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Michaela Voltrová
University of West Bohemia
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All content following this page was uploaded by Michaela Voltrová on 16 August 2017.
GERMANOSLAVICA INHALT
Zeitschrift f¸r germano-slawische Studien
gegr¸ndet 1931, erneuert 1994 Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Jahrgang 21 (2010) Heft 1-2 AUFSÄTZE
Martina S t e m b e r g e r: Westöstliche Metamorphosen: (De)Konstruktionen des
Im Auftrag des Slawischen Instituts ‚Orients‘ in europäischen Russland-Diskursen / West-Eastern Metamorphoses:
der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (De)Constructions of the ‘Orient’ in European discourses about Russia . . . . . . . . . 3
herausgegeben von Eva H a u s b a c h e r: „Die Welt ist rund“. Transnationale Schreibweisen in der
zeitgenössischen Migrationsliteratur (Marija Rybakova, Julya Rabinowich) /
Siegfried ULBRECHT “The earth is round”. Transnational Narratives in Contemporary Migrant
Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Redaktionskollegium: Marie F r o l í k o v á: Die Darstellung Bulgariens in dem Roman Apostoloff
Sibylle Lewitscharoffs / The Portrayal of Bulgaria in the Novel Apostoloff
V·clav BOK (»eskÈ BudÏjovice),
by Sibylle Lewitscharoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Hermann BIEDER (Salzburg), Vlastimil BROM (Brno), Alexander H ö l l w e r t h: Die ästhetische Revolte gegen den Humanismus:
Matthias FREISE (Gˆttingen), Peter DREWS (Freiburg i. Br.), Die zeitgenössischen russischen Schriftsteller Limonov, Mamleev,
Ludger UDOLPH (Dresden), Gabriela VESEL¡ (Praha) der „neoeurasische“ Ideologe Dugin und deutsch-russische Missverständnisse
unter dem Vorzeichen einer „repressiven Toleranz“ / The aesthetic revolt
Redaktion: against Humanism: the contemporary Russian writers Limonov, Mamleev,
Dugin’s “Neoeurasian” ideology and German-Russian misunderstandings
Helena ULBRECHTOV¡ in the context of “repressive tolerance” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Lenka V ODR¡ û KOV¡ -P OKORN¡ Mária G y ö n g y ö s i: Die Poetik der Stadt und des Raumes. Parallelen
in den Werken von Rilke und Pasternak / Poetics of Town and Space:
Erscheint im Verlag Euroslavica Parallels in the Works of Rilke and Pasternak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Ulrike G o l d s c h w e e r: Raum, Ding, Projekt. Ilya Kabakov und die
Anschrift der Redaktion: Installation Der Palast der Projekte / Thing, Space, Project. Ilya Kabakov
Germanoslavica, Slovansk˝ ˙stav AV »R, v. v. i. and The Palace of Projects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Valentinsk· 1, 110 00 Praha 1 Elke M e h n e r t: Das Café als literarischer Ort / “Café” – a literary place . . . . . . . 123
»esk· republika Michaela V o l t r o v á: Zu imagologischen Interpretationsverfahren –
E-Mail: germanoslavica@slu.cas.cz eine methodenkritische Anmerkung / The imagological way of interpretation –
a critical comment on methodology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Vertrieb im Inland: Slovansk˝ ˙stav AV »R, v. v. i. Magdalena M a r s z a ł e k: Der Schriftsteller als Geograph und Gastarbeiter:
110 00 Praha 1, Valentinsk· 1 Die literarische Kartographie Andrzej Stasiuks / The Author as Geographer
Vertrieb im Ausland: and ‘Gastarbeiter’. Andrzej Stasiuk’s Literary Cartography . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Kubon & Sagner, P. O. Box, D-80328 M¸nchen, postmaster@kubon-sagner.de Renata C o r n e j o: Jiří Gruša als Sprach- und Kulturvermittler zwischen
Tel. + + 498954218114 der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Heimat am Beispiel seiner Gedichte / Jiří Gruša
und Slovansk˝ ˙stav AV »R, v. v. i., CZ-110 00 Praha 1, Valentinsk· 1 as a cultural and language intermediary oscillating between the ‘old’
and the ‘new’ home country, exemplified in his poems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
ISSN 1210-9029
Frank Thomas G r u b: Grenz-Erfahrungen im Werk der Lenka Reinerová /
Borderline experiences in the works of Lenka Reinerová . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Edgar P l a t e n: Autobiographischer Rückblick und/oder autobiographische
© Slovansk˝ ˙stav AV »R, v. v. i., 2010 Vorausschau? Zum Verschwinden des Ich in Ilse Aichingers autobiographischem
‚Projekt‘ Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben / An Autobiographical
Retrospect and/or an Autobiographical Glance at the Future. The Disappearance
of the Self in Ilse Aichinger’s Autobiographical Project Film und Verhängnis.
Blitzlichter auf ein Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Germanoslavica 2010, Nr. 1-2
INHALT
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
AUFSÄTZE
BESPRECHUNGEN
Milan Tvrdík – Alice Stašková (Hgg.): Goethe heute. Goethe dnes
(Steffen Höhne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
Vladimír Holan: Gesammelte Werke Bd. 6. Lyrik 5. Wein, Angst, Schmerz
(Volker Strebel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Eduard Goldstücker – Eduard Schreiber: Von der Stunde der Hoffnung
zur Stunde des Nichts. Gespräche (Jörg Thunecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Siegfried Ulbrecht – Helena Ulbrechtová (Hgg.): Die Ost-West-Problematik in den
europäischen Kulturen und Literaturen. Ausgewählte Aspekte / Problematika
Východ–Západ v evropských kulturách a literaturách. Vybrané aspekty
(Volker Strebel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Die Poetik der Stadt und des Raumes: Parallelen in den Werken von
Rilke und Pasternak
Mária G y ö n g y ö s i
The aim of the article is to show some parallels and differences between the poetics of
town and – in a broader context – space in the literary works by RILKE and PASTERNAK. It
is important to point out the “Ding” both in their lyrics and prose, the roots and/or analo-
gies of what is to be found in RODIN’s and CÉZANNE’s art and HUSSERL’s phenomenolo-
gy. Out of very similar poetic means used by the two poets metaphor and especially com-
parison have to be mentioned. Personification of “me” can be observed in its relation to
the “Ding”, direct self-expression of “me” becomes vague or even disappears. The article
presents the analysis of RILKE’s early lyrics and important pieces of his middle period
(Venezianischer Morgen [Venetian Morning], Der Platz (Furnes), Die Aufzeichnungen
des Malte Laurids Brigge [The Notebooks of Malte Laurids Brigge]) and its parallels in
PASTERNAK’s works (Veneciya [Venice], Marburg, Okhrannaya gramota [Safe Conduct],
Detstvo Lyuvers [Adolescence of Zhenya Luvers]).
The presented text consists of four parts. The first part gives the history of the discipline and its
information sources. The second part called ‘The comparatistic imagology and its terminology –
an introduction’ describes the most important and often used imagological terminology. In the
third part the author of the text describes the situation and the future chances of imagology. The
text expresses a critical attitude towards the missing methodological tradition of imagology, but
it also gives the reasons why this discipline should be supported in future.
1 Ein Überblick über die Imagologie für das tschechische Publikum stammt von Helena
ULBRECHTOVÁ: K historii pojmu „Východ-Západ“ a k možnostem jeho dalšího využití ve slavistické
literární a kulturní vede [Zur Geschichte des Begriffes „Ost-West“ und zur Möglichkeit seines
weiteren Gebrauchs in der slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaft], in: Slavia 77 (2008),
1-3, S. 307-323, hier S. 316-322, Kap. 3.2. Od komparatistiky k imagologii (interkulturní herme-
neutice) [Von der Komparatistik zur Imagologie (interkulturellen Hermeneutik)].
136 Michaela V o l t r o v á
Status der selbstständigen Disziplin betrafen oder der neuen Richtung eine andere
Orientierung geben wollten. Z. B. hat René WELLEK die Meinung vertreten, dass „die
ganze Problematik [...] in den Bereich von ‚social psychology‘, ‚national psychology‘,
‚sociology‘ usw. und nicht in den der ‚literary studies‘, deren Zentralaufgabe auf der
Ebene der Ästhetik läge, [gehöre].“2 Obwohl der Weg zu einer literaturwissenschaftlichen
Teildisziplin nicht einfach war, wurde die Imagologie schon Ende der 1960er Jahre als ein
relativ fester Bestandteil der Komparatistik wahrgenommen.
Trotz der schwierigen Entwicklung verfügt die komparatistische Imagologie heutzu-
tage über ein ganzes Spektrum an Standardwerken. Zu den wichtigsten Informa-
tionsquellen in diesem Bereich gehören die immer noch aktuellen, aus den sechziger und
achtziger Jahren stammenden Texte von Hugo DYSERINCK,3 neuere Texte desselben
Autors,4 das Vademekum der Imagologie5 oder die Einführung in die Komparatistik von
CORBINEAU-HOFFMANN6 sowie das Kompendium Imagology von BELLER/LEERSSEN.7 Es
liegen auch zahlreiche Texte anderer Autoren vor, die die Entwicklung der Disziplin
wesentlich beeinflussten.
Trotzdem befindet sich die Imagologie und ihre Forschungsrichtung immer noch in
einer komplizierten Situation, weil sie sich von anderen Richtungen (interkulturelle
Germanistik – s. weiter unten) abgrenzen muss oder auf neue Trends im Bereich der
Geisteswissenschaften reagieren muss (z. B. die Stereotypendebatte). Diese Schwierig-
keiten hängen auch mit einer gewissen terminologischen Unschärfe der genannten
Disziplinen zusammen, worauf der nächste Teil des Aufsatzes reagiert.
Zu den wichtigsten Termini der Imagologie gehören „das Bild“ (auch „Image“
genannt) und das „imagotype System/Element“. Sehr vereinfacht gesagt handelt es sich
bei der Imagologie um Bilder eines Landes oder einer Ethnie in literarischen Texten aus
verschiedenen Einzelliteraturen, die miteinander verglichen werden. Man spricht in
diesem Kontext über sog. ‚Selbstbilder‘ (‚Autoimages‘) und Fremdbilder‘ (‚Hetero-
images‘). Eine Arbeitsdefinition zum Gebrauch des Begriffes „Image“ in der komparatis-
tischen Imagologie lautet:
„Die in der Literatur existierenden Bilder von Ländern und deren Bewohnern [...].
Images existieren zunächst als individuelle Vorstellungen des literarischen Autors
(Welt 2), ehe sie im literarischen Text (Welt 3) objektiviert werden und – vermittelt
durch den Rezeptionsprozeß – auf die gegenständliche Welt (Welt 1) zurückwirken
(außerliterarische Funktion der Images).“11
Hugo DYSERINCK spricht über die werkimmanente Rolle der Images. Die Images sind
bei der Interpretation bestimmter Texte Schlüsselelemente, die nicht beiseitegelassen wer-
8 Die Recherche wurde im Januar 2010 anhand Google durchgeführt. Das Wort „Imagologie“
wurde im tschechischen Internet 142mal gefunden, bei etwa 95% Fällen wurde der Begriff im Sinne
der KUNDERAs Imagologie beschrieben oder erwähnt.
9 KUNDERA hat den Begriff „Imagologie“ in seinem Werk Nesmrtelnost [Unsterblichkeit]
benutzt. Es geht um ein Bild, das stärker als Realität ist, ein Bild einer idealen, freundlichen
Gesellschaft, das als eine regierende Macht überall präsent ist.
10 MEHNERT, S. 43.
11 Ebd., S. 42.
138 Michaela V o l t r o v á
den können. Die Interpretation ist ohne Berücksichtigung der Imagotypie nicht möglich.12
Den strukturellen Charakter der Images reflektiert der Begriff „imagotypes System“,
der an die Systemtheorie anknüpft. MEHNERT arbeitet mit den Strukturen der Bilder im
Text und – motiviert durch das Verlangen nach Klarheit und Präzision – mit dem Begriff
„imagotypes System“. Der Begriff „System“13 als solcher evoziert, dass das „imagotype
System“ aus mehreren Subsystemen besteht, unter denen strukturelle Zusammenhänge zu
beobachten sind. So muss z. B. das Bild von einem Land in einem Text als ein aus
Subsystemen bestehendes System betrachtet werden, was mit der Textstruktur zusam-
menhängt.
Die Bezeichnung „imagotypes System“ ergibt sich aus der Beschreibung des
Phänomens aus strukturellem (syntaktisch-textgrammatischem) Blickwinkel. Der seman-
tische Blickwinkel führte zur Unterscheidung zwischen „Autoimage“ (Bild vom eigenen
Land und dessen Menschen) und „Heteroimage“ (Bild vom fremden Land und dessen
Menschen). Diese beiden Begriffe stehen in einem engen Zusammenhang. Dadurch wird
das Streben nach einer möglichst angemessenen und komplexen Interpretation des Textes
erschwert. Eine optimale Lösung des Problems bietet der sog. supranationale Standort (s.
weiter unten) des Lesers bzw. des Interpretierenden. Inwieweit der überhaupt eingenom-
men werden kann, ist jedoch fraglich; durch kritische Selbstwahrnehmung kann aber ein
gewisser Grad an Objektivität erreicht werden.
Images bzw. imagotype Systeme sind eng mit der Entstehung von Stereotypen14 und
Vorurteilen verbunden. Stereotypes Denken arbeitet mit Bildern, die wenige Elemente
haben, es generalisiert und vereinfacht komplizierte Erscheinungen. Die komparatistische
Imagologie arbeitet mit den Bildern, und deshalb ist sie in der Lage, mit ihrer Analyse der
imagotypen Systeme die Entwicklung dieser zuweilen gefährlichen Denkweise zu unter-
brechen (weiter darüber s. unten).
Die Weltliteratur
Der Vergleich
Wie schon am Anfang erwähnt wurde, ist die komparatistische Imagologie eine
Teildisziplin der Komparatistik. Mit dieser Zugehörigkeit hängt auch das vergleichende
methodologische Vorgehen zusammen. Über die Wichtigkeit und besondere Stellung des
Vergleichs sagt SCHMELING:
„Der Vergleich ist ein Arbeitsverfahren der Komparatistik, sogar ein privilegiertes,
aber eben nur ein Arbeitsverfahren unter anderen. Er ist Mittel zum Zweck und kein
Definitionsmerkmal. Die Komparatistik vergleicht nicht nur um des Vergleichs
willen, sondern weil der Vergleich ihr eine angemessene Erschließung ihres aus-
gedehnten Forschungsbereichs ermöglicht.“15
Ein weiteres zentrales Thema der Imagologie ist das Thema der Grenze. Handelt es
sich um eine politische, sprachliche oder kulturelle Grenze? Welche Grenze ist relevant?
Politische Grenzen sind in der geschichtlichen Entwicklung fließend, viel bedeutender
sind die sprachlichen Grenzen zwischen einzelnen Ethnien. Die Grenze, die in dem Sinne
der geographischen oder der politischen Grenze eines Landes, der Grenze der Sprache
oder Ethnie wahrgenommen wird, ist mit dem Thema der Heimat verbunden, das zu den-
jenigen Themen gehört, die die Imagologen angesichts des Forschungsgebiets beschreiben
und definieren mussten. Für diejenigen Autoren, für die eine Antwort auf die Frage nach
der Heimat nicht unproblematisch ist, ist häufig die Sprache wichtiger als der Staat oder
das Land. Die Heimat finden sie also in der Sprache, die ihrem Denken und Fühlen näher
steht als eine politische oder geographische Struktur.
Transgrediente Grundlagen
Nicht nur die Sprache16 des Textes muss bei dessen Interpretation berücksichtigt
werden. Auch die Kontextelemente können bei der Textinterpretation von Nutzen sein.
Als „transgrediente Grundlagen“ bezeichnen die Chemnitzer Imagologen die Faktoren,
die den Text beeinflussen, auch wenn sie nicht im Text verbalisiert werden, so die
Biografie des Autors, die in dem Text beschriebene oder die für den Text relevante his-
torische Situation u. a. Transgrediente Grundlagen sind für die Interpretation bedeutend,
bei manchen Texten sogar ausschlaggebend.
Beim Lesen von Texten kann die Frage gestellt werden, ob die Bilder ein reales
Fundament in der Lebenserfahrung des Autors haben oder ob es sich um einen gänzlich
fiktionalen Bestandteil des Textes handelt. Gehen wir dieser Frage weiter nach, dann kom-
men wir zu POPPERs Theorie der drei Welten (Images sind nach dieser Theorie
Gegenstände der Welt 3) oder zur Theorie des semiotischen Dreiecks.17 Auch die Begriffe
„Begriff“, „Symbol“, „Realität“ (und vor allem das Nachdenken über die Inhalte dieser
Termini) sollten die Arbeit mit fiktionalen Texten begleiten und sind für den
Zusammenhang zwischen Literatur-, Sprachwissenschaft und Philosophie charakteris-
tisch. Für eine komplexe Analyse und Interpretation fiktionaler Texte ist eine ganze Reihe
von geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit „hilfswissenschaftlicher“ Funktion nötig, z.
B. die psychologische oder philosophische Perspektive bei der Interpretation.
17 Beide diese Theorien sind eng mit den altgriechischen, altrömischen Wissensrichtungen ver-
bunden, natürlich finden wir ähnliche (anders terminologisch bearbeitete) Gedanken auch bei KANT
und anderen Philosophen.
18 Weiter zu diesem Thema in Peter KOSTA: Zum Tschechenbild bei den Polen und zum
Polenbild bei den Tschechen aus der Sicht der Stereotypen-Prototypensemantik, in: Katrin
BERWANGER – Peter KOSTA: Stereotyp und Geschichtsmythos in Kunst und Sprache. Die Kultur
Ostmitteleuropas in Beiträgen zur Potsdamer Tagung, 16.-18. Januar 2005, Frankfurt/M. 2005
(Vergleichende Studien zu den Slavischen Sprachen und Literaturen; 11), S. 51-70, hier S. 57.
19 DYSERINCK: Zur Entwicklung der komparatistischen Imagologie, S. 22f.
Zu imagologischen Interpretationsverfahren – eine methodenkritische Anmerkung 141
die Komparatisten diese Tatsachen ernst nehmen und sich um den idealen supranationalen
Standort wenigstens bemühen.
Wie schon angedeutet, ist die Situation der komparatistischen Imagologie nicht ein-
fach. Dazu kommt die notwendige Abgrenzung zur interkulturellen Germanistik. Die
komparatistische Imagologie beschäftigt sich mit Bildern in literarischen Texten, das wis-
senschaftliche Objekt der interkulturellen Germanistik ist umfangreicher.
Die komparatistische Imagologie als eine Teildisziplin der Komparatistik und damit
der Literaturwissenschaft ist folgerichtig an fiktiven Texten orientiert. Die interkulturelle
Germanistik ist dagegen anders und breiter aufgestellt, was schon aus der Zugehörigkeit
der Disziplin zur Kulturwissenschaft abgeleitet werden kann. Das grenzüberschreitende
Element ist für die Arbeit beider Disziplinen eine logische Bedingung, das analysierte
Material ist aber unterschiedlich. Die im Rahmen der interkulturellen Germanistik unter-
suchte interkulturelle Kommunikation umfasst auch Aspekte wie Geschichte, Medien und
Alltagsthemen. Die komparatistische Imagologie hat ihren Forschungsgegenstand im
Gegensatz dazu ausschließlich in literarischen Texten.
Mit den bisher beschriebenen Schwierigkeiten, mit denen die Imagologie zu kämpfen
hat, hängt eng ihre Stellung im akademischen Milieu zusammen. Hier ist sie in der
20 In diesem Teil des Textes wollten wir die wichtigsten Bestandteile der Terminologie der
komparatistischen Imagologie vorstellen. Es wurde aber nicht das ganze terminologische Spektrum
der Disziplin (dem Textumfang zufolge) erwähnt.
142 Michaela V o l t r o v á
Regel21 unselbstständig und deshalb entweder gar nicht oder nur auf der Basis freiwilliger
Lehreinheiten präsent. Das Aachener Programm war eine bedeutende imagologische
Schule, deren Mitglieder und Nachfolger dem Fach entscheidende Impulse verliehen. Die
imagologische Forschungsgruppe an der TU Chemnitz ist dank ihrer langjährigen
Tradition ein wichtiges Zentrum dieser Disziplin und damit ein „Nest“ des wissen-
schaftlichen Nachwuchses. Über diese beiden imagologischen Zentren muss leider in der
Vergangenheitsform gesprochen werden.
Leider muss auch gesagt werden, dass die komparatistische Imagologie nicht als ein-
heitliche europäische oder sogar weltweite wissenschaftliche Bewegung existiert.
Obgleich es wissenschaftliche Zusammenschlüsse wie die Deutsche Gesellschaft für all-
gemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und einen internationalen Verband gibt,
sind Imagologen eher Einzelkämpfer, die eine gemeinsame Kommunikationsbasis, z. B.
in Forschungsgruppen wie der unseren gefunden haben,22 die außerhalb universitärer
Strukturen und Förderung angesiedelt ist.
Die komplizierte Institutionalisierung der komparatistischen Imagologie hängt be-
reits mit ihrer Wesensart zusammen, die einen supranationalen Standort anstrebt. Dieses
Bedürfnis ist mit einer Verankerung in einer Einzelphilologie kaum erfüllbar. Eine
Verbundenheit mit einer anderen, nicht philologischen Institution ist bei einer literatur-
wissenschaftlichen Teildisziplin aber auch schwer denkbar.
Die komparatistische Imagologie wurde während ihrer relativ kurzen Geschichte oft
kritisiert. Es wurden die methodologischen Unklarheiten bzw. die fehlende präzise
methodologische Basis beklagt. Diese Kritik ist berechtigt. Aufgrund der schwachen insti-
tutionellen Verankerung und jungen Geschichte der Disziplin werden manche Teile der
Terminologie immer noch präzisiert. Ein Beweis dafür ist z. B. das Vademekum der
Imagologie, das im Jahre 1997 herausgegeben wurde und dem dringenden Bedürfnis der
Forschungsgruppe „Imagologie“ in Chemnitz nach einer methodologischen Basis
Rechnung trägt. Es beantwortet die Grundfragen, definiert die Grundbegriffe und bietet
eine Liste der empfehlenswerten Literatur. Das Buch beschreibt auch die Spezifik des
Ansatzes der Chemnitzer Forschungsgruppe, die nach der Schließung der Aachener
Komparatistik das wichtigste Zentrum der Imagologie in Deutschland bildete, so DYSE-
RINCK auf einem Komparatistenkongress in Zagreb.23 Im Anschluss an den beschriebenen
Damit hängt auch die komplizierte Lage der komparatistischen Imagologie im akademi-
schen Milieu zusammen (siehe oben).
stützung hat. Ich habe die Mangelhaftigkeit der Methodologie ebenfalls kritisiert, gleich-
zeitig habe ich aber auch die Gründe dafür genannt, warum meine Antwort positiv aus-
fällt.28 Diese Antwort wird durch die in der Zukunft anwachsenden Vernetzung der Welt
unterstützt, in der Informationen über Nachbarn (nicht nur im geographischen Sinn) eine
Notwendigkeit sind.
Die Bemühungen der Imagologen sollten künftig in mehrere Richtungen gehen. Vor
allem bedarf es intensiverer Arbeit an der Methodologie, wobei ein interdisziplinärer
Ansatz (d. h. Literaturwissenschaft in enger Zusammenarbeit mit Sprachwissenschaft)
sinnvoll wäre. Der andere Weg, der für die Zukunft dieser kleinen Disziplin bedeutsam
wäre, ist die Popularisierung und die damit verbundene Verankerung der Imagologie an
Hochschulen und Universitäten. DYSERINCK hat die Imagologie als „eigentliche“ Europa-
wissenschaft bezeichnet. Auch als Mitbewohner des gemeinsamen Hauses Europa sind
wir einander noch fremd. Imagologie könnte kulturelle Brücken zwischen unseren
Völkern bauen. Eine Unterstützung des Nachwuchses und die Bildung von Zentren oder
Forschungsgruppen wäre die nächste Phase der Existenz der komparatistischen
Imagologie im akademischen Milieu. Die praxisorientierten Elemente der Imagologie
könnten aus oben genannten Gründen auch im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache
angewandt werden.
Trotz des kritischen Tons meines Aufsatzes bin ich davon überzeugt, dass sich die
komparatistische Imagologie als interessanter und vor allem wesentlicher und nutzbrin-
gender Interpretationsansatz durchsetzen wird.
28 Siehe auch Michaela VOLTROVÁ: Europa des 21. Jhs. – eine Herausforderung für die kom-
paratistische Imagologie und den Fremdsprachenunterricht?, in: Lenka ADÁMKOVÁ – Bohuslava
GOLČÁKOVÁ – Ivona MIŠTEROVÁ – Hana POTMĚŠILOVÁ a kol.: Janua linguarum reserata, Plzeň 2009,
S. 286-290.