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Iannis Xenakis: Herma (1960/61)

Wortbedeutung Herma: Band, Träger, Fundament


„Symbolische Musik“ als Bezeichnung für Stücke, die logische Denkoperationen darzustellen versuchen
(Xenakis: Symbol nur als abstraktes Zeichen, nicht als Sinnbild – vgl. Varga, S.83)
Kompositorisches Werkzeug ist die von dem Logiker George Boole (1815-1864) entwickelte logische Algebra
(Boole, Laws of Thought, 1854; Weiterentwicklung ). Analog der mathematischen Algebra, in der Buchstaben
Zahlen vertreten, verwendet die logische Algebra Buchstaben - die sog. Variablen - anstelle von Aussagen
oder Mengen und Operatoren, die die möglichen Verknüpfungen von Aussagen oder Mengen bezeichnen.
Die Operatoren werden auf zwei Arten notiert. Bei der logischen Interpretation als Disjunktion (intersection),
Konjunktion (union) und Negation (negation) schreibt man sie als ODER, UND, NICHT bzw. OR, AND, NOT
und kürzt sie mit V, , und ¬ ab. Bei der mengentheoretischen Interpretation als Vereinigung, Durchschnitt
und Komplement werden sie als , U und geschrieben.
Ausgangspunkt:
Menge R (alle 84 Töne des Klaviers); davon 3 Teilmengen A, B und C:
(Tabelle nach Eugene Montague, The Limits of Logic: Structure and Aesthetics in Xenakis's Herma)
3 Grundoperationen:
Komplementärmengen A, B und C
Schnittmengen: A B, A C, B C
Vereinigungsmengen AUB, AUC, BUC, AUBUC
Verknüpfung der Mengen zu logischen Ausdrücken (functions)
Die Gruppen sind durch Flächendynamik voneinander abgehoben. Die Anordnung der Noten innerhalb jeder
Gruppe wird durch stochastische Gesetze per Computer bestimmt.
Aufeinanderfolge der Mengen:
1. Teil (quasi „Exposition“): R – A / A – B / B – C / C
Auf die Exposition aller Töne (cresc. ppp-fff und accelerando von MM=104 bis 120 als einheitsstiftende
Faktoren) folgen die drei Teilmengen, gefolgt von ihrem Komplement. Jede Teilmenge wird in zwei Qualitäten
dargestellt: linear (linéaire) und als „Wolke“ (nuage). Diese beiden Schreibweisen werden durch
unterschiedliche Dynamiken differenziert. Die Komplementärmengen werden durchgehend ff, abwechselnd
mit und ohne Pedal, gespielt. Die Mengen sind homogen, ihre Dauern (67/192/66/156/66/54/102 Viertel) im
Vergleich zum 2. Teil relativ lang.
2. Teil (quasi „Durchführung“):
„Zielmenge“ ist eine Menge, in der jede Menge die anderen beiden schneidet (vgl. Fig. VI-11).
Diese Menge kann auf zwei Weisen erreicht werden:
F = A B C + A B C + A B C + A B C [17 Operationen] (vgl. Fig. VI-12)
F = (A B+A B) C + (A B+A B) C [10 Operationen] (vgl. Fig. VI-13)
Die beiden “Rechenwege” bilden zwei Ebenen (plane 1/2). Diese Ebenen sind durch jeweils zwei distinkte
Dynamiken differenziert (f und fff für die 1., ff und ppp für die 2. Ebene)und werden teilweise sukzessiv,
teilweise simultan beschritten, wobei zahlreiche rappels / recalls zuvor schon erklungene Tonmengen wieder
aufnehmen.
Doppelter Zeitbegriff:
outside-time operations: Strukturen „außerhalb der Zeit“; Tonmengen als abstrakte mathematische Größen,
Zeit als equivalent to the area of a sheet of paper or a blackboard1
in-time operations: „lexikographische“ Zeit; Materialisierung der Tonmengen in der Zeit (simultan/sukzessiv)
Kritikpunkte:
a) kein logischer Grund für drei Teilmengen von R bzw. für die Anzahl der Töne jeder Teilmenge („Logik“ des
Stückes wäre mit weniger Tonhöhen besser kommunizierbar )
b) Gleichsetzung der in-time und der outside-time Struktur: die Musik ist auf ihre outside-time Struktur
reduzierbar
c) nicht alle Tonhöhen einer Menge erscheinen auch tatsächlich in er Partitur (z.B. fehlen in der Menge R 8
Tonhöhen)
d) “Doppelte Tonhöhen”: einige Tönhöhen sind sowohl Teil einer Menge als auch ihrer Komplementärmenge,
was logisch unmöglich ist.
e) “Hinzugefügte Tonhöhen”: bei den rappels schon zuvor erklungener Mengen
f) Dauer der Mengen nicht logisch begründet
g) rappels der 2. Hälfte nicht logisch begründet
h) Pedalgebrauch nicht logisch begründet
i) dynamische Grade zur Differenzierung der beiden Ebenen des 2. Teils nicht optimal gewählt (drei
benachbarte f-Grade, aber nur ein p-Grad)
j) Verknüpfung der Mengen für den Hörer nicht nachvollziehbar (vgl. Xenakis' Serialismus-Kritik!)
Mathematische vs. musikalische Logik, subjektive Entscheidungen des Komponisten unterwandern die
logische Grundlage (vgl. Titel!) des Stückes (z.B. S.7/I. System). Für die Orientierung beim Hören sind
letztlich andere Faktoren als die vom Komponisten geplanten maßgeblich: Gestik, Entwicklung/Diskontinuität,
Virtuosität, Instrumentenbehandlung. Das Stück darf nicht mit der in Formalized Music dargestellten outside-
time Struktur verwechstelt werden.
If I try to explain my ideas in books and articles or in lectures on this or that technique, it is because I can
easily speak of these things. Or, when I teach, it's to incite others to delve into these same questions. But I
don't say everything, even if I sense or perceive it, because I don't know how to say it.
1 Xenakis, Formalized Music, Pendragon Press1991, S.173

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