You are on page 1of 21

JUNI 2018

Wiener Moderne
UNSER TEAM

IMPRESSUM ŽIGA DVORŠAK, Masterstudent der Germanistik,


1. Jahrgang
Wiener Moderne, Zeitschrift der
Masterstudenten der Germanistik Lektor
Oddelek za Germanistiko z nederlan- »Im Sturm fäll den Baum, stich bei Fahrwind in
distiko in skandinavistiko See.«

Aškerčeva 2 - Edda, Snorri Sturluson

1000 Ljubljana

Slowenien

ROMAN HUBER, Erasmus-Student, Universität


Juni 2018 Potsdam
Lektor
E-Mail: wienermoder- »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich
ne201718@gmail.com komme nur so selten dazu.«
Chefredaktion:
Tina Bašić, Marina Roso
Mentorin:
Doc. dr. Irena Samide
TOMAŽ ZADRAVEC, Masterstudent der
Beigetragen haben: Mateja Bremec, Germanistik, 2. Jahrgang
Anja Drozg, Žiga Dvoršak, Katarina Lektor
Gerjevič, Roman Huber, Anesa Jahiri,
Mišo Jonak, Maja Kenk, Anja Matičič, »Den größten Fehler, den man im Leben machen
Daša Ocepek, Mitja Pečnik, Katarina kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu
Penko, Tina Petek, Andrej Podobnik, machen.«
Tjaša Tanacek, Petra Vadas, Tomaž - Dietrich Bonhoeffer
Zadravec

Feedback ist uns sehr wichtig, deswe-


gen schreibt uns an unsere E-Mail bitte ANA VALENTAN, Masterstudentin der
eure Kommentare, Beschwerden, posi- Germanistik, 2. Jahrgang
tive Anmerkungen und Eindrücke. Autorin der Zeichnung für die Titelseite
»Du bist was du denkst, was du denkst, strahlst
du aus, was du ausstrahlst, ziehst du an, und was
Für mögliche Tippfehler entschuldigen du anziehst bestimmt dein Leben.«
wir uns im Voraus.

Die Beiträge der Zeitschrift werden


nicht honoriert. Die AutorInnen über-
nehmen die volle Verantwortung für
ihre Artikel. DOC. DR. IRENA SAMIDE
Mentorin
"Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in
Erfüllung gegangen sind; wirklich arm ist nur, der
nie geträumt hat."
(Marie von Ebner Eschenbach)
Tina Bašić (rechts), Masterstudentin der Germanistik und Marina Roso (links), Erasmus-Studentin, Universität Zadar
Anglistik, 2. Jahrgang
Chefredakteurin, Computerbearbeitung
Chefredakteurin, Computerbearbeitung
»Geschichten werden niemals richtig erlebt, nur manchmal,
»Ich liebe Deadlines. Ich mag dieses zischende Geräusch, sehr selten, richtig erzählt.«
das sie machen, wenn sie vorbei sausen.«
- Alfred Polgar
- Douglas Adams

EDITORIAL
Wien. Wien. Wien. Eine vergessene Metropolis. Von Egon Schiele und Gustav Klimt bis zu Lou Andre-
as-Salomé und der Kaffeehausliteratur – gedeckt ist
Anfang des 20. Jahrhunderts war Wien eine globale
ein breites Themenspektrum und noch der
und multikulturelle Stadt voller Möglichkeiten und Ein-
anspruchsvollste Leser wird etwas für seinen Gesch-
gebungen. Die günstigen ökonomischen Umstände
mack finden. Am Ende befindet sich jedoch auch eine
und das reiche kulturelle Erbe ermöglichten die Blüte-
ausführliche Reportage über unsere dreitägige Exkursi-
zeit der Malerei, Literatur, Musik, Philosophie Mathe-
on nach Wien, die uns ermöglichte, die Stadt aus mo-
matik und Architektur. Wien – ein Konglomerat
derner Sicht zu erleben.
verschiedener Denkweisen – konkurrierte somit Städ-
ten wie New York und Paris; aber worum ging es Wir wünschen dir viel Spaß beim Lesen!
überhaupt in der Zeit der Wiener Moderne (1890-
1918)? Die Antwort befindet sich direkt vor dir.

Diese Zeitschrift ist als Teil des Seminars über die Wie-
»Wien ist anders.«
ner Moderne entstanden und zwar mit dem Ziel, dass
durch individuelle Beiträge der Seminarbeteiligten ein - Hans Weigel
buntes und inhaltreiches Endprodukt erschaffen wird.
Rollen der Frauen in Kunstwerken
Anja Drozg

Schiele, Kokoschka und Klimt waren nicht nur begabte Künstler mit ihm als gleichwertig dargestellt, was bei Alma und Kokoschka
und Vertreter der Wiener Moderne, sondern haben auch oft Frauen nicht der Fall war. Auch die dargestellten Frauen in den Werken
als Motive in ihren Kunstwerken verwendet als Antwort gegen die drücken ihre Besorgnis aus. In 1911 traf der junge Schiele eine
scheinheilige Moral der damaligen Gesellschaft (des 19. Jahrhun- rothaarige Frau namens Valerie Neuziel, die sich Wally nannte. Sie
derts). Die frühere gesellschaftliche Position der Frauen war mit wurde zu seinem Model und seiner Verlobten. Dank ihr entwickelte
dem Lebensstil verbunden, der sich stark vom männlichen Lebens- Schiele das Gefühl für die weibliche Erotik. Schiele war sehr faszi-
stil abwich. Die Frauen hatten weder das Wahlrecht noch eine poli- niert von der Sexualität der Jugendlichen und seine Modele mach-
tische Versammlung. Auch in der Ausbildung und bei der Arbeit ten provokative sexuelle Posen. Schiele stellte extreme Exploration
gab es Schwierigkeiten, da die Frauen kein Recht hatten das Stu- der Sexualität dar.
dium abzuschließen, obwohl einige die Vorlesungen besucht hat-
Gustav Klimt hatte eine beträchtliche Sicht auf die Frauenerotik.
ten. Die Moderne forderte eine neue Weltsicht. Sigmund Freud war
Klimt erlaubte seinen Modellen so lange in seinem Atelier herum-
sehr beeinflusst von Charles Darwins Idee, dass die Menschen
zulaufen, bis sie die passende Pose gefunden haben. Diese Art
nicht individuelle Kreaturen sind, sondern biologische Lebewesen
von Freiheit erlaubte den halb oder ganz nackten Frauen ihre
deren Vorfahren Tiere sind. Darwin erweiterte die Idee so, dass die
Sexualität zu forschen. Da Klimt selbst in Erotik erfahren war,
biologische Revolution von der sexuellen Selektion getrieben war.
wusste er, dass Frauen, so wie Männer, ein reiches, unabhängiges
Aus der Sicht der Evolutionstheorie ist die primäre Funktion des
sexuelles Leben haben. In Klimts Werken haben die dargestellten
biologischen Organismus die Reproduktion. Sigmund Freud war
Frauen ihr eigenes erotisches Vergnügen und es gibt keine Am-
selbst der Meinung, dass Menschen keine rationalen Lebewesen
biguität ihrer Absicht. Klimt hatte nicht nur die Frauen geschätzt,
sind und dass ihr mentaler Prozess unbewusst und irrational wirkt.
weil sie den gleichen sexuellen Instinkt hatten wie Männer, sondern
Solche Ideen beeinflussten die Künstler der Wiener Moderne Gus-
auch, weil sie ihre Sexualität mit Aggression verschmelzen
tav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka. Alle drei erwähnten
konnten.
Künstler waren begeistert von Darwins Betonung der Rollen der
Gesichtsausdrücke und Körperbewegung mit den verstandenen Solche Themen findet man in Klimts Gemälde „Judith‘‘. In der
Emotionen und von Freuds Theorie über das Unbewusste. Geschichte war Judith eine jüdische Heldin. Als General Holofer-
nes seinen Truppen befahl, die kleine Stadt Bethulia anzugreifen,
Oskar Kokoschka war von allen erwähnten Künstlern am meisten
entschloss sie sich, ihre Heimat zu retten.
von Freuds Theorie des Unbewussten beeinflusst. Er selbst hatte
großes Interesse, sein eigenes emotionales Leben zu untersuchen, Sie hat es geschafft, sich hinter der Truppe zu schleichen und fand
als auch das Leben der Anderen. Kokoschkas Selbstporträts zei- Holofernes alleine Wein trinkend. Sie ermutigte ihn dazu mehr Al-
gen die Analyse seiner Psyche. Die interessantesten Selbstporträts kohol zu trinken und hatte mit ihm Sex. Nachdem Holofernes zufri-
sind die mit Alma Mahler, die als eine der schönsten Frauen Wiens eden eingeschlafen hatte, nahm Judith sein Schwert und schnitt
galt. Auf den Bildern sah Alma immer entspannt aus, während Ko- seinen Kopf ab. In der westlichen Kunst ist Judith als eine treue
koschka am meisten passiv, besorgt und manchmal fast ängstlich Witwe dargestellt, im Gegenteil zu Klimts Gemälde, wo Judith als
aussah. Das zeigt sich deutlich auf dem Bild „Die Windsbraut‘‘. Auf arme Witwe gemalt ist, als barbusige Femme fatale im eleganten
dem Porträt liegen Alma und Kokoschka auf einem Schiff, im Hin- gemusterten Kleid gekleidet. Sie ist in einer Trance und trägt in
tergrund ist ein Gewitter. Alma schläft beruhigt in Kokoschkas Ar- ihrer Hand Holofernes Kopf. Die Rollen der Frauen hatten einen
men. Er aber sieht auf dem Bild sehr besorgt aus. Die Farben deu- sehr starken Einfluss auf die drei erwähnten Künstler. Kokoschka
ten auf seinen emotionalen Zustand. glaubte, dass seine Kreativität von Alma Mahlers Liebe abhängt.
Seine meist erfolgreichen Werke entstanden wegen ihrer Bezie-
In seinen Porträts zeigte Kokoschka die Frauen als verführerisch
hung. Schieles Beziehung mit Wally führte ihn dazu, die angstbe-
und unerreichbar. Obwohl seine Beziehung mit Alma nur 3 Jahre
sessenen Bilder zu schaffen, die sein Talent zeigten. Klimts Werke
dauerte, hatte die auch später einen großen Einfluss auf sein Le-
von den dargestellten Frauen zeigen die bemerkenswerte Sensibili-
ben als Künstler.
tät und Frauensexualität, die von seinen Erfahrungen mit Frauen
Egon Schiele verwendete oft die Sexualität und die Existenzialkri- stammen. In der Wiener Moderne zeigte sich, dass Frauen und
se des modernen Lebens als Themen in seinen Werken. Die Frau- Männer die gleiche Selbsterkenntnisse über ihre Sexualität haben.
en in seinen Werken werden in der sexuellen Beziehung Solche Feststellungen sind in den Kunstwerken Kokoschkas, Schi-
eles und Klimts evident.
Gustav Klimt und seine Welt in weiblicher Form
Daša Ocepek

Das Wien Gustav Klimts – die Belle Époque um die Jahrhun- Als Anhänger der Wie-
dertwende – blüht mit ihrer Kultur wie nirgendwo sonst. Aus ner Sezession nimmt
dem bürgerlichen Katalysator für damalige kulturelle Blüte Klimt später an der Re-
erwächst auch die Kunst Klimts. Der Betrachter sieht ein Inei- volte der jungen Kün-
nandergreifen von Tradition und Moderne, vor allem aber ist er stlergeneration teil und
gefesselt von Klimts Hauptthema: der Schönheit und Erotik fordert eine neue, und
der Frauen. vom Marktcharakter
freie Kunst, die auf
Klimt gibt der Frau die Hauptrolle schon in seinen ersten
einem neuen Ausstel-
Gemälden. Seine Kunst ist prall erotisch vor allem dadurch, dass
lungsort aufblühen
seine Frauen entweder mit ihrer ornamentalen Kleidung, halbnackt
sollte. So wird das Bil-
mit entblößten Busen und der asymmetrischen Körperhaltung, oder
dnis Sonja Knips in den
mit dem nackten Körper den Betrachter verführen. Man lässt sich
Mittelpunkt seiner Bild 2: Bildnis Sonja Knips
von der Sinnlichkeit seiner Zeichnung verzaubern, von der
porträtierten Ehefrauen gerückt. Man bemerkt die asymmetrische
Schönheit der Ornamentik und des Reizes, von den Geheimnissen
Stellung der Figur, durch die sie verführt und die Hervorhebung
seiner Werke, die man zu entziffern versucht. In den Vordergrund
ihrer Silhouette. Seine sezessionistische Gruppe der Ehefrauen
stellt aber Klimt seine faszinierende mit Erotik prahlende Femme
unterscheidet sich von seinen frühen Frauengemälden, die wie
fatale, die zum Leitmotiv seiner Werke wird.
griechische Najaden durch ihren nackten Körper einen verzaubern
Klimts frühe erotisierende Frauengemälde, die er auch später im- und sich selbst zur Schau stellen, schon auf den ersten Blick – das
mer wieder mit ihrer Sexualität als befreiende Kraft ans Licht bringt, prächtige Gewand der Ehefrauen sticht ins Augen. Aber was noch
und auf deren Grundlage er der Pornografie beschuldigt wurde, faszinierend ist, dass das Gewand das Gleichgewicht mit dem Kör-
könnte man als Gruppe von griechischen Najaden bezeichnen. Ihre per der Ehefrau hält. Es dient dazu, die Persönlichkeit der Frau zu
wellenförmigen Körper und verführerischen Augen sind von Begier- enthüllen und ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Hände zur Geltung
de entbrannt und sind von Erotik und Sexualität durchdrungen. Mit zu bringen, wobei die Kleider auch selbst Organe sind. An den
seinen Fischfrauen in der Welt des Wassers umgeben, wie eben in Frauenporträts erkennt man
Wasserschlangen I, setzt er den Jugendstil ein. Man sieht viele auch einen ganz anderen Stil
dunkle und helle Algen, die zu Kopf- und Schamhaaren werden, Klimts im Gegensatz zu Fi-
seine Nixen stehen oft auf Venusmuscheln – es geht um die Zei- schfrauen. Sie haben immer
chen, die uns unausweichlich zu ihrem Ursprung führen: der Frau. den gleichen Ausdruck der
Im Vergleich mit seinen späteren Ehe- Entrücktheit und Passivität –
frauenporträts und Archetypen der abwesend, melancholisch
Femme Fatales lässt sich an der Be- schauen sie in die Welt und
obachtung feststellen, dass Klimt zwei betrachten den Betrachter mit
hervortretende gemeinsame Punkte in demselben heiteren Blick.
seiner Welt der weiblichen Form pinselt.
Sobald Klimt nicht für Auftrag-
Ein typischer Klimt ist der Ausdruck stol-
geber arbeitet, schafft er einen
zer Distanz, den er seinen Frauen gibt.
gefährlichen und intuitiven Stil,
Dadurch zeigt sich eins der großen The-
mit dem er sich entfaltet und
men des Fin de Siècle, die Beher-
einen ganz anderen Typ Frau
rschung des Mannes durch die Frau. Ein
ins Bild setzt – eine dämoni-
weiterer Punkt sind die immer wieder
sche und verführerische
auftauchenden Ornamente, die entweder
Femme fatale. Das in der da-
im Hintergrund oder an den Körpern
maligen Zeit, ein im Publikum
seiner Frauen vorkommen, die erotisie-
Bild 1: Wasserschlangen I Provokation hervorrufendes
rend wirken und die Verwandlung der
Bild 3: Judith I Bildnis Judith I, keine Najade
Anatomie in Ornamentik und der Ornamentik in Anatomie ermögli-
oder Ehefrau war, sondern eine typisch erotische Zeitgenossin
chen.
Klimts, was auch das kostbare Hundehalsband der damaligen

Bilderquelle: Wien, Belvedere: Néret, Gilles (2016): KLIMT. Köln: TASCHEN GmbH
Mode verdeutlicht. Sie ist Femme fatale, die mit halb geschlosse- Ob eine entblößte Najade, eine passive Ehefrau, oder dämonische
nen Augen, leicht geöffneten Lippen und fast ganz entblößten Bu- Femme fatale – Klimt setzt die Erotik und die Frau als bestimmen-
sen den Betrachter in ihren Bann zieht. Die goldenen Ornamente des Element seiner Kunst in Szene. Auf allen seinen Frauen lässt
auf ihrem Gewand im Hintergrund und der goldene Rahmen bilden sich die Schönheit und Sexualität des weiblichen Körpers bewun-
einen Kontrast zu dem plastisch modellierten, geschminkten dern, wobei die farbigen, detaillierten und vielfältigen Verzierungen
Gesicht, die wie eine Fotomontage wirkt. Mit dem Namen Judith den Erotismus zuspitzen und den Betrachter einfach außer Atem
zieht Klimt eine Parallele mit der biblischen Heldin desgleichen lassen. Es liegt auch viel in den Augen der Frauen, die geschlos-
Namens. So vereinen sich in Judith Eros und Thanatos, wobei die sen, halb geöffnet oder starrend Klimts Aufrichtigkeit und Freiheit
Sexualität durch die Lippen und Augen, die ein fast orgastisches darstellen. Seine visuelle Sprache kommt in weiblicher Welt
Entzücken ausdrücken, überhandnimmt. Man verbindet ihre deutlich zum Ausdruck, da er zu keiner Psyche, sondern zur Ana-
Wesenszüge mit denen von Salome, der Femme fatale des Fin de tomie vordringen will und so ganz dem Äußeren verhaftet bleibt. In
Siècle. Jedenfalls malt Klimt mit Judith seine dritte Frauengruppe, Klimts Frauen erkennt man einen wesentlichen Teil davon, was er
die Vertreterin des Eros. war und was er wollte.

Der tabulose Expressionist um die Jahrhundertwende


Petra Vadas

Jubiläumsschau, die die radikale Darstellungsweise des trau- zahlreichen provokativen Aktdarstellungen offenbart. Aufgrund
ernden seelischen Zustandes Egon Schieles anerkennt porträtierter Liebesakte und Frauen in obszönen Posen kam der
Künstler in Konflikt mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen
und musste bis zu seinem Lebensende um Anerkennung kämpfen.
Anlässlich des 100. Todestages von Egon Schiele widmet das Leo-
Seine obsessiven Beziehungen mit Mädchen, ob Partnerinnen oder
pold Museum dem tragisch jung verstorbenen Vertreter des öster-
Modelle, brachten ihn sogar ins Gefängnis und der tiefst ausdrucks-
reichischen Expressionismus eine thematisch gruppierte Ausstel-
volle Künstler geriet in existenzielle Krise.
lung. Mit der weltgrößten Sammlung von meisterhaften Gemälden,
Skizzen, Zeichnungen, Briefen, Fotografien und Gedichten be- Zwischen Anklammerung und Abstoßung
kommt der Besucher einen bislang umfassendsten Einblick in das
In den folgenden Räumen werden weitere Themenspektren ange-
provokative Lebenswerk Egon Schieles.
sprochen, unter anderem das ambivalente Verhältnis des Künstlers
Die Präsentation ist dabei nicht chronologisch ausgerichtet, son- zu seiner Mutter. Die widersprüchliche Bindung zu seiner Mutter
dern gliedert sich nach thematischen Aspekten. Durch die stimmige offenbart sich in zahlreichen Gemälden wie Tote Mutter, Blinde
Anordnung des künstlerischen Schaffens vom „Ich“ und „Selbst“, Mutter, Mutter mit Kind und Mutter mit zwei Kindern, das in Bel-
über „Mutter“ und „Kinder“; „Spiritualität“, „Porträts“ und „Frauen“ bis vedere zur Schau gestellt wird. Einerseits zeigt sich in den Bildkom-
hin zu „Landschaften“ und „Städtebildern“ zeigt sich dem Besucher positionen eine starke Verbindung und Abhängigkeit, andererseits
ein tiefst melancholisches und provokatives Lebensoeuvre des aber der große Wunsch nach eigener Freiheit und Autonomie.
Künstlers.
Schiele machte diesen komplexen, widersprüchlichen Mutterbezug
Überschreitung von Grenzen der Kunst zum Thema seiner zahlreichen Kunstwerke. In den Darstellungen
des Mütterlichen zeigen sich die Hilflosigkeit, Vergänglichkeit und
Beginn und Ende von Schieles Kunstbeschäftigung sind durch das
Fragilität der Menschen, vor allem angesichts der Krankheit und
Selbst und das Individuum geprägt, deswegen sind auch die ersten
des Todes. Die unvermeidbare Tragik des menschlichen Daseins
Räume der Ausstellung diesen psychoanalytischen Kernkonzepten
wird durch tieftraurige Gesten, Mimik und Körperhaltung zum Aus-
gewidmet. Im Kontext der Krise des Individuums in der Moderne
druck gebracht. Neben den dunklen Schattenseiten des Lebens
experimentiert der Künstler mit seinem eigenen bloßgestellten Kör-
kommt aber auch die unübertreffliche Liebe und Sorge der Mutter
per. Seine Faszination an dunklen und mystischen Seiten des Le-
zum Vorschein. Die tränenschweren Augen, zur Seite gesenkter
bens brachte er zum Ausdruck mittels kühler, erdiger Töne und
Kopf und blasse Haut deuten bei vielen seinen Kunstwerken auf die
schmerzhafter Köperhaltung der porträtierten Personen, die zer-
mütterliche Trauer hin.
brechlichen Figuren ähnlich sind. Auch seinen eigenen Körper sah
der Künstler als kränklich, unbehaglich und verkrüppelt. Provokation als Mittel der Kunst

Um die Jahrhundertwende war das epochenprägende Thema die Schiele verzichtete auf eine realistische Darstellung und entwickel-
Möglichkeit der Emanzipation und sogleich die Unterdrückung des te als noch sehr junger Künstler seinen radikalen Stil. Samt Sexua-
Individuums. Es war die Zeit Sigmund Freuds und der damit ver- lität, Erotik und Sinnlichkeit untersuchte Schiele auch die Erfahrung
bundene Diskurs über tabulose Sexualität, die sich auch in Schieles der Einsamkeit, existenzielle Fragilität des Menschen und die
spirituellen, sakralen Aspekte der Natur. Mit der weltgrößten Sam- anhand der Themen Sexualität und Körperlichkeit eine spannende
mlung eines der wichtigsten Künstler am Beginn des 20. Jahrhun- Beziehung zwischen den drei Künstlern aus verschiedenen Gene-
derts entfaltet sich dem Besucher der Weg zur seelischen Verwirrt- rationen entsteht.
heit des österreichischen Expressionisten.
Sowohl Schiele als auch Brus und Palme verstoßen in ihren Wer-
Die weitere Ausstellung „Schiele – Brus – Palme“, die die ehrenhaf- ken gegen gesellschaftliche Sittenvorstellungen und etikettieren
te Jubiläumsschau perfekt ergänzt und im Untergeschoss des Leo- sich selbst als provokative Außenseiter. Schließlich ist die Grund-
pold Museums zur Verfügung gestellt wird, zeigt die Parallelitäten aufgabe der Kunst nicht nur zu unterhalten, sondern vielmehr die
in den Werken von Egon Schiele, Günter Brus und des deutschen zeitgeistlichen Fragen aufzuwerfen und den Zuschauer dazu zu
Künstlers Thomas Palme. Es lässt sich schnell erkennen, dass fördern, seine eigene Weltanschauung bis in die Grundfesten zu
erschüttern.

Kokoschka, der geborene Maler


Andrej Podobnik
Die meisten Aussagen über Oskar Kokoschka beziehen sich eher aber weiter: 1919 wurde er Lehrer an der Akademie in Dresden.
auf die Person als auf sein Werk. In den Worten des deutschen Für ihn war das die Chance, um zu erfahren, ob das, was er selber
Malers Max Liebermann: „Er hat sich selbst gefunden, und damit für sich fand, auch anderen etwas zu sagen hatte. Er war ein sehr
steht ihm der Weg zur zeitlosen Kunst offen.“ Seine Lebensgeschi- schülerfreundlicher Lehrer, der nie über die moderne Malerei aus-
chte begleitete immer seine Kreationen und so kam eine bewun- spann, sondern seine Schüler immer dazu förderte, besser zu wer-
dernswerte Karriere des Malers, Grafikers und Schriftstellers zum den.
Vorschein..
Auch bezahlt werden wollte er nicht, da er „der Assistent von dem
Stilles Genie da oben“ war. Seine Beziehung mit den Schülern und seine
Ergebenheit gegenüber der Kunst werden am besten in folgender
Schon als kleines Kind malte er gerne und wurde in der Realschule
Anekdote eines seiner Schüler veranschaulicht: „Seine Sorge um
aufgrund seines Malens als Genie betrachtet. Offensichtlich war
uns ging so weit, dass er uns drei Schülern am Ende des ersten
aber sein Talent nicht allseitig, da er im Chemieunterricht Schwie-
Jahres sein Gehalt zusteckte, jedem ein Drittel, mit der Beha-
rigkeiten hatte und bei dem Fach einmal auch durchfiel. Er war ein
uptung, es sei dringend notwendig, dass jeder von uns eine große
schweigsamer Junge, was ihm bessere Konzentration ermöglichte;
Reise mache.“Nach fünf Jahren hörte er mit dem Lehrerberuf auf
einige Porträts konnte er in einer kurzen Zeit von 20 Minuten anfer-
und begab sich auch selbst auf zahlreiche Reisen. Frankreich, die
tigen. Er konnte aber auch emotional sein, wie beispielsweise als er
Niederlande, England, Schottland, Spanien, Portugal, die Schweiz,
von der Kunstgewerbeschule aufgenommen wurde (womit sich nur
Italien, Nordafrika und Vorderasien – in allen diesen Ländern fand
drei von 153 Kandidaten prahlen konnten), weshalb er an dem Tag
er Inspiration und malte viele Städte- und Landschaftsbilder.
strahlend aus der Schule stürzte.
Der vollkommene Künstler
Die Femme fatale
Die späte Periode seines Lebens und seiner Karriere war sehr
„Er malte mich, mich, mich! Er kannte kein anderes Gesicht mehr.“
erlebnisreich: Flucht nach Prag, Heirat mit seiner Fluchtgefährtin,
Dieses Zitat von Alma Mahler illustriert aufschlussreich, wie sehr
humanitäre Tätigkeit in England, steigendes Ansehen seiner Kunst
Kokoschka an sie während ihrer dreijährigen Beziehung gebunden
und Persönlichkeit, neue Reisen, Rückkehr auf den Kontinent,
war. Anscheinend zeigte er aber seine Liebe auf eine übertriebene
Ehrungen, Ausstellungen, eine neue Staatsangehörigkeit und eine
Art und Weise, was die Bindung schließlich auch zum Ende bra-
neue Heimat. Er schaffte es mit der Zeit sich selbst zu finden und
chte. Alma Mahler beschrieb ihre Beziehung folgendermaßen: „Die
das Leben eines Künstlers zu genießen. Er arbeitete den ganzen
drei folgenden Jahre mit ihm waren ein einziger heftiger Liebe-
Tag, seine einzige Art der Erholung waren Museumbesuche. Das
skampf. Niemals zuvor habe ich so viel Krampf, so viel Hölle, so
war aber nur eine andere Form der Arbeit, denn er analysierte dort
viel Paradies gekostet.“ Als Maler erlebte Kokoschka während die-
die Meisterwerke der Vergangenheit und lernte damit auch viel. Zeit
ser Zeit seinen Aufstieg (sein berühmtestes Bild Die Windsbraut
seines Lebens waren vor allem seine früheren Werke anerkannt
entstand in dieser Periode), als Partner erwies er sich aber als
und nur seine Freunde und die großen Sammler konnten sein gan-
eifersüchtig und misstrauisch.
zes Repertoire schätzen. Im Grunde genommen, so der deutsche
Akademie und Wanderlust Maler Peter Lufft, gibt es bei vielen seinen späteren Werken Ele-

Es dauerte mehrere Jahre, bevor er Alma Mahler verschmerzte und mente, die sich aus seinen früheren Formen entwickelten. Man

sein Leiden zeigte sich auch in seinen Bildern. Das Leben ging kann bestimmte Wandlungen und Übergänge beobachten, die ein
hervorragender Beweis dafür sind, dass Kokoschka sowohl als trennbaren Verbindung zwischen seinem Leben und seinem Werk
Künstler, als auch als Person sich entwickelt hat. Wegen der un- wird er verdient als einer der besten Maler seiner Zeit betrachtet.

Schönberg und die Dekadenz


Roman Huber

Mordlüsternde Drohgebärden des Untergangs der anderen Seite Harmonie ablehnt. Hier sei zu erwähnen, dass sich Schönberg als
prophezeit Kubin in seinem Text, den erwachenden Sexualtrieb, bis Expressionist verstand und so wie die Malerei die Form, er die
aufs Unansehnlichste seziert, skizziert dort Schiele, Trakl murmelt Tonsysteme auflöst. Das Publikum begrüßte diese Veränderung
geisterhaft die Spottgestalten der Dämmerung und über der ganzen anfangs, wie bei der Uraufführung des zweiten Streichquartetts, mit
Wiener Moderne hängt schwer die Dekadenz. Zurück zur Nüchtern- wortwörtlichem Pfeifen, so dass das Konzert abgebrochen werden
heit, zurück zur Analyse. Der Untergang, die Maßlosigkeit und der musste. Erst 1912 gelang ihm mit seinem Stück „Pierrot Lunaire“
Verfall sind alles Bestandteile der Dekadenz und die ist Hauptbe- der atonale Durchbruch. Seine Haupterrungenschaft lag wohl aber
standteil der (Wiener) Moderne. In jeglicher Kunstform, in jeglicher bei der Entwicklung der Zwölftonmusik, die aus der Wahllosigkeit
Ausdrucksform findet sich diese Thematik mit anderer Akzentuie- der freien Atonalität einen sinnstiftenden Zusammenhang schaffen
rung wieder, dabei ist die Dekadenz nicht nur Motiv sondern auch sollte. Die Zwölftonmusik bekam ihren Namen durch das
Vorwurf. Doch die Frage, ob diese Texte, Malereien und Erzeugnis- Aufbrechen der gängigen Dur/Molltonleitern, die jeweils acht Töne
se der Jahrhundertwende noch dieselben entrüsteten Reaktionen enthalten, und das nun einmalige Vorkommen aller 12 Töne in
hervorrufen würden, bleibt offen. Schönbergs Tonreihen. Wobei die Töne von den Komponierenden
nach Belieben zusammengestellt werden können, weswegen jeder
Die explizite Darstellung menschlicher Körper während des Ge-
Ton zum Anfang einer Reihe werden kann und die vier verschiede-
schlechtsaktes ist heutzutage doch in der Kunstwelt schon längst
nen Modi insgesamt 48 Tonreihen ergeben. So wurde mit der Wahl
etabliert. Brutalität und Gewaltorgien im Angesicht einer (Zombie-)
der Reihe ein Zusammenhang, eine Einheitlichkeit und Struktur
Apokalypse finden sich in diversen Spielfilmen, nicht zu sprechen
erstellt.
von der Popularität der Weltuntergangsszenarien wie 2012. Trotz
dessen bleibt der Gedanke einer dekadenten Wiener Moderne Um den Bogen zu schlagen, zu dem anfänglichen Thema und dem
auch bis in unsere Zeit bestehen. Hier anzuführen wäre zum Bei- eben besprochenen Komponisten, und die Frage zu stellen, wie
spiel, dass das Anbandeln mit Minderjährigen heute eine morali- Schönberg zur Dekadenz stand und wie mensch ihn dekadent nen-
sche Grenzüberschreitung wäre und die füllige Ornamentik der nen könnte, wird sich kompliziert gestalten. Denn vorzuwerfen wäre
Jugenstilarchitektur Verschwendung. Doch im Diskurs der Deka- ihm beispielsweise, den Verfall der Harmonie, also einer bis dahin
denz und der Wiener Moderne wird meist eine Kunstform unter- feststehender Norm, durch die Atonalität in Gang gesetzt zu haben.
schlagen, die Musik und mit ihr der berühmte Vertreter Arnold So war zu dieser Zeit in der symphonischen Musik und sogar bis
Schönberg. heute in der Popmusik, die auf den Kirchentonarten basierenden
Harmonievorstellungen dominant. Trotz dessen sah sich
Geboren 1874 in Wien, erlernte er als Autodiktat das Klavierspielen
Schönberg als traditioneller Komponist, da er zwar die Beziehung
sowie Komponieren und bewegt sich wegen der Musik immer zwi-
der Töne umändert, aber sich wie in den Zeiten davor, besonders
schen Wien und Berlin bis er schließlich vor den Nationalsozialisten
in der Zwölftonmusik, an Themen und die aus ihnen folgenden Va-
in die Vereinigten Staaten flüchten musste. Der Anführer der Wie-
riationen hielt. Darüber hinaus beschrieb er die Menschen, die An-
ner Schule „emanzipierte die Dissonanz“ und erlangte damit einen
deren Dekadenz und Verfall vorwerfen, in dem Musikmagazin
bedeutenden Platz in der Musikgeschichte. Zu seinen Schülern
„Etüde“ als inkonsequente Leute, die Anderen Dekadenz selbst
gehörten Alban Berg, welcher später mit zur Wiener Schule zählte,
beim Anbrechen der, 'jetzt' zerfallenden, Kultur vorgeworfen hätten.
sowie John Cage, der Schlüsselwerke der Neuen Musik schrieb.
Schönberg verkehrte häufig im Kaffeehaus Griensteidl, in dem sich Doch jeder Verteidigung entgegen enthält Schönbergs Werk oft
die Künstlerszene sowie die Intellektuellen dieser Zeit traf. eben diese Dekadenz, die der Wiener Moderne so oft zugeschrie-
ben wird, nämlich Motive des Untergangs und der sexuellen
Nun aber zum Grund, warum Schönberg überhaupt als Revolutio-
Ausuferung. Nur um einzelne Beispiele zu nennen, kommen in
när angesehen wurde. Diese Frage zu beantworten ist mir ein
„Pierrot Lunaire“ im Sprechgesang Bilder vor wie „finstre, schwarze
Leichtes, denn eigentlich kann er als Begründer der atonalen Musik
Riesenfalter den Glanz der Sonne töteten“ (Nacht) oder „die Dirne,
verstanden werden, wobei er selbst sagte, er habe die Atonalität
die mit ihren Zöpfen den Geliebten umhalst“ (Galgenlied). Mit
nur entdeckt und nicht erfunden. Die freie Atonalität, die seine frü-
solchen Darstellungen steht Schönberg ganz in einer Linie mit sei-
hen Wer- ke prägt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Bezie-
nen Zeitgenossen, wobei sein Werk mit der Atonalität zugleich ein
hungen unter den Tönen vollständig auflöst und jede Art von
Aufbruch in eine neue, musikalische Sprache kennzeichnet.
Zuletzt wäre hier aber eine Diskussion über die Exklusivität der Ob dies anders wäre, wenn die Atonalität Einzug in die Popmusik
modernen und auch zeitgenössischen Kunst anzuregen, die auch gefunden und damit unsere Hörgewohnheiten mitgeprägt hätte,
die Schönbergsche Musik betrifft. Etwa verstehen das britische bleibt offen. Auch ob es die elementare Aufgabe der Kunst ist zu
Künstlerduo Gilbert & George einen dekadenten Künstler als einen, gefallen und verstanden zu werden.
der nur sich und seinen Kreisen verständlich ist und somit Men-
Ob Schönbergs Musik nun dekadent ist oder nicht bleibt uneinde-
schen außerhalb dieses Kreises keine Chance für Verständnis
utig und darüber hinaus ist die Frage, was mensch mit der Antwort
lässt. Denn über die sinnliche Erfahrung hinaus, die bei Schönberg
bezwecken wollte, wohl eher interessant. Doch das bleibt den Be-
eher eine zermürbende ist, besteht die Kunst und der Genius der
urteilenden übrig.
Zwölftonmusik wohl eher im Theoretischen und dies ist wohl nur
der erleuchtenden Hörerschaft ersichtlich.

Gustav Mahler und seine Opernreform


Mitja Pečnik

Die Zeit der Wiener Moderne war nicht nur die Blütezeit der bilden- neuer formaler Gestaltung an der Schwelle zur Neuen Musik steht.
den Kunst, Architektur und Literatur, sondern auch ein neues musi- Frühe Vertreter der Neuen Musik, unter anderen auch Schönberg,
kalisches Zeitalter. Zu den Pionieren der Wiener Moderne gehört beriefen sich auf ihn. Mahler komponierte also in einer Zeit, als die
auch der weltberühmte Gustav Mahler, einer der bedeutendsten Besten nach neuen Wegen suchten. Das musikalische Werk um-
Sinfoniker der Übergangszeit zwischen Spätromantik und Moder- fassen in erster Linie die Gattungen der Sinfonie und des Orche-
ne. Mahlers Werke, einerseits verankert in der Musiktradition, wei- sterlieds. Mahler gab das klassische Ideal des Gleichgewichts aller
sen anderseits in die Richtung der Neuen Musik – somit gilt Mahler Sinfonieteile auf und stellte krasse musikalische Gegensätze mit
als bedeutender Reformer des Musiktheaters. der Collagetechnik in den Vordergrund. Neuartig war auch seine
Instrumentation. Er steigerte nämlich die Orchesterbesetzung auf
Im Anschluss an seine musikalische Ausbildung schlug Mahler
ein bis dahin unbekanntes Maß.
eine lebenslange Tätigkeit als Kapellmeister und Operndirigent ein.
Seine Dirigententätigkeit galt als unerbittlich und war von Orche- Im letzten Jahr
sterdisziplin geprägt, weshalb er oft auf Ablehnung stieß, was aber seines Lebens
sein Schaffen nicht behinderte. Ihm war die Arbeit Genuss, ande- brachte ihn die
ren aber Schweiß. Nach zahlreichen Anstellungen in verschiede- gescheiterte Ehe
nen Städten Europas wurde er 1897 Direktor der Wiener Hofoper, mit Alma Schin-
wo er seine Opernreform durchsetzte. dler, der Tod
seiner Tochter
Mahler wandte sich immer wieder gegen die Nachlässigkeit und
und künstlerische
Schlamperei, mit der die szenische Seite von Opernaufführungen
Schwierigkeit an
zu jener Zeit behandelt wurde. Seine Vorstellung von Oper als
den Rand gei-
Einheit von Musik und Darstellung orientierte sich an Richard
stiger Dissoziati-
Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks, der einen immensen Ein-
on, weshalb er
fluss auf Mahler hatte. Nach Gustav Mahler sollte die Kunst der
Sigmund Freud
Szene „eigenschöpferisch und gleichberechtigt neben die Kunst
aufsuchte und
der Dichtung und der Musik treten“. Er verabschiedete sich damit
zog sich einer
von der bis dahin üblichen romantisierenden Interpretation und
Analyse unter.
erstellte eine Einheit von Inszenierung, Dekoration und Musik. Um
Freud selbst
die erwünschte Einheit zu erzwingen, musste er die Probenarbeit
schrieb darüber:
intensivieren und verlangte von den Sängern, anstatt des stereo-
„Ich hatte Anlass,
typischen Handlungsmusters, eine Rollendarstellung, die mit der
die geniale Ver-
musikalischen Gestaltung in Einklang war. Dies ermöglichte seine, Gustav Mahlers Statue in Ljubljana (Foto: Marina Roso)
ständnisfähigkeit
laut Alfred Roller „eine so glänzende schauspielerische Begabung“,
des Mannes zu bewundern. Auf die symptomatische Fassade sei-
dass es ihm eine Kleinigkeit war, den Sängern, die nötigen Spie-
ner Zwangsneurose fiel kein Licht. Es war wie, wenn man einen
lanweisungen zu geben.
einzigen, tiefen Schacht durch ein rätselhaftes Bauwerk graben
Neben seinem Dirigentenberuf übte Mahler auch eine kompositori- würde.“ Mahler gilt heutzutage als eine paradigmatische Künstler-
sche Tätigkeit aus. Das Besondere an ihm war jedoch, dass er mit persönlichkeit des Fin de Siècle. Sein Werk wird immer noch häufig
einer bis an die Grenzen der Tonalität erweiterten Harmonik und gespielt und von namhaften Interpreten verbreitet.
Jenseits des Mainstreams: Plečniks
Vermächtnis in Wien
Tomaž Zadravec

Plečniks Tod beendete seinen langen Abstieg von den Höhepunk- Das Zacherl-Haus wurde in den Jahren 1903 bis 1905 errichtet,
ten, die er in Wien als einer der bedeutendsten Vertreter der wobei es nicht nur als Stadtresidenz der Familie Zacherl diente,
Wagnerschule erreichte, vorbei an der gar unlösbaren Aufgabe, die sondern auch der Firmensitz des familieneigenen Betriebs war.
sich als solche nach dem Zerfall der europäischen Imperien nach Verständlich ist, dass, oft als lustige Anspielung auf das berühmte,
dem Ersten Weltkrieg je einem Architekten stellte – die Umgestal- von der Firma Zacherl, die ihre Niederlassungen sogar in Konstan-
tung der Prager Burg und ihrer Umgebung für die Bedürfnisse des tinopel und in Philadelphia unterhielt, hergestellte Insektenpulver
Präsidenten und seines Landes bis zur außergewöhnlich künstleri- „Zacherlin“, das zur damaligen Zeit in der ganzen Welt vertrieben
schen, geradezu urbanistischen Tätigkeit im allzu anonymen Um- wurde, im Volksmund auch die Bezeichnung „Wanzenburg“
feld im kleinen, von allen Seiten eng umgrenzten Slowenien, inner- aufkam. Sein Jugendstiljuwel zeigt interessante Ecklösungen,
halb des aussichtslosen Königreich von Serben, Kroaten und gleichzeitig wirkt aber die Art, wie das Gerüst aus Stahlbeton-
Slowenen. trägern an der Fassade mit Granitplatten verkleidet ist, mit Gottfri-
ed Sempers „Bekleidungstheorie“ gut zusammen. Dieser Theorie
Ljubljana, Wien, Prag … Plečnik, an seinen Bauten in Wien zeitwei-
zufolge übernehme die Fassade das tektonische Gerüst eines
se auch als Josef Plecnik bezeichnet, 1872 in Ljubljana geboren,
Gebäudes und umhülle es wie ein Textil. Zwischen dem Erd-
hatte sich in Wien als einer der begabtesten Schüler Otto Wagners
geschoß und dem schweren Dach liegt eine feingliedrige Wand
mit Bauten wie der Heilig-Geist-Kirche (1911–1913) in Ottakring
mit strengem, durchgehendem Raster, in dem flächig die Fenster
einen Namen gemacht. Unter Wagners Betreuung entstanden Pro-
liegen – eine Trennung zwischen Wohn- und Geschäftsbereich ist
jekte wie die Wiener Stadtbahn-Erweiterung, die Innenausstattung
nicht ersichtlich. Plečnik befand sich zeitlebens immer in einer
der Kirche in Osijek (Kroatien) oder das Gebäude der Anker-
widersprüchlichen Lage, in einer fast kritischen Atmosphäre, da
Versicherung in Wien. Im Jahre 1911, nachdem ihm der Thron-
man seinen künstlerischen Werdegang, oder um es zu präzisie-
folger Franz Ferdinand, der nebenbei die Kirche als „eine Mischung
ren, seinen Stil, keiner genauen Kunstrichtung zuordnen konnte.
von Venustempel und russischem Bad und Pferdestall, respektive
Sein Aushängeschild, mit dem er für öffentliches Aufsehen sorgte,
Heumagazin“ bezeichnete, die Ernennung zum Nachfolger Otto
stellt einerseits die fühlbare Qualität, anderseits aber couragierte
Wagners verweigert hat, zog Plečnik nach Prag, um dort zu lehren.
städtische Ideen dar – mitunter auch das Konzept von Ljubljana
Einige Jahre früher, 1901, um es genau zu datieren, trat Plečnik als das slowenische Athen. Sein Stil ist unverfälscht, jenseits des
der Wiener Secession bei. In dieser fruchtbaren Schaffensperiode Mainstreams der Wiener Moderne und bedient sich dabei vor al-
entstanden Bauten wie das Stadtbahnstation Friedensbrücke, Villa lem des Formenvokabulars der Antike: Pyramiden und Obelisken,
Langer mit der Fassade im Stile des Belgischen Jugendstils, die massive Granitschalten und eine geradezu lustvolle Vorliebe für
Villa des Notars Loos in Melk, das Miethaus Langer, Villa Wied- Säulen. Ja, es sind Säulen, die in Hallen, Stiegenhäusern und
mann und nicht zuletzt, zudem aber auch der architektonische Mei- Salons sein typisches Erkennungsmerkmal repräsentieren. Für
lenstein seiner Karriere oder auch ein Meisterwerk der Proportion Plečnik stellten die Säulen das Fundament der Zivilisation dar und
genannt: das Zacherl-Haus am Bauernmarkt im Zentrum Wiens. begleiteten ihn stetig mit der Überzeugung:

„Eine Stadt ohne Säulen ist eine traurige Stadt.“

Otto Wagner: ein innovativer Architekt


Anesa Jahiri

Wenn man durch Wien spaziert, begegnet man vielen Meisterwer- Wagner sehr gut aus, so war er in der Lage, alte Formen mit mo-
ken von Otto Wagner, die auch manche Touristen, die sich für Ar- dernen Ideen zu verbinden. Als er sich vom Historismus abwandte,
chitektur begeistern lassen, in die Stadt locken. Dieses Jahr wer- orientierte er sich ausschließlich an den Bedürfnissen des moder-
den seine Ideen und sein Werk in Wiener Museen mit Ausstellun- nen Lebens und wollte nicht mehr zurück in die Vergangenheit
gen gefeiert, obwohl vor hundert Jahren seine Entwürfe für viel blicken. Er hat sich für die ökonomische Bauweise eingesetzt: An
Aufregung sorgten. In der Architekturgeschichte kannte sich Stelle von massiven Steinbauten wurden günstige
Ziegelmauerwerke benutzt, die man später mit Steinplatten verklei- Stadtbahnanlage die Lackierung sämtlicher Metallteile und Holz-
den konnte. Bei seinen Ideen wurden neben Holz auch moderne Oberflächen auf grün, was aber nicht von Wagner stammt. Ur-
Materialien benutzt, wie etwa Stahl und Glas, nicht nur auf den sprünglich waren die Metallteile hellbeige und Holzteile braun, die
Kuppeln, sondern auch auf den Fußboden, wobei er sehr großen grüne Farbe kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu seinen
Wert auf die Details in der Gestaltung legte. So wurde Eisen zum wichtigsten und bekanntesten Gebäuden zählen die Postsparkasse
ersten Mal als ein schönes Material präsentiert. Ein großer Be- und die Kirche am Steinhof in Wien. Er sah sich selbst nicht nur als
standteil des Jugendstils waren auch Ornamente, die vor allem bei einen Architekten, sondern auch als einen Künstler, der nicht nur
der Außengestaltung eingesetzt wurden. Mit Marmor, Glas, Fliesen, Häuser plant und baut, sondern auch für die Innenausstattung und
Metall oder mit einer Vergoldung hat man die Häuser veredelt. Auf Möbel zuständig ist. Bei der Gestaltung griff er gerne auf geometri-
vielen seinen Ornamenten hat Wagner sogar seine Initialen ein- sche Formen zurück. So ist die Fassade der Postsparkasse mit
fließen lassen, was heute nicht mehr so bekannt ist. Jahrelang ringförmig angeordneten Knöpfen aus Stein geschmückt. Die Ju-
setzte sich Wagner mit einem jungen Architektenteam ein, unter gendstilkirche am Steinhof wurde auf Wunsch des Kaisers Franz
denen auch Jože Plečnik war, Geländer und Brücken der ehemali- Josephs für die Patienten der Heilanstalt erbaut. Aber auch gegen
gen Stadtbahn, Stationen, die Kirche am Steinhof, die Postspar- diese Kirche gab es damals massive Proteste. Heute kann man
kasse, das Majolikahaus und das Musenhaus an der Wienzeile zu sich schwer vorstellen, dass Wagners Meisterwerke am Beginn der
entwerfen. Die Kirche am Steinhof oder die Postsparkasse gelten Zweiten Republik vor dem kompletten Abriss standen. Erst in den
als ein Meilenstein auf den Weg vom Historismus zur Moderne aus. 60er Jahren kam es zum langsamen Umdenken und seine Werke
Heute ist das charakteristische Markenzeichen der blieben der Welt offen.

Wiener Kreis
Mišo Jonak

Die Metaphysik ist tot! Auf dieser Devise baute der Wiener Kre- Diskurse wichtigen Begriffen, wie der Fall, die Tatsache, der Ge-
is seine Philosophie des logischen Empirismus. Die Mitglieder danke, der sinnvolle Satz, die Wahrheitsfunktion, die allgemeine
setzten sich ein, Kriterien für die Philosophie zu entwickeln, Form des Satzes und zuletzt dazu, dass man über Einiges nicht
die wie in der Mathematik und den Naturwissenschaften als sprechen kann und man deshalb darüber schweigen sollte. Es
essenziell gelten. Sie wollten zudem die Wissenschaft popula- klingt sehr abstrakt, doch nach näherer Betrachtung der einzelnen
risieren. Dabei bereitete ihnen die gesellschaftliche Entwic- Einheiten und nach dem Lesen seiner Definitionen, kann man fest-
klung große Probleme. Ein Mord 1936 bedeutete die endliche stellen, dass er damit den Verifikationismus definiert, denn dabei
Auflösung des Wiener Kreises. besteht der Sinn eines Satzes in der Methode zur Verifikation. Um
es einfacher zu fassen, es geht dabei um ein logisches Mittel, mit
Es fing als eine informelle Diskussionsrunde im Jahre 1907 an, zu
dem man einen Satz kategorisieren kann. Es ist ein Sinnkriterium,
der u. A. Hans Hahn, Philipp Frank und Otto Neurath zählten. Man
wissenschaftlich bedeutsame Aussagen von den metaphysischen
diskutierte Grundlagenprobleme der modernen Mathematik und
zu unterscheiden. Jede Aussage, die in die zweite Kategorie fällt,
Naturwissenschaften, die (Un-)Wissenschaftlichkeit der Philosophie
ist somit sinnlos und kann aus der empirischen Wissenschaft
und die Erneuerung des Empirismus, mithilfe der Mittel der moder-
ausgeschieden werden. Hier zeigt sich dieser Drang zur logischen
nen Logik. Diese Treffen wurden spätestens durch den Ersten
Erklärung von den kleinsten Einheiten und der Trotz der Metap-
Weltkrieg unterbrochen.
hysik, was die Aussage am Ende noch so stark betont, denn
Als 1922 mit Hans Hahns Unterstützung Moritz Schlick auf den worüber man nicht mithilfe empirisch logischer Mittel sprechen
Lehrstuhl für Naturphilosophie in Wien gelang, fing er an, Diskussi- kann, sollte geschwiegen werden. So sah sich der Wiener Kreis
onskreise zu organisieren. Ab 1924 fanden die Treffen wöchentlich davon sehr angesprochen, denn sie vertraten ähnliche Auffassun-
statt und mit intellektuell hochkarätiger Besetzung. Oftmals wurde gen.
Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus laut vorgelesen und
1929 trat der Wiener Kreis an die Öffentlichkeit mit der Publikation
debattiert. Monatelang haben die Mitglieder über dieses Werk ge-
der Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wie-
sprochen und es analysiert. Wittgenstein schaffte ein mathematisch
ner Kreis. Darin zeigt sich schon der Wunsch nach einer Einheit-
geprägtes Modell, indem er viele philosophische Aspekte ansprach.
swissenschaft, die alle Wissenschaften miteinbeziehen würde. Und
Er geht dabei von der Welt an sich aus und durch eine durchgehen-
zwar aufgrund einheitlicher Methoden und Regeln, die auf alle Te-
de Dekonstruktion kommt er zu Definitionen von für seine
ilwissenschaften angewendet werden können.
Die erreichten Erkenntnisse der Einzelwissenschaften können so- untermauert und sogar so weit geht, dass er Aussagen, die metap-
mit in die Einheitswissenschaft eingegliedert werden. Sie setzten hysischer Natur sind, als sinnlos abtut. Ein gutes Beispiel dafür sind
diese Gedanken weiter in anderen Werken fort. Aussagen über die Existenz Gottes, die demnach als metaphysisch
und empirisch sinnlos erscheinen. Es spielt keine Rolle, welcher
In den 30er Jahren publizierten sie ihre Schriften mithilfe der Zeit-
Religion die Person angehört, die sich diese Fragen stellt. Daran
schrift Annalen der Philosophie. Es entstanden Werke wie: Schrif-
kann man gut erkennen, dass es sich um eine Art Radikalisierung
ten zur wissenschaftlichen Weltauffassung (Schlick und Frank),
handelt, was die Sichtweise angeht. Deshalb haben sich viele
Einheitswissenschaft (Neurath) und später International Encyclope-
Strömungen in der analytischen Philosophie entwickelt, die die me-
dia of Unified Science (Neurath als Hauptherausgeber, Rudolf Car-
taphysischen Fragestellungen wiederaufarbeiten. Doch auf dieser
nap und Charles W. Morris als Nebenherausgeber). Das ist das
anti-metaphysischen Grundlage wurde auch die Einheitswis-
ultimative Werk, an dem der Wiener Kreis beteiligt war, denn es
senschaft konzipiert, denn sie fordert eine Trennung von Natur- und
beinhaltet einen Überblick zum einheitswissenschaftlichen Erkennt-
Geisteswissenschaften. Die Geister des Wiener Kreises scheiden
nisnisprozess, wobei es als Kommunikationsplattform zur Verstän-
sich jedoch, als es zur Protokolldebatte kommt, wobei auf sensuali-
digung zwischen den einzelnen intra- und interdisziplinären Wis-
stisch wahrgenommene Phänomene eingegangen wird, die einen
senschaften dient. Zudem ist es ein Medium, das als ein verbinden-
gewissen subjektiven Charakter mitbringen. Inwiefern Objektivität
des Element zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fungiert. Die
gewährleistet werden kann, wird nicht gleich von Neurath, Schlick
Veröffentlichung der Encyclopedia of Unified Science entstand be-
und Carnap wahrgenommen. So bietet jeder seine eigene Defini-
reits in der Emigration. Da der Wiener Kreis in Vielzahl aus Juden
tion davon an. Tatsache ist, dass es sich bei den daraus resultie-
oder politischen Gegnern des Austrofaschismus bestand, mussten
renden Hypothesen, Theorien und Gesetzen um eine abstraktere
viele ins Ausland fliehen, zu denen zählten u. A. Herbert Feigl, Car-
Ebene der empirischen Forschung handelt. Um Neuraths Theorie
nap und Neurath. Hahn starb an den Folgen einer Operation. Und
zusammenzufassen, die Einheitswissenschaft wird, als ein koope-
Schlick wurde durch seinen ehemaligen Dissertanten Hans Nel-
ratives Forscherkollektiv definiert, das sich über die Annahme oder
böck aus persönlicher und weltanschaulicher Gegnerschaft
Ablehnung von Hypothesen verständigt. Wissenschaftliche Er-
ermordet.
kenntnisgenerierung wird als soziale, intersubjektive Konsens-
Was ist jedoch die ideologische Hinterlassenschaft des Wiener bildung verstanden. Aber auch die Protokollsätze dieser Konsens-
Kreises? bildung können hinterfragt werden und gelten somit nicht als gesi-
Der Wiener Kreis war vom logischen Empirismus überzeugt und cherte Erkenntnisgrundlage.
seine Hinterlassenschaft ist noch heute in der analytischen Philo- Der Wiener Kreis war eine Erscheinung, die viel Gutes für die ein-
sophie zu finden. Sie lehnten synthetisch-apriorische Urteile ab, d. zelnen Wissenschaften mitbrachte. Zudem ist zu betonen, dass er
h. sie waren nicht wie Kant der Auffassung, dass man Urteile im einen wichtigen Einfluss auf die Gesellschaft hatte, denn er brachte
Vorhinein, sondern auf Basis von Erfahrung fällt. Zudem die Wissenschaft näher an die Gesellschaft, als auch umgekehrt.
befürworteten sie analytische Ansätze, somit beruht die Wahrheit Der Grund, warum diese Bemühungen so lobenswert sind, ist, dass
auf der Zerlegung von Begriffen. Diese synthetisch-apriorischen viele Mitglieder des Wiener Kreises von den gesellschaftlichen
Urteile sind nach Kant das Ziel einer wissenschaftlichen Metap- Entwicklungen zur Flucht gezwungen wurden. Selbst ihre
hysik und wie schon erwähnt, zeigt sich hier ein geraumer Unter- Bemühungen danach sind erstaunlich und gehen buchstäblich in
schied in der Auffassung des Wiener Kreises. Denn hier kommt die Annalen ein.
man zum Sinnkriterium, das weiterhin diesen Unterschied

Nestroy und Raimund — bekannt auch in Slowenien


Tjaša Tanacek

Es sind zwei der bekanntesten Persönlichkeiten des 19. Jahrhun- im 19. Jahrhundert waren. Deren Namen haben den Bürgern Wi-
derts, der Epochen des Biedermeiers und des Vormärzes, neben ens und anderer Städte Freude, Entspannung und das Zusammen-
Namen wie Lenau und Grillparzer. Die Rede ist von den Schriftstel- kommen von fremden Menschen durch ihre Werke ermöglicht. Dies
lern Johann Nepomuk Nestroy und Ferdinand Jakob Raimann, passierte in Theatern in Städten wie zum Beispiel Wien, Berlin,
besser bekannt als Ferdinand Raimund. Es sind zwei Namen, die Hamburg, Ljubljana, Maribor und anderen. Ihr Leben widmeten sie
fest mit dem Leben der Wiener Bürger verbunden sind, da sie sel- dem Schreiben von Volkstheaterstücken, die ihnen großen Ruhm
bst Bürger des Wiener Alltags am Ende des 18. und bescherten und sie zu den Vertretern des Alt-Wiener
Volkstheaters machten. Dieser Ruhm ermöglichte ihnen Reisen Die Beliebtheit der beiden Autoren sank aber durch die Gescheh-
durch Österreich, die Slowakei, Tschechien, die Niederlanden, die nisse, die die Geschichte der Länder stark geprägt haben. Das er-
Ukraine, Deutschland und zusätzliches Prestige, der noch bis ins ste Ereignis, das dazu führte, dass die deutschsprachigen Autoren
21. Jahrhundert mit ihren Namen und Werken verbunden ist. an Beliebtheit verloren, war der Zerfall der Monarchie. Dies führte
dazu, dass die Anzahl der Inszenierungen stark zurückging. Das
Während ihrer Lebzeiten verfassten sie zusammen insgesamt 93
zweite Ereignis war der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der dazu
Werke, deren ihnen nicht nur in Österreich, sondern auch in Polen
führte, dass sich die Menschen von der deutschen Sprache und
und anderen Ländern Bekanntheit einbrachten. Mit einigen Werken
dadurch auch von dem deutschsprachigen Theater abwendeten.
wurden sie auch im ethnisch slowenischen Gebiet prominent. Für
Das Zurückgehen der Anzahl der Inszenierungen dieser beiden
Raimund wurde Slowenien, nach den gefundenen Daten, zum Teil
Schriftsteller ist auch im 21. Jahrhundert sichtbar, da die letzte Auf-
seines Ruhmes – leider nach seinem Tode. Ihre Werke waren im
führung schon zwanzig Jahre zurückliegt. Trotz des Zurückgehens
19. Jahrhundert bei den Bürgern und Darstellern in Ljubljana und
der Inszenierungen in Slowenien sind die beiden Autoren noch im
Maribor sehr populär – so wurden zahlreiche Premieren und Wie-
deutschsprachigen Raum präsent und anerkannt. Diese Anerken-
derholungen aufgeführt, sowohl in der deutschen Sprache, als auch
nung zeigen die Wiener Bewohner durch die Monumente, die Jo-
in der slowenischen.
hann Nestroy und Ferdinand Raimund gewidmet sind. Diese Monu-
mente deuten darauf hin, dass sie ihrem Erfolg gerecht waren und
dass sie zu Recht von den Bürgern in Ehren gehalten werden.

Sie liebte sie...


Katarina Gerjevič

… sie, die Muse, die Verführerin der Crème de la Crème des Sie wurde zu Gesprächen in Freuds Haus eingeladen. Er
intellektuellen Fin de Siècle, sie, die Femme fatale, die den lei- beschenkte sie mit Blumen, setzte sich im Kolleg neben sie und so
denschaftlich in sie verliebten Nietzsche, dessen Freund Paul sagte sie was sehr Liebes. Sein Name war für sie der Inbegriff
Reé und ewig nach ihr sehnenden Rilke abwies, sie, die den eines wissenschaftlich gesicherten, tiefen Erlebens zu dem er ihr
Menschen nie treu sein konnte und sogar ihren eigenen Mann verhalf. Sie liebte ihn, schätzte, akzeptierte Freud als Vaterfigur
nie zuließ sie zu berühren… sie war treu, sie liebte sie, von und verehrte ihn. Und sie, sie bezeichnet sie als einen Wendepunkt
dem Moment als sie ihr zum ersten Mal begegnete, ihr und ihres Lebens, mit der ihre Weltanschauung eine neue Dimension
ihrem Vater. gewann. Spontan begeistert und zunehmend fasziniert war Lou von
ihr, da sie Antworten auf Fragen erhielt, die jahrelang unbe-
Er, Poul Bjerre, brachte sie dahin, am 20. September 1911, nach
antwortet geblieben waren, auch diejenigen aus ihrer Kindheit: „Im
Weimar zum Kongress, wo sie ihn traf, und sie, seine Tochter, sei-
Rückerinnern will mir scheinen, als ob mein Leben ihr entgegen
ne Schöpfung. Es war der Beginn einer Bekanntschaft, sogar einer
gewartet hätte, seitdem ich aus den Kinderschuhen heraus war.“
tiefen Freundschaft, nein, einer lebenslangen Liebe. Sie wollte im-
Die Antworten zur Menschenseele: „Ich möchte in der Haut aller
mer mehr über sie erfahren und sie las über sie, alle Essays, die
Menschen gesteckt haben.“ Sie hat ihr Leben voll und ganz ihr
von ihrem Schöpfer über ihr geschrieben wurden. Ihre Begeisterung
gewidmet. Sie hat die Belletristin sogar dazu gebracht, mit dem
und Streben nach Vertiefung ihrer Kenntnisse trieben sie im Okto-
Dichten aufzuhören. Nun verzeichnete sie Erkenntnisse ihres Studi-
ber 1912 nach Wien, in die Schule zu ihm, dem Schlüssel zu ihrem
ums über sie in sachlichen Essays und verbreitete enthusiastisch
Kern. Zu diesem Zeitpunkt war sie die unter den Brüdern einzige
die Lehre ihres Professors.
Frau, die an den Mittwoch-Diskussionen und Kaffeehausbesuchen,
die nur ihr gewidmet wurden, teilnahm. Sie war so gut vorbereitet, „Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehör-
dass sie schon in den ersten Sitzungen bemerkte, wo sein Referat ten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche
über sie von Positionen seiner Veröffentlichungen abwich (wo sein Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte. Ich sage nicht
Referat über seine Veröffentlichungen von ihrer Position abwichen). viel, wenn ich bekenne, dass wir es alle als eine Ehre empfanden,
Dass auch Herr Professor, wie sie den Freud nannte, von ihr faszi- als sie in die Reihen unserer Mitarbeiter und Mitkämpfer eintrat …
niert wurde, ist kein Zweifel. Schon als sie wegen Krankheiten nicht Meine Tochter [Anna], die mit ihr vertraut war, hat sie bedauern
an den Diskussionen erschien, vermerkte Freud mit Enttäuschung: gehört, dass sie die Psychoanalyse nicht in ihrer Jugend kennenge-
"Ich vermisste Sie gestern in der Vorlesung ... Ich starrte gestern lernt hatte. Freilich gab es damals noch keine …“
wie gebannt in die Sitzlücke, die man für Sie gelassen hatte."
Lou Andreas Salomé und die Psychoanalyse. Sie liebte sie, ihr war
sie treu, lebenslang.
Kulturstunde: Interview mit Sigmund Freud
Žiga Dvoršak

Interviewer: Sehr geehrte Zuhörerinnen, sehr geehrte Zuhörer, willkommen in unserem Studio. Heute haben wir die große Ehre, mit Herrn
Doktor Freud ein paar Worte auszutauschen und damit ein wenig in die menschliche Psyche einzudringen. Vielen Dank, dass sie unserer
Einladung nachgekommen sind.

Herr Freud: Die Freude ist ganz meinerseits.

I: Nehmen Sie ruhig auf dem Sofa Platz und wir beginnen schon mit Ihrem Neujahrschlager, Der Traumdeutung. Haben Sie sich bewusst
entschieden, das Buch um die Jahrhundertwende erscheinen zu lassen?

F: Eigentlich wurde der Text schon im November zu Ende geschrieben. Mit dem Verlagsredakteur haben wir uns überlegt, ob es vielleicht
nicht wirkungsvoller wäre, das Erscheinungsdatum auf Januar zu verschieben. Schließlich haben wir uns darüber geeinigt, die Erstausga-
be auf 1900 vorzudatieren.

I: Und darf ich Sie bitten, für unsere Zuhörer ganz kurz etwas über den Inhalt zu erzählen?

F: Freilich. Der Nachdruck liegt auf dem Begriff des Unbewussten. Darunter ist unsere natürliche Motivation, das Wilde, das Triebhafte zu
verstehen. Ich glaube, dass dieser Teil des Seins auf verschiedene Arten und Weisen in uns verdrängt wird. Das heißt aber nicht, dass er
ganz unerreichbar ist – er lässt sich durch flüchtige Blicke fassen, und zwar in den Träumen als kodierte Verschiebung oder Verdichtung.
Die Aufgabe des Psychoanalytikers ist, diese bei einem Patienten bloßzulegen und zu interpretieren.

I: Und das erreicht man eben durch ein Gespräch.

F: Genau. Wir machen uns ganz gemütlich: Im Zimmer steht immer ein Sessel oder ein Sofa, wo sich die Patienten hinlegen und entspan-
nen können. Dann reden wir über ihre Probleme wie alte Freunde. Darf man hier eine Zigarre rauchen?

I: Natürlich, der Assistent wird gleich den Aschenbecken holen. Nun möchte ich gern zu Ihrem anderen erfolgreichen Werk kommen, To-
tem und Tabu. Haben Sie, als Sie an dem Buch geschrieben haben, geahnt, dass es so viel Aufregen verursachen wird?

F: Es gab keinen Zweifel, dass das Buch auf harte Kritik stoßen wird. Keiner freut sich, wenn ihm vorgeworfen wird, in seine Mutter verliebt
zu sein [Lächeln].

I: Entwickeln Sie den Begriff des Unbewussten in diesem Text weiter?

F: Es hat schon etwas damit zu tun. Ich bin zur Erkenntnis gekommen, dass das Ver-
drängte ein sexuelles Begehren gegenüber der eigenen Mutter ist. Es entwickelt sich un-
bewusst in der sogenannten phallischen Phase. Auch der Vater spielt hier eine große
Rolle. Er stellt das Inzestverbot dar, denn es ist eben der Vater, mit dem das Kind um die
Liebe der Mutter kämpfen muss. Das führt weiter zu einem latenten Wunsch, den Vater zu
töten.

I: Kein Wunder, dass die Kritiker in eine solche Empörung geraten sind. Sie haben Sie
sozusagen als Mutterliebhaber und potenziellen Vatermörder bezeichnet.

F: Keinesfalls, das ist alles rein symbolisch zu verstehen. Diese Diagnose habe ich zuerst
mir selbst gestellt . Es handelt sich halt um eine durchdachte Theorie, die nicht nur auf
zahlreichen Patientenfällen, sondern auch auf Analysen literarischer Figuren aus der Anti-
ke aufgebaut wurde.

I: Vielleicht wird auch ihr nächstes Werk so viel Aufregung mit sich bringen.
Fotobearbeitung: Marina Roso

Haben Sie schon Pläne?


F: Im Moment befinde ich mich noch in der Vorbereitungsphase – viel wird reflektiert und Forschungsmaterial wird gesammelt. Das Unbe-
wusste lässt mir noch immer keine Ruhe, deswegen werde ich mich weiter mit dem Begriff beschäftigen. Ich glaube, dass die zweiteilige
Gliederung in das Bewusste und das Unbewusste etwa zu einfach ist. Womöglich gibt es noch einen dritten Akteur im Spiel. Es ist noch zu
früh, um eine konkrete These stellen zu können.

I: Auch wenn die Idee erst im Prozess des Entwerfens ist, sind wir alle auf den Titel gespannt.

F: Der Titel hängt davon ab, wie die eingeführten Begriffe benannt werden. Vielleicht Das Es und das Ich. Oder besser: Das Ich und das
Es. Wo steckt jetzt der Assistent mit dem Aschenbecher? Der Teppich wird schmutzig.

I: Ich glaube, er kommt gerade.

Assistent: Entschuldigen Sie die Verspätung, eine Frau rief das Studio an. Sie stellte sich als Amalia Freud vor und wollte Sie sprechen,
Herr Doktor. Sie sprach wirr von ihrem Mann, er soll verschwunden sein.

F: [Pause] Ein typisches Beispiel von Hysterie. Wenn Sie erlauben, ich müsste mich um die Sache kümmern.

I: Selbstverständlich, Herr Doktor. Vielen Dank, dass Sie vorbeigekommen sind. Vielen Dank auch dem Publikum. Sie sind erneut eingela-
den, nächste Woche wieder dabei zu sein. Da wird uns Jacques Lacan besuchen und seine Meinung zur Psychoanalyse und latenten
Wünschen äußern. Auf Wiederhören!

Einmal in Italien
Katarina Penko und Anja Matičič

Irgendwo im nordwestlichen Italien unterhalten sich ein 8-jähriges Kind und seine 80-jährige Oma im gemütlichen

Wohnzimmer des großen Familienhauses. Es ist Ende Dezember des Jahres 1950 und es hat begonnen zu schneien.

Der kleine Albert: Nonna, erzähl bitte noch einmal über deine jugendlichen Jahre bevor du nach Italien gekommen bist! Bitte, bitte, bitte
seeeeehr!

Oma: Ja, mein Kind, aber ich hab‘ dir schon darüber erzählt, wie es damals in Österreich, wo ich aufgewachsen bin, war.

Der kleine Albert: Ja, aber du hast immer nur kurz erzählt, ich möchte nun die ganze Geschichte hören!

Oma: Die ganze? Setz dich neben mir …

Der kleine Albert: Nonna, ist es wahr, dass damals in Österreich sehr viel Kaffee getrunken wurde?

Oma: (lächelnd) Mein Schatzi, das waren ganz andere Zeiten … (sie beginnt zu erzählen).

Weißt du, der Kaffee war damals nicht nur ein Getränk, das man morgens schnell austrinkt, um die Energie für den Tag zu kriegen, es ging
eher und vor allem um das Zusammensein und das Sozialisieren der Leute. Und was für eine Gesellschaft war das damals in Wien! Ich
und meine Freundin Alma haben uns kennengelernt, als wir noch Kinder waren und zusammen gespielt haben. Alma war ein leises, aber
kluges Mädchen, das wunderschön Klavier spielte und sie war meine beste Freundin. Zusammen mit Gustav, der in Alma heiß und innig
verknallt war, haben wir regelmäßig den literarischen Salon von Berta Zuckerkandl aufgesucht. Wir waren damals sehr jung, in unseren
20er Jahren. Berta Zuckerkandl war ein bisschen älter als wir, aber trotzdem waren wir, die drei Mädchen, seit damals untrennbar.

Der kleine Albert: Und was hat der Kaffee damit zu tun?

Oma: Sei geduldig, du wolltest doch die ganze Geschichte hören … Also …

Außerdem haben wir uns neben dem Salon von Berta, wo wir ehrlich gesagt sehr viel Zeit verbrachten, auch in verschiedenen Kaffeehäu-
sern getroffen, wo wir einen Brauner oder einen Schwarzer tranken und über das Leben, die Literatur und Politik diskutiert haben. Mein
Freund Peter, den ich in Cafè Griensteidl zum ersten Mal gesehen habe, hat immer gesagt: „Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene – ins
Kaffeehaus!“ Und daran hielten wir uns sehr stark. Ooo, das waren Zeiten! Und wie schön war die Atmosphäre im Kaffeehaus Griensteidl!
Überquellender köstlicher Humor und ungestüme Lustigkeit! Du solltest da sein, um sich das vorstellen zu können. Hohe Decken, kleine
runde Tischleinen und großartige Kristallleuchter! Die Menschen saßen herum, diskutierten, rauchten Zigarren, lasen die Zeitungen,
schrieben und natürlich tranken sie Kaffee. Ich erinnere mich daran, wie Dr. Sigmund Freud dann später im Cafè Central stundenlang saß
und Tarock spielte. Ich nehme das als große Ehre, zusammen mit den schätzenswerten Männern gesessen zu haben und die Zeit mit
ihnen verbracht zu haben. Ich kann dem alten Wiener Kaffeehaus einiges verdanken: Nicht nur wertvolle Bekanntschaften gemacht zu
haben, sondern auch Beziehungen angeknüpft, die mir für‘s ganze Leben blieben ... Jeden Tag um etwa 4 Uhr, nach dem Mittagessen,
trafen wir uns in diesem Raum, der verführerisch nach frischgebranntem Kaffee roch. Wir Frauen hörten der leisen Debatte von Literaten,
von unseren Freunden zu, als Hermann an dem aus weißem Marmor angefertigten Tisch die literarische Diskussion leitete.Und da pas-
sierte noch etwas – eine große Liebe zwischen meiner Freundin Adele und Arthur blühte auf. Das jüngste und am meisten aussichtsrei-
che Mitglied unseres Kreises, der Hugo, mischte sich mit seiner ein bisschen hohen, etwas spitzen Stimme immer wieder in die Debatten
ein, und obwohl er für seine, ein bisschen ältere Freunde oft fast zu neugierig war – er war doch kaum nur ein Gymnasiast!, kam es zwi-
schen ihnen bald zu einer engen herzlichen Freundschaft. Nach dem Ende des Griensteidl siedelte nur ein Teil unserer Gruppe ins Café
Central und dort haben wir Peter kennengelernt.

Ich habe dir schon etwas über meine liebe Freundin Alma erzählt, nicht wahr? Sie hatte im Cafè Central ihre Liebe gefunden. Der kleine
und jüngere Jude Franz gefiel ihr zuerst nicht. Trotzdem haben sie schnell Kontakt zueinander gefunden, als sie eins von seinen Gedich-
ten in Liedform verfasste. Kurz danach waren sie verliebt. Da sich Alma kürzlich von ihrem ersten Mann scheiden ließ, warteten sie 9 Jah-
re, bis sie an einem heißen Julitag endlich heirateten. Ah, sie war eine schöne Braut!

Der kleine Albert: Und wie hast du nonno kennengelernt?

Oma: Ah ja, du weiß schon, dass dein nonno ein erfolgreicher Musikkritiker war und mit Alma und Arthur befreundet war. So hab‘ ich ihn
kennengelernt. Richard war wirklich ein großer Mensch und meine einzige Liebe.

Hermann Bahr, der österreichische Dramatiker und Schriftsteller Peter Altenberg, der österreichische Schriftsteller
Adele Sandrock, Schauspielerin Franz Werfel, Novelist, Dramaturg, Dichter
Arthur Schnitzler, der Hauptvertreter des jungen Wiens Richard Specht, Musikkritiker, Liriker, Schriftsteller
Hugo von Hofmannsthal, Schriftsteller

Wien – wo der Geruch nach dem alten Reich sich mit dem
Duft der Gegenwart vermischt
Mateja Bremec und Maja Kenk

Die Fachexkursion „Wiener Moderne“, die vom 19. April bis 21. uns überhaupt mitteilen wollen. Die bildende Kunst ist nämlich die
April 2018 stattfand, organisierten die Masterstudierenden der älteste Ausdruckskunst mit mehr als 1000-jähriger Geschichte und
Germanistik im Rahmen des Wahlfaches mit demselben Na- wenn wir sie verstehen, wird es für uns viel einfacher sein auch die
men, unter der Leitung der Dozentin Irena Samide. An der Ex- Texte, die wir lesen, zu verstehen.“ Er machte uns auch mit drei
kursion lernten wir sowohl architektonische, künstlerisch- Hauptvertretern der Malerei bekannt, die in der Zeit der Wiener
historische, als auch literarisch-kulturelle und theatralische Moderne tätig waren, und zwar Gustav Klimt, Egon Schiele und
Aspekte Wiens kennen. Die Exkursion umfasste außerdem die Oskar Kokoschka. Wiener Moderne war damals stark durch die
Besichtigung verschiedener Ausstellungen und die Theater- künstlerische Bewegung, die so genannte Sezession, gekennzeich-
aufführung Jedermann stirbt von Ferdinand Schmalz. net, die vom Wunsch geprägt war, eine neue frische Kunst zu
schaffen.
Einige von uns fuhren zum ersten Mal nach Wien, daher war diese
Exkursion für uns ein besonderes Erlebnis. Während der ungefähr Schon bei der Ankunft an unseren Zielort und bei dem Blick auf alle
fünfstündigen Busfahrt nach Wien versuchte Frau Samide uns kurz mächtigen Gebäude war uns klar, dass wir viel mehr Tage brau-
die Geschichte Wiens näher zu bringen, von den Anfängen, die auf chen würden, um alle wichtigen Sehenswürdigkeiten, Museen und
frühe keltische und römische Siedlungen zurückgehen, die sich im Ausstellungen zu besuchen. Trotzdem ist es uns in drei Tagen ge-
Laufe der Zeit in eine mittelalterliche und barocke Stadt verwandel- lungen, uns in unseren Gedanken die Zeit um die Jahrhundertwen-
ten bis zur Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie; de heraufzubeschwören, als wir uns die bedeutendsten Werke, die
also den ganzen Entwicklungsweg bis zum Ende des Ersten Welt- damals geschaffen wurden, und die Orte, an denen die Künstler
kriegs. Ein besonderer Vortrag für das „germanophile“ Publikum – schufen, anschauten.
so wurden wir von ihm genannt – bereitete der akademische Maler
Belvedere und Leopold Museum
Janez Zalaznik vor. Er führte uns kurz durch die bildende Kunst
um die Jahrhundertwende in Wien und erklärte, warum es so wich- Das künstlerische Schaffen bündelte sich in den Vereinigungen der
tig ist, die bildende Kunst zu verstehen: „Wir leben in den Zeiten, in Wiener Sezession und der Wiener Werkstätte. Die drei herausra-
denen wir visuellen Informationen ständig unterworfen sind. Des- genden und international bekannten Maler der Wiener Moderne
wegen muss man erlernen, aus den Bildern zu ersehen, was sie sind Gustav Klimt (Jugendstil), Oskar Kokoschka und Egon
Schiele, beide Expressionisten. An der Exkursion hatten wir die Gänsehaut:
Möglichkeit, uns das Leopoldmuseum und die Galerie Belvedere
Täglich sind hunderte gestorben und dann hat man sie aus
genauer anzuschauen. den Baracken hinausgeworfen. Beim Krematorium sind
große Haufen, vielleicht tausende von Leichen gelegen, die
Die Gartenanlage des Belvedere ist ein Juwel barocker Land- dann verbrannt wurden. Wir sind in Stockbetten mit drei
Etagen gelegen. Oberhalb und unterhalb von mir sind immer
schaftsarchitektur und bildet mit den beiden Schlössern eine har- wieder Leute gestorben, die man in der Früh aus der Bara-
monische Einheit, die zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Der Park cke hinausbrachte. Nackt (Mušič, 1998)
diente im 18. Jahrhundert hauptsächlich als Bühne zum Lustwan- Schon am ersten Tag besuchten wir auch das mächtige Burgthea-
deln, Promenieren und Konversieren und sollte gleichzeitig Macht, ter, das als eine der wichtigsten Bühnen Europas und als österrei-
Weisheit und Reichtum seines Besitzers vor Augen führen. Heute chisches Nationaltheater gilt. Wir hatten die Möglichkeit, uns ein
präsentiert sich der Garten des Belvedere als eines der bedeuten- Theaterstück in diesem pompösen Theater anzusehen, und zwar
den historischen Gartenkunstwerke Europas in französischem Stil. die Theateraufführung Jedermann stirbt von Ferdinand Schmalz –
Das Leopold Museum ist ein ganz neues und großes, 2001 eröffne- das Stück über das Sterben eines reichen Mannes. Es geht eigent-
tes Kunstmuseum in Wien, das für seine außergewöhnliche lich um eine Über-, Neu- und Fortschreibung des Textes des öster-
Schiele- und Klimt-Sammlung bekannt ist. Man muss sich für einen reichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal. Als sich der
solchen Besuch wirklich Zeit nehmen, weil es viele Etagen und Vorhang öffnete, überraschte das Bühnenbild das Publikum mit
sehenswerte Ausstellungen gibt. Maja und ich sind zusammen im einem schwarzen Loch, das wahrscheinlich das Ende des mensch-
Museum spaziert und uns die Ausstellungen von Klimt, Moser, lichen Lebens darstellte, und mit der goldenen Wandfläche, die sich
Gerstl, Kokoschka (Wien um 1900), die Jubiläumsschau von Egon rund um dieses Loch erstreckte. Die Schauspieler befanden sich im
Schiele und auch eine Ausstellung mit dem Titel Poesie der Stille Loch und unter ihm, am Anfang in fleischfarbenen Körpern und am
vom slowenischen Maler Zoran Mušič angeschaut. Wir beiden wa- Ende alle, außer dem Protagonisten, in schwarze Kostüme geklei-
ren von unserer „Mušič-Empfindung“ überrascht, weil keine von uns det, was vermutlich auch viel mit dem Tod zu tun hatte. Das Publi-
viel über ihn und seine Werke wusste. Zoran Mušič (1909–2005) kum blickte also eine dreiviertel Stunde nur in den schwarzen Tun-
zählte bereits zu den arrivierten slowenischen Malern, als er Ende nel, der beleuchtet war. Es war interessant, wie er sich während
1944 für mehrere Monate ins Konzentrationslager Dachau ver- der Aufführung nach rechts und links bewegte. Man könnte sagen,
schleppt wurde. Die Zeichnungen, die dort entstanden sind, sind dass alle Zuschauer beim Anblick solch gekleideter Schauspielen-
wirklich überwältigende Zeitdokumente und uns zwei haben die den die Assoziation an griechisch-römische Menschendarstellun-
Bilder und ihre Beschreibungen tief erschüttert. Statt dem Bild will gen bekamen. In Anbetracht dessen, dass einige zum ersten Mal in
ich hier, an dieser Stelle, ein Zitat von Mušič beilegen. Ich habe es einem so großen Theater waren, erwarteten wir, dass wir sehen
im Museum gelesen und immer, wenn ich es lese, bekomme ich würden, was eine so große Bühne dem Publikum zu zeigen

Foto: Luka Horjak


Foto: Špela Smolar

vermag. Der erste, enttäuschende Eindruck über das Szenebild Achterbahnen und anderen Attraktionen aller Art. Wien kann sich
verbesserte sich aber, nachdem die Schauspieler schon im nächs- auch mit seinem Tiergarten Schönbrunn hoch rühmen, weil er als
ten Moment mit ihrem sehr expressiven Gestenspiel und ihrer der älteste Zoo der Welt gilt. Die Studierenden, die unsere Freizeit
kunstvollen Sprechkunst begonnen hatten. Dann erkannten einige, am Samstag für den Besuch des Tiergartens ausnutzten, hatten
dass man nicht eine große Szene mit vielen Elementen auf der die Möglichkeit, auf einer Fläche von 17 Hektar insgesamt mehr als
Bühne braucht, um eine hervorragende Theateraufführung zu ma- 700 zum Teil hoch bedrohte Tierarten aus allen Kontinenten ken-
chen. nenzulernen.

Es muss noch erwähnt werden, dass man Wien genießen kann, Man könnte sagen, dass Wien sowohl für Studierende als auch für
auch wenn man sich nicht für Theater, Museen, Galerien, Oper und andere Menschen eine freundliche Stadt ist, denn die Stadt bietet
die Geschichte der Monarchie begeistert. Der alte Teil der Stadt ist viele Kulturveranstaltungen, eine hochwertige Gesundheitsversor-
sehr interessant, heutzutage voll moderner Geschäfte. Die Stadt gung, mäßige Wohnkosten und sehr gute Verkehrsverbindungen.
bietet eine Vielzahl von kulinarischen Gaumenfreuden. Es gibt viele Wien kann auch auf seine Universität stolz sein, weil sie mit unge-
Cafés, Restaurants, Kioske mit Würsten auf den Straßen. Es ist für fähr 94.000 Studenten eine der größten Universitäten Europas ist.
jeden Geschmack etwas dabei. Wien ist nämlich international und Außerdem ist sie eine der ältesten in Europa, denn sie wurde im
multikulturell, so dass man zum Beispiel auf vietnamesische, chine- Jahr 1365 gegründet; heutzutage bietet sie 187 verschiedene Stu-
sische, indische und andere Restaurants stoßen kann. Wien zieren dienfächer an. Wir besuchten das Hauptgebäude der Universität
auch zahlreiche Parks, in denen sich ältere und jüngere Generatio- Wien mit dem Neorenaissancebild und ihrem Arkadenhof, wo sich
nen gerne auf die Wiese legen und entspannte Gespräche führen. auch das Institut für Germanistik befindet. Für uns war besonders
Das erlebten wir auch selbst, als wir während unserer Besichtigun- interessant die Tatsache, dass von 1854 bis 55 der slowenische
gen eine Pause im Sigmund-Freud-Park einlegten. Philologe Franc Miklošič der Rektor der Wiener Universität war.

Außerdem bietet Wien auch Unterhaltung im Wiener Prater, da Zusammenfassend gesagt, ist Wien eine Stadt, wo sich der Geruch
handelt es sich um einen großen öffentlichen Park in der Leopold- des alten Reiches mit dem Duft der Gegenwart vermischt. Die
stadt, in dem zweiten Bezirk. Der Begriff Prater wird oft für den Frei- Hauptstadt Österreichs wurde dieses Jahr schon zum neunten Mal
zeitpark Wurstelprater an der Ecke des Parks verwendet, der das in Folge zum besten Wohnort erklärt. Sie weiß ihre turbulente Ge-
Wiener Riesenrad einschließt. In diesem Park hatten wir gemeinsa- schichte und ihr facettenreiches, kulturelles Erbe zu schätzen.
mes Abendessen und dann überließen wir uns den Adrenalin-
Fahrten mit unheimlichen Geisterbahnen, turbulenten
Das Geheimnis der Sachertorte
Tina Petek
Foto: Tina Bašić
Zwei Schnitte Schokoladentorte aus der Sachermasse, bestrichen
mit Aprikosenmarmelade und glasiert mit Marmelade und Schoko-
lade. Das ist die Sachertorte. Dieses weltberühmte Dessert wurde
im 19. Jahrhundert in Wien kreiert und der Rest ist Geschichte.

Heute gehört die leckere Süßspeise zum Merkmal Wiens und die
originale Sachertorte findet man im Hotel Sacher an der Philharmo-
niker Straße. Die Meinungen über den Ursprung dieser Torte sind
aber geteilt – es gibt nämlich zwei Entstehungsgeschichten.

Erst die offizielle Version: Der Legende nach wollte Prinz Klemens
Wenzel von Metternich ein besonderes Dessert für sein Bankett,
jedoch erkrankte sein Konditormeister. So musste der 16-järige
Lehrling Franz Sacher etwas backen. Er kreierte eine einfache
Schokoladentorte und der Hof war so von dieser Speichel erregen-
der Zuckerspeise begeistert, dass der Prinz diese Nachspeise je-
und brachten den Frauen deshalb immer diese
den Abend essen wollte. Da sich aber Franz das Rezept ausdachte
süße Torte, so dass nach der Aufführung noch immer Energie und
und es nicht niederschrieb, existiert bis heute das kein Originalre-
Lust für was anderes blieb. Welche Geschichte aber jetzt die Richti-
zept. Sein ältester Sohn Eduard vervollständigte das mündlich
ge ist, werden wir wahrscheinlich nie erfahren.
überlieferte Rezept für die Torte und gründete im Jahre 1879 das
Hotel Sacher, wo man noch heute die offizielle Sachertorte Und warum ist dieser köstliche Kuchen bei Vielen so beliebt? Eini-
naschen kann. ge verkleckert der Geruch, den anderen gefällt die kuschelweiche
Die zweite Geschichte ist aber weniger bekannt; dieses leckere Textur, die dritten lieben, wie sich die Marmelade und der Kuchen
Gebäck soll für die schönen Schauspielerinnen im Theater erfun- ergänzen und einen besonderen Geschmack schaffen. Warum
den worden. Die Gerüchte sagen, dass die Bühnenkünstlerinnen aber ich nach der Sachertorte verrückt bin? Die Antwort ist ganz
nach der Performance müde waren und nicht in der Lust, mit Män- einfach: die Schokolade. Schokoladenkuchen mit einer seidigen
nern zu verkehren. Die waren davon nicht besonders begeistert Schokoladenglasur – das ist wie Himmel auf Erden.

Fortsetzung folgt...

You might also like