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Der Philosoph im Auftrag Apollons

Von Stilian Ariston vom 26.03.«2013»

Zur Einführung
Im heutigen christlichen Griechenland, das sich gern auf die Antike beruft und als
«Weiterentwicklung» des Hellenentums sieht (aber auch in einigen säkular-
christlichen Gesellschaften), kursieren merkwürdige Behauptungen, die zwar schon
früher verbreitet, jetzt aber eine Renaissance erleben und vehement Gültigkeit
beanspruchen. So soll zum Beispiel das Oströmische Reich (Byzanz) die Fortsetzung
der hellenischen Kultur gewesen sein und die hellenische Philosophie das
Christentum nicht nur eingeleitet haben, nein, sie wurde durch die Christenheit erst
vollkommen gemacht. So ist es nur konsequent, dass die griechischen Philosophen
als Monotheisten, Verehrer des «wahren Gottes» ausgegeben werden. So auch
Sokrates, der aus genau diesem Grund von den «Götzendienern» zum Tode verurteilt
wurde. Nicht genug, denn die Philosophen waren nicht nur Monotheisten, Propheten
waren sie auch, haben sie doch, so die neobyzantinischen Apologeten, Jesu Ankunft
prophezeit – als hätte das einen Heraklitos, Platon oder Aristoteles interessiert.
Neuerdings wurde sogar Konfuzius in den Kreis dieser «Propheten» aufgenommen;
man ist diesbezüglich nicht allzu wählerisch, schließlich können sich die Philosophen
gegen eine derartige Vereinnahmung ihrer Person nicht zur Wehr setzen.
Der Schwäche der eigenen «Argumente» allzu deutlich bewusst, versucht man, weil
Folter und Verfolgung nicht mehr zur Option stehen, das Christentum mit solchen
und anderen Betrügereien irgendwie legitimiert zu bekommen, sogar als den
Sukzessor der griechischen Kultur erscheinen zu lassen. Das gilt insbesondere für
jenes Steinzeit-Christentum, das nicht von der Französischen Revolution, der
Aufklärung und dem neuzeitlichen Freiheitsbewusstsein weichgespült wurde und
deshalb weiterhin offen intolerant sein kann. In Neugriechenland ist es für die
orthodoxen Fundamentalisten und Nationalisten von äußerster Bedeutung, nicht als
etwas der hellenischen Kultur Fremdes, sondern als dem Hellenentum zugehörig, als
Bewahrer und echte Erben der Antike Akzeptanz zu finden, weshalb man unter
anderem versucht, aus dem Christentum eine «hellenische Religion», zeitwese sogar
aus Jesus einen Griechen zu machen, eine ununterbrochene kulturelle Kontinuität von
der Antike bis zur Neuzeit zu konstruieren und damit das Dilemma der
neugriechischen Identität bzw. die Nähte zu kaschieren, die sie zusammenhalten. Auf
der einen Seite möchte die Theokratie in Griechenland den Menschen weismachen,
dass das Christentum nichts weiter tat, als in die Fußstapfen der antiken Philosophen
zu treten, so dass die Lüge von der «Fortsetzung» der hellenischen Kultur in Byzanz
und Christentum als gegeben hingenommen wird und auf der anderen Seite dient eine
solche Behauptung der eigenen Profilierung – denn wenn Sokrates und Co.
Monotheisten waren, diese großen Denker, kann der Monotheismus gar keine so
schlechte Sache sein.
Im Westen will man etwa, dass «uns» die antiken Philosophen nahestehen, eine
geistige Nähe zwischen ihnen und «uns» ausmachen. Eine kulturelle Verwandtschaft,
die 1500 Jahre Finsternis überdauert und den Grundstein für «unsere» Lebensart
gelegt haben soll. Und was haben «wir» nicht alles von den Griechen übernommen?
Ihre Demokratie, ihre Ästhetik und Philosophie, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Theoretisch stimmt das auch. Aber in der Praxis gibt der Westen den
Parlamentarismus, seine eigene Staatsordnung, als Demokratie aus und will seine
Philosophie von den Griechen ableiten, obwohl seine philosophischen Systeme in
einen christlichen Überbau eingebettet sind. Eine klassische Rückprojektion.
Abendland und Romiosini sehen in der Antike ihre jeweils eigene Vergangenheit, ihre
Monotheisten und Atheisten finden in den griechischen und römischen Philosophen
ihre Vorläufer, den Monotheismus bei Platon, den Atheismus bei Epikuros. Die
Antike ist ihnen ein Spiegel, das ihr eigenes Bild widerspiegelt. Dabei waren die
Alten weder Polytheisten noch Monotheisten im heutigen Sinne und haben sich auch
nicht als solche verstanden. Diese beiden Denkkategorien sind neueren Datums. Aber
auch der antike Atheismus war von einer andren Art als der heutige, wobei das
Adverb «heute» bzw. «morgen» in diesem Kontext etwas trügerisch ist, denn der
eigentliche Unterschied zwischen den antiken und heutigen Atheisten ist die Kultur,
das Bezugssystem. Bei den einen war das die griechische und römische Kultur, bei
den anderen ist es die westlich-christliche und rhomäische Kultur. Es kommt nicht
von ungefähr, dass es sowohl in Westeuropa als auch in Griechenland eine Vielzahl
von Menschen gibt, die im Glauben zwar Atheisten, aber im Denken weiterhin
Christen sind, weil das Fundament ihrer Kulturen die christliche Religion ist. Das ist
nicht unbedingt etwas Schlechtes, gehört aber mit auf den Tisch, denn es gehört zur
Wirklichkeit der westeuropäischen Staaten.

Die Frage nach dem Polytheismus oder Monotheismus überlagert die kulturelle
Frage, die meiner Ansicht nach an erster Stelle stehen müsste. Zuerst steht also gar
nicht die Frage nach der religiösen Gesinnung des Sokrates, sondern nach seiner
kulturellen Zugehörigkeit. Der Rest erledigt sich beinahe von selbst, da sich bereits
an dieser Frage die Seriösität oder Absurdität der These vom Monotheismus im
antiken Griechenland messen lässt. Diese These, falls es denn eine ist, transportiert
eine unredliche Absicht und stellt den Betrugsversuch diverser kirchlicher und
parakirchlicher Kreise dar, den Monotheismus und damit das Christentum zu
substanziieren, in dem viele die religionsgewordene logische Konsequenz aus der
griechischen Philosophie erblicken wollen. Angeblich überwand der Monotheismus
den «primitiven» Polytheismus, weil er fortschrittlicher gewesen sei. Und das obwohl
wir die Isonomie, Isagorie, Demokratie und den politischen Menschen der
polytheistischen Welt zu verdanken haben. Hier wird nicht nur das Eigene auf die
Antike projiziert, Vorläufer des eigenen Denkschemas bei den antiken Philosophen
«gesucht und gefunden», sondern man geht auch von einem linearen Zeitablauf aus,
der mit dem Animismus und Polytheismus anfing und zum Monotheismus führte,
geradezu führen musste.

Doch wie versuchen die Apologeten und Theologen diese «These», ihren
Monotheismus im antiken Griechenland zu untermauern? Unter anderem mit dem
griechischen Singularwort «ΘΕΟΣ» (transk.: theós), zu Deutsch: Gott, ein Begriff,
das schon bei Homer belegt ist und auch bei Platon auftaucht. Damit soll suggeriert
werden, dass ein spezifischer, einziger Gott gemeint war, wobei immer noch die
Frage offen bleibt, warum dieser «Gott» der dreifaltige Jahve sein soll, zumal dieser
eine spätere Erfindung ist. Wenn heutzutage von Gott gesprochen wird, ist meist ein
einziger persönlicher Gott gemeint, wie ihn das Christentum geschaffen hat, weil
«Gott» mit dem christlichen beziehungsweise monotheistischen Schöpfergott
gleichgesetzt, von einem Gattungsbegriff zu einem Begriff für den Gott der Bibel
wurde. «Gott» ist im Westen und in der Romiosini eben der dreifaltige Jahve, zumal
es nach monotheistischer Auffassung sowieso gar keinen anderen gibt, ergo kann nur
dieser eine gemeint sein. In Griechenland versteht man unter «Gott» ausschließlich
den christlichen. Und wenn es heute so ist, sei es auch damals so gewesen, hat «Gott»
bzw. «Theos» in Antike und Neuzeit die gleiche Bedeutung. So will man es uns
zumindest weismachen.
Tatsächlich stammt das Wort «Theos» von den antiken Griechen ab und die
verstanden darunter etwas völlig anderes als das, was Monotheisten und säkulare
Anhänger des christlichen Abendlandes (ob Atheisten, Agnostiker und andere)
darunter verstehen und damit assoziieren. Der Singular «Theos» ist ein
Gattungsbegriff («der Mensch», «das Tier», «das Meer» etc.) und bedeutet «God, the
Deity, in general sense, both sg. and pl.»[1]. Ob «Gott» (theós) oder «die Götter»
(theoí) – für den Hellenen besteht da kein Unterschied, außer der Singular wird
gebraucht, um einen zuvor namentlich erwähnten Gott zu bezeichnen, wie es bei
Platons sokratischer Apologie der Fall ist. Am Anfang seiner Rede beruft sich
Sokrates auf den «Gott in Delphi», also Apollon, («ΘΕΟΝ ΤΟΝ ΕΝ ΔΕΛΦΟΙΣ»,
20e), der dann nur noch als «der Gott» apostrophiert wird («Ο ΘΕΟΣ»), doch später
mehr dazu.

Ansonsten werden mit dem «kollektiven Begriff ‹der Gott›, der daímon, oder das
Abstraktum, ‹die Gottheit›, to theíon» die Götter insgesamt gemeint oder eben Zeus,
der «Inbegriff des Gottes, der alle Götter in sich vereinigt» [2]. So wird zum Beispiel
in der Apologie des Sokrates das altgriechische «ΔΙΑ» («Zeus») im Deutschen mit
«Gott» übersetzt (17b)[3], weil Zeus bei den Hellenen eben «Gott» ist. Außerdem
stand Zeus «bei den Philosophen ... für Gott» (P. Veyne, S. 52), nicht Jahve. Es hat
sowieso aussichtslos, immer und überall bei den antiken Philosophen nach einem
Monotheismus Ausschau zu halten, denn «der Monotheismus ist kein Grundelement
der Religionsgeschichte.»[4] Ob sie nun bei Platon, bei den Stoikern, bei Plotin oder
bei Heraklitos einen Monotheismus gefunden zu haben meinen, immer ist es dieselbe
Schelte, die sie bekommen; sie sehnen sich nach einer Vergangenheit, die ihren
Wünschen entspricht. Doch «Platon, die Stoiker und Plotin sind Polytheisten»
gewesen[5] und Heraklitos, bei dem im altgriechischen Original vom «Daímon»[6]
oder «theíon»[7] die Rede ist, sprach von Zeus als «das Weise»[8]. Platon und
Heraklitos sind keine Ausnahmen. Denn das Gleiche gilt selbstverständlich auch für
Xenophanes, der plötzlich auch ein Vorkämpfer des Monotheismus gewesen sein soll,
obwohl er Hellene war. Wenn er von «einem Gott» ausgeht, «dem grössten unter
Göttern und Menschen», kann man ihm das vielleicht als Henotheismus auslegen,
aber doch nicht als Monotheismus, sonst hätte er die anderen Götter gar nicht zu
erwähnen brauchen. Aber abgesehen davon ist mit dem einen Gott, der größer als all
die anderen ist, nicht der christliche gemeint, sondern Zeus, der Gott der Hellenen [9].
Aber von solchen «Fußnoten» lassen sich die Apologeten nicht aufhalten.

Das alles macht deutlich, dass sie die eingeborene hellenische Religion nicht
verstanden haben. Ihr eigentliche Besonderheit ist nicht ihr «Polytheismus», der
sowieso falsch aufgefasst wird, sondern ihr Kosmotheismus[10], der den Gedanken
«Einer oder Viele» nicht kennt, sondern beides enthält: Das Eine (to hen) und die
Vielen (henádes)[11], die in einer übergeordneten Einheit mit diesem
«unpersönlichen, selbsttragenden» Einen bestehen[12], aus dem sie herausgetreten
sind[13]. Mit dem Christengott hat dieses Eine wenig am Hut. Das Eine hat das
Universum nicht erschaffen, auch die Henádes/Henáden (die Götter) nicht; diese
haben lediglich den Kosmos geordnet, weshalb die Pelasger und Hellenen sie
«Theoi» («Götter») nannten[14], also «Ordner», und das Weltganze «Kosmos»
(«Ordnung»[15], «Schmuck»). Die Christen glauben aber, dass ihr Gott genau das
getan, die Welt erschaffen haben soll. Doch weder der platonische Demiourgos noch
der heraklitische Logos sind des Kosmos Schöpfer, was zumindest bei Heraklitos sehr
deutlich wird (DK 22 B30). Das Universum ist bei den Hellenen bekanntlich keine
Schöpfung. Hier ist nicht die Theologie, die Götterlehre gefragt, sondern die
Ontologie.

Aber das lässt viele Monotheisten, sofern sie das überhaupt gehört haben, einfach kalt
oder sie verdrängen diese störenden Fakten einfach. Neofaschisten, nationalistische
und fundamentalistische Christen in Griechenland, aber auch anderswo, verdrängen
gerne die Tatsache, dass ihr Gott nicht irgendein namenloser, unspezifischer Gott
ohne eignen «mythologischen Hintergrund» ist, sondern Jahve, der Gott des Tanach
und des Neuen Testaments, der später freilich zum dreifaltigen und einzig wahren
Gott ummodelliert wurde, der er heute ist. Dieser Gott ist kein Unbekannter, sondern
den alten Ethnien bestens bekannt, sein Lebenslauf liest sich im Tanach wie eine
Kriminalakte. Die Fundamentalisten bekräftigen, er sei nicht der Gott der Christen
und des Christentums, sondern der einzig wahre Gott und Schöpfer aller Menschen.
Und die anderen Gottheiten? Nun, diese seien Mythen, Erfindungen der Ethnien, im
schlimmsten Falle «Dämonen», im harmlosesten Falle «Personifikationen» und
Symbole für natürliche Vorgänge. Mal abgesehen davon, dass die ethnischen Götter
keine Personifikationen[16], sondern unpersönliche[17]Dynámeis[18] («Mächte») sind,
war auch der jüdisch-christliche Gott lange Zeit kein Einzelgänger, teilte sich mit
seiner Gattin Aschera hier und dort sogar einen gemeinsamen Altar.
Aber in Neugriechenland geht die Realitätsverleugnung sogar soweit, den
platonischen Demiurg zum Gott der Christen zu erklären, damit die Behauptung
folgen kann, die antiken Philosophen glaubten an den gleichen Gott wie die Christen,
im Gegensatz zu der unzivilisierten, rückständigen Mehrheit, den Menschen aus der
Provinz, die dem «Götzenkult» aufgrund ihrer Unbildung treu blieben. Die
Philosophen hätten die Mythen abgelehnt (die Mythen werden also mit der
eigentlichen «Religion» identifiziert) und Jesu Kommen angekündigt. Aber nicht nur
sie, auch der Tragödiendichter Aischylos wird zum Propheten, habe Jesu Ankunft
vorausgesehen, seine vermeintliche Prophezeiung im «Gefesselten Prometheus»
festgehalten. Deshalb wurden die Intellektuellen im antiken Griechenland angeblich
von den «Polytheisten» verfolgt. Wir haben es hier quasi mit «christlichen Märytern»
in vorchristlicher Zeit zu tun, mit Christen vor Christus, Anhängern des dreifaltigen
Jahve vor der Erfindung des dreifaltigen Jahve. Die hellenische Ethnie wird also in
zwei Lager geteilt, in Polytheisten und Monotheisten, «Götzendiener» und «Diener
des wahren Gottes». Das sind offizielle Aussagen und Behauptungen christlich-
orthodoxer Apologeten und Würdenträger der orthodoxen Kirche in Griechenland.
Zwischen dem Nous des Anaximandros, dem Logos des Heraklitos, dem Demiurg
Platons und dem dreifaltigen Jahve wird nicht unterschieden. Sie stellen die
Göttlichkeit der Olympier in Abrede, vergessen aber, dass das hellenische Theos von
der hellenischen Ethnie verwendet wurde, um eben diese Mächte zu bezeichnen.
Wenn wir uns vor Augen führen, dass es die Kirche und die oströmischen Kaiser
waren, die die Zerstörung, Schließung und Plünderung der Tempel veranlassten und
organisierten, die väterliche Tradition verfolgten, die traditionellen Kulte
kriminalisierten und letztendlich ausrotteten, kann diese ahistorische Vorgehensweise
der neuen Apologeten nur als ruchlos bezeichnet werden. Sie reklamieren die
Philosophen des Hellenentums für sich, also die Kultur jener Philosophen, die von
ihrer eigenen pulverisiert wurde, trennen sie vom Rest ihrer kulturellen Identität
(Weltanschauung und Religion) und stellen sie in den Dienst des Monotheismus.

Dabei waren es nicht die ethnischen Hellenen, sondern die Kirche selbst, die über
ihre «Bibliothek griechischer Kirchenväter und kirchlicher Schriftsteller» (VEPES)
verlauten ließ, dass der Gott des Christentums – und somit all seiner Sekten – Jahve
ist, nämlich der Gott von «Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Samuel und David»
(«τω Αδάμ, τω Νώε, τω Αβραάμ, τω Ισαάκ, τω Ιακώβ, Σαμουήλ τε και Δαυίδ»). Aber
ihr Antijudaismus macht es Nationalisten und orthodoxen Extremisten unmöglich,
diese Fakten gelten zu lassen. Wie können sie schließlich Hellenen sein, wenn sie auf
der einen Seite den hellenischen Göttern die Existenz absprechen und auf der anderen
Seite Jahve, den Gott der Juden, als «einzig wahren Gott» anerkennen?

Sokrates und die Asebie

Es wird also behauptet, Sokrates wurde von den «Götzendienern» umgebracht, weil
er nicht an die Stadtgötter «glaubte» und andere Götter einführte. Mal abgesehen
davon, dass es zu keiner Zeit «Götzendiener», «Heiden» oder «Paganisten» gegeben
hat, sondern nur Ethnien wie die Hellenen, zu denen Sokrates gehörte, und die alle
Ethniker im etymologischen Sinn des Wortes waren, d.h. Träger einer ethnisch-
kulturellen Identität, zu der auch ihre väterliche «Religion» gehörte, stimmt diese
Behauptung nicht.
In Asebie-Prozessen war die innere Haltung des Angeklagten zu den Göttern nicht
von Interesse, denn die Hellenen kannten den «Glauben» nicht und sie «‹glaubten›
nicht im christlichen Sinne an die Götter […].»[19] Die griechische Religion ist
schließlich eine «Ritualreligion». Mit «griechische Religion» wird keine
Glaubensgemeinschaft mit irgendwelchen Dogmen oder Glaubensbekenntnissen
gemeint, sondern «die religiösen Ansichten und Praktiken der antiken Hellenen».
Und diese «griechische Religion ist nicht identisch mit der griechischen Mythologie,
welche von traditionellen Erzählungen handelt, jedoch sind beide eng miteinander
verknüpft. Merkwürdigerweise hatten die Griechen, für ein so religiös gesinntes Volk,
kein Wort für die Religion selbst; die naheliegendsten Begriffe waren eusebeia
(‹Pietät›) und threskeia (‹Kult›)» (Encyclopædia Britannica: Greek religion, in:
Encyclopædia Britannica Online (zuletzt abgerufen am 24. Januar «2013»).

Nicht um den «Glauben» dreht sich also die Debatte, sondern um den Kult und die
damit verbundene staatliche Ordnung. Manfred Fuhrmann erklärt: «In dem
Hauptvorwurf, der eigentlichen Asebie-Anklage, verwendet das griechische Original
für ‹anerkennen› das Wort νομίζειν ‹in Brauch haben, an etwas festhalten›. Man hat
diesen Ausdruck oft mißverstanden und durch ‹glauben› wiedergegeben – Sokrates
verstoße gegen das Recht, indem er nicht an die staatlichen Götter glaube.» [20]
Sokrates, sagen die Monotheisten, soll aber genau das getan und nebenbei an einen
anderen Gott «geglaubt» haben. Ich werde mich erst mit den Anklagegründen
beschäftigen, später komme ich noch auf Sokrates’ religiöse Gesinnung zu sprechen,
die nur polytheistisch genannt werden kann (auch wenn der «Polytheismus» ein
Begriff ist, den die Hellenen nicht verwendeten, doch ist er in dem Maße richtig, wie
er ein religiöses System bezeichnet, das viele göttliche Wesen anerkennt).
(Sokrates selbst verfasste bekanntlich keine Bücher und hinterließ logischerweise
auch keine Schriftstücke. Alles was wir über Sokrates wissen, das verdanken wir
seinen Schülern, hauptsächlich Platon und Xenophon, die auch seine Apologie
aufgezeichnet haben und darüber hinaus Gespräche, die Sokrates geführt hat, aber
auch von Platon erfundene Dialoge, in denen er einen fiktiven Sokrates als sein
Sprachrohr und seine ebenfalls fiktiven Gesprächspartner zu Wort kommen lässt, um
diverse Themen philosophisch zu behandeln. Aus den Schriften besagter Schüler geht
ein völlig anderes Bild des Sokrates hervor, als das von den Fundamentalisten
kreierte. In ihren Schriften verteidigten sie ihren Lehrer gegen die Anklage der
Asebie, der sie Sokrates' Pietät gegenüber stellten. Und ich meine, Sokrates Schüler
wussten mehr über ihn zu berichten, als die Jesus-Anhänger aller Couleur
zusammen, ob Orthodoxe, Katholiken, Esoteriker, Okkultisten usw.)
Sokrates im Auftrag Apollons

Im Jahre 399 v.u.Z. musste sich Sokrates im hohen Alter vor Gericht verantworten. Er
wurde wegen Asebie («Frevel») angeklagt. Seine Ankläger waren die Athener
Anytos, Meletos und Lykon. In der Hauptverhandlung relevanten Anklage gegen
Sokrates taucht der Singular «Theos» gar nicht auf. Dort steht lediglich: «Sokrates
handelt rechtswidrig, indem er die Götter, die der Staat anerkennt, nicht anerkennt
und andere, neuartige göttliche (dämonische) Wesen einzuführen sucht; er handelt
außerdem rechtswidrig, indem er die jungen Leute verdirbt. Strafantrag: der Tod.»[21]

Weit und breit keine Spur vom «einen Gott», «Jahve» oder «Monotheismus» – und
solange wir davon ausgehen dürfen, dass der monotheistische Wüstengott nicht unter
einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet, müssen wir ausschließen, dass es sich
bei den «neuartigen göttlichen Wesen» um Jahve handeln könnte. Dieser Teil bezog
sich auf das «Daimonion, die göttliche innere Stimme», von der Sokrates gesprochen
hat. («Daimonion» bedeutet «göttliche Macht, das Göttliche»[22].) Die Anklage
richtet sich nicht «auf eine bestimmte religiöse Überzeugung», «galt vielmehr» dem
«Anerkennen der offiziellen Kultordnung»[23]. Im Falle Sokrates war sie nicht einmal
religiös motiviert, sondern «schwerlich politisch» [24]. Hellas war religiös tolerant;
niemanden interessierte, welchen Göttern sein Nachbar opferte. Anytos und seine
Clique versuchten sich Sokrates vom Hals zu schaffen und bedienten sich dabei eben
dieser fadenscheinigen Beschuldigung, die Sokrates von sich wies, indem er die
Behauptung seiner Ankläger ad absurdum führte. Darüber hinaus machte er vor
Gericht auf die Widersprüchlichkeit der Anklage aufmerksam. Wie könne er, so
Sokrates, die Götter leugnen, wenn er daimonische Wesen erkennt, die doch, das
wisse jeder, von den Göttern abstammen? «Kann man an Pferde nicht glauben, wohl
aber an Dinge von Pferden?»[25] (altgriech.: ΕΣΘ’ ΟΣΤΙΣ ΙΠΠΟΥΣ ΜΕΝ ΟΥ
ΝΟΜΙΖΕΙ, ΙΠΠΙΚΑ ΔΕ ΠΡΑΓΜΑΤΑ, Plat., Apologie, 27b) fragte er Meletos, einen
seiner Ankläger. Das wäre unsinnig, «wie wenn jemand glaubte, daß es zwar Kinder
von Pferden und Eseln gibt, die Maulesel, nicht aber Pferde und Esel» (Fuhrmann,
Platon: Apologie, S. 41). Sokrates, so wollten es seine Ankläger, sollte als eine Gefahr
für das Gemeinwohl betrachtet werden, um ihn in den Augen der Athener suspekt und
anrüchig erscheinen zu lassen. Doch wieso hofften sie, ihn gerade mit einer solchen
Anklage bei den Athenern unbeliebt und verhasst zu machen?

Die Verurteilung von Sokrates fand wenige Jahre nach dem Peloponnesischen Krieg
statt, der bekanntermaßen mit Athens Niederlage endete. Naturphilosophie und
Sophistik zogen in das «altmodisch gebliebene» Athen ein [26], und es war vor allem
die Sophistik, die die Tradition herausforderte und die damalige Kultur zum Objekt
ihrer Kritik machte. Die Debattenkultur erhielt eine neue Qualität. Feste Strukturen
waren in Auflösung begriffen und es bahnten sich neue Entwicklungen an, denen so
manch ein Athener ratlos gegenüber stand. Und das alles in einer Zeit, in der eine
große Verunsicherung um sich griff, die traditionelle Ordnung bereits bröckelte und
die Athener in der Tradition und in eben dieser traditionellen Ordnung Halt suchten.
Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts verschärften sich «die inneren Spannungen»
und es kam zum Konflikt zwischen «Alt und Neu». «Ein Hauptventil» dieser
«Spannungen» waren «offenbar die Asebie-Prozesse», von «konservativen Kreisen»
gegen neue Kräfte geführt[27]. In seinem Werk «Wolken» machte Aristophanes
«Sokrates zum Ausbund aller sophistischen Künste»[28], wodurch Sokrates mit der
«Auflösung» des Status quo und mit den Sophisten in Zusammenhang gebracht
wurde.
Sokrates, von vielen jungen Leuten umgeben, diskutierte mit der Jugend und
beeinflusste sie wohl durch seine Aktivitäten dahingehend, die vermeintlich
«Weisen» und «Wissenden» der damaligen Gesellschaft genauer unter die Lupe zu
nehmen und ihre Autorität auf Berechtigung hin zu überprüfen, wodurch er sich bei
vielen angesehenen Athenern verhasst machte. Als Sokrates sie ihre Unwissenheit
erkennen ließ, Männer, denen ein guter Ruf vorauseilte, erbosten sie ob des Zweifels
an ihrer (eingebildeten) Qualifikation. Auf ihre Beschränktheit aufmerksam gemacht,
fingen sie an, Sokrates anzufeinden. Ihr Hass wurde nicht kleiner, als die jungen
Menschen, die mit Sokrates verkehrten, anfingen, es ihm gleich zu tun. Sokrates
«verdarb» die Jugend, indem er ihr die Augen öffnete. Er wurde unbequem. Man
versuchte Sokrates mittels einer Verschwörung loszuwerden und bediente sich dabei
der Religion, hoffend, dass ihm das bestehende athenische Klima zum Verhängnis
werde. Dass die Anklage eine Farce war, beweist auch die Tatsache, dass Sokrates
öffentlich den Göttern Anerkennung zollte und ihnen Opfer darbrachte [29]. Xenophon
sagt dazu: «Jedermann konnte doch sehen, daß er sowohl oft zu Hause als auch auf
den gemeinsamen Altären der Stadt opferte; es war zudem wohlbekannt, daß er sich
der Weissagekunst bediente.»[30]. Aber der Zustand Athens nach der erlittenen
Niederlage im Krieg war nicht dazu angetan, um solchen Tatsachen Rechnung zu
tragen. Der «schlechte» Ruf des Sokrates lag einerseits in der gegen ihn geführten
Kampagne begründet und ging andererseits auf ein allgemeines Missverständnis
bezüglich seiner Aussagen zurück (zum Beispiel zum Daimonion), das seinen
Gegnern wohl nur gelegen kam.

Sokrates erklärt vor Gericht, dass alle Anklagen gegen ihn falsch sind. Doch nicht nur
die Anklagen sind unwahr, auch die kursierenden «Gerüchte» (lange davor schon
absichtlich in Umlauf gebracht, von Menschen, die er als gefährlichere Ankläger
ausmacht, als Anytos und seine Bande, da viele diesen älteren Verleumdungen schon
als Kinder ausgesetzt waren[31]), Sokrates mache die «schwächere Rede zur
stärkeren» und unterweise auch andere hierin (typische Vorurteile gegen die
Sophisten) entsprach keineswegs der Wahrheit. Und falls den Athenern erzählt
worden sei, dass er Menschen erziehe und Geld dafür kassiere (auch den Sophisten
vorgeworfen), so kann er sie beruhigen, denn auch das stimmt nicht. Wie erklärt
Sokrates dann seinen schlechten Ruf? Er führt diesen auf seine «bestimmte Art von
Weisheit» zurück, eine «Weisheit von menschlichem Maß»[33]. Als Zeugen für seine
«Weisheit» nennt er «den Gott in Delphi»[34] (ΤΟΝ ΘΕΟΝ ΤΟΝ ΕΝ ΔΕΛΦΟΙΣ,
Apol., 20e), der bekanntlich Apollon ist. Von Apollon ist anschließend nur noch als
«der Gott»[35] (Ο ΘΕΟΣ, 21b) die Rede. Sokrates lässt also keine Fragen über die
Identität «seines» Gottes offen. Chairephon, ein Freund des Sokrates, besuchte
einmal das Orakel von Delphi und befragte es, ob es jemanden weiseren als Sokrates
gebe. Apollon antwortete durch die Pythia, dass niemand weiser sei. Dieser Spruch
des Orakels wurde Sokrates zum philosophischen Problem, also sann über diese
Antwort der Pythia nach. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, der
Orakelspruch ergab für ihn keinen Sinn; er wisse doch, dass er nicht weise sei. «Was
meint er also, wenn er sagt, ich sei der Weiseste?» [36] (21b). Der Gott hat gesprochen,
also, so der Philosoph, muss an der Sache etwas dran sein, denn «ganz gewiß lügt er
ja nicht; das ist nicht seine Art» [37] (ΟΥ ΓΑΡ ΔΗΠΟΥ ΨΕΥΔΕΤΑΙ ΓΕ· ΟΥ ΓΑΡ
ΘΕΜΙΣ ΑΥΤΩ, ebd.). Da ihm die Botschaft des Orakels schleierhaft war, beschloss
er, Licht ins Dunkel zu bringen. Was tat er also?

Er suchte – mit dem Orakelspruch im Hinterkopf – das Gespräch mit Menschen, «die
in dem Rufe standen, weise zu sein, um […] den Spruch zu widerlegen» [38]. Als er
nun auf hellenischer, also dialektischer Weise anfing, sie auf ihre Weisheit hin zu
prüfen, stellte sich für ihn heraus, dass diese «wohl weise zu sein» schienen, nämlich
nach dem «Urteil vieler anderer» und nach dem eigenen, «ohne es indessen wirklich
zu sein». Beim Versuch ihnen zu erklären, dass sie sich ihre Weisheit einbildeten,
machte er sich bei ihnen «und bei vielen der Anwesenden verhaßt» [39] (ΕΝΤΕΥΘΕΝ
ΟΥΝ ΤΟΥΤΩ ΤΕ ΑΠΗΧΘΟΜΗΝ, 21e). Nun dämmerte es dem Philosophen, was
der Gott meinte: «Im Vergleich zu diesem Menschen bin ich der Weisere. Denn
wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Ordentliches und Rechtes; er
aber bildet sich ein, etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß, während ich, der ich
nichts weiß, mir auch nichts zu wissen einbilde». [40] Er sei also etwas weiser als
diese Menschen, dadurch «daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen
glaube.»[41] (… ΕΟΙΚΑ ΓΟΥΝ ΤΟΥΤΟΥ ΓΕ ΣΜΙΚΡΩ ΤΙΝΙ ΑΥΤΩ ΤΟΥΤΩ
ΣΟΦΩΤΕΡΟΣ ΕΙΝΑΙ, ΟΤΙ Α ΜΗ ΟΙΔΑ ΟΥΔΕ ΟΙΟΜΑΙ ΕΙΔΕΝΑΙ, 21e). (Es ist
eben genau dieser Satz der dahingehend missverstanden wurde, Sokrates behaupte,
generell «nichts zu wissen». Das hat er wahrscheinlich weder gesagt noch gemeint;
diese Schlussfolgerung ist wohl eine «Fehlinterpretation der Platonischen Texte» und
geht wahrscheinlich auf Arkesilaos zurück.[42])

Es zeigt sich, «daß Sokrates zuallererst jemand war, der argumentierte und fragte, der
die Ansprüche der Leute auf Expertentum in Frage stellte und Widersprüchlichkeiten
in ihren Überzeugungen aufdeckte».[43] Er wurde also nicht seines vermeintlichen
«Monotheismus» wegen gehasst, sondern weil er dazwischenfunkte, weil er als
«Umstürzler der traditionellen Moral und Religion»[44] gesehen wurde, was er aber
nicht war, ganz im Gegenteil sogar. Sokrates vertrat auf seine eigene genuine Weise
die traditionelle hellenische Pietät. Gerade jene, die sich durch Sokrates belästigt
sahen und sich weise dachten, verstießen gegen das hellenische Prinzip der eusebeia.
Sokrates «streitet jede Weisheit ab»[45], seine Gegner hingegen hatten nicht nur den
Ruf weise zu sein, nein, sie bildeten sich obendrein noch ein, tatsächlich Weise zu
sein. Deshalb fordert Apollon von Sokrates «den Menschen ihren Mangel an echter
Weisheit offenzulegen, die Gott allein zukommt – aber warum?» [46] Es entsprach der
traditionellen hellenischen Frömmigkeit, die «Überlegenheit der Götter in Wort und
Tat anzuerkennen.»[47] Sokrates konnte ihre Weisheit schon deshalb nicht als solche
durchgehen lassen, weil das nach hellenischer Anschauung nach heißen würde, «ein
vollständiges und gänzlich klares Wissen vom allem zu haben, was ein göttliches
Vorrecht ist.»[48] Sokrates war also kein Gegner der Götter oder ein «Umstürzler der
Moral»; er war ein Erneuerer, wenn nicht sogar ein Reformer der hellenischen Pietät.
Er überführte «die griechische Moral in eine höhere Entwicklungsstufe». [49] Er
widmete sich ganz und gar dem Auftrag Gottes an ihn. Die allgemeine Reaktion auf
seine Tätigkeit scheint wohl der Bemerkung recht zu geben, dass das «klassische
Griechentum [...] sich selbst überlebt» hatte.[50]Doch endet das Griechentum nicht
mit seiner klassischen Phase.
Es scheint, so schlussfolgert Sokrates, dass allein Gott «wahrhaft weise» ist (ΤΩ
ΟΝΤΙ Ο ΘΕΟΣ ΣΟΦΟΣ ΕΙΝΑΙ, 23a) und mit «seinem Orakelspruch eben» dies
meint, «daß die menschliche Weisheit nur wenig wert ist oder rein nichts.»[51]
Apollon verwende Sokrates nur als Beispiel, um dessen Einstellung zu unterstreichen
bzw. hervorzuheben. Er sah sich im «Auftrage des Gottes» wirkend und bezeichnet
sich als «Gehilfe» Apollons, der versucht, den Menschen Klarheit darüber zu
beschaffen, dass sie «nicht weise» sind, auch wenn viele anderer Meinung waren.[52]
Der Philosoph ist folglich ein Gegner einer Arroganz, die mit hellenischen Prinzipien
bricht. Er widmet sein ganzes Leben dieser einen Sache; «ich lebe […] in tiefster
Armut – wegen meines Dienstes für den Gott»[53] (ΠΕΝΙΑ ΜΥΡΙΑ ΕΙΜΙ ΔΙΑ ΤΗΝ
ΤΟΥ ΘΕΟΥ ΛΑΤΡΕΙΑΝ, 23c). Deshalb könne er keine Zeit für andere Tätigkeiten
erübrigen. Der Gott trug ihm auf, ein Philosoph zu sein, so verstand es zumindest
Sokrates (Fuhr., Pl.: Apologie, S. 45), und allein darauf kommt es an.
Die jungen Menschen, die Sokrates bei seinen Untersuchungen begleiteten, hatten
«Freude daran» und fingen selber damit an, andere zu prüfen. Deshalb waren seine
Gegner gegen ihn und skizzierten Sokrates als einen «widerlichen Menschen», der
die Jugend verderbe. Sokrates untersuchte nicht nur die Politiker, nein, er schaute
auch bei den Handwerkern vorbei, die sich zwar auf ihr Handwerk verstanden, also
die nötige Qualifikation besaßen, um Aussagen darüber zu machen, sich aber auch
Aussagen über Themen erlaubten, ohne ein entsprechendes Expertentum vorweisen
zu können. Sie alle, die sich durch ihn belästigt fühlten, führten diversen
durchgekauten Unsinn gegen ihn ins Feld, weil sie sich nicht eingestehen wollten,
dass sie «etwas zu wissen beanspruchen, obwohl sie ganz unwissend sind». [54] Das
sei Sokrates zufolge «die ganze Wahrheit» und der Grund, weshalb er vor Gericht
zitiert wurde. Sokrates zerfetzte kraft seiner Argumentation die ihm zu Last gelegten
Vorwürfe, führte seine Gegner vor Gericht vor und machte nicht nur die
Unmöglichkeit ihres Anspruchs auf Wahrheit sichtbar, er offenbarte auch die
Widersprüchlichkeit der Anklagen (siehe das Beispiel mit den Pferden). [55] Und eben
diese absurden Anklagen seiner Gegner werden heute von manchen herangezogen,
um Sokrates’ vermeintlichen «Monotheismus» zu beweisen. Anklagen wohlgemerkt,
gegen die sich Sokrates entschieden verteidigte.

Durch ihre lächerliche Vorgehensweise – das merken die Fundamentalisten nicht –


stimmen sie seinen «paganen» Gegnern zu und darüber hinaus bezichtigen sie
Sokrates indirekt der Lüge; nämlich, dass er vor Gericht wider besseren Wissens die
Unwahrheit sagte und eben doch die Götter nicht anerkannte. Sie versuchen also aus
ihm einen Menschen zu machen, der er nicht war, und zwar mit Hilfe böswilliger
Vorwürfe, die ihm das Leben kosteten. Nun könnte einer sagen, Sokrates habe
gelogen, um seine Haut zu retten. Das würde zwar nicht zu Sokrates passen, aber ich
werde diesem Einwurf trotzdem eine Antwort geben, nämlich die, dass alles gegen
eine solche Vermutung spricht: weder ließ er seine Kinder zu Gericht erscheinen, um
die Herzen der Entscheidungsträger milde zu stimmen [56], damals vor Gericht häufig
abgezogen, und zweitens wollte er von Flucht nichts wissen, als sie ihm im Gefängnis
angeboten[57] wurde, wodurch er sein Leben hätte retten können. Er lehnte ab, denn
er war sich keiner Schuld bewusst. Außerdem käme eine solche Aktion eines
Schuldbekenntnisses gleich.

Sokrates lässt keine Fragen bezüglich seiner Motive offen. Bei einem Freispruch
würde er weiter so verfahren wie bisher und «dem Gotte» gehorchen; seinen
Mitbürgern «ins Gewissen reden», sich nicht um Geld zu scheren, sondern um «die
Vernunft und die Wahrheit» und dass sie «möglichst gute Seele[n]» haben [58]. Er
würde selbst dann nicht damit aufhören, wenn dies seinen Tod bedeutete [59]. Der Gott
habe ihn, Sokrates, zu den Athener geschickt, um sie aufzurütteln, weil er sich um sie
sorge[60] (Ο ΘΕΟΣ ΥΜΙΝ ΕΠΙΠΕΜΨΕΙΝ ΚΗΔΟΜΕΝΟΣ ΥΜΩΝ, 31a). Sokrates
machte sich Sorgen um seine athenischen Mitbürger und bot ihnen deshalb die
Möglichkeit auf Selbsterkenntnis an, nämlich die Kenntnis von der eigenen
menschlichen Sterblichkeit und den Grenzen, die mit ihr einhergehen; er tat dies aus
der Überzeugung, «daß ein Leben ohne Prüfung ... nicht lebenswert» sei [61]. Sein Tod
würde sie nicht retten[62]. Er selbst fürchte den Tod nicht, er begrüßt ihn sogar, wenn
er das Zusammensein mit «Hesiod und Homer» bedeutet [63]. Einem «guten
Menschen» sei der Tod kein Übel und außerdem sei sich Sokrates sicher, dass die
Angelegenheiten guter Menschen «den Götter[n] nicht gleichgültig sind» [64].
(Sokrates’ Fall war übrigens der einzige von den wenigen Asebie-Anklagen, die mit
dem Tod endeten[65].) Was das alles für seine Haltung zu den Göttern bedeutet,
beschreibt Sokrates mit einem Satz: «Denn ich glaube an sie, ihr Männer von
Athen, wie keiner meiner Ankläger» [66] (ΝΟΜΙΖΩ ΤΕ ΓΑΡ Ω ΑΝΔΡΕΣ
ΑΘΗΝΑΙΟΙ, ΩΣ ΟΥΔΕΙΣ ΤΩΝ ΕΜΩΝ ΚΑΤΗΓΟΡΩΝ, 35d). Sokrates bekundet
seine Loyalität zu den Göttern.

Schlusswort

Eigentlich müsste dieser Satz als Widerlegung monotheistischer Träumereien reichen.


Er hätte sich nicht klarer ausdrücken können. Es ging ihm mitnichten darum, den
Kult eines neuen Gottes einzuführen (welch eine beschränkte Vorstellung!), sondern
die «Menschen zur Sorge um ihre Seele anzuhalten»[67]. Sokrates’ Zeitalter war das
Ende einer Zeit, als die «bloße Hinnahme der Tradition nicht mehr» genügte[68]. In
der von ihm zu Papier gebrachten Apologie, «zeigt [Platon] das philosophische Leben
selbst als eine höhere Form der religiösen Praxis, und zwar im Gehorsam gegen einen
Gott, der will, daß wir unsere Seelen, und das heißt uns selbst, so vollkommen wie
möglich machen.»[69]
Sokrates war genauso wenig ein Monotheist wie Platon, Xenophanes oder die
Stoiker, die verrückterweise auch immer wieder mit dem Christentum in Verbindung
gebracht werden, obwohl «Bonhöffer beweist, daß Epiktet nicht mehr vom Neuen
Testament abhängig ist als dieses vom Stoizismus. Schon 1708 hatte M. Rossal die
stoischen Lehren genannt, die mit der Botschaft des Evangeliums unvereinbar sind:
Polytheismus, Eidesformeln, das Verlassen des Lebens mit Selbstmord, der Stolz und
die Allmacht des geradezu vergöttlichten Menschen.» [70] Alle hellenischen
Philosophen, die das Unglück hatten, das Christentum kennen zu lernen, haben es
nicht als Option in Betracht gezogen. Es besteht kein Anlass zur Ansicht, dass es bei
den Philosophen davor anders gewesen wäre. Denn die «Unterschiede zwischen der
eingeborenen hellenischen und der christlichen Religion sind zahlreich […].» Nur
wenn man sich die bestehenden Unterschiede zwischen Hellenentum und
Christentum vor Augen führt, werden die Gründe dafür erkennbar, weshalb «beide
Seiten, diametral entgegengesetzte und in Konflikt zueinander stehende Sichtweisen,
aber auch diametral entgegengesetzte und gegnerische Menschentypen mit diametral
entgegengesetzten und gegnerischen Lebensweisen schaffen».[71]

Ungeachtet dessen treten die heutigen Fundamentalisten und ihre Apologeten in die
Fußstapfen Justins und machen aus Sokrates einen Monotheisten, und zwar mit Hilfe
der Anklagen seiner Gegner und somit gegen all das, wofür Sokrates bis zu seinem
Ende eingestanden ist. Der christliche Apologet Justin «argumentierte, Sokrates sei
wie die Christen des Atheismus beschuldigt worden, weil er die Fabeln von den
Olympischen Göttern abgelehnt und die Verehrung des einen wahren Gottes gefordert
habe.» Alles, was von den Philosophen «gut gesagt worden ist, gehört uns
Christen»[72], behauptete er, behaupten auch die heutigen christlichen Apologeten
und sprechen in diesem Zusammenhang irrwitzigerweise von einem «vor-christlichen
Christentum». Es ist der gleiche Justin wohlgemerkt, der «entzückt über die
grauenhafte Verwüstung Palästinas, die Zerstörung seiner Städte, die Verbannung der
Bewohner» frohlockte, «recht und gut, daß euch das zugestoßen … ihr verkommenen
Söhne, ehebrecherisches Gezücht, Dirnenkinder» (Karlheinz Deschner:
Kriminalgeschichte des Christentums Band 1, Die Frühzeit, S. 127, 6. Aufl., Reinbek
bei Hamburg 2006), womit er seine seine seelische Abartigkeit unter Beweis stellte.
Der gleiche Justin, der den Juden vorwarf, ihre eigenen Schriften nicht zu verstehen
(«Eure Schriften oder vielmehr nicht eure, sondern unsere!»), wollte Sokrates für das
Christentum einnehmen. Aber das soll nichts heißen, denn auch die «Führer der
Hebräer» ernannten die frühen Christen zu ihren eigenen Stammvätern (ebenda, S.
121-122). Justin hin oder gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit her, Sokrates war ein
Hellene, kein Christ. Es ist die Geschichte, die Sokrates freispricht: Vom «Vorwurf»
der Sophistik, des Monotheismus und auch des Atheismus. Sokrates meinte, «die
Intelligenz im Universum organisiere» alles und dass «das Göttliche alles sehe und
höre, überall sei, und sich zu jeder Zeit um alles kümmerte» [73] – und das kann beim
besten Willen nicht als «Christentum» oder «Atheismus» interpretiert werden. Auch
Sokrates’ letzte Worte sind äußerst aufschlussreich, denn er sagt: «Kriton, wir
schulden dem Asklepios einen Hahn; entrichtet ihm den und vergeßt es nicht.»[74]

Dass das griechische Wort «theós» dermaßen missverstanden wird, ist ein Indiz dafür,
die griechische Kultur weder zu kennen noch sie zu verstehen. Demnach blamieren
sich nationalistische und fundamentalistische Christen in Griechenland
gleichermaßen ständig an der Realität. Das zeigt sich auch in ihrem Verständnis von
der Differenz zwischen Monotheismus und Polytheismus. Abschließend noch einige
Sätze dazu.

«Polytheismus» und «Monotheismus»

Der wesentliche Unterschied zwischen Monotheismus abrahamitischer Prägung und


hellenischem Polytheismus ist nicht die Zahl der Götter. Was die beiden unterscheidet
ist der Kosmotheismus. Im Monotheismus ist Gott allmächtig, existiert zeitlich vor
und räumlich außerhalb des Universums, das er erschaffen haben soll. Außerdem ist
er ein persönlicher Gott. Das Weltall ist seine Schöpfung, mit der Gott machen kann,
was er will.
Im Polytheismus hingegen sind die Götter nicht allmächtig, sie existieren innerhalb
des Universums (genauso wie der Logos des Heraklitos), das sie definitiv nicht
erschaffen haben und sie sind dem Prinzip der Ananke (Schicksal, Notwendigkeit)
unterworfen. Sie gehen aus dem Einen als seine Vervielfältigungen hervor und
«dienen» dem Erhalt und der Ordnung des Universums. Die Götter sind
unpersönliche Mächte und natürliche Entitäten, die die Gesetze der Natur
respektieren. Das Universum wird hier als immerdar bzw. als aus sich selbst heraus
entstanden betrachtet (Kosmotheismus); alles was ist, war im Chaos («gähnende
Leere») zumindest potentiell enthalten. Der primäre Unterschied zwischen diesen
beiden Systemen ist also wo und wie Gott im Verhältnis zum Universum gedacht
wird. Die Zahl der Götter spielt dabei keine entscheidende Rolle, zumal die Vielheit
als selbstverständlich galt.

Vielleicht mag sich einer denken: «Alles schön und gut, aber ist es wert, gleich einen
Artikel darüber zu schreiben?» Ja. Denn wenn Lügen – ob gemäßigter
Fundamentalisten oder antihellenischer orthodoxer Apologeten – nicht konfrontiert
werden, können sie nicht als solche erkannt werden; es entsteht der Eindruck, man
habe nichts zu erwidern, weil diese «Behauptungen» wahr seien. Dann gehen diese
Unwahrheiten, wie so viele vor ihnen auch, in die «Allgemeinbildung» ein und
etablieren sich dort als «jedermann bekannte Fakten». Solche «Fakten» gehen ins
Bewusstsein der Masse ein und bleiben dort hängen (man nehme nur das Beispiel der
griechischen Götter, die heute immer noch mit ihren Mythen verwechselt werden).
Diese «Fakten» multiplizieren sich im Internet, und jemand, der auf der Suche nach
Informationen ist, bekommt sie serviert und wird somit hinters Licht geführt. Nicht
nur, dass man nicht erfährt, wonach man ursprünglich gesucht hat, nein, noch
schlimmer: der Leser wird desinformiert, nur um bestimmte eigene Interessen zu
wahren.
Letztendlich kann eine solche Einspannung des nun wehrlosen Sokrates nicht
geduldet werden, zumal eine solche Vereinnahmung vor dem Hintergrund des
Kulturmords der Christen an den Hellenen nicht einfach nur frech ist, sondern
regelrecht pervers. Was Sokrates war und nicht war, kann nicht vom Gusto der
Theologen und Apologeten abhängen. Es liegt an uns allen, das Andenken an
Sokrates, dem wir so viel verdanken, zu schützen und in Ehren zu halten.

Nachweise:
1. Henry George Liddell, Robert Scott: A Greek-English Lexicon. S. 791, 9. Auflage,
Oxford University Press, New York 1996
2. Paul Veyne: Die griechisch-römische Religion: Kult, Frömmigkeit und Moral. S.
52, Reclam Verlag, Stuttgart 2008.
3. Manfred Fuhrmann, Platon: Apologie des Sokrates. Griechisch/Deutsch. S. 4 und
5, Reclam, Ditzingen, 1986.
4. Paul Veyne, S. 53
5. ebenda. S. 163
6. Diels/Kranz 22 B 79
7. Diels/Kranz 22 B 78
8. Diels/Kranz 22 B 32
9. Edwin Oliver James: Der Kult der Großen Göttin. S. 310 und 341, Amalia, Bern
2003.
10. Stilian: Der Hellenismos Heute: Einführung in die Religion und Weltanschauung
der ethnischen Hellenen. S. 20, Stuttgart 2012.
11. Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. S. 435-436,
Verlag Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Berlin 1904.
12. Timothy Jay Alexander: Hellenismos Today. S. 21, Lulu Press, USA: Breinigsville
2007.
13. Vlassis G. Rassias: Thyrathen: Das Philosophie-Lexikon. S. 69, 1. Auflage,
Anichti Poli, Athen 2006 (griechisch).
14. Herodot, A. Horneffer (Übers.): Historien. S. 132, 4. Auflage, Kröner Verlag,
Stuttgart 1971.
15. Liddell, Scott: A Greek-English Lexicon, S. 985
16. Walter F. Otto: Theophania: Der Geist der altgriechischen Religion. S. 76,
Rowohlt, Hamburg 1956.
17. ebenda.
18. Salustios, Vl. Rassias (Übers.): Über die Götter und die Welt. S. 21, Anichti Poli,
Athen 2002 (altgriechisch/griechisch).
19. Friedrich Wilhelm Korff: Vorwort zum Wahren Wort des Celsus, in: Celsus, Th.
Keim (Übers.): Gegen die Christen. S. 10, Matthes & Seitz Verlag, München 1984.
20. Manfred Fuhrmann, Platon: Apologie des Sokrates. Griechisch/Deutsch. S. 100,
Reclam, Ditzingen, 1986.
21. Diogenes Laertios 2,40; Xenophon, Memorabilien 1,1,1 und Apologie 10; vgl.
Platon, Apologie 24b, zitiert in: Manfred Fuhrmann, Platon: Apologie des Sokrates.
Griechisch/Deutsch. S. 100, Reclam, Ditzingen, 1986.
22. Liddell, Scott, S. 366
23. Fuhrmann, Platon: Apologie, S. 100
24. ebenda, S. 107
25. ebenda, S. 39
26. ebenda, S. 106
27. ebenda
28. ebenda, S. 107.
29. ebenda, S. 100
30. Xenophon, Rudolf Preiswerk: Erinnerungen an Sokrates. S. 3, Reclam, Stuttgart
2002.
31. Fuhrmann, Platon: Apologie, S. 9
32. ebenda, S. 13
33. ebenda, S. 15
34. ebenda, S. 17
35. ebenda.
36. ebenda.
37. ebenda, S. 19
38. ebenda.
39. ebenda.
40. ebenda.
41. ebenda.
42. Christopher C. W. Taylor: Sokrates. S. 59-60, 105, Panorama, Wiesbaden 2004.
43. ebenda, S. 18
44. ebenda, S. 26
45. ebenda, S. 57
46. ebenda, S. 30
47. Paul Veyne: Die griechisch-römische Religion, S. 18-19
48. Christopher C. W. Taylor: Sokrates. S. 59
49. ebenda, S. 114
50. ebenda.
51. Fuhrmann, Platon: Apologie, S. 25
52. ebenda.
53. ebenda.
54. ebenda, S. 25 und 27
55. ebenda, S. 29 und 35
56. ebenda, S. 65
57. ebenda, S. 110
58. ebenda, S. 49
59. ebenda, S. 51
60. ebenda, S. 53
61. ebenda, S. 77
62. ebenda, S. 81
63. ebenda, S. 87
64. ebenda.
65. ebenda, S. 109
66. ebenda, S. 69
67. ebenda, S. 111
68. ebenda, S. 121-122
69. Christopher C. W. Taylor: Sokrates. S. 31
70. Kurt Steinmann, Epiktet: Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch. S. 105,
Reclam, Stuttgart 1992.
71. Vlassis G. Rassias: Die Unterschiede zwischen der eingeborenen hellenischen
Religion und dem Christentum, in: Rassias(.)gr: Artikel, Interviews, Veranstaltungen,
griechisch, zuletzt abgerufen am 25.3.«2013».
72. Christopher C. W. Taylor: Sokrates. S. 107
73. Christopher C. W. Taylor: Sokrates. S. 103
74. ebenda, S. 23

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