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PROGRAMMFORSCHUNG

Neues Lernen mithilfe des Help-


Formates Raus aus den Schulden?
EINE STUDIE ZUM KOMPETENZZUWACHS IM BEREICH
ÖKONOMISCHER BILDUNG BEI JUGENDLICHEN
Michael Schuhen

Der Artikel fasst die Ergebnisse einer den Personen die Einnahmen und Aus- aus der einleitend vorgestellten Situa-
Studie mit 137 15- bis 17-jährigen gaben, wobei in der Regel eine große tion der Familie Hege?
SchülerInnen zusammen, in der eva- »Deckungslücke« festgestellt wird. Im
luiert wurde, ob der Konsum einer Anschluss daran zeigt er Sparmöglich-
Folge Raus aus den Schulden zu ei- keiten auf, um diese zu überwinden. DAS DEUTSCHE HELP-FORMAT
nem Kompetenzzuwachs im Bereich Dabei nimmt er als Vermittler auch RAUS AUS DEN SCHULDEN
ökonomischer Bildung führt. häufig Kontakt zu den Gläubigern oder
Geldgebern auf. Am Ende der Folge Studiendesign
wird durch eine erneute Gegenüber-
stellung der neuen Einnahmen- und Mithilfe eines Experimentaldesigns
REALITY-TV UND LERNEN? Ausgabensituation der Erfolg seiner wurde untersucht, ob der Konsum
Maßnahmen überprüft. Folglich wird einer Folge Raus aus den Schulden
Familie Hege hat sich für ihr Eigenheim also nicht das Ausmaß der Schulden zu einem Kompetenzzuwachs im
hoch verschuldet. Die Einkommen deutlich gemacht, sondern der Weg Bereich ökonomischer Bildung bei
der beiden Eltern reichen nicht aus, aus den Schulden heraus. SchülerInnen führt. Ökonomische
um die monatlichen Aufwendungen Die Coaching-Formate beschränken Bildung ist aufgrund des Fehlens eines
für den Lebensunterhalt der Familie sich hierbei nicht mehr auf bloße eigenständigen Schulfaches curricular
und die Zins- und Tilgungszahlungen Ratgebungen im Sinne von Wissens- sehr heterogen in der föderalen deut-
für den aufgenommenen Kredit zu vermittlung in einem fast formalen schen Bildungsstruktur verortet. Öko-
tragen. Solche alltäglichen und häufig Setting, sondern wollen den Rat- und nomische Bildung ist meist Teil eines
vorkommenden Probleme rund um Hilfesuchenden auch praktische Hilfe sozialwissenschaftlichen Schulfachs,
die Verschuldungsproblematik besit- leisten (Bondebjerk, 1996). Die Prota- dessen Bezeichnungen von »Politik/
zen ein hohes Unterhaltungspotenzial gonistInnen der Formate sind Coaches Wirtschaft« über »Sozialwissenschaf-
(Brants, 1998) und bilden den Kern der und Troubleshooter, sie lösen nicht nur ten« oder »Gemeinschaftskunde«
Sendung Raus aus den Schulden des die Probleme der Menschen, sondern bis hin zu »Wirtschaft und Recht«
Privatsenders RTL. erfüllen auch deren nicht erfüllte variieren. Häufig sollen wesentliche
Menschen stehen aus den unter- Wünsche. In der hier betrachteten Inhaltsbereiche auch im Geschichts-
schiedlichsten Gründen nahe oder in Coaching-Sendung wird der Journalist oder Geografieunterricht aufgegriffen
der Privatinsolvenz und wissen nicht hinter die Kamera gedrängt und die werden, sodass der Grad formeller
mehr, wie sie mit dieser Situation fer- Moderatoren- und Presenterfunktion ökonomischer Bildung von Jugendli-
tigwerden sollen, oder kennen andere an den Experten delegiert. chen in Deutschland davon abhängt,
Personen, die sich in einer solchen Si- Inwieweit die populären Help-Formate in welchem Bundesland sie groß ge-
tuation befunden haben (Glynn, 2000). auch eine Ratgeberfunktion überneh- worden sind.
Diesen Personen wird in Raus aus den men, die Corner ihnen zuschreibt Ökonomische Kompetenz besteht in
Schulden mit Rat und Tat zur Seite (Corner, 2001), und inwieweit diese dieser Studie aus 2 Facetten: einem
gestanden und aus der finanziellen Ratgeberfunktion auch eingelöst wird, quantitativen und qualitativen Wis-
Notlage geholfen. ist Inhalt der durchgeführten Studie. Es senszuwachs sowie der Fähigkeit, dieses
Dabei ist das Vorgehen immer gleich: geht um die Frage: Was lernen Jugend- Wissen im Rahmen einer Fallstudie, die
Der Experte analysiert gemeinsam mit liche aus Szenarien wie beispielsweise 4 Wochen nach dem Konsum der Folge

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PROGRAMMFORSCHUNG

wird, in Verbindung zu brin-


gen und die Deckungslücke
zu berechnen. Eng verbun-
den mit dem Begriff der
­»Deckungslücke« ist der
Begriff des »Finanziellen
Haushaltslochs«, der aller-
dings auch in der Post-Er-
hebung nicht besser erklärt
werden konnte, obwohl er
visualisiert und mehrfach
thematisiert wurde. Dies
mag daran liegen, dass
die Beschreibung dieses
Begriffs nicht trennscharf
und ständig wechselnd
war. So fragt der Experte
die Eheleute nach mög-
lichen Haushaltslöchern,
also Ausgaben, die sie bei
ihrer Aufstellung verges-
bearbeitet werden musste, anzuwen- Antworten abnimmt, auch die Qualität sen oder verschwiegen haben, da der
den. Ökonomische Kompetenz zeigt der Antworten nimmt deutlich zu. Saldo auf dem Flipchart nicht mit der
sich in Letzterer unter anderem im Deutlich wurde auch, dass eine Zu- Realität übereinstimmte. Er redete
planvollen Handeln und in der Entschei- sammenführung und Visualisierung von »schwarzen Löchern«, was dazu
dungsfindung. Der Wissenszuwachs der finanziellen Lage im Film zu einer führte, dass in der Nacherhebung
wurde mithilfe einer Pre-Post-Erhebung Ergebnisverbesserung führte. So nutzt nunmehr das Wort »Verschwinden«
erfasst. In den identischen Fragebögen der Experte das Flipchart als zusam- 20-mal verwendet wird, während es im
wurden insgesamt 137 SchülerInnen menführendes Element (Abb.  1), das Pre-Test nicht auftaucht. Selbst Schüle-
aufgefordert, die wesentlichen Begriffe im Storyboard eine dramatisierende rInnen, die vorher noch mit Einnahmen
zu finanziellen Themen, die der unter- Wirkung hat, und dies nicht nur in und Ausgaben argumentiert haben,
suchten Folge entnommen wurden, dieser Folge. An ihm visualisiert er die verwenden für ihre Beschreibung im
zu erklären. Die SchülerInnen waren Einnahmen- und Ausgabenseite der Fa- Post-Test nun das Wort »Vergessen«.
zwischen 15 und 17  Jahren alt und milie und sammelt Daten und Fakten, Hier wird deutlich, dass Begriffe durch
besuchten in Nordrhein-Westfalen die auf die er immer wieder zurückgreift, solche »Ratgebersendungen« auch
Schultypen Gymnasium, Gesamtschu- um seine vorgeschlagenen Maßnahmen »umgedeutet« werden können.
le und Realschule. Die Untersuchung zu rechtfertigen. Das Flipchart hat Werden Bezeichnungen hingegen
wurde jeweils in einer Klasse der Schul- die aus dem Unterrichtsgeschehen nur selten und ohne Visualisierung
formen durchgeführt und ersetzte dort bekannte Funktion eines Protokolls oder besondere Betonung innerhalb
eine Unterrichtsstunde. oder Tafelbildes. Es dokumentiert die des Storyboards verwendet, ist ein
»Wirklichkeit«, produziert also streng- Wissenszuwachs nicht oder nur kaum
Welche kurzfristigen Effekte genommen nicht neue Inhalte, sondern vorhanden. So wurde der Begriff des
reproduziert, bildet ab und spiegelt »Offenbarungseids« eingeführt, der
konnten nachgewiesen werden?
wider: eine für Lernvorgänge wichtige in Deutschland durch die eidesstatt-
Die Ergebnisse zeigen, dass die Schü- Funktion, die sich auch in den Lern­ liche Versicherung abgelöst wurde.
lerInnen viele Bezeichnungen, die im ergebnissen zeigte. Konnten im Pre-Test Zwar verknüpften viele durch solche
Film verwendet wurden, nach dem nur wenige SchülerInnen etwas mit der Rat­gebersendungen den Begriff im
Konsum des Films besser beschreiben Bezeichnung »Deckungslücke« anfan- Post-Test mit einer Offenlegung von
können als vorher. Taucht eine Be- gen, so waren bei der Post-Befragung »Finanzen« oder dem »Gericht«,
zeichnung mehrfach im Film auf, wie deutlich mehr SchülerInnen in der Lage, jedoch verwiesen nur sehr wenige
dies beim Begriff »Tilgung« der Fall die auf dem Flipchart notierten Einnah- SchülerInnen darauf, dass damit ein
war, so führt das nicht nur dazu, dass men und Ausgaben mit dem Begriff, der Eingeständnis einhergeht, seine Schul-
beim Post-Test die Anzahl der Nicht- nur einmal innerhalb der Folge genannt den nicht mehr zahlen zu können.

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War das Wissen zu einem Begriff be- nen sind, sondern auch ökonomische Definitionen »überschreiben«. Dazu
reits im Vorfeld sehr hoch, so konnten Kompetenzen im Sinne von »Situatio- tragen einprägsame Kontexte bei, in
keine signifikanten Verbesserungen nen analysieren«, »Lösungsstrategien denen suggeriert werden kann, dass
erzielt werden. Die SchülerInnen anwenden« und »Entscheidungsfin- der in diesem Kontext verwendete Be-
waren nicht in der Lage, ihrer Defini- dung« durch das Konsumieren einer griff auch richtig eingesetzt wird. So hat
tion weitere Merkmale hinzuzufügen Folge Raus aus den Schulden erworben beispielsweise die unterhaltende Dar-
beziehungsweise falsche Bestandteile, werden, wurde den SchülerInnen nach stellung der Vergesslichkeit verknüpft
die sie im Pre-Test genannt hatten, 4 Wochen eine Fallstudie zur Lösung mit der gegenseitigen Schuldzuweisung
zu identifizieren. Vielmehr war beim vorgelegt. Hierbei handelt es sich um der Ehepartner dazu geführt, dass der
Begriff »Kredit«, der insgesamt 4-mal eine bewusst herausgesuchte weitere Begriff »Finanzielles Haushaltsloch«
im Film genannt wurde, zu beobachten, Folge aus der gleichen Staffel der Serie mit Vergesslichkeit beschrieben wurde.
dass die Antworten im Post-Test eher Raus aus den Schulden, deren ähnlicher Limitiert werden die Aussagen da-
verkürzt und somit schlechter waren. Inhalt zu einer Fallstudie umgearbeitet durch, dass die Studie während des
Dieser Trendaussage widerspricht nur und mit entsprechenden Aufgaben Schulunterrichts durchgeführt wurde.
die Beobachtung beim Begriff »Gläu- versehen werden konnte. Auch hier Hier entstehen »Priming-Effekte«,
biger«. Diesen konnten vor allem die standen private Schulden, die durch die denn alles, was im Unterricht dargebo-
SchülerInnen besser beschreiben, die Renovierung eines Hauses entstanden ten wird, ist lernbedeutsam. Inwieweit
»Gläubiger« im Pre-Test noch mit »be- waren, im Zentrum. Die SchülerInnen die gemessenen Lerneffekte in der
glaubigen« erklärt hatten. Der Film hat wurden aufgefordert, Einnahmen und Freizeit reproduziert werden können,
ihnen gezeigt, dass ein Gläubiger »der- Ausgaben zu erfassen und eine mög- bleibt deshalb offen.
jenige [ist], dem man Geld schuldet«. liche Deckungslücke – auch nach der
Im Film wurde ein Gläubiger (eine Bank) zusätzlichen Arbeitslosigkeit eines der
sogar von den Protagonisten besucht. Protagonisten – zu berechnen.
Die Bank nahm die Rolle eines »net- Hierbei zeigte sich jedoch, dass die LITERATUR
ten« Gläubigers ein, da sie bereit war, SchülerInnen durch den Konsum einer
die Abzahlung der Schulden zeitlich zu Folge zwar gewisse Begrifflichkeiten Bondebjerk, Ib (1996). Public Discourse/Private Fas-
cination: Hybridization In »True-Life-Story« Genres.
verschieben. Ein Schüler wurde jedoch lernen, sie aber nicht in der Lage sind, Media, Culture and Society, 18, 27-45.
durch diese Darstellung des Begriffs die Problemlösestrategien des Coaches Brants, Kees (1998). Who’s Afraid of Infotainment?
Gläubiger verwirrt. Im Pre-Test antwor- auf einen neuen Fall anzuwenden und European Journal of Communication, 13(3), 315-335.

tet er noch richtig: »Ein Gläubiger leiht Hilfestellungen für die Protagonisten Corner, John (1995). Television Form and Public
Address. London: Edward Arnold.
jemand anderem Geld und bekommt es der Fallstudie zu erarbeiten.
Corner, John (2001). Documentary Realism. In Glen
später in Raten wieder.« Nach dem Film Creeber (Hrsg.), The Television Genre Book (S. 126-129).
lehnt er seine Definition stark an diesen London. British Film Institute.

an: »Ein Gläubiger ist ein Angestellter FAZIT Glynn, Kevin (2000). Tabloid Culture: Trash Taste, Pop-
ular Power, and the Transformation of American Tele-
der Bank, der der Familie den Kredit vision. Durham and London: Duke University Press.
gibt.« Generell haben im Post-Test ei- Die von Hill eingebrachte »idea of lear- Hill, Annette (2005). Reality TV. Audience and popular
factual television. New York: Routledge.
nige SchülerInnen (10 % der Befragten) ning« in Reality-TV-Formaten kann in
Renner, Karl (2008). Die Ausdifferenzierung der Ratge-
den Begriff mithilfe von »Bank« erklärt. Teilen bestätigt werden. Deklarative ber- und Lebenshilfeformate im Deutschen Fernsehen.
Im Pre-Test war dies nicht der Fall. Der Wissensbestandteile werden vermittelt Online verfügbar unter: http://www.journalistik.uni-
mainz.de/Dateien/20090108-23162307-Abstract_Rat-
Film hat wahrscheinlich durch Perso- und es entstehen Wissenszuwächse bei geber_im_Fernsehen.doc.pdf [22.05.2017]
nalisierung (Bank) und Visualisierung den SchülerInnen. Es zeigt sich, dass das
(der Gang ins Bankgebäude) zu einem Setting einen großen Einfluss auf den
Wissenszuwachs geführt. Bedenklich Lernerfolg hat. Dramatische Umrah-
ist jedoch, wenn richtige Antworten im mungen führen zu einer Aktivierung DER AUTOR
Pre-Test durch den Film zu verkürzten der SchülerInnen. Eine Visualisierung
Darstellungen im Post-Test (»Gläubi- und Zusammenführung der Inhalte hat
ger = Bank«) führen. sich als lernförderlich erwiesen. Dr. Michael Schu-
Allerdings zeigt die Studie auch, dass hen ist Geschäfts-
führer des Zent-
Welche längerfristigen Effekte sich SchülerInnen Fachbegriffe, wenn
rums für ökono-
sie verkürzt, in einem bestimmten
konnten nachgewiesen werden? mische Bildung
Kontext oder schlichtweg falsch inner- (ZöBiS) an der
Um zu überprüfen, ob nicht nur kurz- halb der Sendung verwendet werden, Universität Siegen.
fristige Wissenszuwächse zu verzeich- einprägen und möglicherweise richtige

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