Allerdings braucht es sinnentleerten Lebens in seinen Romanen und Thea-
einiger interpretatorischer Kreativität, Schopenhauers terstücken Parallelen konstruieren, so bleiben dem In-
und Sartres Ansichten in dieser Frage auf gemeinsame terpreten nur sehr wenige explizite Hinweise Camus’
Punkte zu führen, die ihre Theorien nicht nur margi- auf Schopenhauer, die zudem nicht weit tragen. Auch
nal streifen. Somit ist Müller-Lauters Bemerkung si- eine Forschung, die Camus und Schopenhauer ins Ver-
cherlich zutreffend, dass die Denkwege der beiden hältnis setzt oder zumindest in eine Gespräch zu brin-
»weit auseinander« führen (Müller-Lauter 1993, 115). gen versucht, existiert so gut wie nicht. Höchstens indi-
Selbst wenn man beiden die Verteidigung einer »abso- rekt wird diese Thematik in den Diskussionen auf-
luten Freiheit« attestiert (ebd.; vgl. auch Möbuß 2015, genommen, die zu klären versuchen, ob und inwieweit
Bd. 1, 158 ff.), so fällt es eben schwer, die vorgeburtli- Schopenhauer als ein Philosoph des Absurden verstan-
che, unbewusste Wahl des eigenen Charakters bei den werden kann (vgl. Rosset 1967 [s. auch Kap. 51];
Schopenhauer mit dem permanenten Entwurf der ei- Alogas 2014).
genen Existenz bei Sartre in Verbindung zu bringen Dennoch ist gesichert, dass Camus durch seinen
(vgl. dagegen Möbuß 2015, Bd. 1, 170 ff.). Allerdings Lehrer Jean Grenier mit den Gedanken Schopenhau-
zeigen Salaquarda und insbesondere die detaillierten ers vertraut gemacht wurde und diesen auch in noch
Ausführungen Müller-Lauters, dass Sartres und Scho- jungen Jahren in seine eigenen Gedanken einbezog.
penhauers Überlegungen fruchtbar so gegeneinander So veröffentlichte Camus 1932 in der Zeitschrift Sud
gesetzt werden können, dass ihre Probleme und Un- den kurzen Artikel »Sur la musique«, in dem Scho-
schärfen verdeutlicht werden. penhauer immerhin in einem Abschnitt behandelt
Mehr Gemeinsamkeiten als in der Freiheitsfrage wird (vgl. Camus 2006, 524–528). Parallelen zeichnen
mag es anderswo geben: So verweist Müller-Lauter sich hier in der Hochschätzung der Musik und ihres
auf die Themen Intuition oder Tod (vgl. ebd., 120); »erlösenden« Charakters ab, aber letztlich steht Ca-
»[o]der wer denkt nicht an Sartres ›Geschlossene Ge- mus dem Musikverständnis Schopenhauers unter an-
sellschaft‹, wenn es heißt, die Welt sei anzusehen als derem doch auch in diesem Punkt kritisch gegenüber,
39 Existenzphilosophie 355

wenn er die Musik mit dem Traum in Verbindung Literatur


bringt und nicht mit einem Akt der Erkenntnis. Alogas, Konstantin: Das Prinzip des Absurden. Eine his-
Obgleich Camus’ Ausführungen in diesem Artikel torisch-systematische Untersuchung zur modernen
Erkenntniskritik. Würzburg 2014.
eine gute Kenntnis der Philosophie Schopenhauers Barth, Hans: Die Wendung zum Menschen in Schopenhauers
ausweisen, schließt er sich in Der Mythos des Sisyphos Philosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 43 (1962), 15–26.
einer für seine Zielsetzung sehr bequemen Fehlinter- Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Ham-
pretation an: »Man zitiert oft, um sich darüber lustig burg 2002.
zu machen, Schopenhauer, der an einer gutgedeckten Camus, Albert: Sur la musique. In: Ders.: Œuvres complètes
I, 1931–1944. [Paris] 2006, 522–540.
Tafel den Selbstmord pries« (Camus 2002, 16). An
Costanzi, Teodorico Moretti: Circa un giudizio dello Hei-
dieser Stelle fällt zunächst das Missverständnis ins degger sulla mia »Ascetica di Heidegger«. In: Teoresi.
Auge. Schopenhauer ist gerade kein Befürworter des Rivista di cultura filosofica 6/1–2 (1951), 11–17.
Selbstmordes. Im Gegenteil hält er diesen für den fal- Diemer, Alwin: Schopenhauer und die moderne Existenz-
schen Weg, um auf die leidvolle menschliche Existenz philosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 43 (1962), 27–41.
zu antworten. In der Ablehnung des Selbstmordes Fauth, Søren R.: Dichtendes Denken und denkendes Dich-
ten: Schopenhauer, Heidegger und Hugo von Hofmanns-
stehen Schopenhauer und Camus daher eher zusam-
thal. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Wissen-
men. Allerdings nimmt er Schopenhauers vermeint- schaftskritik, Literatur und Philosophie. In: Schopen-
liche Haltung auch gleich erläuternd in Schutz: Für hauer-Jahrbuch 93 (2013), 425–437.
Camus ist diese offensichtlich durchaus verständlich, Hecker, Hellmuth: Heidegger und Schopenhauer. In: Scho-
denn in »der Bindung des Menschen an sein Leben penhauer-Jahrbuch 71 (1990), 85–96.
gibt es etwas, das stärker ist als alles Elend der Welt« Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund. Vortrag. In: Ders.:
Der Satz vom Grund (= Gesamtausgabe, Bd. 10). Hg. von
(ebd.) – ein Gedanke, der mit Blick auf die Charakte- Petra Jaeger. Frankfurt a. M. 1997, 171–189.
risierung des Willens zum Leben Schopenhauer ver- Heidegger, Martin: Gelassenheit (30. Oktober 1955). In:
traut ist (vgl. W II, 279 f. (Lü)). Doch bei allem Miss- Ders.: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges.
verstehen ist es für Camus an dieser Stelle weniger 1910–1976 (= Gesamtausgabe, Bd. 16). Hg. von Hermann
Schopenhauers Stellung zum Selbstmord, als viel- Heidegger. Frankfurt a. M. 2000, 517–529.
Heidegger, Martin: Was heißt denken? (= Gesamtausgabe,
mehr der Widerspruch zwischen Überzeugung und
Bd. 8). Hg. von Paola-Ludovika Coriando. Tübingen 2002.
Handlung, der ihn herausfordert. Sicherlich ist dies Hochhuth, Rolf: Lebensfreundlichkeit: Karl Jaspers. In:
der Punkt, der Schopenhauer von den »existenzialis- Ders.: Täter und Denker. Profile und Probleme von Cäsar
tischen« Denkern à la Camus wegführt: Der theoreti- bis Jünger. Stuttgart 1987, 217–223.
sche Einsatz wird nicht zu einem praktischen. Scho- Holm, Søren: Schopenhauer und Kierkegaard. In: Schopen-
penhauer hat menschliches Fühlen und Leiden un- hauer-Jahrbuch 43 (1962), 5–14.
Hübscher, Arthur: Schopenhauer und die Existenzphiloso-
geschönt beschrieben, er hat mit den Stufen einer phie. Zur Eröffnung der Wissenschaftlichen Tagung. In:
Verneinung des Willens zum Leben rigorose Kon- Schopenhauer-Jahrbuch 43 (1962), 3–4.
sequenzen und Wege aus dem Leiden offengelegt, Jaspers, Karl: Arthur Schopenhauer. Zu seinem 100. Todes-
aber: Für ihn sind es eben nur Beschreibungen; der tag. In: Ders.: Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden
Philosoph – so Schopenhauer – ist kein Heiliger; der und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Hans
Saner. München 1968, 287–295.
Philosoph kümmert sich um die Erkenntnis der Welt,
Jaspers, Karl: Die großen Philosophen. Nachlaß 2. Fragmente
nicht um ihre Erlösung. Diese Diskrepanz zeigt sich – Anmerkungen – Inventar. Hg. von Hans Saner. München
auch auf der Werkebene: Momente, in denen das Ab- 1981.
surde überwunden oder aufgehoben wäre, kennt der Jaspers, Karl: Vernunft und Existenz. München 1987.
Mythos des Sisyphos nicht. Auch wenn Schopenhauer Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie. München 2005.
sicherlich Camus’ Diagnose der Absurdität des Da- Möbuß, Susanne: Existenzphilosophie. 2 Bde. Freiburg 2015.
Möbuß, Susanne: Arthur Schopenhauer als Existenzphilo-
seins hätte folgen können, so sicherlich nicht dabei, soph. In: Regehly/Schubbe 2016, 94–109.
sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzu- Müller-Lauter, Wolfgang: Absolute Freiheit und intelligibler
stellen. Die radikale Bejahung, die Camus mit seiner Charakter bei Schopenhauer und Sartre. In: Heinz
Wendung des Mythos zum Ausdruck bringt, aber Gockel/Michael Neumann/Ruprecht Wimmer (Hg.):
auch das damit verbundene Aufbegehren, die Revol- Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eck-
hard Heftrich. Frankfurt a. M. 1993, 97–122.
te, kennt Schopenhauer wenn überhaupt nur ein-
Regehly, Thomas/Schubbe, Daniel (Hg.): Schopenhauer und
geschränkt. Während seine Asketen durch die Ab- die Deutung der Existenz. Perspektiven auf Phänomenolo-
kehr von der Welt ihr Leiden überwinden, stemmt gie, Existenzphilosophie und Hermeneutik. Stuttgart 2016.
sich Sisyphos noch vergnügt gegen das Absurde.
356 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Rosset, Clément: Schopenhauer. Philosophe de l’absurde. Schubbe, Daniel: Gelassenheit als Denkhaltung und Welt-
Paris 1967. bezug. In: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009a), 147–161.
Salaquarda, Jörg: Zur Bedeutung der Religion bei Schopen- Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik
hauer und Jaspers. In: Konstantin Broese/Matthias und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010.
Koßler/Barbara Salaquarda (Hg.): Die Deutung der Welt. Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis: Ein morpholo-
Jörg Salaquardas Schriften zu Arthur Schopenhauer. Würz- gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/
burg 2007, 105–117. Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe
Salaquarda, Jörg: Charakter und Freiheit. Über Problematik fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewuss-
und ›Wahrheit‹ einer These Schopenhauers. In: Konstan- ten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementa-
tin Broese/Matthias Koßler/Barbara Salaquarda (Hg.): Die rität. Gießen 2012, 359–385.
Deutung der Welt. Jörg Salaquardas Schriften zu Arthur Schubbe, Daniel: Existenzphilosophische Versuche an Scho-
Schopenhauer. Würzburg 2007a, 161–169. penhauer. In: Regehly/Schubbe 2016, 81–93.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer Sötemann, Christian H.: Schopenhauer und Sartre. Gege-
phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg benheit und Grundlosigkeit des Vorhandenseins. In:
172012. Regehly/Schubbe 2016, 110–122.
Schirmacher, Wolfgang: Gelassenheit bei Schopenhauer und Steppi, Christian R.: Schopenhauer und Heidegger. Der
bei Heidegger. In: Schopenhauer-Jahrbuch 63 (1982), Anthropo-ontologe und der Existential-ontologe. In:
54–66. Schopenhauer-Jahrbuch 72 (1991), 90–110.
Schirmacher, Wolfgang: Menschheit in der Grenzsituation. Thyssen, Johannes: Schopenhauer zwischen den Zeiten. In:
Schopenhauer und die Existenzphilosophie. In: Mensch, Kant-Studien 52 (1960/61), 387–400.
Natur, Gesellschaft. Zeitschrift zur internationalen wissen- Young, Julian: Schopenhauer. London/New York 2005.
schaftlichen und kulturellen Verständigung 3 (1984), 28–35. Young, Julian: Schopenhauer, Heidegger, art, and the will.
Schubbe, Daniel: »...welches unser ganzes Wesen in In: Dale Jacquette: Schopenhauer, philosophy, and the arts.
Anspruch nimmt« – Zur Neubesinnung philosophischen Cambridge 1996, 162–180.
Denkens bei Jaspers und Schopenhauer. In: Reinhard Zaborowski, Holger: Schopenhauer und der späte Heideg-
Schulz/Giandomenico Bonanni/Matthias Bormuth (Hg.): ger. Unterwegs zu einem Gespräch. In: Regehly/Schubbe
»Wahrheit ist, was uns verbindet« – Karl Jaspers’ Kunst zu 2016, 193–211.
Philosophieren. Göttingen 2009, 248–272.
Daniel Schubbe
40 Hermeneutik 357

40 Hermeneutik aufzeigt). Diesbezügliche methodologische Reflexio-


nen finden sich über das gesamte Werk Schopenhauers
Das Wort ›Hermeneutik‹ oder ›hermeneutisch‹ wird verstreut. Eine Stelle, an der solche Überlegungen
von Schopenhauer in seinen Schriften nicht verwen- komprimiert vorgenommen werden, ist die »Epiphi-
det. Wie Peter Welsen anmerkt, scheint Schopenhauer losophie« im zweiten Band der Welt als Wille und Vor-
– obgleich er z. B. bei Friedrich D. E. Schleiermacher, stellung. Dort beschreibt Schopenhauer u. a. seine Phi-
August Boeckh und Friedrich A. Wolf Vorlesungen losophie als den Versuch, die Welt in ihrem Zusam-
besuchte – auch nicht mit deren Überlegungen zur menhang zu »entziffern« (W II, 746), eine »Auslegung
Hermeneutik konfrontiert gewesen zu sein (vgl. Wel- des in der Außenwelt und dem Selbstbewußtseyn Ge-
sen 2016, 157 f.; Regehly 2013, 72 f.). Dennoch hat sich gebenen« (W II, 744) zu bieten, um – so Schopenhauer
die Rede von einer ›Hermeneutik‹ in der Schopenhau- im ersten Band – über die »eigentliche Bedeutung [der
er-Forschung weitgehend durchgesetzt, um Schopen- Welt; D. S.] einen Aufschluß zu erhalten« (W I, 145).
hauers methodologische Weichenstellungen zu be- Die gehäufte Verwendung von Termini wie »Entziffe-
schreiben (zu den folgenden Ausführungen vgl. auch rung«, »Auslegung« oder »Bedeutung« (vgl. auch W II,
Schubbe 2013). Schopenhauers Philosophie in Ansät- 212 f.) sowie eine Ablehnung der Anwendung des Sat-
zen als Hermeneutik zu verstehen, ist somit als ein in- zes vom zureichenden Grund als Methode der Philoso-
terpretatorischer Schachzug aufzufassen, der einen phie (vgl. z. B. W I, 360 f.) provozieren dazu, in Scho-
Auslegungshorizont bei gleichzeitiger philosophiehis- penhauers Methodologie eine hermeneutische Wende
torischer Einordnung bietet, dabei aber seinen heuris- gegenüber Kant zu sehen. Allerdings ist, wie Regehly in
tischen Charakter nicht ganz verhehlen können wird, seiner Thematisierung der Stichworte »meaning«, »de-
zumal – wie Thomas Regehly betont – Schopenhauers cipherment«, »understanding« und »foundation« zu
›Hermeneutik‹ weit von dem entfernt ist, was sonst verstehen gibt, darauf zu achten, dass hermeneutisch
unter diesem Stichwort diskutiert wird (vgl. Regehly klingendes Vokabular allein noch keine Hermeneutik
2013, 89; Regehly 2016, 187 f.). macht (vgl. Regehly 2013, 83 ff.; Regehly 2016, 183 ff.).
Allerdings herrscht in der Forschung keineswegs Ei- Es ist daher mit den bisherigen Hinweisen auch
nigkeit darüber, was genau als ›Hermeneutik‹ im Werk noch nicht viel darüber ausgesagt, wie diese hermeneu-
Schopenhauers zu gelten hat und wie diese konzipiert tische Wende als Konzeption der philosophischen Me-
ist. Sehr unterschiedliche Aspekte und Auslegungen thode bei Schopenhauer ausgestaltet ist. Verfolgt man
lassen sich in der Literatur ausmachen (vgl. auch Wel- diese Frage weiter, zeigt sich, dass bei Schopenhauer im
sen 2016, 158; Regehly 2013, 74 ff.; Schubbe 2013, 409): Grunde mindestens zwei – durchaus divergierende –
So spricht z. B. Alfred Schmidt von einer »Welt-Her- implizite Konzeptionen einer ›Hermeneutik‹ vorlie-
meneutik« (Schmidt 1986, 121), Rüdiger Safranski von gen. Dass diese beiden Linien nicht ohne weiteres in
einer »Daseinshermeneutik« (Safranski 1990, 320), Einklang zu bringen sind, zeigt indessen, dass sich
Wolfgang Riedel von einer »Hermeneutik der Faktizi- Schopenhauers Philosophie durchaus als Resultat ei-
tät« (Riedel 1996, 52) und Jens Lemanski von einer nes methodologischen Bruchs oder einer methodolo-
»positivistischen Hermeneutik« (Lemanski 2010, 115). gischen Wende lesen lässt, die sich auf dem Boden der
Thomas Regehly hingegen charakterisiert Schopen- Tradition bemüht, dem philosophischen Denken neue
hauer als »Anti-Hermeneutiker« (Regehly 1992, 79) Perspektiven aufzuweisen (vgl. auch Wesche 2006, 134;
bzw. als »Hermeneutiker ehrenhalber« (Regehly 2016, Koßler 2009; Schubbe 2010a), allerdings ohne diese
183) und formuliert eine Kritik an der Auffassung immer problemlos integrieren zu können.
Schopenhauers als ›Hermeneutiker‹ (vgl. ebd., 189).
Unabhängig von diesen vielfältigen Versuchen, die
Zwei ›hermeneutische Linien‹ im Werk
ihrerseits wieder von starken Vorannahmen und un-
Schopenhauers
terschiedlichen Verständnissen bestimmter Zusam-
menhänge im Werk Schopenhauers geprägt sind, lässt Die erste dieser beiden Linien findet sich beispielswei-
sich der offensichtlichste Zugang zu hermeneutischen se in Kapitel 17 des zweiten Bandes der Welt als Wille
Aspekten bei Schopenhauer sicherlich an methodolo- und Vorstellung. In Bezug auf das Selbstverständnis
gischen Weichenstellungen seiner Metaphysik gewin- seiner Metaphysik spricht er dort davon, dass die »Er-
nen (vgl. auch Welsen 2016, der neben Ausführungen fahrung [...] einer Geheimschrift [gleicht], und die
zur Methode der Metaphysik auch an konkreten Lehr- Philosophie der Entzifferung derselben« (W II, 212),
stücken Schopenhauers die hermeneutischen Aspekte dass das Verhältnis zwischen dem »Ding an sich« (im
358 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Schopenhauerschen Sinn des Wortes) und der Er- 152 ff.). Allerdings bezieht diese Beschreibung wesent-
scheinung analog dem Verhältnis von »Gedanke zu lich Erkenntnisformen mit ein, die sich immer schon
den Worten« (W II, 214) aufzufassen ist. Die Kausal- intuitiv vollziehen (vgl. Schubbe 2012). Es ist gerade
relation zwischen Erscheinung und »Ding an sich« diese Beachtung und Einbeziehung intuitiv-verstehen-
wird an diesen Stellen zu einer Bedeutungsrelation, so der Vollzüge, die Schopenhauer zu einer weiteren Er-
dass es nicht verwundert, dass sich auch bei Schopen- läuterung der Aufgabe der Philosophie bringt: »Intui-
hauer die Metaphern von den »Weltbegebenheiten« tiv nämlich, oder in concreto, ist sich eigentlich jeder
als »Buchstaben« (W I, 249) oder vom »Buche der Na- Mensch aller philosophischen Wahrheiten bewußt: sie
tur« (W I, 294) finden (eine kritische Betrachtung der aber in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu
Bedeutungsrelation findet sich bei Haucke 2007, 119). bringen, ist das Geschäft des Philosophen, der weiter
Schopenhauer scheint mit dieser Wende von einer nichts soll, noch kann« (W I, 493). Die Unterschei-
Kausalrelation zu einer Bedeutungsrelation die Kon- dung von intuitiver und abstrakter Erkenntnis findet
sequenz aus der Kritik seines Lehrers Gottlob Ernst sich auf verschiedenen Ebenen bei Schopenhauer, wo-
Schulze (s. Kap. 18) an Kants Anwendung der Kausali- bei für alle vier Themenbereiche der Welt als Wille und
tätskategorie zu ziehen (vgl. Booms 2003, 68 ff., 161 f.; Vorstellung – Erkenntnislehre, Metaphysik, Ästhetik
W I, 556). Für die Bestimmung des »Dinges an sich« und Ethik – die intuitive Erkenntnis – als Verstandes-
impliziert in methodologischer Hinsicht die Ableh- erkenntnis, Willenserfahrung, Kontemplation und
nung einer Kausalrelation die Ablehnung eines Den- Mitleid – grundlegend ist (vgl. Schubbe 2012). All-
kens nach Maßgabe des Satzes vom zureichenden gemein bleibt bei Schopenhauer festzuhalten, dass die
Grunde, an dessen Stelle der Auslegungsprozess einer intuitive und abstrakte Erkenntnis grundsätzlich ver-
Bedeutungsrelation tritt (vgl. Birnbacher 1988, 12; schieden sind und sich nicht aufeinander reduzieren
Schubbe 2010, 46, Anm. 98). Für diesen Auslegungs- lassen. Während die abstrakte Erkenntnis zwar bestän-
prozess formuliert Schopenhauer zwei Wahrheitskri- diger und mitteilbar ist, hat die der abstrakten Er-
terien (vgl. Hallich 2002, 182 f.; Schubbe 2013, 414 f.), kenntnis zugrundeliegende intuitive Erkenntnis ihre
die als Korrespondenz- und Kohärenzkriterium be- Vorzüge in ihrer Unmittelbarkeit und ihrem Inhalts-
zeichnet werden können. Die Auslegung stellt sich da- reichtum; diese ist dabei anders als eine bloße Wahr-
durch als treffend heraus, dass sie nicht nur mit dem nehmung immer schon in eine spezifische Mensch-
Auszulegenden übereinstimmt, sondern auch die Er- Welt-Beziehung eingebettet. Die abstrakte, begriffliche
scheinungen in einen widerspruchslosen Zusammen- Erkenntnis verdankt sich bei Schopenhauer einem
hang zu bringen vermag (vgl. z. B. W II, 215). Der ge- Abstraktionsprozess gegenüber der intuitiven Er-
forderte Schlüssel für das Verständnis des Menschen kenntnis (zu Problemen verschiedener Konzepte die-
und der Welt ist für Schopenhauer schließlich der am ses Übergangs und dem Verständnis der abstrakten
eigenen Leib erfahrene Wille, der per Analogie auf die Erkenntnis als begriffliche vgl. Schubbe 2010, 131,
Welt übertragen wird (vgl. im Einzelnen dazu Schub- Anm. 352, 134, Anm. 365; Schubbe 2012, 377 ff.).
be 2010, 105–125; unter Einbeziehung hermeneuti- Für eine Philosophie, der es um das bewusste Inne-
scher Aspekte Welsen 2016, 162–167). Dass die Welt werden intuitiver Erkenntnis und ihrer abstrakten
per Analogie erschlossen werden muss, zeigt indes- Darlegung geht, hat dies auch methodologische Kon-
sen, dass bei Schopenhauer die Welt als etwas dem sequenzen, die Schopenhauer in metaphorischer Wei-
Menschen Fremdes verstanden ist, wobei die meta- se zu beschreiben geneigt ist. Seine Methode sei der
physische Besinnung über den Willen als »Ding an »Kniff«, »das lebhafteste Anschauen oder das tiefste
sich« dieses Fremde in einen grundlegenden Zusam- Empfinden, wann die gute Stunde es herbeigeführt
menhang alles Seienden zurückholen soll. hat, plötzlich und im selben Moment mit der kältesten
Während für die erste Linie ein Entzifferungspro- abstrakten Reflexion zu übergießen und es dadurch
zess hinsichtlich einer Bedeutungsrelation von Er- erstarrt aufzubewahren. Also ein hoher Grad von Be-
scheinung und »Ding an sich« ausschlaggebend ist, sonnenheit« (HN IV (1), 59). Allerdings ist Schopen-
lässt sich noch eine zweite ausmachen, die vielmehr hauer – nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen proble-
ein ›Explikationsgeschehen‹ eines immer schon voll- matischen Weichenstellungen grundlegender Theo-
zogenen Verständnisses des Menschen in seiner Um- reme (vgl. u. a. Schubbe 2010, 112) – gezwungen, an
welt betont: Schopenhauers Philosophie beansprucht wesentlichen Knotenpunkten seiner Philosophie über
für sich, eine begriffliche Beschreibung der Welt bzw. diese Einförmigkeit des Übergangs von intuitiv zu
des Wesens der Welt zu geben (vgl. Lemanski 2013, abstrakt hinauszugehen, so beispielsweise beim Ana-
40 Hermeneutik 359

logieschluss oder der Universalisierung des Willens- hauer dieses Bild hier an die Befreiung des besseren
begriffs. In Bezug auf die Frage, inwieweit es gelingen Bewusstseins (vgl. ebd.), aber dennoch erhält dieses
kann, die intuitive Erkenntnis in die abstrakte zu Bild einen Schlüsselcharakter, wenn man an den Auf-
überführen, finden sich widersprüchliche Einschät- bau der Welt als Wille und Vorstellung denkt: In die-
zungen: Zum einen wäre es zwar »thörichte Hoffnung, sem Werk werden schließlich in vier Büchern ver-
wenn wir erwarten wollten, daß die Worte und der schiedene Bezugsformen zwischen verschiedenen in-
abstrakte Gedanken das würden und leisteten, was die tuitiven und abstrakten Erkenntnisformen analytisch
lebendige Anschauung, die den Gedanken erzeugte, ausdifferenziert, die im Alltag durchaus vermischt
war und leistete«, aber obwohl »der Gedanke in Be- vorliegen dürften (vgl. Schubbe 2012).
griffen nur die Mumie« und Worte nur der »Deckel
des Mumiensarges« sind, beschreibt Schopenhauer
Die Erkenntnislehre im Kontext der
Begriffe auch als »Behältniß« (VN II, 126 f.), das »alle
›hermeneutischen Linien‹
Resultate der Anschauung in sich aufzunehmen« und
»unverändert und unvermindert wieder zurückzuge- Bislang wurde lediglich auf die methodologischen
ben« (W II, 75) vermag. Weichenstellungen und Selbstverständnisse eingegan-
Warum diese Bezüge eine Rolle für ein ›hermeneu- gen, die Schopenhauer für seine Philosophie prokla-
tisches Verständnis‹ der Philosophie Schopenhauers miert. Wie stark sich diese unterscheiden, ist u. a. an
spielen, erschließt sich, wenn man an die von Hans- deren Konsequenzen für ein Verständnis der »Er-
Georg Gadamer im Anschluss an Martin Heidegger kenntnislehre« – als Bezeichnung für das erste Buch
ausgearbeitete »Vor-struktur« des Verstehens und der Welt als Wille und Vorstellung – zu sehen. Dies soll
dessen Auslegung im Sinne des hermeneutischen und hier kurz exemplarisch dargestellt werden (vgl. Schub-
apophantischen »als« denkt. Dann zeigt sich nämlich, be 2013, 422 f.).
dass hier im Gegensatz zur ersten Linie der Philosoph Die erste ›hermeneutische Linie‹ bezog sich haupt-
nicht ein voraussetzungsloses Lesen im Buch der Na- sächlich auf die Metaphysik. Das ist insofern nicht
tur betreibt, sondern die sprachliche Explikation einer verwunderlich, als diese in der dargestellten Interpre-
unmittelbaren und innerhalb eines spezifischen Ver- tation durch die Ergebnisse einer spezifisch verstan-
ständnisses immer schon vollzogenen Beziehung zum denen Erkenntnislehre überhaupt erst notwendig
in der Welt Begegnenden. Die ›Hermeneutik‹ Scho- wird. Versteht man die Erkenntnislehre so, dass durch
penhauers ist in dieser Linie als eine Hermeneutik des sie in einer transzendentalen Erörterung die Welt als
›Zur-Welt-Seins‹ zu verstehen; die Orte des Verste- »subjektive Vorstellung« entlarvt wird, die mit einem
hens sind verschiedene Formen eines Zwischens voll- »Ding an sich« zu einem Dualismus verknüpft ist, so
zogener Beziehungen zur (Mit-)Welt (vgl. Schubbe stellt sich natürlich die Frage, was denn dieses »Ding
2013, 420; zu einer weiteren Ausführung der wichti- an sich« ist und im Zuge dessen, welcher Art die Ver-
gen Rolle von Beziehungen und Relationen im Werk knüpfung ist. Die Metaphysik des zweiten Buches der
Schopenhauers vgl. auch Schubbe 2010). Schopen- Welt als Wille und Vorstellung lässt sich dann so lesen,
hauers Betonung, seine Philosophie sei keine Wissen- dass Schopenhauer im Rahmen der genannten Bedin-
schaft aus Begriffen, sondern in Begriffe, findet hier gungen der ersten Linie auf diese Fragen Antworten
ebenfalls ihren Ort (vgl. W I, 577). Schopenhauers formuliert.
Wortwahl, die ein solches Philosophieren als ›Be- Das Verhältnis der einzelnen Bücher der Welt als
schreibung‹ des Wesens der Welt auffasst, verdeutlicht Wille und Vorstellung ist dagegen in der zweiten ›her-
indessen, dass er den Auslegungscharakter der Trans- meneutischen Linie‹ komplexer: Dies zeigt sich schon
formation intuitiver Erkenntnis in abstrakte deutlich daran, dass diese Linie sich nicht auf eine Methodolo-
unterschätzt (in diesem Zusammenhang wäre auch ei- gie der Metaphysik konzentriert, sondern eine Er-
ne Analyse der von Schopenhauer gebrauchten Spie- kenntnismethode formuliert, die sich auf alle vier Bü-
gelmetapher von weiterem Interesse, vgl. dazu u. a. cher erstreckt. Die Erkenntnislehre begründet in die-
Bernardy 2012). Allerdings gelingt Schopenhauer ge- ser Linie nicht die Notwendigkeit einer Auslegung der
genüber Gadamer eine methodologische Erweiterung Welt auf ein »Ding an sich« hin, sondern ist bereits
dieser ›Hermeneutik‹. Auch dafür hat Schopenhauer Teil einer solchen. Dies zeigt sich schon am Titel des
ein interessantes Bild gefunden, das des »scheidenden Werks, der von der Welt als Wille und Vorstellung
Chemiker[s]«, der als »Entwirrer aller Erscheinungen spricht (vgl. Regehly 2013, 82; Regehly 2016, 182). Die
des Lebens« (HN I, 76) auftritt. Zwar knüpft Schopen- Auslegung der Welt als Vorstellung steht auf der glei-
360 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

chen Ebene wie die als Wille. Grundlegend für die Kontext. Deutsch-polnisches Schopenhauer-Symposium
Auslegung der Welt als Vorstellung ist demnach die 2000. Würzburg 2002, 163–189.
Fokussierung auf eine Erkenntnis nach Maßgabe des Haucke, Kai: Leben & Leiden. Zur Aktualität und Einheit der
schopenhauerschen Philosophie. Berlin 2007.
Satzes vom Grunde – paradigmatisch in den Wissen- Koßler, Matthias: »Standpunktwechsel« – Zur Systematik
schaften zu finden – sowie die Reduktion des situati- und zur philosophiegeschichtlichen Stellung der Philoso-
ven Aufenthaltes des Menschen in der Welt auf die phie Schopenhauers. In: Fabio Ciracì/Domenico M.
Korrelation von Subjekt und Objekt (vgl. zur ähn- Fazio/Ders. (Hg.): Schopenhauer und die Schopenhauer-
lichen Gegenüberstellung von ›Situation‹ und ›Kon- Schule. Würzburg 2009, 45–60.
Lemanski, Jens: Die Rationalität des Mystischen. Zur Ent-
stellation‹ auch Schmitz 2005). Aus den Defiziten die-
wicklung und Korrektur unseres Mystikverständnisses am
ser Beschränkungen ergibt sich dann die Frage, »ob Beispiel von Dionysius Areopagita, Gottfried Arnold und
diese Welt nichts weiter, als Vorstellung sei« (W I, 150) Arthur Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 91
– eine Frage, die Schopenhauers Metaphysik ganz an- (2010), 93–120.
ders einleitet als der Weg über den metaphysischen Lemanski, Jens: The Denial of the Will-to-Live in Schopen-
Dualismus, indem sie den Raum für weitere Erörte- hauer’s World and His Association between Buddhist and
Christian Saints. In: Arati Barua/Michael Gerhard/Mat-
rungen der Situierung des Menschen in der Welt er- thias Koßler (Hg.): Understanding Schopenhauer through
öffnet wie auch für die damit verbundenen Beziehun- the Prism of Indian Culture. Philosophy, Religion and Sans-
gen und Erkenntnisformen. Damit weist Schopen- krit Literature. Berlin/Boston 2013, 149–183.
hauers Hauptwerk eine morphologische Struktur auf, Regehly, Thomas: Schopenhauer, der Weltbuchleser. In:
die darin besteht, dass verschiedene Formen von Schopenhauer-Jahrbuch 73 (1992), 79–90.
Regehly, Thomas: »The Ancient Rhapsodies of Truth« –
Mensch-(Mit-)Welt-Beziehungen und damit verbun-
Arthur Schopenhauer, Friedrich Max Müller and the Her-
dene Erkenntnisformen thematisiert werden (vgl. meneutics. In: Arati Barua/Michael Gerhard/Matthias
Schubbe 2012). Koßler (Hg.): Understanding Schopenhauer through the
Prism of Indian Culture. Philosophy, Religion and Sanskrit
Literature. Berlin/Boston 2013, 63–94.
Wirkungsgeschichte Regehly, Thomas: »Niemand versteht zur rechten Zeit«.
Schopenhauer, Goethe und die Hermeneutik. In: Ders./
Fragt man sich jenseits dieser systematischen Punkte, Schubbe 2016, 171–192.
ob und wie Schopenhauers ›hermeneutischer Ein- Regehly, Thomas/Schubbe, Daniel (Hg.): Schopenhauer und
schlag‹ gewirkt hat, so stellt sich Ernüchterung ein. Er die Deutung der Existenz. Perspektiven auf Phänomenolo-
gehört nicht zu den Klassikern der Geschichte der gie, Existenzphilosophie und Hermeneutik. Stuttgart 2016.
Hermeneutik. Dass hierbei allerdings noch Potential Riedel, Wolfgang: »Homo Natura«. Literarische Anthropolo-
gie um 1900. Berlin 1996.
für weitere Forschungen besteht, zeigt sich an Wil-
Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
helm Diltheys Rezeption Schopenhauers: Dilthey hebt Philosophie. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1990.
Schopenhauers interpretative Grundhaltung explizit Schmidt, Alfred: Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Scho-
hervor (s. Kap. 29). Insofern Dilthey bekanntlich eine penhauers Religionsphilosophie. München 1986.
wichtige Figur in der Geschichte der Hermeneutik Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider
spielt, sollte ein Einfluss Schopenhauers auf Dilthey die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg i. Br./München
2005.
diesbezüglich weitere philosophiehistorische An-
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik
strengungen motivieren. und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010.
Schubbe, Daniel: Der doppelte Bruch mit der philosophi-
Literatur schen Tradition – Schopenhauers Metaphysik. In: Michael
Bernardy, Jörg: Schopenhauers Spiegelmetapher zwischen Fleiter (Hg.): Die Wahrheit ist nackt am Schönsten. Arthur
Duplizitätsstrukturen und Selbsterkenntnis. In: Schopen- Schopenhauers philosophische Provokation. Frankfurt a. M.
hauer-Jahrbuch 93 (2012), 383–397. 2010a, 119–127.
Birnbacher, Dieter: Induktion oder Expression? Zu Scho- Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis: Ein morpholo-
penhauers Metaphilosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/
69 (1988), 7–19. Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe
Booms, Martin: Aporie und Subjekt. Die erkenntnistheoreti- fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewuss-
sche Entfaltungslogik der Philosophie Schopenhauers. ten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementa-
Würzburg 2003. rität. Gießen 2012, 359–385.
Hallich, Oliver: Die Entzifferung der Welt. Schopenhauer Schubbe, Daniel: Schopenhauers Hermeneutik – Metaphysi-
und die mittelalterliche Allegorese. In: Dieter Birnbacher/ sche Entzifferung oder Explikation »intuitiver« Erkennt-
Andreas Lorenz/Leon Miodoński (Hg.): Schopenhauer im nis? In: Schopenhauer-Jahrbuch 93 (2013), 409–424.
Spierling, Volker: Die Drehwende der Moderne. Schopen-
40 Hermeneutik 361

hauer zwischen Skeptizismus und Dogmatismus. In: Ders. Wesche, Tilo: Leiden als Thema der Philosophie? Korrektu-
(Hg.): Materialien zu Schopenhauers »Die Welt als Wille ren an Schopenhauer. In: Lore Hühn (Hg.): Die Ethik
und Vorstellung«. Frankfurt a. M. 1984, 14–83. Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealis-
Welsen, Peter: Schopenhauers Hermeneutik des Willens. In: mus (Fichte/Schelling). Würzburg 2006, 133–145.
Regehly/Schubbe 2016, 157–170.
Daniel Schubbe
362 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

41 Philosophische Anthropologie Arnold Gehlen


In Standard-Lehrwerken zur philosophischen An- So überrascht es nicht, dass vor allem ein Denker die
thropologie (beispielhaft Arlt 2001) findet sich kaum epochemachende Wirkung Schopenhauers erkannt
ein eigenständiger Eintrag zu Schopenhauer. Sein Na- hat, den Thies als kulturalistischen Pessimisten charak-
me taucht in der Regel nur am Rande auf, bezogen auf terisiert: Arnold Gehlen. Er hat deutlich gesehen, dass
die herausragenden anthropologischen Systeme ab sich im Gewand der Willensmetaphysik eine Anthro-
dem frühen 20. Jahrhundert. Er gilt nicht als maßgeb- pologie von Rang verbirgt, weshalb er in seinem 1938
licher Vertreter dieser Disziplin, obwohl seine phi- verfassten Aufsatz »Die Resultate Schopenhauers«
losophischen Ideen zentral für sie sind. Er beantwor- (Gehlen 1965) diesem geradezu ein Denkmal setzt.
tet grundlegende anthropologische Fragen: Was ist Schopenhauer habe die anthropologische Wendung in
der Mensch?, Wer ist ein Mensch?, Was sind die der Philosophie vorbereitet und eine Philosophie des
grundlegenden Merkmale menschlicher Existenz? Leibes und der Handlung entwickelt, wie sie kaum mo-
Wie ist das Verhältnis Mensch-Tier beschaffen? derner sein könne. Sie habe einen philosophiehistori-
Schopenhauers Wirkung auf die Anthropologie schen Umschwung herbeigeführt, der demjenigen
muss daher in den Spuren gesucht werden, die er (1) zum mentalistischen Paradigma durch Descartes ver-
bei den wichtigen Anthropologen des 20. Jahrhun- gleichbar sei (vgl. ebd., 314). Die epochemachenden
derts hinterlassen und (2) in den philosophiehistori- Resultate bestünden in wenigen Grundwahrheiten,
schen Weichen, die seine Philosophie gestellt hat. Al- welche von Schopenhauer erstmals ausgesprochen
lerdings wird diese epochemachende Wirkung und wurden und die »durchweg auf anthropologischem Ge-
ihre Bedeutung für die Anthropologie kaum gewür- biet« lägen (ebd.).
digt (vgl. Koßler 2009, 49), obwohl Schopenhauer den Der Preis, den Schopenhauer für diese Hochschät-
Leib an die zentrale Stelle des Philosophierens rückt zung zahlen muss, ist allerdings hoch, denn Gehlen
und sein Menschenbild nicht von der Vernunft, son- bricht einzelne Theorieteile heraus – ein Vorgehen,
dern von der Biologie her entwirft. Durch diese Wen- das für die Rezeption der Schopenhauerschen Phi-
de zur Lebensphilosophie wurde der biologisch orien- losophie geradezu typisch ist. Um Schopenhauers phi-
tierten Anthropologie der Boden bereitet, auf dem die losophische Verdienste anzuerkennen, müsse »der
Systeme von Scheler, Gehlen und Plessner (vgl. ebd., ganze metaphysische Anspruch preisgegeben wer-
48 f.) gediehen sind. den« (ebd.), worunter er die zentralen Thesen von der
Diese indirekten Wirkungen auf die Philosophie- »Welt als Wille« und der »Welt als Vorstellung« ver-
geschichte sind indes zu komplex um hier ausführlich steht. Insbesondere Schopenhauers Gleichung »Na-
behandelt zu werden, so dass sich die Darstellung auf turkraft = Kraft = Wille« gehe weit über das Verifizier-
die direkte Wirkung seiner philosophischen Grund- bare hinaus und zeige eine »tiefe Unkenntnis des We-
gedanken auf einzelne Anthropologen beschränkt. sens der exakten Naturwissenschaften« (ebd., 313).
Dies sind hauptsächlich Arnold Gehlen, Max Scheler Die Formel »die Welt als Vorstellung« sei so unbrauch-
und Michael Landmann, denen im Folgenden ein je- bar wie die gesamte »reformiert-kantische Erkennt-
weils eigener Abschnitt gewidmet wird. nislehre«, weil sie den unglücklichen Versuch unter-
Zur Orientierung soll ein Einteilungsraster von nehme, »den Leib in den erkenntnistheoretischen
Christian Thies (2000; 2009) vorweggeschickt sein, Subjektsbegriff hineinzudefinieren« (ebd., 316). Den-
der anthropologische Ansätze in optimistische und noch erkennt Gehlen vier Hauptresultate an, die – we-
pessimistische einteilt, die wiederum naturalistisch nig überraschend – schon Grundkonzepte seiner ei-
oder kulturalistisch angelegt sein können. Schopen- genen Anthropologie enthalten.
hauer klassifiziert er als naturalistischen Pessimisten
(vgl. Thies 2000, 29–34). Die Debatte um anthropolo- 1) In der Leibphilosophie mit ihrer starken Betonung
gischen Optimismus oder Pessimismus dreht sich um der Handlung liegt nach Gehlen das erste wichtige Re-
folgende Fragen: Haben wir es beim Menschen mit ei- sultat Schopenhauers. »Jeder wahre Akt seines Willens
nem altruistischen oder mit einem egoistischen Lebe- ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung sei-
wesen zu tun? Ist bei ihm mit Kooperation oder nes Leibes [...]. Der Willensakt und die Aktion des Lei-
grundsätzlich mit Konflikten zu rechnen? Ist der bes sind [...] Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich
Mensch von Natur oder Kultur aus gut oder böse? Ist verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittel-
er zum Besseren erziehbar oder nicht? bar und einmal in der Anschauung für den Verstand«
41  Philosophische Anthropologie 363

(W I, 143 (ZA)). Der Brennpunkt des Systems und der schnitten. Beim Menschen nämlich sei jenes Harmo-
Ort an dem die Welt als Wille mit der Welt als Vorstel- niegesetz abgebrochen, denn er »ist das instinktlose,
lung zusammenhänge sei die Handlung: »Der Willens- das organbiologisch unspezialisiert und das unbe-
akt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv schränkt weltoffene Wesen, also das intelligente und
erkannte verschiedene Zustände, die das Band der handelnde, das bis in die Struktur seiner Antriebe hi-
Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältniß der nein auf orientierte und tätige Bewältigung der Welt
Ursache und Wirkung [...] Die Aktion des Leibes ist [...] angelegt ist« (Gehlen 1965, 322). Nicht nur bei
nichts anderes als der objektivierte, d. h. in die An- Herder, auch bei Schopenhauer findet Gehlen somit
schauung getretene Akt des Willens« (ebd., 143). seine anthropologische Grundannahme vorgebildet,
Diese Einsicht macht nach Gehlen den Nerv des der Mensch sei ein entspezialisiertes Mängelwesen
philosophischen Systems Schopenhauers aus. Selbst (vgl. Gehlen 2009, 73–85), das sich aufgrund von In-
wenn man die metaphysischen Begründungen und stinktreduktion und mangelhafter Organausstattung
Folgerungen nicht mitvollziehe, »bemerkt man doch geistige und sprachliche Werkzeuge zur Wirklich-
die erstaunliche Neuigkeit: die konkrete Handlung als keitsbewältigung schaffen musste. So geht auch für
Ausgangspunkt und Schlüsselproblem der Philosophie Schopenhauer »mit dem Eintritt der Vernunft jene Si-
zu setzen. Nicht Gott oder die Welt, die Erkenntnis cherheit und Untrüglichkeit der Willensäußerung [...]
oder die Idee liefern wie für fast alle Philosophie vorher fast ganz verloren: der Instinkt tritt völlig zurück, die
die Ausgangsthematik, sondern der Mensch und näher Überlegung, welche jetzt Alles ersetzen soll [...] ge-
der handelnde Mensch« (Gehlen 1965, 318). biert Schwanken und Unsicherheit: der Irrtum wird
Für Gehlen ist ›Handlung‹ eine Schlüsselkategorie möglich« (W I, 203 (ZA)). Infolgedessen musste »das
seiner Anthropologie (vgl. Gehlen 2009, 32). Alles, komplicirte, vielseitige, bildsame, höchst bedürftige
was den Menschen auszeichnet, ist in eine Tätigkeit und unzähligen Verletzungen ausgesetzte Wesen, der
eingebunden: Wahrnehmung, Körperbewegungen, Mensch« (ebd., 203) Erkenntnisfähigkeiten ausbilden.
Bewusstsein und Denken. Das Verhältnis dieser As- Wie der Wille Tiere mit Organen zur Offensive
pekte eines jeden Handlungsbezuges fasst Gehlen ky- oder Defensive ausgerüstet hat, so auch mit Intellekt,
bernetisch auf: Sie bilden einen selbstbezüglichen als Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art.
Kreisprozess, in dem Leistungen gekoppelt und Rück- Im Menschen stehe der überlegene Verstand
meldung über Erfolg und Misserfolg eingespeist wer-
den (vgl. Rehberg 2009, 5). »im Verhältniß theils zu seinen Bedürfnissen, welche
die der Thiere weit übersteigen [...], theils zu seinem
2) Als zweites wichtiges Resultat Schopenhauers gilt gänzlichen Mangel an natürliche Waffen und natürli-
Gehlen die Vorwegnahme eines Grundgedankens, der cher Bedeckung, und seiner verhältnißmäßig schwä-
seit Jakob von Uexküll geläufig und ebenfalls zentral chern Muskelkraft, [...] imgleichen zu seiner Unfähig-
für Gehlens Anthropologie ist: die Harmonie zwi- keit zur Flucht [...], endlich auch zu seiner langsamen
schen Organbau, Instinktausstattung und Umwelt ei- Fortpflanzung, langen Kindheit und langen Lebens-
nes Lebewesens (vgl. Gehlen 2009, 71). Auch Scho- dauer [...] Alle diese großen Forderungen mußten
penhauer betont die Harmonie des Willens mit dem durch intellektuelle Kräfte gedeckt werden: daher sind
Charakter eines Lebewesens, d. h. zwischen dem diese hier so überwiegend« (N, 249 (ZA)).
Trieb- und Instinktsystem, der organischen Speziali-
sierung und den Lebensumständen jeder Tierart (vgl. 3) Doch ungeachtet aller grundlegenden Gemein-
N, 239 (ZA)): »Jedes besondere Streben des Willens samkeiten zwischen Mensch und Tier ist bei Scho-
stellt sich in einer besonderen Modifikation der Ge- penhauer sowenig wie bei Gehlen die Anthropologie
stalt dar« (ebd., 244). Die verschiedenen Teile eines das letzte Kapitel der Zoologie. Er setzt bedeutsame
Organismus entsprechen seiner Lebensweise genau, Unterschiede zwischen Mensch und Tier, die mit dem
weil »kein Organ das andere stört, vielmehr jedes das dritten wichtigen Resultat zusammenhängen: der
andere unterstützt, auch keines ungenutzt bleibt und These von der Oberflächlichkeit des Intellekts (vgl.
kein untergeordnetes Organ zu einer anderen Lebens- Gehlen 1965, 322). Das Tier wird durch anschauliche
weise besser taugen würde« (ebd., 239). Motive in Bewegung gesetzt und ist vom jeweiligen
Glücklicherweise hat Schopenhauer diese Idee Augenblick abhängig; der Mensch verfügt über nicht-
nicht naiv auf den Menschen übertragen, so Gehlen, anschauliche abstrakte Motive und damit über Un-
und sich dadurch anthropologische Probleme abge- abhängigkeit von der Gegenwart. Er erhält insbeson-
364 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

dere »durch die Sprache, wie Schopenhauer einmal Rehberg 2009, 5). Eine Handlung ist eine Gesamt-
sagt, die Übersicht (!) der Vergangenheit und der Zu- bewegung, die als »Aktion vielgliederig abläuft und
kunft, wie auch des Abwesenden« (Gehlen 2009, 50) vom Denken gesteuert und geführt wird. Dieser Vor-
und kann so »Unterschiede jeder Art, also auch die gang ist mit dem Begriffspaar ›bewußte Seele-Körper‹
des Raumes und der Zeit, beliebig fallen lassen [...] gar nicht beschreibbar« (Gehlen 1965, 325).
während das Tier in jeder Hinsicht an die Gegenwart
gebunden ist« (G, 117 (ZA)).
Max Scheler
Auch bei Gehlen machen Begriffe die Wahrneh-
mung verfügbar, beliebig reproduzierbar und leichter Max Scheler erwähnt Schopenhauer an etlichen Stel-
handhabbar, was zu einer Entlastung gegenüber dem len seines Werkes (s. auch Kap. 37), doch die explizite
Umweltdruck führt. Sprachliche Werkzeuge erlauben Auseinandersetzung fällt kurz aus. In Wesen und For-
dem Menschen nach Schopenhauer, Besonnenheit zu men der Sympathie (2009) diskutiert er Schopenhauers
entwickeln und die »Fähigkeit sich zu besinnen, um Mitleidsethik im Rahmen der Abhandlung metaphysi-
zu sich zu kommen, ist eigentlich die Wurzel aller sei- scher Theorien. So betont er die positive Wirkung be-
ner theoretischen und praktischen Leistungen, durch stimmter Aspekte des Mitleids bei Schopenhauer für
welche der Mensch das Thier so sehr übertrifft« (G, ein ethisches und psychologisches Verständnis dieses
117 (ZA)). Diese Funktion beruht wesentlich auf der Phänomens. Insbesondere dass er gegenüber Kant
Sprache, durch welche die den weltoffenen Menschen emotionale Funktionen als ethisch bedeutsam einstuf-
überströmenden Wahrnehmungsreize nicht mehr ge- te und annahm, Mitleiden bestehe im unmittelbaren
samttätig, sondern nur noch sprachlich bewältigt wer- Teilnehmen und beruhe nicht auf »›Schlüssen‹ oder ir-
den müssen. Daher ist dies nach Gehlen eine bahnbre- gendwelchen künstlichen Arten des ›Hineinverset-
chende Einsicht Schopenhauers: »Erkenntnis als Me- zens‹ in den anderen« (Scheler 2009, 62), würdigt
dium der Motive, als Phase der Handlung, und Den- Scheler. Auch dass er dem Mitleid einen ›intentionalen
ken als sekundäre Erkenntnis« (Gehlen 1965, 324). Sinn‹ zuerkennt, statt es bloß kausal als blinden Zu-
stand der Seele anzusehen, und dass die Erscheinun-
4) Als viertes bleibendes Resultat sieht Gehlen, dass gen des Mitgefühls eine »Einheit des Lebens voraus-
Schopenhauer mit der zentralen Rolle der mensch- setzen« (ebd., 62), wie es beim Durchschauen des tren-
lichen Handlung den Geist-Körper-Dualismus über- nenden principium individuationis erkannt wird, sei
windet. Er unterscheide in seiner Lehre streng das den Verdiensten zuzurechnen.
Erlebnis der Umsetzung eines Willensentschlusses in In dieser Wertschätzung spiegelt sich die zentrale
eine Bewegung von der Wahrnehmung derselben Be- Stellung von Emotionen in Schelers Philosophie wi-
wegung von außen. Jeder Willensakt sei eine Leibbe- der: Fühlen ist eine ontologisch-apriorische Funktion
wegung, der Mensch »kann den Akt nicht wirklich mit wesens- und werterschließendem Charakter (vgl.
wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Be- Scheler 1966, 45–51). Schopenhauer verknüpft Ge-
wegung des Leibes erscheint« (W I, 143 (ZA)). Scho- fühle als Willensphänomene (vgl. Birnbacher/Hallich
penhauer war es, »der in seiner These vom Be- 2012) ebenfalls aufs Engste mit dem zentralen Begriff
wußtsein als ›Medium der Motive‹ zuerst und ganz seiner Philosophie, denn im Primat des Affektiven
grundsätzlich die Verhaltensbezogenheit des Be- über das Kognitive und der Aufwertung des emotio-
wußtseins erkannt hat« (Gehlen 2009, 168). Erkennt- nalen Weltzuganges (vgl. ebd., 486; 495) liegt das
nis könne vielerlei sein: Phase der Handlung, vorgän- Wegweisende seines Denkens.
giges Motiv, nachträgliches Resultat, als Lebensform Allerdings werden für Scheler diese Fortschritte ge-
sogar Ersatz für Handlung: auf diese bezogen bleibe genüber herkömmlichen Lehren weit überwogen
sie immer (vgl. ebd., 168). durch die Nachteile des Mitleidsbegriffs. Der Kardina-
Eine der großen Leistungen der Zentralkategorie lirrtum besteht für ihn in Schopenhauers Konzentra-
der Handlung besteht für Gehlen darin, dass mit ihr tion auf das Leiden anstelle des Mitfühlens, wodurch
der Körper-Geist-Dualismus überwunden werden eine »Vermehrung des Leidens als des ›Heilswegs‹«
kann. Handlungen gehen nie ohne Geist und zugleich (Scheler 2009, 63) erzeugt würde, anstelle von Liebe,
körperliche Routinen vonstatten. Jede Handlung be- Teilnahme und hilfreicher Tat.
steht in einem komplexen und einheitsstiftenden Weiterhin kritisiert Scheler die Wertschätzung des
Wechselspiel von Planung, Beobachtungen, Selbst- Mitleids als eudämonistisch gefärbt. Der Mitleidende
empfindungen, Vorstellungen und Korrekturen (vgl. fände Trost für das eigene Leiden, indem er die All-
41  Philosophische Anthropologie 365

gemeinheit des Leidens erkenne und »sich und sein Funktion zu, die als »Wachstumsschmerz« angenom-
Leid in ein großes und universales Leidensschicksal men werden müsse, während Schopenhauer ein onto-
der Welt« (ebd., 63) miteingeschlossen fühle. Hier logisch allgegenwärtiges Leiden annimmt, das weit-
verwechsle Schopenhauer das bloß erkennende und gehend funktionslos ist (vgl. ebd., 123 f.). Auch die
verstehende Nachfühlen mit dem echten Mitfühlen, Einschätzung der Positivität differiert: Nach Schopen-
dem ein fremdes Leid »mit gedoppelter Schwere auf hauer führen Mangelzustände zu Leidenszuständen
das Herz« fällt (ebd., 63). Gar bis zur Lust am Leid an- und nur diese zu positiven Ausschlägen im Empfin-
derer steigere sich Schopenhauers Mitleidslehre, ja den. Für Scheler übersieht er damit zweierlei: »die
folgerichtig müsse man nach ihr Leiden bereiten, da- ganze positive Lust an der Lebenstätigkeit selbst«
mit »jenes fundamental wertvolle Erleben des Mitlei- (Scheler 1963, 47) und den Schmerz aus der »Steige-
dens immer neu geschaffen werde« (ebd., 64). rung der Lebenstätigkeit« (ebd.). Beide eint jedoch die
Schopenhauer unterliege einer Werttäuschung, die Annahme des Leidens als Erkenntnisquelle, die den
ihn zunehmend blind mache für positive Werte wie geistigen Blick auf das Wesentliche schärft (vgl. Höl-
Freude und Glück. Auch sei die unmittelbare Identifi- terhof 2013, 127).
zierung mit dem Anderen als Wesens- und Leidens-
gleichem, die nach Schopenhauer mithilfe des Durch-
Michael Landmann
schauens des principium individuationis gelingt, nur
im Falle einer Gefühlsansteckung und Einsfühlung Landmann zählt zum Kreis der Kulturanthropologen
möglich. Dieses Aufgehen des Ichs »in einen allgemei- (vgl. Arlt 2001, 57). In Philosophische Anthropologie
nen Leidensbrei schließt echtes Mitleid vollständig (1982a) und Fundamental-Anthropologie (1984) un-
aus« (ebd., 66). ternimmt er den Versuch, Kulturphilosophie, phi-
Richtig ist, dass Schopenhauer Mitleid zu grob losophische Anthropologie und Ergebnisse der Le-
fasst, um all den darunter subsumierten Phänomenen benswissenschaften zu einer Gesamtperspektive zu
gerecht zu werden, wie auch Birnbacher einräumt: verbinden (vgl. Bohr/Wunsch 2015, 8). Er kritisiert
Emotionen werden mit »vielen anderen Phänomenen an Vorläufertheorien, dass sie einzelne »Anthropina«
zusammen unter den umbrella term ›Wille‹« (Birnba- überbetonten statt ihre Vielfalt zu berücksichtigen,
cher/Hallich 2012, 488) gebracht. Scheler hingegen und das »Schöpferische« des Menschen nicht hoch
differenziert das Fremdverstehen phänomenologisch und umfassend genug einschätzten (vgl. Landmann
in vier aufeinander aufbauende Arten des Gefühls aus: 1984, 123–132). Kreativität sei keine ausschließlich
die Einsfühlung, die Nachfühlung, das Mitgefühl und ästhetische Kategorie, sondern dem Menschen auf al-
die Menschenliebe (vgl. Scheler 2009, 19–48; Sander len Gebieten wesentlich; mit der Kreativität lebe er
2001, 82). Sie erlauben die emotionale Erfassung »aus einer anderen Gabe als das Tier« (Landmann
fremdseelischen Erlebens, wobei Nachfühlen und 1982a, 151), weshalb Landmann Gehlens Befund des
Mitfühlen bewusster, distanzierter und erkennender ergänzungsbedürftiges Mängelwesen ›Mensch‹ nicht
sind als das Einsfühlen (vgl. Sander 2001, 83). Aller- teilt. Doch wie Gehlen würdigt er die epochalen Im-
dings interpretiert Scheler Schopenhauer zu undiffe- pulse, die Schopenhauer der Entthronung der Ver-
renziert und stellenweise falsch. Mitleid soll nicht Lei- nunft und der anthropologischen Höherbewertung
den vermehren, sondern zu uneigennütziger Hilfe außervernunftmäßiger Erkenntnis- und Seelenkräfte
motivieren, die dem Leiden abhilft. Auch übersieht gab (vgl. Landmann 1982, 96–110).
Scheler, dass Mitleid bei Schopenhauer ein Dispositi- In dem Aufsatz »Schopenhauer heute« (1957) setzt
onsbegriff ist, im Sinne der Fähigkeit »der Rücksicht- er sich mit den Konjunkturen der Rezeption seiner
nahme auf die Leidensfähigkeit existierender und po- Werke und seiner philosophiegeschichtlichen Stel-
tentieller Lebewesen« (Birnbacher/Hallich 2012, 497) lung auseinander. Dabei misst er den Moden der
und somit zu Handlungsmaximen verallgemeinerbar. Wertschätzung Schopenhauers nicht allzuviel Bedeu-
Tobias Hölterhof weist Gemeinsamkeiten zwischen tung bei; der Rang eines Philosophen bemesse sich da-
Scheler und Schopenhauer im Phänomen und Stellen- nach, »wieviel von seinen Einsichten zum bleibendem
wert des Leidens auf. In Vom Sinn des Leides (vgl. Besitz menschlicher Weltdeutung wird« (Landmann
Scheler 1963, 36–73) analysiert Scheler die Signal- 1957, XXIV). Schopenhauers bleibende Leistung läge
funktion des Leidens, das eine »Schädigung des Kör- darin, dass er »die alte Vernunftanthropologie zer-
pers oder eine Hemmung der Entwicklung« (Hölter- schlagen und unterhalb der Vernunft elementare
hof 2013, 140) anzeigt. Dem Leid komme läuternde menschliche Wirklichkeitsschichten aufgezeigt hat«
366 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

(ebd., XXVII). Durch die Depotenzierung des Intel- Das pessimistische Menschenbild Schopenhauers
lekts könne Schopenhauer als einer der ersten Prag- hat zu anthropologischen Annahmen geführt, die als
matisten gelten (vgl. Landmann 1982a, 107). Dieser gemeinsames Lebenselement in vielen philosophi-
sehe im erkennenden Intellekt kein Mittel, das dem schen Debatten und Teildisziplinen bis heute fortwir-
Ziele der reinen Wahrheitserkenntnis diene, sondern ken. Ein Desiderat der Forschung wäre, diese Unter-
ein Orientierungsorgan, dessen der blinde Wille in strömung zu einem umfassenderen systematischen
Gestalt des Lebens für sein eigenes Lebenkönnen be- Entwurf einer pessimistischen Anthropologie zusam-
dürfe (vgl. Landmann 1957, XXIX). menzuführen. Viele Probleme des ›zivilisatorischen‹
In »Sinnverlust und Eudämonismus« (1982) rekon- Fortschritts, mit denen Menschen heute konfrontiert
struiert Landmann Schopenhauers Philosophie als sind – Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Kriege,
wichtige geistesgeschichtliche Etappe des Sinnverlus- Verteilungskämpfe, überbordende Mobilität, Verlär-
tes. Er geht menschheitsgeschichtlich von einer ›urge- mung der Welt, Migrationsströme, religiöse, rassisti-
gebenen Sinnumfangenheit‹ (Landmann 1982, 159) sche und sexistische Gewalt – bedürfen dringend ei-
aus, welche in historischen Wellen angezweifelt wur- ner pessimistisch-anthropologischen Erklärung. 1972
de. Schopenhauers Postulat der Verneinung des Wil- untersuchte Johannes Vandenrath diese Probleme im
lens setze den »Verlust des Glaubens an einen Welt- Lichte der skeptischen Prognosen Schopenhauers und
und Lebenssinn voraus« (ebd., 154) und sei als spät- schon zu diesem Zeitpunkt waren nahezu alle seine
gnostische Auffassung einzustufen. Landmann rech- ›schwarzsehenden‹ Vorhersagen zur Menschheitsent-
net ihn zwar noch dem Umkreis der Romantik zu, wicklung eingetroffen.
doch teile er nicht deren Auffassung des Irrationalen
als von »unbewußter Weisheit«, worin sich das »Ver- Literatur
trauen in den Sinn der Welt [...] noch im Irrationalis- Arlt, Gerhard: Philosophische Anthropologie. Stuttgart 2001.
mus« (ebd., 157) fortsetze. Schopenhauer denke das Birnbacher, Dieter/Hallich, Oliver: Schopenhauer: Emotio-
nen als Willensphänomene. In: Hilge Landweer/Ursula
Irrationale als blind-alogisch, dranghaft, chaotisch Renz (Hg.): Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von
und sinnlos und gebe dem pantheistischen Irrationa- Platon bis Wittgenstein. Berlin/Boston 2012, 479–500.
lismus somit eine gnostische Wendung. Bohr, Jörn/Wunsch, Matthias (Hg.): Kulturanthropologie als
Schopenhauers damit verknüpfte Opposition ge- Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im
gen den Eudämonismus – Glück für das wichtigste Le- Kontext. Nordhausen 2015.
Gehlen, Arnold: Die Resultate Schopenhauers [1938]. In:
bensziel zu halten, sei der Irrtum des Menschen
Ders.: Theorie der Willensfreiheit und frühe philosophische
schlechthin – hält Landmann indes für eine Selbsttäu- Schriften. Neuwied/Berlin 1965, 312–338.
schung, denn seiner Philosophie liege ein »elementa- Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
res eudämonistisches Apriori« (ebd., 165) zugrunde. in der Welt [1940]. Wiebelsheim 2009.
Sein Pessimismus sei aus logischen Gründen kein me- Hölterhof, Tobias: Anthropologie des Leidens. Würzburg
taphysischer, denn wenn der Wille das Absolute sei, 2013.
Koßler, Matthias: »Standpunktwechsel« – Zur Systematik und
könne es keinen über ihm liegenden Standort geben,
zur philosophiehistorischen Stellung der Philosophie Scho-
von dem aus er zu verwerfen wäre. Vielmehr spreche penhauers. In: Fabio Ciracì/Domenico M. Fazio/Matthias
aus ihm der eudämonistische Pessimist, denn dass Koßler (Hg.): Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule.
»der Wille uns in unabsehbare Leiden stürzt, das ist Würzburg 2009, 45–60.
der Grund, weswegen Schopenhauer sich gegen ihn Landmann, Michael: Schopenhauer heute. In: Arthur Scho-
aufbäumt« (Landmann 1957, XIX). penhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zurei-
chenden Grunde. Hg. von Michael Landmann und
Elfriede Tielsch. Hamburg 1957, IX–XXXIV.
Ausblick Landmann, Michael: Sinnverlust und Eudämonismus. In:
Wolfgang Schirmacher (Hg.): Zeit der Ernte. Studien zum
Landmann formulierte schon als Desiderat der For- Stand der Schopenhauerforschung. Festschrift für Arthur
schung, den Anthropologen Schopenhauer für die Hübscher zum 85. Geburtstag. Stuttgart/Bad-Cannstatt
1982, 96–110.
Deutung des Menschen stärker in den Blick zu neh-
Landmann, Michael: Philosophische Anthropologie. Mensch-
men, denn als Metaphysiker ging er nicht von der liche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart [1955].
Kosmologie, sondern von der Anthropologie aus. Da- Berlin/New York 51982a.
her sei das »höhere Stockwerk der Weltdeutung wie- Landmann, Michael: Fundamental-Anthropologie [1979].
der abzutragen« (Landmann 1957, XXV) und die Me- Bonn 21984.
taphysik anthropologisch umzudeuten. Rehberg, Siegbert: Anthropologie der Plastizität und Ord-
41  Philosophische Anthropologie 367

nungstheorie. Einführung in die 14. Auflage von Arnold Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie [1913] und
Gehlens ›Der Mensch‹. Wiebelsheim 2009, 1–10. Die deutsche Philosophie der Gegenwart [1922]. Hg. von
Sander, Angelika: Max Scheler zur Einführung. Hamburg Manfred Frings. Bonn 2009.
2001. Thies, Christian: Gehlen zur Einführung. Hamburg 2000.
Scheler, Max: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungs- Thies, Christian: Einführung in die philosophische Anthro-
lehre [1923/24] (= Gesammelte Werke, Bd. 6). Hg. von pologie. Darmstadt 22009.
Maria Scheler. Bern 21963. Vandenrath, Johannes: Schopenhauer und die heutige Lage
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die mate- der Menschheit. In: Schopenhauer-Jahrbuch 53 (1972),
riale Wertethik: Neuer Versuch der Grundlegung eines ethi- 124–141.
schen Personalismus [1913–16] (= Gesammelte Werke,
Bd. 2). Hg. von Maria Scheler. Bern 1966. Gabriele Neuhäuser
368 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

42 Kritische Theorie überrascht. Seither stand die Frage im Raum, wie


Horkheimer diese gegensätzlichen Denkansätze, phi-
Die Schulhäupter der Kritischen Theorie haben sich in losophischer Pessimismus hier und emanzipatorischer
verschiedenen Etappen ihrer intellektuellen Entwick- Anspruch auf Realisation der Philosophie dort, vereint
lung mehr oder minder intensiv auch an der Philoso- wissen wollte. Es kennzeichnet Horkheimers pessimis-
phie Schopenhauers abgearbeitet. Neuere Forschung tisch gefärbten Blick auf Geschichte, dass er sie mit Be-
begibt sich in zunehmendem Maße im Werk Theodor zug auf Schopenhauer als Leidensgeschichte interpre-
W. Adornos (1903–1969) auf Spurensuche (vgl. Peters tiert. Weiteren Aufschluss über die Entstehung der
2014) und wird dort insbesondere in den Schriften zur Kritischen Theorie Horkheimerscher Provenienz gibt
Ästhetik fündig, die über die bedeutsame Kategorie ein Abschnitt des Vorworts zur Neupublikation seiner
des Naturschönen hinaus eine gewisse Nähe zu den Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung:
Ansichten Schopenhauers aufweisen (vgl. Birnbacher
2002). Dennoch ist es in erster Linie den intensiven »Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment
Auseinandersetzungen Max Horkheimers (1895– jedes genuinen materialistischen Denkens, war seit je
1973) und Alfred Schmidts (1931–2012) zu verdan- mir vertraut. Meine erste Bekanntschaft mit Philoso-
ken, dass heutige Interpreten nicht mehr verwundert phie verdankt sich dem Werk Schopenhauers; die Be-
darüber sind, den Namen Schopenhauers im Zusam- ziehung zur Lehre von Hegel und Marx, der Wille zum
menhang mit der Kritischen Theorie zu vernehmen. Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität ha-
ben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfah-
rung seiner Philosophie nicht ausgelöscht. Die bessere,
Max Horkheimer
die richtige Gesellschaft ist ein Ziel, das mit der Vor-
Horkheimers erste Begegnung mit Philosophie ver- stellung von Schuld sich verschränkt« (Horkheimer
dankt sich dem Werk Schopenhauers, auf das ihn 1968, XII f.).
Friedrich Pollock (1894–1970) aufmerksam machte,
als die beiden 1913 – wie einst Schopenhauer – zu 1971 heißt es in dem Aufsatz »Pessimismus heute«, der
Kaufleuten bestimmt berufsvorbereitende Aufenthal- »Sinn des Lebens« erweise sich angesichts des unauf-
te in Brüssel, Manchester und London verbrachten. Er haltsam voranschreitenden Niedergangs der Vernunft
wurde also mit der Gedankenwelt Schopenhauers be- als »Halluzination«. Noch sei zwar die Welt und das
kannt, noch ehe er »das Abitur gemacht hatte« (HGS Leben in ihr nicht vollends Objekt totaler Verwaltung,
7, 452). An die Lektüre der »Aphorismen zur Lebens- gleichwohl habe Schopenhauer die richtige »Kon-
weisheit« schloss sich recht bald das eingehende Stu- sequenz« aus der »Einsicht in die Schlechtigkeit des ei-
dium des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstel- genen Lebens, das vom Leiden anderer Kreaturen sich
lung an. Bereits 1918 wird Horkheimer als Mitglied nicht trennen läßt«, gezogen und zu Recht auf »die
der Schopenhauer-Gesellschaft aufgeführt (vgl. Hüb- Einheit mit den Leidenden, mit Mensch und Tier« hin-
scher 1974, 86) und 1966 wird ihm die Ehrenmitglied- gewiesen und die Angst vor der »Abkehr von der Ei-
schaft verliehen. Im Rückblick auf seinen intellektuel- genliebe, vom Drang zu individuellem Wohlergehen
len Werdegang betont er 1972, dass Schopenhauer in als letztem Ziel« mindern wollen (HGS 7, 227 f.).
seinem »Leben nicht nur eine wichtige Rolle gespielt« Gleichwohl behält der hoffnungsvolle Gedanke an die
habe, sondern dass »die Kritische Theorie [...] sehr viel richtige Einrichtung der Welt bis zuletzt auch für
von Schopenhauer« enthalte, der eben nicht gesagt Horkheimer seine Gültigkeit. Bereits Gunzelin Schmid
habe, »daß wir das schlechthin Gute nicht bezeichnen Noerr hat darauf hingewiesen, dass die »geläufige Fest-
können«, sondern »sagt: ›Letzten Endes ist das Wesen legung des späten Horkheimers auf ›Pessimismus‹ im
aller Dinge das Schlechte, nämlich der Wille zum Le- Sinne eines Erlahmens der Kritischen Theorie falsch
ben [...]‹« (HGS 7, 452). ist« (Schmid Noerr 1985, 467). Denn Horkheimer,
Als Horkheimer 1969 während eines in Venedig ge- führt Schmid Noerr aus, »sieht [...] den zeitgemäßen
haltenen Vortrags eher beiläufig äußerte: »Die beiden und lehrreichen Pessimismus in Schopenhauers Phi-
Philosophen, welche die Anfänge der Kritischen Theo- losophie vor allem dort, wo diese die szientistische
rie entscheidend beeinflußt haben, waren Schopen- Weltsicht, die Bedeutungslosigkeit des Subjekts, auf
hauer und Marx« (HGS 8, 336), hat er damit nicht nur den Begriff bringt und dessen reale Depotenzierung
Außenstehende des Instituts für Sozialforschung, son- durch die fortschreitende Automatisierung und deren
dern sicherlich auch einige seiner engeren Mitarbeiter Folgen spekulativ vorwegnimmt« (ebd.).
42  Kritische Theorie 369

Horkheimer ist nach dem bisherigen Gang der Ge- Schopenhauers« (1961), »Religion und Philosophie«
schichte davon überzeugt, dass der »Kern des Lebens (1966) und »Schopenhauers Denken im Verhältnis zu
selbst« durch »Qual und Sterben« gekennzeichnet ist Wissenschaft und Religion« (1971).
(HGS 1, 173). Zvi Rosen weist zu Recht darauf hin, An Schopenhauers wegweisender Rolle für die Be-
dass Horkheimer die »Anschauung, daß das Leiden gründung einer kritischen Theorie der Gesellschaft
den Inhalt der Geschichte bildet«, bereits durch den sollte demnach kein Zweifel bestehen. Zu ergänzen
»Einfluß des Judentums« geläufig war. Gleichwohl bleibt: Schopenhauers Präsenz in Horkheimers Früh-
verdanke sich Horkheimers »philosophische Vorstel- schriften und in seiner Spätphilosophie ist nicht von
lung bezüglich des Leidens als individuelle und zu- der Hand zu weisen, aber sie ist noch all jenen ein Är-
gleich metaphysische Kategorie [...] Schopenhauer« gernis, die Horkheimer als Mitbegründer der Frank-
(Rosen 1995, 67). Interessant in diesem Zusammen- furter Schule, als Neomarxisten und Soziologen eti-
hang ist ferner Horkheimers frühes Interesse, das ne- kettieren und die Aktualität dieses Teils der Schopen-
ben dem aufkeimenden Drang zur unerbittlichen hauer-Rezeption vielleicht gerade deshalb verkennen,
Analyse des Bestehenden auch »der Mentalität der weil sie eine verfehlte Vorstellung von der Kritischen
Menschen« (ebd.) gilt. Der Grundzug des Schopen- Theorie haben (vgl. Schirmacher 1983, 29; Jay 1981,
hauerschen Philosophierens, die Einsicht in die ewige, 66 f.) oder von Schopenhauer.
weil unabwendbare Wiederkehr von Leid und Tod,
bildet für Horkheimer das antithetische Korrektiv zu
Alfred Schmidt
Hegels Verständnis der Weltgeschichte als Einsicht in
eine ›Seinsordnung‹, aus der ›die historischen Tatsa- An dem Vergessen anheimgegebene materialistische
chen allererst‹ hervorgehen sollen. Einsprachen wider die in der Geschichte der Philoso-
Der frühe Horkheimer stand zunächst der »trans- phie vorherrschenden Idealismen zu erinnern und
zendentalen Systematik« seines neukantianischen insbesondere im Anschluss an den historischen Mate-
Lehrers Hans Cornelius (1863–1947) nahe, wandte rialismus weiterzuführen, war bereits in den 1930er
sich dann aber recht unvermittelt etwa Mitte der 1920er Jahren ein Ziel der Arbeiten des Instituts für Sozialfor-
Jahre von der akademischen Philosophie überhaupt ab. schung. Der Materialismus-Forscher, der seine Denk-
Alfred Schmidt hebt hervor, dass auch Schopenhauer bewegungen wie kein anderer an dieses Projekt an-
zuknüpfen wusste, war Alfred Schmidt. Als der letzte
»seinerzeit im Schülerkreis um den Frankfurter Privat- originäre Repräsentant dieser, der traditionellen Theo-
dozenten zu den häufig erörterten Themen gehört ha- riebildung entgegengesetzten Denkhaltung war er wie
ben [dürfte]. Dafür spricht, daß Heinz Maus (1911– ihr spiritus rector bekennender Schopenhauerianer.
1978), [...] sich in seiner Dissertation eingehend mit Wie kein anderer hat Schmidt die wechselnden, er-
Schopenhauer befaßt hat. Horkheimer, der die Schrift kenntnisleitenden Motive in Horkheimers Denken,
Kritik am Justemilieu. Eine sozialphilosophische Studie insbesondere die vier Dekaden andauernde kritische
über Schopenhauer in vollem Umfang erst nach dem Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopen-
Zweiten Weltkrieg zu Gesicht bekam, hat sich in einem hauers nicht nur herausgearbeitet und dokumentiert,
Brief an Maus lobend über sie ausgesprochen: ›Ihre sondern, dabei eigene Wege beschreitend, sub specie
echt dialektische Ansicht von Schopenhauer, der Nach- des Materialismusproblems qualitativ weitergeführt.
weis des Umschlags von metaphysischem Pessimis- Als Schmidt im Jahr 2003 seine Vorträge und Auf-
mus in soziale Apologetik, hat mich besonders beein- sätze über die Philosophie Schopenhauers für die Wie-
druckt‹« (Schmidt 2004, 11). der- bzw. Erstveröffentlichung unter dem Titel Tugend
und Weltlauf ordnete und zusammenstellte, wurde er
Horkheimers – gegenüber der ersten Rezeptionsphase sich »des wechselvollen Wegs seiner Beschäftigung
nun distanzierteres – Verhältnis zu Schopenhauer ist mit Schopenhauer bewußt« (Schmidt 2004, 96).
in dieser Phase seiner Aneignung durch einen ideo- Schmidt war – auch um den Preis, als ›weißer Rabe‹
logiekritischen Blick gekennzeichnet. Erst in seinen unter den Schopenhauer-Forschern zu gelten – bis zu-
Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre nähert sich letzt von der »Aktualität gerade auch der metaphysi-
Horkheimer wieder Schopenhauer an. Die nachste- schen Erwägungen Schopenhauers überzeugt« (ebd.,
hende Auswahl einiger Titel zeugt von der abermals 85). Erwin Rogler sieht denn auch in dessen Weige-
geänderten Blickrichtung (vgl. ebd., 12): »Schopen- rung, Schopenhauer als einen Klassiker abzutun, ein
hauer und die Gesellschaft« (1955), »Die Aktualität bestimmendes Moment seiner Schopenhauer-Rezep-
370 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

tion und -Kritik, die sich zudem dadurch auszeichne, des innersten Wesens der der gesammten Natur« (W I,
dass sie den Fokus richte »auf die späteren Publikatio- 130) bietet (s. Kap. 6.4).
nen Schopenhauers (N, W II, P I, P II) und die hier Leider kann die Fülle der erkenntnisleitenden Mo-
deutlich hervortretenden naturalistisch-materialisti- tive der Schmidtschen Schopenhauer-Rezeption und
schen Elemente seiner Philosophie« (Rogler/Görlich -Kritik hier nicht in extenso dargestellt werden. He-
2007, 174). In der umfangreichen Vorrede zu Tugend rauszugreifen und ausführlicher zur Sprache zu brin-
und Weltlauf fasst Schmidt selbst die Schwerpunkte gen sind folgende vier Motive: (1) Einbezug Schopen-
seiner Schopenhauer-Forschung in ihrer Entwicklung hauers in das Projekt einer Rekonstruktion der Ge-
zusammen: schichte des Materialismus, wie er in den 1970er Jah-
ren erfolgte, (2) Schopenhauer als Prüfstein einer
»Handelte es sich für den Autor zunächst darum, das materialistischen Erkenntnislehre, (3) Willenslehre
von Horkheimer früh in die Diskussion gebrachte Ver- und Materialismus, (4) induktive Metaphysik, Physio-
hältnis Schopenhauers zu Marx näher zu untersuchen, logie, Kritischer Materialismus und Subjektivität (vgl.
so wandte sein Interesse sich bald der Frage nach Ein- Koßler 2014).
heit und Differenz von Idealismus und Materialismus
zu, wie sie sich darstellt in Schopenhauers Erkenntnis- 1) Schopenhauers unbeabsichtigter Beitrag zur Ge-
und Willenslehre. Später war der Verfasser bemüht, schichte des Materialismus: Wer immer sich die Rekon-
das komplizierte Ineinander von Physik und Metaphy- struktion der Geschichte des philosophischen Mate-
sik bei Schopenhauer näher zu bestimmen, sein my- rialismus zur Aufgabe macht, sieht sich unweigerlich
thisch-allegorisches Verständnis von Religion sowie mit der historiographischen Widrigkeit konfrontiert,
den sachlichen Hintergrund seiner gegen Hegel gerich- dass materialistische Positionen in der Geschichte der
teten Schimpfkanonaden. Beim Studium von Schopen- Philosophie ›eher kaleidoskopisch‹ auftreten, keines-
hauers Kunstauffassung stieß er auf das bedeutende, falls aber eine in ihr durchgängig vertretene Alternati-
in Adornos Ästhetischer Theorie wiederkehrende Motiv ve zum Idealismus darstellen. Damit ist der denkprak-
einer Rettung des Naturschönen« (Schmidt 2004, 98). tische Vorzug einer »Konstruktion eines einheitlichen
Problemzusammenhangs« unrettbar dahin, an seine
Während der letzten Jahre galt Schmidts Interesse »vor Stelle hat ein detektivisch geschärftes Bewusstsein da-
allem dem Verhältnis von Schopenhauer und Freud, von zu treten, dass es die jeweils »handfest-geschicht-
das sich keineswegs darin erschöpft, daß bei diesem als lich[.], historisch zu bewältigende[n] Aufgaben« auf-
Wissenschaft auftritt, was bei jenem Spekulation zuspüren gilt, die stets im »Zentrum materialistischen
bleibt« (ebd.; s. Kap. 31). Das genuine Forschungsinte- Denkens« stehen (Schmidt 1977, 142). Dieses Problem
resse, den Begriff eines Kritischen Materialismus in- hat Schmidt bis zuletzt umgetrieben. Seine diesbezüg-
haltlich sukzessive zu konkretisieren, bleibt bestim- liche Unruhe führte ihn in den 1970er Jahren auch zur
mend auch für Schmidts Beitrag zur Schopenhauer- erneuten »Auseinandersetzung« mit »Schopenhauers
Freud-Frage. Philosophisch bedeutsam ist – in diesem System«, die durch das Bestreben gekennzeichnet ist,
Zusammenhang – der Übergang zur Metaphysik in- »trotz Schopenhauers« unzähligen Invektiven gegen
nerhalb der doppelten Betrachtungsweise des Leibes, den reduktiv-mechanistisch argumentierenden Vor-
der zunächst, diskursiver Logik folgend, innerhalb der marxschen Materialismus »eine lückenlos materialis-
phänomenalen Welt ein Objekt unter Objekten ist und tische Grundierung seines Systems nachzuweisen«
damit dem Satz vom Grunde unterworfen bleibt, so- (Schmidt 2004, 85). Schmidts an Schopenhauer neu
dann aber die via regia zum sinnverstehenden Ausdeu- gewonnene Grundeinsicht besteht darin, dass sich die
ten des Wesens der Welt eröffnet, der notwendig das seit Platon und Demokrit zunächst auf zwei miteinan-
hermeneutische Verständnis des Leibes vorgeordnet der im Widerstreit befindlichen Lager verteilte Kon-
ist. Indem das reflektierte Leib-Sein zu der intuitiven troverse Materialismus oder Idealismus »häufig auch
Erkenntnis der »dranghaft-somatischen Tiefenstruk- innerhalb ein und desselben Denkzusammenhangs«
tur des Selbstbewusstseins« (Schmidt 2012, 49) führt, aufweisen lässt (ebd., 26). Diese Überlegungen führen
erweitert sich bei Schopenhauer »die philosophische Schmidt, der sich dabei auf die Vorarbeiten von Hans
Entdeckung des Leibes zu der des Unbewussten im Naegelsbach (1927) und Ernst Bloch (1972) stützen
Freud’schen Sinn« (ebd.): der zum empirischen Cha- kann, zu der unorthodoxen und – zunächst befremd-
rakter objektivierte Wille, der mittels des sogenannten lich wirkenden – These, dass die »Schopenhauersche
›Analogieschlusses‹ den »Schlüssel [...] zur Erkenntniß Philosophie in die Geschichte sowohl des Materialis-
42  Kritische Theorie 371

mus als auch der idealistischen Erkenntnistheorie« scheinung sich als wesentlich erweist. Damit verflüs-
(Schmidt 2004, 30) gehört. sigt sich die Differenz zwischen dem Willen selbst und
der Materie, dem allgegenwärtigen, Realität verbür-
2) Schopenhauer als Prüfstein einer materialistischen genden Substrat seiner ›Sichtbarkeit‹. Materie und
Erkenntnislehre: Ein angemessenes Urteil des von Wille rücken zusammen; mehr noch: sofern der Wille
Schmidt gewählten Interpretationsschlüssels hat seine sich gegenständlich manifestiert [...], ist er mit der Ma-
in den frühen 1970er Jahren wirksam werdende In- terie identisch, die den ›Grundstein der Erfahrungs-
tention zu berücksichtigen, den von ihm inaugurier- welt‹ bildet. Wille und Materie stimmen überein in den
ten Kritischen Materialismus durch einen am Praxis- Kategorien der Einheit, Totalität, Substanz und Ewig-
begriff orientierten materialistischen Kritizismus zu keit« (ebd., 29).
erweitern. Gerade wegen seiner entschiedenen Kritik
des Materialismus bezog Schmidt Schopenhauer ein. Diese Relativierung des »zunächst peinlich beachte-
Der »Reiz« der Schopenhauerschen Philosophie be- ten Abstand[s] von Physik und Metaphysik« führt
stand für Schmidt insbesondere darin, dass sie sich nach Schmidt dazu, dass der Materialismus in den
der Sache nach »weder für noch gegen den Materialis- späteren Schriften Schopenhauers an »metaphysi-
mus in Anspruch nehmen« lässt (ebd., 105). Gerade sche[r] Bedeutung« gewinnt (ebd.). Dabei werde der
deshalb hat »materialistisches Denken« an Schopen- leiblich erfahrene Wille »von Schopenhauer bald als
hauer »sich zu bewähren« und darf in Fragen der Er- psychoides, bald als stofflich-energetisches Agens be-
kenntnistheorie nicht »hinter das bei ihm Erreichte schrieben« (ebd., 29 f.).
[...] zurückfallen« (ebd.). Gleiches gelte von seinem
anthropologischen und moralphilosophischen Pro- 4) Induktive Metaphysik, Physiologie, Kritischer Mate-
blembewusstsein. rialismus und Subjektivität: Im Horizont der Freud-
schen Psychoanalyse ist Schopenhauers psychiatri-
3) Willenslehre und Materialismus: Schmidt geht mit scher Exkurs, der zwar »nur ein schmales Segment
Bloch davon aus, dass gerade der »kryptomaterialisti- seines Gesamtwerks bildet«, für Schmidt sub specie
sche Grundzug« (ebd., 32) in Schopenhauers Willens- des Verhältnisses von Materialismus und Subjektivität
lehre nicht von der Hand zu weisen ist. Schmidt ist be- »philosophisch von erheblichem Gewicht« (ebd., 78).
strebt aufzuweisen, Schopenhauers erkenntnistheoretischer Grundauf-
fassung nach sind, wie bereits ausgeführt, »der Intel-
»daß Schopenhauers Aufnahme des physiologischen lekt und die Materie Korrelata« (W II, 18), weshalb er
Gesichtspunkts in seine Vorstellungslehre deren [...] dem traditionellen Materialismus vorwirft, »die Phi-
transzendentale Grundlage [...] ersetzt: Erkenntnis er- losophie des bei seiner Rechnung sich selbst verges-
weist sich als Naturprozeß; zum anderen zeigt sich, senden Subjekts« (W II, 15) zu sein. Der Kritische Ma-
daß Schopenhauer, indem er, über Kant hinausgehend, terialismus aber bereitet, worauf Bernard Görlich zu
das Ding an sich als Wille, das heißt als erkennbare, Recht hinweist, »einer entfalteten Philosophie der
transsubjektive Wirklichkeit bestimmt, ein vorkritisch- Subjektivität auf genuine Weise den Boden« (Rogler/
abbildrealistisches Erkenntnisinteresse verfolgt, das Görlich 2007, 177).
sich eigenartig verschränkt mit Einwänden seines phy- Während Adorno und Horkheimer, worauf Martin
siologischen Idealismus« (ebd., 33 f.). Jay hinweist, »Freud’sche[.] Kategorien« an ihre ein-
schlägigen »empirischen Untersuchungen anlegten«
Schmidts Interpretation geht von der Doppeldeutig- (Jay 2009, 144), geht Schmidts Freud-Interpretation
keit des Willens aus, die eher der Brüchigkeit aller Kultur nach, die in Orientie-
rung an den von Descartes aufgeworfenen, dem mo-
»zwei einander schroff widersprechende Weltansich- dernen Bewusstsein zugrundeliegenden Leib-Seele-
ten impliziert, die Schopenhauer nicht zu vereinbaren Dualismus ihre Abkunft aus dem Schoße der Natur
vermag. Als Inbegriff des Verwerflichen, moralisch zu verleugnet. Im Anschluss an Schopenhauer, Marx und
Verurteilenden ist er zugleich das dechiffrierte Ding an Freud erarbeitet Schmidt seinen Naturbegriff als ein
sich: der welt-immanente Schlüssel zum Verständnis Ganzes von Konstellationen, das allein seiner Idee ei-
der Welt. An die Stelle des Kantischen Dualismus von nes Kritischen Materialismus angemessen ist. Fragen
Erscheinung und Ding an sich tritt bei Schopenhauer nach dem schwierigen Ineinander von innerer Natur
eine Dialektik, worin das Wesen erscheint und die Er- und Kultur, dem unentwirrbaren Vermittlungszusam-
372 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

menhang von Naturalem und Menschlichem, wobei gänge an sich unbewußt sind und nur durch eine un-
diesem der Vorrang vor jenem innerhalb dieser Ver- vollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem
mittlung zukommt, führen Schmidt auf die Spur der Ich zugänglich und ihm unterworfen« sind (FGW XII,
»›naturalistischen‹ Aspekte in Freud«, der er intensiv 11), entspricht Schmidt zufolge »– mutatis mutandis –
folgt und durch korrespondierende Motive Schopen- der Schopenhauerschen Lehre, daß sich der blinde, er-
hauers zu erhellen sucht. Denn diese aufgenommene kenntnislose Wille in den durch die subjektive Er-
Spur führt »nicht etwa weg von der Idee der gesell- kenntnisapparatur vorgeprägten Formen objekti-
schaftskritischen Dimension der Psychoanalyse, son- viert« (Schmidt/Görlich 1995, 85). Es kennzeichnet
dern verhilft ihr allererst zum Durchbruch« (Schmidt/ Schmidts neue Lesart Schopenhauers, dass sie ihn
Görlich 1995, 97). Im Bewusstsein der Schrecken, durch eine »deutlich materialistische, die idealistische
Greul und der schier unbegreiflichen Zahl der Opfer, Erkenntnislehre sprengende Tendenz« mit Freud ver-
die Holocaust und Zweiter Weltkrieg gefordert haben, bunden sieht (ebd., 85). Der »Stachel der Freudschen
stellt Schmidt im Einklang mit Horkheimer den Vor- Theorie« im Fleische des naturvergessenen Bewusst-
zug des Schopenhauerschen Antihistorismus heraus: seins (dem nach einem Wort Schopenhauers geflügel-
»Das hartnäckige Zögern Schopenhauers, Geschichte ten »Engelskopf ohne Leib«, W I, 118) besteht in der
den Status einer Wissenschaft zuzubilligen, ist Aus- auf rationalem Weg gewonnenen Einsicht, dass das
druck seines strengen Nominalismus, das heißt der »Naturreich in uns und außerhalb von uns [...] unse-
Weigerung, Kollektive wie Volk, Nation, gar Rasse zu rem rationalen Zugriff weithin entzogen« bleibt
fetischisieren« (Schmidt 2004, 436; vgl. hierzu auch (Schmidt/Görlich 1995, 97).
Rosen 1995, 143). Was Schopenhauer seinem geistigen Zögling und
Schopenhauers Bedeutung für den entwickelten späteren Kritiker Nietzsche voraus hat, ist seine inten-
Begriff eines reflektierten Materialismus hat Schmidt sive, wissenschaftlich geführte Auseinandersetzung
hoch veranschlagt: »Die paradoxale, in Schopenhauer mit der Physiologie seiner Zeit. Dennoch macht ihn
enthaltene Einheit von Physik und Metaphysik, von diese Bezugnahme keineswegs zu einem Materialis-
Leben und Tod hat es seinen Nachfahren ermöglicht, ten: »Cabanis’ Resultate«, führt Schmidt aus, »sind,
das bisher im Sinn entschiedener Gegnerschaft inter- für sich genommen, materialistisch; doch gewinnt sei-
pretierte Verhältnis von Materialismus und Metaphy- ne die empirische Welt unbefragt akzeptierende Be-
sik neu zu überdenken« (Schmidt 2004, 88). Mit der trachtungsweise des Intellekts [...] philosophische Re-
»wachsenden Bedeutung psychoanalytischer Fra- levanz erst dadurch, daß sie Schopenhauer als Unter-
gestellungen« verlagerte sich gegen Ende der 1970er bau eines erkenntnistheoretischen Subjektivismus
Jahre Schmidts »Interesse an einer materialistischen dient, der jene Welt herabsetzt zum bloßen Derivat«
Lesart Schopenhauers von der Erkenntnistheorie auf (Schmidt 2004, 54; s. auch Kap. 23) – soweit Schopen-
die Metaphysik [...]: vom physiologischen Idealismus hauers idealistisches Selbstverständnis. Letztlich aber
auf den Triebnaturalismus« (ebd., 50). bleibt Schopenhauer, unbeschadet all seiner Vor-
Das Phänomen des Unbewussten und die Verdrän- behalte, für Schmidt mit dem Materialismus verbun-
gungslehre, die Rolle der Sexualität, die kulturstiften- den durch »das Prinzip einer selbst-genügsamen, aus
de Rolle des Eros und die metaphysische Bedeutung sich zu erklärenden Natur« (ebd., 55).
des Todes sind die philosophisch bedenkenswerten Das Interesse an der Physiologie teilt Schopenhauer
Themen, die Schmidt insbesondere im IV. Kapitel sei- (auch) mit Freud, der bekanntlich von der Neurophy-
ner Studie »Von der Willensmetaphysik zur Metapsy- siologie zur Psychoanalyse überging. Nach Alfred Lo-
chologie. Schopenhauer und Freud« (1999/2003) ein- renzer erweist sich die »Psychoanalyse als ›Naturwis-
gehender erörtert. senschaft‹ oder, methodisch genauer ausgewiesen, als
Den in diesem Zusammenhang bedeutendsten As- Hermeneutik des Leibes« (Lorenzer 1988, 170). Loren-
pekt der Schopenhauerschen Philosophie erblickt zers sozialisationstheoretische Auslegung des Freud-
Schmidt in dem »Ansatz zu einer Psychologie des Un- schen Unbewussten sucht einerseits den Brücken-
bewußten, wie er in der Lehre vom Primat des Willens schlag zwischen Psychoanalyse und Neurowissen-
im Selbstbewußtsein entfaltet wird« (Schmidt 2004, schaft. Andererseits strebt ihre materialistisch rekon-
60). Schmidt geht es primär um die Schwierigkeiten, struierte Konzeption von Subjektivität als differenzierte
die sich aus einer philosophischen Freud-Rezeption Praxisfiguration des komplexen »Zusammenhangs
und einer psychoanalytischen Lesart Schopenhauers von Trieb, innerer Natur und Interaktionsform« inner-
ergeben. Freuds These, wonach die »seelischen Vor- halb der Perspektive Kritischer Theorie ein Arbeits-
42  Kritische Theorie 373

bündnis mit Schmidts »geschichtsmaterialistischer In- (Schmidt 2004, 85). Für Schmidt erwies es sich, Scho-
terpretation des Verhältnisses von Natur und Ge- penhauer derart gegen den Strich lesend, als auf-
schichte« an (Görlich 2012, 75). schlussreich der »mehrschichtigen Problematik des
Diesem Berührungspunkt nähert sich Schmidt Materialismus« in seinem Werk »genauer nachzuge-
durch seine behutsam-kritische Auseinandersetzung hen, die freilich verwoben ist in seine ›idealistische
mit Schopenhauer und Freud an, deren Verhältnis Grundansicht‹. Bei aller erkenntnistheoretischen und
»nicht auf eine bündige Formel« gebracht werden ethischen Distanz des Philosophen zum Materialis-
kann (Schmidt 2004, 424). Vielmehr sei es so, dass die mus bildet letzterer, triebnaturalistisch gefärbt, die Ba-
»Werke beider Denker einander wechselseitig« erhell- sis seiner Metaphysik, soweit sie den Anspruch erhebt,
ten (ebd.). Verbindendes Moment ist – durch his- die Welt einheitlich zu erklären« (ebd., 80).
torisch wechselnde Konstellationen von Natur und
Geschichte hindurch – die vertikale Dimension des Literatur
leiblich-sinnlich Unbewussten. Schmidt kann zeigen, Birnbacher, Dieter: Schopenhauer und Adorno – philoso-
dass Schopenhauer durch die »Kritik der Relikte des phischer Expressionismus und Ideologiekritik. In: Ders./
Andreas Lorenz/Leon Miodonski (Hg.): Schopenhauer im
cartesianischen, von Kant nur teilweise beseitigten Ra- Kontext. Deutsch-polnisches-Symposium 2000. Würzburg
tionalismus« zu einer »Einsicht ins Wesen des organi- 2002, 223–239.
schen Lebens« vorstößt, die ihn »zu einer den Denk- Bloch, Ernst: Das Materialismusproblem, seine Geschichte
ansatz der Psychoanalyse vorwegnehmenden Neufas- und Substanz. Frankfurt a. M. 1972.
sung des Leib-Seele-Problems« führt (ebd., 57). »Hin- Görlich, Bernard: Über die Widerständigkeit des Subjekts.
Alfred Lorenzers Auslegung der Freud’schen Erkenntnis
ter Schopenhauers spekulativer Behauptung, der Wille
des Unbewussten. In: Psychosozial 128/II (2012), 63–80.
sei dem Organismus, worin er sich manifestiert, vor- Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Hg. von Anna
geordnet, verbirgt sich«, wie Schmidt ausführt, »die Freud. London 1955 [FGW].
schwierige, bei Freud wiederkehrende Frage nach der Horkheimer, Max: Kritische Theorie. Bd. 1. Hg. von Alfred
Seinsart von Triebvorgängen sub specie ihrer biologi- Schmidt. Frankfurt a. M. 1968.
schen Grundlagen« (ebd., 58). Da der Triebreiz aus Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Hg. von Gunzelin
Schmid Noerr und Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.
dem Inneren des Leibes hervorgeht, changiere das 1985 ff. [HGS].
»von den Sexualtrieben angestrebte Ziel« eigentümlich Hübscher, Arthur: Zum Tode Max Horkheimers. In: Scho-
»zwischen Körperlichem und Psychischem« (ebd.). penhauer-Jahrbuch 55 (1974), 86–89.
Freuds negative Auffassung des Lustprinzips als eines Jay, Martin: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frank-
Regulators, der zur Abfuhr von Erregungspotenzialen furter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–
1950. Frankfurt a. M. 1981.
dient, verleiht der von ihm inaugurierten Psychoana-
Jay, Martin: Die Antisemitismusanalyse der Kritischen
lyse eine »pessimistische Note, die sie mit Schopen- Theorie. In: Monika Boll/Raphael Gross (Hg.): Die Frank-
hauers Metaphysik verbindet« (ebd., 348). Was Freud furter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutsch-
aber deutlicher noch mit dem weltflüchtenden Scho- land. Frankfurt a. M. 2009, 136–149.
penhauer verbindet, ist »der Hinweis auf die erhebli- Jeske, Michael: Pessimistischer Materialismus: Die Rolle
che soziokulturelle Rolle der Sexualität« (ebd., 338). Schopenhauers in Horkheimers Kritischer Theorie. In:
Aufklärung und Kritik (Schwerpunkt Arthur Schopen-
Schmidt, der sich differenziert mit Freuds ambiva-
hauer) 23/2 (2016), 149–160.
lenter bis ablehnender Haltung gegenüber der Phi- Koßler, Matthias: Alfred Schmidts materialistische Scho-
losophie auseinandergesetzt hat (vgl. ebd., 327–354), penhauer-Interpretation. In: Schopenhauer-Jahrbuch 95
verweist auf Freuds Bezugnahme in der Abhandlung (2014), 147–156.
über die »Widerstände gegen die Psychoanalyse«, an Lorenzer, Alfred: Hermeneutik des Leibes. Über die Natur-
dieser für sein wissenschaftliches Selbstverständnis wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse. In: Merkur 42
(1988), 838–852.
zentralen Stelle auf Schopenhauer, der bereits »in Naegelsbach, Hans: Das Wesen der Vorstellung bei Schopen-
Worten von unvergeßlichem Nachdruck« auf die »un- hauer. Heidelberg 1927.
vergleichliche Bedeutung des Sexuallebens« hinge- Peters, Mathijs: Schopenhauer and Adorno on Bodily Suffe-
wiesen hat (FGW XIV, 105). Wo Schmidt eine mate- ring. A Comparative Analysis. Basingstoke 2014.
rialistische Lesart der Schopenhauerschen Philoso- Rogler, Erwin/Görlich, Bernard: Rezension »Alfred
Schmidt. Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze
phie anregt, geht »es ihm, unter wechselnden Ge-
über die Philosophie Schopenhauers«. In: Schopenhauer-
sichtspunkten, primär um den Materialismus der Jahrbuch 88 (2007), 174–179.
Sache selbst, das heißt um seine diagnostisch-kriti- Rosen, Zvi: Max Horkheimer. München 1995.
sche Rolle, nicht um Affirmation des Weltlaufs« Ruggerie, Davide: Schopenhauer’s Legacy and Critical
374 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Theory. Reflections on Max Horkheimer’s Unpublished Schmidt, Alfred: Fortschritt, Skepsis und Hoffnung. Katego-
Archive Material. In: Schopenhauer-Jahrbuch 96 (2015), rien der Geschichtsphilosophie Max Horkheimers. In:
93–108. Monika Boll/Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule
Schirmacher, Wolfgang: Schopenhauer bei neueren Philoso- und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Frank-
phen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 64 (1983), 28–38. furt a. M. 2009, 96–107.
Schmid Noerr, Gunzelin: Nachwort des Herausgebers. In: Schmidt, Alfred: Von den philosophischen Ärzten des
Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Frankfurt 18. Jahrhunderts zu Feuerbach, Schopenhauer und Nietz-
a. M. 1985, 457–471. sche. In: Michael Jeske/Matthias Koßler (Hg.): Philosophie
Schmidt, Alfred: Zum Begriff des Glücks in der materialisti- des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach.
schen Philosophie. In: Ders.: Drei Studien über Materialis- Würzburg 2012, 11–57.
mus. Schopenhauer. Horkheimer. Glücksproblem. München Schmidt, Alfred/Görlich, Bernard: Philosophie nach Freud.
1977, 135–195. Das Vermächtnis eines geistigen Naturforschers. Lüneburg
Schmidt, Alfred: Tugend und Weltlauf. Vorträge und Auf- 1995.
sätze über die Philosophie Schopenhauers (1960–2003).
Frankfurt a. M. 2004. Michael Jeske
43 Neurophilosophie 375

43 Neurophilosophie losophischen Überlegungen nur eine untergeordnete


Rolle, auf ihn und sein Denken wird bis auf Ausnah-
Die Neurophilosophie ist eine, zumindest wenn man men wie Kuhlenbeck (der als Neurophilosoph avant
von der Einführung des Begriffs durch Churchland in la lettre seine Ansichten zu Schopenhauer bereits in
den 1980er Jahren ausgeht, noch relativ junge Diszip- den 1960er Jahren formulierte) nicht explizit Bezug
lin, die sich an der Schnittstelle von Neurowissen- genommen. Schopenhauer hat jedoch nicht nur die
schaften und Philosophie befindet. Die Grundannah- Grundannahme der Neurophilosophie, sondern auch
me, die den Ausgangspunkt und kleinsten gemein- einige spezifische Probleme und Fragestellungen vor-
samen Nenner neurophilosophischer Überlegungen weggenommen, die in neurophilosophischen Diskus-
bildet, besteht aus zwei sich ergänzenden Teilen. Zu- sionen der Gegenwart eine wichtige Rolle spielen. Be-
nächst ist dies die Überzeugung, dass geistige Vorgän- sonders stechen hierbei Schopenhauers Ausführun-
ge und Bewusstseinsphänomene des Menschen auf gen zum Gehirnparadox und zur Freiheit des Willens
neuronale Grundlagen bzw. Gehirnprozesse zurück- hervor, die hier näher erläutert werden. Schopenhau-
führbar sind. Die Neurophilosophie basiert somit auf ers Lösungsansätze bleiben gegenüber den Antwor-
den Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen For- ten, die durch moderne neurophilosophische Theo-
schung und steht mit diesen in Einklang. Im Weiteren rien formuliert werden, zwar zurück, jedoch zeigt sich
geht die Neurophilosophie aber über die Resultate der die Kontinuität der Diskussion deutlich in der eigent-
Neurowissenschaften hinaus, indem sie die Notwen- lichen Problemstellung. Aus diesem Grund kann
digkeit voraussetzt, deren Ergebnisse aus philosophi- Schopenhauer durchaus als Vorläufer dessen gelten,
scher Sicht zu deuten und kritisch zu reflektieren (vgl. was man heute als Neurophilosophie bezeichnet.
Birnbacher 2005).
Der mit der Philosophie Schopenhauers bestens
Gehirnparadox
vertraute Neurologe Hartwig Kuhlenbeck hat in seiner
Würdigung Schopenhauers diesem bescheinigt, durch Das Gehirnparadox bei Schopenhauer hat seinen Ur-
sein Verständnis von geistigen Vorgängen und Be- sprung in den ›zwei Betrachtungsweisen des Intel-
wusstseinsphänomenen als ›Gehirnphänomen‹ den lekts‹, die er innerhalb seiner Erkenntnislehre formu-
»[...] unzertrennliche[n] Zusammenhang zwischen liert (vgl. Schmidt 2005). Das ist zunächst die subjekti-
Erkenntniskritik und Neurologie zum Ausdruck ge- ve Betrachtungsweise, die von innen ausgeht und die
bracht« zu haben (Kuhlenbeck 1961, 181). Dieses Ur- Welt als Manifestation des Bewusstseins darstellt. Die-
teil bestätigt, dass Schopenhauer die oben skizzierten se ›idealistische Grundansicht‹ lehnt sich eng an die
Minimalkriterien der Neurophilosophie erfüllt hat. Transzendentalphilosophie Kants an und fasst die ge-
Es war kein Zufall, dass Schopenhauer den Ergeb- samte objektive Wirklichkeit als Produkt bzw. Kon-
nissen der Naturwissenschaften im Allgemeinen und strukt des Subjekts auf; d. h. die Welt ist Vorstellung,
der Hirnforschung seiner Zeit im Besonderen größte ihre Existenz ist abhängig vom erkennenden Subjekt
Aufmerksamkeit schenkte, vor dem Hintergrund sei- und sie ist nie direkt erfahrbar, sondern basiert auf
ner eigenen Philosophie reflektierte und mit dieser in vom Subjekt verarbeiteten Sinneseindrücken.
Einklang zu bringen bemüht war. Sein ursprüngliches Darüber hinaus wird jedoch deutlich, dass Scho-
Interesse hatte der Medizin gegolten, er hatte sich penhauer mit seiner ›idealistischen Grundansicht‹
1809 in Göttingen zunächst als Student der Medizin auch einige weitergehende Annahmen verbindet: so
eingeschrieben. Obwohl recht schnell eine Hinwen- die Auffassung, dass durch diese Beschränkung des
dung zur Philosophie erfolgte, hörte er weiterhin aus- Erkennens jegliche Kenntnis von der Welt außerhalb
giebig medizinische Vorlesungen und befasste sich der Vorstellung unmöglich wird sowie die Annahme
auch nach seiner Studienzeit mit den aktuellen Ent- der vollkommenen Verschiedenartigkeit der Welt als
wicklungen in den für ihn interessanten Bereichen der Vorstellung und der dieser zugrundliegenden Welt an
Medizin und der Naturwissenschaften, zu denen auch sich; d. h. Merkmale wie Raum, Zeit und Kausalität,
die Hirnforschung seiner Zeit gehörte. Aus diesen die die Beschaffenheit der Welt als Vorstellung aus-
Quellen speiste sich sein Verständnis der ›Welt als machen, müssen nach Schopenhauer der realen Welt
Vorstellung‹ als Gehirnphänomen. an sich notwendig abgehen. Schopenhauers Idealis-
Obwohl Schopenhauers Ansatz offensichtlich mit mus ist somit als besonders rigoros zu bezeichnen,
der Grundannahme der Neurophilosophie überein- denn diese mit seinem Idealismus einhergehenden
stimmt, spielt Schopenhauer in modernen neurophi- Annahmen sind keineswegs so selbstverständlich, wie
376 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Schopenhauer glauben machen will. Es scheint bei- nicht als unlösbares Paradox aufgefasst, sondern sie
spielsweise durchaus denkbar, zumindest begrenzte ließ sich seiner Ansicht nach durch Berücksichtigung
Kenntnisse über die Welt an sich zu erlangen, wenn seiner Metaphysik des Willens relativieren und auf-
auch nicht auf dem direkten Wege der Beobachtung, lösen. Dieser Lösungsansatz hat jedoch die Mehrzahl
so aber doch z. B. mittels logischer Schlussfolgerun- der Kritiker nicht überzeugt, da sie die Übernahme
gen auf der Basis des Beobachteten. Auch scheint die der Willensmetaphysik Schopenhauers voraussetzt.
Annahme der totalen Verschiedenartigkeit der Welt Interessant ist, dass die Widersprüchlichkeit des
an sich und der Welt als Vorstellung kaum haltbar zu Gehirnparadoxes auch in modernen neurowissen-
sein, vor allem wenn man gleichzeitig der Ansicht ist, schaftlichen bzw. neurophilosophischen Überlegun-
dass man über die Welt an sich gar nichts wissen kann. gen anzutreffen ist, so z. B. bei Gerhard Roth, auch
Nach Schopenhauer ist es jedoch notwendig, diese wenn diese Überlegungen auf eine ›idealistische
subjektive Betrachtungsweise durch die objektive Be- Grundansicht‹ im Sinne Schopenhauers verzichten.
trachtungsweise zu ergänzen und zu bestätigen, da Aber auch nach Roth ist das Gehirn der Ausgangs-
diese »so sehr sie auch [...] einander entgegengesetzt punkt bzw. Konstrukteur der Wirklichkeit, die wir be-
sind, dennoch in Uebereinstimmung gebracht werden wusst wahrnehmen: »[...] alles, was wir überhaupt be-
müssen« (W II, 318 (ZA)). Die objektive Betrach- wusst wahrnehmen können, ist ein Konstrukt unseres
tungsweise tritt von außen an das Problem heran und Gehirns und keine unmittelbare Widerspiegelung der
versucht auf empirisch-naturwissenschaftliche Weise Realität« (Roth 1997, 342). Diese Position wird jedoch
zu erklären, wodurch der Intellekt möglich gemacht nicht wie bei Schopenhauer transzendentalphiloso-
wird, also welche physiologischen Prozesse im Gehirn phisch begründet, sondern aus den Resultaten der
ihn hervorbringen. Dies gleicht der Herangehenswei- Hirnforschung geschlossen. Allerdings müssen dann
se der modernen Neurowissenschaften. Schopenhau- konsequenterweise die empirischen Erkenntnisse, die
er wurde durch die Ergebnisse der physiologischen diese neurowissenschaftlichen Forschungen und
Untersuchungen des französischen Sensualismus in Schlussfolgerungen hinsichtlich der Funktionsweise
Person von Marie-Jean-Pierre Flourens, Pierre Jean des Gehirns überhaupt erst ermöglicht haben, eben-
Georges Cabanis und Marie François Xavier Bichat falls Konstrukte sein. Dies wirft die Frage auf, welchen
von der Notwendigkeit dieser die ›idealistische Wahrheitswert empirische Erkenntnisse über die
Grundansicht‹ ergänzenden Sichtweise der Organ- Funktionsweise des Gehirns haben können, wenn die-
gebundenheit des Denkens inspiriert (s. Kap. 23). Aus se nicht der Realität entsprechen.
dieser Perspektive konnte Schopenhauer auf die Frage Roth versucht die Widersprüchlichkeit des Gehirn-
»Was ist Vorstellung?« antworten: »Ein sehr kompli- paradoxes durch die Annahme einer subjektunabhän-
cirter physiologischer Vorgang im Gehirne eines gigen Realität zu vermeiden (zu den Ausführungen
Thiers, dessen Resultat das Bewußtseyn eines Bildes Roths in Bezug auf Schopenhauer vgl. Booms 2003,
eben daselbst ist« (W II, 224 (ZA)). 235 ff.; Schubbe 2010, 102 ff.): Diese ist zwar, wie bei
Aus diesen beiden Perspektiven bzw. Betrachtungs- Schopenhauer, nicht direkt erkennbar, weil das Er-
weisen ergibt sich jedoch ein offenkundiger Wider- kannte immer schon ein Konstrukt des Gehirns ist. Je-
spruch, der allgemein als Gehirnparadox, im Kontext doch ist es nach Roth logisch zwingend, eine subjekt-
der Philosophie Schopenhauers auch häufig nach dem unabhängige Realität anzunehmen, wenn man davon
Philosophiehistoriker Eduard Zeller, der diesen Ein- ausgeht, dass das Bewusstsein vom Gehirn erzeugt
wand als einer der ersten Kritiker erhob, als ›Zeller- wird. Dadurch kann man reale Gehirne, die die Wirk-
scher Zirkel‹ bezeichnet wird (vgl. Zeller 1873, 885 f.): lichkeit erzeugen, von wirklichen Gehirnen, von de-
Das Gehirn erzeugt einerseits laut der objektiven Be- nen man direkt Kenntnis hat, unterscheiden (vgl.
trachtungsweise die Vorstellung, aber andererseits ist Roth 1997, 325). Dieser Schluss wird dadurch mög-
dieses Gehirn der subjektiven Betrachtungsweise lich, dass Roth, anders als Schopenhauer, nicht von
nach lediglich Vorstellung und außerhalb dieser nicht der Annahme der totalen Verschiedenartigkeit von
existent. Das Gehirn wird also zugleich als subjekt- Erscheinung und Realität ausgeht. Diesen Ansatz
bedingt und als subjektbedingend aufgefasst, was of- kann man als ›minimal-realistisch‹ bezeichnen, da er
fensichtlich widersprüchlich ist. zwar von einer subjektunabhängigen Realität ausgeht,
Auch Schopenhauer selbst hat in diesen Annah- aber doch kritisch ist, d. h. auf allzu weitgehende Fest-
men eine »Antinomie in unserem Erkenntnisver- setzungen hinsichtlich der Beschaffenheit dieser Rea-
mögen« (W I, 61 (ZA)) erkannt. Diese hat er jedoch lität verzichtet. Die hauptsächliche Rechtfertigung
43 Neurophilosophie 377

dieses Ansatzes liegt in der Leistungsfähigkeit, die Er- und aller geistigen Vorgänge als Gehirnphänomen lei-
klärungen auf der Grundlage der Annahme eines sub- tend. Nur auf der Grundlage dieser Annahme konnte
jektunabhängigen Gehirns haben. Schopenhauer dem Prozess der Abwägung von Moti-
Bei Kuhlenbeck findet sich eine auf den Überlegun- ven durch den Intellekt den gleichen determinierten
gen Hans Vaihingers gestützte und in der Konsequenz Charakter zusprechen wie physikalischen Wirkungen.
ganz ähnliche Lösung des Gehirnparadoxes, die die Die Ergebnisse der modernen neurowissenschaftli-
Annahme eines realen, also außerhalb der Vorstellung chen Forschung bestätigen Schopenhauers auf trans-
existierenden Gehirns als nützliche Fiktion begreift, zendentalen Annahmen beruhendes und am Vorbild
die sich ebenfalls hauptsächlich durch ihre Erklä- der Naturwissenschaften orientiertes deterministi-
rungskraft rechtfertigen lässt. sches Weltbild auf empirischer Basis, jedoch ohne die
Solche Erklärungsmodelle sind eine Möglichkeit, Ansichten Schopenhauers inhaltlich zu erweitern.
Schopenhauers ›zwei Betrachtungsweisen des Intel- Hierbei ist vor allem der Libet-Versuch zu nennen, der
lekts‹ miteinander in Einklang zu bringen und der Wi- gezeigt hat, dass dem bewussten Entschluss zu einer
dersprüchlichkeit des Gehirnparadoxes zu entgehen. Handlung neuronale Prozesse im Gehirn bis zu einer
Jedoch lässt sich Schopenhauers ›idealistische Grund- halben Sekunde vorhergehen. Demnach ist die ge-
ansicht‹ in ihrer ursprünglich vertretenen, rigorosen fühlte Freiheit beim Willensentschluss eine Täu-
Form vor allem mit der Position Roths nicht verein- schung, das Gehirn hat zu diesem Zeitpunkt bereits
baren. Zumindest die Annahme der totalen Verschie- ›entschieden‹, was getan werden wird.
denartigkeit von Erscheinung und Welt an sich sowie Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth oder Wolf
der extreme Skeptizismus gegenüber jedweder Er- Singer haben aus dem Libet-Versuch geschlussfolgert,
kenntnis der Welt an sich sind nicht haltbar, wenn dass dem Menschen die Freiheit des Willens abge-
man gleichzeitig und logisch konsistent eine ›mini- sprochen werden muss; tatsächlich scheinen die Re-
mal-realistische‹ Position einnehmen möchte (vgl. sultate der Hirnforschung keinen anderen Schluss zu-
Göhmann 2004, 228 f.). zulassen, als die Welt und die in ihr ablaufenden Er-
eignisse (inklusive der Willensakte des Menschen) als
kausal determiniert zu betrachten. Diese Schlussfol-
Freiheit des Willens
gerung gleicht der Haltung Schopenhauers; lediglich
Schopenhauer hat in seiner »Preisschrift über die Frei- die empirisch-naturwissenschaftliche Beweislage zu-
heit des Willens« die Ansicht vertreten, dass das Han- gunsten dieses Ansatzes hat sich im Zuge der moder-
deln des Menschen genauso wie alle anderen Ereignis- nen Hirnforschung verbessert.
se der physikalischen Welt von kausalen Bedingungen Diese Schlussfolgerung führt jedoch zu problema-
bestimmt wird, also durch Ursachen notwendig vor- tischen Implikationen hinsichtlich der Verantwortung
herbestimmt ist und keineswegs frei oder zufällig ab- des Einzelnen für seine Taten, die innerhalb neurophi-
läuft. Dabei hat Schopenhauer berücksichtigt, dass losophischer Diskussionen kontrovers besprochen
Menschen nicht wie ein Stein alleine durch physika- werden. Denn wenn eine Handlung kausal vorher-
lische Ursachen oder wie eine Pflanze zusätzlich durch bestimmt ist, also unfrei ist und notwendig eintreten
biologische Reize in ihrem Handeln determiniert musste, besteht das Problem, ob der Handelnde dann
sind. Vielmehr erkannte er, dass auch Motive, die der noch für seine Taten verantwortlich sein kann.
Anschauung oder Erwägungen der Vernunft ent- Es ist jedoch möglich, diesen problematischen
springen, auf das Handeln des Menschen wirken. Schluss zu vermeiden. Denn der kausale Determinis-
Doch war er der Überzeugung, dass auch die Motive mus ist nach Ansicht vieler Philosophen durchaus mit
der Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes unterlie- Annahmen der Freiheit kompatibel, und damit auch
gen, also keineswegs zufällig oder völlig frei von de- der Annahme einer Verantwortung, wenn auch die
terminierenden Ursachen erscheinen. Auf diese hier gemeinte Freiheit von einer anderen Art ist, als
Grundlage stellte Schopenhauer seine deterministi- die sehr weitgehende Annahme einer absolut freien
sche Sicht des menschlichen Handelns. und unverursachten Handlung. Die Lösung des Pro-
Zwar gab es zu Schopenhauers Zeiten keine Hirn- blems besteht also vor allem darin, den Begriff der
forschung, die, wie im Falle des Gehirnparadoxes, sei- Willensfreiheit neu zu verstehen und zu formulieren.
ne Ansichten zum determinierten Charakter des Dabei kann es sich z. B. um die Freiheit handeln,
menschlichen Handelns bestärkt hätte. Jedoch ist die Vernunft zu gebrauchen und Motive verschiedens-
auch in diesem Fall die Annahme des Bewusstseins ter Art abzuwägen, eine Freiheit, die der Mensch dem
378 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

Tier voraus hat und die Schopenhauer als »relative phie zwischen Neurowissenschaften und Philosophie. In:
Freiheit« (E, 74 (ZA)) bezeichnet. Für Schopenhauer Carmen Kaminsky/Oliver Hallich (Hg.): Verantwortung
selbst ist die Lösung jedoch weitergehender: Die wirk- für die Zukunft. Zum 60. Geburtstag von Dieter Birnbacher.
Berlin 2006, 251–267.
liche Freiheit, und damit auch Verantwortung, ist sei- Rogler, Erwin: Das Gehirnparadox – ein Problem nicht nur
ner Ansicht nach nicht auf der empirischen Ebene der bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 88 (2007),
einzelnen Tat anzutreffen, vielmehr ist diese Freiheit 71–88.
transzendental und steht in Beziehung zum Charakter Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt
des Einzelnen: »[...] an dem was wir thun, erkennen a. M. 1997.
Schmicking, Daniel: Zu Schopenhauers Theorie der Kogni-
wir was wir sind« (E, 138 f. (ZA)).
tion bei Mensch und Tier – Betrachtungen im Lichte
Ein zeitgenössischer, neurophilosophisch aus- aktueller kognitionswissenschaftlicher Entwicklungen. In:
gerichteter Ansatz zur Neuformulierung der Krite- Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2005), 149–176.
rien, die die Willensfreiheit kennzeichnen, findet sich Schmidt, Alfred: Physiologie und Transzendentalphiloso-
z. B. in Henrik Walters Konzeption einer »natürlichen phie bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70
Autonomie«. Diese wird verstanden »als eine psycho- (1989), 43–53.
Schmidt, Alfred: Paradoxie als Wahrheit im Denken Scho-
logische Kompetenz des Handelns mit relativer Un- penhauers. In: Carolina Romahn/Gerold Schipper-Höni-
abhängigkeit von bestimmten äußeren und inneren cke (Hg.): Das Paradoxe: Literatur zwischen Logik und
Einflussfaktoren (personale Freiheit, Selbstbestim- Rhetorik. Festschrift für Ralph-Rainer Wuthenow zum
mung)« (Walter 2004, 169). 70. Geburtstag. Würzburg 1999, 19–25.
Eine solche Neudefinition der Willensfreiheit ist ei- Schmidt, Alfred: Schopenhauers subjektive und objektive
Betrachtungsweise des Intellekts. In: Schopenhauer-Jahr-
ne mögliche Antwort auf die Herausforderungen, die
buch 86 (2005), 105–132.
die durch moderne neurowissenschaftliche Methoden Schubbe, Daniel: Die Bedeutung Schopenhauers für das
wie den Libet-Versuch bestätigten deterministischen moderne Bild des Menschen oder Zwischen Willensmeta-
Annahmen Schopenhauers bezüglich des mensch- physik und moderner Neurobiologie. In: Schopenhauer-
lichen Handelns hervorgerufen haben. Jahrbuch 85 (2004), 191–210.
Schubbe, Daniel: Verkannte Aktualität. Schopenhauer und
die Neurowissenschaften – revisited. In: Farid Darwish/
Literatur
Hendrik Wahler (Hg.): Menschenbilder. Praktische Folgen
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer und die moderne Neuro-
einer Haltung des Menschen zu sich selbst. London 2009,
philosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2005), 133–
87–102.
148.
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik
Booms, Martin: Aporie und Subjekt. Die erkenntnistheoreti-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010.
sche Entfaltungslogik der Philosophie Schopenhauers.
Schulte, Günter: Gehirnfunktion und Willensfreiheit. Scho-
Würzburg 2003.
penhauers neurophilosophische Wende. Teil I: Die Frage
Churchland, Patricia: Neurophilosophy. Toward a Unified
nach der Realität der Außenwelt. In: Schopenhauer-Jahr-
Science of the Mind/Brain. Cambridge, Mass. 1986.
buch 88 (2007), 51–70; Teil II: Die Frage nach der Freiheit
Göhmann, Dirk: Schopenhauers »Gehirnparadox«. In:
des Willens. In: Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008),
Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), 211–229.
91–113.
Hampel, Andrea: Die Bedeutung der Philosophie Schopen-
Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. Leipzig 7/81922.
hauers im Lichte der modernen Gehirnforschung. In:
Vogeley, Kai: Repräsentation und Identität: Zur Konvergenz
Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), 231–251.
von Hirnforschung und Gehirn-Geist-Philosophie. Berlin
Kuhlenbeck, Hartwig: Schopenhauers Bedeutung für die
1995.
Neurologie (Zum 100. Todestag des Philosophen). In: Der
Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer – seine Persönlich-
Nervenarzt 32/4 (1961), 177–182.
keit, seine Lehre, sein Glaube. Stuttgart 1907.
Kuhlenbeck, Hartwig: The Human Brain and its Universe.
Walter, Henrik: Willensfreiheit, Verantwortlichkeit und
3 Bde. Basel 1982.
Neurowissenschaft. In: Psychologische Rundschau 55/4
Libet, Benjamin u. a.: Time of Conscious Intention to Act in
(2004), 169–177.
Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-poten-
Zeller, Eduard: Geschichte der deutschen Philosophie seit
tial). The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary
Leibniz. München 1873.
Act. In: Brain 106 (1983), 623–642.
Northoff, Georg: Was ist Neurophilosophie? Neurophiloso- Dirk Göhmann
44 Tierethik 379

44 Tierethik darf es deshalb weder besonderer tierschützerischer


Ideale noch einer wie immer gearteten tierfreundli-
Die Grundlegung der Tierethik in der Mitleids-
chen Weltanschauung. Was notwendig ist, ist allein
ethik
die konsequente Anwendung der allseits geteilten
Schopenhauers Tierethik kommt eine Pionierrolle zu, Grundnormen der Nichtschädigung und der Hilfe-
indem er in seiner Ethik menschliche Verpflichtungen leistung auf leidensfähige Wesen außerhalb der
gegenüber Tieren zum ersten Mal ausdrücklich und menschlichen Gattung. Indem Schopenhauer in sei-
systematisch in eine umfassende Moraltheorie ein- ner Tierethik (aber darüber hinaus auch in seiner So-
bezieht. Mit seiner Berücksichtigung der Tiere stellte zialphilosophie, etwa seiner Theorie der Kriminalstra-
er sich gegen den mainstream der überwiegend an- fe) nichts anderes tut als ein »Vollzugsdefizit« an-
thropozentrisch orientierten Tradition der europäi- zumahnen, hält er einerseits an diesem methodischen
schen Ethik und wurde zum Wegbereiter der moder- Selbstverständnis fest, verzichtet aber andererseits
nen Tierethik. nicht auf eine – teilweise scharfe – Kritik an der fak-
Dass nicht nur dem menschlichen Umgang mit sei- tisch gelebten Moral.
nesgleichen, sondern auch dem Umgang mit Tieren Die zweite Annahme ist für Schopenhauers Moral-
ethische Grenzen gesetzt sind, folgt für Schopenhauer philosophie ebenso zentral: dass das »Wesentliche und
aus zwei grundlegenden Annahmen seiner Philoso- Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe
phie: der normativen Annahme, dass wir verpflichtet ist« (E, 240). »Wesentlich« ist, wie sprachkritische Phi-
sind, niemandem Leiden zuzufügen oder ihn seinem losophen wie John Locke und Ludwig Wittgenstein ge-
Leiden zu überlassen, sofern Abhilfe möglich und zu- sehen haben, allerdings einer der verfänglichsten Aus-
mutbar ist, sowie der deskriptiven Annahme, dass sich drücke der Philosophie. Als »wesentlich« kann man
leidensfähige Tiere in ihren moralisch relevanten das an einer Sache auszeichnen, was es von anderem
Merkmalen vom Menschen nicht wesentlich unter- unterscheidet, aber auch das, was es mit anderem ge-
scheiden. meinsam hat. Nahezu die gesamte philosophische Tra-
Die erste Annahme ist die zentrale These von Scho- dition hat das »Wesentliche« des Menschen darin gese-
penhauers Mitleidsethik, wobei »Mitleidsethik« nicht hen, was ihn vom Tier unterscheidet, seine Vernunft-
so verstanden werden darf, als postuliere Schopenhau- fähigkeit, seine Moralfähigkeit und seine weitgehende
er eine Mitleidsmoral. Das entspräche nicht Schopen- Triebentbundenheit (von Schopenhauer »relative Frei-
hauers Vorstellung von Ethik als Klärung des »in je- heit« (E, 35) genannt). Schopenhauer sieht das »We-
dem Menschen [...] wirklich vorhandenen Aufruf[s] sentliche« des Menschen in dem, was er mit den Tieren
zum Rechtthun und Wohlthun« (E, 185). Aufgabe der gemeinsam hat: im »Willen«. Zum »Willen« rechnet er
Ethik wie der Philosophie insgesamt ist es für Scho- die in der gemeinsamen Abstammung begründete bio-
penhauer nicht, aufzuzeigen, was sein soll, sondern, logische Triebhaftigkeit, die Grundaffekte und -motive
was ist. Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie und die elementare Bedürftigkeit und Abhängigkeit
ein Einverständnis darüber gibt, was als moralisch von einer günstigen Umwelt. Insbesondere stimmen
gilt, und dass es zumindest einen Kernbereich mora- Mensch und Tier darin überein, dass sie Schmerzen
lischer Handlungsprinzipien, Tugendbegriffe und empfinden können und unter der Frustration natur-
Motivationen gibt, der von allen mehr oder weniger gegebener Bedürfnisse leiden.
akzeptiert wird. Von dieser Voraussetzung geht Scho-
penhauer aus. So spricht er etwa davon, dass die For-
Leidensfähigkeit höherer Tiere
derungen der Moral »jedem wohlbekannte« seien,
oder dass »über die Prinzipien der Moral [...] sich alle Die Leidensfähigkeit von Tieren ist vereinzelt immer
Ethiker eigentlich einig« seien (E, 137). wieder geleugnet worden, am radikalsten und nach-
Wenn die Moralphilosophie die vorgegebenen nor- haltigsten von Descartes, dessen Gleichsetzung von
mativen Orientierungen beschreiben und systemati- Tieren mit Maschinen fatalste Auswirkungen hatte,
sieren, aber nicht revidieren oder umstürzen soll, indem sie zur Legitimation noch der schlimmsten Vi-
kann die Tierethik weder eine Sonderethik mit eige- visektionspraxis diente. Woher wissen wir, dass Tiere
ner normativer Grundlage noch Ausdruck einer be- – jedenfalls die höheren Tiere – leidensfähig sind?
stimmten weltanschaulichen Vorentscheidung sein. Schopenhauer zufolge zeigt das bereits die unmittel-
Um einzusehen, dass für den menschlichen Umgang bare Erfahrung: »Alle Handlungen und Gebehrden
mit Tieren bestimmte moralische Grenzen gelten, be- der Thiere, welche Bewegungen des Willens ausdrü-
380 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

cken, verstehn wir unmittelbar aus unserm eigenen empirisch aufweisbare Ich) verfügt, das ihm den Sta-
Wesen; daher wir, so weit, auf mannigfaltige Weise mit tus einer Person verleiht und es anderen verbietet, ihn
ihnen sympathisiren« (W II, 228). Wir können ver- bloß als Mittel zu behandeln. Dieser Wesenskern ma-
nünftigerweise nicht daran zweifeln, dass die Tiere nifestiere sich in der Vernunft, insbesondere in der
uns in ihrem inneren Erleben verwandt sind. Darüber praktischen Vernunft. Für Schopenhauer stellt diese
hinaus beruft sich Schopenhauer auf die tierische Metaphysik die wahren Verhältnisse auf den Kopf. So-
Anatomie und die Verhaltensbeobachtung in der fern der Mensch über einen Wesenskern verfügt, ist
Zoologie (vgl. E, 240), Sie ließen keine scharfe Grenze, dieser kein Alleinbesitz des Menschen, sondern allen
sondern fließende Übergänge zwischen Mensch und Lebewesen gemeinsam. Zwar ist auch für ihn Ver-
Tier erkennen. nunftfähigkeit ein Charakteristikum des Menschen.
In der Tat wird diese Verwandtschaft inzwischen Sie lässt sich jedoch naheliegender durch natürliche
kaum noch geleugnet. Sie wird überdies durch die en- Faktoren erklären, nämlich als Kompensation von In-
ge genetische Verwandtschaft zwischen Mensch und stinktverlust und als Ermöglichungsbedingung einer
Wirbeltieren bestätigt. flexiblen Anpassung an wechselnde Umweltgegeben-
Was die Schmerzempfindlichkeit betrifft, so wissen heiten. Außerdem könne die von Kant allein dem
wir heute, dass die für die Schmerzempfindung zu- Menschen zugeschriebene »Würde« für die Frage, was
ständigen Gehirnzentren in annähernd gleicher Form Menschen und was Tieren zusteht, kein vernünftiges
bei allen Wirbeltieren nachgewiesen werden können. Kriterium sein. »Würde« legt nahe, dass die Rücksicht
Aufgrund ihres intelligenten Verhaltens glaubt Scho- gegenüber einem Wesen davon abhängt, was es wert
penhauer einigen hochentwickelten Tieren, insbeson- sei. Die moralische Einstellung richte sich aber nicht
dere Elefanten, sogar eine rudimentäre Fähigkeit zur danach, ob das betreffende Wesen Würde besitzt oder
Reflexion und zum Sprachverständnis zuschreiben zu wozu es fähig ist, sondern danach, wie sehr es leidet.
können (vgl. W II, 66). Als Schopenhauer zum ersten Es ist zu vermuten, dass Schopenhauers Kritik an
Mal einem großen Menschenaffen begegnete, einem Kants Abwertung der Tiere nicht nur deshalb von be-
Orang-Utan anlässlich der Frankfurter Herbstmesse sonderer Schärfe ist, weil er ihm eine einseitig an-
1854, soll er das Tier, in dem er irrtümlich den wahr- thropozentrische Metaphysik vorwirft. Der Vorwurf
scheinlichen »Urvater unserer Gattung« sah, nahezu scheint auf eine von Schopenhauer möglicherweise
täglich besucht haben (Libell 2010, 121). als beschämend empfundene Unzulänglichkeit sei-
Leidensfähigkeit ist für Schopenhauer von ent- nes ansonsten bewunderten philosophischen Lehrers
scheidenderer ethischer Bedeutung als Empfindungs- zu zielen. Was Schopenhauer Kant übelnimmt, ist ei-
fähigkeit. Hintergrund dafür ist, dass Schopenhauers ne bestimmte Art von Unaufrichtigkeit.
Ethik – ähnlich wie der später entwickelte »negative Kant hatte versucht, Pflichten gegenüber Tieren als
Utilitarismus« (vgl. Smart 1958; Griffin 1979) – dem indirekte Pflichten in seine rein anthropozentrische
Gebot der Leidensminderung klaren Vorrang vor dem Ethik einzubeziehen: Der Mensch solle sich in Mitleid
Gebot der Steigerung des Wohlbefindens gibt. Beide gegen Tiere üben, um nicht gegen Menschen grausam
von Schopenhauer formulierten Grundsätze der zu werden. Wie jeder aufmerksame Leser von Kants
Ethik, das Prinzip neminem laede (›Verletze nieman- Äußerungen zum Tierschutz spürt jedoch auch Scho-
den‹) und das Prinzip omnes quantum potes juva (›Hilf penhauer, dass sich Kant dieser Begründung nur des-
allen, soweit Du kannst‹) zielen auf die Vermeidung, halb – und mit offensichtlichem Widerstreben – be-
Linderung und Verhinderung von Leiden, nicht auf dient, weil er einen offenen Widerspruch zwischen
die Steigerung positiver Güter. Dementsprechend ist seinem humanen Empfinden und seiner Metaphysik
für Schopenhauer im Rahmen seiner Tierethik allein vermeiden will. Während er dafür plädiert, lang-
das den höheren Tieren zugeschriebene Merkmal der gedienten Arbeitspferden ihr Gnadenbrot im Alter
Leidensfähigkeit relevant. Kants scharfe Statusunter- nicht vorzuenthalten, bleibt er dennoch bei seiner
scheidung zwischen Mensch und Tier, die dem Men- Auffassung, dass Tieren lediglich der Status von Sa-
schen im Gegensatz zum Tier einen metaphysischen chen zukomme, gegen die der Mensch keine direkten
Wesenskern unterstellt, teilt Schopenhauer nicht. moralischen Pflichte habe. In seiner Tierethik opfert
Kant meinte – ganz im Sinne der herkömmlichen Kant in Schopenhauers Augen einem Dogma zuliebe
christlichen Metaphysik –, dass ausschließlich der ein Stück seiner Humanität.
Mensch über einen nicht vollständig naturalistisch zu Eine weitere Quelle von Schopenhauers Ausdeh-
erklärenden Wesenskern (das »intelligible«, d. h. nicht nung des Mitleids auf die Tiere ist zweifellos auch die
44 Tierethik 381

Bekanntschaft mit der asiatischen Philosophietraditi- Menschen insgesamt weniger leidensfähig sind und et-
on. Von daher ergab sich für ihn eine naheliegende Er- wa Zug- und Lasttiere unter der ihnen aufgebürdeten
klärung des »Vollzugsdefizits« der westlichen Ethik: Arbeit weniger leiden, als Menschen es tun würden.
Die Quelle des Übels sei der Herrschaftsauftrag der Deshalb sei es – nach dem Grundsatz der globalen Lei-
biblischen Schöpfungsgeschichte, der vermittelt über densminimierung – gerechtfertigt, den Tieren diese
das Judentum zum christlichen Dogma wurde und Arbeiten zuzumuten. Während Schopenhauer auf der
von da aus das gesamte westliche Denken infizierte. Ebene der Theorie implizit von einem Prinzip der
Der Mythos, nach dem Gott »sämmtliche Thiere, ganz Rechtsgleichheit zwischen Mensch und Tier ausgeht,
wie Sachen und ohne alle Empfehlung zu guter Be- stellt er auf der Ebene der Praxis die Ungleichheit zwi-
handlung, wie sie doch meist selbst ein Hundeverkäu- schen Mensch und Tier ein Stück weit wieder her, u. a.
fer, wenn er sich von seinem Zöglinge trennt, hin- aufgrund der Annahme, dass »in der Natur die Fähig-
zufügt, dem Menschen übergiebt, damit er über sie keit zum Leiden gleichen Schritt hält mit der Intel-
herrsche, also mit ihnen thue was ihm beliebt« (P II, ligenz« (E, 245). Während Tiere nach Schopenhauer
393), habe den »Wahn« in die Welt gebracht, »daß un- ebenso wie der Mensch über Verstand verfügen, also
ser Handeln gegen [die Tiere] ohne moralische Bedeu- über die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Deutung
tung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, von Sinneserfahrungen, verfügen Tiere anders als der
daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe« (E, 238). Mensch über keinerlei Vernunft, verstanden als die Fä-
Verschärft werde die Herabwürdigung der Tiere zu higkeit zur Begriffsbildung und Verallgemeinerung
Sachen zusätzlich von der Wissenschaft seiner Zeit, sowie zur Antizipation zukünftiger Ereignisse auf-
insbesondere der Zoologie und Medizin, die sich der grund vergangener Erfahrung. Schopenhauer schließt
politisch korrekten Auffassung von der Wesensver- sich insbesondere zwei Auffassungen an, die auch heu-
schiedenheit zwischen Mensch und Tier anbiedere, te weit verbreitet sind: erstens der Auffassung, dass
obwohl sie es aufgrund ihrer »intim bekannten Iden- Tiere ohne Erinnerung und Voraussicht in einer aus-
tität des Wesentlichen in Mensch und Thier« (P II, dehnungslosen Gegenwart leben (vgl. W II, 64). Sie be-
396) besser wissen müsste. finden sich insofern von Natur aus in einem Zustand,
Dass sich die Reichweite der moralischen Ver- den Mystiker und Heilige erst noch anstreben: Sie
pflichtungen gegenüber Tieren nach Schopenhauer scheinen, wie Schopenhauer bemerkt, »wirklich wei-
ausschließlich danach bemisst, ob und inwieweit Tie- se« (P II, 314). Zweitens der Auffassung, dass sich die
re leidensfähig sind, beantwortet freilich nicht die Fra- Intensität des Leidens nach der Fähigkeit zu Erinne-
ge, welche Tiere leidensfähig sind und in welchem Ma- rung und Voraussicht bemisst.
ße. Wo genau Schopenhauer die Grenze zwischen lei- Beide Annahmen können aus heutiger Sicht nur
densunfähigen »niederen« und leidensfähigen »höhe- mit Einschränkungen aufrechterhalten werden. Nicht
ren« Tieren gezogen sehen wollte, lässt sich nicht nur bei Primaten und Meeressäugern, auch bei vielen
eindeutig sagen. Diese Grenze ist bis heute nicht nur anderen Spezies (und nicht nur bei Säugetieren) sind
strittig (etwa in Bezug auf Fische, vgl. Eidgenössische Verhaltensweisen beobachtet worden, die auf eine be-
Ethikkommission 2014), sondern auch fließend: Das trächtlich weiter entwickelte Fähigkeit zur Erinne-
deutsche Tierschutzgesetz fordert nach seiner letzten rung und Antizipation schließen lassen, als Schopen-
Novellierung nicht nur die Vermeidung von Leidens- hauer annimmt. Und aus der Tatsache der begrenzten
zufügung bei Wirbeltieren, sondern auch bei Kopf- Intelligenz von Tieren folgt nicht zwingend, dass sie
füßern wie Tintenfischen. Schopenhauer ging von ei- unter Schmerzen, Ängsten und Frustrationen weni-
nem kontinuierlichen Übergangsfeld aus. Jedenfalls ger leiden. Wie u. a. Berichte aus der tierärztlichen
war er der Auffassung, dass sich die niederen Tiere Praxis nahelegen, spricht viel dafür, dass gerade die
von den Pflanzen nur durch die Zugabe »einer dump- mangelnde Fähigkeit, das Zugemutete zu verstehen,
fen Vorstellung« unterscheiden (W II, 230). Die »un- es als harmloses oder notwendiges Übel zu erkennen
tersten Thiere« besäßen – wie immer dies im Einzel- und ein Ende des Leidens abzusehen, die Leidens-
nen zu verstehen ist – »bloß eine Dämmerung« von intensität erhöht. Tiere scheinen Schmerzen in ähn-
Bewusstsein (W II, 156). lich hilfloser Weise ausgeliefert wie Kleinkinder. Sie
Die Frage nach dem Ausmaß der höheren Tieren reagieren, unabhängig davon, ob man ihnen einen
zuzuschreibenden Leidensfähigkeit beantwortet Scho- Begriff von Leben und Tod zusprechen kann, mit To-
penhauer ähnlich wie wohl die meisten unbefangenen desangst und Verzweiflung. Nicht zufällig muss bei
Beobachter, nämlich so, dass Tiere gegenüber dem Tieren (wie bei Kindern) oft auch dann Narkose an-
382 IV Wirkung – B Philosophische Strömungen / Wissenschaften

gewendet werden, wenn sie bei einem erwachsenen Auf der anderen Seite liegt ihm aber ein generelles
Menschen überflüssig wäre. Verdikt über Tierversuche fern, da er von der grund-
sätzlichen Nützlichkeit von Tierversuchen überzeugt
ist, selbst solcher, die ohne Narkose durchgeführt wer-
Tiertötung und Tiernutzung
den müssen, da sie neurologische Fragen beantworten
Schopenhauers Haltung zur Tiertötung ist nicht ganz sollen und die Narkose »das hier zu Beobachtende«
eindeutig. Er lehnt einerseits die Tiertötung nicht geradewegs aufheben würde. Im Übrigen setzt er da-
durchweg ab, vor allem dann nicht, wenn das dem rauf, dass »die Thiere jetzt wohl meistens chloroformirt
Tier durch die Tötung zugefügte Leiden durch Nar- werden, wodurch diesen, während der Operation die
kotika wie Chloroform gemindert wird und wenn an- Quaal erspart wird und nach derselben ein schneller
dernfalls Menschen, etwa durch den Verzicht auf Tod sie erlösen kann« (P II, 400).
fleischliche Nahrung, insgesamt mehr leiden würden
als die Tiere durch die Tötung (vgl. E, 245). Anderer-
Wirkung
seits finden sich bei Schopenhauer aber auch Bemer-
kungen, aus denen eine ausgesprochen positive Be- Schopenhauers Philosophie, die zwischen 1850 und
wertung des Vegetarismus spricht. Er meint, dass dem 1918 eine Welle der Popularität erlebte, hat in dieser
Menschen »die vegetabilische Nahrung die natürli- Zeit u. a. auf die Tierschutzbewegung gewirkt – nicht
che« ist (P II, 169) und erwähnt u. a. die englischen als Auslöser, aber doch als Verstärker. Zum Zeitpunkt
»vegetarians« (P II, 399). Schopenhauer geht sogar so der Veröffentlichung der »Preisschrift über die Grund-
weit, von der »widernatürlichen Fleischnahrung« des lage der Moral« (1840) lag die Gründung der ersten
Menschen zu sprechen, die dazu beitrage, ihn zu ei- deutschen Tierschutzvereine bereits einige Jahre zu-
nem »Monstrum« zu machen (P II, 617). Allerdings rück. Schopenhauer gehörte zu den Gründungsmit-
wird das Bekenntnis zum Vegetarismus von Schopen- gliedern des 1841 gegründeten Frankfurter Tier-
hauer dadurch geschwächt, dass er gewagte Hilfs- schutzvereins, und publikumswirksam sind seine Ide-
hypothesen bemüht, um den menschlichen Fleisch- en insbesondere durch Ignaz Perner, den Vorsitzenden
verzehr zu rechtfertigen, etwa die Behauptung, in den des 1837 gegründeten Münchner Tierschutzvereins,
kälteren Zonen könne »man ohne Fleischspeise gar verbreitet worden (vgl. Libell 2010, 143 ff.).
nicht bestehn« (E, 245; vgl. P II, 169). Rückblickend hat insbesondere Albert Schweitzer,
Anders als in radikalen Tierethiken der Gegenwart selbst einer der Pioniere der Tierethik, Schopenhauer
wie der von Tom Regan (1983) lehnt Schopenhauer als Vordenker gewürdigt. Während die Idee des Tier-
auf dem Hintergrund seiner Prinzipien auch die schutzes in vielen außereuropäischen Kulturen zu den
menschliche Nutzung von Tieren zu anderweitigen akzeptierten Selbstverständlichkeiten gehöre, habe
Zwecken nicht rundum ab. Entscheidend ist aller- Schopenhauer als erster europäischer Denker die
dings, dass die den Tieren verursachten Leiden durch »Idee der Verbundenheit des Menschen mit der Krea-
die den Menschen ersparten Leiden mehr als auf- tur wirklich in die Weltanschauung« aufgenommen
gewogen werden. Bei Misshandlungen von Tieren, (Schweitzer 2001, 217).
wie sie zu seiner Zeit gang und gäbe waren, sieht er die Schopenhauers Einfluss war nicht auf den deutsch-
Grenze des moralisch Erträglichen eindeutig über- sprachigen Bereich beschränkt. Der englische Tier-
schritten. Besonders am Herzen liegen ihm die ge- rechtler Henry S. Salt zitierte die Kernthesen von
plagten Zugpferde: »Die größte Wohlthat der Eisen- Schopenhauers Tierethik in seiner Kampfschrift Ani-
bahnen ist, daß sie Millionen Zug-Pferden ihr jam- mals’ rights considered in relation to social progress von
mervolles Daseyn ersparen« (P II, 399). Noch schärfer 1892 an herausgehobener Stelle. Einige der wenigen
greift er allerdings die Wissenschaftler an, die sich zu Monographien, die sich bereits zu Beginn des 20. Jahr-
schmerzhaften Tierversuchen berechtigt halten, auch hunderts Schopenhauers Tierethik widmeten, stammt
wenn diese offensichtlich nutzlos sind oder die für von Magnus Schwantje, dem Herausgeber von Salts
Menschen und Tiere nur einen geringfügigen Nutzen Schrift in deutscher Übersetzung. Dagegen hat sich
versprechen. Insbesondere geißelt er die zunehmende die akademische Ethik, die sich nie so recht mit Scho-
Bedenkenlosigkeit der Tierversuche an den deutschen penhauer anfreunden konnte, auch da, wo sie ähn-
Universitäten. Zusätzlich zu einer moralischen Ver- liche Positionen einnahm, nur sporadisch auf Scho-
urteilung fordert er gegen besonders brutale Vivisek- penhauer bezogen. In der zeitgenössischen Tierethik
tionisten auch eine strafrechtliche Sanktionierung. haben mit Jean-Claude Wolf in der Schweiz und Ur-
44 Tierethik 383

sula Wolf in Deutschland zwei der prominentesten Ausserhumanbereich: Ethischer Umgang mit Fischen. Bern
deutschsprachigen Tierethiker die Ansätze der Scho- 2014.
penhauerschen Tierethik erneut aufgenommen und je Griffin, James: Is unhappiness morally more important than
happiness? In: Philosophical Quarterly 29 (1979), 47–55.
auf ihre Weise weiterentwickelt, bei Ursula Wolf im Haucke, Kai: Der moralische Status von Tieren oder Lässt
Sinne eines Prinzips des generalisierten Mitleids, das sich mit Schopenhauer heute eine Tierethik fundieren? In:
sich über die Menschen hinaus auch auf die leidens- Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008), 221–244.
fähigen Tiere erstreckt (vgl. U. Wolf 1990), bei Jean- Libell, Monica: Morality beyond humanity. Schopenhauer,
Claude Wolf in Richtung eines umfassenden Schutz- Grysanowski and Schweitzer on Animal Ethics. Saarbrü-
cken 2010.
prinzips, das – über Schopenhauer hinausgehend – ei-
Regan, Tom: The Case for Animal Rights. London 1983.
nen weitgehenden Verzicht auf die Tötung von Tieren Salt, Henry S.: Die Rechte der Tiere. Berlin 1907 (engl. 1892).
zu menschlichen Zwecken und einen ethischen Vege- Schwantje, Magnus: Schopenhauers Ansicht von der Tierseele
tarismus beinhaltet (vgl. J.-C. Wolf 1998). und vom Tierschutz. Berlin 1919.
Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik in den Weltreligionen.
Literatur Hg. von Ulrich Körtner und Johann Zürcher. München
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer als Tierethiker. In: Tina- 2001.
Louisa Eissa/Stefan Lorenz Sorgner (Hg.): Geschichte der Smart, R. Ninian: Negative utilitarianism. In: Mind 67
Bioethik. Eine Einführung. Paderborn 2011, 197–212. (1958), 542–543.
Brosow, Frank: Die beiden Grundprobleme der Schopen- Wolf, Jean-Claude: Willensmetaphysik und Tierethik. In:
hauerschen Tierethik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 89 Schopenhauer-Jahrbuch 79 (1998), 85–100.
(2008), 197–220. Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral. Frankfurt a. M. 1990.
Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Dieter Birnbacher
C Kunst

45 Literatur (s. Kap. 46; 47). Die literarische Rezeption Schopen-


hauers beschränkte sich nicht allein auf das 19. Jahr-
›Arthur Schopenhauer und die Literatur‹ stellt ein hundert, sondern erreichte im 20. Jahrhundert ein
Thema dar, das für einen Übersichtsartikel ein bei- ungeahntes Ausmaß, so dass die Gedankenwelt des
nahe zu weites Feld ist. Der im Dezember 1818 er- Philosophen in den Werken zahlreicher bedeutender
schienene erste Band der Welt als Wille und Vorstel- Autoren und Künstler bis in die Gegenwart deutliche
lung fand in der damaligen Intelligenzija keinen Wi- Spuren hinterlassen hat.
derhall (s. Kap. 3), was sich teilweise aus jener Domi- Hinterfragt man die Ursache der andauernden Ak-
nanz erklären lässt, die Schopenhauers Antipoden, tualität Schopenhauers bis in die gegenwärtige Zeit
Georg W. F. Hegel, Friedrich W. J. Schelling und Jo- innerhalb der Weltliteratur, dann ergibt sich eine
hann G. Fichte, auf das Denken ihrer Zeit ausübten. kaum überschaubare Komplexität möglicher Ant-
In Hegels dialektisch fundierter Geschichtsphiloso- worten. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts tre-
phie fand man einen optimistischen Fortschritts- ten die literarischen Normen und Konventionen
gedanken, nach welchem sich die Geschichte mit idealistischer Herkunft dergestalt zurück, dass die
Notwendigkeit auf eine immer höhere Stufe der Ent- Wahrnehmung und das Erlebnis der faktischen Welt
wicklung hin bewegt. Wer mit Hegel dachte, fragte unverklärter Gegebenheiten überwiegend zu jenem
nicht vergeblich nach Zweck und Sinn der Geschich- ›Material‹ werden, das literarisch gestaltet und gedeu-
te, weil sie gemäß den Prämissen des Hegelschen tet wird. Nach Aufklärung und Klassik geraten das
Denkens im Geschichtsprozess angelegt waren und Erziehungs- und Bildungsideal und der damit einher-
sich mit dialektischer Notwendigkeit immer deutli- gehende Glaube an eine erbauliche Funktion literari-
cher enthüllen würden. Dem optimistischen Geist scher Texte zugunsten einer realistischen und un-
Hegels stand Schopenhauers Willensmetaphysik geschminkten Schilderung der Daseinsfaktizität ins
machtlos gegenüber, bis der Erfolg mit dem Erschei- Wanken. Die Kunst soll nicht länger einem höheren
nen seines letzten Werkes Parerga und Paralipomena Zweck dienen, sondern erhält ihren Wert und ihre
1851 schlagartig einsetzte. In der Besprechung dieses Berechtigung durch sich selbst (l’art pour l’art) und
Werkes am 1. April 1852 in der Westminster Review ihr Streben nach wahrheitsgetreuer Darstellung der
ging der Engländer John Oxenford auch auf Scho- conditio humana, was eine phantastische und grund-
penhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstel- sätzlich gegennaturalistische Kunst (z. B. die des Ex-
lung ein. Oxenfords Rezension erschien in deutscher pressionismus, des Absurdismus und der Postmoder-
Übersetzung in der Vossischen Zeitung und verbreite- ne) nicht ausschließt. Die moderne Kunst sieht sich,
te den Ruhm Schopenhauers, so dass seine Philoso- wenn wir uns auf das 20. Jahrhundert beschränken,
phie innerhalb kurzer Zeit in Europa Beachtung und vor das Paradoxon gestellt, dass das aufgeklärteste
Verbreitung fand. Jahrhundert zugleich eines der blutigsten und bar-
Das Erstaunliche ist nun, dass sich die Wirkung barischsten gewesen ist. Der von Schopenhauers Phi-
der Schopenhauerschen Philosophie nach ihrem losophie maßgeblich geprägte Thomas Mann hat die
Durchbruch im Jahre 1853 zwar gewandelt hat, aber in der abendländischen Literatur vorherrschende ge-
nicht schwächer wurde. Das Interesse der Fachphi- schichtspessimistische Erfahrung exemplarisch zum
losophen geriet in verhältnismäßig kurzer Zeit in Ausdruck gebracht:
den Hintergrund, dagegen entdeckten Schriftsteller,
bildende Künstler und Komponisten die Schopen- »Der Wahn eines humanistischen Fortschrittsglau-
hauersche Philosophie in erstaunlichem Ausmaß bens, über gewisse Dinge sei die Menschheit hinaus,
45 Literatur 385

ist als Wahn erkannt. Sie ist über gar nichts hinaus. Vor Auch in Maupassants dichterischem Werk findet
unseren Augen hat der Instinkt, das Unterste und Pri- sich allenthalten die Spur Schopenhauers. Seine Figu-
mitivste, haben Grausamkeit, blinde Machtlust, ren sind in aller Regel willensgesteuerte Akteure, die
dumpfer Aberglaube, die Gebundenheit an einem vor- in ihrer Triebhaftigkeit einem blinden Egoismus frö-
religiösen mythologischen Seelenzustand ihre Blutfes- nen, für erlittenes Unrecht blutige Vergeltung üben
te gefeiert und fahren fort, orgiastisch, ohne die ge- und nur in Ausnahmefällen Mitleid empfinden. Sie
ringste Selbstkritik, in vollendeter Dummheit, sich sind nicht selten in sozialen Verhältnissen situiert, die
auszuleben« (Mann 1974, XIII, 361). durch Armut, Brutalität, Trunksucht und Gewalt
gekennzeichnet sind, ein Elend, das in einigen Er-
Diese Erfahrung lässt sich durchaus unter Einbezie- zählungen durch die unmenschliche Grausamkeit
hung gedanklicher Strukturen der Philosophie Scho- des deutsch-französischen Krieges 1870/71 verstärkt
penhauers künstlerisch verarbeiten und deuten. Da- wird. Die Weltsicht Maupassants wird durch die Dar-
mit wäre eine unter möglichen Antworten auf die Fra- stellung einer Existenz zum Ausdruck gebracht, in
ge nach der anhaltenden Aktualität Schopenhauers welcher das Böse nur in verschiedenen Variationen
mit der illusionslosen Wahrnehmung der Geschichte dominiert. Die Bosheit bei Maupassant definiert sich
und der Situation des Menschen gegeben, aus der sich aber keineswegs aus den sozialen Verhältnissen al-
eine ›Realität‹ ergibt, deren Grundstrukturen zumin- lein, sondern entspringt der menschlichen Natur,
dest tendenziös mit Schopenhauers der empirischen deren blinder Wille vielfältig die handelnden Figuren
Anschauung entlehnter Willensmetaphysik korres- zu Marionetten degradiert (zum Marionettenmotiv
pondieren. s. Kap. 24). Maupassants Menschenbild ist von der
Anthropologie Schopenhauers geprägt; die Überein-
stimmungen sind eklatant. Weil sich in seinen Erzäh-
Frankreich und Italien
lungen und Romanen die Geschehnisse mit eiserner
In Frankreich war Schopenhauers Philosophie Ende Notwendigkeit vollziehen und die boshaften Charak-
des 19. Jahrhunderts unter Intellektuellen und Künst- tere häufig Opfer ihrer eigenen Handlungen werden,
lern bereits derart verbreitet, dass es in diesen Kreisen wird implizit hinter den Erscheinungen der Ereignisse
zur Tagesordnung gehörte, sich mit dem Denker aus- auf ein metaphysisches Prinzip hingewiesen, das wie
einanderzusetzen (zur Schopenhauer-Rezeption in der ›Wille zum Leben‹ bei Schopenhauer das thea-
der französischen und italienischen Literatur s. auch trum mundi zugleich inszeniert und determiniert. Mit
Kap. 51; 49). Guy de Maupassant stellt in einem am dieser Metaphysik korrespondiert insofern die Er-
10. Februar 1886 im Le Figaro erschienenen Aufsatz zählweise, als sie die Welt des Bösen nicht zum Gegen-
»Unsere Optimisten« fest, das »Genie« des »bewun- stand einer kritischen Bewertung werden lässt, son-
dernswürdigen und allmächtigen deutschen Philoso- dern sie vielmehr zu jenem irreparablen Weltelend
phen« lenke und beherrsche »heutzutage das Denken transformiert, das nicht an sich eliminiert, sondern
fast der gesamten Jugend der Welt« (Maupassant 2000, nur durch das ausnahmsweise auftretende Mitleid ge-
112). Die Popularität Schopenhauers in Frankreich er- zähmt werden kann.
klärt sich auch dadurch, dass Ludovic Halévy, ein da- In Julien Greens Romanen sind die Figuren einem
mals angesehener Schriftsteller und Mitglied der Aca- sexuellen Begehren preisgegeben, das sie dergestalt zu
démie Française, sowie Ferdinand Brunetière sich ver- Marionetten ihrer Triebhaftigkeit degradiert, dass sie
anlasst sahen, Pamphlete gegen den Pessimismus zu ihre eigenen, im christlichen Glauben begründeten
veröffentlichen. Beide waren der Auffassung, dass moralischen Barrieren und die gesellschaftlichen
Schopenhauers Willensmetaphysik die Welt unange- Normen durchbrechen. Sie werden von dem weder
messen darstelle, und argumentierten dafür, dass man von den Grundsätzen des Glaubens noch von der Ver-
das Thema des Pessimismus beenden und stattdessen nunft Einhalt zu gebietenden blinden ›Willen‹ wie
eine heitere Weltsicht befürworten solle. Dies ver- Guéret in Leviathan ins Verbrecherische und in die
anlasste Guy de Maupassant, seinen Aufsatz »Unsere Zerstörung ihrer eigenen Existenz und der ihrer Mit-
Optimisten« zu veröffentlichen, in welchem er als Be- menschen getrieben. Die Figuren Greens sind zwar in
wunderer Schopenhauers den Spieß umdreht und ein einer Welt der Ursünde im christlichen Sinne situiert,
»Gesetz zur Verhinderung des derzeit herrschenden lassen sich aber dessen ungeachtet von der Willens-
Pessimismus« (ebd., 113) formuliert, das entweder metaphysik Schopenhauers her verstehen und inter-
das Elend verbietet oder zu einem positivum macht. pretieren, weil Green als Verehrer Schopenhauers
386 IV Wirkung – C Kunst

(vgl. Dhers-Duharcourt 2011) nicht nur mit dessen schen, der in seinem Mitmenschen nicht mehr das
Gleichsetzung des Willens mit der Ursünde und der fremde Ich, sondern das Ich noch einmal erkennt. Die
Verneinung des Willens mit der Gnade in Die Welt als nicht überbrückbaren Unterschiede ergeben sich da-
Wille und Vorstellung (vgl. W I, § 70) vertraut war, son- gegen aus der christlichen Vorstellung eines ewigen
dern auch die Entsprechungen zwischen den konkre- Lebens und einer transzendenten jenseitigen Welt.
ten Erscheinungsweisen der Ursünde und des Willens Diese Vorstellung betrachtet Schopenhauer als »Ein-
in Schopenhauers Darlegungen wahrgenommen hat. kleidung und Hülle, oder Beiwerk« für »das Volk« (W
In Greens Roman Jeder Mensch in seiner Nacht steigert I, 480) und bewertet sie als den »platten Optimismus«
sich für Wilfred, den Protagonisten des Romans, der (ebd.) des Christentums, während sie für christliche
Widerspruch zwischen den moralischen Forderungen Dichter wie Dostojewski und Green Wahrheit und
des Glaubens und dem Fluch seines triebhaften Be- Wirklichkeit darstellt.
gehrens zu einer unlösbaren Aporie, die ihn in die Die Reihe französischsprachiger Autoren, die in ih-
tiefste Verzweiflung stürzt. Als er am Ende des Ro- ren Dichtungen und Poetologien vom Denken Scho-
mans von einem Mann, der ihn begehrt, erschossen penhauers ertragreich beeinflusst wurden, weist pro-
wird, ereignen sich in der völligen Hoffnungslosigkeit minente Namen wie Henri-Frédéric Amiel (vgl.
jene Umwandlung und jene Verneinung des Willens, Schäppi 1965), Albert Camus, Louis-Ferdinand Cé­
aus denen sich nach Schopenhauer die »wirkliche Gü- line, Gustave Flaubert, Anatole France (vgl. Baillot
te und Reinheit der Gesinnung« (W II, 465) ergeben. 1929), André Gide, Joris-Karl Huysmans, Marcel
Diese Gesinnung führt nach Schopenhauer für die Proust (vgl. Negroni 1980), Romain Rolland (vgl.
Betroffenen zur Vergebung ihrer Feinde, »und wären Cheval 1974), Émile Zola auf und reicht bis in die ge-
es solche, durch die sie unschuldig litten« (ebd.). Sie genwärtige Zeit hinein. Die düstere Erzählwelt des
wollen auch keine Rache (vgl. ebd.) und »sterben gern, zeitgenössischen Schriftstellers Michel Houellebecq
ruhig, sälig« (ebd.). Auch Wilfred, der schuldlos getö- (geb. 1958) ist, was durch Interviewaussagen des Au-
tet wird, vergibt seinem Mörder, will keine Rache, und tors bestätigt wurde, von der Gedankenwelt Schopen-
unmittelbar nach seinem Tod wird er von einem Bei- hauers durchtränkt.
stehenden folgendermaßen beschrieben: »Aber nie Wendet man den Blick nach Italien, dann stößt
zuvor habe ich auf dem Antlitz eines Menschenwesens man auf Autoren wie Italo Svevo, Cesare Pavese und
einen Ausdruck des Glücks gesehen, der vergleichbar Giuseppe Tomasi di Lampedusa (Der Leopard), die in
mit dem Wilfreds Züge verklärenden gewesen wäre. ihrem Schreiben maßgeblich von Schopenhauers Ge-
Auf ihn angewandt, verlor das Wort ›Tod‹ jeden Sinn. dankenwelt geprägt wurden. Der Argentinier Jorge
Er lebte, er lebte!« (Green 1995, 374). Luis Borges erlernte die deutsche Sprache eigens, um
Greens Romane enthüllen gleichzeitig Überein- Schopenhauer im Original lesen zu können.
stimmungen und Differenzen zur Philosophie Scho-
penhauers, die sich im Hinblick auf eine christliche Li-
Russland
teratur des 19. und 20. Jahrhunderts generalisieren
lassen. In einer Literatur, in der die Welt als eine der Der Einfluss Schopenhauers in Russland ereignete
Ursünde verfallene Welt dargestellt wird, wie z. B. bei sich mit überraschender Geschwindigkeit und deutli-
Dostojewski, kommt es in der Figurendarstellung zu cher als in anderen europäischen Ländern, ja selbst als
einer bis zur Identität führenden Übereinstimmung in Deutschland. Der westlich orientierte Iwan Turgen-
mit dem Begriff des Willens und dessen Manifestati- jew hielt sich in den 1850er Jahren in Deutschland auf,
onsweisen bei Schopenhauer, weil der christliche Sün- wo er mit der Philosophie Schopenhauers bekannt
denbegriff in der Vorstellung des von der blinden Gier wurde, sie mit Begeisterung las und in Russland auf
nach Erfüllung seines Eigeninteresses und Eigenbe- ihre Bedeutung nachdrücklich hinwies. Zeitgenossen
dürfnisses getriebenen Menschen mit dem Schopen- Turgenjews erkannten bereits früh Philosopheme
hauerschen Begriff des Willens konvergiert. Hinsicht- Schopenhauers in seinem literarischen Schaffen. Sei-
lich der Verneinung des Willens und der Gnadenwir- ne Romane und Erzählungen sind durch einen grund-
kung im Sinne der christlichen Lehre gibt es dagegen sätzlichen Pessimismus gekennzeichnet, der generell
sowohl Übereinstimmungen als auch Differenzen. dem Schopenhauers entspricht. Turgenjew stellt ein
Das Gemeinsame besteht in der Wandlung eines vom paradigmatisches Beispiel einer umfangreichen Scho-
Willen beherrschten Menschen in einen auf alles Ir- penhauer-Rezeption der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
dische verzichtenden und alles vergebenden Men- hunderts dar, die dadurch charakterisiert ist, dass man
45 Literatur 387

Schopenhauer zustimmend gelesen und in seiner Phi- im Menschen voraussetzt, deren Grundsatz des Han-
losophie die eigene Weltsicht bestätigt gefunden hat, delns nicht wie für den egoistischen, im principium in-
welche die literarischen Werke beeinflusst hat. dividuationis der Vorstellungswelt befangenen Men-
Zu den Bewunderern Schopenhauers in der russi- schen das eigene Wohlergehen, sondern das anderer
schen Literatur zählt Lew Tolstoi. Er schreibt am Menschen und Geschöpfe ist. Tolstoi ist von der Mit-
30. August 1869 in einem Brief an den befreundeten leidsethik Schopenhauers maßgeblich inspiriert,
Dichterkollegen und Übersetzer des ersten Bandes selbst wenn die Nächstenliebe, insbesondere in sei-
der Welt als Wille und Vorstellung ins Russische, Afa- nem späten Schaffen, primär durch seine christlich-
nasij Fet, über den Eindruck, den die Lektüre Scho- esoterische Eschatologie motiviert ist.
penhauers auf ihn hinterlassen hat: In Anna Karenina wirkt sich der Einfluss Schopen-
hauers bis in die Konzeption der Figuren und deren
»Wissen Sie, was der diesjährige Sommer für mich Handlungen aus. Anna und ihr Liebhaber Wronski
war? Ein ununterbrochenes Entzücken angesichts stehen im Roman Lewin kontrastierend gegenüber.
Schopenhauers und eine Reihe von Genüssen, wie ich Aus der Perspektive Schopenhauers verkörpern Anna
sie noch nie erlebt habe. Ich weiß nicht, ob ich jemals und Wronski das Prinzip des Willens zum Leben –
meine Meinung ändern werde, aber im Augenblick er- Thomas Mann nennt Wronski »einen schönen starken
scheint mir Schopenhauer als der genialste aller Men- Hengst« und Anna »eine edle Stute« (Mann 1974, IX,
schen« (Tolstoi 1909, 92). 94) – während Lewin nach langer, mühsamer Wahr-
heitssuche einen Weg im Prinzip des Mitleids und der
Diese leidenschaftliche Emphase führte nicht nur zu ei- Nächstenliebe findet. Anna und Wronski sind als un-
nem Versuch, Schopenhauer ins Russische zu überset- bedingt Liebende zu betrachten, die sich über soziale
zen, sondern hat auch von der Forschung bereits weit- und gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzen. Sie
gehend nachgewiesene Spuren in den Romanen Krieg nehmen die Ausgrenzung aus der adligen Gesell-
und Frieden, Anna Karenina, Auferstehung sowie in den schaft, der sie angehören, in Kauf, um ihre Leiden-
Erzählungen Herr und Knecht, Die Kreutzersonate, Der schaften ausleben zu können. Das ›Herz‹ wird in Anna
Tod des Iwan Iljitsch und Drei Tode hinterlassen. Karenina wiederholt als primär treibende Kraft hinter
In Krieg und Frieden finden wir eine ausgesproche- den Handlungen der Personen erkennbar und legt da-
ne Skepsis gegenüber der Geschichtswissenschaft, der mit einen Bezug zu Schopenhauers Lehre »Vom Pri-
Tolstoi – in ähnlicher Weise wie in der deutschspra- mat des Willens im Selbstbewußtsein« aus dem zwei-
chigen Literatur Wilhelm Raabe (Das Odfeld, Höxter ten Band der Welt als Wille und Vorstellung nahe:
und Corvey und Stopfkuchen) und später Günter Grass
(Tagebuch einer Schnecke und Die Blechtrommel) – je- »Mit vollem Recht ist das Herz, dieses primum mobile
de Wahrheit abspricht. Dies entspricht Schopenhau- des thierischen Lebens, zum Symbol, ja zum Synonym
ers Kritik der Geschichtsschreibung, die den An- des Willens, als des Urkerns unserer Erscheinung, ge-
spruch erhebt, historische Ereignisse objektiv erklären wählt worden und bezeichnet diesen, im Gegensatz
zu können, bezieht sich aber auch auf den grundsätzli- des Intellekts, der mit dem Kopf geradezu identisch ist.
chen Wahrheitsskeptizismus Tolstois, wie er u. a. in Alles was, im weitesten Sinne, Sache des Willens ist,
der 1857 entstandenen autobiographischen Erzäh- wie Wunsch, Leidenschaft, Freude, Schmerz, Güte, Bos-
lung Luzern zum Ausdruck kommt. heit [...] wird dem Herzen beigelegt« (W II, 267 f.).
Mindestens zwei Grundgedanken Schopenhauers
lassen sich in Tolstois Werk konturieren. Tolstoi In diesem Sinne verkörpert vor allem Anna eine vom
stimmt mit Schopenhauer darin überein, dass der In- blinden Willen getriebene Person. Derart mächtig von
tellekt als Produkt des Willens diesem prinzipiell un- ihren Trieben und ihrer Leidenschaft für Wronski ge-
terworfen ist, so dass seine Aufgabe lediglich darin be- steuert, wird sie zum Objekt und Opfer dieser Leiden-
steht, das blinde Streben des Willens zu fördern und schaft. Der Wille erscheint als eine Schicksalsmacht,
nur das als zweckmäßig zu erklären, was dem Ego- von der sich Anna nicht befreien kann. Am Ende wird
ismus des Individuums dienlich ist. Die Vernunft sie ein Opfer ihrer Eifersucht und begeht Selbstmord,
muss sich als Magd des blinden ziellosen Wollens auf indem sie sich vor einen Zug wirft. Aber auch ihr Sui-
das »instinktive [...] Verlangen nach dem Guten in der zid ist nicht das Ergebnis einer rationalen Entschei-
menschlichen Natur« (Tolstoi 2001, 468) vernichtend dung, sondern vollzieht sich unter dem Gebot der Lei-
auswirken, weil das ›Gute‹ als caritas Nächstenliebe denschaft und des Willens.
388 IV Wirkung – C Kunst

Tolstois Einschätzung eines Menschen wie Anna, gehoben wird. Lewin grenzt wie Schopenhauer seine
die gänzlich unter dem Einfluss ihrer Leidenschaften Einsicht in den Leidzustand aller vom rationalen Den-
handelt, die aus Ehe und Familie ausbricht und den ken ab, indem er fragt:
geliebten Sohn ihrem kalten und abstoßenden Ehe-
mann Karenin überlässt, ist durch die tragische Not- »Bin ich denn durch den Verstand dahin gelangt, dass
wendigkeit geprägt, mit der sich Annas Schicksal un- man seinen Nächsten lieben soll und nicht erwürgen
ter der Dominanz des Irrationalen vollzieht. Weder darf? [...] Nicht der Verstand. Der Verstand entdeckte
Anna noch Wronski werden vom Erzähler moralisch den Kampf ums Dasein und das Gesetz, das verlangt,
verurteilt. Sie erwecken vielmehr Mitleid, indem sie alle zu erwürgen, die der Befriedigung meiner Wün-
sich durch ihre Leidenschaft selbst zerstören. Deshalb sche entgegenstehen. Das wäre die Folgerung des Ver-
ist Anna keineswegs als eine Idealgestalt aufzufassen. standes. Den Nächsten zu lieben konnte der Verstand
Diese zeichnet sich vielmehr in Lewin ab, der auf jedoch nicht entdecken, denn das ist nicht vernünftig«
Pierre Besuchow in Krieg und Frieden zurückweist (ebd., 1197).
und dem Fürst Nechljudow in Auferstehung vorgreift.
In diesen drei Gestalten spiegelt sich eine bedeutsame Die Vernunft steht nach diesen Überlegungen wie bei
Entwicklung des moralischen Denkens Tolstois wider, Schopenhauer im Dienste des Willens. Der in der Vor-
nämlich seine zunehmende Abwendung von der stellungswelt des verstand- und vernunftgeleiteten Be-
durch Egoismus beherrschten Willenswelt des russi- wusstseins befangene Mensch ist dem Egoismus und
schen Hochadels zu einer Haltung des Mitleids und dem bellum omnium contra omnes preisgegeben, und
der Nächstenliebe, die den asketischen Verzicht auf in dieser Welt als Vorstellung und Wille kann unter den
die Privilegien der gehobenen Gesellschaftsschichten Bedingungen des egoistischen Standpunktes nur das
einfordert, eine Wandlung, die einerseits von der Mit- als zweckvoll – und damit ›vernünftig‹ – bezeichnet
leidsethik Schopenhauers geprägt ist, andererseits werden, was das eigene Wohl steigert, auch wenn dies
aber auch an der Vorstellung Tolstois eines christli- auf Kosten anderer geschieht. In einer Welt, in welcher
chen und eines von ihm durch seine esoterische Lehre der blinde Egoismus ungebrochen herrscht, ist, wie Le-
entwickelten Begriffs der Nächstenliebe orientiert ist. win feststellt, die Nächstenliebe unvernünftig. Demge-
In Krieg und Frieden ist Pierre Besuchow, in Anna mäß spricht er auch vom »Hochmut des Geistes«, von
Karenina dagegen Lewin Wahrheitssucher. Die Ver- der »Dummheit des Geistes« und der »Spitzbüberei des
nunfterkenntnis führt sie aber immer wieder in einen Geistes« (ebd., 1197), weil dieser außerstande ist, zur
unüberschaubaren Irrgarten, stellt sie vor Rätsel und selbstlosen Nächstenliebe hinzuführen. Auch die das
Widersprüche, die sie in ihrer Suche nach Wahrheit selbstsüchtige Individuationsprinzip durchbrechende
unbefriedigt lassen. In Anna Karenina manifestiert Liebe zum Nächsten, als Bedingung der Schopen-
sich der Einfluss der Mitleidsethik Schopenhauers am hauerschen Soteriologie und der darin enthaltenen
deutlichsten, für Lewin erschließt sich im zwölften Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben, ist
Kapitel des achten Teils die Nächstenliebe als die end- schließlich eine aus dem Herzen kommende Erkennt-
gültige Wahrheit, auf der er sein Leben aufbauen nis – eine durch Intuition und sinnliche Erfahrung her-
kann. In der Zusammenfassung seiner zweijährigen beigeführte momentane oder anhaltende Überwin-
Denkbemühungen räumt Lewin ein, seine Reflexio- dung der Leidensexistenz, in der die begrenzte Per-
nen über den Sinn des Lebens seien durch die Leiden spektive der Vorstellungswelt suspendiert ist. Die Ant-
und den Tod seines Bruders angestoßen worden: wort, die Lewin in seiner Suche nach Wahrheit und
»Zum ersten Mal hatte er damals klar begriffen, dass sinnvoller Existenz erhält, ist dem Leben selbst, nicht
jeder Mensch und so auch er nichts anderes vor sich den Begriffen, entnommen: »Die Antwort gab mir das
hatte als Leiden, Tod und ewiges Vergessen« (Tolstoi Leben, in meinem Wissen, was gut ist und was schlecht.
2009, 1196). Die Durchschauung des Leidcharakters Und dieses Wissen habe ich nicht erworben, es ist mir
der Welt durch Lewin entspricht Schopenhauers Auf- wie allen anderen gegeben, gegeben deshalb, weil ich es
fassung, dass sich der egoistische Willensmensch nur nirgendwoher nehmen konnte« (ebd., 1197). Ethisches
zum mitleidigen Menschen wandeln könne, wenn Handeln, Nächstenliebe und Mitleid sind nicht durch
sich ihm durch Leiden das rationale Denken in eine die Aneignung einer normativen Begriffsethik zu er-
intuitive Erkenntnis verwandelt hat, die ihm die Ein- reichen, sondern können dem gequälten, willensbeja-
sicht jener metaphysischen Wahrheit ermöglicht, henden Individuum nur durch die Erfahrung des fak-
nach welcher die Scheidung zwischen Ich und Du auf- tischen Lebens und die Begegnung mit dem leidenden
45 Literatur 389

Mitmenschen von außen als »Gnadenwirkung« (W I, 20. Jahrhundert entstandene Werke des britischen
480) gegeben werden. Schriftstellers H. G. Wells bieten einen Fond möglicher
Weitere russische Autoren, die in diesem Zusam- Schopenhauereinflüsse. Hinzu kommen Autoren wie
menhang erwähnt werden müssen, und deren vielfäl- Ambrose Bierce, Joseph Conrad, William Faulkner,
tige Beziehung zur Erkenntnistheorie, Willensmeta- D. H. Lawrence (Lady Chatterley’s Liebhaber, Söhne
physik, Ästhetik und Ethik Schopenhauers bereits von und Liebhaber, Liebende Frauen); H. P. Lovecraft, Her-
der Forschung aufgezeigt und behandelt wurde, sind man Melville, Edgar Allan Poe, George Bernhard
vor allem Leonid Andrejew (Das rote Lachen, Das Le- Shaw, James Joyce, Thomas Wolfe und Samuel Beckett.
ben des Menschen. Ein Spiel in fünf Bildern und Erzäh- Thomas Hardy wurde wegen seines Pessimismus
lung von den sieben Gehenkten), Sergej A. Andrejew- von Kritikern hart angegriffen, so dass er sich nach der
skij (Das Buch vom Tode), Andrej Belyj, Iwan Bunin Fertigstellung seines großen Romans Im Dunkeln.­
(Der Herr aus San Francisco und Brüder), Anton Jude the Obscure entschied, keine weiteren Romane zu
Tschechow (Onkel Wanja, Iwanow, Wanka, Eine lang- schreiben. Er wandte sich der Lyrik zu und blieb die-
weilige Geschichte), Nikolai Leskow (Ein Wintertag), ser Gattung bis zu seinem Tode treu – mit einer Aus-
Wsewolod Garschin (Vier Tage), Iwan Gontscharow nahme, seinem 1903 veröffentlichten, mehr als 500
(Oblomow) und Fjodor Sologub. Seiten umfassenden Drama The Dynasts. In diesem
Dagegen stieß seine Philosophie – vor allem wegen komplexen Lesedrama bringt Hardy eine den Fort-
ihrer Ideologiekritik, ihrem Geschichtspessimismus schrittsgedanken ablehnende und gegen die dialekti-
und ihrer rückhaltlosen Abrechnung mit Utopien je- sche Geschichtsphilosophie Hegels gerichtete Kritik
der nur denkbaren Art – während der sozialistischen zum Ausdruck, die durch die zyklische Geschichtsauf-
Zeit nach Beginn der Russischen Revolution auf hefti- fassung Schopenhauers unverkennbar beeinflusst ist
gen Widerstand. Dafür stellt die Auseinandersetzung (zu Hardy und Schopenhauer vgl. auch Korten 1919;
Gorkis mit Schopenhauer um 1900 ein repräsentati- Bailey 1956).
ves Beispiel dar. Es wurde als politischer Verrat be- Im Roman Im Dunkeln. Jude the Obscure zeichnet
trachtet, sich mit seiner Philosophie zu beschäftigen. sich die Lebensgeschichte des männlichen Protago-
Nach der Perestroika setzte die Schopenhauerrezepti- nisten, Jude Fawley, durch Erwartungen, Wünsche,
on im russischsprachigen Raum wieder ein (zu Scho- Hoffnungen und Illusionen als ein ununterbrochenes,
penhauer und Russland vgl. u. a. Baer 1980; Brang vergebliches Streben nach Erfüllung aus. Als Subjekt
1977; Mclaughlin 1984; Thiergen 2004). des Wollens ist Jude dem ›ewig schmachtenden Tan-
talus‹ bei Schopenhauer vergleichbar – aus seinem
Trachten nach sozialem Aufstieg und Einlösung sei-
England und Amerika
ner Lebensträume ergeben sich im Roman schließlich
Die literarische Rezeption der Philosophie Schopen- nichts als Enttäuschungen und Niederlagen. Vor den
hauers setzte sich in England erst in den 1880er Jahren Augen des Lesers lässt Hardy eine Welt entstehen, die
durch und zwar mit einer deutlich schwächeren Brei- beinahe ausschließlich durch »Sorgen, Mißgeschick
tenwirkung als in der zeitgenössischen russisch- und und Not« (Hardy 1988, 397) gekennzeichnet ist; Sor-
deutschsprachigen Literatur (zur Rezeption Schopen- gen, denen angesichts der dem Leser wiederholt vor
hauers in der britischen und amerikanischen Literatur Augen geführten Vergeblichkeit des Strebens des Pro-
s. auch Kap. 50; 48). Hartmanns Philosophie des Unbe- tagonisten nur durch Abkehr und Verneinung dieser
wussten erschien schon 1883 in englischer Überset- Welt beizukommen ist. Durch das allgegenwärtige
zung, und im gleichen Jahr wurde mit der Übertra- Leid und die ununterbrochene Konfrontation Fawleys
gung der Welt als Wille und Vorstellung begonnen, die mit dem im egoistischen Individuationsprinzip ver-
1886 abgeschlossen wurde. Drei Jahre später folgten hafteten Willen anderer Menschen wird schließlich
die Parerga und Paralipomena. Vor allem die späten die Erkenntnis hervorgetrieben, dass das Nichtsein
Romane Thomas Hardys (Der Bürgermeister von Cas- dem Sein vorzuziehen sei. Die Bejahung des Willens
terbridge, Tess von den d’Urbervilles, Im Dunkeln) sind zum Leben schlägt, als Jude im Sterben liegt, in die er-
von Schopenhauers Denken beeinflusst, aber auch lösende Verneinung um.
dystopische Texte des 20. Jahrhunderts wie z. B. Al- George Eliot hat Die Welt als Wille und Vorstellung
dous Huxleys Schöne neue Welt (1932), William Gol- während der Entstehungszeit des Daniel Deronda von
dings makabre Robinsonade aus dem Jahr 1954, Herr 1874 bis 1876 gelesen, aber ihre Schopenhauer-Kennt-
der Fliegen, sowie zahlreiche um die Wende zum nisse gehen wahrscheinlich auf das Jahr 1852 zurück.
390 IV Wirkung – C Kunst

Sie war damals Mitherausgeberin der Westminster Re- metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik
view, in welcher die oben erwähnte ausführliche Ein- und ihre Anwendung durch Samuel Beckett (1982) vor-
führung in die Gedankenwelt Schopenhauers durch geführt, dass Beckett in seinem Essay Proust aus dem
John Oxenford erschienen ist. In ihren weltanschauli- Jahr 1930 eine Kunstphilosophie entwirft, die eng mit
chen Betrachtungen und Reflexionen in Briefen und der Ästhetik Schopenhauers korreliert. Das in den
Notizbüchern finden sich außerdem Vorstellungen Theaterstücken und Romanen Becketts absurd anmu-
und Gedanken, die eine beachtliche Affinität zur Phi- tende Außerkraftsetzen der Kausalität entspringe, so
losophie Schopenhauers erkennen lassen. Vor diesem Pothast, dem Wunsch, die wegen der räumlich, zeit-
Hintergrund hat E. A. McCobb Daniel Deronda 1985 lich und kausal gegliederten Vorstellungen des Sub-
einer ausführlichen Analyse unterzogen und fest- jekts verschleierte Willensrealität zum Vorschein zu
gestellt, dass es relevanter sei, den Roman im Zusam- bringen. Die beispielsweise in Warten auf Godot und
menhang mit der Philosophie Schopenhauers zu be- Endspiel vorgeführte Isolation der Figuren und ihr da-
trachten als ihn von Max Stirner, Nietzsche und den mit verbundener Relations- und Weltverlust könne
Existenzialisten des 20. Jahrhunderts her verstehen zu heuristisch fruchtbar vor dem Hintergrund des Postu-
wollen. Die gedanklichen Übereinstimmungen zwi- lats der Schopenhauerschen Ästhetik verstanden wer-
schen Daniel Deronda und Schopenhauer zeigen sich den, die Kunst biete als Resultat einer privilegierten
in der Gegenüberstellung der weiblichen und männ- Erkenntnisform eine dem einengenden principium in-
lichen Hauptfigur: Gwendolen, die in ihrer Eigen- dividuationis enthobene Darstellung platonischer Ide-
sucht und ihrer Sorge um die verarmte, aber standes- en. Im Gegensatz zur ›normalen‹ Erkenntnis, die sich
bewusste aristokratische Familie handelt, ist Vertrete- innerhalb der Schranken der Welt als Vorstellung voll-
rin der bedingungslosen Bejahung des Willens zum zieht, sei die Kunstwelt Becketts – ähnlich wie diejeni-
Leben. Unter dem Einfluss ihrer schmerzhaften Le- ge Wilhelm Raabes, Günter Grass’ und Alfred Döblins
benserfahrungen und des weltoffenen, moralisch vor- – bestrebt, die adäquate Objektivität der Willensfak-
bildlichen Deronda, der seine Mitmenschen nie aus tizität jenseits von Zeit, Raum und Kausalität hervor-
dem Blick verliert, vollzieht sich die Wandlung Gwen- zubringen. Nebst dieser Affinität zur Ästhetik Scho-
dolens zu einer Person, die durch Mitleid ihrem penhauers und ihren poetologischen Folgen in den
Nächsten helfend entgegenkommt. Texten Becketts erkennt jeder, der sich seine Stücke
Am deutlichsten treten die Folgen der Auseinan- und Prosa zu Gemüte führt, eine frappierende thema-
dersetzung Joseph Conrads mit der Philosophie Scho- tische Nähe zu den Befunden der Schopenhauerschen
penhauers im Roman Lord Jim hervor, der, ähnlich Existenzdeutung. Becketts Figuren verkörpern das
wie in Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann nichtige, nie endende Streben eines blinden Dranges
(vgl. Fauth 2007, 150 ff.), der Charakterologie Scho- und werden in ihrer existentiellen Not und Angst zwi-
penhauers – ohne dass dies auf Kosten der spezi- schen Langeweile und unerfülltem Verlangen stets
fischen literarischen Originalität der genannten Texte hin- und hergeworfen.
geschieht – narrative Gestalt verleiht. Ein weiteres
Beispiel für die produktive Schopenhauer-Rezeption
Skandinavien
Joseph Conrads stellt der Roman Mit den Augen des
Westens dar. Am Ende dieses Romans vollzieht sich ei- Wer sich mit der Schopenhauer-Rezeption in der dä-
ne grundlegende Wandlung des Protagonisten Rasu- nischen Literatur vor und um 1900 beschäftigt, steht
mow, die mit der Mitleidsethik und Heilslehre Scho- einem noch weitgehend zu erobernden Forschungs-
penhauers eng verbunden ist. Unter dem Einfluss der gebiet gegenüber. Die bislang ausführlichsten Vor-
Liebe (caritas) durchschaut Rasumow plötzlich die arbeiten zur Aufarbeitung der literarischen Schopen-
zerstörerische und teuflische Kraft seines bislang vom hauer-Rezeption in Dänemark hat Børge Kristiansen
Prinzip der erbarmungslosen Vergeltung geleiteten mit seiner Henrik Pontoppidan-Monographie geleis-
Lebens, erkennt die Wahrheit in einem an Dostojew- tet (Kristiansen 2006). Er hat in seiner Analyse nicht
ski erinnernden unbedingten Gebot der Nächstenlie- nur den Einfluss Schopenhauers auf den großen Ro-
be und wird, da dieses Gebot dem revolutionären Pro- man Hans im Glück von Pontoppidan nachgewiesen,
gramm seiner Mitverschworenen widerspricht, von in dem sich die Struktur der Entwicklungsgeschichte
diesen aus Rache für seinen ideologischen Verrat zum des Helden durch eine kritische Auseinandersetzung
Krüppel geschlagen. mit der lebensbejahenden Philosophie Nietzsches aus
Ulrich Pothast hat in seiner Studie Die eigentlich der weltentsagenden Perspektive Schopenhauers pro-
45 Literatur 391

filiert, sondern ist auch den Wegen nachgegangen, tet. Der Aufsatz wurde anlässlich des einhundertsten
welche die Schopenhauer-Rezeption Pontoppidans Geburtstages Arthur Schopenhauers verfasst und
ermöglicht haben. kann als die erste wissenschaftlich haltbare Einfüh-
Für die Aufnahme der Philosophie Schopenhauers rung in die Philosophie Schopenhauers in Dänemark
in Dänemark, aber auch in Schweden hat Eduard von betrachtet werden (vgl. Kristiansen 2006).
Hartmanns Philosophie des Unbewussten eine vermit- Neben Henrik Pontoppidan orientierten sich die
telnde Rolle gespielt. Georg Brandes hat Hartmanns Dichter-Freunde Johannes Jørgensen, Sophus Claus-
Philosophie gekannt, und 1877 hält der schwedische sen und Viggo Stuckenberg – alle drei zählten um die
Schriftsteller und Professor Viktor A. Rydberg eine Jahrhundertwende zu den führenden Autoren Däne-
Reihe einführender Vorlesungen über Leibniz’ Theo- marks – an den literarischen und philosophischen Er-
dizee und den Schopenhauer-Hartmannschen Pessi- eignissen in Frankreich, England und vor allem
mismus (vgl. Rydberg 1900/1901, Bd. II). In der neun- Deutschland. In der von Johannes Jørgensen ins Leben
ten Vorlesung, in welcher Rydberg die Philosophie gerufenen symbolistischen Zeitschrift Taarnet (Der
Hartmanns behandelt, weist er darauf hin, dass Edu- Turm), die in den Jahren 1893 und 1894 erschien, fin-
ard von Hartmann, »der jüngste und gleichzeitig be- det man neben Verweisen auf die französischen Dich-
kannteste und am meisten gelesene unter allen Phi- ter Paul Verlaine, Charles Baudelaire, Stéphane Mallar-
losophen Deutschlands« (ebd., 155) sei. In der siebten mé, Gustave Flaubert, den amerikanischen Novellisten
Vorlesung gibt Rydberg eine ausführliche und kennt- Edgar Allan Poe, die Philosophen Herbert Spencer,
nisreiche Einführung in die Philosophie Schopenhau- John Locke und John Stuart Mill etliche Hinweise auf
ers. Da Rydbergs Vorträge und Vorlesungen auch in deutsche Maler, Denker und Dichter wie z. B. Arnold
der damals bekannten dänischen Zeitschrift Ude og Böcklin, den Mystiker Meister Eckhart, Ludwig Feuer-
Hjemme erschienen sind, hat dies dazu beigetragen, bach, Goethe, Heine, Kant und nicht zuletzt Friedrich
Schopenhauers Philosophie in Dänemark publik zu Nietzsche und Schopenhauer. Johannes Jørgensen
machen (vgl. Kristiansen 2006). übersetzte für die Zeitschrift Taarnet den § 70 aus dem
Eine nachhaltige Wirkung hat ein allerdings erst ersten Band von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt
1884 erschienener Essay Georg Brandes’ über Scho- als Wille und Vorstellung. Mit seinem 1893 erschiene-
penhauer (Brandes 1900 ff.) gezeitigt. Brandes’ Ver- nen Roman Livets Træ (Der Baum des Lebens) wollte
such über Schopenhauer ist oberflächlich und erfüllt Jørgensen, so wörtlich in seinen autobiographischen
allenfalls als eine erste konturierende Orientierung ih- Schriften Mit Livs Legende (Die Legende meines Le-
ren Zweck. Erwähnenswert ist die eingangs formulier- bens), »einen philosophischen Roman über den ›Wil-
te Schlussfolgerung, dass Schopenhauers Leben und len und seine Umkehr‹ (im schopenhauerschen Sin-
Werk bislang weitgehend unbeachtet blieb, ja, dass sei- ne)« (vgl. Nord 2012, 282) konzipieren.
ne Philosophie in Dänemark sogar einer besonders Gustav Wied, der satirische, pessimistische und von
harten Kritik zum Opfer gefallen sei. »Nichtsdestowe- Schopenhauer beeinflusste dänische Realist, dessen
niger«, schreibt Brandes, »ist Arthur Schopenhauer ei- Werke unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwen-
ner der tiefsten Geister, die gelebt haben, einer der We- de erschienen, publizierte z. B. in den Jahrgängen 1888
nigen, die ihrem eigenen Zeitalter meilenweit voraus und 1889 drei Gedichte in Ny Jord, genau zu dem Zeit-
sind« (ebd., 298). Darüber hinaus berührt Brandes den punkt also, als der Schopenhauer-Aufsatz S. Hansens
Aspekt des ›Willens‹, des Leidens und der Verneinung veröffentlicht wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ne-
des Willens zum Leben (für eine ausführlichere Dar- ben Johannes V. Jensen (Einar Elkær) und Gustav
stellung vgl. Kristiansen 2006; 2007; Nord 2012). Wied Autoren wie Henrik Pontoppidan, Herman Bang
Wenige Jahre nach dem Erscheinen von Brandes’ (Hoffnungslose Geschlechter) und der von Schopen-
Essay erschien in einer dänischen Zeitschrift eine hauers Philosophie geradezu obsessiv in Bann geschla-
weitaus kompetentere Darstellung der Schopenhauer- gene Karl Gjellerup die informative Einführung Han-
schen Philosophie. Es handelt sich um eine 25-seitige sens in Schopenhauers Philosophie gelesen haben, ist
Einführung in die Grundgedanken Schopenhauers sehr hoch. Nach banalpsychologisierenden Über-
von einem gewissen S. Hansen, die im Februar 1888 in legungen zur Person Schopenhauers folgen überzeu-
der von namhaften dänischen Dichtern und Intellek- gende Erörterungen der Schopenhauerschen Erkennt-
tuellen abonnierten Zeitschrift Ny Jord (Neue Erde) nistheorie (die transzendentale Vorstellungslehre), der
erschien, und die dem philosophischen Gehalt des Willensmetaphysik (hierunter eine Darstellung der
Schopenhauerschen Systems weitgehend Genüge leis- Selbstzerfleischung des Willens) und eine präzise Er-
392 IV Wirkung – C Kunst

läuterung des Verhältnisses von Wille und Intellekt. und währt bis heute (u. a. bei den norwegischen Auto-
Ferner gibt Hansen eine korrekte Darstellung der äs- ren Karl Ove Knausgaard und Jon Fosse). Eigens her-
thetischen Kontemplation, in der ausnahmsweise die vorzuheben sind – auch in Deutschland um die Zeit
Befreiung des Intellekts vom Sklavendienst des Wil- des Fin de Siècle beachtete – Autoren wie die Norweger
lens ermöglicht wird, und in der das seinen Trieben Bjørnstjerne Bjørnson, Arne Garborg (Müde Seelen),
ausgelieferte Leidenssubjekt des Wollens, allerdings Knut Hamsun, Sigbjørn Obstfelder sowie die Schwe-
nur vorübergehend zum reinen, willenlosen und lei- den August Strindberg und Hjalmar Söderberg. In Sö-
densfreien Subjekt des Erkennens gelangt. Schließlich derbergs Roman Doktor Glas (1905) wird Schopen-
findet man bei Hansen eine Beschreibung der Scho- hauer namentlich genannt, während es als unbestrit-
penhauerschen Soteriologie, der Verneinung des Wil- tene Tatsache gilt, dass Strindbergs Dramen Ein
lens zum Leben, jenes Freiheitsaktes, durch den die Traumspiel, das wenige Jahre nach der schwedischen
ephemere kontemplative Transformation der Erkennt- Uraufführung 1907 in Berlin gespielt wurde (d. h. im
nisweise in der reinen Anschauung der Kunst zu einer März 1916 im Theater in der Königgrätzer Straße) und
dauerhaften Einsicht in den Urgrund des Seins, des ei- Nach Damaskus (schwedische Uraufführung in Stock-
genen Ichs, wird, und so eine endgültige Mortifikation holm 1900; deutsche Erstaufführung 1916 an den
des Leidensursprungs, des Willens, zeitigt (vgl. Kristi- Münchner Kammerspielen) inhaltlich und poetolo-
ansen 2006; 2007). Der oben erwähnte Karl Gjellerup, gisch von Schopenhauers Ästhetik und Ethik beein-
dessen Romane und Erzählungen sowohl in deutscher flusst wurden (Aufhebung von Zeit, Raum und Kausa-
als auch in dänischer Sprache verfasst wurden, und der lität, Vorstellungswelt als Blendwerk der Maja, um nur
1917 gemeinsam mit Henrik Pontoppidan den Nobel- einige Schopenhauer-Anklänge zu benennen; zu
preis für Literatur erhielt, nimmt in der Geschichte der Strindberg und Schopenhauer vgl. u. a. Taub 1956).
skandinavischen Schopenhauer-Rezeption eine Son-
derstellung ein. In seinen Romanen und Erzählungen
Deutschsprachiger Raum
dominiert die Gedankenwelt Schopenhauers der-
maßen, dass bisweilen die literarische Qualität der Tex- Eine erste, keineswegs erschöpfende, Aufzählung
te darunter leidet (zu Gjellerup und Schopenhauer vgl. deutschsprachiger Autoren, die sich in ihrer Weltsicht
Grossmann 1936). von Schopenhauers Philosophie bestätigt fühlten oder
Die Dänen waren mit anderen Worten um die Jahr- in anderer Weise unter dem Einfluss seines Denkens
hundertwende 1900 dank der Vermittlung Rydbergs, standen bzw. noch stehen (poetologisch, ästhetisch
Brandes’, Hansens und Jørgensens mit der Philoso- und ethisch) soll hier versucht werden, um den schier
phie Schopenhauers ausreichend versorgt. Die Wir- unüberschaubaren Umfang der Schopenhauer-Rezep-
kung Schopenhauers reicht aber bis in die gegenwärti- tion in der Literatur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
ge dänischsprachige Literatur. Anerkannte und in hunderts zu illustrieren: Ernst Barlach, Gottfried
Skandinavien preisgekrönte zeitgenössische Roman- Benn, Thomas Bernhard, Wilhelm Busch, Adelbert
autoren wie z. B. Harald Voetmann (geb. 1978) – vor von Chamisso, Alfred Döblin, Marie von Ebner-
allem die Prosatexte Vågen (2010) und Kødet letter Eschenbach, Theodor Fontane, Salomo Friedlaender/
(2012) – und Preben Major Sørensen (geb. 1937) sind Mynona, Stefan George, Günter Grass, Franz Grillpar-
in ihrem Schreiben maßgeblich von Schopenhauers zer, Gerhart Hauptmann, Friedrich Hebbel, Hermann
Gedankenwelt geprägt. Hesse, Ernst Jünger, Franz Kafka, Daniel Kehlmann,
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, dessen Walter Kempowski, Karl Krauss, Alfred Kubin, Theo-
Hauptwerke in den 1840er Jahren entstanden, kam dor Lessing, Thomas Mann, Christian Morgenstern,
erst in seinen letzten Lebensjahren (1854/55) zur Lek- Eduard Mörike, Robert Musil, Wilhelm Raabe, R. M.
türe der zu diesem Zeitpunkt erschienenen Schriften Rilke, Ferdinand von Saar, Gustav Sack, Arno Schmidt,
Schopenhauers, daher es, bei erstaunlichen Ähnlich- Reinhold Schneider, Arthur Schnitzler, Kurt Tuchol-
keiten, nicht zu einer produktiven Rezeption Kierke- sky, Hermann Ungar, Karl Heinrich Waggerl, Frank
gaards kam. Kierkegaards Journalaufzeichnungen zu Wedekind und viele andere. Unten soll exemplarisch
Schopenhauer im Jahr 1854 zeugen aber von einer eine Auswahl genannter Dichter und Prosaisten be-
emphatischen Auseinandersetzung (vgl. Cappelørn handelt werden.
u. a. 2012; s. Kap. 26). Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption ist um-
Die Rezeption Schopenhauers in Schweden und fassend. Sie lässt sich nicht nur im essayistischen Werk
Norwegen setzte wie in Dänemark kurz vor 1900 ein nachweisen, sondern hat ebenfalls seine Weltsicht,
45 Literatur 393

Denkart und sein dichterisches Werk in entscheiden- ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf
der Weise geformt. Die erste Bekanntschaft mit der Würde und ein bedingtes Glück der Fassung ver-
Gedankenwelt Schopenhauers ist dem jungen Thomas schworenes Leben« und schließlich als »die Niederla-
Mann durch Nietzsches Geburt der Tragödie vermittelt ge der Zivilisation, der heulende Triumph der unter-
worden, deren gedankliche Grundstrukturen Nietz- drückten Triebwelt« (ebd., XIII, 136) bestimmen und
sche weitgehend aus Schopenhauers Willensmetaphy- definieren kann. Im Grundmotiv, das sich in der Figu-
sik übernommen hat. Als Thomas Mann Die Welt als rendarstellung des dichterischen Werkes, in der Ge-
Wille und Vorstellung liest – vermutlich 1897/98 – wird schichts-, Kultur- und Zivilisationsauffassung Tho-
die Lektüre für ihn zu einem Initialerlebnis, das grund- mas Manns manifestiert, spiegelt sich allenthalben die
legender und bleibender Art war. In den Betrachtungen Auffassung Schopenhauers von der Herrschaft eines
eines Unpolitischen heißt es über die erste Begegnung: Willens wider, der den Intellekt lediglich als sein
»So liest man nur einmal. Das kommt nicht wieder« Werkzeug ins Leben gerufen hat:
(Mann 1974, XII, 72). Es sei »ein seelisches Erlebnis
ersten Ranges und unvergesslicher Art« (ebd., XI, »Die Wahrheit jedoch, bitter wie sie sei, verlangt das
111), bezeugt Thomas Mann 1930 in seinem Lebens- Eingeständnis, daß alles Geistig-Gedankliche nur
abriß. In Bezug auf die erste Schopenhauerlektüre schlecht, nur mühsam und kaum je auf die Dauer auf-
spricht Mann immer wieder von »Erschütterung« kommt gegen das Ewig-Natürliche. Wie wenig die Eh-
(ebd., XI, 379), »Erfülltheit« und »Hingerissenheit« renannahmen der Sitte, die gesellschaftlichen Über-
(ebd., XI, 111); im Wagner-Essay ist die Rede von einer einkünfte auszurichten vermögen gegen das tiefe,
»selig-unverhofften Bekräftigung und Erläuterung des dunkle und schweigende Gewissen des Fleisches; wie
eigenen Seins« (ebd., IX, 397). Diese Worte enthüllen, schwerlich sich dieses vom Geiste und vom Gedanken
dass die Schopenhauersche Gedankenwelt für Thomas betrügen läßt, das mußten wir schon in Frühzeiten der
Mann weit mehr bedeutete als eine intellektuelle Berei- Geschichte, anläßlich von Rahels Verwirrung erfah-
cherung; die Begegnung mit dem Verfasser der Welt als ren« (ebd., V, 1087).
Wille und Vorstellung hat in die Tiefe gewirkt und ist zu
einem bleibenden, von wiederholten Schopenhauer- Die Übermacht der irrationalen Natur über Geist,
Lektüren angeregten Erlebnis geworden, das eine Vernunft und Moral tritt in der Figurendarstellung
nachhaltige, kaum zu überschätzende Wirkung auf dadurch hervor, dass Friedemann (aus der Erzählung
sein literarisches Schaffen ausübte. Der kleine Herr Friedemann), Gustav von Aschenbach
»Diese Metaphysik«, notiert Mann 1936 im Essay (Der Tod in Venedig), Joachim Ziemßen (Der Zauber-
Freud und die Zukunft, dabei Schopenhauers Lehre berg), Mut-em-enet (Joseph und seine Brüder) zwar
vom Primat des Willens im Selbstbewusstsein kon- sämtliche, ihnen zur Verfügung stehende rationale
genial repetierend, »lehrte in dunkler Revolution ge- Mittel einsetzen, um ihre apollinische Zivilisation auf-
gen den Glauben von Jahrtausenden den Primat des rechtzuerhalten, aber dafür ihre natürlichen Neigun-
Triebes vor Geist und Vernunft, sie erkannte den Wil- gen in einem solchen Ausmaß unterdrücken und aus-
len als Kern und Wesensgrund der Welt, des Men- grenzen müssen, dass der Durchbruch der verbotenen
schen so gut wie aller übrigen Schöpfung, und den In- natürlichen Lebensdimensionen mit dialektischer
tellekt als sekundär und akzidentell, als des Willens Notwendigkeit heraufbeschworen wird. Diese bre-
Diener und schwache Leuchte« (ebd., IX, 483). Wie chen in die Zivilisation ein und führen letztlich zum
bei Wilhelm Raabe, Thomas Hardy, D. H. Lawrence, »heulenden Triumph der unterdrückten Triebwelt«
August Strindberg und zahlreichen anderen der in (ebd., XIII, 136).
diesem Beitrag behandelten und erwähnten Dichter Neben Thomas Manns Rezeption der Schopenhau-
wurde die »große Erlaubnis zum Pessimismus« (ebd., erschen Anthropologie spielen auch Schopenhauers
IX, 320, 761) Manns durch die den Vorrang der blin- Mitleidsethik und Heilslehre eine gewisse Rolle in sei-
den Triebe über die Vernunft stets betonende Anthro- ner Gedankenwelt. Er stand zwar jahrelang der ›Ver-
pologie Schopenhauers bestätigt. Erst vor diesem neinung des Willens zum Leben‹ kritisch gegenüber,
Hintergrund wird verständlich, dass Thomas Mann betrachtete sie als akzidentelles Beiwerk der eigentli-
»das durchgehende, mein Gesamtwerk gewisserma- chen Willensmetaphysik, kommt aber allmählich vor
ßen zusammenhaltende Grund-Motiv« (ebd., XIII, dem Hintergrund der Verbrechen des Nazi-Regimes
135) als die »Idee der Heimsuchung, des Einbruchs zur Erkenntnis, dass die Maßnahmen der Vernunft erst
trunken zerstörender und vernichtender Mächte in dann zu einer besseren Welt werden beitragen können,
394 IV Wirkung – C Kunst

wenn sich der Mensch vorher durch Erlebtes und Erlit- was später bei Günter Grass (z. B. Die Blechtrommel)
tenes von dem egoistischen in den mitleidigen Men- und Alfred Döblin (Wallenstein) wiederkehrt. Nicht
schen gewandelt hat (ebd., XIII, 711 f.). Auch die trans- nur bei Raabe, sondern auch bei Grass und Döblin ent-
zendentale Auffassung der Zeit, die Thomas Mann in springt sie einer impliziten Poetologie, die in Schopen-
Der Zauberberg, aber auch in anderen Werken durch ei- hauers Ästhetik tief verwurzelt ist. Hinter den ver-
ne bis ins kleinste Detail ausgerichtete Leitmotivstruk- gänglichen Erscheinungsformen der erzählten ›Vor-
tur zum Vorschein bringt, welche durch Wiederholung stellungswelt‹ sollen die bleibenden Wahrheiten der
die sich unaufhaltsam verändernde Vorstellungswelt Welt als Wille offenbart werden.
dank einer metaphysischen Tiefenschau zum Stillstand Seit den ersten anhand von Briefen und Tagebuch-
führt, geht auf Manns lebenslängliche Auseinanderset- eintragungen im November 1868 (vgl. Fauth 2007,
zung mit der Philosophie Schopenhauers zurück, wie 21 ff.) nachweisbaren intensiven Auseinandersetzun-
der Brief vom 12. Oktober 1932 an Käte Hamburger gen Raabes mit der Philosophie Schopenhauers wer-
zeigt: »Auch ich verstand mich früher nur (durch Scho- den die expliziten und impliziten Verweise auf Scho-
penhauer) auf die ›Idealität‹ von Zeit und Raum und penhauers Philosophie zahlreicher. Die Verweise tre-
kam auf ihre physikalischen Beziehungen, ohne Nova- ten meist in verkappter Form oder als unmarkierte
lis, geschweige Einstein, ordentlich gelesen zu haben.« Zitate und Anspielungen auf, daher erfordert ihre
Zu den prominentesten Beispielen deutschsprachi- Entschlüsselung eine nahezu detektivische Vorgehens-
ger Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Poesie weise des Lesers. Wie u. a. auch bei Thomas Mann und
und Prosa mit Gewinn im Horizont Schopenhauers Günter Grass enthält die Prosa Wilhelm Raabes eine
interpretiert werden können, soll in der Folge das unmissverständliche Absage an jegliche Idee des Fort-
Werk Wilhelm Raabes näher betrachtet werden. Die schritts. Dargestellt wird die Geschichte als Schauplatz
oben erörterte pessimistische Anthropologie Thomas einer immer wiederkehrenden »Schlächterei ohne En-
Manns, d. h. die Schopenhauer verwandte Vorstellung de« (Raabe 1960 ff., Bd. 17, 175) oder wie es in einer
vom Primat des Willens (natura sensibilis) über den Notizbuchaufzeichnung Raabes vom 8. März 1875
Intellekt (natura intelligibilis) wird in den späten Tex- heißt: »Was ist solch ein unbedeutendes Gemetzel wie
ten (annährend seit 1870–1902) antizipiert. Wilhelm bei Cannä, Leipzig oder Sedan gegen [die] fort und fort
Raabe hat als Verfasser historischer Romane in die Li- um den Erdball tosende Schlacht des Daseins?« (ebd.,
teraturgeschichte Eingang gefunden. Richtig ist, dass Erg.bd. 5, 335). Geschichtliche Ereignisse wiederholen
zahlreiche Erzählungen und Romane Raabes auf fak- lediglich unter neuem Vorzeichen bereits Stattgefun-
tische historische Ereignisse zurückgreifen, darunter denes. Das Stattgefundene, jetzt und in Zukunft Statt-
häufig Ereignisse aus dem Siebenjährigen (Die Inners- findende ist durch Leid, Qual, Elend, Schmerz, Gewalt,
te, Hastenbeck) und dem Dreißigjährigen Krieg; dabei kriegerische Bestialität und Egoismus gekennzeich-
gilt, stets zu beachten, dass die vordergründige Hand- net. Die historischen Romane Wilhelm Raabes korres-
lung und ihre jeweilige Einbettung in einen bestimm- pondieren bei genauer Lektüre mit der im 38. Kapitel
ten historischen Zusammenhang von einem Wirrwarr des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung
zeitlich und räumlich auseinanderliegender Ereignisse formulierten Kritik der Geschichtswissenschaft als ei-
– durch narrative Exkurse, Intertextualität und die ner an der ›Oberfläche‹ der Welt weilenden Wissen-
Vermengung mythischer und historischer Zeit – schaft, die anstatt das Allgemeine zu betrachten, stets
durchbrochen wird. Anstatt einer linearen, kausal fort- das Einzelne und Epochenspezifische vor Augen hat.
schreitenden Handlung entsteht eine narrative Welt, Die menschliche Geschichte entpuppt sich bei Raabe
die durch Konfusion gekennzeichnet ist (vgl. z. B. Höx- als eine sich für immer im Kreis bewegende Repetition
ter und Corvey und Das Odfeld). Sowohl der Leser als miserabler Zustände, denen der Mensch nur aus-
auch die Figuren der Texte verlieren die Orientierung. nahmsweise und vorübergehend, darin der Mitleids-
Hinter dieser Schreibstrategie, die eine modern, wenn ethik und Ästhetik Schopenhauers entsprechend,
nicht gar postmodern anmutende Textoberfläche zum durch ästhetische Kontemplation (als reines Subjekt
Vorschein bringt, verbirgt sich die Bemühung, das vor- des Erkennens) oder Mitleid und Nächstenliebe zu
dergründige Geschehen auf eine zeit- und raument- entrinnen vermag.
hobene, metaphysische Wahrheit über die Grund- Arno Schmidt, einer der eigenartigsten deutsch-
befindlichkeiten menschlichen Seins hin zu entschlei- sprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ver-
ern. Diese für Raabe typische zeit-, raum- und indivi- weist in seinem umfangreichen Werk mehrfach expli-
duationsüberbrückende Erzählweise greift dem vor, zit auf Wilhelm Raabe und Schopenhauer. In der frü-
45 Literatur 395

hen Erzählung Leviathan (1946 entstanden) mit dem ges in ein stehendes Jetzt einer allgegenwärtigen
auf Gottfried Wilhelm Leibniz weisenden signifikan- Gleichzeitigkeit verwandelt, wie u. a. auch bei Raabe,
ten Untertitel oder Die beste der Welten wird eine ähn- Mann, Döblin und Tolstoi.
lich fortschrittsskeptische Deutung der Geschichte Wirft man einen Blick auf das von Jürgen Born
vorgelegt wie in den Erzählungen Wilhelm Raabes. (1990) rekonstruierte Verzeichnis der Privatbiblio-
Leibniz’ optimistische Behauptung von einer besten thek Kafkas, dann wird ersichtlich, dass der Leser
aller möglichen Welten schlägt bei Arno Schmidt Kafka neben einem bedeutenden Interesse für Schrift-
kontrafaktisch in ihr Gegenteil um. Wie bereits Vol- steller und Dramatiker wie Dostojewski, Tolstoi,
taires Candide ou L ’optimisme (dt. Candid oder Die Shakespeare, Flaubert, Hamsun und Strindberg auch
beste der Welten) aus dem Jahr 1759, eine – von Scho- eine Vorliebe für biographische Schriften (Briefe,
penhauer hoch geschätzte – bissige Satire auf Leibniz’ Biographien und Autobiographien) und eine beacht-
Monadologie, legt Arno Schmidt, von Schopenhauer liche Sammlung von Darstellungen zur Religion und
und Raabe flankiert, eine Kriegserzählung vor, wel- Philosophie besaß. Unter den Schriften zur Religion
che ›die beste der Welten‹ in die ›schlechteste‹ trans- ragen Studien zum Judentum, zur jüdischen Mystik
formiert. Dieser zyklischen, der Perfektibilitätsvor- und zum Zionismus hervor, während die philosophi-
stellung und Vernunftgläubigkeit der Aufklärung wi- schen Schriften eine deutliche Neigung zu Søren
derstreitenden Vorstellung einer sich ewig wieder- Kierkegaard und Schopenhauer bekunden. Abge-
holenden Historie des Krieges wird nicht nur in Arno sehen vom 1., 7. und 12. Band besaß Kafka die von
Schmidts Leviathan und Seelandschaft mit Pocahon- Rudolf Steiner besorgte 12-bändige Ausgabe der
tas, sondern auch in Schwarze Spiegel Ausdruck ver- sämtlichen Werke Arthur Schopenhauers. Berühmte
liehen. In der dystopischen Erzählung Schwarze Spie- Erzählungen und Romane Kafkas wie z. B. Das Urteil,
gel wird der aufklärungsskeptischen Position mehr- In der Strafkolonie und Der Prozess kreisen um die
fach durch die Stimme des Ich-Erzählers Ausdruck Grundannahme einer dem Leben innewohnenden
verliehen: »Vor der Sperre – wo ein Leichenberg hauf- Schuld (vgl. Fauth 2009), welcher der Mensch nicht
te, drehte ich um, und ging den Korso wieder zurück: durch Ausübung irdischer Gerechtigkeit entfliehen
dazu also hatte der Mensch die Vernunft erhalten« kann. Wenn sich die Schuld auch im je konkreten
(Schmidt 1987, 224). Die Dialektik der Aufklärung Handeln offenbare, so Schopenhauer, liege ihre Wur-
Adornos und Horkheimers wird hier prägnant von zel in unserer Essentia (vgl. W II, 693). Eine das
der Schmidtschen Erzählfigur in Prosa verwandelt. menschliche Sein als solches bestimmende Schuld ist
Nicht nur wird die Vernunft durch Unvernunft ent- nur, wenn überhaupt, durch radikale Verneinung der
machtet, sondern die Vernunft entmachtet sich selbst, Welt und des Ego zu eliminieren. Die irdische Ge-
indem sie dialektisch in ihr eigenes Gegenteil um- rechtigkeit in Form eines demokratischen Rechts-
schlägt. Unmittelbar danach erreicht die Misanthro- staates ist bei Kafka durch den Gedanken einer ewi-
pie des Ich-Erzählers einen neuen Höhepunkt: »(Und gen Gerechtigkeit ersetzt, welche die Welt in ein Welt-
wenn ich erst weg bin, wird der letzte Schandfleck gericht verwandelt (s. Kap. 6.6).
verschwunden sein: das Experiment Mensch, das
stinkige, hat aufgehört!)« (ebd.). Oder wie es pro- Literatur
grammatisch in Seelandschaft mit Pocahontas, die Adamy, Bernhard: Nicht nur ›Enkel der Aufklärung‹. Scho-
poetologische Überlagerungsstrategie der Allgegen- penhauer-Anklänge bei Erich Kästner. In: Schopenhauer-
Jahrbuch 68 (1987), 122–146.
wart und Gleichzeitigkeit auf den Punkt gebracht, Atzert, Stephan: Schopenhauer und Thomas Bernhard. Zur
lautet: »Hellsehen, Wahrträumen, second sight, und literarischen Verwendung von Philosophie. Freiburg i. Br.
die falsche Auslegung dieser unbezweifelbaren Fäno- 1999.
mene: der Grundirrtum liegt immer darin, daß die Baer, Joachim T.: Anregungen Schopenhauers in einigen
Zeit nur als Zahlengerade gesehen wird, auf der nichts Werken von Tolstoj. In: Die Welt der Slaven XXIII (1978),
229–247.
als ein Nacheinander statthaben kann. ›In Wahrheit‹
Baer, Joachim T.: Schopenhauer und Afanasij Fet. In: Scho-
wäre sie durch eine Fläche zu veranschaulichen, auf penhauer-Jahrbuch 61 (1980), 90–103.
der Alles ›gleichzeitig‹ vorhanden ist; denn auch die Baer, Joachim T.: Arthur Schopenhauer und die russische
Zukunft ist längst ›da‹ (die Vergangenheit ›noch‹)« Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Mün-
(ebd., 394). Die adäquate Metapher der faktischen chen 1980.
Zeit ist die des Kreises, der Wiederholung, der ›Flä- Baer, Joachim T.: Schopenhauer und Fedor Sologub. In:
Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 511–522.
che‹. Auf dieser Fläche wird Vergangenes und Künfti-
396 IV Wirkung – C Kunst

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398 IV Wirkung – C Kunst

46 Bildende Kunst Artverwandtschaft aufgesucht werden, die eine wech-


selseitige Bedingung geistiger Inhalte und konstituti-
»Alles Urdenken geschieht in Bildern« (W II, 87 (ZA)). ver Eigenschaften zwischen Bildender Kunst und Phi-
Bereits dieses Zitat, das Schopenhauers Hauptwerk losophie aufzuzeigen vermag. So zeigt – als aktuelles
Die Welt als Wille und Vorstellung entstammt, verdeut- Beispiel – Hans Zitko mit seinem Aufsatz »Die ir-
licht die Macht der Bilder, die Vormachtstellung der dische Hölle. Über Bruce Nauman und Arthur Scho-
Anschauung gegenüber dem reflexiven Denken, die penhauer« (2005) Verbindungslinien zwischen dem
Schopenhauer »als Kern jeder ächten und wirklichen Konzeptkünstler Bruce Nauman und Schopenhauer
Erkenntniß« versteht (W II, 87 (ZA)). Das Kunstwerk auf und wendet so die Philosophie Schopenhauers
galt seit jeher für viele Kunstschaffende nicht nur als nicht nur auf den aktuellen Kunstdiskurs an, sondern
Ausdruck außerordentlicher Kreativität, sondern als verdeutlicht einmal mehr die Aktualität seines Den-
ein Spiegel künstlerischer Reflexion über die Welt, ein kens. Methodisch ist dennoch stets Vorsicht geboten,
Zeugnis einer ebensolchen »wirklichen Erkenntniß« das Verhältnis zwischen Künstler und Philosophen
im Sinne Schopenhauers, die mit der künstlerischen nicht als das von »Ursache und Wirkung« zu fassen
Fähigkeit, der Welt rein anschauend entgegenzutreten, (vgl. Wyss 2005, 95), sondern den künstlerischen
verbunden ist. Diese künstlerische Fertigkeit erhält Schaffensprozess als eigenen Akt der Kreativität zu be-
durch Schopenhauer einen Fürsprecher, in dessen Phi- greifen, der – wenn überhaupt – eine Bestätigung oder
losophie die Kunst einen integrativen Bestandteil dar- Ergänzung durch die Philosophie erhält. Weder sollte
stellt und einer Vielzahl bildender Künstler unter- die Philosophie Schopenhauers als ›Anleitung‹ für die
schiedlicher Stilrichtungen Anknüpfungspunkte für künstlerische Schaffensweise ausgelegt werden, noch
ihr Kunstschaffen bot sowie die Kompatibilität der die künstlerische Schaffensweise als eine Paraphrasie-
Schopenhauerschen Philosophie mit unterschiedli- rung einer stattgefundenen Schopenhauer-Lektüre.
chen künstlerischen Denkweisen bezeugt. Der Umgang bildender Künstler mit der Philoso-
Daher stellt sich erstens die Frage, wie diese Verbin- phie Schopenhauers und der damit verbundene kon-
dung zu bestimmen ist und zweitens, wie sie dem krete Gewinn für ihr Kunstschaffen ist somit kritisch
künstlerischen Schaffensakt zu Gute kommt und in- zu reflektieren und geht mit der Frage einher, ob es
wiefern sie sich genau im künstlerischen Medium wi- sich um eine eigenständige Schopenhauer-Rezeption
derzuspiegeln vermag. Hierbei gilt es zu beachten, anhand einer Lektüre erster oder zweiter Hand han-
dass es sich im Allgemeinen bei der Bildenden Kunst delt oder ob ein Bezug zur Philosophie Schopenhau-
um einen Bereich von Weltaneignung und -auseinan- ers über weltanschauliche Aspekte der jeweiligen
dersetzung handelt, die der Vorgehensweise der Phi- Kunstdekade und dem hiermit verbundenen Künst-
losophie diametral entgegengesetzt ist. Während letz- lerverständnis gegeben ist.
tere ihre Resultate begrifflich diskursiv darlegt, ver-
steht sich die produktive Verfahrensweise Bildender
Bisherige Forschungsliteratur zum Thema
Kunst wie oben dargelegt zuallererst über die An-
schauung. Daher erscheint es angemessener, den Das Interesse an dieser Fragestellung spiegelt sich be-
wechselseitigen Bezug Schopenhauers zur bildenden sonders in dem von Günther Baum und Dieter Birnba-
Kunst nicht als ›Einfluss‹ zu fassen, sondern mit den cher 2005 herausgegebenen Sammelband Schopenhau-
Termini ›Auseinandersetzung‹ oder ›Aneignung‹. Zu- er und die Künste wider, der eine Vielzahl anregender
dem gilt es vorab zu berücksichtigen, dass bei dieser Aufsätze vereint, die unter Berücksichtigung unter-
Fragestellung zwischen zwei Zugangsweisen unter- schiedlicher Aspekte die künstlerische Auseinander-
schieden werden muss: Während sich einerseits eine setzung mit dem deutschen Philosophen belegen.
direkte und fundierte Auseinandersetzung mit der Auch der im Jahr 2010 im Rahmen des IV. Essay-Wett-
Philosophie Schopenhauers von künstlerischer Warte bewerbs der Schopenhauer-Gesellschaft zum Thema
aus anhand von Quellenmaterial wie Briefkorrespon- »Schopenhauer und die Künste« preisgekrönte Beitrag
denzen, Künstlerschriften und Tagebucheinträgen be- von Martina Kurbel mit dem Titel »Direkte und indi-
legen lässt – so beispielsweise bei namhaften Künst- rekte Einflüsse Schopenhauers auf Giorgio de Chiricos
lern wie Max Beckmann, dem italienischen Maler und pittura metafisica« ist nicht nur ein hervorzuhebendes
Schriftsteller Giorgio de Chirico sowie dem deutschen Exempel für das Interesse an diesem Themengebiet,
Grafikkünstler Max Klinger –, kann des Weiteren über sondern leistet einen wesentlichen Beitrag zu einer Re-
einen indirekten Vergleich beider Disziplinen eine lativierung der bis heute omnipräsenten Vormacht-
46  Bildende Kunst 399

stellung Friedrich Nietzsches zugunsten einer ver- außer sich gesetzten Ziel, sei er auch metaphysischer
stärkten Fokussierung auf den Nietzsche-Lehrer Scho- Art, verpflichtet ist. Um in einen modernen, gar ak-
penhauer. Auch in einigen in den 1990er Jahren he- tuellen Kunstdiskurs gestellt zu werden, mag die Scho-
rausgegebenen Sammelbänden wurde der Bezug penhauersche Nomenklatur häufig nicht zeitgemäß
zwischen Bildender Kunst und der Philosophie Scho- wirken, ja mit ihrem Bezug zur Ideenlehre Platons
penhauers thematisiert: Hier sind u. a. die 1991 und und einer einseitigen Interpretation dieser als einem
1996 erschienenen Sammelbände Schopenhauer, Nietz- Verhältnis von Bild zu Abbild für eine Verbindung mit
sche und die Kunst sowie Schopenhauer, Philosophy, and Theorien einer modernen Kunstauffassung mehr hin-
the Arts zu nennen. Die 1996 erschienene Monogra- derlich als förderlich erscheinen (vgl. Baum 2005, 80).
phie des Schweizer Kunsthistorikers Beat Wyss mit Ungeachtet dessen gibt es innerhalb der Philoso-
dem Titel Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Menta- phie Schopenhauers Elemente, die für Künstler über-
lität der Moderne verdient in diesem Zusammenhang greifende Relevanz besitzen und geschätzt werden.
insofern Beachtung, als der Autor nicht nur u. a. die Hier ist vor allem der besondere Erkenntnisgewinn
Stellung Schopenhauers im Hinblick auf die Bildende hervorzuheben, den die Kunst nach Schopenhauer
Kunst analysiert, sondern dies v. a. unter besonderer bietet, das »Wesentliche der Welt, den wahren Gehalt
Berücksichtigung des modernen Kunstdiskurses mit ihrer Erscheinungen« (W I, 239 (ZA)) auszudrücken.
Blick auf die klassische Moderne tut. Obgleich auch ei- Richtet sich die gewöhnliche Wahrnehmung der Welt
nige Aufsätze zu diesem Themengebiet existieren, die nach dem Satz vom Grund, der nach Schopenhauer
mitunter sicherlich auch fruchtbare Gedanken bein- den Modus gewöhnlicher Erkenntnis darstellt und
halten, kann hinsichtlich einer Analyse der Beziehung dem Willen unterworfen ist, »reißt [die Kunst; M. K.]
der Philosophie Schopenhauers zur Bildenden Kunst das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Stroh-
mehr von einem Desiderat als einem eigenen For- me des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich« (W I, 239
schungsfeld gesprochen werden. (ZA)). Kunst ermöglicht es nach Schopenhauer, sich
rein anschauend zu verhalten, »die ganze Macht seines
Geistes der Anschauung« (W I, 232 (ZA)) hinzugeben,
Einleitende Gedanken zum Schopenhauerschen
um nicht mehr »das einzelne Ding als solches« (W I,
Kunstbezug
232 (ZA)), sondern die zugrundeliegende Idee erken-
Die Kunst nimmt in der Philosophie Schopenhauers nen zu können (vgl. W I, 232 (ZA)). Diesen Vorzug der
eine zentrale Stellung ein und findet eingehende Erläu- Anschauung gegenüber dem reflexiven Denken, den
terungen im 3. Buch von Die Welt als Wille und Vorstel- wahren Gehalt der Welt wahrzunehmen, spricht Scho-
lung (s. Kap. 6.5). Im Kontext der Schopenhauerschen penhauer in besonderem Maße dem künstlerischem
Willensmetaphysik bieten Kunst und Askese optionale Genie zu (vgl. W I, 240, 251 (ZA)). Über die exponier-
Lösungswege, sich von der Herrschaft des Willens zu te Stellung, die hierbei der Intuition zukommt, wird
befreien, mit dem Unterschied, dass es sich bei der der Künstler dazu befähigt, die Dinge rein und los-
Kunst um eine zeitweilige Loslösung handelt, während gelöst vom weltlichen Zusammenhang wahrzuneh-
die Askese einen dauerhaften Modus der Befreiung aus men. Seine Genialität im Verein mit der Phantasie als
dem Willenskreislauf darzustellen vermag. seinem »wesentliche[n] Bestandtheil« (W I, 241 (ZA))
Trotz eines so bedeutenden Status, den Schopen- befähigt den Künstler dazu, an den Naturerscheinun-
hauer der Kunst zukommen lässt, hat seine Ästhetik gen ihren wahren Kern als ihre Idee anzuschauen und
mit Blick auf den Kunstdiskurs immer wieder mit so diese auf adäquate Weise im Medium des Bildes wie-
manchem Vorurteil zu kämpfen. Gerade mit Blick auf derzugeben (vgl. W I, 241 (ZA)).
moderne Kunsttheorien wie sie sich an der Wende Im Hinblick auf gestalterische Maßnahmen erhält
vom 19. zum 20. Jahrhundert herausbilden, scheinen das Kunstschöne gegenüber dem Naturschönen bei
sich innerhalb der Ästhetik Schopenhauers einige Schopenhauer insofern einen Vorrang, als der Kunst
Barrieren aufzutun: Der metaphysische Rahmen der und dem Künstler die Fähigkeit einer vollkommene-
Philosophie Schopenhauers und die mit ihm propa- ren Darstellungsweise des Wesens der Dinge im Ver-
gierte Stellung der Kunst als adäquater Ausdruck der gleich mit der Natur zugesprochen werden (vgl. HN
platonischen Ideen divergieren auf den ersten Blick III, 209 f.; W I, 282 f. (ZA)). Auch wenn Schopenhauer
augenscheinlich mit dem Autonomiegedanken abs- hierbei auf eine künstlerische Naturbetrachtung re-
trakter Kunst, der mit der Formel l’art pour l’art einen kurriert, aus der der Künstler seine Anregung schöpft,
Selbstzweck der Kunst postuliert, die somit keinem gewinnt seine besondere Befähigung zu dieser An-
400 IV Wirkung – C Kunst

schauungsart, vor allem mit Blick auf Kunstströmun- spielsweise bei den Nabis. So schreibt Maurice Denis,
gen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an Bedeutung: Mitbegründer dieser Künstlervereinigung: »Nous fai-
Das Erschließen von Bildinhalten richtet sich ver- sions un singulier mélange de Plotin, d’Edgar Poe, de
stärkt nicht mehr an einer nachahmenden Wieder- Baudelaire et de Schopenhauer« (Rookmaaker 1972,
gabe des Geschauten im Medium des Bildes aus, son- 165). Zudem gründet sich der Status Schopenhauers
dern findet aus einer eigenen, kontemplierenden als »moderne[r] Denker schlechthin« (Nakov 2005,
Schau des wahren Wesens der Welt statt, um darauf- 167) in einem in Frankreich zu dieser Zeit aufkom-
hin im jeweiligen Kunstwerk dargestellt zu werden. menden allgemeinen Interesse an dem philosophi-
Hier findet sich die Vormachtstellung der Intuition schen Idealismus; neben den Schriften Schopenhau-
bestätigt und die mit ihr einhergehende künstlerische ers werden ebenfalls die Schriften Kants und Hegels
Fähigkeit zur »reinen Weltwahrnehmung und genia- in Künstlerkreisen diskutiert (vgl. Hofmann 1987,
le[n] Weltvollendung« (Fleiter 2010, 10), die bereits 231) wie auch diejenigen Plotins. Auch wenn dabei
auf eine Entwicklung gegenstandsloser Malerei vo- Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung bei
rausweist, innerhalb derer »der Künstler ein ästheti- Weitem der Rang des »most influential text« dieser
sches Gebilde, das losgelöst ist von subjektiver Wahr- Zeit zukommen mag (Cheetham 1991, 15), gilt es
nehmung« (ebd.) erschafft. Man denke hier beispiels- doch zu beachten, dass es sich von künstlerischer
weise an Gemälde des russischen Avantgardekünst- Warte aus sicherlich nicht immer um ein intensives
lers Kasimir Malewitsch, der als Begründer des Studium der Schopenhauerschen Philosophie gehan-
Suprematismus mit seinem »Schwarzen Quadrat auf delt haben mag. Den Künstlern ging es wohl eher um
weißem Grund« ein bahnbrechendes Exempel für ein Herausgreifen einzelner relevanter Aspekte, die
Formen der künstlerischen Neugestaltung geschaffen für den jeweiligen weltanschaulichen Kontext frucht-
hat, oder an Werke Piet Mondrians und Theo von bar gemacht werden konnten. Bei Paul Cézanne – mit
Doesburgs rund um die DeStijl-Bewegung, die mit ih- Henri Rousseau, Vincent van Gogh und Paul Gau-
ren geometrischen Werken keinerlei Bezug mehr zu guin einer der sogenannten vier Väter der Moderne
subjektiven Wahrnehmungsweisen bieten. (vgl. Hofmann 1987, 190–242) – ist beispielsweise ei-
ne eigenständige Schopenhauer-Lektüre nicht ein-
deutig belegt, doch macht der Kontakt Cézannes zu
Direkte Künstlerrezeptionen der Philosophie
Émile Zola, der in La joie de vivre (1884) Schopen-
Schopenhauers
hauersches Gedankenmaterial einfließen lässt, zu-
Doch nicht nur Schopenhauers Ausführungen zum mindest einen Bezug zweiter Hand zur Philosophie
Künstlerindividuum sind für die bildende Kunst von Schopenhauers wahrscheinlich (vgl. Marhold 1985,
Bedeutung. Blickt man auf die aktive künstlerische 202; 1987, 109). In zwei gewinnbringenden Aufsätzen
Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopen- zu diesem Thema erarbeitet Hartmut Marhold (1985;
hauers, so zeigt sich ein reges Interesse an einer Viel- 1987) die erstaunlich nahen Parallelen im Denken
zahl unterschiedlicher Aspekte. Eine allgemeine Aus- von Schopenhauer und Cézanne beispielsweise hin-
einandersetzung und Rezeption der Schopenhauer- sichtlich der besonderen künstlerischen Weltwahr-
schen Schriften innerhalb der Künstlerkreise setzt nehmung und Erkenntnis verbunden mit der Fähig-
insbesondere nach seinem Tod im Jahr 1860 ein. Da- keit, sich im jeweiligen Objekt der Betrachtung zu
bei geht das Interesse über Deutschland hinaus und verlieren (vgl. Marhold 1985, 203 f.).
lässt sich am Ende des 19. Jahrhunderts besonders in Für das Bildungsbürgertum des Fin de Siècle bildet
Frankreich verzeichnen, wo Schopenhauer wie nahe- der pessimistische Grundtenor der Schopenhauer-
zu in ganz Europa verstärkt auch im künstlerischen schen Gesamtphilosophie einen zentralen Anbin-
Milieu zu einer Art Modephilosophen avanciert. Eine dungspunkt, der im Gegensatz zur damals aktuellen
französische Übersetzung von Die Welt als Wille und wissenschaftstheoretischen Position des Positivismus
Vorstellung im Jahr 1886 (s. Kap. 51) macht eine aktive das Bewusstsein für die gesellschaftliche Endzeitstim-
Auseinandersetzung mit seinen Schriften bei Künst- mung der Dekadénce fördert, die in der Zeit vor Aus-
lern und Schriftstellern in Frankreich möglich, wie bruch des Ersten Weltkrieges in ganz Europa spürbar
z. B. im Falle von Joris-Karl Huysmans und Émile gewesen ist. Für diese Generation avanciert Schopen-
Zola (vgl. Cheetham 1991, 16). Daneben findet eine hauer mit seiner Gleichsetzung von Leben und Leiden
Beschäftigung mit der Philosophie Schopenhauers sowie der Metapher des Lebens als »Rad des Ixion«
in unterschiedlichen Künstlerkreisen statt, wie bei- (WI, 253 (ZA)) als Sinnbild des stets fordernden und
46  Bildende Kunst 401

quasi nie zu befriedigenden Willens, zu einer Art Ge- fische Einsichtnahme in die Welt interpretieren, bei
währsmann und Sprachrohr. Schopenhauers Bezeich- der eine verstärkt objektive Betrachtungsart der Dinge
nung des Lebens als »mißliche Sache« (Gespr, 22) trifft vorherrsche und die sich in einem Auftreten von
den Nerv dieser Zeit und bietet so Ausdruck und »Vorgänge[n] meistens gegen unsere Erwartung« (P I,
Identifikationsmöglichkeit für eine Gesellschaft, die 253 (ZA); vgl. Baum 2005, 88) zeige. Die Wirkkraft des
nicht nur unter dem Verlust gesellschaftlicher Werte, Traums auf symbolistische Künstler drückt sich bei-
sondern auch unter der im Zuge der Aufklärung und spielsweise in Titeln wie »Dans le rêve«, einem Blatt
Verwissenschaftlichung abhandengekommenen Reli- der zehnteiligen Lithographiefolge von Odilon Re-
giosität leidet. Der mystische Zug der Philosophie don, aus oder verdeutlicht sich ebenfalls in Max Klin-
Schopenhauers, die Fähigkeit der Kunst, für Augen- gers Grafikzyklus »Paraphrase über den Fund eines
blicke die omnipräsente Wirkkraft des Willens aus- Handschuhs«. Klinger, der in vielen seiner Werke Im-
zuschalten sowie das Interesse und der Bezug Scho- pulse durch Schopenhauer geltend macht und von
penhauers zu fernöstlichen Philosophien und deren den Parerga und Paralipomena für einen langen Zeit-
Erlösungsgedanken, sind weitere Gründe seiner Po- raum als seinem »täglichen literarischen Futter« (Sin-
pularität zu dieser Zeit. ger 1924, 205) spricht, lässt in diesem – einer von ei-
Auch auf symbolistische und surrealistische Strö- nem rationalen Kausalitätszusammenhang gelösten
mungen der bildenden Kunst zeigt die Lehre Scho- Erzählfolge von acht Radierungen, einen Handschuh
penhauers eine gewisse Wirkkraft. Vor allem in ihrer ein surreales Eigenleben entwickeln.
Auseinandersetzung mit Themen wie dem Traum und Das Ineinanderfließen von Traum und Realität, wie
Unbewussten, dem Ineinanderfließen von Geträum- bereits angedeutet ein Sujet vieler symbolistischer Ge-
ten sowie real Erlebtem als Ausdruck einer Unbestän- mälde, spielt auch für nachfolgende Künstlergenera-
digkeit der gewöhnlichen Wahrnehmung, lassen sich tionen eine wichtige Rolle, so beispielsweise für den
in symbolistischen Kunstwerken Bezüge zu Schopen- italienischen Maler und Begründer der pittura metafi-
hauers Philosophie herstellen. Der Symbolismus, der sica (1911–1919) Giorgio de Chirico. De Chirico gilt
sich am Ende des 19. Jahrhunderts länderübergrei- mit seiner spezifischen, irrationalen Bildsprache als
fend über Europa ausbreitet, verfolgt insofern eine Wegbereiter des Surrealismus, der als Kenner der
Abgrenzung zu vorangegangen Kunstströmungen wie Schriften Schopenhauers ein Exempel für dessen Wir-
dem Realismus, Naturalismus sowie Impressionis- ken auf diese Stilrichtung darstellt. Während seines
mus, als symbolistische Künstler ein verstärktes Inte- Studiums in München in den Jahren 1906 bis 1909
resse an einer die Erscheinungswelt übersteigenden kommt de Chirico mit den Schriften des Philosophen
Einsichtnahme in die Welt zeigen, das sich häufig in in Berührung und besitzt mindestens Kenntnisse der
einer verstärkten Auseinandersetzung mit unterbe- Parerga und Paralipomena sowie der Aphorismen zur
wussten Trauminhalten zeigt und sich ebenfalls mit Lebensweisheit (vgl. Schmied 1983, passim). Für de
Gebieten wie Tod und Sexualität befasst. Es handelt Chiricos metaphysische Gemälde spielt v. a. der aus
sich um eine imaginative Kunst, die die vermeintliche der Schopenhauerschen Willensmetaphysik resultie-
Inhaltslosigkeit bestehender Kunstströmungen kriti- rende ›Nicht-Sinn‹ eine Rolle, dem der Künstler durch
siert und tiefere Inhalte in ihren Gemälden sichtbar zu eine irrationale Bildsprache auf spezifische Weise
machen sucht, die während einer inneren Schau durch Ausdruck verleiht. In der Interpretation der pittura
das geistige Auge des Künstlers erfasst wurden (vgl. metafisica als eine Art Offenbarung erscheinen die im
Hofstätter 1965, 80). In ihrem Schaffensprozess geben Bildinhalt wiedergegebenen Dinge in einem neuen
sich symbolistische Maler im Schopenhauerschen Sinnzusammenhang, die durch die in ihnen dar-
Sinn der Kraft ihrer Anschauung hin, um den wahren gestellte Diskontinuität, der Missachtung kausaler Zu-
Gehalt der hinter der Erscheinungswelt stehenden sammenhänge »recht anschaulich genau die Relativi-
Dinge sichtbar werden zu lassen. Auch Schopenhau- tät der Schopenhauerschen Vorstellungswelt [...] vor
ers Ausführungen zum Traum und seine Rolle für das dem Hintergrund eines omnipräsenten grundlosen
menschliche Bewusstsein, die der Philosoph in der Willens« (Kurbel 2010, 174) darstellen.
kleineren Schrift »Versuch über das Geistersehn« vor- Auch die in diesen Zeitraum fallenden, aber doch
nimmt (s. Kap. 9.5), zeigen sich mit der Intention sym- ganz andersartigen objets trouvés des französischen
bolistischer Kunstwerke kompatibel. So gibt es inner- Künstlers Marcel Duchamp – alltägliche Gegenstände
halb der Forschungsliteratur Vertreter, die die Aus- wie beispielsweise ein Flaschentrockner (1914) oder
führungen Schopenhauers zum Traum als eine spezi- ein Fahrrad-Rad (1913), die plötzlich in einem neuen
402 IV Wirkung – C Kunst

Sinnzusammenhang gestellt, in den Status eines rei augenscheinlich, die zwar ebenfalls eine Objekt-
Kunstwerks erhoben werden – lassen sich vor diesem qualität an sich besitzt, in der aber das in ihr Aus-
Hintergrund nennen. Duchamps Readymades sind gedrückte jeglicher Objektwiedergabe entzogen ist
als plötzlich deklarierte Kunstobjekte nicht nur auf be- (vgl. Rihm 2005, 89).
fremdliche Weise aus ihrem alltäglichen Kontext und Der Austausch von Künstlervereinigungen dieser
Sinnzusammenhang gerissen, sondern lassen sich da- Zeit mit zeitgenössischen Komponisten wie im Um-
rüber hinaus mit zwei Aspekten der philosophischen kreis des Blauen Reiters zwischen Wassily Kandinsky
Lehre Schopenhauers in Verbindung bringen: Im und dem Komponisten Arnold Schönberg bezeugt
Hinblick auf den Betrachterstandpunkt repräsentie- das gegenseitige Interesse beider Kunstrichtungen,
ren diese Gegenstände die Losgelöstheit des Kunst- für die Schopenhauer mit seiner besonderen Mu-
rezipienten vom Satz vom Grund, der den Wahrneh- sikdefinition als Ahnherr gelten kann. So hebt auch
mungszusammenhang zwischen Betrachter und ver- Schönberg in seinem 1912 verfassten Aufsatz »Das
meintlicher Realität reguliert. Hierdurch wird nicht Verhältnis zum Text« lobend die Schopenhauersche
nur eine Negation einer allgemein verbindlichen Definition der Musik in ihrer besonderen Befähigung
Wirklichkeit deutlich (vgl. Hofmann 1987, 295), son- zur Weltoffenbarung hervor. Mit seinem Lob gegen-
dern auch die Modifizierung des innerhalb der Tradi- über der Musik als einer Kunst, die ohne eine Ver-
tion der Ästhetik zentralen Begriffs des Schönen, wie mittlung der Metaphern auskommt, ebnete Schopen-
sie sich bei Schopenhauer vollzieht, wird in diesem hauer so »stillschweigend der abstrakten Kunst den
Zusammenhang erkennbar. Nach Schopenhauer kann Weg« (Nakov 2005, 184).
all dasjenige schön genannt werden, das die ästheti-
sche Kontemplation erleichtert und dazu beiträgt, in
Fazit
allem Ideen sichtbar werden zu lassen. Diese Variabili-
tät, die dem Schönheitsbegriff in der Ästhetik Scho- Die Kompatibilität der Philosophie Schopenhauers
penhauers zukommt, verdeutlicht den antiklassischen mit der Bildenden Kunst zeugt von einer ganz eigenen
Duktus, der diesem Begriff in der Ästhetik Schopen- Qualität, die ihre Bestätigung einerseits in einer viel-
hauers zu eigen wird (vgl. Pothast 1982, 81, 83 ff.). So fältigen Rezeption der Schriften Schopenhauers von
erhalten ebenfalls neuere Darstellungsmodi der mo- Malern auf unterschiedlichen Ebenen erhält und sich
dernen Kunstgeschichte wie in diesem Falle der Dada- andererseits in der außerordentlichen Würdigung
ismus mit Blick auf Schopenhauer ihre Legitimation, künstlerischen Schaffens innerhalb der Ästhetik Scho-
indem Alltagsgegenstände in den Fokus einer ver- penhauers äußert. Der Künstler wird bei Schopenhau-
änderten Betrachtungsweise rücken. er zu einem genialen Menschen, der als »klares Welt-
Zukunftsweisende Elemente der Schopenhauer- auge« (WI, 240 (ZA)) dazu fähig ist, die Welt als ihr
schen Ästhetik lassen sich ebenfalls zur abstrakten »helle[r] Spiegel« (WI, 240 (ZA)) rein wahrzuneh-
Malerei und ihrem Autonomiegedanken in Bezug set- men. Diese Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhal-
zen. Zentraler Anbindungspunkt ist hierbei das Mu- ten, die notwendig eine tiefere Einsichtnahme in die
sikverständnis Schopenhauers (s. Kap. 6.5; 47). In ih- Welt zur Folge hat, ist ein Aspekt, der bis heute – un-
rer Fähigkeit, »alle Regungen unsers innersten We- geachtet dessen, ob sie sich mit Schopenhauer aus-
sens« (W I, 331 (ZA)) wiederzugeben, aber diese all- einandersetzen oder nicht – für bildende Künstler und
gemein und musterhaft aufzufassen, wie der Schmerz, ihr Schaffen höchste Gültigkeit besitzt.
die Trauer oder die Freude an sich, zeigt sich ihr for- Darüber hinaus belegt das vielgestaltige Interesse,
maler Charakter, da diese Regungen auf den Willen das Künstler unterschiedlicher Stilrichtungen an der
selbst rekurrieren und sich nicht auf dessen individua- Philosophie Schopenhauers zeigten, dass der Philo-
lisierte Form beziehen. So sind die in der Musik zum soph mit seiner willensmetaphysischen Interpretati-
Ausdruck kommenden Gefühle keine individualisier- on der Welt in Verbindung mit seinem spezifischen
ten, sondern allgemeine Formen, die »etwas den Ge- Kunstverständnis vermag, das Kunstwerk zu einem
fühlen ganz Unähnliches [darstellen; M. K.], den Wil- adäquaten Schlüssel auf die Frage Was ist Leben? zu
len« (Zöller 2003, 109) und dessen Sichtbarwerden in erheben (vgl. WII, 479 (ZA)) und hierdurch die Inten-
Form der Musik, wiedergeben. Indem Schopenhauer tion vieler Kunstschaffender fundiert. Dass diese Ver-
den formenhaften Charakter der Gefühle betont, der bindung zwischen der Philosophie Schopenhauers
in der Musik zum Ausdruck kommt, wird der Bezug und der Bildenden Kunst stets eine fruchtbare gewe-
zur ungegenständlichen Bildsprache abstrakter Male- sen ist, mag darüber hinaus in der besonderen Befähi-
46  Bildende Kunst 403

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404 IV Wirkung – C Kunst

47 Musik 301–316; W II, 511–523). Die von Schopenhauer ver-


tretene exklusive Nähe und profunde Affinität der
Schopenhauer, die Musik und die Musiker
Musik zum Weltwillen rückte die Musik in denselben
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Scho- Rang wie die Philosophie für die Erfassung, Darstel-
penhauer der einflussreichste Denker weltweit, dessen lung und Einschätzung der Welt und beglaubigte den
Wirkung sich von der Literatur über die bildende Komponisten des späteren 19. und frühen 20. Jahr-
Kunst zur Kunstmusik erstreckte und von Europa über hunderts die besondere Befähigung und Berufung ih-
Nordamerika bis Lateinamerika reichte. Die weitere rer Kunst zur quasi-philosophischen Auseinanderset-
kulturelle Bedeutung erwuchs der Philosophie Scho- zung mit dem Sein und Wesen der Welt.
penhauers erst Jahrzehnte nach ihrer ursprünglichen Der beträchtliche Einfluss Schopenhauers auf Mu-
Konzeption und frühen Ausführung durch ihren noch siker, insbesondere Komponisten, des späteren 19.
recht jungen Autor. Dass ein zu Beginn des 19. Jahr- und frühen 20. Jahrhunderts gilt allerdings nicht den
hunderts im Schatten des deutschen Idealismus ent- antiquierten musiktheoretischen Auffassungen und
standenes Denken so tief und nachhaltig das Weltbild musikalischen Präferenzen Schopenhauers, der die
und die Weltanschauung einer viel späteren und ganz Generalbasslehre als letzten Schluss kompositorischer
anders gearteten Zeit zu prägen vermochte, ist auf die Weisheit zitiert (vgl. W I, 304–306; W II, 516 f.) und
unzeitgemäße Radikalität von Schopenhauers ori- für den Gioachino Rossini (1792–1868) und Vincenzo
ginellem Nachdenken über Selbst und Welt zurück- Bellini (1801–1835) die musikalischen Hausgötter bil-
zuführen und auch der überragenden literarischen deten (vgl. W I, 309; W II, 498). Erst die zweite Auf-
Qualität seiner veröffentlichten Werke geschuldet. lage von Die Welt als Wille und Vorstellung verweist,
Mit der Doppellehre vom Primat des ziellos stre- allerdings in ganz genereller Form, auf Beethoven
benden Willens gegenüber der planenden Vernunft (vgl. W II, 514). Auch die bemüht wirkende Analogie,
und dem Abzielen auf die Stilllegung des Willens die Schopenhauer zwischen den vier Reichen der Na-
durch die kulturellen Bestrebungen von Ethik, Kunst tur (Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Mensch)
und Religion hatte Schopenhauer eine Deutung von und den Stimmlagen der vierstimmigen musika-
Selbst und Welt geliefert, die dem modernen Kult von lischen Satztechnik (Bass, Tenor, Alt, Sopran) herstellt
Vernunft und Wissenschaft seine Schranken bedeute- (vgl. W II, 511; W I, 305 f.) blieb durchweg außer Acht.
te. Den nach Selbstvergewisserung strebenden Men- Die generelle Allgegenwart von Schopenhauers
schen der Moderne verwies er stattdessen an die Sphä- Gedankengut in Kultur und Kunst der zweiten Hälfte
ren von geistiger Kultur und charakterlicher Bildung. des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und in der Mu-
Im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert hat Scho- sikkultur der Epoche im Besonderen erschwert aber
penhauer denn auch weniger durch seinen sprich- auch den Nachweis spezifischer Einflüsse Schopen-
wörtlichen Pessimismus gewirkt als durch eine ethi- hauers auf einzelne Komponisten und Werke. Selbst
sche Einstellung, die der schlechtesten aller mögli- in Fällen, in denen sich in den erhaltenen Dokumen-
chen Welten durch die ästhetische und religiöse Kulti- ten (Briefwechsel, Berichte von Gesprächen und
vierung eines besseren Selbst zu begegnen strebte. Schriften) kein expliziter Verweis auf Schopenhauer
Der spezielle Einfluss, den Schopenhauers Lebens- findet, ist davon auszugehen, dass ein geistig reger und
lehre von Welt- und Selbstüberwindung auf das kon- kulturell gebildeter Zeitgenosse während seiner Studi-
tinentaleuropäische Musikdenken in der zweiten en oder im Laufe seines späteren Lebens Schopenhau-
Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgeübt hat, ist zudem er gelesen oder zumindest etwas von ihm und über
bedingt durch die außerordentliche Stellung, die der ihn gehört hatte. Freilich bleibt mit dieser Vermutung
Musik in Schopenhauers Auffassung von der Macht von Vertrautheit unausgemacht, ob und wieweit Scho-
und Entmachtung des Willens zukommt. Während penhauer jeweils für das eigene Denken und die eige-
nämlich die übrigen Künste die Entrücktheit und Ent- ne künstlerische Arbeit anregend oder sogar prägend
hobenheit ihrer Produzenten und Rezipienten vom war. Zu den Komponisten, die nachweislich Schopen-
Diktat des Willens der Fixierung auf zeit- und rau- hauer gelesen haben, wenn auch nicht immer ein spe-
menthobene Archetypen (»Ideen«) verdanken, soll – zifischer Einfluss dieser Lektüre auf ihr Schaffen aus-
so Schopenhauer – in der Musik der Wille selbst in zumachen ist, gehören Franz Liszt, Nikolai Rimski-
seiner Funktion als kosmisches Prinzip zur Darstel- Korsakow, Sergei Prokofjew und Richard Strauss (vgl.
lung gelangen und die Musik dadurch zum tönenden Young 2005, 150; Goehr 1996, 210–215; Adamy 1980;
Gegenstück der Welt im Ganzen machen (vgl. W I, Schmid 2003, 77–80).
47 Musik 405

Anders liegt der Fall bei den Komponisten, die sich er Anverwandlung verliehen. Statt sich von Schopen-
nicht nur nachweislich mit Schopenhauer beschäftigt, hauer blind bekehren zu lassen, hat Wagner von ihm
sondern sich auch – mehr oder weniger detailliert – Gedanken und Einschätzungen übernommen und
mündlich oder schriftlich zu ihm und seinem Denken dem eigenen Denken in der Nachfolge Feuerbachs im
geäußert haben. In solchen Fällen ist dann nicht nur Hinblick auf die persönliche Erfahrung von einstwei-
eine intellektuelle Abhängigkeit von Schopenhauer ligem ästhetisch-politischen Scheitern und von aus-
nachweisbar. Es bietet sich auch die Gelegenheit, das bleibendem künstlerischen Erfolg anverwandelt.
Eigentümliche der jeweiligen Aneignung von Scho- Zu den auffälligsten Umbildungen Schopenhauers
penhauers Denken zu erkunden und die manifesten durch Wagner zählt die enge Anbindung des genialen
Auswirkungen auf die jeweilige künstlerische Produk- Künstlers, insbesondere des musikalischen Genies, an
tion in den Blick zu nehmen. Fünf solcher Komponis- den Weltwillen. Schopenhauer hatte der Kunst ins-
ten, die Schopenhauer selektiv oder kreativ rezipiert gesamt, unter Einschluss der Musik, die Befähigung
haben (Richard Wagner, Johannes Brahms, Gustav zugesprochen, im Medium distanzierter Kontemplati-
Mahler, Arnold Schönberg und Hans Pfitzner), sollen on den Willen insgesamt wie in seinen individuellen
im Folgenden kurz vorgestellt werden. Ausprägungen aufzuheben und durch die leidensent-
rückte, heitere Schau der Welt abzulösen (vgl. Zöller
2008, 362 f.). Dagegen besteht Wagner auf der Diffe-
Richard Wagner
renz zwischen dem individuellen Willen, der durch
Unter den Musikern, die von Schopenhauer wichtige die Erfahrung der Kunst zur Aufhebung gelangt, und
Impulse empfingen, ragt nach Art und Ausmaß des er- dem Weltwillen, der auch und gerade in der Produkti-
fahrenen Einflusses der Dichter, Schriftsteller und on und Rezeption von Kunst erhalten bleiben und zur
Komponist Richard Wagner (1813–1883) hervor. Wag- Darstellung gelangen soll. Für Wagner gewährt die
ner lernte Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille Kunst nicht – wie für Schopenhauer – tröstende Erlö-
und Vorstellung durch Vermittlung des Dichters Georg sung von Welt und Wille, sondern die affektiv aufgela-
Herwegh 1854 kennen, studierte das Werk auch im dene Identifikation des ästhetischen Individuums mit
Verlauf der folgenden Jahrzehnte mehrmals gründlich dem Weltwillen (vgl. ebd. 365).
und kam bis zu seinem Lebensende immer wieder in Die von Wagner gegen Schopenhauers Ethik des
Gesprächen und Schriften auf Schopenhauer zurück. Mitleids und der Nächstenliebe geltend gemachte
Man hat die Bedeutung Schopenhauers für Wagner Selbsterlösung des Menschen durch die sinnliche Lie-
oft mit einer angeblichen Konversion des Komponis- be schlägt sich auch in Wagners Musikdramen nieder.
ten vom politisch ambitionierten Linkshegelianer zum So entspricht ihr die erotische Aufhebung von Indivi-
musikdramatischen Gestalter von Resignation und dualität durch die innige Vereinigung der beiden Pro-
Weltabschied in Verbindung gebracht. Doch bei Wag- tagonisten in Tristan und Isolde sowie von Siegfried
ner hat Schopenhauers Philosophie der Willens- und und Brünnhilde in Der Ring des Nibelungen. Auch die
Weltverneinung nicht einfach die frühere Prägung von Wagner abweichend von Schopenhauer vertrete-
durch die Leibes- und Liebesphilosophie von Ludwig ne ultimative Affirmation des Weltwillens durch die
Feuerbach (1804–1872) abgelöst. Schon vor der Be- Kunst hat ihr musikdramatisches Pendant im freiwil-
gegnung mit dem Werk Schopenhauers hatte Wagners lig gewählten oder unfreiwillig zugestoßenen persön-
politisches und künstlerisches Sinnen und Trachten lichen Untergang. Die Hauptbeispiele sind hier Wo-
resignative Züge angenommen, die dem Scheitern sei- tans Abdankung von der Weltherrschaft, Brünnhildes
ner künstlerisch-politischen Ambitionen geschuldet Selbstverbrennung und Siegfrieds Verschwörungstod
waren. Umgekehrt hat Wagner aber auch nach der Be- in Der Ring des Nibelungen.
kanntschaft mit Schopenhauers Denken an der jung- Neben den Beispielen für Wagners von Schopen-
hegelianischen Verehrung und Feier von Liebe und hauer abweichende Auffassungen über Wesen und
Leib festgehalten und die asketische und pessimisti- Wirkung der erlösenden Liebe und die Grenzen der
sche Orientierung Schopenhauers mit der sensuellen Willensverneinung gibt es aber in Wagners Bühnen-
und sozialen Ausrichtung Feuerbachs zu verbinden werken auch Gestalten, die als direkte Darstellung von
versucht (vgl. Zöller 2003, 111 f.; 2008, 358–361). Grundzügen der Philosophie Schopenhauers angese-
Die fortgesetzte Prägung von Wagners Denken hen werden können. Zu nennen wären hier die Figur
durch Feuerbach hat seiner Aufnahme von Schopen- des Hans Sachs aus Die Meistersinger von Nürnberg, in
hauers Werk die Züge von gezielter Auswahl und frei- der sich Schopenhauers Überzeugung vom illusionä-
406 IV Wirkung – C Kunst

ren Charakter der Welt in Raum und Zeit unter der gänglichkeit und Vergeblichkeit allen Lebens, der Ver-
Leitvorstellung des Wahns, der die Welt regiert wie- klärung des Todes und der Seligpreisung der Toten
derfindet (»Wahn! Wahn! Überall Wahn!«). Des Wei- nimmt der Zyklus genau jene dunkle Weltsicht auf, die
teren wäre zu denken an die Schopenhauer verpflich- auch Schopenhauer dem religiösen Denken, wie er es
tete Verknüpfung von Mitleid und Wesenserkenntnis in Ost und West gleichermaßen ausgedrückt fand, ent-
in der Lebensentwicklung der Titelgestalt des Parsifal nommen hatte. Auch die versöhnliche Wendung im
(»durch Mitleid wissend«). letzten Lied des Zyklus mit seinem Lobpreis der Liebe,
die eher noch als Glaube und Hoffnung zur Erlösung
führen soll, stimmt überein mit Schopenhauers Ethik
Johannes Brahms
der Nächstenliebe, die ihrerseits, wenn auch auf eher
Auch Wagners großer Antipode Brahms (1833– unspezifische Weise, religiös geprägt bleibt. Misan-
1897), obwohl weniger eloquent und verbos als jener, throp oder Pessimist ist Schopenhauer ja nur im Hin-
doch überaus gebildet und belesen, kennt Schopen- blick auf die bestehende Welt, von der aus und der ge-
hauers Schriften – das Hauptwerk wie die Parerga und genüber die ganz andere, angedachte Wirklichkeit von
Paralipomena. Das Exemplar von Die Welt als Wille Erlösung und Befreiung als Nichts erscheinen muss.
und Vorstellung aus der umfangreichen Privatbiblio-
thek von Brahms weist überdies zahlreiche Randbe-
Gustav Mahler
merkungen seines Besitzers auf (vgl. Beller-McKenna
1994b, 190 f.). Doch hat sich Brahms nur gelegentlich Auch der musikalische Außenseiter Mahler (1860–
und gesprächsweise zu Schopenhauer geäußert (vgl. 1911), dessen hauptsächlich symphonisches Werk sich
ebd., 191 f.). Auch war er zu keinem Zeitpunkt erklär- weder dem Wagnerschen noch dem Brahmsschen La-
ter Anhänger Schopenhauers. Eher ist eine Affinität ger in den musikästhetischen Debatten und Kontro-
in Mentalität und Temperament festzustellen zwi- versen des späten 19. Jahrhunderts zuordnen lässt,
schen Schopenhauer und Brahms, die beide dem komponiert unter dem prägenden Einfluss der Phi-
norddeutsch-protestantischen Milieu entstammen, losophie Schopenhauers. Wie Wagner und Brahms vor
sich früh von kirchlich organisierter Religion entfer- ihm stimmt Mahler überein mit der von Schopenhauer
nen, aber an der primär geistigen, das bloß Materielle eingeforderten Ausrichtung menschlicher Existenz im
übersteigenden Dimension menschlicher Existenz Allgemeinen und künstlerischer Existenz im Besonde-
festhalten. ren auf eine das Materielle und Individuelle überstei-
Schopenhauer und Brahms verbindet darüber hi- gende eigentliche und umfassende Wirklichkeit.
naus der resignative Grundzug ihrer Weltsicht, dem der Mahler folgt Schopenhauer auch in der Auszeich-
eine in Begriffssprache, der andere in Tonsprache Aus- nung der Musik vor den anderen Künsten und in ihrer
druck verleiht. Auch darin ähneln sich die beiden, dass Einschätzung als begriffsloser Universalsprache (vgl.
sie Melancholie, Weltschmerz und Entsagung nicht mit Freeze 2010, 18–21). Des Weiteren finden sich in
romantischem Überschwang zum Ausdruck bringen, Mahlers Werk fortgeführt die bei Schopenhauer vor-
sondern mit einem geradezu klassischen Formsinn zu findliche Ausweitung der philosophischen und künst-
bändigen und zu gestalten verstehen. Könnte man so lerischen Welt- und Selbsterkenntnis über die engen
Brahms’ gesamtes kompositorisches Schaffen in die Grenzen der Vernunft hinaus und der Fokus auf die
geistig-gestische Nähe zu Schopenhauer rücken, so gibt ursprünglich unvernünftige Natur und die Eingebun-
es ein spätes Werk von Brahms, das sich in besonders denheit des Menschen in sie. In ihrem expansiven
eindrücklicher Weise wie komponierter Schopenhauer Ausgriff auf Natur und Außenwelt übersteigen die
ausnimmt, auch wenn wesentliche Unterschiede beste- Musikwerke Mahlers die frühere romantische Res-
hen bleiben zwischen Schopenhauers philosophischer triktion auf das Innenleben und die seelischen Bewe-
Distanz zum religiösen Glauben und Brahms’ an- gungen, um die Dimension von kosmischen Erkun-
zunehmendem Festhalten daran (vgl. Beller-McKenna dungen anzunehmen.
1994a, 1994b; Church 2011). Mahlers monumentale Symphonien teilen so mit
Es sind dies die Vier Ernsten Gesänge, op. 121 aus dem Denken Schopenhauers die Ausrichtung und
dem Jahr 1896, komponiert auf von Brahms aus- den Ausgriff auf die Welt im Großen und Ganzen. Die
gewählte Texte aus dem Alten Testament (Prediger Sa- Welt soll in ihrer schier überwältigenden Vielfalt zur
lomo, Jesus Sirach) und dem Neuen Testament (Pau- Darstellung gelangen. Die spezifische Welthaltigkeit
lus, 1. Korintherbrief). Mit seinem Fokus auf der Ver- von Mahler Symphonien manifestiert sich aber nicht
47 Musik 407

nur in deren immenser zeitlicher Erstreckung und in higung des genialen Menschen, speziell des Kom-
den massiven orchestralen und chorischen Kräften, ponisten, und die besondere Mitteilungsfähigkeit der
die zum Einsatz kommen. Der häufige Einbezug mu- Musik als begriffsloser Universalsprache, vor allem
sikalischer Versatzstücke aus der Gebrauchs- und Un- aber das Vermögen der Musik, Aufschlüsse über
terhaltungsmusik in die komplexe Kunstmusik seiner Selbst und Welt zu geben, die alle vernünftige Einsicht
Symphonien lässt die Musik Mahlers darüber hinaus übersteigen (vgl. Schönberg 1976, 3).
teilhaben an der Alltäglichkeit der Welt, die dann Doch hat sich Schönberg auch kritisch mit Schopen-
durch den Einbruch einer tieferen – oder höheren – hauers Ansichten zum Verhältnis von Philosophie und
Dimension von Wirklichkeit gezielt überboten und Religion, insbesondere dem Judentum, auseinander-
überschritten wird. gesetzt. So reagiert Schönberg auf Schopenhauers ab-
Ein besonders sinnfälliges Beispiel für die Welt als wertende Bemerkungen über die jüdische Religion in
Klang und Laut bei Mahler ist dessen 3. Symphonie den Parerga und Paralipomena (vgl. P II, Kap. 15, § 179)
(1892–1896) in zwei Abteilungen und sechs Sätzen für auf eingelegten gefalteten Blättern handschriftlich mit
groß besetztes Orchester, Altsolo, Knaben- und Frau- der Unterscheidung zwischen eigentlicher Erkenntnis
enchor sowie ein isoliert platziertes Fernorchester mit und vorurteilsverhaftetem Denken. Auch setzt er Scho-
Posthorn und kleinen Trommeln (vgl. Mohr 2011, penhauers antijüdische Vorurteile in Parallele zu des-
215 f.). Die Symphonie hat eine Aufführungsdauer sen ästhetischen Vorurteilen gegen einzelne Musikfor-
von ca. 95 Minuten und ist damit Mahlers längstes men und -gattungen (vgl. Zöller 2003, 113).
Werk und eines der längsten symphonischen Werke
überhaupt. Das ursprüngliche Programm der Sym-
Hans Pfitzner
phonie, das Mahler nicht als Schlüssel für deren spezi-
fische Inhalte, sondern als Anzeige ihres musika- Der antijüdische Affekt eint dagegen Schopenhauer
lischen Gehalts verstanden wissen wollte (vgl. Freeze und Pfitzner (1869–1949), bei dem die Schopenhauer-
2010, 30 f.), spezifiziert die Bereiche der natürlichen Verehrung bereits sozusagen in zweiter Generation
und übernatürlichen Welt, denen die einzelnen Sätze erfolgt, vermittelt durch das Werk und das Wirken
des Werkes korrespondieren: »Pan erwacht. Der Som- Wagners. Doch befindet sich Pfitzner nicht mehr, wie
mer marschiert ein«, »Was mir die Blumen auf der Wagner zuvor, an der Spitze des musikalischen Fort-
Wiese erzählen«, »Was mir die Tiere im Walde erzäh- schritts, sondern in der ästhetischen Defensive gegen-
len«, »Was mir der Mensch erzählt«, »Was mir die En- über dem Aufkommen der modernen Musik zu Be-
gel erzählen« und »Was mir die Liebe erzählt«. ginn des 20. Jahrhunderts, dem er in polemischer
Ein geplanter siebter Satz »Was mir das Kind er- Form mit politisch wie ästhetisch konservativen Po-
zählt« wurde von Mahler schließlich der 4. Sympho- sitionen entgegenzutreten versucht. Über den Zeit-
nie als Schlusssatz unter dem Titel »Das himmlische unterschied eines ganzen Jahrhunderts hinweg stim-
Leben« zugeordnet. Mit der finalen Ausrichtung auf men Schopenhauer und Pfitzner überein in der skep-
die Liebe in Gestalt eines rein instrumentellen Ada- tischen Haltung gegenüber den materiellen, intel-
gio-Satzes steht Mahlers 3. Symphonie in gedank- lektuellen und ästhetischen Errungenschaften der
licher Nähe zu Wagner wie Brahms, die – ebenfalls im Moderne. Doch tritt bei Pfitzner zur rückwärtsge­
Ausgang von Schopenhauer, wenn auch auf je ver- wandten Grundhaltung in politischen wie künstleri-
schiedene Weise – die Selbst- und Welterlösung durch schen Dingen ein profundes Gefühl von Verlust, das
die Liebe komponiert hatten. seiner unzeitgemäßen Musik eine melancholische In-
tensität verleiht (vgl. McClatchie 1998).
Seinem künstlerischen wie weltanschaulichen
Arnold Schönberg
Hauptwerk, der Oper Palestrina (1912–1915), hat
Bei Schönberg (1874–1951) lassen sich Art und Aus- Pfitzner ein Motto aus den Parerga und Paralipomena
maß seiner intensiven Auseinandersetzung mit Scho- über den Gegensatz zwischen der unruhig-bewegten
penhauer durch die Anstreichungen, Randbemerkun- Willenswelt und der selig-ruhigen geistigen Welt vo-
gen und eingelegten Zettel von eigener Hand in seiner rangestellt. In der Oper, die die Bezeichnung »Musi-
erhaltenen Gesamtausgabe von Schopenhauers Wer- kalische Legende« im Titel trägt, trifft die weltabge-
ken genau verfolgen (vgl. Zöller 2003, 112 f.). Zu den wandte durchgeistigte Vokalpolyphonik des Renais-
nachweislich von Schönberg geschätzten Einsichten sance-Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina
Schopenhauers zählen die besondere Erkenntnisbefä- auf die von Ränke und Intrige beherrschte Welt des
408 IV Wirkung – C Kunst

Trienter Konzils, das die Gegenreformation einläuten Ernste Gesänge, op. 121. Master’s Thesis. Florida State Uni-
soll. Der von ihm verlangten exemplarischen Kom- versity 2011.
position einer Messe im polyphonen Stil, aber mit der Freeze, Timothy David: Gustav Mahler’s Third Symphony.
Program, Reception, and Evocations of the Popular. Diss.
kirchenpolitisch erforderlichen Textverständlichkeit The University of Michigan 2010.
kann Palestrina schließlich nur dank überirdischer Goehr, Lydia: Schopenhauer and the Musicians. An Inquiry
Inspiration nach dem Vorbild von Schopenhauers Ge- Into the Sounds of Silence and the Limits of Philosophi-
nielehre nachkommen. Doch lassen sich in Pfitzners zing About Music. In: Dale Jacquette (Hg.): Schopenhauer,
Dramatisierung des künstlerischen Schaffensprozes- Philosophy, and the Arts. Cambridge 1996, 200–228.
Gregor-Dellin, Martin: Schopenhauer und die Musiker nach
ses zusätzlich Spuren von Wagners Um- und Fortbil-
ihm. In: Schopenhauer-Jahrbuch 64 (1983), 51–60.
dung von Schopenhauers Auffassung finden (vgl. Ingenkamp, Heinz Gerd: Traum oder Idee – Wagner oder
Kienzle 2005, 249 f.), wenn auch die direkt auf Scho- Rossini? Zu Schopenhauers Metaphysik des Komponie-
penhauer zurückgehende Verbindung von künstleri- rens. In: Studi Italo-Tedeschi. Deutsch-Italienische Studien
scher Genialität mit Kontemplation und Weltent- 11 (1989), 23–48.
rücktheit bei Pfitzner überwiegen dürfte. Kienzle, Ulrike: ...daß wissend würde die Welt. Religion und
Philosophie in Richard Wagners Musikdramen (= Wagner
Inzwischen ist nicht nur Schopenhauers Philoso- in der Diskussion, Bd. 1). Würzburg 2005.
phie, sondern auch ihre Wirkung auf Musik und Musi- McClatchie, Stephen: Hans Pfitzner’s Palestrina and the
ker ein historisches Phänomen. Bei denkenden Kom- Impotence of Early Lateness. In: Voices of Opera. Perfor-
ponisten haben zwei seiner informellen Schüler, Nietz- mance, Production, Interpretation. University of Toronto
sche und Wittgenstein, Schopenhauer als Vordenker Quarterly 67 (1998), 812–827.
Mohr, Georg: Schopenhauer und Mahler. In: Matthias
kulturellen und geistigen Lebens in der Spät- und
Koßler (Hg.): Musik als Wille und Welt. Schopenhauers
Nachmoderne hier und da abzulösen vermocht, ohne Philosophie der Musik. Würzburg 2011, 203–220.
dass die beiden Nachfolger oder andere Figuren aber je Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke – Aufsätze zur Musik.
Schopenhauers ebenso breite wie tiefe, anregende wie In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Hg. von Ivan
herausfordernde Wirkung erreichen konnten. Vojteck. Frankfurt a. M. 1976.
Schmid, Mark-Daniel: The Richard Strauss Companion.
Westport, Ct. 2003.
Literatur
Young, Julian: Schopenhauer. Oxford 2005.
Adamy, Bernhard: Schopenhauer bei Richard Strauss. In:
Zöller, Günter: Arthur Schopenhauer. In: Stefan Lorenz
Schopenhauer-Jahrbuch 61 (1980), 195–197.
Sorgner (Hg.): Musik in der deutschen Philosophie. Eine
Beller-McKenna, Daniel: Brahms on Schopenhauer. The
Einführung. Stuttgart/Weimar 2003, 99–114.
Vier Ernste Gesänge, op. 121 and Late Nineteenth-Century
Zöller, Günter: Schopenhauer. In: Stefan Lorenz Sorgner/H.
Pessimism. In: Brahms Studies 1 (1994a), 170–188.
James Birx/Nikolaus Knoepffler (Hg.): Wagner und Nietz-
Beller-McKenna, Daniel: Brahms, the Bible, and Post-
sche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Reinbek
Romanticism. Cultural Issues in Johannes Brahms’s Later
bei Hamburg 2008, 355–372.
Settings of Biblical Texts, 1877–1896. Diss. Harvard Uni-
versity 1994b. Günter Zöller
Church, Lucy: Brahms’s Late Spirituality. Hope in the Vier
D Rezeption in einzelnen Ländern

48 USA Frühe Rezeption


Die amerikanische Rezeption Arthur Schopenhauers In den USA setzt die Rezeption Schopenhauers weit
erfolgt durch verschiedenste Gruppen von Interes- vor der Publikation der ersten englischen Überset-
senten unter einer Vielzahl von unterschiedlichen As- zung seines Hauptwerks The World as Will and Idea
pekten in drei – einander teilweise überlappenden – (1883) ein. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Uni-
Phasen. Während in der ersten, 1864 einsetzenden tarier Frederic Henry Hedge (1805–1890) zu, der sein
Phase der gleichermaßen an hinduistischer Weis- Interesse an deutscher Kultur und seine umfassenden
heitslehre wie am deutschen Idealismus interessierte Kenntnisse deutscher Literatur und Philosophie ei-
Kreis der Transzendentalisten Schopenhauer für nem vierjährigen Schulbesuch an den besten deut-
Amerika allererst entdeckt, sind es in der zweiten, von schen Gymnasien der Zeit, Ilfeld und Schulpforta,
1870 bis 1910 dauernden Phase vor allem die Kleriker verdankte und schon früh zum bedeutendsten ame-
und Philosophieprofessoren, die den deutschen Phi- rikanischen Vermittler deutscher Metaphysik avan-
losophen als maßgeblichen Repräsentanten des – in cierte. Der im Kreis der amerikanischen Transzenden-
Folge der modernen Glaubens- und Sinnkrise um talisten mit dem Beinamen »Germanicus« bedachte
sich greifenden – Pessimismus diskutieren. Grund- Hedge (vgl. Pochmann 1957, 144), der sich bereits
legend für die dritte, von der letzten Dekade des 1833 um die amerikanische Kant-Rezeption verdient
19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Welt- gemacht hatte (Howe 1881, 276), veröffentlichte 1864
kriegs währenden Phase ist die im Zuge der Asien- in der renommierten Zeitschrift Christian Examiner
begeisterung des Fin de Siècle von Vertretern der An- eine ausführliche, auf der ersten Auflage von Gwin-
timoderne entwickelte Buddhismusdeutung, die von ners Biographie (1862) basierende Darstellung Scho-
einem resignativen Verständnis des Begriffs des Nir- penhauers. In den Augen des Geistlichen Hedge er-
wana ausgeht, denn im Lichte dieser Deutung wird scheint die Metaphysik Schopenhauers mit ihrer Be-
Schopenhauer zum pessimistischen Modephiloso- hauptung des Primats des Willens gegenüber dem In-
phen und hält als »German Buddha« schließlich auch tellekt als eine von Grund auf atheistische Doktrin, die
Einzug in das populäre Schrifttum. Diese Gegenströ- er denn auch für Schopenhauers Hang zu Bitterkeit
mung zu dem in der amerikanischen Kultur fest ver- und Zynismus verantwortlich macht. Höchsten Res-
ankerten Fortschrittsdenken überlagert sich mit dem pekt zollt Hedge hingegen nicht nur der unbedingten
zunehmenden Einfluss der sich damals gerade for- Wahrheitsliebe, intellektuellen Redlichkeit und geisti-
mierenden, durch Nietzsche und Bergson inspirier- gen Unabhängigkeit des deutschen Philosophen, son-
ten Lebensphilosophie. Für die Orientierung ame- dern vor allem seiner mit den Prinzipien christlicher
rikanischer Intellektueller an deutscher Philosophie Nächstenliebe in Einklang stehenden Mitleidsethik.
bedeutet der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg Hedges ambivalenter Blick auf Schopenhauer ist eine
eine massive Zäsur. Doch hatte die amerikanische Re- für die amerikanische Rezeption durchaus typische
zeption Schopenhauers bereits um die Jahrhundert- Lesart, die die Morallehre isoliert betrachtet und de-
wende ihren Zenit erreicht, was nicht heißt, dass sich ren systematischen Zusammenhang mit der Metaphy-
einzelne Autoren nicht auch noch im 20. Jahrhundert sik außer Acht lässt (vgl. Buschendorf 2008, 45).
immer wieder mit seinem Werk auseinandersetzen Ein ebenfalls sehr früh einsetzender Rezeptions-
(zur Schopenhauer-Rezeption in der amerikanischen strang betont Schopenhauers Nähe zu Hinduismus und
Literatur s. auch Kap. 45). Buddhismus. Ralph Waldo Emerson (1803–1882),
Vordenker des amerikanischen Transzendentalismus
410 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

und Kenner der indischen Mythologie und Philoso- chen, die Realität menschlichen Leidens leugnenden
phie, schätzte neben Hedges Schopenhauer-Beitrag Optimismus, sondern nur in ernsthafter Auseinander-
ganz besonders einen im Mai 1864 unter dem Titel setzung beizukommen sei, die freilich mit dem aus-
»Buddhism in Europe« anonym erschienenen Artikel, drücklichen Ziel der Überwindung des Pessimismus
der die Ähnlichkeit zwischen dem Kern der Schopen- geführt wird (vgl. Buschendorf 2008, 63–73). Dieser
hauerschen Metaphysik und der indischen Weisheits- Überzeugung sind auch die bedeutendsten amerika-
lehre betont (vgl. Buschendorf 2008, 46; zu Emerson nischen Philosophen der Jahrhundertwende William
und Schopenhauer vgl. Hurth 2001; 2007; Stievermann James, Josiah Royce und George Santayana, die mit
2007, 570; Buschendorf 2008, 45–55; 2009, 174–175). dem Pessimismus im Allgemeinen und mit Schopen-
Ebenfalls aus dem Kreis der Transzendentalisten hauers Metaphysik im Besonderen nicht nur in ihren
stammt ein erstaunlich frühes Zeugnis des Interesses Schriften ringen, sondern den deutschen Philosophen
an Schopenhauers Hauptwerk: Ein Exemplar der Erst- während des sogenannten »Goldenen Zeitalters der
ausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) Philosophie« an der Harvard Universität fest im Curri-
findet sich – neben zahlreichen anderen Werken aus culum verankern (vgl. Buschendorf 2008, 75–173).
dem Umkreis des deutschen Idealismus – im Bestands- Wie ihr Frühwerk zeigt, standen die Lyriker T. S. Eliot,
katalog der am 5. November 1846 versteigerten Biblio- Robert Frost und Wallace Stevens als Harvard-Studen-
thek George Ripleys (Cameron 1958, 808–817; zu Ri- ten im Bann der von James und Royce propagierten,
pley und Schopenhauer vgl. Buschendorf 2008, 60–62). auf der Grundlage der genuin amerikanischen Phi-
Das Interesse an Schopenhauer teilten die Trans- losophie des Pragmatismus zu vollziehenden Über-
zendentalisten Neuenglands mit der 1866 gegründeten windung des Pessimismus (vgl. Buschendorf 2000).
St. Louis Philosophical Society, deren Schriftführer
William T. Harris – ein Hegelianer – die vornehmlich
Die populäre Rezeption Schopenhauers um die
dem deutschen Idealismus gewidmete Zeitschrift The
Jahrhundertwende
Journal of Speculative Philosophy (1867–1888) heraus-
gab. Darin erschienen zwischen 1867 und 1874 in eng- In seiner »Erinnerung in Romanform« The Last Puri-
lischer Übersetzung mehrere ausgewählte Kapitel aus tan fängt Santayana die resignativ-pessimistische Stim-
Parerga und Paralipomena und unter dem Titel »Scho- mung einer neuenglischen Elite des Fin de Siècle ein,
penhauer’s Doctrine of the Will« eine längere Passage die sich u. a. durch lebhafte Schwärmerei für Japan, den
aus der Schrift Ueber den Willen in der Natur (Scho- Buddhismus und insbesondere das als Devise zur
penhauer 1867a; 1867b; 1871a; 1871b; 1874; vgl. wenig Weltabkehr verstandene Konzept des Nirwana aus-
später die amerikanische Übersetzung der Schrift Ue- zeichnet (vgl. Lears 1981) und die bei vielen Intellek-
ber den Willen in der Natur, 1877) sowie zwischen 1874 tuellen mit einem ausgeprägten Interesse an Schopen-
und 1879 eine Reihe von Artikeln über den deutschen hauer einhergeht (vgl. Buschendorf 2008, 175–213).
Philosophen (Harms 1875; Morse 1877; Stirling 1879). Vertreter des literarischen Pessimismus, wie etwa Gia-
Die gründliche Überarbeitung seines Schopenhau- como Leopardi oder Charles Marie René Leconte de
er-Artikels, die Hedge 1884, also genau zwanzig Jahre Lisle, haben Konjunktur, und von dieser modischen
nach dessen erstem Erscheinen, publizierte, ist signifi- Neigung zur Schwarzseherei zeugen etwa auch die
kant für die mittlerweile erfolgte Akzentverschiebung 1885 und 1886 publizierten populären Abhandlungen
in der Rezeption des deutschen Philosophen: Schopen- des Erfolgsautors Edgar Saltus, die eine Skizze der Tra-
hauer gilt nunmehr als Hauptvertreter des den ame- dition des literarischen Pessimismus geben und mit es-
rikanischen Fortschrittsglauben in Frage stellenden sayistischen Ausführungen über den sogenannten wis-
Pessimismus und hat als solcher auch die Aufmerk- senschaftlichen Pessimismus etwa eines Schopenhauer
samkeit einer breiteren Öffentlichkeit erlangt (vgl. z. B. oder Eduard von Hartmann verbinden.
Lacroix 1876; Gryzanovski 1873; Osgood 1878). Ein typischer Vertreter nicht nur dieser Buddhis-
mus- und Japanbegeisterung, sondern auch des dama-
ligen Versuchs eines Brückenschlags zwischen Orient
Die philosophische Auseinandersetzung mit
und Okzident ist der Journalist und Schriftsteller Laf-
Schopenhauers Pessimismus
cadio Hearn (1850–1904), der nach seiner Übersiede-
Charakteristisch für die amerikanische Rezeption der lung nach Nippon (1890) mehrere populäre Bücher
1870er und 1880er Jahre ist die Auffassung, dass dem über die japanische Kultur verfasste. Aus seinen
Problem des Pessimismus nicht mit einem oberflächli- Schriften spricht die Hoffnung auf eine vom Orient
48 USA 411

ausgehende und auf den Westen übergreifende spiri- zug zu einer an fernöstlichem Denken und an Scho-
tuelle Erneuerung, die sich in seinem Streben nach ei- penhauer orientierten Resignation führt (vgl. Adams
ner monistisch fundierten Synthese zwischen west- 1911, 7–8; Buschendorf 2008, 215–255).
lichem und fernöstlichem Denken und insbesondere
nach einem entsprechenden Ausgleich zwischen Evo-
Schopenhauer in der amerikanischen Literatur
lutionstheorie und Religion widerspiegelt, wobei er
zum einen Schopenhauer als verhinderten Evoluti- Unter den Erzählern und Epikern des 19. Jahrhun-
onstheoretiker deutet und ihn damit in die Nähe Her- derts, bei denen der Einfluss von Schopenhauers Wil-
bert Spencers rückt, zum anderen aber die evolutions- lensmetaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik deutlich
theoretische Vererbungslehre mit dem buddhisti- zu erkennen ist, sind vor allem Kate Chopin (vgl. Le-
schen Konzept des Karma zu amalgamieren sucht Few 1989; Kearns 1991; Camfield 1995) und Herman
(vgl. Hearn 1904; 1922; Buschendorf 2008, 197–202). Melville zu nennen (zur Forschung vgl. Buschendorf
Im Gegensatz zu Hearn vertritt der Historiker, Es- 2008, 15–18). Im Falle Melvilles lässt sich eine Scho-
sayist und Romanautor Henry Adams, inspiriert durch penhauer-Lektüre zwar erst für sein letztes Lebensjahr
die au fond verfallstheoretisch ausgerichtete Studie The (1891) nachweisen. Doch hat die Forschung für eine
Law of Civilization and Decay (1895) seines Bruders enge Geistesverwandtschaft zwischen Melville und
Brooks Adams, eine dezidiert zivilisationskritische Schopenhauer argumentiert (vgl. u. a. Gupta 1998;
und kulturpessimistische Position. Mit großem Inte- Spranzel 1998) oder versucht, Melvilles Kenntnis von
resse verfolgt Henry Adams die sich damals gerade Schopenhauers Metaphysik mit der naheliegenden
vollziehende wechselseitige Annäherung von Physik Hypothese seiner Lektüre des bahnbrechenden, 1853
und Metaphysik, nimmt eine auf der Homologie zwi- publizierten Überblicksartikels von John Oxenford zu
schen Lord Kelvins Zweitem Thermodynamischen plausibilisieren und diese Vermutung für die Interpre-
Gesetz und Schopenhauers Willensmetaphysik basie- tation von Bartleby, the Scrivener (vgl. Stempel/Stillians
rende Identität von Energie und Wille an und versucht 1972) und »Benito Cereno« (vgl. Buschendorf 2008,
daraus historische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten (vgl. 19–37) fruchtbar zu machen. Ein freilich nur margina-
Adams 1910). Der Hypertrophie von Rationalität in les Interesse an Schopenhauer findet sich bei Henry
der Moderne und dem daraus resultierenden Energie- James (vgl. Firebaugh 1958), Mark Twain (vgl. Fisher
und Kreativitätsschwund, die Adams in seiner Auto- 1922; Buschendorf 2008, 8–9, Anm. 14) und Harold
biographie The Education of Henry Adams (1907) ana- Frederic (vgl. Buschendorf 2008, 8, Anm. 14). Hin-
lysiert, sucht er mit Schopenhauers These von der In- gegen befolgte Theodore Dreiser offensichtlich den Rat
tuition als Königsweg zur Erkenntnis zu begegnen. Die seines Mentors John Maxwell, Schopenhauer als Anti-
in Mont Saint Michel and Chartres (1904) unternom- dot gegen die Gefahren modischer Sentimentalität und
mene kulturgeschichtliche Reise in das mittelalterliche spätromantischen Realitätsverlusts einzusetzen (vgl.
Frankreich soll nicht nur an die schöpferische Energie Dreiser 1922, 75; Morozkina 1997), wobei Dreiser al-
einer längst vergangenen kulturellen Hochblüte er- lerdings bereits zu der Generation amerikanischer Au-
innern, sondern stellt auch den Versuch dar, in einer toren gehört, die sich auch intensiv mit Friedrich Nietz-
eng an Schopenhauers Stufenfolge der Manifestations- sche auseinandersetzten (vgl. Hussmann 1983, 70).
formen des Willens angelehnten ästhetischen Kontem- Die Länge der folgenden Liste von Werken promi-
plation die in den neuzeitlichen Rationalisierungspro- nenter amerikanischer Schriftsteller des 20. Jahrhun-
zessen verloren gegangene Fähigkeit zur Intuition zu derts, die mehr oder minder ausführlich, direkt oder
restituieren (vgl. Buschendorf 2008, 257–292). Henry indirekt auf Schopenhauer Bezug nehmen, mag ange-
Adams’ kulturpolitische Bedeutung liegt in seiner fun- sichts des – den Vereinigten Staaten von Amerika bis
damentalen Kritik am modernen, im zeitgenössischen heute attestierten – optimistischen Nationalhabitus
Amerika besonders stark ausgeprägten Fortschritts- überraschen: F. Scott Fitzgerald (vgl. Pair 1984; Bruc-
glauben, die er mit dem früh verstorbenen Dichter und coli 1981, 77); Ernest Hemingway: The Sun Also Rises
Schopenhauerianer George Cabot Lodge (1873–1909) (vgl. Schmigalle 2005); William Faulkner: The Wild
teilt. In seiner Lodge-Biographie betont Adams das Palms (vgl. McHaney 1975), If I Forget Thee, Jerusalem
Aufbegehren dieser Generation gegen den Materialis- (vgl. McHugh 1999), »The Sabbath of the Ixion Wheel«
mus und die Poesiefeindlichkeit der Gesellschaft und (vgl. Bidney 1987); Eugene O’Neill: Strange Interlude
die damit einhergehende geistige Dürftigkeit der ge- (vgl. Alexander 1953; Brashear 1964), Mourning Be-
samten Epoche, die seiner Diagnose zufolge im Gegen- comes Electra (vgl. Alvarez 1988/89); Saul Bellow:
412 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

Mr. Sammler’s Planet (vgl. Klein 1975; Trachtenberg Be Feminized? In: Southern Literary Journal 27/2 (1995),
1984); Howard Nemerov: »Two Views of a Philoso- 3–22.
pher« (vgl. Buschendorf 2008, 297); Cormac McCar­ Dienstag, Joshua Foa: Pessimism. Philosophy, Ethic, Spirit.
Princeton 2006.
thy: Blood Meridian (vgl. Eddins 2003), The Road (vgl. Dreiser, Theodore: A Book About Myself. New York 1922.
Gallivan 2008); Paul Auster: Moon Palace (vgl. Süßen- Eddins, Dwight: »Everything a Hunter and Everything Hun-
guth 2013, 77–90); Jonathan Franzen: The Corrections; ted«. Schopenhauer and Cormac McCarthy’s Blood Meri-
Philip Roth: The Dying Animal (vgl. Buschendorf 2008, dian. In: Critique 45/1 (2003), 25–33.
12). Die Liste dokumentiert jedoch die Lebendigkeit Firebaugh, Joseph: A Schopenhauerian Novel: James’s The
Princess Casamassima. In: Nineteenth-Century Fiction 13
der im nationalen Diskurs für gewöhnlich vernach-
(1958), 177–197.
lässigten Unter- oder Gegenströmung pessimistisch- Fisher, Henry W.: Abroad With Mark Twain and Eugene
skeptischer Stimmen aus dem Kreis von Intellektuellen Field. Tales They Told to a Fellow Correspondent. New York
und Künstlern (vgl. Dienstag 2006, 45, Anm. 37), die 1922.
sich im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder – und Gallivan, Euan: Compassionate McCarthy? The Road and
eben sehr häufig in ausdrücklicher Auseinanderset- Schopenhauerian Ethics. In: Cormac McCarthy Journal 6
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414 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

49 Italien sitivismus. In dieser kulturellen Atmosphäre spielte die


Philosophie des Unbewussten (1869) Eduard von Hart-
Auftreten und Verbreitung der Philosophie
manns eine besondere Rolle. Das Werk hatte auch in
Schopenhauers in Italien
Italien einen weiteren Publikumserfolg, so dass es einen
Als Francesco De Sanctis im Winter 1858 für die Rivis- großen Einfluss auf die erste italienische Schopenhau-
ta Contemporanea den Aufsatz »Schopenhauer e Leo- er-Rezeption hatte. Die Wirkungen der Hartmann-
pardi – Dialogo tra A. e D.« (De Sanctis 1858) schrieb, schen Sicht auf die Philosophie Schopenhauers waren
dachte er wohl nicht daran, dass das imaginäre Ge- in Italien vielseitig und oft widersprüchlich: Einerseits
spräch zwischen den zwei Denkern der erste bedeu- wird die Schopenhauersche Philosophie als eine pessi-
tende Beitrag zur Rezeption Schopenhauers in Italien mistische und fatalistische Weltanschauung aufgenom-
werden würde (zur Schopenhauer-Rezeption in der men, auch wenn Schopenhauer für seine Philosophie
italienischen Literatur s. Kap. 45). Das Gespräch ent- das Wort ›Pessimismus‹ niemals in den veröffentlich-
hielt eine Reihe schlagfertiger Fragen und Antworten ten Werken benutzte; gleichzeitig wurde das philoso-
zwischen einem nach 1848 enttäuschten Liberalen und phische System Schopenhauers als eine Entwicklung
Neubekehrten der Schopenhauerschen Philosophie der kantischen Philosophie ausgelegt: Nach Hart-
(»Herr A.« steht für Schopenhauer selbst) und einem manns Meinung war nämlich Kant als Vater des Pessi-
Anhänger der pessimistischen Weltanschauung Leo- mismus (Hartmann 1880) anzusehen, also Schopen-
pardis (»Herr D.« statt De Sanctis). Da De Sanctis nicht hauer als Schüler Kants ein Fortsetzer dessen Lehre. In
gerne die pompöse und mythologisch-metaphysische diesem Sinn wird das Denken Schopenhauers im Licht
Musik Wagners hörte, schätzte er auch nicht Schopen- der sogenannten Bewegung des »Zurück zu Kant« in-
hauers Philosophie. Auf Empfehlung seiner Schülerin terpretiert, wie es bereits 1865 bei Otto Liebmann in
Mathilde von Wesendonck, der Geliebten Wagners, Kant und die Epigonen geschehen war.
und trotz seiner Antipathie für Wagner, las er drei Mo- Um die Jahrhundertwende interpretierte die flo-
nate lang die Werke Schopenhauers und erdachte ei- rentinische Kant-Schule von Francesco Fiorentino
nen Vergleich zwischen den zwei großen Pessimisten, und Felice Tocco die Philosophie Schopenhauers als
in dem er Partei für Leopardi ergriff. Daher wird in eine direkte und spezifische Entwicklung des Kantia-
dem imaginären Gespräch die Philosophie Schopen- nismus. In seinen Lezioni di Filosofia (Philosophische
hauers als Zukunftsphilosophie bezeichnet (wie die Vorlesungen) bezog Tocco Schopenhauer über die
Zukunftsmusik Wagners) und das metaphysische Fun- philosophischen Strömungen des Fatalismus in die of-
dament Schopenhauers mit Ironie ad absurdum ge- fizielle Weltgeschichte der Philosophie mit ein, indem
führt, um alle Widersprüche seines Systems deutlich der Italiener die Lehre von der Illusion der Willens-
werden zu lassen. freiheit erörterte (vgl. Tocco 1869, 421–429). Fiorenti-
Die Ironie des Gesprächs von De Sanctis wurde von no ließ sich von dem Artikel Hartmanns über die
Schopenhauer nicht erfasst, so dass er tatsächlich »Schopenhauer-Schule« (Hartmann 1883) anregen:
glaubte, in succum et sanguinem von De Sanctis ver- Er stellte Schopenhauer in zwei Schulhandbüchern
standen zu werden und dass endlich Tür und Tor für (vgl. Fiorentino 1887) als Kantianer und als Begrün-
seine Bekanntheit in Italien geöffnet worden seien. der einer pantheistischen Philosophie vor. Als erster
Dieses groteske Missverständnis bezeugen auch die in Italien wiederholte Fiorentino die Meinung Hart-
Briefwechsel zwischen Schopenhauer und seinen manns, dass die Philosophie Schopenhauers eine
›Aposteln‹ und ›Evangelisten‹ (vgl. z. B. GBr, Nr. 453, Schule begründen solle.
454, 457, 458, 462, 464). Anfang des 19. Jahrhunderts war eine bei Friedrich
Doch sollte von dem Beitrag De Sanctis’ keine Wir- Nietzsche beliebte Anhängerin Schopenhauers und
kung in Italien ausgehen. Die wichtigen Schüler De Wagners aktiv: die Idealistin Malwida von Meysen-
Sanctis, wie Benedetto Croce, widmeten sich Hegel, bug. Dank ihr erlangten die Namen Schopenhauers
dem ›großen Feind‹ Schopenhauers, um zu Beginn und Nietzsches in Italien eine hohe Bekanntheit: Ihr
des 19. Jahrhunderts einen italienischen Neuidealis- literarisch-philosophischer Salon wurde von verschie-
mus zu begründen. denen Intellektuellen besucht, die begannen, sich für
Nach dem Tode Schopenhauers bekämpften sich in die Philosophie Schopenhauers zu interessieren. Ähn-
den 1870er und 80er Jahren in Italien zwei philosophi- lich wie die französischen Aufklärer wird Schopen-
sche Strömungen: der (katholische, theosophische, hauer als Moralist gesehen. Wie aus einem Anekdo-
esoterische) Spiritualismus und der aufkommende Po- ten-Brevier wurden aus seinem Werk Aphorismen
49 Italien 415

über moralische Sitten, Geschlechtsliebe, Frauen und Autor von Die Welt als Wille und Vorstellung galt als der
Ehe zitiert. In diesem Sinne wurde Schopenhauer eine neue westliche Buddha, Vater eines neuartigen moder-
Modeerscheinung für mondäne Kolloquien (vgl. Bar- nen Spiritualismus. So beispielsweise in der romanti-
zellotti 1881/1918). schen Interpretation des Schopenhauerschen Denkens
Als tiefgründiger Denker gewann Schopenhauer im Musiksalon in Rom, der von Alessandro Costa ge-
hingegen die Gunst der Intellektuellen der florenti- führt war. Costa war ein Komponist und Musiklehrer,
nischen Schule. Manche unter ihnen, wie Giacomo berühmt für seine Kenntnisse der Werke Sebastian
Barzellotti und Ettore Zoccoli, gaben die ersten Ver- Bachs (er war der Begründer der italienischen Bach-
öffentlichungen über Schopenhauer in Zeitschriften, Gesellschaft in Rom) und ein erklärter Schopenhaue-
Feuilletons und Heften heraus. 1905 gab Giuseppe rianer. Mit verschiedenen dilettantischen Veröffent-
Melli, Kantianer und Schüler von Felice Tocco, die ers- lichungen und Essays machte er die Philosophie Scho-
te italienische Monographie über das Leben und das penhauers und die Lehre Buddhas öffentlich bekannt.
Werk des Philosophen in Druck: La filosofia di Scho- Zudem war er Mitglied der Schopenhauer-Gesell-
penhauer, ein Werk, in dem die Philosophie Schopen- schaft und Freund des Vorsitzenden Hans Zint.
hauers in einer antidogmatischen Perspektive inter- Die Interpretation Schopenhauers als westlicher
pretiert wird. Nach Melli ist der Wille an sich nämlich Buddha setzte sich mit den Studien und den Überset-
nicht das Wesen der Welt, sondern nur ihr Urphäno- zungen von Giuseppe De Lorenzo fort und bahnte den
men, wo die menschliche Erkenntnis aufhört. Außer- Weg zur Begründung der Indologie in Italien, die auch
dem schreibt Melli dem vom jungen Schopenhauer von Carlo Formichi, einem Freund Paul Deussens,
entwickelten Begriff des »besseren Bewußtseyns« eine verfolgt wurde (s. Kap. 52).
besondere Rolle zu, weil er die Überwindung der em- Um den Musiksalon in Rom kreisten viele intellek-
pirischen Welt und des individuellen Egoismus der tuelle Persönlichkeiten der Zeit: Henriette Hertz, die
Menschen ermögliche. Auf diese Weise kann Melli ein Begründerin der römischen Bibliotheka Hertziana
Solidaritätsprinzip der species begründen, das nicht und eine Freundin von Deussen (die sogenannte »Dio-
auf dem metaphysischen Mitleid beruht. Das Werk tima«), der Schopenhauerianer Giuseppe Cuboni,
von Melli endet mit der Darstellung der praktisch- Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft unter Deus-
idealistischen Momente der Schopenhauerschen Phi- sens Vorsitz und bekannter Phytopathologe und Bota-
losophie, in Zuge derer der irdische Pessimismus ge- niker, der Materialist und Physiologe Jacob Mole-
genüber der Befähigung des Menschen zu mora- schott, der Arzt Piero Blaserna, ein Schüler Hermann
lischem Verhalten abgeschwächt wird. von Helmholtz’, und der junge und berühmte Dichter
In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Gabriele D’Annunzio. Dessen Werk Trionfo della mor-
wurde der Neuidealismus von Benedetto Croce und te trägt die Züge einer romanhaften Transfiguration
Giovanni Gentile die beherrschende philosophische der Stimmung dieses musikalischen Salons und zeich-
Bewegung in Italien – im Gegensatz zu den Positivis- net eine erfolgreiche Tendenz nach, Schopenhauer im
ten und Kantianern. In dieser Atmosphäre gerät der Schatten seines wichtigsten Schülers Nietzsche zu in-
Schopenhauerianismus zu einer spärlichen Minder- terpretieren, und zwar als Begründer einer ästhetizis-
heit, die als eine sozusagen häretische Bewegung un- tisch-tragischen und vitalistischen Weltanschauung
ter der neuidealistischen Zensur und ihrer Feind- (vgl. D’Annunzio 1896/2007).
seligkeit leiden sollte. Der Schopenhauerianismus ge- Eine besondere Rolle spielten auch die italienischen
hörte nämlich zu keiner bestimmten philosophischen Übersetzungen der Werke Schopenhauers. Die ersten
Strömung oder akademischen Schule wie der Hege- partiellen Übersetzungen enthielten viele Gramma-
lianismus, Kantianismus und Positivismus, sondern tik- und Deutungsfehler und waren häufig von Dilet-
zu einer begrenzten Elite und zu einer kulturellen tanten und einfachen Anhängern Schopenhauers aus-
Stimmung: einer pessimistischen Auffassung des me- geführt worden, z. B. von dem Musikologen Oscar
taphysischen und anthropologischen Status des Men- Chilesotti, der versuchte, die Schopenhauersche Phi-
schen, die mit dem dominierenden optimistischen losophie aus der Perspektive des Positivismus dar-
Neuidealismus in Konflikt stand. zustellen. Schopenhauers Werke wurden oft über das
Neben der kantischen Bewegung setzte zu der Zeit Französische ins Italienische übersetzt und waren da-
eine weitere Auslegung Schopenhauers ein, die sich in her bereits von der französischen Kultur beeinflusst.
Italien als die maßgebliche Interpretation Schopen- Diese Interpretation geschah in den Werken Giovanni
hauers bis in die Nachkriegsjahre erweisen sollte. Der Papinis und des Kreises um die literarischen und phi-
416 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

losophischen Kulturzeitschriften Leonardo und Lacer- nismus standhafte Verteidiger und tiefgründige Den-
ba. Papini war motiviert von der Idee, die Philosophie ker: Piero Martinetti und den bereits genannten Carlo
zu liquidieren (vgl. Papini 1906). Aber er nahm eine Michelstaedter. Im Alter von zwanzig Jahren interes-
ästhetizistische und aristokratische Pose ein – eine sierte sich Martinetti für das indische System Sankhya
Auslegung der Philosophie Schopenhauers, die in den als erste vernünftige und religiöse Erläuterung des
später sogenannten maladies de la volonté von Théo- Weltalls (vgl. Martinetti 1896); dieses Interesse an der
dule Ribot (vgl. Ribot 1922) stattfinden wird. indischen Kultur kreuzte sich bei ihm mit der Philoso-
Eine religiöse Auslegung der Philosophie Schopen- phie Schopenhauers und mit seinem kantischen Idea-
hauers ist von Eva Kühn vorgeschlagen worden. In lismus, der von dem historischen Idealismus Benedet-
Vilno geboren, entstammte sie einer evangelisch-li- to Croces und von dem Aktualismus Giovanni Gen-
tauischen Familie, die ihre Wurzeln in Deutschland tiles sehr verschieden war. Nach seiner Ausbildung
hatte. Ihr Talent ermöglichte ihr ein Stipendium für in Deutschland trat Martinetti der kantischen Bewe-
den Besuch der Universität Zürich. Später erhielt sie gung bei und formulierte einen »kritischen Idealis-
ein weiteres Stipendium, um in Rom zu studieren. mus«. Im Einklang mit dem ethischen Kantianismus
Dort verkehrte die junge Denkerin in dem theosophi- des 19. Jahrhunderts schätzte er das individuelle Be-
schen Gesellschaftskreis von Mme. Blavatsky, wo ihr wusstsein als Voraussetzung für die Emanzipation des
auch Giovanni Amendola begegnete. Amendola war Individuums ein. Martinettis Schopenhauerianismus
Intellektueller und wurde später ein überzeugter Anti- äußerte sich besonders in seinem historischen Pessi-
faschist. Er wurde bald darauf ihr Ehemann. Die bei- mismus, einem gewissen Schopenhauerschen nihil
den hatten Umgang mit dem Coenobium, einer Zeit- sub sole novi. Das ist die Kehrseite seines Antihistoris-
schrift für Religionsstudien, an deren ersten fünf Jahr- mus, der sich aber in einen transzendentalen Optimis-
gängen der Orientalist und Schopenhauerianer Karl mus auflöst (vgl. Martinetti 1902). Wie Schopenhauer
Eugen Neumann mitarbeitete. In dieser Zeit schrieb negierte Martinetti jeglichen historischen Fortschritt;
Eva Kühn einen Essay, der von einem ›transzendenta- anders als Schopenhauer war er aber der Meinung,
len Optimismus der Ideenwelt‹ handelt, und zwar von dass der individuelle Wille erzogen werden kann (vgl.
einer optimistischen Deutung der Ideenwelt (vgl. Martinetti 1942). Die Erziehung des Willens ist mög-
Kühn 1907). Außerdem tat sich Eva Kühn durch die lich dank einer transzendentalen Freiheit (Kant), die
ersten zuverlässigen Übersetzungen der Werke Scho- aber in der Welt mit der Unvernünftigkeit des Willens
penhauers hervor. kämpfen muss (Schopenhauer). In diesem Sinn wird
der kantische Unterschied zwischen dem intelligiblen
und dem empirischen Charakter bei Martinetti ein
Unter dem Faschismus: Metaphysische Aus-
Prozess, und zwar ein ansteigender Weg ex gradu
legungen
vom empirischen Charakter zum Schopenhauerschen
Unter dem beginnenden Faschismus verstärkte sich besseren Bewusstsein. Diese Annahme Martinettis
der vom Regime unterstützte Neuidealismus: Der Ak- schafft die Voraussetzung für einen fortschreitenden
tualismus von Giovanni Gentile und der Historismus Aufstiegsprozess zu einer höheren Einheit, einen Er-
von Benedetto Croce beherrschten die philosophische lösungsprozess. Schließlich teilte Martinetti die Scho-
Bühne. Croce hemmte die Verbreitung des Schopen- penhauerschen Ansichten über den Wert der intellek-
hauerianismus, indem er die Werke Schopenhauers tualen Anschauung: Daher ist für ihn der Philosoph
verriss (vgl. Croce 1932, 318) und ihre Übersetzungen ein ›Künstler der Vernunft‹, der durch sie (bei Scho-
verhinderte: Zum Beispiel verweigerte er Giovanni penhauer durch die ästhetische Kontemplation) das
Amendola die Erlaubnis, eine Übersetzung von Die Weltwesen begreifen kann. Als Zeichen seiner Ver-
Welt als Wille und Vorstellung vorzunehmen (auch Eva ehrung Schopenhauers übersetzte und sammelte
Kühn konnte die Übersetzung des zweiten Buches der Martinetti dessen religiöse Schriften (Schopenhauer
Parerga und Paralipomena unter Mitarbeit von M. 1908). Als Zeichen des Beginns einer Schopenhauer-
Montinari für Adelphi erst 1963 veröffentlichen) und Renaissance in Italien (vgl. Martinetti 1940) veröffent-
hinderte Carlo Michelstaedter daran, eine Überset- lichte Martinetti 1941 eine Schopenhauer-Anthologie
zung Schopenhauers in der damals von Croce geleite- (Martinetti 1941), mit der der Erfolg des Schopen-
ten Reihe Biblioteca Filosofica von Laterza zu publizie- hauerianismus in Italien begann.
ren (vgl. Michelstaedter 1983, 262–263). Martinettis Introduzione alla Metafisica setzte einen
Trotz dieser Hindernisse fand der Schopenhaueria- Punkt hinter die erste Phase der Schopenhauer-Rezep-
49 Italien 417

tion und machten den Anfang einer metaphysischen von Einzelgängern der Philosophie gebildete Er-
Auslegung des Schopenhauerschen Denkens. Zu den scheinung, in der sich oft verschiedene kulturelle aus-
Metaphysikern gehört auch der Einzeldenker Carlo ländische Einflüsse in einer individuellen philosophi-
Michelstaedter. Er studierte in Florenz und versuchte schen Einstellung bündelten. Häufig bestand die
über seine klassische Ausbildung (er konnte fließend bunte Welt der Schopenhauerianer aus Feinden des
Griechisch und Lateinisch schreiben und sprechen), hegelianischen Neuidealismus und aus erklärten An-
seine dichterische und künstlerische Begabung mit tifaschisten: Giuseppe Melli (der seinen Lehrstuhl in
seiner philosophischen Neigung zur Spekulation zu Florenz niederlegte und sich ins Privatleben zurück-
vereinigen. In seinem Hauptwerk La persuasione e la zog), Giovanni Amendola (der wegen Misshandlun-
rettorica (Überzeugung und Rhetorik) radikalisierte gen im Exil starb), Piero Martinetti (der wegen seiner
Michelstaedter den Nihilismus Schopenhauers: Die kompromisslosen Opposition gegen das Regime zu-
Verbergung des Seins, die Michelstaedter als »Rheto- erst den Lehrstuhl in Turin verlor und später in poli-
rik« benennt, behindert den Existenzvollbesitz des tischer Isolation starb) u. v. a.
Menschen, und zwar die »Überzeugung« von seiner Aber der Schopenhauerianismus als irrationelle
Unvollständigkeit und seinem Entbehren, das wesent- Strömung erstreckte sich bis in Anfänge mit Hegel:
liche Nichts des Lebens, das von dem Willen bezeugt Dies ist der Fall bei Giuseppe Rensi, dessen philoso-
wird. Daher, wenn der Mensch sein Wesen erreicht, phische Ausbildung mit Hegel begann und der durch
wird dann die »Voluntas« zu »Noluntas«, also das Le- Schopenhauers Pessimismus zur Formulierung eines
ben zum Tode. Nach Michelstaedter verhüllt die Rhe- eigenen Skeptizismus geführt wurde. Nach Rensis
torik den wesentlichen Mangel der Existenz und ver- Meinung kann der Hegelianismus nicht auf die
hindert den Weltschmerz. Aber in welcher Art und schwerwiegenden Existenz- und Sinnfragen antwor-
Weise kann dies die Rhetorik realisieren? Mit der Lo- ten, weil der Hegelsche Optimismus über die Unver-
gik und den Wissenschaften, bzw. mit dem Hegelschen nünftigkeit der Realität (besonders nach der Tragödie
Historismus. Die Rhetorik kann nämlich keinen Sinn des Ersten Weltkriegs) nicht Rechenschaft geben
und keine Erklärung der Existenz geben. Das Leben ist kann. Die Überwindung des Panlogismus Hegels
im Wesentlichen sinnlos und zwecklos. Der metaphy- führte bei Rensi zur »Pan-Alogia« der Welt, d. i. ein
sische Status des Menschen beruht auf einem existen- Alogismus im Gegensatz zum Panlogismus Hegels.
tiellen »deficit«, der jenseits der historischen Phäno- Das Endresultat seiner philosophischen Erörterungen
mene liegt: »Leben ist Wille zum Leben, Wille ist Man- ist ein radikaler Skeptizismus, der sich auf das unlogi-
gel, Mangel ist Leid, jedes Leben ist Leid«. Das bedeu- sche Weltwesen stützt. Rensis philosophische Einstel-
tet, »das Seiende kann nicht dasein« (Michelstaedter lung erweckte die Gegnerschaft Croces und Gentiles,
1982, 705 f.), also die Voluntas kann Noluntas werden, was Rensi eine komplizierte akademische Karriere bis
das Leben kann zum Tode werden. Wie Philipp Main- zu einem erzwungenen Ausschluss aus dem politi-
länder (1841–1876) brachte Michelstaedter seine Phi- schen und akademischen Leben bescherte.
losophie zur Anwendung – bis zu seinem tragischen
Ende: Mit dreiundzwanzig nahm er sich das Leben.
Von den Nachkriegsjahren bis heute: Eine kurze
Aber die Philosophie Michelstaedters bietet auch eine
Zusammenfassung
andere Lösung als den Suizid; und zwar eine Lösung,
die nicht unbedingt ein nihilistisches Ergebnis hat: Sie Nach dem Existenzialismus-Streit in der philosophi-
besteht darin, vollständig in der Gegenwart zu leben schen Zeitschrift Primato (1943) und weiter in den
und die Last des Daseins mit dem Bewusstsein seines 1950er Jahren wurde Schopenhauer zunehmend im
wesentlichen Mangels zu ertragen. Dieser ›amor fati‹, Licht der Philosophie Heideggers ausgelegt, weil die
welcher sich auf Nietzsche zu beziehen scheint, wird Existenzphilosophie verschiedene Themen (beson-
jedoch nicht als Wille zur Macht bestimmt; er deutet ders Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes)
hingegen – wie von Schopenhauer gezeigt – auf den aus Schopenhauers Gedanken geschöpft hatte. Gleich-
tragischen Weg zur Hinnahme der Existenz im Sinne zeitig hatte die mystisch-religiöse Auslegung Scho-
eines heroischen Lebens. penhauers große Resonanz und verschiedene Vertre-
Von den 1930er Jahren bis zu den Nachkriegsjah- ter in Italien gefunden: von Umberto Padovani, einem
ren war die italienische Philosophie durch einen kul- Schüler Martinettis, über Giuseppe Faggin, einen be-
turellen Eklektizismus gekennzeichnet. Von Anfang rühmten Übersetzer der Werke Plotins, den Thomis-
an war der italienische Schopenhauerianismus eine ten Pietro Mignosi und den Kenner des Christentums,
418 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

Teodorico Moretti-Costanzi bis zu dem noch leben- Einen weiteren Schwerpunkt der Schopenhauer-For-
den Giuseppe Riconda, Experte abendländischer Kul- schung setzt Giuseppe Invernizzi durch seine Studien
tur und Befürworter Schopenhauers. über den deutschen Pessimismus (besonders Eduard
Auch die Nietzsche-Renaissance trug bedeutend von Hartmann, Julius Bahnsen, Philipp Mainländer)
zur Schopenhauer-Rezeption bei: In den 1960er und und die Übersetzung der Schopenhauer-Biographie
1970er Jahren beeinflusste sie das Studium Schopen- Arthur Hübschers.
hauers, indem sie die Aufmerksamkeit wieder auf Im 21. Jahrhundert entstand zudem eine For-
Schopenhauer als Quelle Nietzsches lenkte. Die For- schungstradition, die sich mit den Beziehungen Scho-
schung wurde mit Essays und Übersetzungen der zwei penhauers zur Naturwissenschaft seiner Zeit beschäf-
großen Nietzsche-Forscher Giorgio Colli und Mazzi- tigt. Bedeutend auf diesem Gebiet sind die Recherchen
no Montinari vertieft. Besonders Colli hatte die Phi- von Fabio Grigenti (2000) und Marco Segala (2008).
losophie Schopenhauers als eine »Philosophie des Ein weiterer Zweig der neueren Schopenhauer-
Ausdrucks« (»Filosofia dell’espressione«) zu einer Forschung ist heute am Centro interdipartimentale di
Versöhnung mit der Ästhetik Nietzsches geführt. In ricerca su Arthur Schopenhauer e la sua scuola der
Giorgio Collis Fußstapfen trat Sossio Giametta, der Universität del Salento und der italienischen Sektion
das Verständnis der Philosophie Schopenhauers in der Schopenhauer-Gesellschaft in Lecce beheimatet,
der wissenschaftlichen Welt durch verschiedene Bei- die sich besonders mit der sogenannten Schopenhau-
träge und sorgfältige Übersetzungen eines Großteils er-Schule (s. Kap. 27) und mit der philosophischen
seiner Werke förderte. Auf die Nietzsche-Forschung Ausbildung des jungen Schopenhauer beschäftigen.
antwortend verbreitete der Germanist und überzeugte Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden in der Rei-
Schopenhauerianer Anacleto Verrecchia mit ver- he Schopenhaueriana veröffentlicht.
schiedenen Veröffentlichungen die Philosophie des
Frankfurter Philosophen. Besonders hervorzuheben Literatur
sind die Colloqui (1995), eine Auswahl der Gespräche Amendola, Giovanni: La Volontà è Bene. Etica e religione.
Schopenhauers mit seinen Schülern und Anhängern. Roma 1911.
Barbera, Sandro: Il mondo come volontà e rappresentazione.
Ende der 1970er Jahre erblühte die Schopenhauer- Introduzione alla lettura (Kommentar). Carocci 1998.
Forschung: Es erschien die Gesamtdarstellung Scho- Barzellotti, Giacomo: Il pessimismo dello Schopenhauer. In:
penhauers, seiner Philosophie und seines Lebens von Rassegna settimanale 1 (1878), 114–117 (wieder abge-
Icilio Vecchiotti (1970; 1979), Professor an der Univer- druckt in: Ders.: Santi, solitari, filosofi. Bologna 21886,
sität in Urbino für orientalische Religion und Kultur 389–406).
Barzellotti, Giacomo: La nuova scuola del Kant e la filosofia
und langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Bei-
scientifica contemporanea in Germania. In: Nuova Anto-
rats der Schopenhauer-Gesellschaft. Auf dem gleichen logia XIX (1880), 591–630 (wieder abgedruckt in: Ders.:
Gebiet wie die wichtigen Beiträge des Germanisten L’opera storica della filosofia. Palermo 1917).
Sandro Barbera und die neuen Übersetzungen der Barzellotti, Giacomo: Di Federigo Guglielmo Nietzsche
Werke Schopenhauers durch den Philosophiehistori- [1881]. In: Ders.: L’opera storica della filosofia. Milano u. a.
31918, 171–173.
ker Amedeo Vigorelli beginnt die Arbeit Vecchiottis
Costa, Alessandro: La religiosità nella filosofia di A. Scho-
mit einer tiefgründigen philologischen Untersuchung penhauer. In: Coenobium 5 (1907), 26–49.
der Quellen der Werke Schopenhauers und seiner ge- Costa, Alessandro: Il Buddha e la sua dottrina. Torino 1921.
netisch-historischen Denkentwicklung. Dank der Ver- Costa, Alessandro: Il pensiero religioso di Arturo Schopen-
tiefung und Verbreitung der Gedanken Schopenhau- hauer. Esposizione critica. Modena 1935.
ers durch Franco Volpi, Schüler von Giuseppe Faggin Costa, Alessandro: Il pensiero religioso di Schopenhauer.
Roma 1936.
am Gymnasium und tiefsinniger Erklärer und Inter-
Costa, Alessandro: La mèta della vita in Dante, Goethe, Scho-
pret Heideggers, erreichte die Philosophie Schopen- penhauer, Wagner e Leopardi. Milano 1938.
hauers ein noch größeres Publikum: Mitte der 1990er Covotti, Aurelio: La vita e il pensiero di Arturo Schopen-
Jahre erwachte ein breites Interesse an Schopenhauer hauer. Torino 1910.
durch die von Volpi bei Adelphi herausgegebene Reihe Covotti, Aurelio: La metafisica del bello e dei costumi di
unter dem Titel Die Kunst zu ... . Aber Volpi vertiefte Arturo Schopenhauer. Napoli 1934.
Croce, Benedetto: Storia d’Europa nel secolo Decimonono
auch die wissenschaftliche Untersuchung des hand-
[1932]. Hg. von G. Galasso. Milano 1999.
schriftlichen Nachlasses Schopenhauers, indem er sich D’Annunzio, Gabriele: Trionfo della morte [1896]. Hg. von
mit dem von Giovanni Gurissatti übersetzten Manu- M. G. Calducci. Milano 2007 (bes. Kap. IV, 39–42).
skripten Schopenhauers intensiv auseinandersetzte. De Sanctis, Francesco: Schopenhauer e Leopardi – Dialogo
49 Italien 419

tra A. e D. In: Rivista Contemporanea XV (1858), Abt. II, Moretti-Costanzi, Teodorico: Schopenhauer. Roma 1942.
369–408. Padovani, Umberto: L’ambiente e le fonti del pensiero di
Faggin, Giuseppe: Schopenhauer: Il mistico senza Dio. Schopenhauer. In: Rivista di Filosofia 23 (1931), 345–385.
Firenze 1951. Papini, Giovanni: Il crepuscolo dei filosofi: Kant, Hegel, Scho-
Faggin, Giuseppe: Il significato dell’Esistenza di Arthur Scho- penhauer, Comte, Spencer, Nietzsche. Milano 1906.
penhauer. Padova 1968. Piana, Giovanni: Interpretazione del »Mondo come volontà e
Fiorentino, Francesco: Manuale di storia della filosofia. Ad rappresentazione« di Schopenhauer. o. O. 2013.
uso dei licei (Schulhandbuch der Geschichte der Philoso- Rensi, Giuseppe: Interiora rerum. Milano 1924 (neue Aus-
phie), 3 Bde. Napoli 1877–1881 (für Schopenhauer-Zitate gabe: La filosofia dell’assurdo. Milano 1937).
vgl.: Bd. I, 174 ff.; Bd. II, 152 ff.; Bd. III, 319 ff.; 1887 wird Rensi, Giuseppe: Modernità di Schopenhauer. In: Minerva.
die zweite Auflage des Manuale [Bd. II] mit dem Kapitel Rivista delle riviste 4 (1941).
»La scuola di Schopenhauer« [Die Schopenhauer-Schule] Ribot, Théodule: Les maladies de la volonté. Paris 1922.
veröffentlicht). Riconda, Giuseppe: Schopenhauer interprete dell’Occidente.
Fiorentino, Francesco: Compendio di storia della filosofia Milano 1969.
(Kompendium der Geschichte der Philosophie). Hg. von Riconda, Giuseppe: La ›Noluntas‹ e la riscoperta della mis-
A. Carlini. Firenze 1921–1925 (vgl. Kap. XXIV »Schopen- tica nella filosofia di Schopenhauer. In: Schopenhauer-
hauer«, 232–243). Jahrbuch 53 (1972), 80–87.
Grigenti, Fabio: Natura e rappresentazione: genesi e struttura Segala, Marco: Schopenhauer, la filosofia, le scienze. Pisa
della natura in Arthur Schopenhauer. Napoli 2000. 2008.
Hartmann, Eduard von: Kant als Vater des Pessimismus. In: Tocco, Felice: Lezioni di Filosofia. Ad uso dei Licei. Bologna
Ders.: Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus. 1869 (bes. Kap. LXI »Fatalismo determinismo, dottrina di
Berlin 1880. Schopenhauer«, 421–429).
Hartmann, Eduard von: Die Schopenhauersche Schule. In: Vecchiotti, Icilio: Introduzione a Schopenhauer. Bari 1970.
Gegenwart 23 (1883) (abgedruckt in: Ders.: Philosophische Vecchiotti, Icilio: Arthur Schopenhauer. Storia di una filoso-
Fragen der Gegenwart. 1885, 38–57; wieder abgedruckt fia e della sua fortuna. Firenze 1979.
unter dem Titel »L ’ecole de Schopenhauer« in: Revue Phi- Vigorelli, Amedeo: Il riso e il pianto: introduzione a Schopen-
losophique de la France et de l’Etranger, geleitet von Th. hauer. Milano 1998.
Ribot, Bd. XVI [1967], 121–134). Zoccoli, Ettore: Di due opere minori di Arturo Schopenhauer
Hübscher, Arthur: Arthur Schopenhauer: un filosofo contro (Ethik). Modena 1898.
corrente. Übers. von Giuseppe Invernizzi. Mursia 1990. Zoccoli, Ettore: L’estetica di A. Schopenhauer: propedeutica
Invernizzi, Giuseppe: Il pessimismo tedesco dell’Ottocento. all’estetica wagneriana. Milano 1901.
Schopenhauer, Hartmann, Bahnsen e Mainländer e i loro
avversari. Firenze 1994. Reihe Schopenhaueriana
Invernizzi, Giuseppe: Invito al pensiero di Arthur Schopen- Hg. von Domenico M. Fazio, Matthias Koßler und Ludger
hauer. Milano 2011. Lütkehaus. Lecce 2006 ff. Bislang sind erschienen (chro-
Kühn, Eva: L ’ottimismo di A. Schopenhauer. In: Coenobium nologisch):
6 (1907), 84–92. Ciracì, Fabio/Fazio, Domenico M./Pedrocchi, Francesca
Martinetti, Piero: Il sistema Sankhya. Studio sulla filosofia (Hg.): Arthur Schopenhauer e la sua scuola. Lecce 2006.
indiana. Torino 1896. Fazio, Domenico M. (Hg.): La scuola di Schopenhauer. Testi e
Martinetti, Piero: Introduzione alla metafisica. Bd. I: Teoria contesti. Lecce 2009.
della conoscenza. Torino 1902 (vollständige Ausgabe Ruggieri, Davide: Il conflitto della società moderna. La rice-
Torino 21904). zione del pensiero di Arthur Schopenhauer nell’opera di
Martinetti, Piero: La rinascita di Schopenhauer. In: Rivista di Georg Simmel (1887–1918). Lecce 2010.
Filosofia April–Juni (1940), 76–91. Rée, Paul: Osservazioni psicologiche. Hg. von Domenico M.
Martinetti, Piero: Schopenhauer. Antologia filosofica. Milano Fazio. Lecce 2010.
1941 (das Buch enthält auch eine Biographie Schopenhau- Centro interdipartimentale di ricerca su Arthur Schopen-
ers, vgl. 1–67, und Hinweise zu Schopenhauerschen Wer- hauer e la sua scuola dell’Università del Salento (Hg.): La
ken und Bibliographie, vgl. 68–248). passione della conoscenza. Studi in onore di Sossio Gia-
Martinetti, Piero: L ’educazione della volontà, wird in zwei metta. Lecce 2010.
Teilen in Rivista di Filosofia veröffentlicht: 1. Teil: »La Ciracì, Fabio: In lotta per Schopenhauer. La ›Schopenhauer-
volontà« in: Rivista di Filosofia III/2–3 (1942), 77–95; Gesellschaft‹ fra ricerca filosofica e manipolazione ideo-
2. Teil: »Educazione della volontà« in: Rivista di Filosofia logica (1911–1948). Lecce 2011.
IV/1–2 (1943), 9–54. Ciracì, Fabio/Fazio, Domenico M. (Hg.): Schopenhauer in
Melli, Giuseppe: La filosofia di Schopenhauer. Firenze 1905. Italia. Atti del I Convegno Nazionale della Sezione Italiana
Michelstaedter, Carlo: La persuasione e la rettorica [1905]. della Schopenhauer-Gesellschaft, San Pietro Vernotico –
Hg. von S. Campailla. Milano 1982. Lecce 20 e 21 giugno 2013. Lecce 2013.
Michelstaedter, Carlo: Epistolario. Hg. von S. Campailla. Vitale, Maria: Dalla Volontà di vivere all’Inconscio. Eduard
Milano 1983. von Hartmann e la trasformazione della filosofia di Scho-
Mignosi, Pietro: Schopenhauer. Brescia 1934. penhauer. Lecce 2014.
Moretti-Costanzi, Teodorico: Noluntas. Roma 1940.
420 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

Apollonio, Simona/Novembre, Alessandro (Hg.): Schopen- Il mondo come volontà e rappresentazione, 2 Bde. Hg. von
hauer. Pensiero e fortuna. Atti del II Convegno Nazionale Giorgio Brianese. Torino 2013.
della Sezione Italiana della Schopenhauer-Gesellschaft, Il mondo come volontà e rappresentazione. Hg. von Sossio
Corigliano d’Otranto –19, 20 e 21 giugno 2014. Lecce Giametta. Milano 2006.
2015. Introduzione alla filosofia e scritti vari. Übers. von Eva
Apollonio, Simona/Carparelli, Mario/Giordano, Francesco Amendola-Kühn, Einleitung von Francesco Cafaro.
(Hg.): Per mari inesplorati. Studi in onore di Domenico M. Torino 1960.
Fazio, intr. di Fabio Ciracì. Lecce 2017. La famiglia Schopenhauer. Carteggio tra Adele, Arthur, Hein-
Ciracì, Fabio: La filosofia italiana di fronte a Schopenhauer. rich Floris e Johanna Schopenhauer. Hg. von Ludger Lütke-
La prima ricezione (1858–1914). Lecce 2017. haus, übers. von Ingrid Harbeck. Palermo 1991.
La libertà del volere umano. Übers. von Ervino Pocar, Einlei-
Italienische Übersetzungen der Werke tung von Cesare Vasoli. Bari-Roma 1994.
Schopenhauers La quadruplice radice del principio di ragion sufficiente.
Aforismi sulla saggezza della vita. Übers. von Oscar Chile- Übers. von Eva Amendola-Kühn. Lanciano 1912.
sotti. Milano 1885 (erweiterte Auflage mit Vorwort La Volontà nella Natura. Hg. von Icilio Vecchiotti. Bari-
21892). Roma 1989.
Colloqui (Gespräche). Hg. von Anacleto Verrecchia. Milano Metafisica della natura. Hg. von Ignazio Volpicelli. Bari-
1995. Roma 1993.
I due problemi fondamentali dell’etica. Hg. von Sossio Gia- Metafisica dei costumi. Lezioni filosofiche 1820. Übers. von
metta. Milano 2008. Maria Giovanna Franch. Milano 2008.
Il fondamento della morale. Übers. von Ervino Pocar, Einlei- Morale e religione: dai Parerga und Paralipomena, e dai Neue
tung von Cesare Vasoli. Bari-Roma 1970. Paralipomena [nach der Ausgabe von Grisebach]. Übers.
Il mondo come volontà e rappresentazione, Bd. 1, Buch IV von Piero Martinetti. Torino 1908, 21921.
(§§ 53–71) und die entsprechenden Ergänzungen aus Orazione in lode della filosofia. Testo latino a fronte. Hg. von
Bd. 2 (Kap. 40–50). Übers. von Oscar Chilesotti. Milano Giuseppe Invernizzi. Genova 2015.
1888 (mit einer kritischen Erörterung der englischen Bio- Parerga e paralipomena. Bd. I, hg. und durchgesehen von
graphie Arthur Schopenhauer von Helen Zimmern neu Giorgio Colli; Bd. II, hg. von Mario Carpitella; übers. von
aufgelegt 1915; die Übersetzung wurde auch bei Casa Edi- Mazzino Montinari (Bd. II, Kap. 1–15) und Eva Amen-
trice Sociale und als Anhang von Friedrich Nietzsche: dola-Kühn (Bd. II, Kap. 16–31). Torino 1963.
Schopenhauer come educatore [Schopenhauer als Erzie- Scritti postumi. Ital. Ausgabe geleitet von Franco Volpi, hg.
her]. Milano 1926, veröffentlicht). von Giovanni Gurisatti. 1996 ff.
Il mondo come volontà e rappresentazione. Hg. von Ada
Vigliani, Einleitung von Gianni Vattimo. Milano 1989. Fabio Ciracì
50 Großbritannien 421

50 Großbritannien Schopenhauers Werk, weil keine anderen englischen


Übersetzungen erhältlich waren. Trotz seines Lobes
Man könnte behaupten, dass die erste wirklich unpar- schreckt Oxenford jedoch vor Schopenhauers radika-
teiische Rezeption Schopenhauers in Großbritannien leren Schlussfolgerungen zurück, erneut sich bemü-
zu finden ist. In Deutschland sah sich die Berufselite der hend, aus der Perspektive eines Nationalcharakters zu
Philosophie schließlich erst zum Antworten auf Scho- sprechen. Denn ihre stilistischen Exzesse hin oder her
penhauer provoziert, als die Parerga und Paralipomena – die Neigung der Zeitgenossen Schopenhauers zu li-
ein allgemeines und weit verbreitetes Interesse gewan- beralen politischen Ideen würde auf viktorianische
nen, welches Schopenhauer durch keine seiner vorigen Briten eine größere Anziehungskraft ausüben als
Publikationen erfahren hatte. Doch die Einschätzun- Schopenhauers Fortschrittspessimismus. So schreibt
gen dieser Akademiker gefielen Schopenhauer nicht. Oxenford: »Their rallying cry, however strange the
Er hielt sie für verworren und ignorant, und er klagte language in which it may be couched, is still ›progress!‹
sogar hinter vorgehaltener Hand Fichtes gekränkten and therefore they are still the pedantic sympathisers
Sohn Immanuel Hermann an, geradezu Lügen zu ver- with the spirit of modern civilisation.« Er widersetzt
breiten. Die einzigen deutschen Rezensionen, denen sich deshalb dem, was er Schopenhauers »ultra-pessi-
Schopenhauer zustimmte, stammten neben der von mism« nennt, bestürzt, dass die »genial« und »inge-
Jean Paul (1825) aus der Feder von Angehörigen seines nious« Art der Lehre Schopenhauers so uneins sein
eigenen Freundes- und Bewundererkreises: Friedrich könne mit ihrem »disheartening« und sogar »repulsi-
Andreas Ludwig Dorguth, August Gabriel Kilzer und ve« Abschlussurteil (ebd., 394). Oxenfords Artikel en-
Julius Frauenstädt (vgl. Cartwright 2010, 524–526). In- det mit der Hoffnung auf einen neuen deutschen Phi-
dessen kamen über den Ärmelkanal bald Neuigkeiten losophen ›gleicher Kraft, Verständigkeit, Genialität
von einer Einschätzung, die (meistenteils) höchst vor- und Belesenheit‹, der auf einer Seite rangieren würde
teilhaft war (zur Schopenhauer-Rezeption in der eng- ›die stärker in Harmonie mit unseren eigenen Gefüh-
lischen Literatur s. auch Kap. 45). len und Überzeugungen ist‹ (vgl. ebd., 407). Er endet
Der Artikel »Iconoclasm in German Philosophy«, daher mit dem impliziten Bedauern, dass Schopen-
geschrieben von John Oxenford, erschien in der West- hauer, bei all seinem Talent, dieser Philosoph nicht sei.
minster Review im April 1853. Er argumentiert, dass In der Zeit zwischen Oxenfords Rezension und
Schopenhauer, der entfremdete Bilderstürmer der dem Erscheinen vollständiger englischer Übersetzun-
Deutschen Philosophie, englischen Geschmäckern gen bestand der einzig andere Zugang, den der briti-
überaus gefallen werde. Der komplexen und scheinbar sche Leser zu Schopenhauers Worten hatte, in Helen
leeren Abstraktionen besser bekannter deutscher Phi- Zimmerns Biographie Arthur Schopenhauer. His Life
losophen überdrüssig – Hegel im Hinterkopf – werde and His Philosophy von 1876. Obgleich, so ihr Ein-
der Engländer finden, dass »Schopenhauer gives you a geständnis, das biographische Material dieser Arbeit
comprehensible system, clearly worded; and you may zumeist aus Wilhelm Gwinners Denkschrift aufgele-
know, beyond the possibility of a doubt, what you are sen worden war (vgl. Zimmern 1876, vi), sollten ihre
accepting and what you are rejecting« (Oxenford 1853, ziemlich langen Übersetzungen bedeutsamer Passa-
393). Als Schopenhauer dazu kam, Oxenfords Rezen- gen sowie persönlicher Briefe eine wichtige Ressource
sion zu lesen, war er erfreut, dass sein Prosa-Stil so darstellen. Als endlich vollständige englische Überset-
scharf von der Weitschweifigkeit unterschieden wor- zungen veröffentlicht wurden, verteilte sich der Groß-
den war, die er an seinen Zeitgenossen erbittert ver- teil der Arbeit auf drei Strecken. Zunächst kam 1883
abscheute. In der Tat war die Affinität zwischen Scho- R. B. Haldanes und John Kemps Übersetzung von Die
penhauer und den Briten in dieser Hinsicht nahezu Welt als Wille und Vorstellung, wiedergegeben als The
unvermeidlich. Als Englandfreund war Schopenhau- World as Will and Idea heraus. Bis 1957, dem Jahr vor
ers deutscher Sprachgebrauch bewusst modelliert dem Erscheinen von E. F. J. Paynes bald maßgebender
nach der gemeinhin verständigen Ausdrucksweise bri- Übersetzung The World as Will and Representation,
tischer Philosophen wie etwa Berkeley und Hume. war die erste Ausgabe von Haldanes und Kemps Ver-
Oxenfords Kommentare sind indes nicht auf Stilfra- sion in ihren zehnten Nachdruck gegangen, und so
gen beschränkt. Er fährt fort, eine grobe Chronologie wurde eine zweite Auflage zur Veröffentlichung frei-
der Veröffentlichungen Schopenhauers zu geben sowie gegeben. Inzwischen erschienen von 1889 an eine Fül-
eine einfühlsame Konturierung seines Denkens im le von Schopenhauers Aufsätzen, übersetzt von Tho-
Allgemeinen. Er übersetzt sogar gewandt Passagen aus mas Bailey Saunders. Diese Aufsätze waren haupt-
422 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

sächlich aus Parerga und Paralipomena zusammen- spiritualism, kindness to animals« (C. H. Salter, zit.
getragen, beginnend mit »Religion: Ein Dialog«, und nach Diffey 1996, 238) sind allesamt präsent in seiner
sie sollten wiederum nicht verdrängt werden, bis nach Prosa vor 1883 und in seiner Persönlichkeit. In der Tat,
Paynes vollständiger Übersetzung des Werkes 1974. wie in seinen Briefen demonstriert, waren Hardy und
Schließlich, im selben Jahr, in dem Saunders seine seine Freunde bemüht, die Assoziierung mit Schopen-
Übersetzungskampagne beginnen sollte, wurden Ue- hauer zu schwächen, welche im Kommentar zu Hardy
ber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden in den Fokus zu rücken begann. Am 25. Juli 1909 ant-
Grunde (On the Fourfold Root of the Principle of Suffi- wortet Hardy auf Nachrichten seines Freundes Ed-
cient Reason) und Ueber den Willen in der Natur (On mund Gosse, dass der Kritiker F. A. Hedgcock gerade
the Will in Nature) als Einzelbände herausgegeben, eine solche Assoziierung verbreitet habe. Nachdem er
übersetzt von Jessie Taylor, die unter dem Namen ih- von seiner Enttäuschung geschrieben hat, dass Litera-
res Mannes, Karl Hillebrand, publizierte. Taylor sollte turkritik so biographisch geworden sei, sagt Hardy: »I
die erste sein, die Schopenhauers ›Vorstellung‹ als ›re- may observe incidentally that I hope my philosophy –
presentation‹ übersetzte (vgl. Cartwright 2010, 431), if my few thoughts deserve such a big name – is much
und viele Auflagen ihrer Übersetzung folgten, bis zu more modern than Schopenhauer« (Hardy 1984, 37;
Paynes Übersetzung von Ueber die vierfache Wurzel vgl. auch Hardy 1982, 351). Gosse nimmt es nun auf
des Satzes vom zureichenden Grunde (The Fourfold sich, Hedgcock Hardys Missbilligung auszurichten
Root), auch im Jahre 1974 veröffentlicht. und verbürgt sich für die Präexistenz von Hardys Pes-
Haldanes und Kemps Übersetzung machte Scho- simismus, zumindest seit er den Mann 1870 zuerst ge-
penhauer einem seiner bemerkenswertesten und be- troffen hatte.
deutsamsten Bewunderer in Großbritannien erst rich- Tatsächlich, wenn Hardy glaubte, dass »es an der
tig bekannt: Dem Romanschriftsteller Thomas Hardy. Zeit sein wird, wenn wir eintausend heilbare Übel los-
Im Gegensatz zu Oxenford konnte Hardy Schopen- geworden sind, zu bestimmen, ob das Übel, das un-
hauers ›Ultrapessimismus‹ mehr als gut verdauen: Er heilbar ist, das Gute überwiegt«, wie er William Ar-
schwelgte geradezu darin! Seine Notizbücher von cher im Jahre 1901 nahelegte (zit. nach Kelly 1988,
1883 bis 1912 zeugen von einer genauen Lektüre 245; Übers. D. B.), dann entfernt sich sein Pessimis-
Schopenhauers, und infolgedessen sind einige Scho- mus zumindest in dieser Hinsicht wirklich von Scho-
penhauersche Themen in seinen Romanen identifi- penhauers. Man wird sich erinnern, dass für Schopen-
zierbar. Zum Beispiel ist in Jude the Obscure der se- hauer gilt: »Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu
xuelle Appetit repräsentiert als eine unheilvolle und streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der
irreführende Kraft: Er führt Jude zunächst fort von Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels ent-
seinem fleißigen, selbstauferlegten Studium und in die scheidet die Sache« (W II, 669 (Lü)).
Arme der hurerischen Arabella. Und nach dem unver- Schopenhauer sollte auch auf D. H. Lawrence ei-
meidlichen Zusammenbruch jener Beziehung ist der- nen prägenden Einfluss ausüben. Eigentlich half er,
selbe Trieb dann verantwortlich für Judes hoffnungs- Lawrence aufzuwecken für etwas, das bald ein an-
lose Idealisierung Sues. So wie es Hardy in seinen No- dauerndes Thema – vielleicht das Thema in seiner li-
tizbüchern aufzeichnet: »Schopenhauer. – No man terarischen Produktion werden sollte. Für einen jun-
loves the woman – only in his dream« (zit. nach Kelly gen Mann, der hinsichtlich der Sexualität gegen
1988, 239). Welche Liebe auch immer Jude und Sue rückständige viktorianische Verstocktheit und An-
teilten, als sie fort ist, und beider Leben umtriebig ver- ständigkeit kämpfte, war Schopenhauer, der Autor
laufen sind, verfluchen sie ihre Existenz und sehnen der »Metaphysics of Love«, wie es dann übersetzt
sich nach dem Tod. wurde, erfrischend freimütig und offen. Schopen-
Schopenhauers Einfluss auf Hardy ist weithin be- hauer hatte weder Angst davor, den Sexualtrieb ins
achtet worden (vgl. Brennecke 1924, 9; Kelly 1988; Dif- Zentrum des Lebens zu stellen, noch schreckte er vor
fey 1996; Magee 1997, 406–408; Young 2005, 236; Bi- dem Charakter dieses Triebes zurück, der unwider-
shop 2012, 341–342), aber er wurde auch weithin be- stehlich, ursprünglich, schmerzvoll ist und überdies
stritten. Der Haupteinwand ist, dass Hardy augen- nicht als Abweichung von unserer wahren Natur zu
scheinlich Schopenhauerianer im Geiste war, noch verstehen ist, sondern eher als ihr stärkster Aus-
bevor er Schopenhauer gelesen haben konnte. Die Ele- druck. Er zeigte auch gern die vielen romantischen
mente »pessimism, dislike of Christianity, interest in Ideale auf, die »übersinnlichen Seifenblasen« (W II,
art, desire for stasis and peace [...] Hellenism, a sort of 535 (Lü)), die das sexuelle Verlangen begleiten, sowie
50 Großbritannien 423

die amüsierend verschleierte und verlegene Weise, in ist eine Verbindung zur britischen Literatur, von der
welcher über Sexualität gesprochen wird: »das öf- weit weniger berichtet ist als von Schopenhauers Ver-
fentliche Geheimniß [...], welches nie und nirgends bindung sowohl zu Hardy als auch zu Lawrence. Der
deutlich erwähnt werden darf, aber immer und über- Dichter und Kritiker T. E. Hulme, Vorläufer und Archi-
all sich, als die Hauptsache, von selbst versteht [...]« tekt der modernistischen Bewegung, die als Imagismus
(W II, 663 (Lü)). Und trotz all der Aufruhr, bemerkt bekannt wurde, schrieb in seinem Essay »Bergson’s
Schopenhauer, verschwören sich Liebende die ganze Theory of Art«, dass »[i]n essence, of course, [Berg-
Zeit über, um dieselbe schmerzvolle Geschichte zu son’s] theory is exactly the same as Schopenhauer’s«
wiederholen: (Hulme 1994, 194). Die Absicht des Aufsatzes von Hul-
me oder wenigstens die Funktion, die er letzten Endes
»Dazwischen aber, mitten in dem Getümmel, sehen ausübte, war, mittels Bergsons Philosophie die theo-
wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig be- retische Darstellung ästhetischer Erfahrung zu geben,
gegnen: – jedoch warum so heimlich, furchtsam und die genau im Zentrum imagistischer Dichtung liegt.
verstohlen? – Weil diese Liebenden die Verräther sind, Hulme übertrieb nicht, als er die wesentlichen Ähn-
welche heimlich danach trachten, die ganze Noth und lichkeiten zu Schopenhauers Darstellung einräumte:
Plackerei zu perpetuiren, die sonst ein baldiges Ende Sie sind treffend, vielleicht sogar treffender als Hulme
erreichen würde [...]« (W II, 652 (Lü)). bewusst war. Man nehme diese Passage aus Hulmes Es-
say zum Beispiel:
Obgleich bewegt von dieser Beobachtung, zog Law-
rence den Schluss, dass Schopenhauer solch eine un- »From time to time in a fit of absentmindedness na­
widerstehliche Romanze wohl nie persönlich erlebt ture raises up minds which are more detached from­
habe. In seine Randnotizen schrieb er: »This charitab- life [...] which at once reveals itself by a virginal manner
le and righteous man never stole a secret look – he of seeing, hearing or thinking [...] One applies himself
would spare the poor individual, dear soul« (zit. nach to form, not as it is practically useful in relation to him,
Brunsdale 1978, 126). but as it is in itself, as it reveals the inner life of things«
Die Version des Schopenhauerschen Aufsatzes, die (ebd., 195 f.).
Lawrence erhalten hatte, war nicht einmal frei von der
verächtlichen Dünkelhaftigkeit, von der befreit zu Man beachte, dass nicht nur die Transformation des
sein, er begehrte. Während er an der Universität war, Subjektes unglaublich an Schopenhauer erinnert, son-
im Jahr 1908, hatte Lawrence eine Kopie von »The Me- dern auch die entsprechende Transformation des Ob-
taphysics of Love« von seiner ersten Freundin Jessie jektes in einer ähnlichen Weise beschrieben wird. Was
Chambers geliehen und fuhr darin mit Anmerkungen Hulme davon abhält, seine Darstellung gänzlich scho-
fort. Die Übersetzerin, Mrs. Rudolf Dircks, hatte aus- penhauerianisch zu nennen, ist, dass er Bergsons
gewählte Aufsätze Schopenhauers seit 1897 übersetzt, Theorie für metaphysisch ausgefeilter hält.
aber diese Wiedergabe enthielt viele Fehlübersetzun-
gen, die nur absichtlich sein konnten. Zunächst über- »[B]oth want to convey over the same feeling about
setzt sie den ursprünglichen deutschen Titel des Auf- art. But Schopenhauer demands such a cumbrous ma-
satzes »Metaphysik der Geschlechtsliebe« ungenau, chinery in order to get that feeling out [...] In Bergson it
indem sie das Wort ›Geschlecht‹ auslässt. Die Scheu is an actual contact with reality in a man who is eman-
vor diesem Wort und seinen Konnotationen spiegelt cipated from the ways of perception engendered by
sich durchgehend im Dircksschen Text. Zum Beispiel, action, but the action is written with a small ›a‹, not a
wo Schopenhauer behauptet, dass eines Mannes Liebe large one« (ebd., 194; s. Kap. 33).
abnimmt und die Liebe einer Frau zunimmt, nach-
dem sie »befriedigt« worden ist, übersetzt Dircks prü- Hulme endet daher mit einer Vorstellung des »image«,
de ›erwidert‹ (»returned«, Brunsdale 1978, 123). Man die zahllose Ähnlichkeiten zu Schopenhauers ›Idee‹
kann sich nur fragen, was Lawrence aus einer unver- aufweist, aber metaphysisch weniger problematisch
fälschten Schopenhauerschen Darstellung sexueller sein soll. Die Lesart Schopenhauers, welche die ›Ide-
Liebe gemacht hätte. en‹ als übermäßig metaphysisch betrachtet, hatte Hul-
Um die Zeit von Lawrences Entdeckung wirkte me von Bergson selbst, der an einem Punkt in Hulmes
Schopenhauer auch auf die theoretischen Grundlagen Leben wie eine Art Mentor ihm gegenüber handelte,
einer neuen Bewegung in der britischen Dichtung. Es sowie vom französischen Psychologen Théodule Ri-
424 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

bot, der versucht hatte, Schopenhauers Denken zu re- hat. Sie lobt Schopenhauer dafür, eine der zentralen
konstruieren, indem er nur naturalisierte psychologi- Forderungen ihrer Metaphysics as Guide to Morals
sche Behauptungen in seiner Schrift La philosophie de (1992) anzukündigen, welche darin besteht, dass Fra-
Schopenhauer (1874; vgl. Rae 1989, 76–81; Jones 2001, gen der Moral keine ethischen Antworten erfordern,
28; s. auch Kap. 51) verwendete. Indessen gibt es nun sondern metaphysische. Schopenhauer zitierend sagt
jene, die argumentieren, dass die ›Ideen‹ weder im sie: »The ultimate foundation of morality in human
noumenalen Bereich liegen noch eine ontologische nature itself ›cannot again [after Schopenhauer’s ex-
Kategorie zwischen Wille und Vorstellung bilden. planation] be a problem of ethics, but rather, like
Eher sind sie erworben und bestehen als Resultat einer everything that exists as such, of metaphysics‹« (im
besonderen Art aufmerksamer Einstellung gegenüber Orig. E, 565 (Lü): »[kann] nicht selbst wieder ein Pro-
der Vorstellung (vgl. Young 1987). Man vergleiche fol- blem der Ethik seyn [...], wohl aber, wie alles Bestehen-
gende Stelle, auf welche Kommentatoren dieser Über- de als solches, der Metaphysik«; Murdoch 1992, 64;
zeugung oft die Aufmerksamkeit lenken, mit einem Einfügung und Hervorh. durch Murdoch). Ein mora-
anschließenden Zitat Hulmes. lisches Gefühl wie etwa Mitleid, argumentiert Mur-
doch, ist ein ›grundlegender Aspekt menschlicher Na-
»Denn sie [die Kunst; D. W.] reißt das Objekt ihrer Kon- tur‹ und als solcher ist die geeignete Fragestellung da-
templation heraus aus dem Strome des Weltlaufs und zu nicht, ob wir es zur Schau stellen sollten – vermut-
hat es isolirt vor sich: und dieses Einzelne, was in je- lich haben wir, wenn es passiert, keine Wahl –,
nem Strom ein verschwindend kleiner Theil war, wird sondern was, metaphysisch gesprochen, es möglich
ihr ein Repräsentant des Ganzen, ein Aequivalent des macht und unter gewissen Umständen notwendig.
in Raum und Zeit unendlich Vielen« (W I, 252 (Lü)). Dass Schopenhauer dachte, der mitleidende Aspekt
»It is as if the surface of our mind was a sea in a conti- der menschlichen Natur bliebe »das große Mysterium
nual state of motion, that there were so many waves der Ethik«, war nicht enttäuschend für Murdoch. Ei-
upon it [...] that one was unable to perceive them. The gentlich war sie glücklich, übereinzustimmen. Im
artist by making a fixed model of one of these tran- »Vorgang« mitleidenden Verhaltens, so argumentiert
sient waves enables you to isolate it out and to per­ Schopenhauer, »sehen [wir] [...] die Scheidewand,
ceive it in yourself« (Hulme 1994, 195). welche nach dem Lichte der Natur (wie alte Theologen
die Vernunft nennen), Wesen von Wesen durchaus
Hulme schuldete Schopenhauer vielleicht sogar mehr trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich gewissermaa-
Dank als er zu glauben veranlasst war. ßen zum Ich geworden« (E, 565 (Lü)). Aufgelöst ist
So interessiert an Schopenhauer wie sich die briti- das Mysterium der Ethik immer nur für jene mit solch
sche Literaturtradition erwies, waren nur wenige Phi- seltener intuitiver Einsicht, und so wird moralische
losophen (zum Einfluss auf die britische Literatur vgl. Erfahrung nie direkt von außen verstanden. Dem frü-
Bishop 2012, 342; Magee 1997, 403–417). Bertrand hen Wittgenstein folgend, der in dieser Hinsicht Scho-
Russell klagte Schopenhauer an, unaufrichtig zu sein, penhauer ebenfalls Dank schuldet (vgl. Tractatus
aufgrund des offensichtlichen Kontrastes zwischen 6.42–6.423), zieht Murdoch den Schluss, dass Mysti-
seinem behaglichen Lebensstil einerseits und seiner zismus der moralischen Erfahrung innewohnt, beson-
philosophischen Empfehlung der Askese andererseits. ders jener religiöser Art (vgl. Murdoch 1992, 70).
Er behauptete, dass Schopenhauers System letztlich Dass Moralität eher ein metaphysischer Umstand
charakterisiert sei durch ›Inkonsistenz‹ und eine ge- menschlicher Wesen ist, denn eine bestimmte Wahl,
wisse ›Seichtheit‹ (»inconsistency and a certain shal- und dass sie in einem Bewusstseinswandel besteht,
lowness«, Russell 1945, 787). Eine bedeutende Phi- der äußerlich mystisch ist, hinterließ unzweifelhaft ei-
losophin indes, die Schopenhauer ernst nahm, war nen bleibenden Eindruck in Murdochs Denken. Dies
Iris Murdoch. heißt jedoch nicht, dass sie Schopenhauer gegenüber
Als produktive Romanschriftstellerin könnte Mur- unkritisch war. Unzufrieden war Murdoch zum Bei-
doch einfach zu Schopenhauers Legion von Bewun- spiel damit, dass die ewige und zeitlose Form der
derern in der britischen Literatur gezählt werden; Kenntnis, mit welcher die Idee uns in der ästhetischen
nichtsdestoweniger ist ihre Interpretation Schopen- Erfahrung ausstatten soll, wenig Raum zu geben
hauers so subtil und so akkurat wie die eines jeden gu- scheint für bestimmte literarische Künste, die oft eher
ten Gelehrten. Sie verwendet ihre Interpretation auch dem belebten Kontingent folgen werden als der unbe-
einfallsreich für die Ziele, die sie als Philosophin selbst wegten Ikone (vgl. ebd., 58–60). Murdoch beobachtet
50 Großbritannien 425

auch eine interessante Spannung bei Schopenhauer in Großbritannien bewegt hat. Diese bezieht den Wert
einer Weise, die stark an Oxenfords Einschätzung ein- ästhetischer Erfahrung gemäß Schopenhauer ein, sei-
gangs erinnert. Sie ist hineingezogen in den Konflikt ne Einschätzungen sexueller Liebe und des Mitleids,
des Mannes, der so bestärkt und bezirzt von einer die Natur seines philosophischen Pessimismus und
Welt scheint, die er trotzdem als monströs und ver- sogar seine politische Philosophie, die wohl der am
achtenswert anprangert. Nichts könnte im größerem wenigsten wirkungsreiche Aspekt seines Denkens ge­
Kontrast zu Schopenhauers grimmiger Botschaft ste- wesen ist. Während dies geschrieben wird, ist ein ge-
hen als sein Stil, den Murdoch brillant zusammenfasst meinschaftliches – mit Janaway als Hauptherausgeber
als ›unersättlichen, alles verschlingenden, trüben, gut – Übersetzungsprojekt mit einer Anzahl bereits ver-
aufgelegten, oft lässigen Redefluss‹ (»insatiable om- öffentlichter Titel nahezu abgeschlossen.
nivorous muddled cheerful often casual volubility«,
ebd., 80; Übers. D. B.). ›Trotz seiner Metaphysik und Literatur
seines Mystizismus‹, kommentiert sie, ›kann Scho- Bishop, Paul: Schopenhauer’s Impact on European Litera-
penhauer im Allgemeinen als ein heiterer Empiriker ture. In: Bart Vandenabeele (Hg.): A Companion to Scho-
penhauer. Oxford 2012, 333–348.
erscheinen‹ (vgl. ebd., 77; Übers D. B.). Aber Murdoch Brennecke, Ernest: Thomas Hardy’s Universe: A Study of a
behandelt den Konflikt zwischen dem Stil und dem Poet’s Mind. London 1924.
Inhalt von Schopenhauers Werk weder als Beweis sei- Brunsdale, Mitzi M.: The Effect of Mrs. Rudolf Dircks’ Trans­
ner Unaufrichtigkeit, noch verwirft sie dessen Inhalt lation of Schopenhauer’s ›The Metaphysics of Love‹ on
zugunsten seines Stils, da sie, anders als Oxenford, D. H. Lawrence’s Early Fiction. In: Rocky Mountain Review
of Language and Literature 32/2 (1978), 120–129.
sich nicht als Fürsprecherin einer Nation sieht, die
Cartwright, David: Schopenhauer: A Biography. Cambridge
konträre Prinzipien unterstützt. Völlig zu Recht darf 2010.
es bei ihr ein Teil von Schopenhauers Anziehungskraft Copleston, Frederick S. J.: Arthur Schopenhauer: Philosopher
sein, aufgrund derer er als ein »kindly teacher or fel- of Pessimism. London 1947.
low seeker« erscheint (ebd., 80). Diffey, T. J.: Metaphysics and Aesthetics: a case study of
Britische Gelehrte, wie britische Philosophen, wa- Schopenhauer and Thomas Hardy. In: Dale Jacquette
(Hg.): Schopenhauer, Philosophy, and the Arts. Cambridge
ren für eine lange Zeit relativ zurückhaltend in Bezug 1996, 249–277.
auf Schopenhauer – zumindest im Vergleich zum an- Gardiner, Patrick: Schopenhauer. London 1963.
dauernden Interesse an anderen führenden deutschen Hamlyn, D. W.: Schopenhauer. London 1980.
Philosophen. Für den Großteil des 20. Jahrhunderts Hardy, Thomas: The Collected Letters of Thomas Hardy. Bd.
hatten an Schopenhauer interessierte Studenten und III: 1902–1908. Hg. von Richard Little Purdy und Michael
Millgate. Oxford 1982.
Gelehrte drei britische Monographien, aus denen sie
Hardy, Thomas: The Collected Letters of Thomas Hardy. Bd.
auswählen konnten: Frederik Coplestons Arthur Scho- IV: 1909–1913. Hg. von Richard Little Purdy und Michael
penhauer: Philosopher of Pessimism (1947), Patrick Millgate. Oxford 1984.
Gardiners Schopenhauer (1963) und D. W. Hamlyns Hulme, T. E.: The Collected Writings of T. E. Hulme. Hg. von
Schopenhauer (1980). Indessen kreierte in den 1980ern Karen Csengeri. Oxford 1994.
und frühen 1990ern erneuertes Interesse an Schopen- Janaway, Christopher: Self and World in Schopenhauer’s Phi-
losophy. Oxford 1989.
hauer unter Gelehrten in den Vereinigten Staaten ei-
Janaway, Christopher/Neill, Alex (Hg.): Better Conscious-
nen Boom englischsprachiger Forschung zu Schopen- ness: Schopenhauer’s Philosophy of Value. Oxford 2009.
hauer. Das britische Gegenstück dieses Interesses be- Jones, Peter (Hg.): Imagist Poetry. London 2001.
ginnt mit der Arbeit Christopher Janaways. Nachdem Kelly, Mary Ann: Schopenhauer’s Influence on Hardy’s ›Jude
er Self and World in Schopenhauer’s Philosophy (1989) the Obscure‹. In: Eric von der Luft (Hg.): Schopenhauer:
veröffentlicht hatte, brachte Janaway eine Anzahl an- New Essays in Honor of his 200th Birthday. New York
1988, 232–248.
derer wichtiger Monographien und Sammelbände zu Magee, Bryan: The Philosophy of Schopenhauer. Oxford
Schopenhauers Philosophie heraus. Der neuste Sam- 1997.
melband Better Consciousness (2009), gemeinsam mit Murdoch, Iris: Metaphysics as a Guide to Morals. London
Alex Neill herausgegeben, stellt Vorträge zusammen, 1992.
die auf einer internationalen Konferenz zu Schopen- Oxenford, John: Iconoclasm in German Philosophy. In: The
Westminster Review 59/116 (1853), 388–407.
hauers Philosophie des Wertes an der Universität von
Rae, Patricia M.: T. E. Hulme’s French Sources: A Reconside-
Southhampton 2007 gehalten wurden. Die Philoso- ration. In: Comparative Literature 41/1 (1989), 69–99.
phie der Werte ist eine bedeutende Richtung, in welche Russell, Bertrand: A History of Western Philosophy. London
sich die neuste Forschung zu Schopenhauer in 1945.
426 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

Young, Julian: The Standpoint of Eternity: Schopenhauer on Parerga and Paralipomena. 2 Bde. Übers. von E. F. J. Payne.
Art. In: Kant-Studien 78 (1987), 73–105. Oxford 1974.
Young, Julian: Schopenhauer. London 2005. Parerga and Paralipomena. Bd. 1. Hg. und übers. von Sabine
Zimmern, Helen: Arthur Schopenhauer: His Life and His Phi- Roeher und Christopher Janaway. Cambridge 2014.
losophy. London 1876. Parerga and Paralipomena. Bd. 2. Hg. und übers. von Adrian
del Caro und Christopher Janaway. Cambridge 2015.
Britische Übersetzungen der Werke Schopenhauers Prize Essay on the Freedom of the Will. Hg. von Günter Zöl-
Essays and Aphorisms. Übers. von R. J. Holingdale. Hard- ler, übers. von E. F. J. Payne. Cambridge 1999.
mondsworth 1970. Schopenhauer’s Early Fourfold Root: Translation and Com-
Manuscript Remains. 4 Bde. Übers. von E. F. J. Payne. Oxford mentary. Übers. von F. C. White. Aldershot 1997.
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On the Basis of Morality. Hg. von David Cartwright, übers. Christopher Janaway. Cambridge 2009.
von E. F. J. Payne. Oxford 1995. The Two Fundamental Problems of Ethics. Übers. von David
On the Fourfold Root of the Principle of Sufficient Reason and E. Cartwrigh und Edward E. Erdmann. Oxford 2010.
On the Will in Nature. Übers. von Mme Karl Hillebrand. The World as Will and Idea. 3 Bde. Übers. von R. B. Haldane
London 1891. und J. Kemp. London 1883 ff.
On the Fourfold Root of the Principle of Sufficient Reason, On The World as Will and Idea. Abridged in one volume. Hg.
Vision and Colours, and On the Will in Nature. Hg. und von Jill Berman, übers. von David Berman. London 1995.
übers. von David E. Cartwright, Edward E. Erdmann und The World as Will and Representation. 2 Bde. Übers. von
Christopher Janaway. Cambridge 2012. E. F. J. Payne. New York 1958.
On the Will in Nature. Hg. von David Cartwright, übers. von The World as Will and Representation. Bd. 1. Hg. und übers.
E. F. J. Payne. New York 1992. von Judith Norman, Alistair Welch und Christopher Jana-
On Vision and Colours. Hg. von David Cartwright, übers. way. Cambridge 2010.
von E. F. J. Payne. New York 1994.
David Woods
(aus dem Englischen übersetzt von Daniel Burlage)
51 Frankreich 427

51 Frankreich Schopenhauer von einem französischen Schriftsteller


gewidmete Arbeit war eine Rezension der Frauen-
Schopenhauer findet sich heutzutage (2017) in Frank- städtschen Briefe über die Schopenhauer’sche Philoso-
reich in der paradoxen Situation, in den verschiedens- phie, die erst 1854 in der wichtigen Zeitschrift L’Athe-
ten Kreisen von Lesern zwar einer der bekanntesten naeum français vom Legitimisten Raymond Bordeaux
Philosophen, vielleicht sogar der Philosoph schlecht- geschrieben wurde. Nach dieser sehr kritischen Arbeit
hin zu sein, obgleich ihm sehr wenige Fachstudien ge- war Schopenhauer, dieser »ganz unbekannte[.] Philo-
widmet sind und keine Gesamtausgabe seiner Werke soph«, freilich kein Kantianer, aber nur, weil er ein un-
vorliegt; seine Korrespondenz wurde erst 1996 über- versöhnlicher Feind der Vernunft sei. 1856 wurden
setzt und eine Veröffentlichung seines Nachlasses ist vom vorigen Republikaner, zu dieser Zeit Konservati-
nicht in Sicht. Man muss, wie so häufig, diese Tatsache ven, Alexandre Weill, der mit Nerval befreundet war,
nicht über zufällige und neue, sondern über tiefe, alte ein in »Philosophie der Magie« umbenannter Ab-
und beständige, wenn auch veränderliche, Gründe zu schnitt der Parerga und Paralipomena und die »Preis-
verstehen suchen. Diese Gründe hängen nicht nur an schrift über die Grundlage der Moral« übersetzt. Und
der gegenseitigen Feindschaft, die zwischen Schopen- als letzten Schritt dieser Vorgeschichte der Schopen-
hauer und der Universitätsphilosophie (s. Kap. 9.3) hauer-Rezeption in Frankreich muss man auf die im
überhaupt besteht (obwohl diese ihre Wichtigkeit be- Januar 1859 in der Revue germanique veröffentlichte
sitzt), sondern auch an den Verhältnissen, die sich zwi- Übersetzung eines anderen Abschnitts der Parerga,
schen der akademischen Rezeption einerseits und lite- und zwar »Über Schriftsteller und Stil«, hinweisen, de-
rarischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, sogar ren anonymer Autor wahrscheinlich Auguste Maillard
politischen Rezeptionen andererseits, besonders im ist, der zukünftige Übersetzer der »Metaphysik der Ge-
Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, entwickelten. schlechtsliebe« und der »Metaphysik des Todes«.
Wohl auch muss dieses Phänomen wieder in die brei- Wenn jedoch die erste Phase der echten französi-
tere Geschichte der französischen Rezeption der deut- schen Schopenhauer-Rezeption erst um 1870 beginnt,
schen Philosophie, mit ihrer politischbegründeten Ab- dann muss man die Gründe dafür untersuchen. Geht
wechslung von ›Germanophilie‹ und ›Germanopho- es um eine Nachwirkung der Niederlage Frankreichs
bie‹ – und um welche Germanophilie, um welche Ger- gegen Preußen, in dem Sinne, dass der große Philo-
manophobie geht es jeweils? –, und letztendlich (wie es soph des siegreichen Landes zur Quelle der Inspirati-
nur bei großen Philosophien der Fall ist) in die all- on geworden wäre? Aber das Denken Fichtes, Schel-
gemeine französische Geistesgeschichte der beiden lings und Hegels hatte die französische Philosophie
letzten Jahrhunderte, mit ihren Besonderheiten, aber seit langem, durch die sehr aktive Vermittlung von
auch mit ihren Vorurteilen, gestellt werden. Somit Victor Cousin, tief durchdrungen. Die Frage lautet al-
braucht es nicht zu überraschen, wenn sich in der Re- so: Warum, d. h. aus welchen zu dieser Zeit und für
zeptionsgeschichte eines solchen a-politischen oder dieses Land spezifischen Gründen, wendet sich ein
sogar anti-politischen Philosophen die Hauptlinien schon von der deutschen Philosophie beeinflusstes
und die Hauptbrüche der historisch und geistes- Frankreich Schopenhauer und keinem anderen Phi-
geschichtlich bestimmten deutsch-französischen Ge- losophen zu? Es bleibt unbestreitbar, dass die Nieder-
schichte wiederfinden. lage eine Rolle gespielt hat, indem sie zu der Stim-
Die wirkliche Schopenhauer-Rezeption in Frank- mung eines sehr ›Schopenhauerschen‹ Misstrauens
reich begann gegen 1870, obwohl es ein (gewöhnli- gegenüber den Mächten der Geschichte und sogar zu
cher) Fehler wäre, zu glauben, dass es überhaupt keine einem sogenannten ›Pessimismus‹ bei den Intellek-
französische Lektüre seiner Werke davor gegeben hät- tuellen Frankreichs beitrug; aber es ist notwendig, hier
te. Die allerersten Erwähnungen Schopenhauers in ei- zwischen der Motivation der Philosophen einerseits
ner in Frankreich veröffentlichten Abhandlung finden und der der Schriftsteller und Künstler andererseits zu
sich wahrscheinlich in der von Victor Cousin selbst unterscheiden (zur Schopenhauer-Rezeption in der
übersetzten Geschichte der Philosophie Tennemanns, französischen Literatur s. auch Kap. 45).
die 23 Jahre vor der berühmten Westminster Review- Zunächst stellt sich zu dieser Zeit die Frage der
Rezension in Paris in zwei Bänden erschien (Tenne- Übersetzungen. Im Gegensatz zu weit verbreiteten
mann 1829, Bd. 2, 244, 348; in beiden Fällen wird Meinungen wurde die erste Übersetzung von Die Welt
Schopenhauer – sehr kurz – als ein kritischer Fortset- als Wille und Vorstellung nicht 1888, sondern 1886 von
zer der Philosophie Kants beschrieben). Aber die erste Jean-Alexandre Cantacuzène angefertigt (sie erschien
428 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

allerdings bei dem deutschen Verlag Brockhaus). Zwei rers, die darauf hinauslief, aus Schopenhauer einen
Jahre später erschien die berühmte, fast bis heute be- Pantheisten zu machen; eine Deutung, die ein Hinder-
nutzte Burdeau-Übersetzung, die in der Tat nicht von nis für eine laizistische Rezeption des Philosophen
diesem allein, sondern von einer unter seiner Leitung war). Aber selbst der Neffe von Paul Janet, Pierre Janet,
arbeitenden Gruppe (Dubuc, Blerzy und Alekan, die der ein Schüler Ribots war und der, wie dieser, den
drei junge ›Normalianer‹ – d. h. ehemalige Schüler der Lehrstuhl für experimentelle Psychologie am Collège
École normale supérieure in Paris, wie Sartre, Mer- de France inne hatte, erkannte im ersten Band seines
leau-Ponty, Foucault, usw. – waren) durchgeführt wur- einflussreichen Buchs Les obsessions et la psychasthé-
de. Es lohnt sich, ein Wort über Auguste Burdeau selbst nie (1903) an, dass sich die Urquelle seines eigenen
zu verlieren, der sowohl politisch als auch akademisch zentralen Begriffs der »psychologischen Spannung«
aktiv war: Dieser Republikaner war zweimal Minister, bei Schopenhauer finden würde (vgl. Janet 1903, 488).
einmal Präsident der chambre des députés, aber vor al- Aber vom Psychologen im Sinne der experimentel-
lem ein einflussreicher Philosophie-Lehrer, zu dessen len Psychologie bis zum Psychologen als Menschen-
Schülern u. a. die drei (nationalistischen) Schriftsteller kenner und Moralist, ist es nur ein kleiner Schritt, und
Paul Claudel, Léon Daudet und Maurice Barrès (der die damaligen französischen Leser Schopenhauers zö-
Burdeau als »Bouteiller« im Roman Les déracinés vor- gern nicht, ihn zu machen. Zum Beispiel schreibt
stellte) gehörten. Die Politiker, die nach Frankfurt reis- Henri Bergson in seiner mitten in der Kriegsperiode
ten, um Schopenhauer zu besuchen, waren alle – abge- veröffentlichten Broschüre La philosophie française,
sehen von dem älteren Alexandre Weill – Republika- dass »Schopenhauer (der übrigens von der französi-
ner: Frédéric Morin (1857), Louis-Alexandre Foucher schen Philosophie des 18. Jahrhunderts ganz durch-
de Careil, der Herausgeber von Leibniz (1859), und drungen war) vielleicht der einzige deutsche Meta-
Paul-Armand Challemel-Lacour (1859). physiker sei, der auch ein Psychologe war« (Bergson
Schon im Jahr 1874 hatte Théodule Ribot, der Phi- 2011, 476; Übers. A. F.). Zu dieser allgemeinen Ten-
losoph und Psychologe – Begründer der experimen- denz der französischen Deutung trug in einem nicht
tellen Psychologie in Frankreich – eine einführende, zu vernachlässigenden Maß die Verbreitung der Par-
aber doch umfassende, strenge und noch heute tref- erga und Paralipomena in Europa bei, so in der Form
fende Studie vorgelegt, die den nüchternen, aber ein- von acht einzelnen von Auguste Dietrich übersetzten
deutigen Titel La philosophie de Schopenhauer trägt. Abhandlungen (1905–1912), die somit zu den schon
Schopenhauer wird hauptsächlich als Psychologe dar- von Cantacuzène übersetzten »Aphorismen zur Le-
gestellt, der den Begriff »Kraft« in die moderne Phi- bensweisheit« hinzukamen (1880).
losophie eingeführt habe – als einen Begriff, der ein Ein spezifisch französisches und für die französi-
tertium quid zwischen dem Physischen und dem Psy- sche Rezeption repräsentatives Phänomen muss hier
chischen bilden könne (im ersten Band der von ihm jedoch erwähnt werden, nämlich die von Jean Bour-
gegründeten Zeitschrift Revue philosophique de la deau veröffentlichte Sammlung verschiedener Aus-
France et de l’étranger veröffentlichte Ribot einen von sagen Schopenhauers unter dem Titel Pensées et frag-
Eduard von Hartmann geschriebenen Beitrag, der die ments (1880). Es ist kaum vorstellbar, welchen Grad
Deutung Schopenhauers durch seinen Schüler Frau- der Verbreitung dieses kleine Buch, dank dessen
enstädt in den Blick nahm, vgl. Hartmann 1876). Die- Schopenhauer den Status einer eigentlichen Be-
se Interpretation war besonders folgenreich, da sie ei- rühmtheit in Frankreich erreichte, in dieser Zeit in
ne ganze Generation dazu führte, Schopenhauer als den verschiedensten Kreisen erreichte. Jean Bour-
einen Ansprechpartner auf dem Gebiet der wissen- deau, diese mondäne Figur, die die Tochter des
schaftlichen Psychologie – und manchmal nur als sol- christlichen Philosophen und Mitglieds der Acadé-
chen – zu betrachten. mie française Elme-Marie Caro geheiratet hatte, war
Das bemerkenswerteste Beispiel bietet der »eklekti- selbst ein sozialer und politischer Denker, der meh-
sche«, d. h. von Cousin beeinflusste Philosoph Paul rere Bücher über die Frage des Sozialismus schrieb
Janet, der 1880 einen Vergleich zwischen Schopen- und großen Einfluss auf die naturalistischen und
hauer und zwei von Schopenhauer stark beachteten symbolistischen Strömungen hatte. Aus dieser Zeit
französischen Wissenschaftlern, Cabanis und Bichat stammt das – nur zum Teil richtige – Bild eines ›pes-
(s. Kap. 23), in der Revue des deux mondes veröffent- simistischen‹ Schopenhauers und die sogar noch pit-
licht hat (indem er diese hermeneutische Entschei- toreskere Vorstellung eines ›frauenfeindlichen‹ Scho-
dung traf, bestritt Paul Janet die Deutung seines Leh- penhauers, die zum Beispiel die literarische Entwick-
51 Frankreich 429

lung Jules Laforgues, der den Philosophen zweimal in tière (1886) sowie die von François Pillon (1877) und
Frankfurt besuchte, bestimmte. Charles Renouvier (1880; 1882a; 1882b; 1893) in deren
Der stärkste Einfluss auf Schriftsteller und Künstler eigenen Zeitschriften La critique philosophique und
lässt sich genau zwischen 1880 und dem Ersten Welt- L’année philosophique veröffentlichten Artikel). Diese –
krieg ausmachen. Einer der Hauptwege der Einführung übrigens auf den Ergebnissen der vorigen, psycho-
Schopenhauers in Frankreich war wahrscheinlich die logisch-orientierten Generation beruhenden – Studien
Musik Wagners, die Baudelaire sehr früh (1861) vertei- sind durch die auch bei dem damals wichtigsten fran-
digt hatte. Mindestens vier literarische Werke beziehen zösischen Philosoph Bergson, mit dem Schopenhauer
sich ausdrücklich auf Schopenhauer, und zwar Une­ oft verglichen wird (s. Kap. 33), zu findende allgemeine
belle journée von Henry Céard (1881) – eines der Mit- Idee bestimmt, Schopenhauer sei ein Denker des Wil-
glieder des von Émile Zola geleiteten Kreises der soirées lens bzw. des Lebens als kosmologischer Kraft, eine
de Médan, an dem auch Guy de Maupassant (der 1883 Lehre, die mit einer pragmatistischen Auffassung des
die makabre und witzige Novelle Auprès d’un mort Intellekts und einer pessimistischen Moral des Mitleids
Schopenhauer widmete), Joris-Karl Huysmans, Paul verbunden sei (vgl. Bergson 2007, 361 f.).
Alexis und Léon Hennique teilnahmen –, À vau l’eau Es ist schwer, das Ende dieser ersten Phase genau zu
von Huysmans (1882), dessen letzter Satz eine An- datieren, aber man kann jedenfalls behaupten, dass
erkennung der Richtigkeit der pessimistischen Ansich- sich das Interesse des französischen Publikums für
ten Schopenhauers enthält, hauptsächlich À rebours, Schopenhauer allmählich nach dem Ersten Weltkrieg
nochmals von Huysmans, und La joie de vivre von Zola, verringert. Es ist übrigens ein allgemeines Phänomen,
die beide 1884 erschienen. Während Huysmans die de- das alle deutschen Philosophen betrifft und dessen
kadente doppelte Ablehnung der Natur und der Ge- politische Gründe ziemlich leicht zu bestimmen sind.
schichte darstellt, betont Zola (der sehr aufmerksam Die Nachwirkungen der ungeheuren Arbeit, die seit
Ribot und Bourdeau gelesen hatte) in seinem ironisch 1880 die ersten Entdecker der Werke Schopenhauers
betitelten Roman die zwei Schopenhauerschen Thesen vollzogen haben, lassen sich immerhin wahrnehmen,
der Unvermeidbarkeit des Leidens einerseits und der nicht nur in den schon erwähnten philosophischen
Allgemeinheit des Mitleids andererseits. Der Erfolg Abhandlungen, sondern auch und vor allem bei sol-
Schopenhauers bei den französischen Schriftstellern chen wichtigen Schriftstellern wie Marcel Proust, der
(unter die man auch Remy de Gourmont und Paul aufmerksam Paul Janet und Ribot gelesen hatte und
Bourget zählen könnte) hängt nicht nur mit dem Inhalt dessen Begriff des ›tiefen Ichs‹ von der Schopenhauer-
seiner Lehre, sondern auch mit in Schopenhauers Au- schen Lehre des ›individuellen intelligibilen Charak-
gen tatsächlich wichtigen stilistischen Gründen zu- ters‹ weitgehend abhängt.
sammen. Schopenhauer schrieb gut, eine seltene Ei- Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die deutsche Phi-
genschaft für einen Philosophen, und die französischen losophie in Frankreich erneut in Mode, aber diese
Schriftsteller waren sich dessen bewusst. Aber ein guter Rückkehr bezieht sich auf Denker des Bewusstseins
Stilist zu sein, ist in Frankreich für einen Philosoph ein und/oder der Geschichte (Hegel, Husserl, Heidegger)
zweischneidiger Vorzug (man denke z. B. an Sartre): – man denke an die sogenannte ›existentialistische‹ Be-
Die französischen Philosophen sind eher einen tech- wegung, an die manchmal zitierte Frankfurter Schule
nischen und schwierigen Stil (daher die weniger pro- und auch an den Einfluss der schwer mit Schopenhauer
blematische Rezeption von Kant, Hegel oder Heideg- zu versöhnenden marxistischen Philosophie –, nicht
ger) als einen klaren und bilderreichen gewohnt. auf Philosophen, die als Denker des Lebens und der
Dennoch begann, freilich nicht gleichzeitig, son- Natur betrachtet werden.
dern einige Jahren nach der literarischen Rezeption, ei- Man kann aber in der Schopenhauer-Rezeption in
ne eigentlich akademisch-philosophische Rezeption Frankreich ein »leichtes Erwachen seit der 1960 Deka-
Schopenhauers in Frankreich. Die Philosophie Scho- de« (Droit 1989, 14) ausmachen, das hauptsächlich im
penhauers wurde in der Tat zu Beginn des 20. Jahrhun- akademischen Raum beheimatet ist, aber dessen Aus-
derts zum Thema mehrerer ernster und wichtiger Stu- maß nicht sehr groß ist. Diese Periode ist von drei
dien (z. B. das Buch von Bossert (1904), das noch heute Hauptinterpreten geprägt: Clément Rosset, Alexis
nützliche Werk von Ruyssen (1911), das von Fauconnet Philonenko und Michel Henry. Es ist bemerkenswert,
(1913), später das von Méditch (1923) und das schon das zwei dieser drei Autoren gleichzeitig ein eigenes
rückblickende von Baillot (1927), zu denen man hin- philosophisches Werk ausgebaut haben. Außerdem
zufügen muss: Lévêque (1874), Ducros (1883), Brune- wird Schopenhauer von diesen Interpreten oft als Al-
430 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

ternative zu den damals dominierenden philosophi- nen Lebens« (damit spielt Henry auf die Proustschen
schen Strömungen, hauptsächlich zum Strukturalis- Ausdrücke an) als ein Moment des »wiedergefunde-
mus und zum Marxismus, angesehen. nen Lebens«. Diese Aussage bedeutet nicht nur, im
Der gemeinsame Ausgangspunkt dieser drei Exe- Sinne Michel Henrys, dass Schopenhauer das Leben
geten besteht darin, dass sie genau zu bestimmen ver- als Prinzip aller Wirklichkeit betrachtet habe, sondern
suchen, was Schopenhauer am Anfang von Die Welt hauptsächlich, dass er das Leben (erneut) als »Selbst-
als Wille und Vorstellung unter seinem ›einzigen Ge- affektion« verstanden habe, wenn er den Leib, im Rah-
danken‹ (s. Kap. 6.2) verstehe. Nach Clément Rosset men einer allgemeineren Theorie der Affektivität, als
ist es das »Absurde« (2001), nach Philonenko die Tra- »identisch mit dem Willen« bezeichnet. D. h., der Wil-
gödie (1980), nach Michel Henry die Affektivität le bzw. das Leben sei nicht »was vorgestellt wird« und
(2003, Kap. 5). »was Vorstellung besitzt«, sondern die als vom erschei-
Im Gegensatz zu den gewöhnlichen, ›pessimisti- nenden Willen ganz und gar untrennbar gedachte
schen‹ Interpretationen Schopenhauers, zielt Rosset »Vorgestelltheit« selbst. Es gelang dem über seine eige-
darauf, einen neuen Begriff der Sinnlosigkeit aus den ne Entdeckung, so Henry, hinausgegangenen Philoso-
Werken des Philosophen zu ziehen, welcher in der La- phen nicht, diese absolute Untrennbarkeit kontinuier-
ge wäre, mit dem existentialistischen, z. B. Camus­ lich aufrechtzuerhalten, weshalb er sich in zahlreichen
schen Begriff der Sinnlosigkeit zu konkurrieren. Nach Texten derart geäußert habe, als ob man den Willen,
Rosset ist die Schopenhauersche Welt nicht wegen ih- sozusagen, wahrnehmen könne, oder als ob der Wille
rer Zwecklosigkeit absurd, sondern wegen ihrer Über- die Wirklichkeit sehen oder nicht sehen könne. Es
fülle von Zwecken. Eine weltumspannende Anwesen- handelt sich freilich um eine stark »teleologische« In-
heit von Zwecken lasse die Vermutung aufkommen, terpretation; aber mit ihr gewinnt Henry die Mittel,
dass die Welt als Ganze ein Ziel habe, aber das Ziel al- Schopenhauer als einen Wegbereiter der Freudschen
ler Zwecke gebe es nicht. Diese Philosophie der Sinn- Theorie der »Verdrängung« in überzeugenden Ana-
losigkeit, die ihren tiefsten Ursprung in einer Intuition lysen darzustellen (vgl. Henry 2003, Kap. 6: »La vie et
der Wiederholung finden dürfte, ist, so Rosset, durch ses propriétés: le refoulement«).
eine Untersuchung nach den Ursachen unseres Sinn- Allmählich kam es nach dem Zweiten Weltkrieg
bedürfnisses begleitet, die als ›Genealogie‹, im Sinne wieder zu einer Wirkung der Philosophie Schopen-
der 1968 in Frankreich bedeutsamen Nietzscheschen, hauers auf die französische Literatur: Camus und Be-
Marxschen und Freudschen Fragestellung, hervortre- ckett ließen sich von der Schopenhauerschen An-
te. Rosset legt auch großen Wert auf die Philosophie schauung einer absurden Welt anregen und in den
der Kunst Schopenhauers, insbesondere auf die Phi- 90er Jahren erkannte der erfolgreiche Schriftsteller
losophie der Musik, in der er die Schopenhauersche Michel Houellebecq einen starken Einfluss Schopen-
Annahme eines noch ursprünglicheren Prinzips als hauers auf seine pessimistischen und pansexualisti-
den Willen wahrnehmen zu können glaubt. schen Betrachtungen an (vgl. Houellebecq 2005).
Alexis Philonenko, einer der tiefsinnigsten und Aus all diesen historischen und theoretischen Zu-
fruchtbarsten französischen Philosophiehistoriker in sammenhängen ergibt sich die am Anfang dieses Bei-
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schreibt sich trags beschriebene heutige Situation, die sich nun ge-
in eine klassischere Überlieferung ein, indem er das nauer verstehen und charakterisieren lässt: In der
Thema der Tragödie, also des Leidens, bei Schopen- französischen akademischen Welt hauptsächlich als
hauer unterstreicht: Das Schopenhauersche ›Tragi- Nachfolger Kants oder Vorgänger Nietzsches bzw.
sche‹ bezeichne, im Gegensatz zum Hegelschen, einen Freuds angesehen, wird Schopenhauer allzu selten als
grundsätzlich unlösbaren Konflikt, der sich nur auf eigenständiger Denker studiert, d. h. mit den notwen-
andere Stufen einer ›Spirale‹ (deren Struktur das digen wissenschaftlichen Methoden, die der Origina-
Hauptwerk Schopenhauers, so Philonenko, wider- lität seiner Lehre Rechnung tragen könnten. Diese
spiegelt) transponieren könne – bis zur endgültigen Originalität ist bei einem breiteren Publikum an-
Verneinung des Willens. erkannt, wird aber im Zuge ihrer Berühmtheit allzu
Michel Henry, der auf das Heideggersche bzw. Berg- oft auf einige Schlagwörter wie den sogenannten ›Pes-
sonsche Projekt einer philosophischen Geschichte der simismus‹, die Feindseligkeit gegen Hegel, gegen die
Philosophie niemals verzichtet hat, versteht die Phi- Universität usw. reduziert. Somit kann die gegenwär-
losophie Schopenhauers nach einer langen, unmittel- tige Tendenz der französischen Schopenhauer-Studi-
bar nach Descartes einsetzenden Phase des »verlore- en als ein Versuch angesehen werden, eben diese Hin-
51 Frankreich 431

dernisse aus dem Weg zu räumen. Zum einen erschien philosophiques. Hg. von Frédéric Worms. Paris 2011, 452–
2009 eine neue Übersetzung von Die Wille als Wille 478.
und Vorstellung, die zum ersten Mal versucht, den Bonnet, Christian/Salem, Jean (Hg.): La raison dévoilée. Étu-
des schopenhaueriennes. Paris 2005.
heutigen philologischen Anforderungen zu entspre- Bordeaux, Raymond: Rezension der Briefe über die Schopen-
chen: Sie macht eine Unterscheidung zwischen den hauer’sche Philosophie von Frauenstädt. In: L’Athenaeum
drei Auflagen des Textes, liefert Endnoten, Personen- français 3/22 (3. Juni 1854), 505.
und Sachregister und vergleicht die verschiedenen Bossert, Adolphe: Schopenhauer. L ’ homme et le philosophe.
deutschen kritischen Ausgaben. Gleichzeitig wurde Paris 1904.
Bouriau, Christophe: Schopenhauer. Paris 2013.
eine Neuübersetzung, oder genauer: eine Neuauflage
Brunetière, Ferdinand: La philosophie de Schopenhauer. In:
einer Neuübersetzung von Die beiden Grundprobleme Revue des deux mondes 3/77 (1. Oktober 1886), 694–706.
der Ethik nach denselben Maßstäben veröffentlicht. Colin, René-Pierre: Schopenhauer en France. Lyon 1985.
Was die Parerga und Paralipomena betrifft, so ist Droit, Roger-Pol: Avant-propos. La fin d’une éclipse? In:
die Situation ein wenig anders. Als Zeichen der ›popu- Ders. (Hg.): Présences de Schopenhauer. Paris 1989, 7–23.
lären‹ Rezeption Schopenhauers in Frankreich wur- Ducros, Louis: Schopenhauer, les origines de sa métaphysique,
ou Les transformations de la chose en soi, de Kant à Scho-
den vor kurzem (wie es bislang der Fall gewesen ist) penhauer. Paris 1883.
kürzere Abschnitte unter werbewirksamen Titeln wie Fauconnet, André: L’esthétique de Schopenhauer. Paris 1913.
Essai sur les femmes, Insultes usw. verbreitet. Zwar er- Félix, François: Schopenhauer ou les passions du sujet. Paris
schien 2005 eine vollständige Ausgabe des Buches in 2008.
einem Band, aber sie beschränkt sich meistens darauf, Franck, Didier: Nietzsche et l’ombre de Dieu. Paris 1998,
Kap. 1 und 2.
die alte Dietrich-Übersetzung wiederzugeben.
François, Arnaud: Bergson, Schopenhauer, Nietzsche. Paris
Zum anderen zielen die seit 2000 in Frankreich 2008.
Schopenhauer gewidmeten Studien und Tagungen Hartmann, Eduard von: Schopenhauer et son disciple Frau-
auf dreierlei ab: erstens, seine Lehre streng von de- enstaedt. In: Revue philosophique de la France et de l’étran-
nen Nietzsches (vgl. François 2008), Kants (vgl. Sta- ger 1/6 (1876), 529–561.
nek 2010) und Freuds (vgl. Banvoy/Bouriau/Andrieu Henry, Anne: Proust lecteur de Schopenhauer: le nihilisme
dépassé. In: Roger-Pol Droit (Hg.): Présences de Schopen-
2011) abzugrenzen, zweitens neue Themen zu be-
hauer. Paris 1989, 163–178.
leuchten (vgl. Bonnet/Salem 2005; Félix 2008; Kapani Henry, Anne: Schopenhauer et la création littéraire en
2011; Bouriau 2013; Batini 2016) und drittens, ein Europe. Paris 1989.
Netzwerk für die französische Schopenhauer-For- Henry, Michel: Généalogie de la psychanalyse [1985]. Paris
22003.
schung zu konstituieren und eng mit den internatio-
nalen Schopenhauer-Netzwerken zu verbinden (vgl. Henry, Michel: Schopenhauer: une philosophie première
(1988) und La question du refoulement chez Schopen-
auch die 2004 übersetzten Texte Sandro Barberas). hauer (1991). In: Phénoménologie de la vie. Bd. 2: De la
Die ersten Ergebnisse dieser neuen Annäherung an subjectivité. Paris 2003a, 109–146.
die Werke Schopenhauers in Frankreich sowie auch Houellebecq, Michel: Tout ce que la science permet sera réa-
die einer Auseinandersetzung mit den vorigen Inter- lisé. In: Le Monde (20.8.2005), http://www.lemonde.fr/
pretationen, namentlich Michel Henrys, wurden in ei- culture/article/2005/08/20/michel-houellebecq-tout-
ce-que-la-science-permet-sera-realise_681484_3246.html
nem von Christian Sommer herausgegebenen Son-
(31.5.2017).
derband der Études philosophiques unter dem Titel Janet, Paul: Schopenhauer et la physiologie française. Caba-
Schopenhauer. Nouvelles lectures veröffentlicht (vgl. nis et Bichat. In: Revue des deux mondes 3/39 (1880),
Sommer 2012). 35–59.
Janet, Paul: Les obsessions et la psychasthénie. Bd. 1. Paris
Literatur 1903.
Baillot, Alexandre: Influence de la philosophie de Schopen- Kapani, Lakshmi: Schopenhauer et la pensée indienne. Paris
hauer en France (1860–1900). Paris 1927. 2011.
Banvoy, Jean-Charles/Bouriau, Christophe/Andrieu, Ber- Lefranc, Jean (Hg.): Les cahiers de l’Herne: Schopenhauer.
nard (Hg.): Schopenhauer et l’inconscient. Nancy 2011. Paris 1997.
Barbera, Sandro: Schopenhauer. Une philosophie du conflit. Lévêque, Charles: L’esthétique de Schopenhauer. In: Journal
Paris 2004. des savants (1. Dezember 1874), 782–796.
Batini, Ugo: Schopenhauer. Une philosophie de la désillusion. Méditch, Philippe: La théorie de l’intelligence chez Schopen-
Paris 2016. hauer. Paris 1923.
Bergson, Henri: L ’ évolution créatrice [1907]. Paris 2007. Pernin, Marie-José: Schopenhauer. Le déchiffrement de
Bergson, Henri: La philosophie française. In: Ders.: Écrits l’énigme du monde. Paris 1992.
432 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

Philonenko, Alexis: Schopenhauer. Une philosophie de la tra- Base fondamentale de la morale. Übers. von Alexandre Weill.
gédie. Paris 1980. In: Revue française 104 (10 décembre 1857).
Pillon, François: La doctrine de Schopenhauer sur le libre Correspondance complète. Übers. von Christian Jaedicke.
arbitre. In: La critique philosophique 39 (25. Oktober Paris 1996.
1877). Les deux problèmes fondamentaux de l’éthique. Übers. von
Renouvier, Charles: Kant et Schopenhauer. In: La critique Christian Sommer. Paris 2009.
philosophique (1880). Parerga et Paralipomena:
Renouvier, Charles: La logique du système de Schopenhauer. von Auguste Dietrich übersetzte Abschnitte: Écrivains et
In: La critique philosophique 34 (23. September 1882a). style (1905), Éthique, droit et politique (1909), Essai sur les
Renouvier, Charles: La métaphysique de Schopenhauer: apparitions et opuscules divers (1912), Fragments sur l’his-
idéalisme, matérialisme, monisme. In: La critique philoso- toire de la philosophie. Fragments sur l’histoire de la littéra-
phique 38 (21. Oktober 1882b). ture sanscrite. Quelques considérations archéologiques.
Renouvier, Charles: Schopenhauer et la métaphysique du Quelques considérations mythologiques (1912), Métaphysi-
pessimisme. In: L’année philosophique 2 (1893). que et esthétique (1909), Philosophie et philosophes (1907),
Ribot, Théodule: La philosophie de Schopenhauer. Paris 1874. Sur la religion (1906), Philosophie et science de la nature.
Rosset, Clément: Schopenhauer, philosophe de l’absurde Sur la philosophie et sa méthode. Logique et dialectique. Sur
[1967], Schopenhauer [1968], L’esthétique de Schopenhauer la théorie des couleurs. De la physionomie (1911). Paris.
[1969]. In: Ders.: Écrits sur Schopenhauer. Paris 22001. Gesamtübersetzung von Jean-Pierre Jackson. Paris 2005.
Ruyssen, Théodore: Schopenhauer. Paris 1911. Le monde comme volonté et comme représentation. Übers.
Salem, Jean: Maupassant et Schopenhauer. In: Bonnet/Ders. von Jean-Alexandre Cantacuzène. Leipzig 1886; von
2005, 175–192. Auguste Burdeau u. a. Paris 1888; von Christian Sommer/
Sans, Édouard: Schopenhauer. Paris 1993. Vincent Stanek/Marianne Dautrey. Paris 2009.
Sommer, Christian: Schopenhauer. Nouvelles lectures. Paris Philosophie de la magie. Übers. von Alexandre Weill. In:
2012 (= Les Études philosophiques 10/3 [2012]). Revue française 69 (20. Dezember 1856).
Stanek, Vincent: La métaphysique de Schopenhauer. Paris Du style et des écrivains. Übers. von Anonym (Auguste Mail-
2010. lard?). In: Revue germanique (Januar 1859).
Tennemann, Wilhelm Gottlieb: Manuel de l’histoire de la Métaphysique de l’amour. Übers. von Auguste Maillard: In:
philosophie. Paris 1829. Revue germanique (31. Januar 1861).
Métaphysique de la mort. Übers. von Auguste Maillard. In:
Französische Übersetzungen der Werke Revue germanique (April und Juni 1861).
Schopenhauers De la quadruple racine du principe de raison suffisante (1813–
Aphorismes sur la sagesse dans la vie. Übers. von Jean-­ 1847). Übers. von François-Xavier Chenet (in Zusam-
Alexandre Cantacuzène. Paris 1880. menarbeit mit Michel Piclin). Paris 1991.

Arnaud François
52 Indien 433

52 Indien Vortragsreisen von 1892 bis 1893 in Indien mit Scho-


penhauer. Am 25. Februar 1893 hält Deussen einen
Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Vortrag vor der Bombay Branch der Royal Asiatic So-
Einführung des Englischen als Sprache des höheren ciety mit dem Titel »On the Philosophy of the Vedânta
Bildungswesens (1835) und der Errichtung englisch- In its Relations to the Occidental Metaphysics« und
sprachiger Universitäten (1845) in Indien, besitzt die betont darin: »Darum ist der Vedânta in seiner unver-
abendländische Philosophie einen festen Platz im in- fälschten Form die Stütze der reinen Moralität und der
dischen Geistesleben. Zunächst wird, aufgrund der größte Trost in den Leiden des Lebens und des Ster-
kolonialen Erziehungspolitik, europäische Philoso- bens, – Inder, bleibt dabei!« (Deussen 1904, 251). Die-
phie als Unterrichtsfach studiert, als Denkweise über- ser Vortrag enthält eine kurze Darlegung der Ethik des
nommen und weitergeführt. Aus dem Englischen he- tat tvam asi (wörtl. ›Das bist Du‹) wie sie Deussen, von
raus und in beständiger Orientierung an einer ur- Schopenhauer her kommend, versteht.
sprünglich europäischen Begriffswelt und Anschau- Über das Englische wird der hinduistische Mönch
ungsweise werden diese Entwicklungen auch in den und Teilnehmer am ›Parlament der Religionen‹ auf
modernen indischen Sprachen adaptiert. Mit dem En- der Weltausstellung in Chicago (September 1893) Swa-
de des 19. Jahrhunderts spielen, parallel zu den Ent- mi Vivekananda (bürgerl. Narendranath Datta, 1863–
wicklungen an den britischen Universitäten, die briti- 1902) mit Schopenhauer bekannt. In seinen neunbän-
schen Hegelianer eine wichtige und bis weit in das digen Complete Works of Swami Vivekananda rekur-
20. Jahrhundert reichende Rolle. In diesem Zusam- riert er in zahlreichen Vorträgen und Artikeln auf
menhang wird auch schon Arthur Schopenhauer früh Schopenhauer. Während seiner Europareise 1896/97
und oft als Indienenthusiast rezipiert. erreicht Vivekananda ein Einladungsschreiben Deus-
Konstitutiv für das moderne indische Denken ist sens, welcher ihn nach Kiel bittet. Die Gespräche sind
die sogenannte Comparative Philosophy. Der Aus- intensiv und Vivekananda verleiht seiner Wertschät-
druck selbst geht auf Brajendranath Seal (1864–1938) zung Deussens und Schopenhauers in einem Aufsatz
zurück, der diesen in A Comparative Study of Christia- in der Zeitschrift Brahmavadin (Madras 1895) Aus-
nity and Vaishnavism (Calcutta 1899) erstmalig ver- druck. Hierin ruft er allen Indern eine Dankesschuld
wendet und methodologisch einführt. Seal eignet sich gegenüber den großen Europäern ins Gedächtnis, wel-
die eigene hinduistische Tradition als Philosophie neu che Indien besser verstünden und liebten als diese
an und stellt diese in mannigfache Verhältnisse des selbst und führt neben Müller und Deussen prominent
Vergleiches, der Identifikation, der Parallelisierung Schopenhauer an. In Briefen (1896) nennt er Deussen
oder auch des Kontrastes und der Aufhebung zur einen »kämpferischen Advaitisten« (Brief an Mr. E. T.
abendländischen Philosophie. Komparation ist Seal Sturdy in Vivekananda 1976, VIII, 388) und den
ein Medium kultureller und nationaler Selbstdarstel- »größten lebenden deutschen Philosophen« (Brief an
lung und Selbstbehauptung. Miss Mary Hale in ebd., 391 f.). Vivekananda ent-
Zentral für die Inhalte der frühen Komparation des wickelt in der Begegnung mit Deussen (1896) ein
modernen indischen Philosophierens (Upaniṣad, scheinbar genuin hinduistisches Philosophem, wel-
abendländische Philosophie respektive Philosophe- ches es ihm gestattet, moralisches Handeln nicht mehr
me, tertium comparationis) steht der Indologe Fried- rein an seinem Wert für die eigene, spirituelle Vervoll-
rich Max Müller (1823–1900). Obwohl er in Indien kommnung zu messen, sondern als selbständige Qua-
philosophisch im Unbestimmten verbleibt, wirkt er lität herauszustellen, wenn er wie Schopenhauer brah-
auf das Selbstverständnis, die Phraseologie und die man/ātman, Wille (brahman) und Individualität (āt­
Methodologie des modernen indischen Denkens bis man), in ein tertium comparationis, ›tat tvam asi‹ über-
heute immens ein und preist den Enthusiasmus Scho- führt. So hält er in Wimbledon (9. September 1896)
penhauers für die Upaniṣaden. Der Philosoph und In- einen Vortrag über den Vedānta als Kulturfaktor mit
dologe Paul Deussen (1845–1919) setzt hier methodo- starken Anleihen an Deussens Bombayer Ausführun-
logische Akzente. Seine Art und Weise der Aufarbei- gen. Vivekananda greift diese Schopenhauer/Deussen-
tung und Darstellung der indischen Philosophien und sche Ethikinterpretation des tat tvam asi auf und ver-
Philosopheme hinterlässt im indischen Denken gera- breitet sie anfänglich in Indien als originäre Ethik des
de in der Comparative Philosophy Entsprechungen Hinduismus, und dies so nachhaltig, dass zum einen
(brahman/ātman, Upaniṣad, Vedānta, Śaṅkara), und die hinduistischen Ethiktraditionen der Bhagavadgītā
er konfrontiert erstmals indische Denker auf seinen und des Viṣnupurāṅa zurückgestellt werden und zum
434 IV  Wirkung  –  D  Rezeption in einzelnen Ländern

anderen einige indische und auch abendländische Phi- selten aufzufinden. Eine Konstante in der indischen
losophen dieser Darstellung bis heute folgen. Schopenhauer-Rezeption bleibt fortan der Verweis auf
In Interviews und Vorträgen (1897) stellt Viveka- dessen Diktum über die Upaniṣaden (»Es ist die beloh-
nanda Schopenhauer als den großen deutschen Weisen nendeste und erhebendeste Lektüre, die [...] auf der
heraus, welcher als erster den Wert der Upaniṣaden Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewe-
anerkannt habe. Versucht Schopenhauer eine Bedeu- sen und wird der meines Sterbens seyn«, P II, § 184) so-
tung für das hinduistische brahman zu finden, welche wie Deussens vedāntische Popularisierung desselben
seinem Konzept vom Willen nahekommt, und findet er (»größte[r] Trost in den Leiden des Lebens und des
diese in Müllers Feststellung, dass brahman ursprüng- Sterbens«, Deussen 1904, 251). Viele indische Philoso-
lich »force, will, wish and the propulsive power of crea- phen wie Surendranath Dasgupta (1887–1952), die
tion« (Müller 1869, 67) bedeutet, so setzt Vivekananda Schopenhauer in der englischen Übersetzung von Ri-
in seinen frühen Vorträgen (»Yājñavalkya and Mai- chard Burdon Haldane und John Kemp rezipierten, be-
treyī« u. a., 1893) Schopenhauers Willenskonzeption lassen es hierbei und eignen sich Schopenhauers phi-
mit einem brahman/ātman/tat tvam asi-Konzept des losophisches Denken selber nicht an. Diese indische
Versiegens einer differenzierten Vielheit gleich. Steht Erwähntradition eines trostfindenden Upaniṣad-En-
dies alles noch unter dem Eindruck von Deussens phi- thusiasten namens Schopenhauer ist lang und reicht
losophia-perennis-Idealismus und Vedānta-Auslegung, bis in die aktuelle Gegenwart und so seien hier nur we-
so legt Vivekananda in seinen späteren Publikationen nige prominente Namen in chronologischer Reihen-
und Vorträgen (A Study oft the Sankhya Philosophy, The folge und Datierung genannt: Surendranath Dasgupta
Absolute and Manifestation, 1896) dagegen dezidiert im Jahre 1922; Maisuru Hiriyana im Jahre 1932; Swami
dar, dass ein großer Unterschied zwischen Schopen- Abhedananda, Haridas Bhattacharyya, N. G. Damle
hauers und der indischen Metaphysik besteht, weil im Jahre 1936; Sisir Maitra im Jahre 1953; Krishna-
kein Hindu den Willen als Ding an sich betrachtet, son- chandra Bhattacharya (1875–1949), A. C. Mukerji
dern ihn als eine aus differenten Faktoren entstandene (*1890), K. L. Joshi im Jahre 1966; D. P. Chattopadhaya
und damit abgeleitete Erscheinung ansieht. Des weite- im Jahre 1967; Saticchandra Chatterjee, D. M. Datt im
ren führt er nun aus, dass Schopenhauers Interpretati- Jahre 1968; Mohammad Iqbal im Jahre 1973; Syed Va-
on des Vedānta falsch ist, wenn er den Willen als das hiduddin (*1909), Nikunja Vihari Banerjee (*1897),
Absolute annimmt, da auch der Wille der phänomena- T. M. P. Mahadevan im Jahre 1974; Kalidas Bhattacha-
len Welt zugerechnet werden muss. Das wahre Absolu- rya im Jahre 1975; Dhirendramohan Datta, Satish
te, brahman, befindet sich jenseits von Raum, Zeit und Chandra Chatterjee (*1893) im Jahre 1984; Sauravpran
Kausalität. Goswami im Jahre 1998.
Einen weiteren Niederschlag findet die Schopen- Eine Ausnahme bildet Sarvepalli Radhakrishnan
hauer/Deussensche Gedankenwelt in dem Werk Atīta- (1888–1975). Er pflichtet in seinem Werk Indian Phi-
prakṛtiśāstra des vormaligen Richters am Höchsten losophy Schopenhauers Verurteilung des gedankenlo-
Gerichtshof des Staates Travancore, Dewan Bahadur sen Optimismus bei und charakterisiert den Stand-
Athukal Govinda Pillai (*1849). Das Atītaprakṛtiśāstra punkt indischer Philosophen zum Pessimismus ganz
ist eine in Sanskritversen verfasste Übersetzung von in dessen Sinne, wenn er anmerkt, sie seien Pessimis-
Deussens Die Elemente der Metaphysik (Leipzig 1877). ten, insofern sie die Welt als ein Übel oder eine Täu-
Pillai erschafft, um die philosophische Begrifflichkeit schung betrachten, andererseits jedoch Optimisten,
in das Sanskrit übertragen zu können, eine neue, artifi- da sie einen Weg aus der Welt zum Zustand der Wahr-
zielle Sanskritterminologie. So gibt er beispielsweise heit und des Guten für möglich erachteten. Radha­
›metaphysisch‹ mit ›atītaprakṛti‹ (wörtl. ›über die Na- krishnan versteht die Philosophie Schopenhauers als
tur hinausgehend‹), ›Kritik der reinen Vernunft‹ mit eine überarbeitete Fassung eines frühen Buddhismus.
›śuddhabuddhi-vivikti‹ (wörtl. ›Scheidung der reinen So vergleicht er dessen Wille mit dem buddhistischen
Erkenntnis‹), ›Ding an sich‹ mit ›vastusvarūpaka‹ karman (Handlung), um so den Ursprung von Welt
(wörtl. ›metaphorisch Reales‹) und ›Willenslehre‹ mit als solcher zu postulieren. Das buddhistische Konzept
›icchāvāda‹ (wörtl. ›Verlangenslehre‹) wieder, als deren des pratītyasamutpāda (Kausalconditionalis) sieht er
›Aufsteller‹ (›sthāpaka‹) der ›Wahrheitskundige‹ (›tatt- in Schopenhauers Willensverneinung umgesetzt,
vajña‹) ›Śoppanhār‹ (›Schopenhauer‹) genannt wird. wenn er bemerkt: »Der Wille zu leben ist der Grund
Solcherart philosophisch und philologisch intensive unserer Existenz. Seine Verneinung ist unsere Erlö-
Auseinandersetzung mit Schopenhauer ist in der Folge sung. Die größte Schuld des Menschen besteht darin,
52 Indien 435

daß er geboren wurde, wie Schopenhauer aus Calde- im Heimatland fern, spricht aber in einem Grußschrei-
rón zitiert« (Radhakrishnan 1927, II, 411). ben den Wunsch aus, dass einst die Schopenhauer-Ge-
In seiner History of Philosophy, Eastern and Western sellschaft auch in Indien tagen möge. Auf dem 15.
(London 1952/53) bedient sich Radhakrishnan me- »World-Vegetarian-Congress« in den Jahren 1957/58
thodologisch unter Zuhilfenahme der Philosophie in Bombay, Delhi, Patna, Calcutta und Madras verein-
Schopenhauers der Komparation und in The Concept nahmt die International Vegetarian Union (IVU)
of Man: A Study in Comparative Philosophy (London Schopenhauer als Vegetarier und Tierethiker, aber erst
1966) des weiteren systematisch mit Verweis auf des- nach Gründung der Indischen Sektion der Schopen-
sen Philosophieren. In dieser Tradition stehend und hauer-Gesellschaft e. V. (2003) unter dem Vorsitz der
diese zugleich fortführend befassen sich in der Folge Philosophin Arati Barua finden erstmals 2005 in Delhi
Poolla Tirupati Raju (1904–1992) in Introduction to Tagungen unter dem Titel »Schopenhauer and Indian
Comparative Philosophy (Lincoln 1962) und Nallepalli Philosophy. A Dialogue between India and Germany«
Shankaranarayana Sundara Raman (*1928) in Is Com- und 2010 »Understanding Schopenhauer through the
parative Philosophy Possible? (Delhi 1975) gleichfalls Prism of Indian Culture. Philosophy, Religion and
mit dem Gegenstand der Komparation methodolo- Sanskrit Literature« statt. Die inhaltliche Auseinander-
gisch und systematisch, nun jedoch ohne explizit auf setzung mit Schopenhauer bleibt auch hier der ge-
Schopenhauer Bezug zu nehmen. nannten Komparation verpflichtet. Indische Philoso-
Setzt Pillai schon 1911 Schopenhauersches Denken phen, welche mit Schopenhauer in ihrer Philosophie-
quasi literarisch um (im Versmaß des Sanskrits), so tradition diesen weiter denken, wie beispielsweise
nähert sich Radhakrishnan in The Philosophy of Ra- Bhattacharya mit Hegel, sind, entsprechend dem Stand
bindranath Tagore (London 1918) der Poesie eines Ta- Herbst 2017, nicht auszumachen.
gore philosophisch mit Schopenhauer. Ebenso publi-
ziert der bengalische Dichter Mohitolal Majumdar Literatur
(1888–1952) in Swapan Pasari (pushpo jibon) 1921 das Barua, Arati: The Philosophy of Arthur Schopenhauer. New
Gedicht »Pāntha« (Der Wanderer), welches Schopen- Delhi 1992.
Barua, Arati (Hg.): Schopenhauer and Indian Philosophy. A
hauer als Philosophen und saṃnyāsin vorstellt, einen Dialogue between India and Germany. New Delhi 2008.
der Welt und dem Besitz entsagenden Wahrheits- Barua, Arati (Hg.): West Meets East. Schopenhauer and
sucher. Schopenhauer und die schöngeistige indische India. New Delhi 2011.
(Gesangs-)Literatur werden somit, neben der Kom- Barua, Arati (Hg.): Schopenhauer on Self, World and Morality.
paration, ein weiterer konstanter Bestandteil der Re- Vedantic and Non-Vedantic Perspectives. Puchong 2017.
Barua, Arati/Gerhard, Michael/Koßler, Matthias (Hg.):
zeptionsgeschichte. Aktuelle Vertreter sind nament-
Understanding Schopenhauer through the Prism of Indian
lich u. a. R. K. Gupta (*1930) mit Moby-Dick and Scho- Culture. Philosophy, Religion and Sanskrit Literature. Ber-
penhauer (New Brunswick 2004) und Sitansu Ray mit lin/Boston 2013.
Schopenhauer and Tagore on the Key to Dreamland Deussen, Paul: On the Philosophy of the Vedânta in its Rela-
(Berlin/Boston 2013). tions to the Occidental Metaphysics. In: Ders.: Erinnerun-
Den Grundpfeiler der indischen Schopenhauer-Re- gen an Indien. Kiel/Leipzig 1904, 239–251.
Dhammasami, Naw Kham La: Another Way of Looking at
zeption bildet so die Comparative Philosophy. Promi- Things: A Comparative Study of Schopenhauer and Bud-
nente Philosopheme Schopenhauers wie das Konzept dha. Nedimala 2011.
des Willens werden hier mit ebensolchen Philosophe- Kishan, B. V.: Schopenhauer᾿s Conception of Salvation. Wal-
men im Buddhismus (karman, pratītyasamutpāda tair 1978.
u. a.) und dem philosophischen (brahman, ātman, tat Koßler, Matthias (Hg.): Schopenhauer und die Philosophien
Asiens. Wiesbaden 2008.
tvam asi, vedānta, śaivāgama, Śaṅkara u. a.) sowie dem
Müller, Max: Der Veda und Zendavesta [1853]. In: Ders.:
musikalisch-literarischen Hinduismus (Tagore, Kabīr Essays. Leipzig 1869. Bd. 1, 60–93.
u. a.) identifiziert. Beredtes Zeugnis geben hier ver- Pillai, Dewan Bahadur A. Govinda: Atītaprakṛtiśāstra. Tri-
schiedene indische und singhalesische Autoren in den vandrum 1911.
Schopenhauer-Jahrbüchern seit 1928 ab. Radhakrishnan, Sarvepalli: Indian Philosophy. London 1927.
1927 findet zur zwölften Generalversammlung der Sharma, Gopinath N.: Arthur Schopenhauer, Philosopher of
Disillusion. Bangalore 1998.
Schopenhauer-Gesellschaft e.  V. der internationale
Vivekananda, Swami: The Complete Works of the Swami
Kongress »Europa und Indien« in Dresden statt. Der Vivekananda. IX Vols. Calcutta 131976.
geladene indische Philosoph Prabhu Datta Shastri
(*1885) aus Lahore bleibt infolge politischer Unruhen Michael Gerhard
V Hilfsmittel
438 V Hilfsmittel

53 Werkausgaben (Auswahl) The Cambridge Edition of the Works of Schopenhauer. Hg.


von Christopher Janaway. Cambridge 2009 ff.
Werk- und Gesamtausgaben Schopenhauer im Kontext: Werke, Vorlesungen, Nachlaß und
Sämmtliche Werke. Hg. von Julius Frauenstädt. Leipzig Briefwechsel auf CD-ROM. Berlin 2008.
1873/74 (zweite Auflage 1877; alle späteren Auflagen mit
dem Titel »Zweite Auflage. Neue Ausgabe« sind Abdrucke Nachlass (soweit nicht in den Werk- und Gesamtaus-
der zweiten Auflage) [Fr]. gaben enthalten)
Sämtliche Werke. Hg. von Paul Deussen. München 1911– Aus Arthur Schopenhauers Handschriftlichem Nachlaß.
1942 (die Ausgabe blieb beim Nachlass unvollendet) [De]. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Frag-
Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Mannheim mente. Hg. von Julius Frauenstädt. Leipzig 1864.
41988 (1. Auflage: 1937–1941; 2. Auflage 1946–1950;
Handschriftlicher Nachlaß. Aus den auf der Königlichen
3. Auflage 1972) [Hü]. Bibliothek in Berlin verwahrten Manuskriptbüchern hg.
Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe). Zürich 1977 (Text von Eduard Grisebach. Leipzig o. J.
nach der dritten Auflage der Edition Hübschers) [ZA]. Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. Hg. von Arthur
Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Hübscher. Frankfurt a. M. 1966–1975 (unveränderter
Stuttgart/Frankfurt a. M. 1960–1965 (Erstauflage bei Neudr. München 1985).
Cotta/Insel; danach mehrere Auflagen bei Suhrkamp und Gespräche. Hg. von Arthur Hübscher. Stuttgart 21971.
der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft) [Lö]. Gesammelte Briefe. Hg. von Arthur Hübscher. Bonn 21987.
Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich Die Reisetagebücher. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich
1988 (Text nach den Ausgaben letzter Hand. Zahlreiche 1988.
Neuauflagen in den Folgejahren) [Lü]. Manuscript Remains in Four Volumes. Hg. von Arthur Hüb-
Sämmtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Eduard Grise- scher, übers. von E. F. J. Payne. Oxford 1988–1990.
bach. Leipzig o. J. (erste Auflage 1891; zweite Auflage Philosophische Vorlesungen. Hg. von Volker Spierling. Mün-
1892–1896; dritte Auflage 1921–1924, bearbeitet von chen 1984–1986, 21987–1990.
E. Bergmann) [Gr]. Scritti postumi. Hg. von Franco Volpi. Bd. I hg. von Arthur
Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Grisebach, Max Brahn Hübscher und Sandro Barbera. Mailand 1996; Bd. III hg.
und Hans Henning. Leipzig o. J. (1905–1910 als »Groß­ von Giovanni Gurisatti. Mailand 2004.
herzog Wilhelm Ernst-Ausgabe« beim Insel-Verlag Senilia. Gedanken im Alter. Hg. von Franco Volpi und Ernst
erschienen; Text nach der Edition Grisebachs) [Ins]. Ziegler. Darmstadt 22011.
Sämtliche Werke. Hg. von Otto Weiß. Leipzig 1919 (es ... die Kunst zu sehn«: Arthur Schopenhauers Mitschriften der
erschienen nur die ersten zwei Bände mit Schopenhauers Vorlesungen Johann Friedrich Blumenbachs (1809–1811).
Hauptwerk) [We]. Mit einer Einführung von Marco Segala hg. von Jochen
Sämmtliche Werke. Berlin o. J. (1891 vom Verlag Bibliogra- Stollberg und Wolfgang Böker. Göttingen 2013.
phische Anstalt mit dem Zusatz »Genaue Textausgabe mit Spicilegia. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. von
den letzten Zusätzen« in 6 Bänden veröffentlicht; diverse Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop und
Abdrucke bei anderen Verlagen mit dem gleichen Zusatz, Manfred Wagner. München 2015.
Text nach der Edition Frauenstädts) [Bib]. Pandectae. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg.
Sämtliche Werke. Eingeleitet von Max Frischeisen-Köhler. von Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop
Berlin o. J. (ebenfalls mit dem Zusatz »Genaue Textaus- und Manfred Wagner. München 2016.
gabe mit den letzten Zusätzen« 1913 und 21921 beim Ver- Cogitata. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg. von
lag A. Weichert in 8 Bänden erschienen, Text nach der Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Anke Brumloop, Cle-
Edition Grisebachs) [Kö]. mens Müller und Manfred Wagner. Würzburg 2017.
Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Mit Einleitung von Rudolf Cholerabuch. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Hg.
Steiner. Stuttgart o. J. (1894–1896 bei Cotta erschienen, von Ernst Ziegler. Würzburg 2017.
Text nach der Edition Frauenstädts) [St]. Vorlesung über Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom
Sämtliche Werke. Hg. von Maximilian Breitkopf. O. O. 1999 Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste. Hg. von
(Text nach der Edition Frauenstädts) [Br]. Daniel Schubbe unter Mitarbeit von Judith Werntgen-
Schmidt und Daniel Elon. 4 Bde. Hamburg 2017 ff.
54 Auswahlbibliographie 439

54 Auswahlbibliographie Biographien
Abendroth, Walter: Arthur Schopenhauer mit Selbstzeugnis-
Einführungen und Gesamtdarstellungen sen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1967.
Atwell, John: Schopenhauer on the Character of the World. The Appel, Sabine: Arthur Schopenhauer: Leben und Philosophie.
Metaphysics of Will. Berkeley/Los Angeles/London 1995. Düsseldorf 2007.
Barbera, Sandro: Une philosophie du conflit: Etude sur Scho- Cartwright, David E.: Schopenhauer – A Biography. Cam-
penhauer. Paris 2004. bridge 2010.
Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009. Hübscher, Arthur: Arthur Schopenhauer. Ein Lebensbild.
Fauth, Søren R.: Schopenhauers filosofi. En introduktion. In: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. von
Kopenhagen 2010. Arthur Hübscher. Bd. I. Mannheim 41988, 29–142.
Félix, François: Schopenhauer ou les passions du sujet. Lau- Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der
sanne 2007. Philosophie. Eine Biographie. Darmstadt 2010 [1987].
Fleischer, Margot: Schopenhauer. Freiburg i. Br. 2001. Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer
Grün, Klaus-Jürgen: Arthur Schopenhauer. München 2000. Weltbürger. München 2012 [2010].
Gurisatti, Giovanni: Caratterologia, metafisica e saggezza.
Lettura fisiognomica di Schopenhauer. Padua 2002. Periodika
Hallich, Oliver/Koßler, Matthias (Hg.): Arthur Schopen- Schopenhauer-Jahrbuch. 1912 begründet von Paul Deussen,
hauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (= Klassiker Aus- zunächst (bis 1944) unter dem Namen Jahrbuch der Scho-
legen, Bd. 42). Berlin 2014. penhauer-Gesellschaft. Seit 2006 hg. von Matthias Koßler
Hamlyn, David W.: Schopenhauer. The Arguments of the Phi- und Dieter Birnbacher; seit 1992 Verlag Königshausen &
losophers. London 1980. Neumann. Würzburg.
Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer Beiträge zur Philosophie Schopenhauers. 1996–2003 hg. von
gestern – heute – morgen. Bonn 31982. Dieter Birnbacher und Heinz Gerd Ingenkamp; seit 2004
Invernizzi, Giuseppe: Invito al pensiero di Schopenhauer. hg. von Dieter Birnbacher und Matthias Koßler. Würz-
Mailand 1995. burg 1996 ff.
Jacquette, Dale: The Philosophy of Schopenhauer. Chesham Schopenhaueriana. Collana del Centro interdipartimentale
2005. di ricerca su Arthur Schopenhauer e la sua scuola
Janaway, Christopher (Hg.): The Cambridge Companion to dell’Università del Salento. Hg. Domenico M. Fazio/Mat-
Schopenhauer. Cambridge 1999. thias Koßler/Ludger Lütkehaus. Lecce 2006 ff.
Janaway, Christopher: Schopenhauer: A Very Short Introduc- Schopenhaueriana. Revista de estudios sobre Schopenhauer en
tion. Oxford 22002. español (https://sociedadschopenhauer.com/acerca-de).
Koßler, Matthias: Substantielles Wissen und subjektives Han- Schopenhauer-Studien. Jahrbuch der Internationalen Scho-
deln, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopen- penhauer-Vereinigung. Hg. von Wolfgang Schirmacher.
hauer. Frankfurt a. M. 1990. Wien 1988–1995.
Magee, Brian: The Philosophy of Schopenhauer. Oxford/New Schopenhauer-Studien. Jahrbuch der japanischen Schopen-
York 1983. hauer-Gesellschaft. Hg. von der Japan Schopenhauer Asso-
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi- ciation. Tokyo 1993 ff.
losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann- Revistas Voluntas. Estudios sobre Schopenhauer, http://www.
statt 1991. revistavoluntas.org/index.html.
Malter, Rudolf: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philoso-
phie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 22010. Bibliographien, Lexika und Register
Möbuß, Susanne: Schopenhauer für Anfänger: Die Welt als Frauenstädt, Julius: Schopenhauer-Lexikon. Ein philosophi-
Wille und Vorstellung. München 21998. sches Wörterbuch. Leipzig 1871.
Pernin, Marie-José: Schopenhauer. Le déchiffrement de Hertslet, William Lewis: Schopenhauer-Register. Ein Hülfs-
l’énigme du monde. Paris 1992. buch zur schnellen Auffindung aller Stellen, betreffend
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik Gegenstände, Personen und Begriffe sowie der Citate, Ver-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010. gleiche und Unterscheidungen, welche in Arthur Schopen-
Shapshay, Sandra: The Palgrave Schopenhauer Handbook. hauer’s Werken, ferner in seinem Nachlasse und in seinen
Cham 2018 (im Erscheinen). Briefen enthalten sind. Leipzig 1890.
Spierling, Volker: Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in Hübscher, Arthur: Schopenhauer-Bibliographie (Berichts-
Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1998. zeitraum 1813–1980). Stuttgart-Bad Cannstatt 1981.
Spierling, Volker: Arthur Schopenhauer zur Einführung. Ruffing, Margit: Schopenhauer-Bibliographie (wird jährlich
Hamburg 2002. im Schopenhauer-Jahrbuch aktualisiert).
Vandenabeele, Bart: A Companion to Schopenhauer. Malden, Spierling, Volker: Schopenhauer-ABC. Leipzig 2002.
Mass./Oxford 2012. Wagner, Gustav Friedrich: Encyklopädisches Register zu
Weimer, Wolfgang: Schopenhauer. Darmstadt 1982. Schopenhauer’s Werken nebst einem Anhange, der den
Weiner, Thomas: Die Philosophie Arthur Schopenhauers und Abdruck der Dissertation von 1813, Druckfehlerverzeich-
ihre Rezeption. Hildesheim 2000. nisse u. a. M. enthält. Karlsruhe 1909 (neu hg. von Arthur
Wicks, Robert: Schopenhauer. New York 2008. Hübscher. Stuttgart-Bad Cannstatt 31982).
Young, Julian: Schopenhauer. London 2005.
440 V Hilfsmittel

55 Institutionen der Schopenhauer- Dr. Manfred Wagner (Bad Hersfeld). Homepage:


Forschung http://www.schopenhauer.de. Zudem existieren noch
die japanische Schopenhauer-Gesellschaft »Japan
Schopenhauer Association« und die spanische »Socie-
Schopenhauer-Forschungsstelle an der Johannes
dad de Estudios en Español sobre Schopenhauer« mit
Gutenberg-Universität Mainz
jeweils eigenen Publikationsorganen (s. Kap. 54).
Die Schopenhauer-Forschungsstelle wurde im Juli
2001 gegründet und aufgrund einer Kooperationsver-
Schopenhauer-Archiv der Universitätsbibliothek
einbarung zwischen der Universität und der Schopen-
Frankfurt a. M.
hauer-Gesellschaft als wissenschaftliche Einrichtung
an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz institu- Das Schopenhauer-Archiv wurde am 21. September
tionalisiert. Ihr Begründer und derzeitiger Leiter ist 1921 gegründet. Erster hauptamtlicher Archivleiter
Prof. Dr. Matthias Koßler. Die Forschungsstelle be- war Carl Gebhardt. Das Schopenhauer-Archiv vereint
treut eine in den 1980er Jahren von Rudolf Malter be- die Sammlungen der Schopenhauer-Gesellschaft und
gonnene Sammlung unselbständiger Literatur zu der ehemaligen Stadtbibliothek Frankfurt, die auf dem
Schopenhauer. Weitere Aufgabenfelder sind ein Aus- Vermächtnis Schopenhauers aufbauen und durch
kunftsdienst, die Betreuung von Stipendiaten und Schenkungen und Erwerbungen stetig erweitert wer-
Doktoranden aus dem In- und Ausland sowie die fort- den. Es befindet sich heute zusammen mit dem Archiv
laufend geführte Bibliographie. Herausgabe und Re- der Schopenhauer-Gesellschaft in den Räumen der
daktion des Schopenhauer-Jahrbuchs sind ebenfalls an Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
der Forschungsstelle angesiedelt. Neben der Schopen- in Frankfurt. Zu den Beständen des Schopenhauer-Ar-
hauer-Gesellschaft und der Universität Mainz trägt chivs zählen Briefe von und an Arthur Schopenhauer,
die Dr.  Walter und Dr.  Gertrud Pförtner-Stiftung Manuskripte, sein Testament, seine Privatbibliothek,
maßgeblich zur Finanzierung der Forschungsstelle Tagebücher, Reiseberichte, Bilder und persönliche Ge-
bei. Homepage: http://www.schopenhauer.philoso brauchsgegenstände. Zudem finden sich Dokumente
phie.uni-mainz.de von Heinrich Floris Schopenhauer, Johanna Schopen-
hauer und Adele Schopenhauer. Ergänzt wird dieser
Bestand durch Kopien der Schopenhauer-Manuskript-
Schopenhauer-Gesellschaften
sammlung der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer
Die Schopenhauer-Gesellschaft wurde 1911 von Paul Kulturbesitz Berlin und eine Porträtsammlung (Ölbil-
Deussen in Kiel gegründet. Ihr Zweck besteht darin, der, Graphiken, Fotos, Plastiken). Homepage: http://
das »Studium und Verständnis der Philosophie Scho- www. ub.uni-frankfurt.de/archive/schopenhauer.html
penhauers anzuregen und zu fördern« (§ 2 der Sat-
zung). Im Auftrag der Schopenhauer-Gesellschaft wird
Centro interdipartimentale di ricerca su Arthur
seit 1912 das wichtigste Publikationsorgan der Scho-
Schopenhauer e la sua scuola dell’Università del
penhauer-Forschung, das Schopenhauer-Jahrbuch, he-
Salento, Italien
rausgegeben. Dank der Tätigkeit Deussens und seiner
ersten Nachfolger Leo Wurzmann, Hans Zint und Ar- Das Centro ist eine italienische Schopenhauer-For-
thur Hübscher konnte sich die Gesellschaft schnell schungsstelle, die in Lecce an der Università del Salen-
zum internationalen Forum der Schopenhauer-For- to beheimatet ist. Sie wurde am 30. Juni 2006 gegrün-
schung entwickeln. Dazu trug auch das gemeinsam mit det und am 19. Oktober 2006 eröffnet. Leiter ist Prof.
der Stadtbibliothek Frankfurt aufgebaute Schopenhau- Dr. Domenico M. Fazio. Die Idee zur Gründung die-
er-Archiv bei. Neben Ortsvereinigungen in Frankfurt ser Forschungsstelle geht auf die Tagung »Schopen-
a. M., Berlin und Hagen hat die Schopenhauer-Gesell- hauer und die Schopenhauer-Schule« zurück, die
schaft Sektionen in Brasilien, Dänemark, Indien, Ita- vom 22.–24. September 2005 in Lecce stattfand. Der
lien und den USA. Drei Stiftungen sind eng mit der Schwerpunkt des Centro, das auch die Reihe Schopen-
Schopenhauer-Gesellschaft verbunden und auch von haueriana, in der bislang 8 Bände erschienen sind
ihren Mitgliedern gegründet worden: die Schopenhau- (s. Kap. 49), veröffentlicht, liegt in der Erforschung
er-Stiftung in memoriam Christian Hübscher (Frank- der Geschichte der Schopenhauer-Schule (s. Kap. 27).
furt a. M.), die Dr. Walter und Dr. Gertrud Pförtner- Homepage: https://www.studiumanistici.unisalento.
Stiftung (Hannover) und die Schopenhauer-Stiftung it/centro_schopenhauer
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben 441

56 Seitenkonkordanzen für die Lütkehaus-Ausgabe. Darüber hinaus führt auch die


Werkausgaben unterschiedliche Gestaltung des Satzes vereinzelt zu
kleinen Unregelmäßigkeiten.
In den Vergleichstabellen verweisen die Zahlen
Hinweise zur Nutzung
hinter den Siglen (s. Kap. 53) auf den Band der ent-
Die Vielzahl der in der Vergangenheit und der Gegen- sprechenden Ausgabe (z. B. Fr 1 für Band 1 der Frau-
wart verbreiteten Gesamtausgaben der Werke Scho- enstädt-Ausgabe). Unterstrichene und fett markierte
penhauers (s. Kap. 53) hat zu dem beklagenswerten Zahlen in den Tabellen kündigen einen Wechsel des
Zustand geführt, dass die Sekundärliteratur nur dann Bandes an.
ohne große Mühe überprüft und verwertet werden Da die erste Gesamtausgabe erst 1873 erschien,
kann, wenn zumindest alle häufig zitierten Ausgaben mussten für die ältere Schopenhauer-Literatur noch
verfügbar sind. Die Auseinandersetzung mit der älte- die von Schopenhauer selbst veröffentlichten Auf-
ren Literatur ist von diesem Missstand in besonderem lagen und die von Frauenstädt herausgegebenen Ein-
Ausmaß betroffen. zelveröffentlichungen berücksichtigt werden. Hierzu
Die folgenden Seitenkonkordanzen bieten für ist jedoch Folgendes zu bemerken: Die von Schopen-
ebendiesen Missstand eine Abhilfe an, indem sie ei- hauer selbst herausgegebenen Auflagen werden in den
nen Seitenvergleich aller deutschsprachigen Gesamt- Seitenkonkordanzen von einer Ausnahme abgesehen
ausgaben geben, so dass nun in der Regel eine Gesamt- vollständig verglichen. Lediglich die erste Auflage der
ausgabe ausreicht, um mit der gesamten Schopenhau- Farbenlehre konnte ausgelassen werden. Sie wurde
er-Literatur arbeiten zu können. Auch wichtige, wenn ausschließlich in der Deussen-Ausgabe, und zwar mit
nicht sogar unverzichtbare Hilfsmittel wie das Scho- Seitenzahlen der Ausgabe von 1816, noch einmal ab-
penhauer-Register von Gustav Friedrich Wagner kön- gedruckt. Die Frauenstädtschen Einzelveröffent-
nen nun wieder fast ohne Einschränkungen heran- lichungen sind im Großen und Ganzen seitengleich
gezogen werden. mit seiner Gesamtausgabe, so dass nur die Parerga-
Im Anschluss an diese Seitenkonkordanzen wer- Bände von 1862 wegen geringfügiger Abweichungen
den zusätzlich die Ausgaben der Vorlesungen und aufgenommen wurden. Genaue bibliographische An-
Reisetagebücher Schopenhauers verglichen. gaben zu den Einzelausgaben sind den jeweiligen Sei-
Um eine komplikationsfreie Nutzung der Seiten- tenkonkordanzen mit Siglen vorangestellt.
konkordanzen zu gewährleisten, müssen jedoch noch Die Stellennachweise werden in der Sekundärlite-
einige Hinweise vorangestellt werden: ratur oftmals nur mit der Angabe der Band- und Sei-
Aufgrund der teilweise stark voneinander abwei- tenzahl geführt (z. B. V, 100). Ist die Anordnung der
chenden Editionsprinzipien unterscheiden sich die zitierten Ausgabe unbekannt, bleibt auch unklar, wel-
Texte der Ausgaben, vor allem bei den Parerga-Bän- che Seitenkonkordanz aufzuschlagen ist. Mit der
den, mitunter deutlich. Es kann daher hin und wieder nachstehenden Übersicht kann die jeweils relevante
vorkommen, dass eine gesuchte Stelle in einer Aus- Tabelle direkt gefunden werden.
gabe nicht vorhanden ist. Dies gilt besonders für die
442 V Hilfsmittel

Die beiden Grundprobleme der Ethik:


Inhaltsverzeichnisse für die verglichenen ­ »Vorreden« 433–470
Ausgaben »Preisschrift über die Freiheit des Willens« 473–572
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 575–745
Ausgabe: Fr Bd. 4:
Bd. 1: Parerga und Paralipomena I 3–550
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) V–VII, 1–160 (»Aphorismen zur Lebensweisheit« 347–550)
Ueber das Sehn und die Farben III–VII, 1–93 Bd. 5:
Theoria colorum physiologica 1–58 Parerga und Paralipomena II 7–724
Bd. 2: Bd. 6:
Die Welt als Wille und Vorstellung I VII–XXXII, Theoria colorum physiologica 59–112
3–487 Ueber das Sehn und die Farben 117–210
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 491–633
Bd. 3:
Die Welt als Wille und Vorstellung II 3–743
Ausgabe: ZA
Bd. 1:
Bd. 4:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 7–335
Ueber den Willen in der Natur IX–XXIX, 1–147
Bd. 2:
Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 343–508
»Vorreden« V–XLII
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 511–651
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 3–102
Bd. 3:
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 105–275
Die Welt als Wille und Vorstellung II 9–421
Bd. 5:
Bd. 4:
Parerga und Paralipomena I V–VI, 3–530
Die Welt als Wille und Vorstellung II 431–757
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 331–530)
Bd. 5:
Bd. 6:
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 9–177
Parerga und Paralipomena II 3–696
Ueber den Willen in der Natur 183–342
Bd. 6:
Ausgabe: Hü Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Bd. 1: »Vorreden« 7–39
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) V–VII, 1–160 »Preisschrift über die Freiheit des Willens« 43–142
Ueber das Sehn und die Farben III–VI, 1–93 »Preisschrift über die Grundlage der Moral« 145–315
Theoria colorum physiologica 1–58 Bd. 7:
Bd. 2: Parerga und Paralipomena I 7–335
Die Welt als Wille und Vorstellung I VII–XXXII, 3–487 Bd. 8:
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 491–633 Parerga und Paralipomena I 343–540
Bd. 3: (»Aphorismen zur Lebensweisheit« 343–540)
Die Welt als Wille und Vorstellung II 3–743 Bd. 9:
Bd. 4: Parerga und Paralipomena II 9–351
Ueber den Willen in der Natur IX–XXIX, 1–147 Bd. 10:
Die beiden Grundprobleme der Ethik: Parerga und Paralipomena II 359–717
»Vorreden« V–XLII
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 3–102
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 105–275
Ausgabe: Lü
Bd. 1:
Bd. 5:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 7–528
Parerga und Paralipomena I VII, 3–530
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 531–676
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 333–530)
Bd. 2:
Bd. 6:
Die Welt als Wille und Vorstellung II 11–751
Parerga und Paralipomena II 3–698
Bd. 3:
Bd. 7:
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 9–167
Ueber die vierfache Wurzel ... (1813) 3–94
Ueber den Willen in der Natur 171–321
Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Ausgabe: De »Vorreden« 327–358
Bd. 1: »Preisschrift über die Freiheit des Willens« 361–458
Die Welt als Wille und Vorstellung I XIX–XXXXIV, 3–487 »Preisschrift über die Grundlage der Moral« 461–631
Anhang: »Kritik der Kantischen ­Philosophie« 491–634 Ueber das Sehn und die Farben 635–728
Bd. 2: Bd. 4:
Die Welt als Wille und Vorstellung II 3–740 Parerga und Paralipomena I 5–483
Bd. 3: (»Aphorismen zur Lebensweisheit« 313–483)
Ueber die vierfache Wurzel ... (1813) 3–99 Bd. 5:
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 103–268 Parerga und Paralipomena II 9–567
Ueber den Willen in der Natur 271–427
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben 443

Ausgabe: Lö Ausgabe: Bib


Bd. 1: Bd. 1:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 7–558 Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) I–III, 1–132
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 561–715 Ueber das Sehn und die Farben 135–215
Bd. 2: Theoria colorum physiologica 219–265
Die Welt als Wille und Vorstellung II 11–829 Bd. 2:
Bd. 3: Die Welt als Wille und Vorstellung I I–XXI, 3–409
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 7–189 Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 413–531
Ueber das Sehn und die Farben 193–297 Bd. 3:
Ueber den Willen in der Natur 301–479 Die Welt als Wille und Vorstellung II 3–635
Die beiden Grundprobleme der Ethik: Bd. 4:
»Vorreden« 483–517 Parerga und Paralipomena I V–VI, 3–451
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 521–627 (»Aphorismen zur Lebensweisheit« 285–451)
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 631–813 Bd. 5:
Bd. 4: Parerga und Paralipomena II 3–569
Parerga und Paralipomena I 7–592 Bd. 6:
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 375–592) Ueber den Willen in der Natur I–XVIII, 1–117
Bd. 5: Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Parerga und Paralipomena II 9–773 »Vorreden« 123–154
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 155–237
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 237–377
Ausgabe: Gr
Bd. 1:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 9–527 Ausgabe: St
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 531–677 Bd. 1:
Bd. 2: Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 37–191
Die Welt als Wille und Vorstellung II 9–762 Bd. 2:
Bd. 3: Die Welt als Wille und Vorstellung I 7–216
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 9–177 Bd. 3:
Ueber den Willen in der Natur 181–343 Die Welt als Wille und Vorstellung I 7–285
Die beiden Grundprobleme der Ethik: Bd. 4:
»Vorreden« 349–380 Die Welt als Wille und Vorstellung I
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 383–481 Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 5–142
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 485–655 Die Welt als Wille und Vorstellung II 147–346
Bd. 4: Bd. 5:
Parerga und Paralipomena I 11–554 Die Welt als Wille und Vorstellung II 7–307
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 353–554) Bd. 6:
Bd. 5: Die Welt als Wille und Vorstellung II 7–214
Parerga und Paralipomena II 9–696 Ueber den Willen in der Natur 217–367
Bd. 6: Bd. 7:
Ueber das Sehn und die Farben 9–109 Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Theoria colorum physiologica 113–171 »Vorreden« 7–36
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 39–132
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 135–297
Ausgabe: Ins
Bd. 8:
Bd. 1:
Parerga und Paralipomena I 7–228
Die Welt als Wille und Vorstellung I 9–538
Bd. 9:
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 541–689
Parerga und Paralipomena I 7–279
Bd. 2:
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 93–279)
Die Welt als Wille und Vorstellung II 701–1462
Bd. 10:
Bd. 3:
Parerga und Paralipomena II 7–308
Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 11–180
Bd. 11:
Ueber den Willen in der Natur 183–349
Parerga und Paralipomena II 7–335
Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Bd. 12:
»Vorreden« 355–387
Ueber das Sehn und die Farben 7–100
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 391–492
Theoria colorum physiologica 103–155
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 495–671
Ueber das Sehn und die Farben 675–779
Bd. 4: Ausgabe: Kö
Parerga und Paralipomena I 11–580 Bd. 1:
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 373–580) Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 5–150
Bd. 5: Ueber das Sehn und die Farben 153–238
Parerga und Paralipomena II 13–716 Theoria colorum physiologica 241–288
444 V Hilfsmittel

Bd. 2: Ausgabe: Br
Die Welt als Wille und Vorstellung I 5–460 Bd. 1:
Bd. 3/4: Ueber die vierfache Wurzel ... (1847) 151–285
Die Welt als Wille und Vorstellung II 9–668 Ueber das Sehn und die Farben 291–371
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 671–798 Theoria colorum physiologica 375–416
Bd. 5: Bd. 2:
Ueber den Willen in der Natur 7–145 Die Welt als Wille und Vorstellung I 9–413
Die beiden Grundprobleme der Ethik: Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 417–528
»Vorreden« 149–176 Bd. 3:
»Preisschrift über die Freiheit des Willens« 177–262 Die Welt als Wille und Vorstellung II 11–592
»Preisschrift über die Grundlage der Moral« 263–413 Bd. 4:
Bd. 6: Ueber den Willen in der Natur 11–140
Parerga und Paralipomena I 5–477 Die beiden Grundprobleme der Ethik:
(»Aphorismen zur Lebensweisheit« 305–477) »Vorreden« 143–167
Bd. 7/8: »Preisschrift über die Freiheit des Willens« 171–247
Parerga und Paralipomena II 9–602 »Preisschrift über die Grundlage der Moral« 251–382
Bd. 5:
Parerga und Paralipomena I 6–431
Ausgabe: We (»Aphorismen zur Lebensweisheit« 275–431)
Bd. 1: Bd. 6:
Die Welt als Wille und Vorstellung I 3–548 Parerga und Paralipomena II 9–576
Anhang: »Kritik der Kantischen Philosophie« 549–706
Bd. 2:
Die Welt als Wille und Vorstellung II 7–802
Seitenkonkordanzen

1. Die Welt als Wille und Vorstellung


Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig 1819 [= 1819].
Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig 21844 (»Zweite, durchgängig verbesserte und sehr vermehrte Auflage« mit einem zweiten Band, »welcher die Ergän-
zungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält«) [= 1844].
Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig 31859 [= 1859].

1.1 Die Welt als Wille und Vorstellung I

1819 1844 1859 Fr 2 Hü 2 De 1 ZA 1/2 Lü 1 Lö 1 Gr 1 Ins 1 Bib 2 St 2–4 Kö 2, 3/4 We 1 Br 2


V VII VII VII VII XIX 7 7 7 9 9 I 7 5 3 9
XIII XII XIII XIII XIII XXV 11 12 12 14 14 VI 12 9 7 12
/ XV XVI XVI XVI XXVIII 14 14 14 16 16 VIII 14 11 9 15
/ XXIII XXIV XXIV XXIV XXXVI 20 21 21 23 23 XV 20 17 16 20
/ / XXXI XXXI XXXI XXXXIII 26 27 27 29 29 XXI 26 22 22 25
/ / XXXII XXXII XXXII XXXXIV 26 27 27 29 29 XXI 26 22 22 25
1 1 1 1 1 1 27 29 29 31 31 1 27 23 23 27
3 3 3 3 3 3 29 31 31 33 33 3 29 25 23 29
5 5 5 5 5 5 31 33 33 35 35 5 31 27 25 31
8 6 7 7 7 7 33 35 35 37 37 6 33 28 27 32
10 8 9 9 9 9 35 37 37 39 39 8 35 30 29 34
18 15 15 15 15 15 41 43 44 45 45 13 41 36 36 38
27 21 22 22 22 22 47 50 51 52 52 19 47 42 44 44
37 29 30 30 30 30 55 58 59 60 60 25 55 49 52 50
51 39 41 41 41 41 66 70 72 72 73 35 66 59 65 59
57 44 46 46 46 46 71 76 77 77 78 39 71 64 71 63
74 57 59 59 59 59 86 89 91 90 91 50 85 77 85 75
76 58 61 61 61 61 87 92 95 92 93 51 86 78 86 76
78 60 63 63 63 63 89 94 97 94 95 53 88 80 89 78
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben

87 67 69 69 69 69 96 101 104 101 102 58 94 86 96 83


92 70 73 73 73 73 99 105 108 104 106 62 98 89 100 86
445
1819 1844 1859 Fr 2 Hü 2 De 1 ZA 1/2 Lü 1 Lö 1 Gr 1 Ins 1 Bib 2 St 2–4 Kö 2, 3/4 We 1 Br 2
446

102 78 82 82 82 82 108 115 118 114 115 69 107 97 110 93


125 95 99 99 99 99 125 132 137 131 133 83 123 113 129 107
137 105 111 111 111 111 135 143 149 143 145 93 133 123 140 115
139 107 113 113 113 113 137 145 151 145 147 95 135 125 140 117
146 112 118 118 118 118 142 150 156 150 152 99 140 129 146 121
V Hilfsmittel

152 116 123 123 123 123 146 155 161 155 157 103 144 134 151 124
156 120 126 126 126 126 150 159 165 158 161 106 148 137 155 127
160 124 130 130 130 130 154 162 169 162 165 109 151 140 159 130
162 125 131 131 131 131 155 164 171 163 166 110 153 141 160 131
165 127 134 134 134 134 157 166 173 166 168 112 155 143 163 133
175 135 142 142 142 142 165 174 182 174 177 119 163 151 172 140
185 144 151 151 151 151 175 184 193 184 187 127 172 159 182 147
189 147 154 154 154 154 178 187 196 187 190 129 175 162 186 149
203 157 165 165 165 165 188 198 208 198 202 138 186 172 198 158
222 173 182 182 182 182 204 215 226 215 219 152 202 186 216 171
235 184 193 193 193 193 215 226 237 226 231 161 212 196 228 179
240 188 196 196 196 196 218 230 241 229 234 164 216 199 232 182
241 189 197 197 197 197 219 231 243 231 235 165 3, 5 201 233 183
243 191 199 199 199 199 221 233 245 233 237 167 7 203 233 185
244 192 200 200 200 200 222 234 246 234 238 168 8 204 234 186
251 197 205 205 205 205 227 239 252 239 243 172 13 208 240 190
253 199 207 207 207 207 229 241 254 241 245 174 15 210 242 191
256 201 209 209 209 209 231 243 256 243 247 176 17 212 245 193
260 204 213 213 213 213 235 247 261 247 251 179 20 215 249 196
265 208 217 217 217 217 238 251 264 251 255 182 24 218 252 199
267 210 219 219 219 219 240 253 266 253 257 183/4 25/6 220 255 200/1
280 219 229 229 229 229 250 263 277 263 267 192 35 229 266 208
281 221 230 230 230 230 251 265 279 264 269 193 36 230 267 209
283 222 231 231 231 231 252 266 280 265 270 194 37/8 231 268 210
289 227 236 236 236 236 257 271 285 270 275 198 42 236 274 214
299 235 244 244 244 244 265 279 294 279 284 205 50 243 283 220
301 236 246 246 246 246 267 281 296 280 285 206 52 244 285 222
1819 1844 1859 Fr 2 Hü 2 De 1 ZA 1/2 Lü 1 Lö 1 Gr 1 Ins 1 Bib 2 St 2–4 Kö 2, 3/4 We 1 Br 2
306 240 250 250 250 250 271 285 301 285 290 210 56 248 289 225
307 241 251 251 251 251 272 286 302 286 290 210 57 249 290 226
315 247 257 257 257 257 278 292 308 292 297 215 62 254 297 230
318 249 260 260 260 260 280 295 311 294 299 218 65 256 300 232
327 256 267 267 267 267 287 302 319 302 307 223 72 263 308 238
331 260 270 270 270 270 290 305 322 305 310 226 75 266 311 241
332 261 271 271 271 271 291 307 323 306 311 227 76 267 312 241
338 265 275 275 275 275 295 311 328 310 316 231 80 270 317 245
338 265 276 276 276 276 296 312 329 311 316 231 81 271 318 245/6
342 269 279 279 279 279 299 315 332 314 320 234 84 274 321 248
350 275 286 286 286 286 306 322 340 321 327 240 90 280 329 254
367 289 301 301 301 301 321 338 356 337 343 253 105 294 346 266
384 302 316 316 316 317 335 353 372 352 359 265 120 307 362 277
385 303 317 317 317 317 2, 341 355 373 353 361 267 121 309 363 279
387 305 319 319 319 319 343 357 375 355 363 269 123 311 363 281
392 309 323 323 323 323 347 361 379 359 367 272 127 314 368 284
410 322 337 337 337 337 361 376 395 374 382 284 140 327 383 295
424 334 349 349 349 349 372 387 407 385 394 294 152 337 396 304
438 343 358 358 358 358 381 397 417 394/5 404 301/2 160 345/6 406 311
443 347 363 363 363 363 385 401 422 399 409 305 165 349 411 315
448 350 366 366 366 366 389 405 426 403 413 308 168 353 415 318
459 360 376 376 376 376 399 415 438 413 423 317 178 362 426 326
465 365 381 381 381 381 404 421 443 418 428 321 183 366 432 330
469 368 385 385 385 385 408 424 447 422 432 324 187 369 436 333
471 369 386 386 386 386 409 425 448 423 433 325 188 370 437 333/4
477 374 391 391 391 391 414 430 454 428 438 329 192 375 442 337
480 376 393 393 393 393 416 433 457 431 441 331 195 377 445 339
490/1 385 402 402 402 402 425 442 466 440 450 338 203 385 454/5 346
505 395 414 414 414 414 436 454 479 452 462 348 215 395 468 355
513 403 422 422 422 419 444 462 487 459 470 355 222 402 476 362
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben

517 405 424 424 424 424 447 465 490 462 473 357 225 405 479 364
528 414 433 433 433 433 455 473 499 471 482 364 233 412/3 488/9 370/1
447
1819 1844 1859 Fr 2 Hü 2 De 1 ZA 1/2 Lü 1 Lö 1 Gr 1 Ins 1 Bib 2 St 2–4 Kö 2, 3/4 We 1 Br 2
448

530 415 434 434 434 434 456 474 501 472 483 365 234 413 490 371
540 423 443 443 443 443 465 483 510 481 492 372 242 421 499 378
544 427 446 446 446 446 468 487 514 485 496 375 246 424 503 381
554 435 456 456 456 456 477 497 524 495 506 383 255 433 514 389
565 444 465 465 465 465 486 505 534 504 515 391 264 440/1 524 396
V Hilfsmittel

572 449 471 471 471 471 492 512 541 510 521 396 269 446 530 400
577 454 476 476 476 476 497 517 546 515 527 400 274 450 536 404
584 460 483 483 483 483 504 524 554 523 534 406 281 457 544 410
590 464 487 487 487 487 508 528 558 527 538 409 285 460 548 413
593 467 491 491 491 491 511 531 561 531 541 413 4, 5 3/4, 671 549 417
596 470 494 494 494 494 514 534 564 533 544 416 8 674 552/3 419
602 476 501 501 501 501 521 541 572 541 551 421 14 680 560 425
604 478 504 504 504 504 523 544 574/5 544 554 423/4 17 682 563 427
/ 479 505 505 505 505 524 545 576 545 555 424 18 683 564 428
608 484 510 510 510 510 530 550 581/2 551 560/1 429 23 688 570 432
612 488 514 514 514 514 533 554 585/6 554 564 432 27 691 574 435
618 492 518 518 518 518 537 558 590 558 568/9 436 31 695 579 438
629 509 536 536 536 536 554 576 609 576 587 450 48 710/1 598 452
642 519 546 546 546 546 564 587 620 587 598 459 58 719/20 609 459
654 530 559 559 559 559 577 600 634 601 611/2 470 71 731 624 470
/ 537 566 566 566 566 584 607 641 608 619 476 77 738 632 475
669 549 579 579 579 579 597 621 655/6 621 632/3 487 90 749 646 485/6
673 552 583 583 583 583 601 625 660 625 636/7 490 94 753 650/1 489
685 563 595 595 595 595 612 636 672 637 648/9 499 105 763/4 663/4 498
693 570 602 602 602 602 619 644 680 644 656 505 112 770 671/2 504
696 573 605 605 605 605 622 647 683 647 659 508 115 772 674/5 506
697 576 610 610 610 610 627 651 689 652 664 512 120 777 680 510
716 592 626 626 626 626 643 667 707 669 681 525 135 791 697/8 522
723 596 630/1 630 630 630 648 672 712 674 685/6 529 140 795 702/3 525/6
725 599 634 633 633 634 651 676 715 677 689 531 142 798 706 528
1.2 Die Welt als Wille und Vorstellung II

1844 1859 Fr 3 Hü 3 De 2 ZA 3/4 Lü 2 Lö 2 Gr 2 Ins 2 Bib 3 St 4–6 Kö 3/4 We 2 Br 3


3 3 3 3 3 9 11 11 9 701 3 147 9 7 11
15 15 15 15 15 21 23 24 22 714 13 159 20 20 20/1
22 22 22 22 22 28 30 31 28 720 19 165 26 27 26
29 30 30 30 30 35 38 39 36 728 26 173 33 36 32
34 36 37 37 36 42 44 46 43 735 31 179 39 43 37
48 52 52 52 52 57 60 64 59 751 44 194 53 60 49
57 62 62 62 62 72 70 81 68 760 52 205 63 70 60
61 67 67 67 67 77 74 86 73 765 56 209 67 75 63
70 76 76 76 76 85 84 95 82 774 63 218 75 85 70
79 86 86 86 86 95 94 106 92 784/5 72 228 84 96 78
91 99 99 99 99 109 107 121 106 798 82 240 96 110 88
101 112 112 112 112 122 120 134 119 812 93 253 108 125 99
106 117 117 117 117 127 126 141 125 817 98 258 113 131 103
117 129 129 129 129 139 138 154 137 829 108 269 123 144 113
119 131 131 131 131 140 139 155 138 830 110 271 125 145 114
129 142 142 142 142 152 151 168 150 842 120 282 135 158 123
132 145 145 145 145 154 154 171 153 845 122 284 137 161 125
135 150 150 150 150 159 158 176 158 850 126 289 142 166 129
148 163 163 163 163 172 172 190 171 864 137 302 153 180 139
158 175 175 175 175 186 184 206 184 876 147 314 164 194 149
172/3 190 190 190 190 201 200 222/3 200 892 160 328/9 178 211 160/1
183 202 202 202 202 213 211/2 236 211 904/5 170 340 188 224 170
190 209 209 209 209 219 218 243 218 912 176 346 194 231 175
193 213 213 213 213 223 221 247 221 915 179 5, 7 197 232 179
203 224 224 224 224 234 232 259 232 926 188 17 207 244 187
214 236 236 236 236 245 244 272 244 939 198 29 217 257 197
226 250 250 250 250 260 259 287/8 259 953/4 210 43 230 273 208
236 263 263 263 263 272 272 302 272 967 221 55 242 287 218
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben

248 277 277 277 277 286 286 316 286 981 233 68 254 302 228
260 292 292 292 292 301 301 333/4 302 997 246 83 268 319 240
267 304 304 304 304 315 313 348 314 1009 256 94 278 332 249
449
1844 1859 Fr 3 Hü 3 De 2 ZA 3/4 Lü 2 Lö 2 Gr 2 Ins 2 Bib 3 St 4–6 Kö 3/4 We 2 Br 3
450

270 307 307 307 307 318 316 352 317 1012 259 97 281 335 252
282 319 319 319 319 330 328 365 329 1025 269 109 292 348/9 261
294 331 331 331 331 342 341 378 342 1038 280 121 303 362 271
306 346 346 346 346 356 356 394 357 1053 292 135 316 378 282
318 362 361 361 362 372 372 411 373 1069 305 150 330 395 294
V Hilfsmittel

328 373 372 372 373 382 383 423 384 1080 314 161 340 407 302
342 390 390 390 390 400 400 443 402 1098 329 178 355 427 316
350 398 398 398 398 408 408 451 410 1107 336 185 362 435 322
360 410 411 411 410 421 420 466 423 1120 347 198 374 448 332
363 413 415 415 413 4, 431 423 469 427 1123 351 203 377 449 335
367 417 419 419 417 435 427 473 431 1127 354 207 380 453 338
376 428 429 429 428 445 437 484 442 1137 364 217 390 465 346
386 439 441 441 439 457 449 497 453 1150 374 228 400 477/8 355
398 454 456 456 454 472 464 514 468 1165 386 242 413 494 366
403 459 460 460 459 476 469 519 473 1170 390 247 417 499 370
405 461 463 463 461 479 471 521 475 1172 393 249 419 501 372
410 466 468 468 466 484 476 527 481 1177 397 254 424 507 376
418 476 478 478 476 493 486 537 491 1187 406 263 432 517 384
424 482 484 484 482 499 492 544 497 1194 411 269 438 524 388
438 499 501 501 499 516 510 563 515 1212 426 286 453 543 402
446 509 511 511 509 526 520 573 524 1222 434 295 462 554 409
/ 521 523 523 521 538 532 586 537 1235 445 307 473 567 419
461 525 527 527 525 541 535 589 541 1239 449 6, 7 477 568 423
463 527 528 528 527 542 536 590 542 1240 450 8 478 569 424
475 539 541 541 539 554 549 604 555 1253 461 20 489 583 433/4
482 548 550 550 548 564 558 614 564 1262/3 469 28/9 497 593 441
499 566 568 568 566 581 576 634 583 1282 484 46/7 513 613 455
511 582 584 584 582 597 592 651 599 1298 498 61 527 630 467
519 590 591 591 590 604 600 660 607 1306 505 69 534 638 473
531 605 607 607 605 621 616 678 623 1323 518 84 548 656 486
543 618 620 620 618 634 629 693 637 1336 530 97 560 670 496
554 630 632 632 630 646 641 706 649 1349 540 108 570 683 505
1844 1859 Fr 3 Hü 3 De 2 ZA 3/4 Lü 2 Lö 2 Gr 2 Ins 2 Bib 3 St 4–6 Kö 3/4 We 2 Br 3
/ 641 643 643 641 657 652 718 660 1360 549 119 580 695 514
565 649 651 651 649 665 660 727 668 1368 556 127 587 703 520
570 654 657 657 654 670 665 733 674 1374 561 132 592 709 524
576 661/2 664 664 661/2 677 672 741 681 1381 567 138/9 598 717 530
585 674 676 676 674 690 684 754 693 1393 577 150 608 730 540
600 690 692 692 690 706 700 772 709 1410 591 166 623 748 552
606 697 699 699 697 712 707 779 716 1417 597 172 629 755 558
617 710 712 712 710 726 720 795 730 1430 608 185 640/1 769 568
628 726 729 729 726 743 737 813 747 1447 621 201 655 787 581
634 733 736 736 733 750 744 821 754 1455 629 208 661 795 587
640 740 743 743 740 757 751 829 762 1462 635 214 668 802 592
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben
451
452
2. Kleine Schriften
2.1 Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1847)
Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Frankfurt a. M. 21847 [= 1847].

1847 Fr 1 Hü 1 De 3 ZA 5 Lü 3 Lö 3 Gr 3 Ins 3 Bib 1 St 1 Kö 1 Br 1


III V V 103 9 9 7 9 11 I 37 5 151
V Hilfsmittel

1 1 1 109 13 15 11 15 17 1 40 9 159
2 2 2 110 14 16 12 16 18 2 41 10 160
3 3 3 111 15 17 13 17 18 2 42 10 160
4 4 4 112 16 18 14 18 19 3 43 11 161
4 4 4 112 17 18 15 18 20 4 43 12 162
6 6 6 114 18 19 16 19 21 4 44 12 163
9 9 9 117 22 22 20 22 24 7 47 15 165
12 12 12 120 25 25 23 25 27 9 49 18 167
16 17 17 125 31 29 31 31 32 14 55 22 172
17 18 18 126 32 30 31 31 33 14 55 23 172
18 19 19 127 34 31 33 33 35 16 57 24 173
19 20 20 128 35 32 34 34 36 16 58 25 174
20 21 21 129 36 33 35 35 37 17 59 26 175
22 23 23 131 37 35 37 36 38 18 60 27 176
24 25 25 133 39 37 39 38 39 20 61 29 178
26 27 27 135 41 38 41 39 41 21 63 30 179
27 28 28 136 43 40 42 41 42 22 64 31 181
28 29 29 137 44 40 42 41 43 23 65 32 181
29 30 30 138 46 42 44 43 45 24 66 34 183
33 34 34 142 49 45 48 47 48 27 69 36 185
50 51 51 159 66 63 67 64 67 41 86 52 199
67/8 70 70 178 84 81 88 86 88 58 106 70 214
78 84 84 192 100 92 106 100 102 69 118 83 225
79 85 85 193 101 93 107 101 103 70 119 84 225
87 93 93 201 109 102 116 110 112 77 127 91 232
88 93 93 201 110 102 117 110 113 77 127 92 232
91 97 97 205 113 106 120 113 115 80 130 94 235
1847 Fr 1 Hü 1 De 3 ZA 5 Lü 3 Lö 3 Gr 3 Ins 3 Bib 1 St 1 Kö 1 Br 1
94 100 100 208 116 109 124 117 119 83 133 97 238
96 102 102 210 118 111 125 118 121 84 135 99 239
99 105 105 213 121 114 129 121 124 86 138 101 241
100 106 106 214 122 115 129 122 125 87 139 102 242
101 107 107 215 123 116 131 124 126 88 140 103 243
102 108 108 216 124 117 131 124 126 89 140 104 243
102 108 108 216 124 117 132 125 127 89 141 104 244
104 110 110 218 126 119 134 127 129 91 143 106 245
115 121 121 229 138 131 147 138/9 141 100 154 116 254
123 130 130 238 147 139 157 147 150 107 162 124 261
124 131 131 239 148 139 158 148 151 108 163 124 261
125 132 132 240 149 141 159 149 152 109 164 125 262
126 133 133 241 150 142 160 150 153 110 165 126 263
126 133 133 241 150 142 160 151 154 110 165 127 263
133 140 140 248 157 149 168 158 160 115 172 133 269
133 140 140 248 157 149 168 158 160 115 172 133 269
136 143 143 251 160 151 171 160 162 117 174 135 271
137 144 144 252 161 152 172 161 163 118 175 136 272
138 145 145 253 162 154 174 163 165 120 177 138 273
139 146 146 254 163 155 175 164 166 120 178 138 274
142 150 150 258 166 158 178 167 169 123 181 141 277
143 151 151 259 168 159 179 168 170 124 182 142 278
144 152 152 260 169 160 180 169 171 125 183 143 278
145 153 153 261 170 161 181 170 172 126 184 144 279
146 155 155 263 172 162 183 172 174 127 185 145 281
148 157 157 265 174 164 185 174 176 129 187 147 282
149 157 157 265 175 165 186 175 177 129 188 148 283
151 160 160 268 177 167 189 177 180 132 191 150 285
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben
453
2.2 Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813)
454

Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Rudolstadt 1813 [= 1813].

1813 Hü 7 De 3 1813 Hü 7 De 3 1813 Hü 7 De 3

1 3 3 35 25 26 105 68 71
2 4 4 38 27 27 105 68 71
V Hilfsmittel

4 5 5 41 29 29 112 72 75
7 6 6 45 31 31 113 73 76
7 7 7 67 44 45 114 74 77
9 8 8 69 45 46 116 74 78
11 9 9 75 49 51 125 80 83
11 9 9 78 51 53 126 81 84
13 11 11 79 51 53 129 82 86
14 11 11 80 52 54 133 85 89
16 12 12 80 52 55 133 85 89
17 13 13 81 53 55 135 86 90
19 14 14 83 54 56 136 87 91
21 16 16 87 57 59 137 88 92
23 17 17 88 57 59 138 88 93
23 18 18 91 59 62 140 89 94
25 18 18 92 60 63 141 90 94
28 21 21 93 60 63 142 90 95
29 21 21 95 61 64 144 92 96
31 23 23 95 62 65 148 94 99
2.3 Ueber das Sehn und die Farben
Ueber das Sehn und die Farben. Leipzig 21854 [= 1854].

1854 Fr 1 Hü 1 De 6 ZA / Lü 3 Lö 3 Gr 6 Ins 3 Bib 1 St 12 Kö 1 Br 1


III III III 117 / 635 193 9 675 135 7 153 291
VI VII VI 120 / 638 196 12 678 138 10 155 293
1 1 1 125 / 641 197 15 681 139 11 157 299
7 7 7 131 / 647 204 21 687 144 17 163 304
21 21 21 145 / 661 219 35 702 155 30 175 315
24 24 24 148 / 664 222 38 704 158 33 177 317
24 24 24 148 / 664 222 38 705 158 33 178 317
25 25 25 149 / 666 224 39 706 159 34 179 318
35 35 35 159 / 676 234 50 717 167 44 188 326
36 37 37 160 / 677 236 51 718 168 45 189 327
38 38 38 162 / 679 238 53 720 170 47 190 329
41 41 41 165 / 682 241 56 723 172 50 193 331
42 42 42 166 / 683 242 57 724 173 51 194 332
50 51 51 174 / 692 252 66 734 180 60 202 339
60 62 62 184 / 702 263 77 745 189 69 211 347
62 63 63 186 / 703 264 78 746 191 71 212 348
64 66 66 188 / 706 268 82 750 193 74 215 350
77 80 80 201 / 719 283 95 764 204 87 227 361
86 93 93 210 / 728 297 109 779 215 100 238 371
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben
455
2.4 Theoria colorum physiologica
456

Commentatio undecima exponens Theoriam Colorum Physiologicam eandemque primariam. Leipzig 1830 [= 1830].

Die Angaben in Klammern für die Ausgaben Hü und De verweisen auf die deutsche Übersetzung.

1830 Fr 1 Hü 1 (7) De 6 (6) ZA / Lü / Lö / Gr 6 Ins / Bib 1 St 12 Kö 1 Br 1


3 1 1 (184) 59 (506) / / / 113 / 219 103 241 375
V Hilfsmittel

7 6 6 (186) 63 (510) / / / 117 / 222 107 244 378


15 14 14 (190) 70 (516) / / / 125 / 229 114 251 384
20 18 18 (192) 74 (519) / / / 129 / 232 118 254 387
26 25 25 (196) 81 (524) / / / 137 / 238 125 261 392
29 28 28 (198) 84 (526) / / / 141 / 241 128 263 394
32 31 31 (199) 86 (528) / / / 143 / 243 130 265 396
38 37 37 (203) 93 (533) / / / 150 / 248 136 271 401
49 47 47 (208) 103 (541) / / / 161 / 256 146 279 408
51 50 50 (209) 105 (543) / / / 163 / 258 148 281 410
56 55 55 (212) 110 (546) / / / 168 / 262 152 285 414
58 58 58 (213) 112 (547) / / / 171 / 265 155 288 416
2.5 Ueber den Willen in der Natur
Ueber den Willen in der Natur. Frankfurt a. M. 1836 [= 1836].
Ueber den Willen in der Natur. Frankfurt a. M. 21854 [= 1854].

1836 1854 Fr 4 Hü 4 De 3 ZA 5 Lü 3 Lö 3 Gr 3 Ins 3 Bib 6 St 6 Kö 5 Br 4


/ III IX IX 271 183 171 301 181 183 I 217 7 11
/ XII XIX XIX 280 191 178 309/10 189 191 IX 225 14 18
/ XXI XXIX XXIX 289 200 186 319 198 200 XVIII 232 21 24
1 1 1 1 293 201 189 320 201 203 1 235 23 27
11 9 9 9 301 209 197 328 209 211 7 243 31 33
27 21 21 21 313 221 209 341 221 224 18 255 42 42
40 33 34 34 325 233 221 355 233 236 28 266 53 52
52 43 45 45 335 244 231 367 244 248 37 276 62 61
63 55 59 59 347 256 244 381 257 261 48 288 73 72
70 63 69 69 355 265 252 391 267 271 56 297 82 79
81 74 80 80 366 276 263 403 277 282 64 307 91 88
97 88 95 95 380 290 277 419 292 297 76 320 103 99
99 91 99 99 383 294 280 423 295 300 79 323 105 102
110 102 112 112 394 307 291 438 308 314 89 335 117 112
126 117 128 128 409 325 305 459 324 330 102 350 130 125
135 128 140 140 420 336 315 472 336 342 112 361 140 135
139 133 145 145 425 341 320 478 341 347 116 365 144 139
141 135 147 147 427 342 321 479 343 349 117 367 145 140
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben
457
2.6 »Preisschrift über die Freiheit des Willens«
458

Die beiden Grundprobleme der Ethik. Frankfurt a. M. 1841 (darin als erster Teil: »Ueber die Freiheit des menschlichen Willens«) [= 1841].
Die beiden Grundprobleme der Ethik. Leipzig 21860 [= 1860].

1841 1860 Fr 4 Hü 4 De 3 ZA 6 Lü 3 Lö 3 Gr 3 Ins 3 Bib 6 St 7 Kö 5 Br 4


V VII V V 433 7 327 483 349 355 123 7 149 143
XVII XVIII XVI XVI 444 16 336 493 358 364 132 16 157 150
V Hilfsmittel

XXIV XXV XXIII XXIII 451 22 342 499/500 364 371 138 21 162 155
XXXII XXXII XXX XXX 458 28/9 348 506 370 377 144 27 167 159
/ XLI XXXIX XXXIX 467 36 355 514 377 384 151 33 174 165
/ XLIV XLII XLII 470 39 358 517 380 387 154 36 176 167
3 3 3 3 473 43 361 521 383 391 155 39 177 171
14 14 14 14 484 53 372 532 393 401 164 48 186 179
27 26 26 26 496 65 384 544 405 413 174 60 196 188
40 38 38 38 508 77 396 557 417 426 184 71/2 207 197
51 50 50 50 520 89 408 570 429 439 194 83 218 206
64 63 63 63 533 102 421 583 442 452 204 95 228 217
73 74 74 74 544 115 432 598 453 464 213/4 106 238 225
88 90 90 90 560 131 446 615 469 579 226 120 251 238
97 98 98 98 568 139 454 624 477 488 234 128 259 245
/ 102 102 102 572 142 458 627 481 492 237 132 262 247
2.7 »Preisschrift über die Grundlage der Moral«
Die beiden Grundprobleme der Ethik. Frankfurt a. M. 1841 (darin als zweiter Teil: »Ueber das Fundament der Moral«) [= 1841].
Die beiden Grundprobleme der Ethik. Leipzig 21860 [= 1860].

1841 1860 Fr 4 Hü 4 De 3 ZA 6 Lü 3 Lö 3 Gr 3 Ins 3 Bib 6 St 7 Kö 5 Br 4


103 105 105 105 575 145 461 631 485 495 237 135 263 251
105 107 107 107 577 147 463 632 487 497 238 137 265 253
110 111 111 111 581 151 467 637 491 501 242 141 269 256
116 117 117 117 587 157 473 642 497 506 247 146 273 261
119 120 120 120 590 160 476 645 500 509 249 149 276 263
126 126 126 126 596 166 482 652 506 516 254 155 282 268
129 129 129 129 599 168 485 655 509 519 257 157 284 270
142 141 141 141 611 180 497 668 521 531 267 169 295 279
154 151 151 151 621 191 508 679 532 543 276 180 305 287
156 154 154 154 624 195 511 683 535 546 278 183 308 290
163 160 160 160 630 201 517 689 541 552 283 188 313 294
172 169 169 169 639 210 526 698 550 561 291 197 321 301
178 174 174 174 644 214 531 704 556 567 295 202 325 305
/ 178 178 178 648 218 535 708 560 571 298 205 329 308
182 179 179 179 649 220 536 710 561 572 300 207 330 309
188 185 185 185 655 225 541 715 566 577 303 211 334 313
189 186 186 186 656 226 542 716 567 578 304 212 335 314
199 196 196 196 666 235 552 727 577 588 312 221 344 321
206 203 203 203 673 242 559 734 584 596 318 228 350 327
208 205 205 205 675 244 561 737 586 598 320 230 352 328
216 212 212 212 682 252 569 744 593 606 326 237 359 334
230 226 226 226 696 266 583 759 607 620 338 251 371 345
235 231 231 231 701 270 588 764 612 625 342 255 375 348
253 249 249 249 719 290 606 786 631 645 357 273 391 363
263 260 260 260 730 301 617 797 641 656 365 283 400 371
266 264 264 264 734 305 621 802 645 660 368 287 404 374
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben

278 275 275 275 745 315 631 813 655 671 377 297 413 382
459
3. Parerga und Paralipomena
460

Parerga und Paralipomena. Berlin 1851 [= 1851].


Parerga und Paralipomena. Hg. von Julius Frauenstädt. Berlin 21862 [= Fr 1862].

3.1 Parerga und Paralipomena I


V Hilfsmittel

1851 Fr 1862 Fr 5 Hü 5 De 4 ZA 7/8 Lü 4 Lö 4 Gr 4 Ins 4 Bib 4 St 8/9 Kö 6 Br 5


III III V VII 3 7 5 7 11 11 V 7 5 6
3 3 3 3 9 11 11 11 15 15 3 9 9 13
15 17 17 17 23 25 23 27 29 30 15 22 21 24
31 35 35 35 41 43 39 45 47 49 30 37 37 39
45 51 51 51 57 59 54 63 63 66 44 52 51 51
58 65 65 65 72 74 67 79/80 78 81 56 66 64/5 62/3
63 70 69 69 77 78 72 85 83 86 60 71 69 65/6
74 85 84 84 92 93 83 101 98 102 72 85 82 77
91 104 103 102 111 111 101 120/1 116/7 121/2 88 103 98 92
101 115 114 113 122 122 111 133 128/9 134 97 114 109 101
112 127 126 125 134 133 122 146 141 147/8 107/8 125/6 120 111
121 141 140 138 148 147 131 162 155 162 119 138 132 122
131 151 151 149 159 157 141 173 165 173 127 145 141 131
134 154 154 152 162 160 144 177 168 176 130 148 144 133/4
147 169 169 166 177 175 157 193 183 191 142 162 156/7 145
156 179 179 176 187 185 167 204 193 203 151 172 165/6 152/3
165 187 187 185 196 193 175 214 202 212/3 158 180 173 159
178 202 201/2 199 210 207 189 229/30 217 228 170 194 186 170
191 215 215 213 225 221 203 245 231 243 183 205 199 181
200 226 226 224 237 232 212 258 242 254/5 192/3 215/6 208 189/90
212 238 238 237 250 245 224 272 255 269 203 228 220 199
215 241 241 241 253 249 227 275 259 273 207 9, 7 223 203
229 255 255 255 268 263 241 289 274 288 219 21 235/6 214
238 265 265 265 277/8 272 250 301 283/4 299 228 30 244 221/2
247 277 277 277 290 284 260 314 296 312 238 42 255 231
263 294 294 294 307 300 276 333 313 330/1 252 58/9 270/1 244
1851 Fr 1862 Fr 5 Hü 5 De 4 ZA 7/8 Lü 4 Lö 4 Gr 4 Ins 4 Bib 4 St 8/9 Kö 6 Br 5
279 310/1 310/1 311 324 317 293 351 330 349 266/7 74/75 285 257
289 321 321 321 335 327 303 363 341 360 275 85 295 265
296 328 329 329 344 335 310 372 349 369 282 92 302 271
299 331 331 333 347 8, 343 313 375 353 373 285 93 305 275
301 333 333 335 349 345 315 377 355 374 286 94 306 277
308 341 341 343 357 353 322 385 363 382/3 293 102 313 284
315/6 349 349 351 366 362 330 395 372 392 301 110 321 290/1
328 365 365 367 382 378 343 412 388 408 314 125 334 303
335 373 373 375 390 386 350 420 396 415/6 320 132 341 309
351 390 390 392 408 403 366 439/40 414 434 335 148/9 356 322
358 399 399 401 416 411 373 449 422 442 341/2 156 363 329
367 410 410 411 426 421 382 460 432 453 350 165/6 372 338
376 420 420 421 436 431 391 471 442 464 358/9 175 381 346
386 430 430 431 447 441 402 482 453 474/5 367 184/5 389 354
394 439 439 440 457 451 411 493 463 484 375 194 398 361
406 454 454 455 471 465 422 509/10 477 500 387/8 207/8 411 373
412 461 461 462 479 473 428 518 485 507 393 214 417 378
421 472 472 473 491 484 438 531 496 519/20 403 225 427 387
422 473 473 475 492 485 439 532 498 521/2 404/5 226/7 428/9 388/9
429 483 483 484 502 495 446 542 507 532 412 236 437 396
435 491 491 492 511 503 452 551 516 540/1 419 243/4 444 402
449 508 508 508 527 519 467 568 532 557 432/3 258/9 458 415
456 517 517 517 536 528 474 578 541 567 440 267 466 422
463 527 527 527 547 537 481 589 551 577 448/9 276/7 475 429
465 530 530 530 550 540 483 592 554 580 451 279 477 431
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben
461
3.2 Parerga und Paralipomena II
462

1851 Fr 1862 Fr 6 Hü 6 De 5 ZA 9/10 Lü 5 Lö 5 Gr 5 Ins 5 Bib 5 St 10/11 Kö 7/8 Br 6


3 3 3 3 7 9 9 9 9 13 3 7 9 9
11 12 12 12 16 18 18 19 18 22 11 16 17 16
20 22 22 22 26 28 27 29 28 32 18 25 25 25
32 35 35 35 39 41 39 43 41 45 29 36 36 35
V Hilfsmittel

41 46 46 47 51 52 48 56 52 56 38 47 46 43
47 54 54 54 59 60 55 63/4 62 67 44/5 54 53 50
60 71 70 70 75 77 69 82 79 84/5 58 70 67 63/4
65 79 79 78 83 85 75 90/1 87 93/4 66 77 74 71
74 89 89 88 92 95 83 101 97 104 74 87 83 79
77 97 96 96 97 102 87 109 102 108 79 93 89 85
84 105 104 105 106 111 95 119 111 116 86 100 96 92
87 109 108 109 110 115 98 123 115 120 89 103 99 95
95 122/3 121/2 122 123 128 106 137 128 135 100 116 111 106
101 138 137 137 138 143 113 154 142 150 112 129 123 119
106 143/4 143 142 144 148 118 160 148 156 116 134 128 123
118 159 158/9 158 160 163 131 177 163 172 129 149 142 136
132 178 177 176 179 181 145 197 182 192 144 166/7 158/9 150/1
143 190 190 189 194 194 157 211 195 205 154 178 169 162
154 201 201 200 205 205 168 223 201 211 163 183 179 171
168 215 215 214 220 219 182 238 205 215 175 186 182 182
176 224 224 223 229 228 190 248 214 225 183 195 190 189
184 234 234 233 240 239 198 259/60 224 235 191 205 199 197
191 242 242 241/2 248 247 205 269 233 244 198 213 206 204
203 256 256 256 263 261 218 284 247 259 209 226 219 215
212 266 266 266 273 271 227 295 257 270 217 236 228 223
219 275 275 275 283 280 235 306 266 280 225 245 236 230
228 284 284 284 292 290 244 316 276 289 232 253 244 238
241 303 303 301 308 307 258 334 294 307 246 269 259 253
247 312 312 309 317 316 264 343 303 315 253 276 266 260
257 328 328 325 332 332 275 361 320 332 267 291 280 273
260 334 334 331 338 339 278 368 326 338 271 297 285 278
268 344 344 242 349 351 286 381 337 350 280 308 296 286
1851 Fr 1862 Fr 6 Hü 6 De 5 ZA 9/10 Lü 5 Lö 5 Gr 5 Ins 5 Bib 5 St 10/11 Kö 7/8 Br 6
269 347 347 343 350 10, 359 287 382 338 350 281 11, 7 296 288
276 354 354 350 358 367 294 390 346 358 288 14 303 294
287/8 367 367 364 372 380 306 405 359 372 298 26/7 314 304
296 376 376 373 380 388 314 415 367/8 381 305 35 322 311
304 387 387 383 391 398 322 426 378 393 314 45 331 320
309 394 394 390 399 406 328 434/5 386 400 320 52 338 326
313 405 405 402 411 417 332 447 397 412 329 62 347/8 334/5
327 425 425 420 430 435 346 467 416 432 344 79 364 350
333 435 435 429 440 444 352 477 426 441 351 87 372 357
336 439 439 434 445 449 355 482 431 445 354 91 375 361
343 447 447 442 453 457 362 490 439 453 360 98 382 367
352 456 456 451 463 466 371 500 449 463 368 107 390 375
363 469 469 464 475 479 384 514 461 477 379 119 401/2 385
376 486 486 482 494 497 398 533 479 495 393 135 417 400
386 497/8 497/8 494 505 509 409 546 491 507 403/4 147 427/8 410
401 513 513 509 521 524 424 563 506 523 416 161 440 422
411 526 526 521 534 537 435 577 519 535 426 172 451 433
420 536 536 532 545 548 445 589 530 546 435 182 460 442
432 552 552 550 564 566 458 608/9 548 565 449 200 477 455/6
440 564 564 564 578 579 466 624 563 580 459 212 489 465
443 569 569 571 586 586 469 632 567/8 585 463 217 493 468/9
453 587 587 588 613 603 480 651 585 603 477 232 507 483
460 599 599 599 624 614 487 663 596 615 486 242 517 493
469 616 616 615 641 631 496 681 613 632 501 258 531 507
476 625 625 624 650 640 505 691 622 642 509 267 540 515
485 634 634 634 660 651 515 701/2 632 652 516/7 276 548 523
495 649 649 650 676 667 527 719 648 668 529 291 562 536
502 663 663 664 690 682 536 736 662 682 541 303 574 548
503 670 670 671 697 689 543 744 669 689 546 310 579 554
517 678 678 679 706 697 551 753 678 697 553 317 587 561
520 683 683 684 711 702 554 758 683 702 557 321 590 565
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben

526 690 690 692 718 710 561 766 690 709 563 328 597 571
531 696 696 698 724 717 567 773 696 716 569 335 602 576
463
464 V Hilfsmittel

4. Vorlesungen
Philosophische Vorlesungen. Hg. von Volker Spierling. München 1984–1986 (Zweite Auflage: 1987–1990) [Sp].

Hinweis zur Nutzung: Aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung des Drucks kann es hin und wieder gering-
fügige Abweichungen geben. Besonders problematisch ist in dieser Hinsicht der erste Band der Vorlesungen
(»Theorie des gesammten Vorstellens«). Große ›Sprünge‹ (u. a. durch Leer- und Titelseiten bei der Deussen-Aus-
gabe) sind hier fett markiert; ab Zeile 87 I 69 konnte der Vergleich auch hier wie üblich durchgeführt werden.

4.1 »Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens«

4.2 »Metaphysik der Natur«

4.3 »Metaphysik des Schönen«

4.4 »Metaphysik der Sitten«

4.1 4.2 4.3 4.4


Sp 1 De 9 Sp 2 De 10 Sp 3 De 10 Sp 4 De 10

37 7 55 15 37 175 57 367
47 18 61 20 41 178 60 370
53 24 70 28 42 180 66 377
54–60 / 78 37/8 51 188 74 385
62 29 83 42/3 54 191 77 387
64 31 88 48 59 196 90 400
64 35 96 55 64 201 102 412
65 36 99 57 67 203 108 419
65 39 104 62 86 223 110 420
67 40 107 65 90 227 121 431/2
67 43 116 74 102 238 135 444
70 46 122 83 116 253 144 454
71 46 129 89 123 259 156 466
82 57 137 97/8 144 279 164 475
83 58 145 105 148 283 172 483
87 69 152 113 155 290 179 488
95 79 158 119 165 300 194 503
105 89 163 124 169 304 207 517
115 99 169 130 181 316 213 523
126 113 175 136 200 334 220 530
134 120 181 142 214 349 227 537
141 127 187 147 228 364 248 559
150 136 191 150/1 256 567
156 142 200 160 266 577
160 145/6 208 167 271 582
165 150/1 212 171 273 584
170 156
175 161
185 171
195 180/1
56  Seitenkonkordanzen für die Werkausgaben 465

4.1 4.2 4.3 4.4


Sp 1 De 9 Sp 2 De 10 Sp 3 De 10 Sp 4 De 10

205 190
215 200
221 205
229 213
240 223/4
246 230
251 234
259 242
269 252
276 260
286 269
296 279
301 284
311 293/4
321 303
331 315
341 325
349 333
359 343
369 351/2
374 356
381 363
385 366
390 372
397 379
401 382/3
410 391/2
418 399
427 409
437 417
442 421
450 429/30
460 439/40
470 450
479 459
489 469
498 478
508 488/9
518 498
527 507
535 515
545 524/5
555 534
560 540
568 548
572 551
466 V Hilfsmittel

5.2 Reisetagebücher 1803–1804


5. Reisetagebücher
Reisetagebücher aus den Jahren 1803–1804. Hg. von
5.1 Journal einer Reise (1800) Charlotte von Gwinner. Leipzig 1923 [Gw].
Die Reisetagebücher. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zü- Lü Gw
rich 1988 [Lü].  47 19/20
»Journal einer Reise aus dem Jahre 1800«, in: Wil-  57 33/4
helm Gwinner: Arthur Schopenhauer aus persönli-
 67 47/8
chem Umgang dargestellt.  Hg. von Charlotte von
 77 61/2
Gwinner. Leipzig 1922, 209–260 [Gw].
 87 74/5
Lü Gw  97 89
 9 211/2 107 102/3
19 225/6 117 116/7
29 239/40 127 130/1
39 253/4 137 144/5
43 259/60 147 158/9
157 172/3
167 186/7
177 200/1
187 213/4
197 227/8
207 241
217 255/6
227 269/70
237 282/3
247 296/7
257 310
259 312

Stefan Kirschke
VI Anhang
Zitierweise

Die Werke Arthur Schopenhauers werden nach folgenden Arthur Schopenhauer: Der Handschriftliche Nachlaß. Hg.
Ausgaben zitiert: von Arthur Hübscher. 5 Bde. in 6. Frankfurt a. M.: Verlag W.
Kramer 1966–1975. Taschenausgabe (band- und seiten-
Arthur Schopenhauer. Sämtliche Werke. Hg. von Arthur gleich) München: dtv 1985.
Hübscher. 7 Bde. Mannheim: F. A. Brockhaus 41988. HN I  Die frühen Manuskripte 1804–1818 (Bd. I)
G  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden HN II  Kritische Auseinandersetzungen 1809–1818 (Bd. II)
Grunde, zweite Auflage 1847 (Bd. I: Schriften zur Erkennt- HN III  Berliner Manuskripte 1818–1830 (Bd. III)
nislehre) HN IV (1)  Die Manuskripte der Jahre 1830–1852 (Bd. IV.1)
F  Ueber das Sehn und die Farben (Bd. I: Schriften zur HN IV (2)  Letzte Manuskripte/Graciáns Handorakel
Erkenntnislehre) (Bd. IV.2)
W I  Die Welt als Wille und Vorstellung I (Bd. II) HN V  Arthur Schopenhauers Randschriften zu Büchern
W II  Die Welt als Wille und Vorstellung II (Bd. III) (Bd. V)
N  Ueber den Willen in der Natur (Bd. IV [I])
E  Die beiden Grundprobleme der Ethik: »Ueber die Freiheit Arthur Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen. Hg. von
des menschlichen Willens«, »Ueber das Fundament der Volker Spierling. 4 Bde. München: Piper 1984–1986.
Moral« (Bd. IV [II]) VN I  Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und
P I  Parerga und Paralipomena I (Bd. V) Erkennens, 1. Theil (Bd. I)
P II  Parerga und Paralipomena II (Bd. VI) VN II  Metaphysik der Natur. Vorlesung über die gesammte
Diss  Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichen- Philosophie, 2. Theil (Bd. II)
den Grunde, Dissertation 1813 (Bd. VII) VN III  Metaphysik des Schönen. Vorlesung über die
Werden diese Werke nach anderen Ausgaben zitiert, so ist gesammte Philosophie, 3. Theil (Bd. III)
nach der Seitenangabe eine entsprechende Kennzeichnung VN IV  Metaphysik der Sitten. Vorlesung über die
angegeben: (Lö) für die Ausgabe von Wolfgang Frhr. von gesammte Philosophie, 4. Theil (Bd. IV)
Löhneysen, (Lü) für die Ausgabe von Ludger Lütkehaus, Werden Schopenhauers Vorlesungen nach der Ausgabe von
(ZA) für die »Zürcher Ausgabe« oder (De) für die Ausgabe Paul Deussen (Bd. IX und X) zitiert, so steht nach der Seiten­
von Paul Deussen, s. auch Kap. 53 und 56. angabe die Kennzeichnung (De).

Die erste Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung wird GBr  Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe. Hg. von
zitiert nach: Arthur Hübscher. Bonn: Bouvier 21987.
W 1  Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstel- BrW  Arthur Schopenhauer: Briefwechsel 1799–1860. In:
lung. Faksimiledruck der ersten Auflage 1818 (1819). Hg. Schopenhauer im Kontext III. Werke, Vorlesungen, Nach-
von Rudolf Malter. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1987. lass und Briefwechsel auf CD-ROM (= Literatur im Kontext
auf CD-ROM, Bd. 31). Berlin: Worm 2008.
Gespr  Arthur Schopenhauer: Gespräche. Hg. von Arthur
Hübscher. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog
21971.
Autorinnen und Autoren

Matteo Vincenzo d’Alfonso, Professor für Geschichte nischen Philosophie (Storia della filosofia italiana)
der Philosophie am Dipartimento di Studi Uma- am Dipartimento di Studi Umanistici der Univer-
nistici der Università degli studi di Ferrara, Italien sità del Salento, Lecce (IV. D.49 Italien).
(II.4 Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zu- Friedhelm Decher, Professor am Philosophischen
reichenden Grunde; II.9.7 Der zweite Band der Par- Seminar der Universität Siegen (II.6.4 Metaphy-
erga und Paralipomena). sik).
Konstantin Alogas, Dr., freier Lektor (II.9.2 »Frag- Søren R. Fauth, Professor am Institut for Kommuni-
mente zur Geschichte der Philosophie«). kation og Kultur der Universität Århus (III.24 Ro-
Urs App, Professor em. für Buddhismus an der Hana- mantik; IV. C.45 Literatur, zus. mit Børge Kristian-
zono Universität in Kyoto, Senior Research Fellow sen).
an der École Française d’Extrême-Orient, Paris Domenico M. Fazio, Professor am Dipartimento di
(III.11 Asiatische Philosophien und Religionen). Studi Umanistici der Università del Salento, Lecce
Stephan Atzert, Dr., Senior Lecturer in German an (II.10.4 Briefe, zus. mit Matthias Koßler; IV. A.27
der University of Queensland, Australien (II.9.4 Die ›Schopenhauer-Schule‹).
»Transscendente Spekulation über die anschei- Arnaud François, Dr., Professor an der Universität
nende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzel- Poitiers (IV. A.33 Henri Bergson; IV. D.51 Frank-
nen«). reich).
Damir Barbarić, Professor am Institut za filozofiju an Michael Gerhard, M. A., Wissenschaftlicher Mit-
der Universität Zagreb (II.9.5 »Versuch über das arbeiter am Philosophischen Seminar der Johan-
Geistersehn und was damit zusammenhängt«). nes Gutenberg-Universität Mainz (IV. D.52 In-
Dieter Birnbacher, Professor i. R. für Philosophie an dien).
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (II.6.3 Günter Gödde, Dr., Psychotherapeut in eigener Pra-
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie; II.8 Die xis, Dozent, Supervisor, Lehrtherapeut und Aus-
beiden Grundprobleme der Ethik; IV. B.44 Tier- bildungsleiter in der Psychotherapeutenausbildung
ethik). an der Berliner Akademie für Psychotherapie und
Olaf Breidbach †, war Professor am Institut für Ge- an der Psychologischen Hochschule Berlin
schichte der Medizin, Naturwissenschaft und (IV. A.31 Sigmund Freud).
Technik der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dirk Göhmann, Dr., lebt in Zürich und ist in der Soft-
(II.5 Ueber das Sehn und die Farben). warebranche tätig (IV. B.43 Neurophilosophie).
Jürgen Brunner, Dr., Facharzt für Psychiatrie und Oliver Hallich, Professor am Institut für Philosophie
Psychotherapie in eigener Praxis in München der Universität Duisburg-Essen (II.6.6 Ethik).
(III.23 Medizin: Naturphilosophie und Experi- Heinz Gerd Ingenkamp, Professor i. R. am Institut für
mentalphysiologie). Klassische und Romanische Philologie der Univer-
Christa Buschendorf, Professorin i. R. für Amerika- sität Bonn (II.9.6 »Aphorismen zur Lebensweis-
nistik am Institut für England- und Amerika­ heit«; III.12 Platon).
studien der Goethe-Universität Frankfurt am Michael Jeske, Dr., Lehrbeauftragter am Institut für
Main (IV. D.48 USA). Philosophie der Goethe-Universität in Frankfurt
Elena Cantarino, Dr., Dozentin am Departamento de am Main (IV. A.25 Ludwig Feuerbach; IV. B.42 Kri-
Filosofía der Universitat de València (II.10.5 Die tische Theorie).
Übersetzung von Graciáns Handorakel). Yasuo Kamata, Professor em. an der Kwansei Ga-
Fabio Ciracì, Professor für Geschichte der italie- kuin University, Nishinomiya, Japan (II.10.1 Der
470 VI Anhang

handschriftliche Nachlass und der junge Scho- Alessandro Novembre, Dr., Università del Salento,
penhauer). Lecce (III.20 Johann Gottlieb Fichte).
Stefan Kirschke, Studentische Hilfskraft am Lehr- Valentin Pluder, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter
stuhl für Systematische Theologie der Ernst-Mo- am Philosophischen Seminar der Universität Sie-
ritz-Arndt-Universität Greifswald (V.56 Seiten- gen (II.9.1 »Skitze einer Geschichte der Lehre vom
konkordanzen für die Werkausgaben). Idealen und Realen«; III.18 Jakob Friedrich Fries,
Sarah Kohl, Dr., freie Lektorin (IV. A.29 Wilhelm Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jacobi).
Dilthey, zus. mit Daniel Schubbe; IV. A.32 Georg Thomas Regehly, Dr., Archivar der Schopenhauer-
Simmel). Gesellschaft e. V., Dozent an der Jüdischen Volks-
Martina Koniczek, M. A., wissenschaftliche Doku- hochschule in Frankfurt am Main (II.10.3 Die Ber-
mentarin/Information Specialist beim ZDF liner Vorlesungen: Schopenhauer als Dozent).
(IV. C.46 Bildende Kunst). Theda Rehbock, Professorin für Ethik an der Evan-
Matthias Koßler, Professor am Philosophischen Se- gelischen Hochschule RWL in Bochum, apl. Pro-
minar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz fessorin am Institut für Philosophie der TU Dres-
(II.6.1 Zur Entwicklung des Hauptwerks, zus. mit den (III.19 Johann Wolfgang von Goethe).
Maurizio Morini; II.9.3 »Ueber die Universitäts- Margit Ruffing, Dr., Akademische Oberrätin am Phi-
Philosophie«; II.10.4 Briefe, zus. mit Domenico M. losophischen Seminar der Universität Mainz
Fazio; III.13 Philosophie des Mittelalters; III.17 (II.6.7 »Kritik der Kantischen Philosophie«; III.17
Immanuel Kant, zus. mit Margit Ruffing; III.21 Immanuel Kant, zus. mit Matthias Koßler).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Brigitte Scheer, Professorin pens. am Institut für Phi-
Børge Kristiansen, Professor em. für Literatur der losophie der Goethe-Universität Frankfurt am
Københavns Universitet (IV. C.45 Literatur, zus. Main (II.6.5 Ästhetik).
mit Søren R. Fauth). Daniel Schmicking, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbei-
Jens Lemanski, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter ter am Studium generale der Johannes Gutenberg-
am Institut für Philosophie der FernUniversität in Universität Mainz (IV. B.37 Phänomenologie).
Hagen (II.6.2 Konzeptionelle Probleme und Inter- Daniel Schubbe, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter
pretationsansätze der Welt als Wille und Vorstel- an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaf-
lung, zus. mit Daniel Schubbe; II.10.2 Logik und ten der FernUniversität in Hagen (II.6.2 Konzep-
»Eristische Dialektik«; III.14 Christentum und tionelle Probleme und Interpretationsansätze der
Mystik; IV. B.35 Geometrie; IV. B.36 Evolutions- Welt als Wille und Vorstellung, zus. mit Jens Le-
theorie). manski; IV. A.29 Wilhelm Dilthey, zus. mit Sarah
Martin Liebscher, Dr., Principal Research Associate Kohl; IV. B.39 Existenzphilosophie; IV. B.40 Her-
am Department of German des University College meneutik).
London (IV. A.34 Carl Gustav Jung). Ortrun Schulz, Dr., Philosophische Beraterin (III.16
Martin Morgenstern, Dr., philosophischer Autor Baruch de Spinoza).
(II.7 Ueber den Willen in der Natur). Philipp Schwab, Juniorprofessor für Klassische deut-
Maurizio Morini, Dr., Gymnasiallehrer, Macerata sche Philosophie und ihre Rezeption am Philoso-
(II.6.1 Zur Entwicklung des Hauptwerks, zus. mit phischen Seminar der Universität Freiburg
Matthias Koßler). (IV. A.26 Søren Kierkegaard).
Winfried H. Müller-Seyfarth, Dr., Autor und Heraus- Sebastian Schwenzfeuer, PD Dr., Privatdozent am
geber (IV. A.28 Voluntarismus im Anschluss an Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-
Schopenhauer: Philipp Mainländer, Julius Bahn- Universität Freiburg (III.22 Friedrich Wilhelm Jo-
sen, Eduard von Hartmann). seph Schelling).
Gabriele Neuhäuser, PD Dr., Wissenschaftliche Mit- Wolfgang Weimer, Dr., pensionierter Gymnasialleh-
arbeiterin am Institut für Philosophie der Univer- rer für Philosophie und Geschichte (IV. B.38 Ana-
sität Koblenz-Landau, Campus Landau (IV. B.41 lytische Philosophie).
Anthropologie). David Woods, Dr., Teaching Fellow am Department
Barbara Neymeyr, Professorin für Neuere Deutsche of Philosophy der University of Warwick (IV. D.50
Literatur an der Alpen-Adria-Universität Klagen- Großbritannien).
furt (IV. A.30 Friedrich Nietzsche).
Autorinnen und Autoren 471

Robert Zimmer, Dr., freier Autor und Publizist (I.1 Günter Zöller, Professor für Philosophie an der Fa-
Die Familie Schopenhauer; I.2 ›Europäische Erzie- kultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und
hung‹ und das Leiden an der Welt; I.3 Akademi- Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-
sche Karriere und das Verhältnis zur akademi- Universität München (IV. C.47 Musik).
schen Philosophie; III.15 Moralistik).
Personenregister

A B Bichat, Marie François Xavier  250–


Abaelard, Petrus  196 Baader, Franz von  278 254, 378, 432
Adam, Karl Dietrich  336, 339 Bach, Sebastian  419 Bierce, Ambrose  392
Adams, Brooks  415 Bacon, Francis  45 Birnbacher, Dieter  366, 401
Adams, Henry  415 Bacon, Roger  196 Bjørnson, Bjørnstjerne  395
Addison, Joseph  208 Bahnsen, Julius  180, 239, 278–280, Blake, William  256, 259
Adler, Alfred  308 285–287, 332, 422 Blaserna, Piero  419
Adler, Viktor  306 Bähr, Carl Georg  180, 238, 278–279 Blavatsky, Helena  191, 420
Adorno, Theodor W.  136–137, 267, Bang, Herman  394 Blésimaire, Grégoire de  4
370, 372, 398 Baptist, Peter  334 Bloch, Ernst  238–240, 372–373
Ailly, Petrus  196 Baratynskij, Evgenij A.  256 Blumenbach, Johann Friedrich  13–15,
Albertus Magnus  196–197 Barbera, Sandro  320, 422 33, 157, 248, 338
Alexander von Hales  196 Barlach, Ernst  395 Böcklin, Arnold  394
Alexis, Paul  433 Barrès, Maurice  432 Bode, Johann Elert  14
Alfieri, Vittorio  256 Barthez, Paul-Joseph  249 Boeckh, August  14–15, 173, 359
Amalrich von Bena  196 Barua, Arati  439 Böhme, Jakob  72, 103, 242
Amelot de la Houssaie  181 Barzellotti, Giacomo  419 Bois-Reymond, Emil du  227, 325–326
Amendola, Giovanni  420–421 Bataille, Georges  320 Bolin, Andreas Wilhelm  265, 268
Amiel, Henri-Frédéric  389 Baudelaire, Charles  394, 403, 433 Bolzano, Bernard  162
Anaxagoras 125 Baum, Günther  224, 401 Bonaventura  196, 258–259
Andreas-Salomé, Lou  306 Baumgarten, Alexander Gottlieb  24 Booms, Martin  45–46, 49
Andrejew, Leonid  392 Beauvoir, Simone de  343 Bordeaux, Raymond  431
Andrejewskij, Sergej A.  392 Becker, Aloys  306 Bordeu, Théophile de  249, 251
Angelus Silesius  204 Becker, Johann August  47–48, 180, Borges, Jorge Luis  389
Anquetil-Duperron, Abraham ­ 277, 331–333 Borinski, Karl  182
Hyacinthe  145, 186–187 Beckett, Samuel  392–393, 434 Born, Jürgen  398
Anscombe, Gertrude Elizabeth ­ Beckmann, Max  401 Bourdeau, Jean  432–433
Margaret 114 Beethoven, Ludwig van  146, 407 Bourget, Paul  433
Anselm von Canterbury  196 Beierwaltes, Werner  195 Bouterwek, Friedrich Ludewig  210,
Antiochos von Askalon  195 Bellini, Vincenzo  407 222
App, Urs  186 Bellow, Saul  415 Brahms, Johannes  408–410
Apuleios 146 Belyj, Andrej  392 Brandes, Georg  394–395
Archer, William  426 Bender, Hans  105 Brandis, Joachim Dietrich  104
Aristoteles  76, 106, 125, 137, 165, 167– Benn, Gottfried  395 Braun, Heinrich  306
168, 175–176, 192, 195, 198, 207, Berg, Robert Jan  47 Brentano, Clemens  256, 258
212, 222, 304, 347 Berglinger, Joseph  260 Brentano, Franz  341
Arkesilaos 195 Bergson, Henri  105, 315, 319–323, Brockhaus, Friedrich Arnold  41, 98
Aron, Raymond  343 352, 413, 427, 432–434 Brouwer, Luitzen E. J.  333–334
Aschenberg, Heidi  182 Berkeley, George  60, 120, 122–123, Brücke, Ernst  325
Asher, David  180, 278–279, 336–337 126, 215, 219, 229, 425 Brunetière, Ferdinand  388
Atwell, John  43–44 Bernet, Rudolf  344–345 Bruno, Giordano  42, 174, 197, 210
Atzert, Stephan  309 Bernhard, Peter  165 Buddha  9–11, 186–187, 189–191, 419
Auerswald, Hans von (General)  270 Bernhard, Thomas  392, 395 Buffon, Georges Louis Leclerc  253
Augustinus 200 Béziau, Jean-Yves  333–334 Bunin, Iwan  392
Auster, Paul  416 Bhaskara II.  332 Burckhardt, Georg  192
Austin, John  82 Bhattacharya, Krishnachandra  438– Burckhardt, Jakob  327
Autrum, Hansjochen  337 439 Burdeau, Auguste  432
Buridan, Johannes  196
  Personenregister 473

Burke, Edmund  75 D F
Burnouf, Eugène  190 Da Costa, Newton  333 Faggin, Giuseppe  421–422
Busch, Wilhelm  395 Damm, Oskar Friedrich  171 Faulkner, William  392, 415
Byron, George Gordon Lord  256, 259 D’Annunzio, Gabriele  419 Fechner, Gustav Theodor  57, 326
Dante Alighieri  146 Ferenczi, Sándor  308
C Dara, Shikoh  187 Fet, Afanasij  390
Cabanis, Pierre Jean Georges  100, 104, Darwin, Charles  287, 320, 336–339 Feuerbach, Bertha  270
249–250, 252–253, 374, 378, 432 Dasgupta, Surendranath  438 Feuerbach, Ludwig  131, 238, 265–270,
Calderon de la Barca, Pedro  11 Daudet, Léon  432 310, 394, 408
Camus, Albert  286, 352, 356–357, 389, David von Dinant  196 Fichte, Immanuel Hermann  425
434 De Cian, Nicoletta  48 Fichte, Johann Gottlieb  13–14, 17, 20–
Cantacuzène, Jean-Alexandre  431– Demokrit 372 22, 30, 44, 92, 114, 120, 123–124,
432 Denis, Maurice  403 129, 131, 134, 152–155, 157, 210,
Cardanus, Hieronymus  136 De Sanctis, Francesco  418 221–223, 231–236, 242–246, 256–
Carnap, Rudolf  347 Descartes, René  23, 44, 120–121, 123– 258, 265, 272, 297, 347, 387, 425, 431
Caro, Elme-Marie  432 124, 126, 176, 210–212, 229, 267, Ficino, Marsiglio  72
Carus, Carl Gustav  33 373, 375, 381 Fiorentino, Francesco  418
Castiglione, Baldassare  207, 209 Deshauterayes, Michel-Ange ­ Fischer, Ernst Gottfried  14
Céard, Henry  433 André 189–190 Fischer, Kuno  161, 289
Céline, Louis-Ferdinand  389 Deussen, Paul  21, 47, 150, 171–172, Fitzgerald, F. Scott  415
Cervantes, Miguel de  146 202, 277, 280, 419, 437–438 Flaubert, Gustave  389, 394, 398
Cézanne, Paul  403 Diderot, Denis  310 Fleiter, Michael  179
Challemel-Lacour, Paul-Armand  432 Diesterweg, Adolph  331 Flourens, Marie Jean Pierre  253–255,
Chambers, Jessie  427 Dietrich, Auguste  432, 435 378
Chamfort, Nicolas  207–209 Dilthey, Wilhelm  289–293, 352, 362 Fo (chin. Buddha)  186, 189
Chamisso, Adelbert von  256, 395 Diogenes von Sinope  137 Fontane, Theodor  395
Chateaubriand, François-René de  Dircks, Mrs. Rudolf  427 Formichi, Carlo  419
256 Döblin, Alfred  393, 395, 397–398 Fortlage, Karl  16–17, 180
Chichi, Graciela  167–168 Doesburg, Theo von  403 Foscolo, Ugo  256
Chilesotti, Oscar  419 Donatus, Aelius  24 Fosse, Jon  395
Chirico, Giorgio de  401, 404 Dönhoff, Marion Gräfin  118 Foucault, Michel  432
Chopin, Kate  415 Dorguth, Friedrich Andreas ­ Foucher de Careil, Louis-Alexan-
Churchland, Patricia  377 Ludwig  180, 265, 268, 277, 425 dre  289, 432
Cicero, Marcus Tullius  192–193 Doß, Adam von  180, 191, 277 France, Anatole  389
Clairaut, Alexis-Claude  334 Dostojewski, Fjodor  344, 389, 393, Franzen, Jonathan  416
Claudel, Paul  432 398 Frauenstädt, Julius  18, 21, 40, 150, 166,
Claudius, Johannes  10 Dreiser, Theodore  415 171–172, 180, 242, 265, 277, 279–
Claudius, Matthias  10, 153, 202–203 Driesch, Hans  105 280, 289, 332, 425, 431–432
Claussen, Sophus  394 Drobisch, Moritz Wilhelm  162, 164 Frederic, Harold  415
Cohen, Hermann  97 Druskowitz, Helene von  281 Freud, Anna  306
Coleridge, Samuel T.  256, 259 Duchamp, Marcel  404–405 Freud, Sigmund  105, 111, 132, 134,
Colli, Giorgio  422 Dührung, Eugen  285 136, 287, 306–313, 325–327, 344–
Comte, Auguste  116 Duns Scotus, Johannes  196, 198 345, 372–375, 434–435
Condillac 125 Duperron, Anquetil  11 Friedlaender, Salomo  97, 395
Conrad, Joseph  392–393 Friedrich II.  3
Constant, Benjamin  256 E Friedrich Wilhelm IV.  131
Copleston, Frederik  429 Ebner-Eschenbach, Marie von  395 Fries, Jakob Friedrich  16, 20, 221–222,
Cornelius, Hans  371 Eichendorff, Joseph von  256, 258 256
Costa, Alessandro  419 Eichstätt, Heinrich Abraham Karl  Frost, Robert  414
Costanzi, Teodorico Moretti  355 15 Fürst Lichnowsky, Felix  270
Costanzo, Jason M.  334 Eliot, George  392
Courbeville, Joseph François de  181 Eliot, T.S.  414 G
Cousin, Victor  431–432 Emden, Martin  278 Gadamer, Hans-Georg  361
Creutzer, Friedrich  16 Emerson, Ralph Waldo  413–414 Gaiser, Konrad  192
Croce, Benedetto  418–421 Empedokles  73, 125, 308 Galenos von Pergamon  161
Crusius, Christian August  24, 31 Epikur 137 Galilei, Galileo  56, 229
Cuboni, Giuseppe  419 Erdmann, Benno  332–333 Gall, Franz Joseph  251, 253–254
Cuvier, Georges Frédéric Dagobert ­ Ermann, Paul  14 Garborg, Arne  395
Baron von  101, 254, 338 Euklid  28, 175, 331, 334 Gardiner, Patrick  429
Czermak, Johann Nepomuk  325 Euler, Leonhard  161–165, 333 Garschin, Wsewolod  392
474 VI Anhang

Gauguin, Paul  403 Harris, William T.  414 Horkel, Johann  14


Gauß, Carl Friedrich  332 Hartmann, Eduard von  46, 57, 105, Horkheimer, Max  239, 280, 313, 370–
Gebhardt, Carl  179–180 136, 239, 279–280, 285–287, 392, 374, 398
Gehlen, Arnold  364–367 394, 414, 418, 422, 432 Hornstein, Robert von  269
Gentile, Giovanni  419–421 Haucke, Kai  49 Houellebecq, Michel  389, 434
Geoffroy Saint-Hilaire, Etienne  101, Hauptmann, Gerhart  395 Hübscher, Angelika  179
338 Häutler, Adolf  308 Hübscher, Arthur  21, 45, 49, 150–151,
George, Stefan  392, 395 Haydn, Joseph  146 153, 166, 171–172, 179–180, 186,
Gerhardt, Carl Immanuel  332 Haym, Rudolf  224, 289 231, 238, 242, 281, 338, 352, 422
Gersdorff, Carl von  294 Hearn, Lafcadio  414–415 Hufeland, Christoph Wilhelm  248
Giametta, Sossio  422 Hebbel, Friedrich  395 Hugo, Victor  256
Gide, André  389 Hebler, Carl  269 Hulme, T.E.  427–428
Gilbert, Ludwig Wilhelm  157 Hedgcock, F. A.  426 Humboldt, Wilhelm von  130
Gizycki, Georg von  289 Hedge, Frederic Henry  413–414 Hume, David  11, 22, 31, 51, 54, 56, 69,
Gjellerup, Karl  394–395 Heeren, Arnold Hermann Ludwig  14, 75, 80–81, 93, 100, 108, 114–115,
Gluck, Christoph Willibald von  146 186 120, 123, 265, 333, 425
Goethe, Johann Wolfgang von  4–5, 7, Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  13– Husserl, Edmund  229, 341–344, 433
11, 16, 20, 33–36, 39, 68, 137, 139– 17, 22, 30, 92, 98, 113, 120, 123–124, Hutcheson, Francis  75, 115
140, 143, 146, 180, 210, 226–230, 129–131, 134, 157, 170, 196, 221– Huxley, Aldous  392
279, 338, 394 222, 229, 238–240, 242, 256, 265, Huysmans, Joris-Karl  389, 403, 433
Gogh, Vincent van  403 272, 275, 285, 287, 290, 297, 341,
Golding, William  392 343, 347–348, 370–372, 387, 392, I
Gontscharow, Iwan  392 403, 418, 421, 425, 431, 433–434 Iamblichos von Chalkis  126
Gorki, Maxim  392 Heger, Klaus  182 Ingarden, Roman  342
Görlich, Bernard  372–373 Heidegger, Martin  313, 342–343, 352, Ingenkamp, Heinz Gerd  138
Gosse, Edmund  426 354–355, 361–362, 421–422, 433– Invernizzi, Giuseppe  422
Gourmont, Remy de  433 434 Iqbal, Mohammad  438
Gracián, Baltasar  11, 137, 181–182, Heine, Heinrich  258–259, 394
207–209 Hellenbach, Baron Paczolay Lazar  280 J
Graf, Max  308 Helmholtz, Hermann von  35, 227, Jacobi, Friedrich Heinrich  20, 22, 44,
Grass, Günter  390, 393, 395, 397 229, 325–326, 333, 419 152, 154, 222–225, 256, 258
Green, Julien  388–389 Helvetius, Claude Adrien  208 Jacquette, Dale  334
Grégoires de Blésimaire, Anthime  9 Hemingway, Ernest  415 Jahan, Shah  187
Grenier, Jean  356 Hempel, Adolf Friedrich  14 James, Henry  415
Griesinger, Wilhelm  321 Hennigfeld, Jochem  44 James, William  414
Grigenti, Fabio  422 Hennique, Léon  433 Janaway, Christopher  429
Grillparzer, Franz  395 Henry, Michel  433–435 Janet, Paul  432–433
Grisebach, Eduard  137, 150, 171, 289, Heraklit 175 Janet, Pierre  321, 432
325 Herbart, Johann Friedrich  332, 334 Jankélévitch, Vladimir  319
Gupta, R.K.  439 Herder, Johann Gottfried  256, 258, Janzen, Oscar  333
Gurissatti, Giovanni  422 365 Jaspers, Karl  352–355
Gusserow, Carl  332 Hering, Ewald  35 Jay, Martin  371, 373
Guyau, Jean-Marie  320 Herrig, Hans  279–280, 337 Jean Paul  256–259, 425
Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie  11 Herschel, Sir John  102 Jensen, Johannes V.  394
Gwinner, Wilhelm von  137, 278, 289, Hertz, Henriette  419 Johannes Philoponos  195
413, 425 Herwegh, Georg  191, 408 Johannes von Salisbury  196
Hesiod 136–137 Jonas, Hans  118
H Hesse, Hermann  395 Jørgensen, Johannes  394–395
Haacke, Friedrich  289 Hidalgo-Serna, Emilio  182 Joyce, James  392
Haeckel, Ernst  338 Hillebrand, Joseph  16 Juliusburger, Otto  307
Haffmans, Gerd  166 Hillebrand, Karl  426 Jung, Carl Gustav  105, 136, 319, 325–
Haldane, R.B.  425–426 Hitschmann, Eduard  308 328
Halévy, Ludovic  388 Hobbes, Thomas  86, 210 Jünger, Ernst  395
Haller, Albrecht von  251, 254 Hochhuth, Rolf  353 Justinian 195
Hallich, Oliver  366 Hoffmann, E.T.A.  256, 258
Hamburger, Käte  397 Hoffmeister, Gerhart  182 K
Hamlyn, D.W.  429 Hoffner, Wilhelm  290 Kafka, Franz  395, 398
Hamsun, Knut  395, 398 Hölderlin, Friedrich  256, 258 Kamata, Yasuo  256
Hansen, S.  394–395 Hölterhof, Tobias  367 Kandinsky, Wassily  405
Hardy, Thomas  392, 396, 426–427 Hook, Robert  142–143 Kant, Immanuel  13–14, 17, 20, 22–27,
  Personenregister 475

29–30, 41–42, 49, 51–57, 60, 62, 64, Lamarck, Jean-Baptiste de  101, 337– Maimon, Salomon  22, 24
71–72, 75–76, 80–81, 88, 92–97, 99– 338 Mainländer, Philipp  280, 283–285,
100, 102, 104, 106–107, 109, 111– Lambert, Johann Heinrich  24 287, 421–422
116, 119–120, 123–128, 134, 136, Lampedusa, Giuseppe Tomasi di  389 Majer, Friedrich  11, 186
143–144, 149, 152–158, 160–162, Landmann, Michael  364 Majumdar, Mohitolal  439
164, 167, 173, 175, 177, 186, 189, 192, La Rochefoucauld, François de  207– Malebranche, Nicolas  120–122, 126,
194, 210–211, 215–224, 228–232, 208 210, 215
235–236, 239, 242–247, 256, 265– Laun, Rudolf  24 Malewitsch, Kasimir  403
266, 272, 277, 279, 283–284, 289, Lawrence, D.H.  392, 396, 426–427 Mallarmé, Stéphane  394
297, 299–301, 303, 323, 326, 328, Leconte de Lisle, Charles Marie ­ Malter, Rudolf  40, 43–44, 47–49, 192,
331, 341–342, 347, 354–355, 358– René 414 281, 312
360, 373, 375, 377–378, 382, 394, Lehmann, Georg  3 Mann, Thomas  306, 309, 387, 390,
403, 413, 418, 420, 431, 433–435 Lehmann, Susanna Concordia  3 395–398
Karneades 195 Leibniz, Gottfried Wilhelm  23, 31, Marcel, Gabriel  343, 352
Keats, John  256, 259 120–122, 126, 154, 229, 345, 394, Marcus Aurelius  137
Kehlmann, Daniel  395 398, 432 Marhold, Hartmut  403
Kemp, John  425–426 Lemanski, Jens  45–46, 48–49, 164– Märtens, Hermann  332–333
Kempowski, Walter  395 165, 336, 338, 347–348, 351, 359–360 Martinetti, Piero  420–421
Kepler, Johannes  56 Lenau, Nikolaus  256, 258 Martinus von Biberach  196
Kewe, Adolf  160, 165 Lenz, Johann G.  34 Marx, Karl  131, 238, 267, 280, 370,
Kielmeyer, Carl Friedrich  157, 249 Leonhard, Heinrich  332–333 372–373, 434
Kierkegaard, Søren  131, 272–275, 352, Leopardi, Giacomo  11, 137, 256, 259– Maupassant, Guy de  388, 433
354, 395, 398 260, 414, 418 Maus, Heinz  371
Kiesewetter, Johann Gottfried  24 Lermontov, Michail J.  256 Maxwell, John  415
Kilzer, August Gabriel  278, 425 Leskow, Nikolai  392 Mayer, Johann Tobias  14
Klages, Ludwig  285 Lessing, Gotthold Ephraim  136, 310 Mayreder, Rosa  281
Klamp, Gerhard  46 Lessing, Theodor  395 McCarthy, Cormac  416
Klaproth, Julius  186, 189 Lewald, Ernst Anton  15 McCobb, E.A.  393
Klaproth, Martin Heinrich  14 Libet, Benjamin  379 Meister Eckhart (Eckhart von ­
Klein, Felix  333 Lichtenberg, Georg Christoph  208 Hochheim)  11, 187, 196, 204, 394
Kleist, Heinrich von  256, 258 Lichtenstein, Martin Hinrich  14–15, Melli, Giuseppe  419, 421
Klingemann, Ernst August ­ 157 Melville, Herman  392, 415
Friedrich  256, 258 Liebmann, Otto  418 Merkel, Reinhard  118
Klinger, Max  401, 404 Lindner, Ernst Otto  171, 180, 277– Merleau-Ponty, Maurice  343–344, 432
Knausgaard, Karl Ove  395 278, 289 Mertens-Schaaffhausen, Sybille  6–7
Knebel, Karl Ludwig Knebel  226 Liszt, Franz  407 Mesmer, Franz/Friedrich Anton  102–
Koeber, Raphael von  325 Lobatschewski, Nikolai Iwano- 103, 136, 252
Kopernikus, Nikolaus  56 witsch 333 Meysenburg, Malwida von  418
Köppen, Friedrich  190 Locke, John  93, 120, 123, 161, 219, Michelstaedter, Carlo  420–421
Körös, Csoma de  190 229, 333, 381, 394 Mignosi, Pietro  421
Kosack, Karl Rudolf  331–332 Lodge, George Cabot  415 Mill, John Stuart  57, 165, 394
Koßler, Matthias  44, 48–49, 221–222, Lohenstein, Daniel Casper von  181 Mockrauer, Franz  171–174
239, 256, 364 Lombardus, Petrus  196 Mohammed, Prophet  187
Kotzebue, August von  213 Lorenzer, Alfred  374 Moleschott, Jacob  419
Krause, Karl Christian Friedrich  162, Lotze, Hermann  57 Mondrian, Piet  403
187 Lovecraft, H.P.  392 Montaigne, Michel de  137, 207
Krauss, Karl  395 Lovejoy, Arthur O.  337–339 Montinari, Mazzino  420, 422
Krauss, Werner  182 Lubosch, Wilhelm  337 Moore, G.E.  82
Kristiansen, Børge  393 Ludwig, Carl  326 Moore, Thomas  256, 259
Krüll, Felix  242 Lukács, Georg  238 Morel-Fatio, Alfred  182
Kubin, Alfred  395 Lullus, Raimundus  196 Moretti-Costanzi, Teodorico  422
Kuhlenbeck, Hartwig  377, 379 Luther, Martin  200, 203 Morgenstern, Christian  395
Kühn, Eva  420 Lütkehaus, Ludger  284 Mörike, Eduard  256, 395
Külpe, Oswald  57 Morin, Frédéric  432
Kurbel, Martina  401, 404 M Morrison, Robert  189
Machiavelli, Niccolò  207 Mozart, Wolfgang Amadeus  146, 342
L Mager, Karl  331 Muhl, Abraham Ludwig  5, 15
La Bruyère, Jean de  207–208 Mahal, Mumtaz  187 Müller, Friedrich Max  437
Lacan, Jacques  343 Mahler, Gustav  259, 408–410 Müller, Johannes  35–36, 227
Laforgue, Jules  433 Maillard, Auguste  431 Müller-Lauter, Wolfgang  356
476 VI Anhang

Müller von Gerstenbergk, Georg ­ Pfitzner, Hans  408, 410–411 Rensi, Giuseppe  421
Friedrich Konrad Ludwig  5 Pflanze, Otto  138 Rescher, Nicholas  166
Murdoch, Iris  428–429 Pheidias 193 Rhode, Wolfgang  338
Musil, Robert  395 Philonenko, Alexis  433–434 Ribot, Théodule  321, 343, 420, 428,
Musset, Alfred de  256 Piaget, Jean  334 432–433
Piantelli, Mario  187 Rickert, Heinrich  319
N Picasso, Pablo  73 Riconda, Giuseppe  422
Naegelsbach, Hans  372 Pikulik, Lothar  259 Riedel, Wolfgang  359
Napoleon Bonaparte  15 Pillai, Dewan Bahadur Athukal ­ Rieff, Philipp  311
Nauman, Bruce  401 Govinda 438–439 Riemann, Bernhard  333
Neill, Alex  429 Platen, August  256, 258 Rilke, Rainer Maria  395
Nemerov, Howard  416 Platner, Ernst  24 Rimski-Korsakow, Nikolai  407
Nerval, Gérard de  431 Platon  14, 23, 70, 74, 125, 135, 151– Ripley, George  414
Nestle, Wilhelm  195 152, 156–157, 173, 175–176, 186, Rogler, Erwin  371
Neumann, Karl Eugen  420 189, 192–195, 198, 202–203, 210, Rohde, Erwin  294
Neumeister, Sebastian  181–182 216, 218, 222, 265, 299–300, 328, Rolland, Romain  389
Newton, Isaac  33–35, 38, 52, 56, 142– 347, 350, 372, 402 Rosas, Anton  104
143, 226–230 Plessner, Helmuth  364 Rosen, Zvi  371
Nietzsche, Friedrich  66, 84, 97, 105, Plotin  42, 72, 126, 195, 242, 403, 421 Rosenkranz, Karl  17, 215–216
118, 136–137, 140, 177, 180–181, Plümacher, Olga  280–281 Rosenzweig, Franz  274, 352
238, 256, 258, 280, 283–284, 286– Poe, Edgar Allan  392, 394, 403 Rosset, Clément  433–434
287, 294–303, 306, 310, 313, 315– Pogwisch, Ottilie von  4 Rossini, Gioacchino Antonio  146, 407
316, 319–320, 327, 352–354, 356, Pollock, Friedrich  370 Roth, Gerhard  378–379
374, 393–394, 396, 402, 411, 413, Pontoppidan, Henrik  393–395 Roth, Philip  416
415, 418–419, 422, 434–435 Popper, Karl R.  56–57, 118, 238, 348 Rousseau, Henri  403
Noack, Ludwig  17 Pothast, Ulrich  393 Rousseau, Jean-Jacques  11
Noiré, Ludwig  337 Prel, Carl du  326 Royce, Josiah  239, 343, 414
Novalis  256, 258–259 Pringsheim, Alfred  333 Rückert, Ernst  259
Prochnow, Oskar  337 Rückert, Friedrich  259
O Proklos 195 Rückert, Luise  259
Obstfelder, Sigbjørn  395 Prokofjew, Sergei  407 Runge, Johann Heinrich Christian  10,
Odojewski, Fürst Wladimir ­ Protagoras 192 13, 153, 202–203
Fjodorowitsch 256 Proust, Marcel  389, 393, 433–434 Russell, Bertrand  59, 348, 428
Oken, Lorenz  157 Purkinje, Jan E.  33, 227 Rydberg, Viktor A.  394–395
O’Neill, Eugene  415 Puschkin, Alexander  256 Ryle, Gilbert  81
Oppenheim, David Ernst  308 Pythagoras 125
Ortega y Gasset, José  343, 352 S
Osann, Gottfried  170, 173 Q Saar, Ferdinand von  395
Ostwald, Wilhelm  229 Quine, Willard Van Orman  164 Sachs, Hanns  307–308
Oxenford, John  278, 387, 393, 415, Sack, Gustav  395
425–426, 429 R Sadger, Isidor  308
Raabe, Wilhelm  390, 393, 395–398 Safranski, Rüdiger  359
P Radbruch, Knut  333 Salaquarda, Jörg  353–354, 356
Padovani, Umberto  421 Radhakrishnan, Sarvepalli  438–439 Salt, Henry S.  384
Palenzuela, José Luis Losada  182 Raimund von Sabunde  196 Saltus, Edgar  414
Palestrina, Giovanni Pierluigi da  410– Raju, Poolla Tirupati  439 Sander, Angelika  367
411 Raman, Nallepalli Shankaranarayana Sankara 187
Papini, Giovanni  419–420 Sundara 439 Santayana, George  414
Papousado, Denis  222 Ramos, Flamarion Caldeira  239 Sartre, Jean-Paul  343–344, 352, 355–
Pappus von Alexandria  334 Rank, Otto  307–308 356, 432–433
Paracelsus, d.i. Philippus Aureolus Ray, Sitansu  439 Saunders, Thomas Bailey  425–426
Theophrastus Bombastus von ­ Redon, Odilon  404 Savigny, Karl von  16
Hohenheim 103 Rée, Paul  280 Schakia-Muni Schige-Muni ­
Pavese, Cesare  389 Regan, Tom  384 (Sakyamuni Buddha)  189
Payne, E.F.J.  425–426 Regehly, Thomas  359 Scheler, Max  105, 118, 319, 342, 364,
Perigal, Henry  334 Reidemeister, Kurt  333 366
Perner, Ignaz  384 Reil, Johann Christian  249, 251–252 Schelling, Friedrich Wilhelm ­
Pernerstorfer, Otto  306 Reimarus, Hermann Samuel  24 Joseph  13–14, 17, 20, 22, 30, 42, 98,
Petrarca 146 Reinhold, Karl Leonhard  22, 25, 152– 120, 123–124, 134, 152–154, 157–
Pfänder, Alexander  342 154, 157, 221–222 158, 210, 221–223, 231–236, 238,
  Personenregister 477

240, 242–247, 249, 256–257, 272, Shelley, Percy B.  256, 259 Thomas von Aquin  76, 196–197, 199
279, 287, 297, 347, 387, 431 Shenstone, William  208 Thomasius, Christian  148, 181
Schige-Muni (Sakyamuni Silberstein, Eduard  306 Tieck, Ludwig  10, 153, 256–260
Buddha) 189 Simmel, Georg  97, 118, 280, 315–317, Tiersch, Friedrich Wilhelm  16
Schiller, Friedrich  228, 269 319, 352 Tjutschew, Fjodor  256
Schirmacher, Wolfgang  355 Singer, Peter  118 Tocco, Felice  418–419
Schlegel, Friedrich  134 Singer, Wolf  379 Tolstoi, Lew  390–391, 398
Schleiermacher, Friedrich  14, 20, 193– Smith, Adam  115 Trendelenburg, Adolf  289, 334
194, 202, 210, 278, 289, 359 Söderberg, Hjalmar  395 Trosiener, Anna  3
Schlick, Moritz  118 Soermanns, Anna Renata  2 Trosiener, Christian Heinrich  2–3
Schlüter, Robert  332–333 Sokrates  125, 192, 195 Trosiener, Elisabeth  3
Schmelder, Siegmund  98 Sologub, Fjodor  392 Trosiener, Elisabeth Charlotte  3
Schmid Noerr, Gunzelin  370 Sommer, Christian  435 Trosiener, Johanna  2–3
Schmidt, Alfred  48, 239, 270, 280, 359, Sophokles 193 Trosiener, Julia Dorothea  3
370–375 Sorabji, Richard  195 Tschechow, Anton  392
Schmidt, Arno  395, 397–398 Sørensen, Preben Major  395 Tucholsky, Kurt  395
Schmidt, Isaak Jakob  190–191 Sötemann, Christian  356 Tugendhat, Ernst  89
Schneider, Reinhold  395 Southey, Robert  256, 259 Turgenjew, Iwan  389
Schnitzler, Arthur  395 Spaun, Franz von  213 Twain, Mark  415
Scholz, Heinrich  333 Spence Hardy, Robert  191
Schönberg, Arnold  405, 408, 410 Spencer, Herbert  320, 394, 415 U
Schopenhauer, Andreas  2 Spiegelberg, Herbert  341 Uexküll, Jakob von  365
Schopenhauer, Anna Renata  2 Spierling, Volker  44, 49–50, 172–173, Ulrici, Herman  326
Schopenhauer, Heinrich Floris  2–5, 345 Ungar, Hermann  395
8–10, 130, 203 Spinoza, Baruch de  23, 31, 44, 46, 111,
Schopenhauer, Johann  2 120–122, 124, 126, 174, 210–213, V
Schopenhauer, Johann Friedrich  2 222–223, 242–243, 269 Vaihinger, Hans  279–280, 311, 379
Schopenhauer, Johanna  2–6, 8, 10, 13, Stein, Edith  342 Vandenrath, Johannes  336, 338, 368
15, 180, 226 Steiner, Rudolf  238–239, 398 Van Hiele, Pierre  334
Schopenhauer, Louise Adelaide ­ Stendhal 256 Vauvenargues, Marquis de  208
Lavinia  3–7, 16 Steppi, Christian R.  338, 355 Vecchiotti, Icilio  422
Schopenhauer, Simon  2 Sterne, Laurence  8–9, 11 Verlaine, Paul  394
Schrader, Heinrich Adolf  14 Stevens, Wallace  414 Verrecchia, Anacleto  422
Schreiber, Alfred  334 Stirner, Max  393 Vigorelli, Amedeo  422
Schröder, Christoph  337–338 Strauß, David Friedrich  310 Virchow, Rudolf  35
Schröder, Wilhelm  223, 225 Strauss, Richard  407 Vivekananda, Swami  437–438
Schubbe, Daniel  44, 46, 48–50 Strindberg, August  395–396, 398 Voetmann, Harald  395
Schubert, Friedrich Wilhelm  215–216 Strohmeyer, Friedrich  14 Volkelt, Johannes  112, 239–240
Schubert, Gotthilf Heinrich von  157 Struck, Gerhard  166, 168 Volpi, Franco  137, 166, 277, 422
Schubert, Wilhelm  17 Stuckenberg, Viggo  394 Voltaire  8, 11, 259, 310, 398
Schulze, Gottlob Ernst  13–14, 20, 22, Suárez, Francisco  196–198 Vossler, Karl  182
24, 27, 30, 152–154, 157, 174–175, Sulla 195
210, 216–217, 221–223, 231, 360 Svevo, Italo  389 W
Schumann, Robert  259 Swift, Jonathan  8 Wackenroder, Wilhelm Heinrich  10,
Schütz, Alfred  342 Szabô, Arpad  334 153, 256, 260
Schwabe, Gerhard  289 Waggerl, Heinrich  395
Schwantje, Magnus  384 T Wagner, Cosima  297
Schweitzer, Albert  384 Tauler, Johannes  196 Wagner, Richard  191, 238, 294, 297–
Scott, Walter  146 Tausk, Victor  308 298, 343, 408–411, 418, 433
Scotus Eriugena, Johannes  126, 196 Taylor, Jessie  426 Walter, Henrik  380
Seal, Brajendranath  437 Taylor, Richard  118 Weber, Wilhelm  326
Segala, Marco  48, 422 Tennemann, Wilhelm Gottlieb  196, Wedekind, Frank  395
Seneca, Lucius Annaeus d.J.  137 215 Weierstraß, Karl  331–333
Sextus Empiricus  165 Tenorth, Heinz-Elmar  178 Weill, Alexandre  431–432
Seydel, Rudolf  17, 289 Thabit ibn Qurra  334 Weimer, Wolfgang  44, 239, 341
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Theophrast 207–208 Weininger, Otto  349
Earl of  208 Thibaudet, Albert  319 Weiß, Christian Samuel  14
Shakespeare, William  146, 398 Thibaut, Bernhard Friedrich  33 Weiß, Otto  40
Shastri, Prabhu Datta  439 Thies, Christian  364 Weiße, Hermann  279
Shaw, George Bernhard  392 Thomas a Kempis  137 Wells, H.G.  392
478 VI Anhang

Welsen, Peter  359 Wolf, Friedrich August  14, 177, 359 Young, Julian  342
Wenewitinow, Dmitrij W.  256 Wolf, Jean-Claude  384–385 Young, Thomas  35
Werner, Zacharias  256 Wolf, Ursula  89, 385
Wesendonck, Mathilde von  418 Wolfe, Thomas  392 Z
Whitehead, Alfred North  57, 195 Wolff, Christian  23, 31, 46, 154, 175, Zambonini, Ferruccio  336
Wied, Gustav  394 331 Zeller, Eduard  378
Wilhelm von Ockham  196 Wordsworth, William  256, 259 Zimmern, Helen  281, 425
Wilhelm, Karl Werner  47 Wuketits, Franz M.  339 Zint, Hans  46, 281, 419
Winiger, Josef  265 Wundt, Wilhelm  319, 326 Zitko, Hans  401
Winslow, Jacques Bénigne  251 Wyss, Beat  401–402 Zoccoli, Ettore  419
Winterstein, Alfred von  308 Zola, Émile  389, 403, 433
Wittels, Fritz  308 X Zöllner, Karl Friedrich  325–326
Wittgenstein, Ludwig  164, 229, 334, Xenophanes 269
348–350, 381, 411, 428 Young, Edward  256, 259

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