Professional Documents
Culture Documents
Andrea Borsato
Durch seine Theorie des thematischen Feldes war A. Gurwitsch überzeugt, „ein wesentliches
Fundament für die Lehre von der Ichhaftigkeit des Attentionalen erschüttert“ zu haben (Gurwitsch
1929, 366). Nun kreist M. Wehrles Untersuchung subjektiver Horizonte gerade um die Ichhaftigkeit
des Attentionalen und geht somit in die entgegengesetzte Richtung als das Vorhaben Gurwitschs: Die
Autorin versucht nachzuweisen, dass es ohne subjektive Tätigkeit keine Aufmerksamkeit gibt. Motor
der Aufmerksamkeit ist das Interesse, und Interesse wird in Anlehnung an Husserls Erfahrung und
Urteil als „erfahrende Ichtendenz“ aufgefasst (S. 102). Das Interesse als erfahrende Ichtendenz ist das
Prinzip, das nicht nur bei der aktiv vollzogenen aufmerksamen Zuwendung im Spiel ist, sondern schon
auf der Ebene der Affektion als „Gegenmodus aller Aufmerksamkeit in der Passivität“ (vgl. Hua
XXXI, S. 4) sein Werk leistet (S. 108; 181). Insofern als Affektionen und Assoziationen die Tätigkeit
eines Subjektes voraussetzen, weisen sie eine „Präferenzstruktur“ auf (S. 111). Mit den Termini ‚Ich’
bzw. ‚Subjektivität’ ist nun hier nicht das Ich gemeint, das sich durch Reflexion konstituiert und uns
durch Vergegenwärtigung „in unbestimmter Leiblichkeit (oder gar keiner) und in unbestimmter
Persönlichkeit oder als pures, reines Ich“ (Hua XIII, Nr. 1, S. 296) gegeben ist. Hingewiesen wird man
vielmehr entweder auf das blosse leibliche Orientierungszentrum der Wahrnehmung oder auf die
Subjektivität als Ergebnis der Sedimentierung vergangener Erfahrung, d. h. auf so etwas wie ein ‚Ich
der Habitualitäten’, wobei natürlich das Verständnis von ‚Habitualitäten’ niederstufig bleiben muss.
Dieser Terminus muss nämlich weit genug gefasst werden, um alle Fälle zu umspannen, in denen die
Vergangenheit auf das gegenwärtige Bewusstsein wirkt – sowohl die bewusste, als auch die
verdrängte Bedürfnisse bekunden, wie z. B. im von T. Fuchs aus von Kleist übernommenen Beispiel
des Branntweinsäufers, der beim Erklingen der Rathausglocke ‚Kümmel, Kümmel!’ zu hören glaubt
(Fuchs 2006, S. 40). Einen solchen aus Habitualitäten entstehenden subjektiven „Erfahrungs- und
Interessenzusammenhang“ (S. 109) nennt die Autorin ‚noetischen Horizont’. Es handelt sich dabei um
einen Begriff, der neben den Phänomenologen (Husserl und Merleau-Ponty vor allem) und T. Fuchs’
Theorie des Leibgedächtnisses (S. 15) auch noch weitere Quellen aufweist: Einerseits den innerhalb
der empirischen kognitiven Psychologie geprägten Begriff des ‚attentional set’ (S. 328), und
andererseits die Idee des Bewusstseins als ‚Repräsentation’, d. h. als eines Bewusstseins, in dem die
vergangene Erfahrung bleibende Spuren hinterlässt (S. 234-235), wobei solche bleibenden Spuren in
Abwesenheit eines äusseren Reizes eine Wirkung ausüben, die sich eher als top down als bottom up
einstufen lässt. Die traditionelle, naïve Auffassung der top-down motivierten Aufmerksamkeit als
willentlich gesteuerter Tätigkeit gerät somit durch die Idee des noetischen Horizontes ins Wanken (S.
188).
Der Begriff des noetischen Horizontes spielt schon im ersten, philosophischen Teil des Buches
eine zentrale Rolle, indem auf Gurwitsch kritisch Rücksicht genommen wird, insbesondere auf dessen
werden diesbezüglich im dritten Teil auch Philosophen aus dem englischsprachig-analytischen Lager
in Erwägung gezogen. Hier setzt sich die Autorin besonders eindringlich mit Noe & O’Reagan
einerseits und Dreyfus andererseits auseinander (S. 256-261). Wenn auf der einen Seite die Idee der
‚action in perception’ und die Hervorhebung der engen Beziehung von Wahrnehmung und
Leiblichkeit gewürdigt wird, wird auf der anderen Seite die Vernachlässigung der zeitlichen
Dimension der Wahrnehmung als die wichtigste Lücke des Anti-Repräsentationalismus solcher
Autoren angesehen: Man kann natürlich nicht von Wahrnehmung ohne leibliches ‚skillful coping’
sprechen, aber auch nicht von leiblichem ‚skillful coping’ ohne einen Hinweis auf die Wirkung
Der zweite Teil des Buches ist der Psychologie gewidmet. Die Autorin bietet darin einen
Überblick über die verschiedenen Ansätze, die die empirische psychologische Forschung der letzten
fünfzig Jahre zum Thema ‚Aufmerksamkeit’ geprägt haben, und zwar am Leitfaden der verschiedenen
Metaphern, die bei der Erforschung des Phänomens attentionaler Zuwendung zum Einsatz gekommen
sind: Filter, Scheinwerfer, zoom-lens, Klebstoff, grabbing hand, pecking chicken. Insbesondere der
Übergang zu den Bildern der ‚zugreifenden Hand’ und des ‚pickenden Huhns’ geben von der sich
allmählich unter den empirischen Forschern durchsetzenden Tendenz Zeugnis, immer mehr das
Thema der Zeitlicheit in den Vordergrund rücken zu lassen, insbesondere bei der Auseinandersetzung
Der dritte Teil des Buches verbindet das Philosophische mit dem Psychologischen, indem
Beziehung gesetzt werden. Die Termini ‚genetisch’ und ‚dynamisch’ machen noch einmal deutlich,
wie ernst hier das Verhältnis der Aufmerksamkeit zur Zeitlichkeit genommen wird. Neben der
horizontalen Seite der Aufmerksamkeit wird hier auch auf ihre ‚vertikale Seite’ hingewiesen, die
verschiedene Stufen umfasst. Die unterste Stufe der Aufmerksamkeit entspricht dem Niveau der
Konstitution der Abgehobenheiten, und hier hängen selektive und integrative Funktion der
Aufmerksamkeit notwendig zusammen (S. 275). Eine ausschliesslich selektive Aufmerksamkeit kann
sich nach Ansicht der Autorin erst später bilden. Den Terminus ‚Attentionalität’ bezieht die Autorin
auf das, was allen solchen genetischen Stufen gemeinsam ist (S. 234). Beachtung findet auch das
Problem der Beziehung der Aufmerksamkeit zum Bewusstsein überhaupt, und insbesondere die
Erstere Frage wird vor allem auf das Problem eingeschränkt, ob die ausserhalb des Themas der
Aufmerksamkeit fallenden Inhalte wirklich so detailliert vorgestellt werden wie wir zu glauben
zunächst geneigt sind – mit A. Noë gesagt: ob die snapshot conception der Wahrnehmung eine
Illusion ist oder nicht. Die Beantwortung der letzteren Frage beschäftigt sich hingegen vor allem mit
den Phänomenen, die gemeinhin unter den Titel ‚subliminale Wahrnehmung’ gebracht werden. Im
allgemeinen verwirft dabei die Autorin eine aus der 3. Person-Perspektive stammende Auffassung des
Unbewussten (S. 304), wonach alles, worüber die Versuchsperson zu berichten ausserstande ist bzw.
alles, was keinen Beitrag zur Erklärung des beobachtbaren Verhaltens leistet, als unbewusst gelten
soll; plädiert wird daher für einen Bewusstseinsbegriff, der graduelle Abstufungen zulässt.
Es handelt sich im allgemeinen um ein sehr lesenswertes Buch, für Phänomenologen und
Psychologen gleichermassen gewinnbringend – eher Handbuch als Dissertation: eine echte Einführung
in die Phänomenologie und Psychologie der Aufmerksamkeit. Die wichtigsten Fragen, die mit dem
Thema ‚Aufmerksamkeit’ zusammenhängen, werden hier aufgegriffen und bis ins kleinste Detail
entwickelt und behandelt. Wir möchten mit den folgenden Punkten die Diskussion eröffnen und auf
(1)
Die allereinfachste Form der Affektion ist Affektion durch Kontrast: Ein lauter Krach ertönt in der
Stille, eine schrille Farbe hebt sich auf einem weissen Hintergrund ab. Nun vertritt die Autorin
folgende Ansicht: „Ein Kontrast sowie eine Ähnlichkeit ergeben sich immer nur relativ in Bezug auf
vorangegangene Sinneseindrücke oder Erfahrungen“ (S. 109). Daraus folgt, dass kein Kontrast
möglich ist ohne vergangene Erfahrung, und ferner auch keine Affektion durch Kontrast möglich ist
ohne vergangene Erfahrung. Affektion durch Kontrast wäre demnach immer als Ergebnis der
Sedimentierung vergangener Erfahrung und vergangener subjektiver Tätigkeit anzusehen. Stimmt das?
Gibt es wirklich keine kontrastbedingte Affektion ohne vergangene Erfahrung? Würde mich ein lauter
Lärm von der Straße nicht vom Lesen ablenken, wenn es für mich ein vollkommen neues Erlebnis
wäre? Die Antwort kann natürlich auch lauten: ‚Nein, er würde mich nicht ablenken’. Dann müsste
man aber u. E. jedenfalls schärfer zwischen Affektion und Assoziation unterscheiden: Assoziation hat
sicherlich ihren Ursprung in der Erfahrungsgeschichte des Subjektes und ist somit wesentlich auf
vergangene Erfahrung angewiesen. Durch Assoziation wird Vertrautes mit Vertrautem verbunden. Hat
sich über eine gewisse Zeit die Verbindung von zwei Inhalten A und B wiederholt, dann wird
irgendwann im eingeübten Subjekt das Auftreten von Reiz A das Auftreten von Reiz B erwecken.
Kann man aber was für die Assoziation gilt auch auf die Affektion übertragen? Wohl nicht in dem
Sinne, dass uns nur das Vertraute affizieren kann. Etwas kann uns natürlich deswegen auffallen, weil
es uns vertraut vorkommt, z. B. ein Wort in unserer Muttersprache im Telefongespräch eines
Ausländers, das sich sonst in einer uns unverständlichen Fremdsprache abspielt. Affizieren kann uns
aber auch das Neue und Fremde (S. 178). Hier wird man natürlich einwenden können, dass sich das
Neue und Fremde unserer Aufmerksamkeit nur insofern aufdrängen kann, als es mit dem Vertrauten
kontrastiert, und dass ferner auch die Gegebenheit des Neuen und Fremden an die Gegebenheit des
Vertrauten und somit an die Sedimentierung vergangener Erfahrung gebunden ist. So könnte die oben
genannte Ansicht der Autorin („ein Kontrast sowie eine Ähnlichkeit ergeben sich immer nur relativ in
Bezug auf vorangegangene Sinneseindrücke oder Erfahrungen...“) dadurch stark gemacht werden,
dass man Affektion und Assoziation in ihrem verschiedenen Verhältnis zur vergangenen Erfahrung
folgendermassen kennzeichnet:
(a) Findet eine Assoziation zwischen zwei Inhalten x und y statt, dann müssen beide
(b) Findet eine Affektion statt, und hebt sich ein Inhalt x von einem Inhalt y ab, dann
Aus (b) ergibt sich aber unmittelbar eine schwerwiegende Folge: Hebt sich ein Inhalt x von einem
anderen Inhalt y ab, und kommen sowohl x als auch y zum ersten Mal zur Gegebenheit, dann kann x
keine Affektion üben. Nehmen wir z.B. an, dass wir noch nie die Farben Weiss und Schwarz gesehen
haben, und noch nie einen Kontrast erlebt haben – wir versetzen uns in die Lage eines Subjektes, das
bisher nur z. B. unabgehobenes Rot visuell wahrgenommen hat. Nehmen wir weiter an, dass wir zum
ersten Mal einen schwarzen Punkt auf einer weissen Oberfläche erblicken. Wenn (b) stimmt, dann
müssten wir erwarten, dass sich der schwarze Punkt hier von der weissen Oberfläche nicht abhebt und
uns nicht affiziert, weil der schwarze Punkt zwar ein neuer Inhalt ist, jedoch jeglicher Kontrast mit
einem vertrauten Hintergrund fehlt. Hier läge notwendig Erfahrung ohne Affektion vor – ferner
Erfahrung ohne Interesse, wenn alles Interesse aus der Affektion entstammt. Die Möglichkeit einer
Erfahrung ohne Affektion, und ferner ohne Interesse, scheint die Autorin allerdings abzulehnen: „Eine
subjektive Erfahrung ohne jegliches Interesse ist ... nicht vorstellbar, überall zeichnet sich diese durch
ihr präferentielles Wesen aus: ‚Es gibt in der Wachheit (als Korrelat des Schlafes) überhaupt keine
absolute Interessenlosigkeit, und was das ‚interessenlos verlaufend’ heisst, ist selbst ein
Relevanzphänomen niederster Stufe“ (S. 114). Diese Auffassung ist in der Tat nahe liegend. Sie
scheint allerdings problematisch, wenn andererseits behauptet wird, dass uns nur ‚eingeübte’
Kontraste – Kontraste mit einem vertrauten Hintergrund – affizieren können, ebenso wie
Assoziationen prinzipiell nur möglich sind als ‚eingeübte’ Assoziationen. Eine Verteidigung der
These, dass nicht jedes Bemerken zwangsläufig Bemerken des Vertrauten ist, dennoch aber notwendig
Vertrautes voraussetzt, ist zwar an sich möglich, jedoch nicht ohne Kosten.
(2)
Auf der untersten Stufe ist nach Ansicht der Autorin Aufmerksamkeit selektiv und integrativ (S. 221;
274-275; 278). Stimmt das? Versuchen wir dies anhand verschiedener Beispiele zu klären. Ist uns
dann ist wohl eine Gestalt gegeben (etwa ‚ein Bündel vertikaler Striche’) und eine passive Synthesis
abgehobener Elemente vollzogen. Dabei spielt auch Aufmerksamkeit eine Rolle, und zwar sowohl
eine selektive (die einzelnen Striche heben sich vom weissen Hintergrund ab), als auch eine
integrative (die einzelnen Striche werden zu einem Bündel vereinheitlicht). Wie verhält es sich aber
Hier ist uns ebenso eine bestimmte Gestalt gegeben. Wird hier aber auch eine passive Synthesis
abgehobener Elemente vollzogen? Liegt etwa eine ‚Deckung par distance’ im Sinne Husserls vor?
Dies ist wohl nicht der Fall. Hier ist eher einfach eine Gestalt gegeben, und zwar ohne jegliche
Synthesis, durch blosse Abhebung eines Inhaltes aus dem Hintergrund. Die schwarze Figur affiziert
unsere Aufmerksamkeit, und die selektive Aufmerksamkeit ist zweifellos am Werk. Was ist aber mit
der integrativen Aufmerksamkeit? Was soll hier womit integriert werden? Natürlich ist die
Wahrnehmung des schwarzen Kreises eine dauernde, und natürlich findet stetig – so kann man wohl
behaupten – eine zeitliche Synthesis der verschiedenen Phasen solcher Dauer statt. Muss man dies
aber als eine Leistung der Aufmerksamkeit – etwa als ‚feature integration’ im Sinne Treismans –
verstehen (S. 117)? Die zeitlichen Phasen der Dauer sind ja nicht abgehoben, sondern miteinander
verschmolzen, und Aufmerksamkeit als ‚feature integration’ hat nicht mit der Konstitution
gegliederter Inhalte bei: Aufmerksamkeit verbindet Inhalte, die uns affizieren, und verschmolzene
Inhalte können uns nicht affizieren. Eine zeitliche Synthesis leistet die Aufmerksamkeit vielmehr etwa
dann, wenn wir eine Melodie hören. Hier kann man zu Recht auf Levin & Saylors Experimente in der
Wahrnehmung von Ereignissen (S. 196-197), d. h. von zeitlich ablaufenden Inhalten hinweisen – zu
Recht, denn bei der Melodiewahrnehmung ist in der Tat wohl von Inhalten die Rede, die aus
abgehobenen, zeitlich verteilten Teilen bestehen. Hier muss Aufmerksamkeit wirklich eine ‚feature
integration’ leisten. Wahrnehmung von Ereignissen liegt jedoch schon auf einer relativ hochstufigen
Ebene. Anders verhält es sich bei der Wahrnehmung bloss dauernder Abgehobenheiten, denn
dauernde Abgehobenheiten sind noch keine Ereignisse. Hören wir einen unverändert andauernden
Ton, dann kann wohl „von zeitlichen Synthesen (Retention, Impression und Protention)“ die Rede
sein. Können die Synthesen in diesem Fall aber als „Integration der aktuellen Wahrnehmung mit
früheren Erlebnissen“ (S. 220) angesehen werden? Wir bezweifeln das, denn hier sind die
verschiedenen Tonphasen miteinander verschmolzen. Gegen die Ansicht der Autorin behaupten wir
daher, dass auf den untersten Stufen der Wahrnehmung eine „zeitlich und inhaltlich kohärente
Wahrnehmung“ (S. 274) nicht durch die „integrativen synthetischen Leistungen“ der Aufmerksamkeit
überhaupt ermöglicht wird, sondern dass sie vielmehr schon unabhängig von letzteren stattfinden
kann: Die Wahrnehmung des schwarzen Kreises als bloss dauernder Abgehobenheit ist ja zeitlich und
inhaltlich kohärent, und dazu sind keine „integrativen synthetischen Leistungen“ erforderlich.
(3)
Nach Ansicht der Autorin besteht keine Affektion ohne Emotion. Wo Aufmerksamkeit (im weitesten
Sinne des Wortes) am Werk ist, da sind auch immer Emotionen vorhanden. Der Terminus
‚Attentionalität’ bezieht sich gerade auf Aufmerksamkeit, insofern sie mit Emotionen wesentlich
verwoben ist (S. 241). Emotionen werden allerdings dabei in einem starken, an das Werk von E.
(zumindest Kinästhesen) sowie eine „Handlungstendenz“ bzw. Tendenz zur leiblichen Bewegung als
wesentliches Merkmal umfasst (S. 247-248). M. a. W.: Eine Emotion ist eine Gemütsbewegung, die
ohne Bewusstsein einer leiblichen Bewegung unmöglich stattfinden kann. Hier ergibt sich aber
folgendes Problem: Wenn alle Aufmerksamkeit Emotion voraussetzt, und Affektion auch
Aufmerksamkeit ist (und zwar als „Gegenmodus aller Aufmerksamkeit in der Passivität“ (Hua XXXI,
S. 4), dann setzt Affektion ebenfalls Emotion voraus. Wenn aber alle Affektion Emotion voraussetzt,
und alle Emotion Leibbewusstsein voraussetzt, dann setzt eo ipso auch alle Affektion immer
Leibbewusstsein voraus. Zu diesem Schluss scheint auch die Autorin zu gelangen, indem sie für „die
körperliche Fundierung der Emotionen und der damit einhergehenden Attentionalität“ (S. 251-252,
H.d.V.) plädiert. Diese Ansicht möchten wir hier jedoch in Abrede stellen. Emotion und Affektion
weisen u.E. ein verschiedenes Verhältnis zur Sinnlichkeit auf: Emotion im Sinne Thompsons setzt
Sinnlichkeit voraus im Sinne von Leiblichkeit; Affektion setzt hingegen Sinnlichkeit voraus im Sinne
von sinnlichen Empfindungen, aber nicht unbedingt von Leiblichkeit. So gibt es wohl keine Affektion
ohne sinnliche Empfindungen, aber es kann prinzipiell Affektion geben ohne Leibbewusstsein. Unter
‚Leibbewusstsein’ verstehen wir soviel wie Kinästhese bzw. das Bewusstsein subjektiver
Körperbewegungen, so wie sie vom Subjekt unmittelbar erlebt werden wie z. B. die
Muskelempfindungen, die die willentliche Bewegung des Augapfels beim Erheben des Blickes
begleiten1. Leibkörper bedeutet somit mehr als die blosse räumliche Ausdehnung eines Sinnesdatums.
Im Bewusstsein des Leibes ist ja das Bewusstsein eines ‚Ich kann’ enthalten oder, wie die
englischsprachige analytische Philosophie des Geistes zu sagen pflegt, ein ‚sense of agency’: Der Leib
1
Wir meinen m. a. W. das, was I. Kern „die sinnliche Tätigkeit als leibliche Selbstbewegung“ nennt. Vgl. I.
Kern, Idee und Methode der Philosophie, S. 48.
ist uns m. a. W. ursprünglich gegeben als das, was die freie Steuerung unserer Wahrnehmungstätigkeit
ermöglicht.
Wir können nun ganz bestimmt keine sinnlichen Empfindungen erleben, ohne einen Körper zu
haben, also setzt wohl – ontologisch gesprochen – das Bewusstsein von Empfindungen nowendig die
Existenz eines Körpers voraus. Setzt aber das Bewusstsein von Empfindungen auch das Bewusstsein
eines (Leib)körpers voraus? Dies scheint fraglich. Gewiss ist nur, dass das Bewusstsein meines Leibes
Bewusstsein eines Dinges. Was ist aber, wenn noch kein Ding wahrgenommen, wenn noch keine
objektivierende Auffassung vollzogen wird, sondern bloss sinnliche Daten erlebt werden? Wir
berühren z. B. versehentlich heisses Eisen, und verbrennen uns dabei die Finger (vgl. Kern 1975, S.
105). Die Wahrnehmung vom heissen Eisen löst sich auf, die Tastempfindungen werden nicht mehr
als Erscheinungen des heissen Gegenstandes aufgefasst. Es mag allerdings noch die apperzipierende
Auffassung bleiben, die das Brennen in unseren Fingern lokalisiert. Ist es denkbar, dass die
Intensitätssteigerung einer Empfindung auch noch die betreffende apperzipierende Auffassung zum
Verschwinden bringt? Hier könnten wir an Bergsons Beispiel eines Kanonenschusses anknüpfen, das
uns gleichsam in Ohnmacht versetzt, indem wir einen Augenblick lang die „conscience de notre
personnalité“ verlieren (1898, S. 24). Wir glauben, dass dieses Gefühl der Ohnmacht ein Anzeichen
dafür ist, dass hier mehr im Spiel ist als eine blosse Auffassungsänderung, wonach die Wahrnehmung
des Kanonenschusses einfach in eine Wahrnehmung eines Zustandes unseres Leibes umschlagen
würde. Wäre dies so, dann würde das Bewusstsein unseres ‚Ich kann’ in diesem Fall nicht abhanden
kommen; wir hätten es bloss mit einem verschiedenen Wahrnehmungsinhalt zu tun. Was uns hier aber
vorläufig abhanden kommt, ist gerade die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung frei zu steuern – kurz, das
Bewusstsein unserer Leiblichkeit als des Organs, wodurch wir unsere Wahrnehmungstätigkeit
beherrschen: Unsere Verwirrung ist dadurch ausgelöst, dass wir immer noch Empfindungen erleben,
jedoch für einen Augenblick unsere Wahrnehmungstätigkeit nicht mehr im Griff haben. Ein
Empfindungsfeld ist zwar immer vorhanden. Von einer Leiblichkeit als dem Organ der freien
Bewältigung unserer Wahrnehmungsakte ist jedoch keine Rede mehr. Kann hier folglich auch von
Affektion nicht die Rede sein? Dies schiene uns ein voreiliger Schluss. Affektion scheint hier im
Gegenteil wohl vorhanden zu sein, und zwar in ihrer einfachsten Form, nämlich als Affektion durch
Kontrast. Ist dem so, dann haben wir es hier und im allgemeinen in allen Fällen, wo uns die
tun. Dies zeigt, dass Affektion wohl sinnliche Daten, jedoch nicht unbedingt die Konstitution einer
Leiblichkeit voraussetzt. Wir stimmen daher der von M. Wehrle vertretenen Ansicht ‚Keine Affektion
ohne Emotion’ nur unter dem Vorbehalt zu, dass der Terminus ‚Emotion’ –anders als in der Tradition
der embodied cognition—in einem schwächeren Sinn verstanden wird, wonach Emotionen zwar
sinnliche Empfindungen enthalten, jedoch nicht unbedingt ein Leibbewusstsein: Nicht alle Emotionen
liessen sich demnach als embodied emotions auffassen, und die durch den Kanonenschuss eintretende
Verwirrung lässt sich u.E. am besten eher als ‚disembodied emotion’ beschreiben.
(4)
Die Autorin bezeichnet ‚Attentionalität’ als „die evaluative Dimension der Wahrnehmung“ (S. 241).
Dies heisst, dass alles, was überhaupt unsere Aufmerksamkeit affiziert, eine qualitative
Gefühlsfärbung erhält (S. 242). Diese Gefühlsfärbung konstituiert sich durch das Interesse, verstanden
als eine „Triebintentionalität“ (Husserl) bzw. „affektive Intentionalität“ (J. Slaby), in der „etwas
‚Inneres’ unmittelbar äusserlich bzw. leiblich auszudrücken“ scheint (S. 248). Die Autorin geht auf die
Definition der Termini ‚Gefühlsfärbung’ und ‚Wertung des Empfundenen’ nicht näher ein, aber wir
können uns deren Bedeutung anhand von passenden Beispielen verdeutlichen. Ziehen wir zuerst die
wahrgenommenen Dingen gilt. Als ‚qualitative Gefühlsfärbung’ mag in diesem Fall das gelten, was K.
Lewin als ‚Aufforderungscharakter’ bezeichnet hat2. Nehmen wir ein Ding wahr, dann ruft uns das
Ding gleichsam zu, „tritt näher und immer näher sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung,
deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen...“
(Hua XI, S. 7). Der Aufforderungscharakter des wahrgenommenen Dinges besteht m. a. W. darin, dass
eine Aufforderung vom Ding an unseren Leibkörper ausgeht, bestimmte Handlungen bzw. bestimmte
2
Vgl. Lewin (1926), S. 64 f.: „Sowohl die echten Bedürfnisse wie die Vornahmenachwirkungen äussern sich
typisch darin, dass sich gewisse Dinge oder Ergebnisse mit Aufforderungscharakter angeben lassen, deren
Begegnung die Tendenz zu bestimmten Handlungen nach sich zieht.“
sound my alarm clock is emitting. But I don’t hear the earplugs. The taste
paste I have smeared on my tongue prevents me from tasting the chocolate
I am eating but I do not (or need not) taste the taste paste.
Of course, in denying that the moth is seen, I am not denying that light
reflected from the moth carries information that reaches the eyes. My claim
is that the moth is not seen in the phenomenal sense of the term ‘see’. There
no conscious
Bewegungen auszuführen, die inisunserem or phenomenal
Können liegen. Kannrepresentation of the
jedoch überall, womoth.
But what if there are three different moths hidden on the tree trunk?
Again my im
wahrnehmungsmässige Aufmerksamkeit view is that
Spiel ist,there
von is no moth
einem that IAufforderungscharakter
solchen see. Of course, if there aredie
lots of
moths and they line up perfectly with one another so that they cover the entire
Rede sein? Schauen wir uns dastree trunk,Bild
folgende then(A)
I doan:
see a blanket of moths though I misidentify the thing I
am seeing as a tree trunk. Still even in this case I fail to see individual moths.3
Here is one more example. Fixate your eyes upon the plus sign in the
middle of the figure below.
Figure 3.
Unsere Augen auf das Zeichen ‚+’ gerichtet haltend, können wir eine Tendenz verspüren, unsere
You certainly see each bar on the left. What about each bar on the right?
414Aufmerksamkeit
Michael Tye auf eine einzelneIf you think you
der Linien auf see
der each
linkensuch Seitebar,
zu tell me how
richten. Diesemany bars kann
Tendenz there sich
are on
the right without moving your fixation point. You won’t be able to do it
Thisauch
is too fast. In general, (as you canofwith the bars on respect
the left). Why not? Surely because it is not
aber dann erfüllen, wennthewirpresence a blocker
keine Augenbewegung withvollziehen, tound bloss das Thema unserer
a perceptual experience does not license the casethethat each barthat
conclusion on the theright
blockeris clearly
is marked out or differentiated in
perceptually experienced. The earplugs the phenomenology
I am wearing block of yourmy experience.
hearing theBut then surely even though you are
Aufmerksamkeit vom Plus-Zeichen auf eine einzelne Linie theverschoben wird. Nun kann
youaber
are eine
sound my alarm clock is emitting. conscious
But I don’tofhear the bars on
the earplugs. right, it is not
The taste true that conscious of
paste I have smeared on my tongueeach individual
prevents me frombar.tasting the chocolate
Tendenz,
I am die Isich
eating but unabhängig
do not (or need von
not) einer
This Änderung
taste is the
the unserer
result
taste paste.deliveredKörperhaltung
by my earlier erfüllt, kaumYou
proposal. als Tendenz
see the bars—
Of course, in denying that the moth you are visually
is seen, I amconscious
not denying of them—since
that light the phenomenal character of your
gelten,from
reflected eine the
leibliche Bewegung
moth carries zu vollziehen.
visual
information experience, Hier
that reaches weisen
as you eyes.die
the stare at
My einzelnen
the centralLinien
claim sicherlich
dot, directly eineyou to ask
enables
with respectsense
is that the moth is not seen in the phenomenal to theof bars collectively
the term “Are they parallel?” (for example). But
‘see’. There
Gefühlsfärbung
is no auf: sie affizieren
conscious or phenomenal unser Interesse,
consider
representation the sixth
of the undaway
bar
moth. wecken from einetheStrebung.
plus sign Uns
on thescheint
right.hier
As jedoch
you fixate
But what if there are three differenton themoths
plus sign,
hiddenyouoncannot
the tree mentally
trunk? point to it. You cannot apply the
angebracht,
Again my view von einem
is that theresinnlichen concept
is no moth statt that
that Ivon barcourse,
see.einem
Of toleiblichen
it directly on the
if thereStreben
are lots basis
zu of the phenomenal
of sprechen. Ein leiblichescharacter of
moths and they line up perfectly withyour one experience
another so (without
that they changing
cover the your
entirefixation point). So, you do not see it.
tree trunk, liegt
Streben then vielmehr
I do see a in
blanket of moths
folgendem though
Beispiel (B)I misidentify
vor: the thing I
am seeing as a tree trunk. Still even in this case I fail to see individual moths.3
Here is one more example. Fixate your eyes upon the plus sign in the
middle of the figure below.
Figure 3.
You certainly see each bar on the left. What about each bar on the right?
If Die
you Augen auf das
think you Plus-Zeichen
see each such bar,gerichtet, mögen
tell me how wirbars
many hier there
auch eine Tendenz verspüren, eine einzelne
are on
the right without moving your fixation point. You won’t be able to do it
(asder
youdicht
can aneinandergereihten
with the bars on theLinien
left). Why not?
auf der SurelySeite
rechten because it is notzu erfassen. In diesem Fall kann
thematisch
the case that each bar on the right is clearly marked out or differentiated in
thedie
phenomenology
Tendenz jedoch of your experience.
unmöglich But then surely
zur Erfüllung evenwenn
gelangen, though youauch
nicht are die dazu erforderliche
conscious of the bars on the right, it is not true that you are conscious of
each individual bar.
This is the result delivered by my earlier proposal. You see the bars—
you are visually conscious of them—since the phenomenal character of your
visual experience, as you stare at the central dot, directly enables you to ask
with respect to the bars collectively “Are they parallel?” (for example). But
Augenbewegung vollzogen wird. Wir haben es hier daher mit einer leiblichen Tendenz zu tun, und
hier scheint Aufmerksamkeit tatsächlich „nicht unabhängig von einer... leiblichen Verankerung in der
Welt gedacht werden“ (S. 242) zu können. Die dicht aneinandergereihten Linien affizieren unser
Interesse und fordern uns gleichzeitig auf, eine gewisse Wendung unseres Augapfels zu vollziehen,
also hängen hier Affektion und Leiblichkeit unverkennbar zusammen. Dass dies jedoch nicht überall
der Fall ist, zeigt eben das Beispiel (A). Es gibt im allgemeinen Fälle, in denen unser geistiger
(sinnlich-geistiger) Blick frei herumwandern kann, und zwar unabhängig von jeglicher Wanderung
des leiblichen Blickes. In solchen Fällen liegt wohl sinnliche Affektion vor, jedoch noch keine
leibliche Affektion. Wiederum müssen wir also den Unterschied bekräftigen zwischen Gefühlen, die
wohl als ‚embodied emotion’ gelten können, und Gefühlen, die hingegen in eine solche Einstufung
nicht passen. Das Interesse, das uns zur allseitigen Betrachtung eines Dinges bewegt, kann als
‚embodied emotion’ gelten, denn in der Tat liegt hier wohl – um es mit A. Noë zum Ausdruck zu
bringen – eine ‚action in perception’ vor. Kann aber dem Interesse, das uns hingegen die einzelnen
Lichter im Rheintal zu einer Lichterkette (Hua XI, S. 154 f.) verbinden lässt, ebenfalls die Rolle von
‚embodied emotion’ beigemessen werden? Dieser Schritt scheint uns nicht selbstverständlich. Denken
+ + + +
Die ersten beiden Zeichen werden (aufgrund ihrer Nähe) miteinander verbunden und von den anderen
beiden getrennt. Diese Verbindung findet gänzlich passiv statt. Zwar spüren wir dabei eine Tendenz,
die nahen Punkte zu verbinden und als ‚Paar’ aufzufassen. Muss die Tätigkeit des Verbindens und
Trennens aber unbedingt als eine leibliche Tätigkeit aufgefasst werden? Dies scheint nicht eindeutig
aus der Erfahrung hervorzugehen – jedenfalls nicht so eindeutig wie bei den oben behandelten
Beispielen (A) und (B). Dort hatten wir es mit einem Aufmerksamkeitswechsel zu tun. Hier ist im
Wanderung des Blickes ist nämlich keine Spur. Es ist nicht so, als würden wir unseren Blick (nicht
einmal unseren geistigen Blick) bewegen müssen, um die nahen Punkten zusammenzufügen und sie
von den entfernten Punkten zu trennen, sondern hier finden Verbindung und Trennung ‚mit einem
Blick’ statt, ohne dass wir nach den zu verbindenden und trennenden Elementen zu ‚suchen’ haben:
ihre Einheit springt von selbst in die Augen. Sollten wir hier nun trotzdem eine leibliche Bewegung
Problemlos kann man hier daher das Verbinden und Trennen der Zeichen als gefühlsgefärbt
ansehen, und zwar gefärbt durch das Gefühl des Interesses. Ob man allerdings im Interesse, das
verbindet und trennt, eine Emotion erblicken kann, in der „etwas ‚Inneres’ unmittelbar äusserlich bzw.
leiblich auszudrücken“ (S. 248) scheint, bleibt u. E. offen. Man kann sich die Leiblichkeit beliebig
unbestimmt vorstellen und den Begriff ‚leibliche Tätigkeit’ so schwach auffassen wie man will, etwa
als ‚Tätigkeit, die von einem Hier ausgeht’. Ist uns die Tätigkeit des Verbindens und Trennens der
Zeichen im Beispiel (C) aber als eine solche gegeben, die ‚von einem Hier ausgeht’? Dies mag auf das
Ergreifen einer Tasse oder auf das visuelle Verfolgen eines sich bewegenden Gegenstandes zutreffen.
Im Beispiel (C) aber scheint die Sachlage ganz anders zu sein. Dies hindert uns daran, der Ansicht der
Autorin, wonach die „erste Wertung des Empfundenen“ ein ursprüngliches Verhältnis zum Leib
Literatur
Bergson, H. (1898) Essai sur les données immédiates de la conscience. Paris: Alcan.
33.
Kern, I. (1975) Idee und Methode der Philosophie: Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft.
Berlin: De Gruyter.
Lewin, K. (1926) Vorsatz, Wille und Bedürfnis, mit Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und