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Erklärung
der philosophischen termini technici des Aristoteles
in alphabetischer Reihenfolge.
Von
Paderborn.
Druck und Verlag von Ferdinand Schöningh.
1894.
Zweigniederlassungen in Münster, Osnabrück u. Mainz.
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JUN ^) lP:;J
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YjUAjUL- 4.*^^-^—
Seinem hochverehrten Lehrer,
in Dankbarkeit
Der Verfasser.
Vorwort.
His ist eine erfreuliche Folge der um die Wende des
18. Jahrhunderts zu neuer Blüte erwachten humanistischen Stu
dien, und des in und an ihnen erstarkten historischen Sinnes,
dafs den Schriften und Lehren des grofsen griechischen Denkers
Aristoteles in unserem Jahrhundert wiederum von Seiten der
Wissenschaft die ihnen gebührende Achtung und Beachtung ge
schenkt wurde. „Während nämlich im vorigen Jahrhunderte
nur einzelne Schriften des grofsen Philosophen einen allgemei
neren Einflufs behaupteten, während selbst ein Mann wie Kant
sich von Mifsverständnis wichtiger Punkte seiner Lehre nicht
frei erhielt, ist seit den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts
das Interesse für seine gesamte Weltanschauung neu erwacht,
und es hat sich dasselbe seitdem fortdauernd in dem Mafse ge
steigert, dafs das Studium des Aristoteles nunmehr in den
Vordergrund der philosophischen Bewegung getreten ist. Weit
über den geschlossenen Kreis einzelner Schulen hinaus wurden
viele bedeutende Männer von durchaus abweichenden Richtungen
gleichniäfsig von dem alten Denker angezogen und dauernd ge
fesselt; ja, nachdem die selbständige spekulative Thätigkeit sich
in viele einander oft schroff entgegentretende Systeme spaltete
und auch die verschiedenen Kulturvölker hier mehr und mehr
auseinander gingen, da bot die aristotelische Philosophie ein Feld,
auf dem sich die Forscher aller Richtungen und aller Nationa
litäten zu gemeinsamer fruchtbringender Thätigkeit vereinigen
konnten. So ist die Wiedererweckung und die Blüte der ari
stotelischen Studien ein charakteristisches Zeichen für die heutige
Philosophie" (Eucken, über die Bedeutung der aristotelischen
Philosophie für d. Gegenwart. Berlin 1872. S. 5 f.). In den
Kappes, Aristoteles-Lexikon. I
2 Vorwort.
--,
4 Vorwort.
Matthias Kappes.
A.
dyad-öv, xö, das Gute; als Ziel alles Strebens ist es identisch
mit dem Zwecke: xb ov evexa xal xb xeXoq, und wird
daher definiert als xdyad-öv, ov nävx e<piexai: eth. Nic. I,
1. Anf. Es ist noaxxbv äyad-ov als durch die menschliche
Thätigkeit erreichbares. äyad-bv anXcoq, gut schlechthin,
i. e. dasjenige, welches an sich selbst (avxö od. xad-' avxö)
und durch sich selbst (dt5 avxö) gut ist — bonum simpliciter,
per se; ihm gegenüber steht das äyad-bv xivl, welches
um eines anderen willen (exeoov evexa) und durch ein an
deres (ö1 äXXo) äyad-öv ist — bonum cui, secundum quid,
per accidens. cf. eth. Nic. I, 1, 1094a 18; 4. 1096M3;
top. III, 1, 116b8.
ayvoia, r\, Unkenntnis, Nichtwissen überhaupt: ayvoia
xax anöfpaöiv = dyvoelv xb oXcog firj exeiv exiöxr\firjv ;
durch falschen (Trug-) Schlufs entstandene Tau schung
(anäxrj): ayvoia xaxa öidd-eöiv = äyvoelv x<ö <pavXcoa
exeiv sc. xco <pavhr\v öidd-eöiv exeiv: ana^ Post- 1, 16, ?9b
23; 12, 77" 18. ayvoia eXeyxov s. eXeyxog.
äyxivoia, rj, sicherer Blick, Takt, die Gabe, Mittelglieder einer
Gedankenreihe rasch zu kombinieren : evöxoxia xiq ev äöxe-
mxco x90v<P xov [ieoov: anal. post. I, 34, 89b 10.
aöialQexog unteilbar (individuus), einfach (simplex) =
afieQrjs, änXovg: metam. II, 3, 999a 3; de an. III, 6, 430b 6 ff:
döiaiQexov övväfiei, evxeXexsia, elöei, öxeorföei.
äöidyoQoc, ununterschieden; aöiä<poQov xaxä xb elöog
der Art nach identisch; xä äöiätpoQa die untersten Arten,
die keine Differenz in sich tragen, wodurch sie wieder in
Unterarten geschieden werden könnten: anal. post. II, 13
97b31; top. I, 7, 103a 10; metaph. V, 6, 1016a 18; indif
ferent sich gleich bleibend. anal. post. II, 13, 97b 21.
6 ddiöQioTog — ulod-rfiös
lassen. anal. post. I, 13. 81b 3; 27. 87a 34. de an. III, 4.
429b 18. phys. I, 7. 190b 7.
axcoQiöxog untrennbar, ungetrennt; unabtrennbar von einem
materiellen Substrate, daher materiell. metaph. VI, 1.
1026a 14.
B.
ßovXeöd-ai wollen, verlangen, streben (auch von der natür
lichen Tendenz, dem Naturtriebe). metaph. XII. 10.
1076a 3.
ßovXevöiq, rj, praktische Überlegung (zur Erreichung eines
bestimmten praktischen Zweckes), im Gegensatze zu ^rjxrjöiq
(theoretische Spekulation). eth. Nic. III, 5. 1112b 22.
ßovXevxixoq fähig zu überlegen; fj ßovXevxixrj (sc. qppo-
vrjöiq) die praktische Überlegung, eth. Nic. VI, 8. 1141b 27,
33. r\ ßovXevxixr) <pavxaöla die Vorstellung, die sich
an die Thätigkeit der Überlegung anschliefst, die Phantasie
als das Vermittelnde zwischen dem Theoretischen und Prak
tischen; de an. III, 11. 434a 7. s. <pavxaöia u. Xoyiöxixög.
ßovXrjöiq, fj, Streben = oQegig, im engeren Sinne: vernünf
tiges Streben. de an. III, 10. 433a 23.
r.
yeveöiq, fj, Werden, Entstehen, Entwickelung , der Übergang
vom Nichtsein ins Sein; rj anXcoq änXrj Werden schlecht
hin, rj xiq xivog bestimmtes Werden. phys. V, 1. 225a 14.
yevväv genetisch erklären, ableiten, z. B. ol d-eöXoyoi ol
ix vvxxbq yevvcövxog, metaph. XII, 6. 1071b 27; er
zeugen, gebären: xä yevvr\öavxa die Muttertiere. hist.
anim. V, 1. 539b 13.
yivoq, xö, hat immer die allgemeine Bedeutung des TJm-
fassens eines Gebietes von Gleichartigem, daher die fort
laufende Erzeugung eines Gleichartigen , Abstammung,
Stamm, Geschlecht; im logischen Sinne bedeutet es die
Gattung oder den Gattungsbegriff im Gegensatze zu der Art
(elöoq) oder dem Artbegriffe und bildet das Hauptmoment
yvüfirj — öiaytoyrj 19
der Definition. cf. top. I, 5. 102a 31. Insofern das eiöoq
auch yivoq sein kann, die Art Gattungsbegriff für ihre Unter
arten ist, werden beide oft mit einander verwechselt; aber
niemals wird der unterste Artbegriff yevoq genannt, weil
yevoq immer ein Allgemeines, ein Generelles bezeichnet.
yvcÖfirj, r), Einsicht, eine Tugend des Verstandes, welche in
jedem einzelnen Falle das Rechte zu treffen weifs. eth. Nie.
VI, 11. 1143a20.
yvcÖDifioq erkennbar, deutlich, klar, verständlich: yvmQifiov
anXcöq, xaxa xbv Xöyov, <pvöei, nQbq xr)v <pvöiv
das an sich Erkennbare, Deutliche, i. e. das dem Konkreten
zu Grunde liegende Allgemeine; yvcÖoifiov fjfilv, nobq
rjfiäq, xaxa trjv aiö&rjöiv, i. e. das Unmittelbare, Kon
krete, sinnlich Gegebene, das Einzelne. anal. post. I, 2.
71b33ff. s. nQoxeQov.
E.
elöevat = hniöxaö&ai wissen aus Gründen, im Gegensatze
zu „meinen", „glauben" : to elöevai eöxiv el ex xmv exäaxov
aQxmv elöäfiev. anal. post. I, 9. 76a 28. cf. metaph. I, 3.
983a 25.
elöonoiöq artbildend. s. öiaq>oQä.
elöoq, to, (forma) Form, bildet im Gegensatze zur vXrj das
immanente Wesen der Substanz, das bestimmte Sosein,
welches in Verbindung mit der bestimmungslosen Materie
eine Substanz (ovöia) konstituiert; in diesem Sinne wurde
die Form in der Scholastik forma substantialis (pvöia
ovöimörjq) genannt, im Gegensatze zu den qualitativen und
quantitativen Formen, die nur als Accidentien an einer Sub
stanz auftreten (formae accidentales). Die Materie (vXtj),
die, an und für sich bestimmungs- und formlos, nicht ein für
sich allein fafsbares und existenzfähiges Einzelding (xoöe) ist,
wird durch die Form zu einem bestimmten Dasein, zu einem
xööe xi vollendet; die Möglichkeit dazu liegt in dem Wesen
der Form begründet, die für sich ein Etwas, ein bestimmtes
Dieses, ein in sich geschlossenes und vollendetes Ganzes ist.
metaph. VII, 4. 1030a 3; 17. 1041b 7. Wenn nun so die
Form das Wesen der Substanz ist, so wird sie in dem Be
griffe, der uns ja das Wesen eines Dinges darstellt, ab
strakt erfafst; daher heifst die Form auch rj ovöia xaxä
xbv Xöyov s. ö Xöyoq das begriffliche Sein, das begriff
liche Wesen. metaph. VII, 10. 1035b 13—16. Dieser Be
griff, der die Form darstellt, ist aber unmöglich der Gattungs
begriff, sondern ein Art begriff, weil erst in diesem sich
das vollendete Ganze, das ganze Wesen der Einzelsubstanz
darstellt; daher bedeutet eiöoq im Gegensatz zu yivoq auch
die Art (eiörj mq yivovq eiörj), und es giebt so viel wesent
lich verschiedene Formen, als es Arten der Substanzen giebt.
metaph. VII, 4. 1030a 15. Während aber der Artbegriff die
ganze Substanz umfafst, bezeichnet die Form nur das reine
Wesen der Substanz ohne Materie, ohne das Substrat; nur
in einem Falle ist also der Artbegriff vollständig identisch
24 ehai
z.
C,rjtelv suchen, forschen (streng wissenschaftlich), daher
C,rjxrjöiq, fj, die wissenschaftliche Forschung, die theoretische
Überlegung und Spekulation, im Gegensatze zu ööga u. ßov-
Xevöiq. eth. Nic. VI, 10. 1142b 14; III, 5. 1112b 22.
H.
y wird sehr häufig mit Wiederholung des Begriffes zu einem
Begriffe gesetzt, um ihn in seiner Allgemeinheit und seiner
30 &eoXoy!a — S-eaiQetv
0.
fteoXoyia, f), Theologie als Wissenschaft von dem absoluten
Sein, daher
d-eoXoyixr) <piXoöco<pia = nqcoxtj <piXoöo<pia Metaphysik, weil
das absolute Sein das Hauptproblem der Metaph. VI, 1.
1026a 19.
d-eoXöyoq, 6, derjenige, der über die letzten metaphysischen
Gründe des Universums philosophiert (Gegens. qwöio-
Xoyog); vorzugsweise jedoch werden nur diejenigen als d-eo-
Xoyoi bezeichnet, die in poetischer oder mythischer
Form philosophiert haben. metaph. III, 4. 1000a 9.
d-eöiq, fj, (im logischen Sinne) Voraussetzung, auf welcher
die Beweisführung ruht, der unbewiesene Vordersatz eines
Schlusses, der nicht durch sich gewifs und notwendig ist
und deshalb nicht von allen angenommen werden mufs, unter
scheidet sich daher von agicofia. anal. post. I, 2. 72a 15.
Allgemeiner bezeichnet d-döig jede Behauptung, jeden auf
gestellten Satz, insofern er nicht an sich gewifs ist, top. I,
11. 104b 19 — 28, daher auch jeder zu beweisende Satz
von uns Thesis genannt wird. Enthält die d-e'ötg eine Aus
sage über Sein oder Nichtsein eines Gegenstandes schlechthin,
so ist sie vnöd-eöiq, erklärt sie dagegen das Wesen einer
Sache, so ist sie öoiöfiog. anal. post. I, 2. 72a 18; 10.
76" 35.
d-ecooelv (speculari) beschauen, betrachten, bezeichnet die
höchste Form wissenschaftlicher Thätigkeit, die eigentliche
metaphysische Spekulation; es deckt sich unser Aus
druck spekulieren (im philosophischen Sinne) vollständig
mit dem aristotelischen üecoqeIv. cf. metaph. VI, 1. 1025b 18.
de an. II, 1. 412a 11, wo {hecoQelv von emöxrßrj geschieden
wird: „d-ecooelv ist das Höhere gegen die emöxrjfir\, insofern
diese die Fähigkeit und Möglichkeit zu tieferen wissenschaft
lichen Betrachtungen enthält, dagegen d-ecooelv als Zweck der
&ewQrjTixög — xä&aQoig 31
I.
iöiog (proprius) eigentümlich, im Gegensatze zu xoivöq) xä
iöia die eigentümlichen Eigenschaften, welche den Dingen
einer gewissen Art ausschliefslich zukommen, so 1. die eigen
tümlichen Merkmale, welche die Definition angiebt, das ur
sprünglich Eigentümliche — iöia anXcäq (propria con-
stitutiva), 2. diejenigen eigentümlichen Merkmale, welche mit
jenen notwendig verknüpft sind, das abgeleitet Eigentümliche
— löia xaxa övfißeßrjxoq (propria consecutiva). top. V,
1. 128M6.
iOa>g vielleicht (zweifelnd), bezeichnet die (subjektive) Ungewifs-
heit oder den problematischen Charakter des Urteils (= optat.
c. av), die Möglichkeit im subjektiven Sinne, im Gegen
satze zu evöexeöd-ai u. övvaöd-ai. rhetor. II, 13. 1389b 18.
Oft steht es auch bei unzweifelhaft richtigen und erweis
lichen Behauptungen, sowohl zum Ausdrucke bescheidenen
Urteilens als auch im halb ironischen Sinne: „wohl".
metaph. I, 5. 987a 26.
K.
xäd-aQöig, rj, Reinigung durch Ausscheidung, reinigende
Ausscheidung, de gen. an. IV, 5. 774al; unter der xd-
fraQöig als Wirkung der Kunst (poet. 6. 1449b 28) verstehen
wir mit Zeller (p. 777) die Befreiung des Gemütes von einer
32 xa&öXov — xaTrjyoQla
A.
Xafißäveiv unbewiesen annehmen (cog vnod-eöiv Xafißdveiv)
= alxelöd-ai, vnoxid-eöd-ai. anal. pr. I, 31. 46b 19, 32.
Gegenüber xid-ivai heifst es : etwas annehmen , was der
Andere einräumt. anal. pr. II, 14. Daneben hat es häufig
die Bedeutung: auffassen, untersuchen, bestimmen, ein
sehen, z. B. Xrjmiov (anal. pr. I, 6. 28b 28) es ist zu unter
suchen, Xrj<pd-evxcov öh xovxcov (anal. post. II, 14.
98a 4) nachdem dieses so bestimmt ist.
Xeyeöd-ai xaxä xivog u. XiyeOd-ai änö xivog verhalten sich
wie Xqoöxld-eöd-ai und öiaiQslöd-ai; jenes bedeutet die Ver
bindung von Subjekt und Prädikat in der Aussage, die Be
jahung, dieses die Trennung des Prädikates vom Subjekte,
die Verneinung. cf. anal. pr. II, 15. 64a 14. Zu bemerken
ist ferner die Unterscheidung von Xiyeöd-ai xaxä xi und
Xiyeö&ai nQog xi; jenes bezeichnet ein engeres, innigeres,
dieses ein weiteres, laxeres Verhältnis. Dasjenige, was
xax' aXXo Xiyexai, begreift den vollen Inhalt, das ganze
Wesen dieses anderen in sich, ist also synonym mit diesem
anderen-, dasjenige, was nQog aXXo Xeyexai, steht mit diesem
anderen in einer minder wesentlichen und notwendigen Be
ziehung, metaph. IV, 2. 1003b12; VII, 4. 1030b 3.
Xrjfifia, xö, (im logischen Sinne) Vordersatz (eines Schlusses);
xä Xrjfifiaxa xov övXXoyiöfiov die Prämissen des Syllogismus.
top. VIII, 1. 156b 21.
Xoyixög wird von Aristoteles selten in dem Sinne, den wir mit
„logisch" verbinden, gebraucht, sondern Xoyixöv ist zunächst
alles, was ix Xöycov, aus Begriffen oder ex abstracto dedu
ziert ist, Begriffliches, im Gegensatze zu dem, was aus
empirischer Forschung, aus Beobachtung der Natur
phänomene geschöpft ist, daher das Xoyixmg öxonelv oder
Cflxelv dem fpvOtxcog öxonelv oder der <pvöixrj öxiipig gegen
übergestellt wird; das Xoyixcog Cflxelv, die Forschung in
Begriffen, ist die Methode des Plato und der Platoniker.
36 Xoyiaxixög — Xöyog
metaph. XII, 1. 1069a 28. Eine änööeigig Xoyixrj ist somit
eine Deduktion aus Begriffen. metaph. XIV, 1. 1087b 21.
In den logischen Schriften hat Xoyixöq die Bedeutung von
öiaXexxixöq; ein Xoyixoq övXXoyiöfiög (anal. post. II,
8. 93a 15) z. B. ist eine Deduktion aus Wahrscheinlichkeits
gründen, vom Standpunkte des gewöhnlichen Vorstellens, der
gewöhnlichen Voraussetzungen (eg evöögcov, cf. top. VIII,
12. 162b 27), und unterscheidet sich insofern wesentlich von
der eigentlichen ünööeigiq, die ihren Gegenstand aus seinen
letzten wissenschaftlichen Gründen entwickelt und erörtert.
In diesem Sinne steht Xoyixmq dem avaXvxixcöq gegen
über. anal. post. I, 22. 84a 8. „Sofern aber das, was aus
Begriffen oder allgemeinen Gründen abgeleitet wird, in der
Regel auf das Einzelne und Konkrete nicht genau und er
schöpfend zutrifft, sich auch häufig nur auf die gewöhnlichen
Annahmen der Menschen und die Voraussetzungen des ge
sunden Menschenverstandes stützt, ist dem Aristoteles das
Xoyixcöq öxonelv gleichbedeutend mit allgemeinem oder ab
straktem Baisonnement überhaupt, und insofern ihm das all
gemeine Baisonnement, das abstrakte Argumentieren als
ungenügende Erkenntnisquelle erscheint gegenüber von der
Erkenntnis der Dinge aus ihren eigentümlichen, besonderen
Prinzipien, hat bei ihm das Xoyixcäq öxonelv nicht selten
eine ungünstige Nebenbedeutung": Xeyco öe Xoyixijv
xtjv anööeigiv öiä xovxo, oxi b<Sco xad-öXov fiäXXov, noqqco-
xeqco xcöv olxeicov eöxlv aQ^cöv „weil die blofs logische Be
trachtung, je mehr sie auf das Allgemeine gehe, um so ferner
von dem Eigentümlichen sei". de gen. anim. II, 8. 747b 28.
Xoyiöxixog denkend, überlegend; xö Xoyiöxixov das den
kende Prinzip, die Denkkraft im allgemeinen (de an. III,
9. 432b 26), meist jedoch das Vermögen der praktischen
Überlegung, die praktische Vernunft. eth. VI, 2. 1139a
12 ff. de an. III, 10. 433a 12.
Xöyog, 6, bezeichnet (abgesehen von den gewöhnlichen Be
deutungen) zunächst den Begriff, und insofern einerseits
in dem Inhalte des Begriffes das Wesen der Substanz er-
fafst wird, andererseits der Begriff mit dem Zwecke zusammen
fällt, so findet sich 6 Xöyoq verbunden und gleich
(is&oöog — fJ-iQoq 37
M.
fied-oöoq, rj, der Weg, die Art der Untersuchung, die Me
thode, die wissenschaftliche Behandlung. de an. I,
1. 402a 14. Da nun die Art und Weise der wissenschaft
lichen Behandlung, die Form einer jeden Wissenschaft ab
hängig ist von ihrem Inhalt, so gewinnt flid-oöog auch die
Bedeutung von Wissenschaft überhaupt. phys. 1, 1.184a 11.
Der Sache nach findet sich bei Aristoteles, jedoch ohne aus
drückliche Erwähnung, eine streng wissenschaftliche (ebro-
öeixxixr\) und eine dialektische (öiaXexxixr\) Methode; jene
entwickelt durch Analyse die Merkmale der Sache (avalv-
xixcüg, dnoöeixxtxcög, nQayfiaxixcög), diese aus dem allge
meinen Bewufstsein über die Sache; jene ist also mehr
objektive, diese mehr subjektive Behandlungsweise. Die
dialektische Entwickelung hat ihre Stelle, wo es sich um
die erste Aufstellung eines noch unbekannten Begriffes handelt,
und ist oft eine notwendige Vorbereitung zur streng wissen
schaftlichen Entwickelung, sei es um diese zu finden oder
sie dem Verständnis zugänglich zu machen. cf. top. I, 2.
101a 30 ff.
fiiQog xö, ev fieQei, xaxä fieqog (particularis) teilweise, par
tikulär, im Gegensatz zu xad-öXov. anal. pr. I, 1. 24a 18:
nQöxaöiq, Xöyog ev fieqei s. xaxa fieoog partikuläres
38 fitoov — voelv
N.
voelv denken im allgemeinsten Sinne, verschieden von alö&ä-
veö&ai, bezeichnet die intellektuelle Thätigkeit überhaupt,
wodurch sich der Mensch von dem Tiere unterscheidet. cf.
de an. III, 3. 427b 9 ff. Daher tritt v orjxö q häufig als
Gegensatz von alö&rjxöq auf, wie xä votjxä die Ideenwelt,
die Welt des Denkens, des Allgemeinen gegenüber xä alö&rjxd
(de an. III, 8. 431b22), vXrj vorjxrj gegenüber vXrj al-
ö&rjtrj (metaph. VIII, 6. 1045a 34), ovöia vorjxrj gegen
vörjoig — o6e 39
über ovöia alöd-rjxr\ (metaph. VIII, 3. 1043b 30) u. ö. Im
engeren Sinne bedeutet voetv die eigentliche Thätigkeit des
vovq, das unmittelbare Denken, welches sich auf die
unbeweisbaren Voraussetzungen alles Wissens bezieht, und
unterscheidet sich daher von eniöxaöd-ai, öiavoelöd-ai. s.
vovg.
vörjöiq, r\, das aktuelle Denken (metaph. XII, 9. 1074b 22),
bezeichnet wie vot.lv meistens die intellektuelle Thätigkeit
überhaupt, häufig jedoch auch speziell diejenige Thätigkeit der
Intelligenz, deren Objekt das Mathematische ist, das
rechnende Denken der Mathematik, die mathematische Denk
operation. metaph. IX, 9. 1051a 30.
v0rjxixög denkfähig, denkend; xo votjxixöv das denkende
Prinzip (Gegensatz zu xo alöd-rjxixöv) , die Denkkraft, das
Denkvermögen. de an. I, 1. 402b 16.
vovq, 6, die Denkkraft im allgemeinen, de an. III, 4. 429a 23;
näher jedoch ist er „das Denkvermögen, sofern es sich
auf das Unsinnliche bezieht, und insbesondere das Ver
mögen, dasjenige, was nicht Gegenstand des vermittelten
Wissens sein kann, in unmittelbarer Erkenntnis zu er
fassen," kurz, die intellektuelle Anschauung der Vernunft,
die unmittelbar auf die Prinzipien gerichtet ist, das Vermögen
der Intuition auf theoretischem und praktischem Gebiete
(vovq d-ecoQrjxixöq u. nQaxxixöq). Objekte der Erkenntnis
durch den vovq sind also vor allem die letzten Prinzipien
des Beweises, die obersten Prinzipien des Denkens und des
Handelns. anal. post. II, 19. 100b 12. eth. Nic. VI, 6.
1140b 31. 1141a 7. s. emöxrjfiri u. öo<pia.
o.
oöe tritt zu einem Begriff, um denselben zu individualisieren,
konkret zu machen: 6 ävüoconoq oöe dieser Mensch, der
bestimmte, konkrete Mensch; xööe dieses bestimmte =
xa& exaöxov, im Gegensatze zu änXcög. metaph. IX, 7.
1049a 24. Daher steht xoöe, xööe xi, xo xööe xi häufig
im Sinne der ovöia als Einzelsubstanz oder des elöoe
40 81^ oQyavixog
als der Form, die die Materie zu einem bestimmten
Sein konstituiert. categ. 5. 3b 10. metaph. IX, 7. 1049a 35.
oXog ganz-, xb öXov das Ganze, die Ganzheit, wird gebraucht
von einem solchen, das durch veränderte Lagerung seiner
Teile, durch Umgestaltung der Form auch qualitativ ein
anderes wird. s. näv.
6 [io io fi e QTjq aus gleichartigen Teilen bestehend, d. h. aus
solchen Teilen, welche mit dem Ganzen gleiche Benennung
haben; „sie entstehen aus der gegenseitigen Durchdringung
der entgegengesetzten Eigenschaften des Elementarischen,
wie z. B. Fleisch, Knochen u. dergl., indem das Warme kalt
und das Kalte warm wird und in ein Mittleres zusammen
geht (de gen. et corr. II, 7, Ende). Jeder Teil des Fleisches
ist Fleisch, und es ist eben die Mischung dann gleichartig,
wenn sich etwas gegenseitig so durchdrungen hat, dafs die
zusammengebrachten Teile nicht mehr selbständig für sich
bestehen, sondern ein Mittleres aus sich bilden, in welchem
jeder Teil ein Gemischtes ist, wie ein Teil des Wassers
Wasser ist". cf. de gen. et corr. I, 10. 328a 10.
oficovvfiog (aequivocus) gleichnamig, was nur nominell, nicht
reell gleich ist: bficovvfia Xiyexai, <bv ovofia fiövov xoi-
vbv b öe xaxa xovvofia Xöyog xfjg ovöiag exeQog. categ. 1 ;
la 1. s. övvcövvfiog. Daher wird die spontane Zeugung (ge-
neratio spontanea) als die mit blofser Namensgleichheit ohne
Übereinstimmung des Wesens (bfioovvfimg — aequivoce) so
genannte „Zeugung" auch generatio aequivoca genannt.
oQyavixög = fir\xavixög werkzeuglich, als Werkzeug dienend,
um eine Bewegung oder eine Thätigkeit hervorzubringen, im
weiteren Sinne (wie xb 6Qyavov) alles, was zur Erreichung
irgend eines Zweckes gebraucht wird. de part. an. I, 5.
645b 14. Die Bedeutung „organisch" im eigentlichen Sinne,
wie es jetzt allgemein üblich ist, erhält es de an. II, 1.412" 28
durch den Zusatz <pvOixöv: „Da die oQyavixd, auch sonst
soviel als fir\xavixä, zunächst die Werkzeuge der Maschine
bezeichnen, so mufste durch den Zusatz öcöfia fpvöixbv
oQyavixöv die Vorstellung der auch bei der zweckmäfsigsten
Maschine noch von aufsen kommenden Bewegung aufgehoben
und das Prinzip der Bewegung nach innen verlegt werden.
oQegig — oQog 41
Erst dadurch entstand der Begriff dessen, was jetzt kurzweg
organisch heifst". s. <pvöixöv. cf. Eucken, Grundbegriffe.
p. 156 ff.
oQegiq, fj, Streben im allgemeinsten Sinne: Naturtrieb und
vernünftiges Begehren, de an. II, 3. 414b 2.
oQi^eöd-ai (definire) definieren: 6 oQi^öfievog Seixvvöiv t) xl
eöxiv rj xl ötjfiaivei xovvofia. anal. post. II, 7. 92b 26.
Die Bestimmung, xl örjfialvei xovvofia, die Namenerklärung,
wird von Aristoteles auch Xöyog ovofiaxoäörjq genannt.
anal. post. II, 10. 93b 31. Die Realdefinition (xl eöxiv)
wird von Aristotelikern als öQog nQayfiaxojörjq (realis)
oder oQog ovöicoörjg (essentialis) bezeichnet.
oQtöfiög, 6, (definitio) Begriffs-, Wesens-Bestiramung (ovöiag xig
yvcoQiöfiog), Definition. metaph.VI, 4. 1029b 19: iv cp aoa
fir\ eviöxai Xöycp avxö, Xiyovxi avxö, ovxog 6 Xöyog xov xl
fjv elvai exäöxcp, d. h. „in welcher Aussage also das Objekt
(seinem Namen nach) nicht enthalten ist, während doch die
selbe Aussage es (der Sache nach) bezeichnet, dieses ist die
Aussage des Wesens (oder die Definition) für ein Jegliches".
top. I. 8. 103b 15: ö oQiöfiöq ex yivovq xal öiacpoQcöv
iöxlv, d. h. die Definition besteht aus dem Gattungsbegriff
und den unterscheidenden Merkmalen. top. VI, 5. 143* 15
wird für die Definition die Forderung gestellt, fiij vneq-
ßaiveiv xu yivrj, d. h. definitio fiat per genus proxi-
mum.
ooog, b, (terminus) Bestimmung, Umgrenzung; wie in der
Mathematik die Linien die Grenzen der Flächen, so bilden
im Urteile eine derartige Umgrenzung des Satzes Subjekt
und Prädikat, und daher werden diese zunächst oqoi ge
nannt: oqov öe xaXä, elg ov öiaXvexai fj nQöxaöiq, olov
xö xe xaxrjyoqoVfievov xal xo xad-' ov xaxtjyoQelxai. anal,
pr. I, 1. 24b 16. Weiterhin sind dann oqoi die wesent
lichen Bestimmungen, welche sich aus dem Begriffe eines
Gegenstandes ergeben und den Gegenstand in sich begrenzen
und bestimmen, daher wird oQog auch identisch mit Xöyog
(Begriff) gebraucht. Die Ausdrücke nQcöxoq, fiiöog und
eöxaxog Öqoq bezeichnen Begriffe, die im Verhältnis der
Unterordnung stehen ; der töyraxoq oqoq ist hinsichtlich seines
42 oTi — ovaia
ovö ia
1. Substanz im Sinne 2. Das begriffliche 3. Das Ganze oder
von Substrat oder Wesen (tj xaxä Xö- das Seiende (xb ovv-
materielle Grundlage yov avala, xb xi ijv oXov, xb s| d/xtpolv
der Existenz (xb vno- sivai, eidoi, fiOQ<pri, — ens).
xelfisvov, vXrj — sub- — essentia).
jectum).
a) Einzelding (xööe b)Gesamtheit der zu
xi — individuum). einer Gattung oder
Art gehörenden Ob
jekte (yevog , eläog
— genus, species).
IL
näd-rjfia, xö, steht mit xö näd-og gleichbedeutend, s. näd-og.
nad-rjxixö g leidend, Gegensatz zu noir\xixög. 6 vovg na-
d-rjxixög die leidende, potentielle Vernunft, die alles
wird, die das Sein der Dinge in sich aufnehmen und inso
fern alles werden kann — intellectus patiens s. pos-
sibilis. de an. III, 5, Anf. nad-r^x ix a\ noiöxrjxeg
„affizierliche Qualitäten", d. h. solche, die in den Sinnen einen
nad-oq , einen Affekt erzeugen, wie süfs, bitter. categ. 8.
9a 29. In der Rhetorik und Poetik wird nad-rjxixog von
rjd-ixög unterschieden, z. B. Xigig nad-rjxixr\ affekt
volle Rede gegenüber der rjd-ixrj, der ruhigen, sanften
Sprache, die kein näd-og zeigt, daher auch nad-rjxixcog
Xeyeiv; xQaycoöia nad-rjxixtf eine Tragödie, deren Um
schwung durch ein näd-og erfolgt, mit bewegterem und affekt
vollerem Charakter, während die xQaycoöia rjd-ixtj des
näd-og entbehrt und deshalb einen sanfteren, ruhigeren und
gemesseneren Gang nimmt. rhet. III, 7. I408a 10. poet.
24. 145 9b 9. s. näd-og.
ndd-og, xö, Affektion, bezeichnet in weiterer Bedeutung jede
Eigenschaft oder Qualität, welche an einer Substanz das
Veränderliche ist, in Bezug auf welche die Substanz eine
Veränderung erleiden kann: näd-r\ xrjg tpv/fjg ist alles,
was in und an der Seele vorgeht (Vorstellungen, Begriffe
etc.), de an. I, 1. 402a 9; näd-tj xrjg vXr\g Eigenschaften der
Materie, phys. VII, 2. 245a 20 ; näd-r\ öcofiaxixd etc. Weiterhin
nuQäöeiyfta — jtaQenea&ai 45
2.
örjfielov, xö , äufseres Merkmal, woraus etwas bewiesen
oder erschlossen wird; die ständige Formel bei Anführung
von solchen Merkmalen ist: örjfielov öt . . . yäQ ... de
interpret. 1. 16a 25 u. ö. Der Schlufs geht von dem Ein
zelnen auf das Allgemeine. s. xexfiqQiov.
öo<pia, rj, die höchste Form des Wissens, die besteht in der
sicheren Erkenntnis sowohl der Prinzipien selbst als auch
dessen, was aus den Prinzipien als solchen abgeleitet ist;
sie ist daher die Einheit von vovg und iniöxr\firj. eth. Nic.
VI, 7. 1141a16: fj öo<pia vovg xal kmöxrjfir\. Sie ist das
Kappe 9, Aristoteles-Lexikon. 4
50 ooipiofia — azsgriaif
welches aus der Natur der Sache folgt und deshalb volle
Beweiskraft hat; durch das xexfirjQiov schliefst man vom
Allgemeinen auf das Besondere. cf. rhetor. I, 2. 1357b 14.
Formeln bei Einführung derartiger Merkmale sind: xexfirj-
qiov öe' ... yaQ . . ., zexfirjQiov xov elvai' . . , yaQ . . .,
xovxov öe xexfirJQiow . . . yaQ . . . s. ör\fieiov.
xiXog, xö, (finis) Endursache, Zweck = xo ob evexa (causa
finalis), eines der vier höchsten Seinsprinzipien. cf. phys.
II, 3. Die Zweckursache ist in Wahrheit identisch mit dem
eiöog (causa formalis), weil alle Zweckthätigkeit und alles
Werden die Verwirklichung einer bestimmten Form zum Ziele
hat; diese Form ist überall auch der Endzweck. cf. phys.
II, 7. 198a 24. metaph. VIII, 4. 1044b 1 u. ö.
xixvrj, rj, (ars) Kunst und Wissenschaft; xfrfyr\ und emöxrjfirj
werden oft synonym gebraucht im Gegensatze zur sfineiQia.
„Die xexvrj entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die
Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme
über das Ähnliche bildet." „Die Erfahrung ist Erkenntnis
des Einzelnen, die Kunst Erkenntnis des Allgemeinen." „Die
Erfahrenen kennen nur das Dafs, aber nicht das Warum;
die Künstler aber kennen das Warum und die Ursache." cf.
metaph. I, 1. Im engeren Sinne wird die xiyyr\ von der
kmöxrjfir\ geschieden, insofern jene sich auf das Thun und
auf die Hervorbringung eines Werkes, diese auf das
Sein bezieht. anal. post. II, 19. 100a 8. cf. eth. Nic. VI,
3 u. 4.
xid-ivai (ponere) voraussetzen, sei es, dafs der Andere es
zugesteht oder nicht (anal. pr. I, 1. 24b 19), dann überhaupt:
aufstellen, behaupten (top. II, 7. 113a 28), xa xed-ivxa
= xa xelfieva die Prämissen. s. Xafißdveiv.
xlq (pron. indef.) tritt, wie oöe, zu einem Begriffe, um denselben
zu individualisieren, und bezeichnet das individuelle, kon
krete Einzel sein: 6 Ttc ävd-oconog = 6 xad-' exaöxov
avd-Qconog ; häufig sind die Verbindungen: xööe xi ein be
stimmtes Dieses, prägnanter oneq xööe xi was an sich
selbst ein xööe xi ist, bneo kxelvö xi, oneq avxö xi,
bneQ ov xi. xo. xivä = xä xad-' exaöxa die Einzeldinge.
anal. post. I, 24. 85a 34.
xv/m 57
Y.
vXrj, fj, (materia) die Materie, der Stoff, das Substrat,
welches den in der Sinnenwelt entstehenden und vergehenden
Formen zu Grunde liegt und in allem Wechsel be
harrt. Aristoteles gelangt zu diesem Begriffe durch die
Betrachtung des Werdens in der sinnlichen Welt;
das Werden besteht nämlich in dem Wechsel der Formen,
darin, dafs ein Objekt aus einer Form (Qualität) in eine andere,
ihr entgegengesetzte übergeht. Nun kann aber eine Form
nicht selbst in die ihr entgegengesetzte übergehen, weil die
entgegengesetzten Formen sich ausschliefsen. Daher mufs
zur Erklärung des Werdens noch ein den entgegengesetzten
Formen »zu Grunde Liegendes (vnoxelfievov) angenommen
werden, welches nacheinander verschiedene Formen anzu
nehmen oder aus einer Form in die andere, dieser entgegen
gesetzte überzugehen vermag, das aber in diesem Wechsel
selbst stets dasselbe bleibt; es ist die vXrj. cf. phys. I,
6 — 10. Als ein solches sich stets gleichbleibendes Substrat
verhalten sich zunächst die einzelnen körperlichen Dinge.
Die nächsten Substrate der sinnlichen Dinge selbst sind
die Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer). Allein
diese elementaren Körper sind selbst Substanzen von einer
bestimmten Form, von denen jede ihrerseits wieder mit Auf
gabe ihrer eigenen Form in eine andere übergeht. Dieses
Übergehen eines jeden dieser Körper in die Form eines
anderen ist nur möglich, wenn auch den Elementen ein ge
meinsames Substrat zu Grunde liegt, welches ohne jede Form,
ohne Qualität ist und fähig, alle Formen in sich aufzunehmen.
Dieses Substrat, welches zugleich das letzte Substrat aller
körperlichen Substanzen bildet, ist die vXrj jiQojtrj (materia
prima). Dieser reinen Materie, die aber nie als solche aktuell
existiert, steht die vXrj löXäxrj (materia secunda) — vXrj
iöioq s. olxeia — gegenüber als die Materie oder der Stoff,
welcher bereits in einer bestimmten Form existierend, sich
unmittelbar mit einer anderen bestimmten Form verbindet;
so ist die vXrj lö^«r?y der Bildsäule das Erz oder der Stein.
metaph.VIII, 6. 1045b 18. Der Ausdruck jiQcÖxtj vXrj kommt
vnÜQXEiv — vnö9-eaig 59
satzes als wahr angenommen wird, ohne dafs doch die Wahr
heit desselben, wie beim Axiom, unmittelbar einleuchtet. Die
Hypothese im aristotelischen Sinne ist also ein angenommener
und zugestandener Satz, der jedoch weder erwiesen noch
unmittelbar gewifs ist, und von dem daher dahingestellt wird,
ob er eine etwa noch zu erweisende Wahrheit oder eine
gleichsam vertragsweise als wahr angenommene (öiä övvd-rj-
xr\q cofioXoyrjfievov) Unwahrheit sei. cf. anal. pr. I, 44. 50a 16.
övXXoyiöfiol e§ iwtod-eöecog Voraussetzungsschlüsse,
welche von einer unbewiesenen Voraussetzung ausgehen ; sie
bilden den Gegensatz zu den öeixxixol övXXoyiöfioi, die aus
sicheren Prämissen schliefsen (anal. pr. I, 44). Aristoteles
hat also unter seinem Begriffe der Schlüsse gg vnod-eöeooq
die hypothetischen Schlüsse im späteren Sinne wenigstens
formell nicht mitbefafst. cf. Überweg, p. 401. Waitz, I,
ad 40b 25. avayxalov eg vnod-iöeco<s unter einer Vor
aussetzung notwendig, für welches also ein anderes die Ur
sache der Notwendigkeit ist {avayxalov xovxcov övxcov),
notwendig zur Erreichung eines bestimmten Zweckes. anal,
pr. I, 10. 30b 32.
vnoxeiöd-ai zu Grunde liegen, daher xo vnoxeifievov das
zu Grunde Liegende, das Substrat, das Subjekt (sub-
stratum, subjectum): a) die vXrj, insofern sie allen Formen
zu Grunde liegt und sie aufnehmen kann (metaph. V, 28.
1024b 9), b) die Substanz, die selbständig für sich be
stehend Trägerin der verschiedenen Eigenschaften sein kann
(metaph. VII, 3. 1029a 1), daher xä ev vnoxeifievco das
jenige genannt wird, was nur in einem Anderen, in einer
Substanz Bestand hat, das Accidentelle (ev vKoxeifievco
eivai), c) das logische Subjekt als Träger der Prädikate,
von dem die Prädikate ausgesagt werden (xad- vnoxei-
fievov Xeyeöd-ai, phys. 1, 2. 185a 32). Das aristotelische
vnoxeifievov ist als subjectum, Subjekt, subjektiv im
Gegensatze zu objectum, Objekt, objektiv in die phi
losophische Terminologie der Folgezeit übergegangen und hat
sich in seiner ursprünglichen Bedeutung unverändert bis zum
Beginne der neueren Philosophie erhalten. „Subjectum et
objectum si verba philosophis trita accuratius intellegere
inoXaußäveiv — vnöXrjrpis 61
velis, ad ipsum Aristotelem redeunt. 'Ynoxeifievov enim
apud eum duo maxime significat, tum in enunciatione rem
de qua altera dicitur (subjectum apud grammaticos) tum in
rerum natura substantiam actionibus quasi substratam. Utra-
que vi vnoxeifievov a Latinis subjectum translatum est.
Objectum fere Graecorum avxixelfievov est, quamquam
hoc, quia latius patet, a Latinis, ut a Boethio, oppositum
verti solet. Ita subjectum media aetate substantiam pollet
substratam neque aliter apud Cartesium et Spinozam. Inde
„esse subjectivum" contrario plane modo atque nunc apud
Germanos apud Guillelmum Occam (see. XIV) id dicitur,
quod tamquam res in natura est extra mentis species posita
neque a sola cogitatione efficta ; „esse" contra „objectivum"
exponitur „ipsum cognosci adeoque esse quoddam fictum".
Apud Germanos, Kantio potissimum et Fichtio auctoribus,
horum verborum usus plane inversus est. Quum „subjectum"
is dicatur qui cognoscit, „objectum" contra res est, quatenus
cogitando quidem subiicitur, suam tamen tue tu r naturam a
cognoscentis opinionibus liberam. Inde fit, ut „subjectivum"
id dicatur, quod in varia cognoscentis condicione, „objecti
vum" quod in constanti rei ipsius natura est positum". Tren
delenburg, elementa. p. 54. Anm. 2. cf. Eucken, Grund
begriffe, p. 1 ff.
vxoXafißäveiv sich eine Meinung, eine Ansicht bilden, ein
Urteil über eine Sache aufstellen, etwas auffassen und als
wahr hinstellen; es ist „der allgemeinste Ausdruck für die
jenige Thätigkeit des Denkens, in welcher der Geist sich
zuerst des Unterschiedes von Wahrheit und Irrtum bewufst
wird". Seine Bedeutung tritt so recht klar hervor, wenn
man es mit öiavoelö&ai vergleicht, womit es de an. III, 4.
429a 23 als eine Thätigkeit des vovq zusammengestellt wird:
„vnoXafißäveiv, si eius usum contuleris, eo pertinet, ut quid
res re vera sit, statuatur; öiavoelv, ut, quid possit esse
quidve oporteat, perpendatur. Aiavoelv mera mentis ad
verum inveniendum actio, vnoXafißäveiv veri inventi
decretum. Illud antecedere debet, ut hoc consequi possit".
cf. Trendelenburg, de an p. 387.
vnöXrjipiq, rj, die allgemeine Auffassungsweise, nach welcher
62 vTtoTVTCovv — cpavTaaia
Sinne von der Physis als dem inneren Grund der Bewegung
geredet werden: im Sinne der Form (rj xaxa xr)v fioo-
fprjv s. xb elöog q>vöig) und im Sinne der Materie (rj
xaxä xr)v vXr\v <pvöig), und die Dinge selbst, welche <pvöii;
haben oder <pvöei sind, können mithin entweder nach ihrer
stofflichen Ursache oder nach ihrer Formal- und Zweck-
ursache als Naturdinge aufgefafst und untersucht werden.
Sowie indes Form und Materie an der Verwirklichung des
Dinges nicht in gleicher Weise beteiligt sind, vielmehr nur
die Form es ist, die Sein und Bestimmtheit verleiht, so ist
auch die Physis, um derentwillen der Naturforscher die Dinge
betrachtet, nur diejenige, welche mit Recht diesen Namen
trägt, die Form: rj aoa fioo<pr\ <pvöig. Aber die Form
unterscheidet sich nicht vom Begriffe, und der Begriff fällt
zusammen mit dem Zwecke. Darum mufste notwendig für
Aristoteles die Physis, sobald sie dem Begriffe gleichgesetzt
wurde, auch die Bedeutung des Zweckes annehmen:
inn r <pv<fiq öixxr) fj fitv d>g vXr\ r) ö' oog fioQ<pr\ , xeXog
tf avxrj . . . avxrj av elrj fj alxla fj ov evexa (phys. II,
8. 199a 30). Und in dieser Betrachtung bildet sie den
Grundbegriff der teleologischenNaturbetrachtung,
während umgekehrt sich auf die Physis im Sinne der Ma
terie die rein physikalische oder materialistische Naturerklärung
stützt: ev yäo xy vly xo avayxalov, xo ö' ov tvexa iv xät
Xoyco (phys. II, 9. 200a 14)." s. Hardy, S. 196 f.
X.
xQövog, b, die Zeit; sie wird definiert als „das Mafs und die
Zahl der Bewegung in Beziehung auf das Früher und Später"
— aoid-fiög xivrjöecoq xaxa xo ttqoxeqov xal vöxeqov. phys.
IV, 11. 219b 1. de coel. I, 9. 279a 14. cf. phys. IV, 10- 14.
-£U){>LC,eiv trennen, scheiden, sondern, besonders (wie kxxid-ivat)
den allgemeinen Begriff von dem besonderen als
eine für sich seiende Realität trennen, daher
xcOQiöxöq abgetrennt, getrennt, selbständig für sich existierend,
abtrennbar von einem Substrate, besonders von einem
materiellen, daher immateriell: -xpooiöxas noielv xäq löiaq
Kappes, Aristoteles-Lexikon. 5
66 V"OT
(von der Platonischen Ideenlehre), cf. metaph. VII, 16.
1040b28; XIII, 9. 1086a 33. Ein solches koQhstöv ist
z. B. das Einzelwesen, das Individuum (xmQiöxov ovöla,
XmQiötöv xöncp) als selbständiges Einzelding; die Form ist
als ein individuell bestimmtes Etwas (xööe xi ov) dem Begriffe
nach abtrennbar und selbständig (Xöym xoÖQiöxov). metaph.
VIII, 1. 1042* 29. Schlechthin abtrennbar (^topiördf änk<öq)
ist, was an und für sich ohne jedes Substrat für sich existiert,
so das Seiende im eigentlichen und absoluten Sinne, wie es
Gegenstand der Metaphysik ist; es ist xmQiötov xal dxi-
vrjftov xal alötov ohne materielles Substrat rein für sich exi
stierend und als solches unwandelbar und ewig. metaph. VI,
4. 1026a 16.
/*"*
68 Litteratur-Verzeichnis.