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SWP-Aktuell

Einleitung

Stiftung
Wissenschaft und
Politik
Deutsches Institut
für Internationale
Politik und Sicherheit

Erneuerung der nuklearen Abschreckung


Die USA wollen nukleare Einsatzoptionen und globale Eskalationsdominanz stärken
Wolfgang Richter

In der Nuclear Posture Review vom Februar 2018 kündigt die Trump-Administration
an, die Nuklearwaffen der USA umfassend zu modernisieren. Sie will alle strategischen
Systeme ersetzen, atomare Gefechtsköpfe mit niedriger Sprengkraft beschaffen, die
Reichweite luftgestützter Marschflugkörper erhöhen und seegestützte substrategische
Systeme nuklear bewaffnen. Ziel ist es, der unterstellten Bedrohung durch Russland,
China, Nordkorea und Iran mit globaler militärischer Dominanz zu begegnen. Dazu
sollen die nuklearen Einsatzoptionen erweitert und die Lastenteilung mit Alliierten
ausgebaut werden, um die nukleare Abschreckung zu stärken. Dies wird die künftige
Rüstungskontrolle bestimmen, die Glaubwürdigkeit der globalen Nichtverbreitungs-
politik beeinflussen und sich auf die nukleare Teilhabe in der Nato auswirken. Eine
neue Debatte über die Nukleardoktrin der Allianz ist daher unausweichlich. Deutsch-
land muss sich dazu positionieren.

Mit der Nuclear Posture Review 2018 (NPR Typ Minuteman III, die jeweils einen Spreng-
18) wird das Modernisierungsprogramm kopf tragen, ab 2029 durch neue Systeme
des damaligen Präsidenten Obama fort- des Programms Ground-Based Strategic Deter-
gesetzt. Es hat zum Ziel, die strategischen rent zu ersetzen und die 450 ICBM-Silos zu
und substrategischen Kernwaffen der USA modernisieren. Ab 2030 sollen neue nuklea-
länger als vorgesehen in Dienst zu halten, re Sprengköpfe für ICBM eingeführt werden.
leistungsfähiger zu machen und auf länge- Zudem wurde die Lebensdauer der bis
re Sicht durch neue, leistungsstärkere zu 234 ballistischen Raketen Trident D5 auf
Systeme zu ersetzen. Größere Typenvielfalt nuklear angetriebenen Unterseebooten
und neue Gefechtsköpfe mit niedriger (SLBM) bis 2042 verlängert. Ab 2020 soll ein
Sprengkraft sollen die Fähigkeit verbessern, neues Modell entwickelt werden. Bis 2019
in einem erweiterten Risikospektrum mit wird die Verlängerung der Dienstlaufzeit
variablen Kernwaffenschlägen zu reagieren atomarer Mehrfachgefechtsköpfe W76-1
und nukleare mit konventionellen Fähig- abgeschlossen. Der SLBM-Gefechtskopf W88
keiten zu kombinieren. wird bis 2024 auf kleinere Sprengkraft um-
Geplant ist, die 400 landgestützten ballis- gestellt. Von 2031 an sollen die 14 SLBM-
tischen Interkontinentalraketen (ICBM) vom Unterseeboote vom Typ Ohio durch mindes-

Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik SWP-Aktuell 15


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tens 12 Boote der modernen Columbia- zu verbessern sowie das Warn-, Ortungs-
Klasse abgelöst werden. und Leitsystem im Weltraum gegen Angrif-
Weiterhin werden die 46 schweren fe zu schützen.
Bomber B-52 H und die 20 schnellen Tarn- Umfangreiche Investitionen in die nukle-
kappenbomber B-2 A ab Mitte der 2020er are Forschung und Entwicklung sollen den
Jahre durch den ebenfalls Stealth-fähigen, technologischen Vorsprung und die Reak-
also von gegnerischen Radaren schwer tionsfähigkeit der USA erhalten, um neue
erfassbaren Bombertyp B-21 Raider ersetzt. Waffen entwickeln und testen zu können.
Erneuert wird auch die Tankerflotte, welche
die Reichweite der strategischen Bomber
fast unbegrenzt ausdehnen kann. Strategische Triade und New START
Bis 2031 abgeschlossen sein soll die Lauf- Die Modernisierung der drei Komponenten
zeitverlängerung der Gefechtsköpfe W80-4 der »strategischen Triade« (ICBM, SLBM,
für luftgestützte Marschflugkörper (ALCM), strategische Bomber) bleibt quantitativ im
die derzeit von B-52 H mitgeführt werden. Rahmen des New-START-Vertrags vom April
Zugleich ist geplant, Marschflugkörper mit 2010. Er begrenzt die Zahl dislozierter stra-
größerer Reichweite (Long Range Stand-off, tegischer Kernwaffen der USA und Russ-
LRSO) zu beschaffen. Ferner werden Lebens- lands auf je 1550 Gefechtsköpfe auf 700
dauer und Präzision von Schwerkraft- Trägersystemen und lässt jeweils bis zu 800
bomben erhöht. So werden die variablen ICBM/SLBM-Startvorrichtungen und strate-
Bomben B61 bis 2024 modernisiert und die gische Bomber zu. Die höhere Trägerzahl
Laufzeit der schweren Bomben B83-1 wird kann konventionell genutzt werden, so für
ausgedehnt, bis ein Nachfolgemodell zur weltweite punktgenaue Zerstörungsschläge.
Verfügung steht. Dies erweiterte die Grauzone zwischen kon-
Künftig sollen die substrategischen see- ventionellen und nuklearen Einsatzsigna-
gestützten Marschflugkörper (SLCM) mitt- turen, die bei strategischen Bombern schon
lerer Reichweite wieder atomar bewaffnet länger bestand. Obwohl ein solcher Bomber
werden. Sie werden von Unterseebooten bis zu 20 ALCM und 16 Schwerkraftbomben
und Überwasserschiffen aus eingesetzt. mitführen kann, wird er nur als ein einzi-
Schon Präsident Obama hatte entschie- ges System gezählt. Reservegefechtsköpfe,
den, die konventionell und nuklear einsetz- die nicht auf Trägern montiert sind, und
baren Kampfflugzeuge F-15 E (dual use combat substrategische Nuklearwaffen begrenzt
aircraft, DCA) durch den modernen Stealth- der Vertrag ebenfalls nicht. Insgesamt be-
fähigen Typ F-35 abzulösen. Etwa 700 nukle- sitzen die USA etwa 4200 einsetzbare und
are Schwerkraftbomben B61 sind für den 2800 außer Dienst gestellte Atomwaffen.
Einsatz durch strategische Bomber und Nur Russland verfügt mit rund 7000 Atom-
DCA mit regionaler Reichweite vorgesehen. sprengköpfen über ein vergleichbares
Sie werden bis 2024 durch 480 B61-12-Lenk- Kernwaffenpotential.
bomben ersetzt. Dies wirkt sich unmittel- Mit den SALT- und START-Verträgen
bar auf die europäischen Bündnispartner hatten beide Mächte ihre strategischen
aus. Verfügt der US-Präsident die Freigabe Kernwaffen im und nach dem Kalten Krieg
der in Europa und der Türkei gelagerten deutlich reduziert. Doch die »gegenseitige
150 bis 200 B61-Bomben, können im Rah- gesicherte Zerstörungsfähigkeit« blieb
men der »nuklearen Teilhabe« auch deut- durch numerische Parität die Geschäfts-
sche, italienische, belgische und nieder- grundlage auch des New-START-Vertrags.
ländische Flugzeuge mit ihnen bestückt Um die strategische Stabilität abzusichern,
werden. hatten beide Seiten sich 1972 im ABM-
Darüber hinaus sieht die NPR 18 vor, die Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) zudem
Resilienz und Leistungsfähigkeit des Füh- geeinigt, die Zahl strategischer Abwehr-
rungssystems für den Nuklearwaffeneinsatz raketen auf je 100 zu begrenzen. Seit Präsi-

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dent George W. Bush 2002 den Vertrag Umstritten ist, ob das Land nukleare Spreng-
gekündigt hat, um ein globales Raketen- sätze für den Einsatz auf weitreichenden
abwehrsystem aufzubauen, und weil der ballistischen Raketen miniaturisieren sowie
US-Kongress den New-START-Vertrag nur technisch befähigen kann, den Hitze- und
unter Vorbehalt ratifizierte, sehen Russland Stoßkräften beim Wiedereintritt in die Erd-
und China die strategische Stabilität in atmosphäre standzuhalten. Fraglich ist
Gefahr. Die umfangreiche Modernisierung auch, ob die Träger einen Erstschlag über-
ihres Atomarsenals begründen sie auch stehen und für einen Gegenschlag ein-
damit, ihre nukleare Zweitschlagfähigkeit gesetzt werden könnten.
absichern zu müssen. In der NPR 18 wiede-
rum werden Erneuerung und Diversifizie-
rung amerikanischer Kernwaffen mit den Marschflugkörper und INF-Vertrag
russischen und chinesischen Rüstungs- Mit der atomaren Bewaffnung von SLCM
anstrengungen gerechtfertigt. revidiert die Trump-Administration die Ent-
Die verlängerte Reichweite von ALCM scheidung Obamas von 2010, nukleare SLCM
verbessert die Fähigkeit der USA, mit ihrer aufzugeben. Sie unterliegen weder den Be-
Bomberflotte Ziele aus großem Abstand grenzungen des New-START-Vertrags noch
und mit hoher Treffsicherheit anzugreifen, denen des Vertrags über das Verbot (land-
ohne in die leistungsgesteigerte und weit- gestützter) Mittelstreckensysteme (Inter-
räumige Luftverteidigung Russlands und mediate Range Nuclear Forces, INF), auch wenn
Chinas (A2/AD, anti-access/area denial) eindrin- ihre Reichweiten weit mehr als 500 km be-
gen zu müssen. Auch Russland beschafft tragen. Auch Russland hat seine nuklear-
weitreichende Abstandswaffen. Marsch- fähigen SLCM behalten und modernisiert.
flugkörper kann die Raketenabwehr nur Gleichwohl können die »substrategi-
schwer erfassen und zerstören. Gleichzeitig schen« atomaren SLCM eine strategische
setzt die US-Luftwaffe auf Tarnkappen- Wirkung entfalten, da sie von den europäi-
bomber, welche die Luftverteidigung über- schen oder asiatischen Randmeeren aus
winden und Schwerkraftbomben in die Landziele von vitaler Bedeutung für den
Zielräume tragen können. Gegner erreichen können. Dazu zählen Luft-
Auch mit treffsicheren Nukleargefechts- und Raketenabwehrstellungen, Führungs-
köpfen kleiner Sprengkraft für SLBM erwei- zentren, Infrastruktur oder Kernwaffen.
tern die USA die Fähigkeit, Punktziele aus- Nukleare SLCM erweitern nicht nur die
zuschalten und Kollateralschäden zu ver- Flexibilität atomarer Einsatzoptionen, son-
mindern. Kritiker bemängeln, dies könne dern auch die Grauzone zwischen nuklea-
die Unterscheidung zwischen strategischen ren und konventionellen Einsatzprofilen.
und substrategischen Systemen erschweren Die Fähigkeiten konventioneller SLCM
und die »Nuklearschwelle« senken. demonstrierten zwei amerikanische Aegis-
Der qualitative Rüstungswettlauf hat Kriegsschiffe am 7. April 2017, als sie vom
damit einen neuen Schub erhalten. Dies ist Mittelmeer aus den syrischen Luftwaffen-
umso bedenklicher, als für die (allerdings stützpunkt Sayrat zerstörten.
deutlich kleineren) Atomarsenale anderer Die USA begründen die Atombewaffnung
völkerrechtlich legitimierter Kernwaffen- von SLCM auf zweierlei Weise. Zum einen
staaten und De-facto-Atommächte bisher könne die »erweiterte Abschreckung« zum
keine Begrenzungen vereinbart wurden. Schutz von Verbündeten in Ostasien von
China, Frankreich und Großbritannien be- See aus erfolgen, ohne auf die (in Japan und
sitzen je 200 bis 300, Indien, Pakistan und Südkorea umstrittene) Landstationierung
vermutlich auch Israel je 80 bis 140 einsatz- nuklearer Schwerkraftbomben in Friedens-
bereite nukleare Gefechtsköpfe. zeiten angewiesen zu sein. Zum anderen
Die Zahl der einsatzbereiten Atomwaffen bringen die USA ihre SLCM-Pläne in Zusam-
Nordkoreas wird auf 10 bis 20 geschätzt. menhang mit dem unterstellten Bruch des

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INF-Vertrags durch Russland. Washington geschaffen. Sie könnten die Fähigkeit stär-
deutete an, die SLCM-Option womöglich zu ken, dort künftige strategische Raketen-
überdenken, sollte Moskau zur Vertrags- abwehrsysteme auszuschalten. Sollte Mos-
treue zurückkehren. Ein völliger Verzicht kau gar zahlreiche Mittelstreckensysteme
auf nukleare SLCM widerspräche aber dem gegenüber Westeuropa in Stellung bringen,
Argument, dass sie für die »erweiterte Ab- könnte sich die »Nachrüstungsdebatte« der
schreckung« von See aus benötigt werden. 1980er Jahre wiederholen. Damals befürch-
Die USA werfen Russland vor, land- tete die Nato, dass die Sowjetunion Europa
gestützte Marschflugkörper (GLCM) mit mit weitreichenden Mittelstreckenraketen
einer Reichweite von über 500 km getestet erpressen könnte, während das strategische
und auf mobilen Startgeräten disloziert zu Gleichgewicht die USA von einer strategi-
haben. Ein Festhalten am INF-Vertrag sei schen Eskalation abschreckte. Daher statio-
nicht mehr in Russlands Interesse, weil nierte die Nato 572 nukleare Mittelstrecken-
Nachbarstaaten an seiner südlichen und waffen in Westeuropa.
östlichen Peripherie über nukleare INF- Bisher hat Washington jedoch nicht er-
Systeme verfügen, deren Besitz Russland klärt, dass Moskau GLCM hoher Reichwei-
verboten ist. ten in den westlichen Militärbezirk verlegt
Andererseits hat Russland diesen geo- und nuklear bewaffnet hat. Mit ihrer Ent-
strategischen Nachteil kompensiert, indem scheidung, atomare SLCM einzuführen,
es die Flottille im Kaspischen Meer mit haben die USA einer kooperativen Klärung
SLCM ausrüstete. Als Russland im Septem- der Sachlage vorgegriffen. Dies könnte aber
ber 2015 militärisch in den Syrienkrieg auch ein Indiz dafür sein, dass die Trump-
eingriff, hat es von dort aus konventionelle Administration am INF-Vertrag zunächst
SLCM gestartet und ihre Wirksamkeit an festhalten und eine neue »Nachrüstungs-
der südlichen Peripherie demonstriert. debatte« in Europa vermeiden will.
Moskau weist den Vorwurf des Vertrags-
bruchs zurück und bezichtigt seinerseits
die USA, den INF-Vertrag verletzt zu haben. Lenkbomben und nukleare Teilhabe
So hätten sie ballistische Mittelstrecken- Auch mit der erhöhten Treffsicherheit der
raketen eingesetzt, um die Raketenabwehr B61-Freifallbomben verbessern die USA die
zu testen. Zudem verwendeten sie die SLCM- nuklearen Einsatzoptionen und wollen so
Abschussgeräte Mk 41 der Marine auch an die »erweiterte Abschreckung« glaubwürdi-
Land, nämlich in Raketenabwehrstellungen ger machen. Kampfflugzeuge sollen B61-
in Rumänien und bald auch in Polen (Aegis Bomben direkt über dem Zielgebiet ab-
ashore). Von dort aus könnten künftige GLCM werfen können. Doch dass die dafür vor-
gegen Ziele in Russland gestartet werden. gesehenen Jagdbomber nach wie vor über
Auf diese Option wird in der NPR 18 aus- konventionelle und nukleare Angriffsfähig-
drücklich hingewiesen. keiten verfügen, erschwert ihre eindeutige
Dagegen betont Washington, die Aegis- Zuordnung.
ashore-Systeme seien nur für den Abschuss Wenn der potentielle Gegner aber wie in
von Abwehrraketen geeignet und vorgese- Europa über eine fähige und raumdecken-
hen. Um die gegenseitigen Vorwürfe aus- de Luftverteidigung verfügt, erfordert ein
zuräumen, wären wechselseitige Informa- substrategischer Nukleareinsatz eine kom-
tionen und Inspektionen notwendig. Dazu binierte Operation mit konventionellen
müsste das 2001 beendete INF-Inspektions- Waffensystemen. Sie müssten zunächst eine
regime reaktiviert und modifiziert werden. Bresche in die bodengestützte Luftverteidi-
Trifft der amerikanische Vorwurf jedoch gung des Gegners schlagen und die Nuklear-
zu, hätte sich Russland weitere Einsatz- waffenträger während des gesamten Ein-
optionen für die geographische Peripherie satzes gegen Angriffe aus der Luft schützen.
in Asien, im Nahen Osten oder in Europa

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Stealth-fähige DCA wie die F-35 können die bezirk stationiert. Das gab erneut Anlass
Eindringfähigkeit erhöhen. zur Sorge in einer erweiterten Nato, die
Solche substrategischen Einsätze sind sich bis an die Westgrenzen Russlands
das Herzstück der nuklearen Teilhabe im ausgedehnt hatte. Deshalb begründen die
Bündnis. Zwar beteiligen sich daran nur USA die Modernisierung ihrer substrategi-
Deutschland, Italien, Belgien und die Nieder- schen Nuklearwaffen auch damit, dass
lande mit Kernwaffenträgern (F-16, Torna- Russland und China über eine hohe Anzahl
do), doch andere Nato-Staaten übernehmen und breite Typenvielfalt solcher Waffen
die nötigen konventionellen Aufgaben. verfügen. So besitze Russland bis zu 2000
Konzeptioneller Zweck der Stationierung taktische Atomwaffen, also ein Vielfaches
substrategischer Kernwaffen in Europa und der in Europa gelagerten amerikanischen
der nuklearen Teilhabe ist es, die Risiko- B61-Schwerkraftbomben.
und Lastenteilung im Bündnis zu demons- Aus Sicht Moskaus berücksichtigt der
trieren und die USA an die Verteidigung Vergleich allerdings weder die in den USA
der europäischen Partner zu binden. Dies bereitgehaltenen B61-Bomben und DCA
soll die Glaubwürdigkeit der amerikani- noch die Atomwaffen Frankreichs, Groß-
schen Garantie stärken, zur Verteidigung britanniens und der vier Kernwaffenstaaten
Europas notfalls Kernwaffen einzusetzen. an Russlands südlicher und östlicher Peri-
Zugleich soll die nukleare Teilhabe die pherie. Diese geostrategisch exponierte
Mitsprache der Alliierten bei der Entwick- Lage ist mit der Insellage des amerikani-
lung nuklearer Einsatzkonzepte der Nato schen Kontinents nicht vergleichbar. Zudem
gewährleisten, also einen (wenn auch be- hält Russland taktische Kernwaffen nicht
grenzten) Einfluss auf die atomare Ziel- nur für bodengestützte Kurzstreckenraketen
planung der USA nehmen. Doch bleibt und DCA vor, sondern auch zur Luftvertei-
die Entscheidungsgewalt über die Freigabe digung und für maritime Zwecke. Auf diese
von Kernwaffen in der Hand des Präsiden- Weise glaubt es seine globale konventionelle
ten der Vereinigten Staaten. Nur Paris und Unterlegenheit kompensieren zu können.
London verfügen über eigenständige Atom- Vor diesem Hintergrund bestätigt die
streitkräfte und autonome Entscheidungs- NPR 18 die Nato-Entscheidung von 2010, das
zentren für einen Kernwaffeneinsatz. Gespräch mit Moskau über die Reduzierung
Anders als Frankreich hat Großbritannien substrategischer Kernwaffen zu suchen.
aber Kernwaffen der Nato zugeordnet. Dabei soll zwar die größere Zahl russischer
Zwar werden DCA und nuklearfähige taktischer Kernwaffen eine Rolle spielen,
Artilleriewaffen vom Vertrag über konven- aber nicht zwangsläufig ein quantitatives
tionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) Gleichgewicht angestrebt werden. Vor
erfasst, unterliegen aber als Kernwaffen- allem komme es darauf an, dass Russland
träger keinen Sonderbegrenzungen. Die die taktischen Kernwaffen von seiner euro-
Zahl ballistischer Kurzstreckenraketen päischen Peripherie wegverlegt.
und GLCM mit einer Reichweite von weni-
ger als 500 km wird durch keinen Vertrag
begrenzt. Allerdings hatten sich die Präsi- Die Abschreckungsdoktrin der USA
denten der USA und Russlands 1992 darauf Laut NPR 18 soll die umfassende Moderni-
verständigt, die in Europa stationierten sierung der amerikanischen Kernwaffen
Kernwaffen erheblich zu reduzieren. Beide zwar erweiterte atomare Einsatzoptionen
Seiten zogen daraufhin Tausende nuklearer schaffen, aber nicht die nukleare Einsatz-
Waffen ab. schwelle senken. Vielmehr gelte es, mög-
Seit dem Georgienkrieg 2008 hat Russ- liche Gegner wie Russland, China, Iran und
land seine verbliebenen taktischen Kern- Nordkorea vor nuklearen und nichtnuklea-
waffenbestände modernisiert und Iskander- ren strategischen Angriffen gegen vitale
Kurzstreckenraketen im westlichen Militär- Interessen der USA, ihrer Alliierten und

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Partner abzuschrecken. Ziel ist auch, künf- Definition bleibt jedoch vage und stellt so
tige Bedrohungen einzuhegen, die noch die »negative« Sicherheitsgarantie in Frage.
nicht konkretisiert werden können. Daraus (5) Unscharf ist auch das erklärte Ziel,
lässt sich folgendes Abschreckungsverständ- mit atomaren Einsatzoptionen Vorsorge zu
nis der USA ableiten: treffen, um künftigen, noch nicht konkre-
(1) Die Zweitschlagfähigkeit der strate- ten Bedrohungen begegnen zu können. Die
gischen Kernwaffen (Triade) soll potente Rede ist von unerwarteten geopolitischen
Nuklearwaffenstaaten wie Russland und und technologischen Entwicklungen und
China, die ebenfalls über eine gesicherte Bündniskonstellationen oder »Ausbruchs-
nukleare Zweitschlagfähigkeit verfügen, szenarien«, welche die Nichtverbreitung
vor einem atomaren Erstschlag gegen das von Massenvernichtungswaffen gefährden.
Territorium der USA und ihr strategisches Gemäß NPR 18 können auch Cyberangriffe
Kernwaffenarsenal abschrecken. strategische Dimensionen annehmen.
(2) Eine glaubwürdige erweiterte Ab- Die Abschreckungsdoktrin der USA geht
schreckung zum Schutz von Alliierten und also weit über die Kernfunktion strategi-
Partnern soll potentielle Gegner von strate- scher Atomwaffen hinaus, nämlich die
gischen (konventionellen und nuklearen) gegenseitige Abschreckung der etablierten
Angriffen abhalten (pre-war deterrence). Falls Kernwaffenstaaten vor einem nuklearen
dies nicht gelingt, soll die Wirksamkeit der Erstschlag. Stattdessen lehnt sich die erwei-
Abschreckung durch selektive Atomschläge terte Abschreckung an das strategische
wiederhergestellt werden (intra-war deter- Konzept der Nato aus dem Kalten Krieg an.
rence). Dazu behalten sich die USA vor, als So suggeriert die NPR 18, ein Kernwaffen-
erste Kernwaffen einzusetzen, um ein Ende einsatz zum Schutz von Alliierten unterhalb
des Kriegs zu akzeptablen Bedingungen zu der Schwelle des strategischen Vernichtungs-
erzwingen. Die wesentliche Voraussetzung risikos sei möglich und kontrollierbar.
dafür ist die Eskalationsdominanz der USA. Dies erlaube es, einen Krieg zu erträglichen
(3) Das US-Abschreckungskonzept enthält Konditionen zu beenden.
auch nukleare Einsatzoptionen gegen ato- Daher muss der substrategische nukleare
mare Schwellenmächte wie Iran oder Staa- Ersteinsatz einerseits militärische Wirkung
ten wie Nordkorea, welche die Schwelle zur erzielen, um den Gegner zu überzeugen,
Atommacht de facto überschritten haben, dass er seine militärischen und politischen
aber (noch) nicht über eine gesicherte Zweit- Angriffsziele nicht erreichen kann (deterrence
schlagfähigkeit verfügen. Laut NPR 18 ist by denial). Andererseits muss er ihm erheb-
ein präventiver Entwaffnungsschlag zwar liche Schäden zufügen und so demonstrie-
nicht zwingend, aber auch nicht ausge- ren, dass eine weitere Eskalation mit untrag-
schlossen. Für den Fall eines strategischen baren Kosten und Risiken verbunden wäre,
Angriffs auf die USA oder ihre Verbündeten die in keinem vernünftigen Verhältnis zu
wird die Vernichtung der jeweiligen Regime- etwaigen taktischen Gewinnen ständen
führungen angedroht (tailored deterrence). (deterrence by punishment).
(4) Die NPR 18 bestätigt die erklärte Poli-
tik der USA, Nichtkernwaffenstaaten, die
ihre Verpflichtungen aus dem nuklearen Nukleare Eskalation? Das Dilemma
Nichtverbreitungsvertrag (NVV) erfüllen, der erweiterten Abschreckung
nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen zu Die nukleare Eskalationsdrohung richtet
bedrohen. Im Widerspruch dazu behält sich an einen Gegner, der rational handelt.
Washington sich aber Kernwaffenschläge Er soll erkennen, dass die USA und ihre
auch gegen Nichtkernwaffenstaaten vor, Bündnispartner über militärisch wirksame
wenn sie strategische Angriffe gegen die nukleare Einsatzoptionen verfügen und
USA oder ihre Verbündeten führen. Deren den politischen Willen aufbringen, zur Ver-
teidigung und Wiederherstellung der Ab-

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schreckung Kernwaffen tatsächlich einzu- niemals sicher genug sein wird, um auf
setzen. Damit stehen die Verantwortlichen Atomwaffen verzichten zu können. Dies
vor dem Dilemma, Kernwaffen einerseits widerspricht der Abrüstungsverpflichtung
als politische Waffen der Kriegsverhinde- gemäß Artikel VI des NVV.
rung zu begreifen, andererseits aber kon- Die Drohung mit nuklearer Eskalation
krete und militärisch wirksame nukleare gegenüber einer Atommacht, die ebenfalls
Einsatzoptionen vorbereiten zu müssen. über eine nukleare Zweitschlagfähigkeit
Der Realitätstest dieses Konzepts könnte und ein umfangreiches substrategisches
eintreten, wenn die Abschreckung vor Kernwaffenarsenal verfügt, war zwar schon
einem Krieg infolge von Fehleinschätzungen ein Kernelement der Nato-Strategie der
versagen sollte und nach einem Kriegsaus- flexiblen Reaktion im Kalten Krieg, aller-
bruch durch selektive nukleare Eskalation dings unter anderen strategischen Bedin-
wiederhergestellt werden müsste. Dieser gungen. Ihre logischen Brüche weckten
Fall wird in der NPR 18 ausdrücklich er- aber schon damals Zweifel an ihrer Glaub-
örtert. Dann stellte sich die Frage, unter würdigkeit, denn angesichts der gegen-
welchen Bedingungen eine Eskalation seitigen Vernichtungsfähigkeit wäre die
glaubwürdig angedroht und gegebenenfalls »strategische« Eskalation irrational, ihre
begrenzt werden könnte, um einen Angriff Androhung also unglaubwürdig. Es stellt
zu stoppen und den Krieg zu beenden. sich dann die Frage, wie eine »substrategi-
Die Antwort darauf kann sich nicht auf sche« Eskalation kontrolliert werden soll,
die militärische Wirksamkeit eigener Kern- wenn auch der Gegner »substrategisch«
waffeneinsätze beschränken. Vielmehr reagieren kann. Nicht nachvollziehbar ist
müssen die möglichen militärischen Reak- daher die offensichtliche Annahme ameri-
tionen des Gegners und die eigene Resilienz kanischer Nuklearplaner, dass präzise
gegenüber atomaren und konventionellen Kernwaffenschläge mit geringer Spreng-
Gegenschlägen ebenso bedacht werden wie kraft einerseits hohe militärische Wirkung
die humanitären Folgen, die Völkerrechts- erzielen und Kollateralschäden »erträglich«
konformität und die politischen Auswir- begrenzen, zugleich aber substrategische
kungen eines Ersteinsatzes. Gegenschläge verhindern können.
Selbst wenn der Gegner nicht über ein- Das Dilemma der »erweiterten Abschre-
satzbereite Atomwaffen verfügt oder keinen ckung« besteht darin, dass bei politischen
strategischen Zweitschlag gegen amerika- Entscheidungen über Kernwaffeneinsätze
nisches Territorium führen kann, könnten die vitalen nationalen Interessen der Kern-
regionale militärische Gegenschläge ver- waffenstaaten gegen die der Bündnispartner
heerende Folgen für die Bündnispartner abzuwägen sind. Die Drohung mit Atom-
haben. Um dies zu verhindern, wären um- waffeneinsatz ist nur dann glaubwürdig,
fangreiche konventionelle und vielleicht wenn seine absehbaren Folgen weder das
sogar nukleare Militäroperationen nötig, nationale Überleben der Kernwaffenstaaten
die unabsehbare humanitäre und politische noch das der Bündnispartner in Frage stel-
Risiken bergen. Ein Bruch des nuklearen len. So wie es im vitalen Sicherheitsinter-
Tabus würde desaströse Konsequenzen für esse der Kernwaffenstaaten liegt, »strategi-
die Autorität des Völkerrechts sowie die sche« Gegenschläge zu verhindern, so ist
Stabilität der internationalen Ordnung und es das Interesse der »Frontstaaten«, keine
seiner Allianzen heraufbeschwören. Atomschläge auf eigenem Territorium zu-
Schon die Androhung atomarer Erst- zulassen.
einsätze gegen nichtnukleare »strategische« Dabei kommt es weniger auf die Einord-
Angriffe stellt die Glaubwürdigkeit des NVV nung der verwendeten Waffen als »strate-
in Frage. Wer etwaige künftige Bedrohun- gisch« oder »substrategisch« oder auf ihre
gen mit atomaren Einsatzoptionen »ein- geographischen Abschusspositionen an,
hegen« will, geht davon aus, dass die Welt sondern auf die Auswahl der Ziele und Ziel-

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gebiete. Angriffe auf das Staatsgebiet eines Folgerungen und Empfehlungen
Kernwaffenstaates (»Sanktuarium«) oder Die Androhung unkalkulierbarer und un-
sein strategisches Atomwaffenpotential erträglicher nuklearer Eskalationsrisiken
müssen in jedem Fall vermieden werden. für potentielle Gegner blendet nicht nur
Die »nukleare Teilhabe« ändert nichts an die humanitären Folgen eigener Kern-
den vitalen Sicherheitsinteressen der Kern- waffenschläge in den Zielgebieten aus. Sie
waffenbesitzer. Ein Atomwaffenstaat wird vernachlässigt auch die militärischen und
einen Nuklearschlag gegen sein Sanktuari- zivilen Risiken etwaiger nuklearer Gegen-
um nicht deshalb unbeantwortet lassen, schläge. Spätestens hier endet alle Planung
weil die amerikanische Bombe von einem einer angeblich kontrollierbaren Eskala-
deutschen Piloten ins Ziel geflogen wurde. tion. An diesem Punkt beginnt das Prinzip
Im Zweifel dominiert das nationale Inter- Hoffnung auf eine politisch wirksame Ab-
esse desjenigen Staates, der die Verfügungs- schreckung durch Androhung von Atom-
gewalt über Atomwaffen hat und allein be- schlägen, deren katastrophale Konsequen-
© Stiftung Wissenschaft und fugt ist, sie für Einsätze freizugeben. Diese zen sich der Berechenbarkeit entziehen.
Politik, 2018 Verantwortung ist unteilbar und kann Fragwürdig erscheint daher die These
Alle Rechte vorbehalten
nicht übertragen werden. von der transatlantischen Bindekraft sub-
Das Aktuell gibt die Auf- Somit bleiben Eskalationsoptionen strategischer Kernwaffen, die in Europa
fassung des Autors wieder. übrig, die sich gegen das nichtstrategische stationiert sind. Auch US-Präsidenten, die
In der Online-Version dieser Militärpotential des Angreifers richten, die Devise »America first« verbindlicher
Publikation sind Verweise auf sofern es außerhalb des Sanktuariums formulieren, werden keine Kernwaffen-
andere SWP-Schriften und
wichtige Quellen anklickbar. positioniert ist. Um einen Angriff zu Lande einsätze freigeben, die das Überleben der
zu stoppen, müssten amerikanische Kern- amerikanischen Nation gefährden. Dies
SWP-Aktuells werden intern
einem Begutachtungsverfah- waffen auf dem Gefechtsfeld eingesetzt lässt nur Einsätze unterhalb einer strate-
ren, einem Faktencheck und werden, also dem Territorium von Alliier- gischen Eskalation zu, die zu Lasten von
einem Lektorat unterzogen.
Weitere Informationen
ten oder Drittstaaten, das der Gegner als »Frontstaaten« gehen. Dennoch gehört der
zur Qualitätssicherung der Aufmarschglacis nutzt. Offenbar halten die Glaube an die abschreckende Wirkung der
SWP finden Sie auf der SWP‐ Autoren der NPR 18 solche Einsatzoptionen Drohung mit nuklearer Eskalation und der
Website unter https://www.
swp-berlin.org/ueber-uns/ für realistisch, sowohl für substrategische nuklearen Teilhabe zur politischen Realität.
qualitaetssicherung/ Kernwaffen als auch für Systeme der strate- Letztere gilt gerade in der Krise als Ausweis
Stiftung Wissenschaft und gischen Triade. Jedenfalls ist in der NPR 18 der Bündnissolidarität.
Politik die Rede von Gefechtsköpfen mit hoher Diesem Anspruch kann sich die Bundes-
Deutsches Institut für
Internationale Politik und Treffgenauigkeit und niedriger Sprengkraft regierung in der derzeitigen Lage nicht ent-
Sicherheit für SLBM, SLCM und Bomben. ziehen. Sie sollte aber der Illusion entgegen-
Ludwigkirchplatz 3­4
Die Vorbereitung vermeintlich kontrol- treten, dass die Modernisierung des Kern-
10719 Berlin lierbarer substrategischer Kernwaffen- waffenarsenals der USA atomare Kriege
Telefon +49 30 880 07-0 schläge birgt die Gefahr, dass ein begrenz- »führbar« machen wird. Zugleich sollte die
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org ter Kernwaffenkrieg »führbar« erscheinen Bundesregierung eine nüchterne Diskus-
swp@swp-berlin.org könnte. Dies könnte in einer Krise zu sion über die Nukleardoktrin der Allianz
ISSN 1611-6364 irreversiblen Fehlentscheidungen verleiten. anregen und darauf drängen, mit Hilfe von
Dann wäre es nur noch eine rhetorische Dialog und Rüstungskontrolle die Gefahr
Frage, wie viele »substrategische« Kernwaf- einer nuklearen Eskalation einzuhegen.
Lektüreempfehlung fenschläge ein »Frontstaat« überleben kann Dies ist umso dringlicher, als auch Russ-
Oliver Meier – sei es durch Bomben mit einer Spreng- land die Rolle nuklearer Ersteinsätze in
Zuspitzung im Streit um den kraft wie in Hiroshima, sei es durch minia- seiner Militärdoktrin aufgewertet hat.
INF-Vertrag. USA werfen Russland
turisierte Sprengköpfe, die immerhin noch
die Stationierung neuer nuklearer
Mittelstreckenwaffen vor ein Vielfaches der Strahlung von Tscherno-
SWP-Aktuell 32/2017 byl freisetzen.

SWP-Aktuell 15
März 2018

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