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Die Phänomenologie
als radikaler Empirismus1
Vittorio De Palma
Università degli Studi di Urbino „Carlo Bo“
Abstract: This paper tries to show that Husserl’s phenomenology can be consid-
ered as a form of radical empiricism in the sense of James, since it holds—like tra-
ditional empiricism—that sensuous experience is the foundation and the source
of justification of knowledge, but—in contrast with traditional empiricism—it
holds that there are relations, which are given in the sensuous experience just as
well contents. Reality is sensuous and the structure of reality is equally sensuous.
By an analysis of the concepts of the sensuous relation, of the material a priori,
and of association, it is showed that Husserl—in contrast with transcendental-
ism—confers a normative role to the peculiarity of sensuous contents, which
determines their objective connections and also the structure of the world before
the intellectual activities of the subject. At the same time, it is pointed out that
Husserl has never entirely gotten over the Cartesian psychologism of Brentano
and of traditional empiricism, that leads him to consider only the immanent as
properly present. Finally, the paper discusses Husserl’s concept of the life-world,
which originates from Avenarius’ idea of the natural concept of the world, and
his position regarding the relation between experience and science.
Keywords: Husserl, Phenomenology, Empiricism, Experience, Sensuousness.
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In den Vorlesungen der 1920er Jahren hat Husserl seine Stellung gegenüber
dem Empirismus ausgedrückt, der nach ihm fruchtbarer als der Rationalis-
mus ist. Ein Denken, das sich im rein Formalen bzw. in apriorischer Abstrak-
tion bewegt, ohne beständig auf die Erfahrung zurückzublicken, hält Husserl
für bodenlos (Hua XXXII, 239). Den Scheinevidenzen der formalen Konst-
ruktionen stellt er die phänomenologische Fundamentierung gegenüber, die
auf die intuitiven Ursprünge der Abstraktionen zurückgeht (ebd., 90). Dem
spekulativen Philosophieren von oben her, das sich im reinen Denken bewegt,
stellt er seinen Intuitionismus gegenüber (Hua XXXV, 291), der mit überna-
türlichen Erleuchtungen, geheimnisvollen intellektuellen Anschauungen oder
unerhörten geistigen Kräften nichts zu tun hat, sondern nur besagt, „dass ich
verlässlich nur urteile, wo ich, was ich meine, auch selbst ausweisen und auf-
weisen kann, und letzte Aufweisung ist Sehen oder etwas dem gewöhnlichen
Sehen genau Analoges“ (ebd., 288). Husserl übernimmt demgemäß die intui-
tionistische bzw. empiristische Methode des Rückgangs auf die Urquellen der
Anschauung, d.h. auf die phänomenologischen Ursprünge aller Erkenntnis,
und vertritt, dass der Rationalismus es nicht versteht, dem Empirismus wirk-
lich Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, und den hinter seinen skeptischen
Verkehrtheiten liegenden bedeutsamen Wesenskern nicht erfasst (Hua VII,
146, 182). Während also in der psychologischen Methode des Empirismus
die Neigung zu einer phänomenologischen Methode hervortritt, liegt in der
rationalistischen Methode keine Tendenz auf eine immanente Methode (ebd.,
187). Denn die Rationalisten gehen „rein begrifflich“ vor (Hua XXXVII, 198)
und „konstruieren von oben her in so genannten transzendentalen Methoden
Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Geltung“ (ebd., 197). Dasselbe
gilt für Kant, dessen Deduktion „ein Musterstück einer transzendentalen Be-
weisführung von oben her“ ist und sich von allen phänomenologischen Ana-
lysen fernhält (ebd., 212). Die phänomenologische Methode ist der Methode
der englischen Empiristen eng verwandt und von der Kantischen Methode
ganz verschieden (Hua VII, 382).
Dem Empirismus wirft Husserl vor, nicht radikal und konsequent in der
Durchführung seines Programms gewesen zu sein, da er an seinem Prinzip,
nichts auszusagen, was nicht aus der Anschauung geschöpft ist, und immer
auf Erfahrung bzw. auf selbsterfassendes Erschauen zurückzugehen, nicht
festhielt (ebd., 136). Der historische Empirismus ist nämlich „ein unklarer
und halber Intuitionismus“ (Hua XXXV, 290f.), der unfähig ist, Erfahrung zu
klären (ebd., 289). Die Phänomenologie hat vor, das empiristische Programm
zu verwirklichen, indem sie „dem empirischen Intuitionismus als Intuitionis-
mus zu seinem wahren Rechte verhilft und somit den Empirismus gleichsam
gegen ihn selbst verteidigt“ bzw. „aus dem Scheinempirismus den wahren und
echten Empirismus herauspräpariert“ (Hua VII, 147f.).
Husserl versucht zwar, das rationalistische Motiv der Begründung der Er-
kenntnis durch notwendige Prinzipien bzw. apriorische Wesensgesetze und
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Vgl. Hua XXXV, 289; Hua XXXVII, 178, 195, 434; Hua VII, 148, 149, 182; Hua XXIV,
219; Hua XXXIV, 241.
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einerseits und dem daran geübten Denken und den darin sich bildenden Ge-
danken andererseits unterscheiden (Hua IX, 57).
Husserls Theorie der kategorialen Anschauung nimmt ihren Ausgang
gerade von hier, d.h. von einer Frage, die aus einem empiristischen Ansatz
entspringt: Wie können Satzbestandteile sich erfüllen, denen nichts in der
sinnlichen Wahrnehmung entsprechen kann? Solche Theorie kommt zum
Ergebnis, dass die kategoriale Anschauung wesensmäßig auf der sinnlichen
fundiert ist (Hua XIX, 672) und dass ein Verstand ohne Sinnlichkeit ein Wi-
dersinn ist (ebd., 712f.). Die kategoriale Anschauung ist keine Anschauung
einer sachlichen Form des Gegebenen (ebd., 665ff., 714ff.) und das Logische
hat keine reale Bedeutung (ebd., 729). Also, wie Husserl in einem Text von
1918 erklärt, ist die kategoriale Anschauung keine eigentliche Anschauung,
insofern sie formale Wesen betrifft und diese „unanschaulich“ bzw. „nicht
anschaulich erfassbar“ sind: Im engeren Sinn gibt es Anschauung nur von
Individuen und Wesensanschauung nur von einer ganz bestimmten „Klasse
von Eide, die eidetische Allgemeinheiten zu den individuellen Vorstellungsin-
halten (Anschaubarkeiten) darstellen“ (Hua XLI, 160).
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Vgl. V. De Palma, „Ist Husserls Phänomenologie ein transzendentaler Idealismus?“, in:
Husserl Studies 21 (2005), S. 183-206. Vgl. auch das Zeugnis von Patočka: „Husserl und Fink
waren damals [1933] vor allem mit der Problematik der phänomenologischen Reduktion
beschäftigt als Schlüssel zum phänomenologischen Idealismus. Fink war darauf aus, diesen
Idealismus als einen kreativen zu interpretieren und die Analogien zum deutschen Idealismus
hervorzuheben […], während Husserl selbst nie aufgehörte, auf die Bedeutung des englischen
Empirismus hinzuweisen […]“ (J. Patočka, Texte – Dokumente – Bibliographie, hg. von L. Ha-
gedorn und H.R. Sepp, Freiburg/München: Alber, 1999, S. 275f.).
4
Vgl. F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. I, Leipzig: Meiner, 21924,
S. 28.
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Reale ist das Korrelat einer möglichen sinnlichen Erfahrung, d.h. das, was ei-
nem leiblichen Subjekt in sinnlichen Akten gegeben sein kann (Hua XXXVI,
132ff.).5 Zentauren, Dinge an sich, Atome, Götter, Zahlen und logische For-
men sind nicht real. Sinnliche Gegenstände und Formen sind es.
Es gibt keine andere an sich seiende Welt als die uns erscheinende und
deren An-sich in uns Sinn und Geltung gewinnt. Die Natur an sich bzw. das
wahre Sein der Dinge ist nämlich ihre Selbstgegebenheit, nicht ein Jenseits der
möglichen Erfahrung, d.h. ein Zweites neben dem bloß intentionalen Sein
(ebd., 67f.; Hua XXXV, 276f.). „Dem Sein an sich des Dinges ein prinzipiell
unerfahrbares Sein zu substruieren, ist Unsinn“ (Hua XXXVI, 32). An sich ist
demgemäß nicht das, was sich der Erfahrung entzieht, sondern das, was nur
in Beziehung auf sie Sinn hat, da es sich als von der augenblicklichen Wahr-
nehmung unabhängig in der Wahrnehmung selbst erweist, d.h. das, dessen
esse sich nicht im percipi erschöpft, da es existiert, auch wenn es nicht aktuell
erfahren ist, und in getrennten Wahrnehmungen als dasselbe wahrgenommen
werden kann.6 Der Begriff der Transzendenz des Dinglichen ist nämlich nur
aus dem Wesensgehalt der Wahrnehmung zu schöpfen (Hua III, 101).
Der reale Gegenstand ist vom jeweiligen Gegebensein, aber nicht vom Ge-
gebensein überhaupt, von den einzelnen faktischen Erscheinungen, aber nicht
vom möglichen Erscheinen unabhängig. Denn jede Gegenständlichkeit „ist,
was sie ist, ob erkannt wird oder nicht“, sie ist doch „prinzipiell erkennbar,
auch wenn sie faktisch nie erkannt worden ist und erkennbar sein wird“ (Hua
II, 25). Das unerfahrene wirkliche Ding hat den Sinn einer „Potenz“, denn
prinzipiell kann ich erfahrend fortschreiten und dazu kommen, das Ding ak-
tuell zu erfahren (Hua XXXV, 278). Die Existenz von etwas ist also mit der
Möglichkeit äquivalent, diese Existenz auszuweisen bzw. dieses Etwas zu er-
fahren.7 Unerfahrbar ist die Chimäre, nicht das Reale. Gerade als wirklich ist
das wirkliche Ding prinzipiell wahrnehmbar, wenngleich faktisch nicht wahr-
genommen, es ist da als Gegenstand von möglichen, durch die aktuellen mo-
tivierten, wenngleich nicht faktisch realisierbaren Wahrnehmungen: Eine die-
ses prinzipiellen Zusammenhanges mit der aktuellen Wahrnehmung erman-
gelnde Transzendenz ist ein Widersinn (Hua III, 95f.). Da es „seinen Gehalt
möglicher Erfahrungen hat als Sein-an-sich“ (Hua XXXII, 63), liegt das wirk-
liche Ding in einem möglichen Wahrnehmungsfeld, auch wenn es nicht aktu-
ell erfahren wird: seine Existenz hat einen Zusammenhang mit der aktuellen
Wahrnehmung und kann nur aus dieser rechtfertigt werden (Hua XXXVI,
115). Der reale Gegenstand ist also ein möglicher Gegenstand sinnlicher Er-
fahrung und darüber hinaus ein Nichts. Die wirkliche Welt ist Korrelat eines
5
Die Rede von einem leiblichen Subjekt ist streng genommen ein Pleonasmus, denn „zum
geistigen ,Menschen‘ gehört formal notwendig ein Leib, ein Organismus, der sein System von
Wahrnehmungsorganen hat“ (Hua XIV, 136).
6
Vgl. Hua III, 103f.; Ms. B IV 1/72b, 89a, 91a, 101a.
7
Vgl. Hua XXXVI, 15f., 54, 73, 114f., 117, 132, 138ff., 146.
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wirklichen und nicht nur möglichen Subjekts, weil dieses eine Abwandlung
jenes ist bzw. weil „reine Möglichkeiten und apriorische Notwendigkeiten
und auch ein mögliches Ich als Subjekt möglicher Erkenntnis nur in Bezie-
hung zu <einem> wirklichen Ich denkbar sind“ (Hua XXXV, 279).
Da Wirklichkeit wesensmäßig empirisch bzw. sinnlich ist, ist die Unbe-
stimmtheit eine unaufhebbare ontologische Eigenheit von ihr, nicht eine
epistemologische Eigenheit unserer Erkenntnis. Sinnliche Erfahrung ist die
einzig mögliche Gegebenheitsweise der sinnlichen Gegenstände und ihre
Unvollkommenheit bzw. Angewiesenheit auf weiterer Erfahrung ist eine im
Wesen jener Gegenstände gegründete und für jedes mögliche Subjekt gelten-
de Wesensnotwendigkeit. Prinzipiell kann die Geltung jeder Erfahrung von
weiterer Erfahrung korrigiert werden und jede Korrektur lässt selbst wieder
die Möglichkeit weiterer Korrekturen offen. Die Möglichkeit, eine endgül-
tige Gewissheit über die realen Gegenstände zu gewinnen, ist also durch die
ontologische Eigenart solcher Gegenstände ausgeschlossen. Daraus ergibt sich
die Widersinnigkeit des Gedankens einer nicht empirischen, sondern „wirk-
lichen Wirklichkeit“, der den phänomenologischen Realismus kennzeichnet
und einen Rückfall in den Cartesianismus bzw. in die Bildertheorie darstellt.
8
Vgl. I. Kern, Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft,
Berlin: De Gruyter, 1975, S. 250ff., 432ff.
9
Vgl. E. Holenstein, Phänomenologie der Assoziation. Zu Struktur und Funktion eines
Grundprinzips der passiven Genesis bei E. Husserl, Den Haag: Nijhoff, 1972, S. 86ff., 101ff.
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Vgl. H. Philipse, „Transcendental idealism“, in: B. Smith and D. W. Smith (eds.), The
Cambridge Companion to Husserl, Cambridge: Cambridge University Press, 1995, S. 299f. Ge-
gen Philipse ist doch hervorzuheben, dass die Ablehnung eines nichtsinnlichen Dinges an sich
und die These der Immanenz der sinnlichen Inhalte voneinander unabhängig sind und dass nur
letztere zur Auflösung der Welt in das Bewusstsein führt.
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Husserl teilt solche Grundpostulate und lehnt in der Tat die Voraussetzun-
gen des Transzendentalismus ab. Denn er teilt Humes Gedanken der Rück-
führung der Ideen auf die Impressionen (Hua XLI, 51; Hua XIII, 349) und
vertritt, dass die Worte „Ding“ und „Vorgang“ keinen Sinn für mich haben
könnten, wenn Erfahrung mir Dinge und Vorgänge nicht gegeben hätte (Hua
XXXV, 474f.). Demgemäß verweigert er Kants regressive Methode und über-
nimmt Lockes Gedanken einer empirischen Folgerung: Die materialen Kate-
gorien, denen die Welt ihre Struktur verdankt, sind nicht aus einem Prinzip
abzuleiten, sondern in der Erfahrung selbst zu finden.13 Die Bedingungen
11
Vgl. R. Ingarden, „Edmund Husserl: Zum 100. Geburtstag“, in: Gesammelte Werke, Bd.
V: Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls, Tübingen: Mohr, 1998, S. 272f.; H. L. van
Breda, „Husserl und das Problem der Freiheit“, in: H. Noack (Hg.), Husserl, Darmstadt: Wis-
senschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 281.
12
F. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und For-
malismus, Frankfurt: Suhrkamp, 1968, S. 21.
13
Vgl. Hua V, 25; Hua VII, 97 ff.; Hua XXXV, 289; V. De Palma, „Die Kategorien des
Sinnlichen. Zu Husserls Kategorienlehre“, in: Phänomenologische Forschungen 2010, S. 32ff.
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der Möglichkeit der Erfahrung sind also der Erfahrung selbst immanent.
Das Apriori wird nicht von Außen in die Erfahrung hineingelegt, sondern
liegt in ihr, sonst könnte die Erfahrung keine sachliche Struktur besitzen. Die
Struktur der Erfahrung hängt nämlich von den faktisch gegebenen sinnlichen
Wesensinhalten ab. Das Sinnliche kann kategorial bestimmt werden, nur in-
sofern es eine Gesetzmäßigkeit hat, bevor es im Urteil durch logische Formen
erfasst wird. Die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung stammt nicht von logischen
bzw. urteilsmäßigen Verstandsformen her, die den Gegenständen keine sachli-
che Form verleihen, sondern von sachlichen bzw. sinnlichen Formen.14
Der radikale Empirismus lehnt das klassische empiristische und von Kant
geteilte Dogma ab, dass die Ordnung der Wahrnehmungen nicht wieder
wahrgenommen bzw. erfahren werden kann. In „A world of pure experience“
(1904) schreibt William James:
– Ganz falsch ist Lufts Vermutung, dass Husserl von einer Geschichte des Bewusstseins „mit
Blick auf den Deutschen Idealismus“ spricht (S. Luft, „Faktizität und Geschichtlichkeit als
Konstituentien der Lebenswelt in Husserls Spätphilosophie“, in: Phänomenologische Forschun-
gen 2005, S. 19). Husserl spricht von einer Geschichte des Bewusstseins mit Blick auf den
Empirismus, und zwar auf Locke (Hua V, 129; Hua VII, 97).
14
Vgl. V. De Palma, „Die Syntax der Erfahrung. Zu den sachhaltigen Voraussetzungen des
Logischen und des Sprachlichen“, in: F. Mattens (Hg.), Meaning and Language. Phenomenolo-
gical Perspectives, Dordrecht: Kluwer, 2008, S. 141ff.
15
Solcher Gedanke macht den Kern der Transzendentalphilosophie aus. Vgl. G. Martin,
Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin: De Gruyter, 21969, S. 115ff.
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nicht auf unzusammenhängende sinnliche Anschauungen in der Selbstgege-
benheit verteilt haben, wie das für Mengenganzes sehr wohl möglich ist (Hua
XXXI, 101).
Stumpf vertritt gegen Kant, dass das Sinnliche maßgebend ist, da die
Grundlagen der sinnlichen Synthesen im gegebenen Stoff liegen.16 Husserl
teilt das Prinzip der Maßgeblichkeit des Sinnlichen. In der Philosophie der
Arithmetik kritisiert er Kants Auffassung der Synthesis als Ergebnis des Ver-
standes, da „viele inhaltliche Verbindungen uns gegeben sind, bei denen von
einer synthetischen, die inhaltliche Verbundenheit schaffenden Tätigkeit
nichts zu merken ist“ (Hua XII, 41). Er stellt also den formalen Relationen,
die von subjektiven Akten gestiftet werden, die inhaltlichen Relationen ge-
genüber, die auf den Inhalten beruhen und genauso wie letztere vor jedem
Verbindungsakt gegeben sind: die Ähnlichkeitsverhältnisse, die Verschmel-
zungen, die Konfigurationen, die Verbindung von Farbe und Ausdehnung.
Nicht alle Relationen sind demzufolge bloße Gedankendinge. Dasselbe wird
in den Logischen Untersuchungen vertreten. Insofern sie an der besonderen Na-
tur der fundierenden Inhalte hängen, sind die sinnlichen Formen (Ähnlich-
keit, Steigerung, Verschmelzung usw.) – im Gegensatz zu den kategorialen,
die durch Verstandestätigkeit erzeugt werden – „sachlich“ (Hua XIX, 666)
und ergeben eine „sachliche Einheit“ (ebd., 290), die an sich einheitlich ist
und genauso wie ein Inhalt gegeben ist (ebd., 715).
An diesem Ansatz wird Husserl immer festhalten. Inhaltliche Zusammen-
hänge werden nicht vom Subjekt gestiftet, sondern sind mit den Inhalten
gegeben und hängen an ihnen. Auch nach der transzendentalen Wende ist das
Prinzip der Weltkonstitution nicht die Subjektivität, sondern die Besonder-
heit der sinnlichen Inhalte. Deshalb formuliert Husserl die Hypothese, dass
das Bewusstsein vollständig ausgestattet sein könnte, um vernünftig erkennen
zu können, aber sein faktischer Inhalt nicht rationalisierbar sei, d.h. dass „ein
,sinnloses Gewühl‘ da ist, das in sich keine Natur zu erkennen gestattet“ (Ms.
D 13 II/200b; Ms. B IV 1/97f.). Denn Erfahrung könnte sich aufgrund von
„nicht nur für uns, sondern an sich unausgleichbaren Widerstreiten […] ge-
gen die Zumutung, ihre Dingsetzungen einstimmig durchzuhalten, wider-
spenstig“ zeigen (Hua III, 103f.). Bedingung der Möglichkeit der Konsti-
tution ist also nicht nur, dass die Subjektivität fähig ist, eine Apperzeption
in ihren Akten zu konstituieren, sondern auch, dass die Inhalte es sachlich
zulassen. Welt und Gegenstände sind zwar das Korrelat bestimmter subjek-
tiver Akte, sie konstituieren sich nur, wenn die Erscheinungen sich in einer
bestimmten Weise im Bewusstsein verknüpfen. Damit aber das Bewusstsein
Welt und Gegenstände in seinen Akten fassen kann, müssen die faktisch gege-
benen Inhalte eine Gesetzlichkeit an sich besitzen. Denn das Bewusstsein – ob
16
Vgl. C. Stumpf, „Psychologie und Erkenntnistheorie“, in: Abhandlungen der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, I Kl. XIX Bd. II Abt. (1891), S. 479.
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6. Das Apriori ist nach Husserl eine relation of ideas, da es im Wesen der
betreffenden Inhalte gründet und unabhängig von der Subjektivität gilt. Beim
Apriori geht es nämlich um Relationen, die „mit den ,Ideen‘ notwendig ge-
setzt sind“ (Hua VII, 359), denn „wo die Ideen gegeben, da auch die Relation,
in ewig unveränderlicher Weise“ (Hua XXIV, 341).
Je nachdem ob die betreffenden Wesen bzw. Kategorien formal (Gegen-
stand, Beziehung usw.) oder material (Farbe, Ton, Ding usw.) sind, sind die
apriorischen Gesetze analytisch oder synthetisch. Das Apriori ist nicht nur
formal-analytisch, sondern auch material-synthetisch, gerade weil apriorische
Gesetze bestehen, die inhaltlich bestimmt sind (Hua XIX, 254), insofern
sie in der wesentlichen Besonderheit der sinnlichen Gehalte bzw. in sinnli-
chen Vorstellungen gründen (ebd., 255, 257; Hua XXVIII, 403). Da solche
17
Vgl. E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: De Gruyter,
1967, S. 173ff., 199, 212, 216ff.
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Gesetze (wie z.B.: Es gibt keine Farbe ohne Ausdehnung, keinen Ton ohne
Lautstärke) vom sinnlichen Wesensinhalt stammen und mit ihm wechseln,
kann jedes von ihnen nur erfasst werden, insofern das entsprechende materia-
le Wesen durch seine Vereinzelungen sinnlich vorgegeben ist. So sind z.B. die
Wesensgesetze der Farbe nicht erkennbar, es sei denn, dass eine individuelle
Farbe sinnlich erfahren wird, d.h. dass eine Farbempfindung stattfindet (Hua
XXXVI, 147f.). Die Phantasie, die als Ursprungstätte des Apriori gilt,18 ist von
der faktischen Erfahrung abhängig, die ihr erst den Stoff liefert (Hua XXXII,
68). Das materiale Apriori ist „kontingent“ (Hua XVII, 32ff., 379ff.) oder
„affektiv“, gerade weil „nur solche Subjekte es erwerben können, die Exempel
dafür haben, und diese stammen aus der Affektion“ (Hua XLI, 101). „Die
Fakta leiten alle Eidetik“ (Ms. B III 10/8b). Jede Realität hat apriorisch-ideale
Wesensstrukturen, aber Wesensstrukturen sind nur durch ihre faktisch-empi-
rischen Vereinzelungen gegeben. Ideale Möglichkeiten (Wesen) können nur
aus der faktischen Wirklichkeit (Tatsache) erkannt werden, es könnte ja keine
Möglichkeit bestehen, wenn keine Wirklichkeit bestünde. Ganz empiristisch
sagt Husserl: „Realität hat einen Seinsvorzug vor jedweder Irrealität, sofern alle
Irrealitäten wesensmäßig auf wirkliche oder mögliche Realität zurückbezogen
sind“ (Hua XVII, 177).
Dem Begriff des materialen Apriori liegen also zwei antitranszendentalis-
tische Gedanken Humes zugrunde: der von relation of ideas und der von der
Rückführung jeder idea auf eine entsprechende impression. Als Ideenrelation
entspringt das nicht-formale Apriori nicht aus der Subjektivität bzw. aus ihren
Formen und Leistungen, sondern aus den gegebenen sinnlichen Wesensinhal-
ten. Kant hat nicht eingesehen, dass Sinnlichkeit kein Reich bloßer Faktizität
ist, da Wesensgesetze in ihr durchaus walten. Deshalb hat er
nie den echten Begriff des Apriori […] erfasst, obschon bereits Hume, wenn-
gleich in sensualistischer Verkleidung, diesem Begriff mit seinen Relationen
zwischen Ideen nahe gekommen und mit seinem Prinzip der Rückführung
aller Erkenntnis auf „Impressionen“ den Weg aller Ursprungsforschung ange-
deutet hatte (Hua XXXVII, 224).
Hier wie anderswo kritisiert Husserl Kants Philosophie, die nach Hegel zu
empiristisch ist, weil sie zu wenig empiristisch ist.
Husserl betrachtet die Möglichkeit analytischer Urteile als „das schwieri-
gere Problem“ – wie er im Brief an F. Kaufmann vom 27.III.1923 erklärt –
gerade aufgrund seines empiristischen Ansatzes. Analytische Urteile – im Ge-
gensatz zu den sachhaltigen – scheinen ihm fraglich, da sie für Gegenstände
überhaupt bzw. für jeden möglichen Inhalt unabhängig von seiner sachlichen
Besonderheit gelten und keine einsichtige Ausweisung in der exemplarischen
18
Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg: Meiner, 41972, S. 454; Hua III, 148;
Hua IX, 72.
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Intuition haben (Hua XXXV, 445f., 467). Was an dem analytischen Apriori
Husserl in Verlegenheit bringt, ist, dass ihm keine Impression zugrunde liegt.
19
Zu einer ausführlicheren Darstellung von Husserls Assoziationstheorie vgl. V. De Palma,
„Ist Husserls Assoziationstheorie transzendental?“, in: Phänomenologische Forschungen 2011, S.
91–115.
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Hume hat gezeigt, dass die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung eine Gesetzmä-
ßigkeit der Erwartung ist, da der in der vergangenen Erfahrung gegründete
Vorgriff durch die gegenwärtige Erfahrung hindurchgeht. Wie rechtfertigen
sich die Schlüsse der künftigen Ereignisse? Was für einen Rechtsgrund haben
die allgemeinen Erfahrungsurteile, wenn uns die Erfahrung nur eine endliche
Zahl von Fällen liefern kann, wenn sie also höchstens verbürgt, dass es bisher
immer so war (d.h. dass unter gewissen Umständen immer gewisse Ereignisse
geschahen), aber nicht, dass es immer so sein wird? Obwohl das Recht der
empirischen Urteile immer relativ ist, steht das Gewicht des Glaubens unter
apriorischen Gesetzen, die Hume gesehen, aber psychologisch missverstanden
hat. Denn dabei „ist gar keine Rede von dem Geiste des Menschen und von
den Wirkungen, die er auf Grund der empirisch-psychologischen Gesetzmä-
ßigkeiten erfährt“ (Hua XXIV, 354), da „die auf Erfahrung sich gründenden
Vermutungen unter Prinzipien stehen, die selbst den Charakter von Relatio-
nen zwischen Ideen haben“ (ebd., 352). So wird es möglich, das empiristische
Problem der Genesis aus eidetischer Sicht zu übernehmen und zu zeigen, dass
Erfahrung aus Erfahrung nach Wesensgesetzen entspringt. Das Erfahrungsgewicht
einer empirischen Aussage ist umso größer, je größer die Zahl der früher er-
fahrenen Fälle ist. Die Rechtskraft der Erwartung wächst also mit der Ge-
wohnheit (Hua XI, 188, 190; Hua XXXII, 256). Würde aber in der Koexis-
tenz und Sukzession der Erscheinungen keine sachliche Gesetzmäßigkeit lie-
gen, so könnte sich keine Erwartung, keine Assoziation, keine Habitualität,
keine Apperzeption, also keine Welt konstituieren. Gewohnheit ist zwar, wie
Hume zu Recht meint, „die die Welt, ja alle Objektivität überhaupt gestalten-
de und beständig fortgestaltende Bewusstseinsfunktion“ bzw. „die Urquelle
aller objektiven Sinngebung“, aber eben darum ist sie nicht, wie Hume zu
Unrecht meint, ein „,Mechanismus’ blinder Assoziation“ (Hua XXXII, 146).
Hume verfällt dem den klassischen Empirismus auszeichnenden Zirkel, in-
dem er Assoziation bzw. Gewohnheit durch Ähnlichkeit und Ähnlichkeit
selbst wieder durch Assoziation bzw. Gewohnheit begründet. Damit sich eine
Gewohnheit konstituieren kann, braucht sie sozusagen einen sachlichen Halt,
es muss also eine Gesetzmäßigkeit in den Erscheinungen selbst liegen. Nicht
die Gewohnheit erzeugt die Gesetzmäßigkeit, sondern es ist im Gegenteil die
Gesetzmäßigkeit, die erst die Gewohnheit ermöglicht. Die letzten Prinzipien
aller Induktionen sind nicht selbst wieder durch Induktionen zu begründen
(Hua VII, 172).
Die Bildung der Erwartung, die apperzeptiv wirkend der Erfahrung eine
Struktur verleiht, untersteht also einer sachlich-apriorischen Gesetzlichkeit.
Die ursprüngliche Form der Motivation, in der Ähnliches an Ähnliches er-
innert bzw. es erweckt und dessen Setzung in der Koexistenz und Sukzessi-
on motiviert, ist „eine ursprüngliche Vernunftform“, ohne die es unmöglich
wäre, eine Erfahrungstheorie zu begründen: Die Erwartung hat einen ver-
nünftigen Grund in der vorangegangenen Erfahrung bzw. in der Erinnerung,
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da man etwas nur erwarten kann, wenn die Umstände es motivieren, d.h. nur
vermöge einer analogischen Auffassung, die den Grund des propter auf ein post
zurückführt (Hua XIII, 356f.).
Eine Antizipation kann sich einstellen, nur wenn die faktisch gegebenen
Dinge eine Natur bzw. einen regelmäßigen Stil des Verhaltens haben. Die
Welt ist eben „nur in der beständig vorgezeichneten Präsumtion, dass die
Erfahrung im gleichen konstitutiven Stil beständig fortlaufen werde“ (Hua
XVII, 258). Auflösung der Welt ist demzufolge mit Aufhebung des Vorgriffs
(d.h. dessen Möglichkeit oder Motivation) äquivalent. Die Annahme der
Weltvernichtung beruht gerade auf der Möglichkeit, dass der Erfahrungsstil
seine Einstimmigkeit einbüßt, weil das Gegebene beständig mit dem weiteren
Lauf der Wahrnehmung in Widerstreit kommt, d.h. auf der Möglichkeit, dass
die Antizipation der zukünftigen Einstimmigkeit in infinitum ungültig wird,
da die Erwartungen nicht mehr bestätigt, sondern immerfort enttäuscht wer-
den, und ihre Motivation verlieren, so dass man nichts mehr erwartet (Hua
III, 103f., 497; Hua VIII, 48f.). In diesem Falle gäbe es immer noch das
Bewusstsein einer Koexistenz und Sukzession von Daten, doch wäre eine Bil-
dung von Apperzeptionen unmöglich, da diese Daten sachlich zusammen-
hangslos wären. Die Auflösung der Welt heißt eben nichts anderes als die
Auflösung des sachlichen Grunds der Assoziation, der die Konstitution von
festen Erfahrungszusammenhängen ermöglicht.
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 347
Ähnlichkeit, die erst Zusammenhang schafft (ebd., 185, 285, 399). Die Af-
fektion hat also eine inhaltliche Gebundenheit, da ihr Zustandekommen an die
Homogenität der Daten gebunden ist (ebd., 151, 164, 175, 179). „Was ,sach-
lich‘ sozusagen ohne Ichbeteiligung eins ist […], das übt auch eine Affektion“
(Hua Mat VIII, 195).
Die vom Ich ausgehenden und auf Gegenstände gerichteten Akte sind
durch vom Gegebenen ausgehende und auf das Ich gerichtete Affektionen
motiviert20 und die Affektionen kommen auf Grund der sachlichen Homo-
genität der Inhalte zustande. Demgemäß bilden sinnliche Ähnlichkeit und
sinnlicher Kontrast sowohl die „Bedingungen der Möglichkeit von Intention
und von Affektion“ (Hua XI, 285) als auch die Bedingungen der Möglichkeit
der Welt, denn sie sind „die Resonanz, die jedes einmal Konstituierte begrün-
det“ (ebd., 406).
Nicht nur die Genese der gegenständlichen Apperzeptionen, sondern auch
die Bildung eines Ich als identischen Substrats von bleibenden subjektiven
Habitualitäten weist sachliche Voraussetzungen auf und ist daran gebunden,
dass zwischen den faktisch gegebenen Erscheinungen sachliche Zusammen-
hänge bestehen. Assoziative Gesetzmäßigkeit ist also Bedingung der Mög-
lichkeit nicht nur des Objekts, sondern auch des Subjekts. Selbst das Ich ist
nämlich eine assoziativ konstituierte Einheit (ebd., 386).
Nun ist das Ich nicht Grund der Einheit der Welt, sondern hat „Einheit
durch die Welt, wenn sie Titel für ein Reich der Wahrheiten an sich ist“ (Ms.
A VI 30/38b). Wenn nämlich die Dinge und ihre Bestimmungen gesetzlos
wechselten, so könnte ich nichts haben, was ich mir als ein An-sich-sein
bzw. eine (end)gültige Wahrheit zueignen könnte, also keine Stellungnahme,
sondern nur zufällige und stetig wechselnde subjektive Meinungen, und ich
wäre demgemäß nur „ein Spielplatz vielfärbiger, bloß subjektiver Wahrhei-
ten“ (ebd./38a) bzw. „ein ,vielfärbiges‘ Selbst“, d.h. ein Ich-Pol, der keinen
personalen habituellen Sinn hat und „weltlos“ ist; doch hätte ich „die Ein-
heit meines Lebens, die Mannigfaltigkeit meiner Empfindungsdaten in der
Einheit der immanenten Zeit“ (ebd./52b). In diesem Falle, der mit der Auflö-
sung der Welt zusammenfällt, gäbe es immer noch eine bewusste Sukzession
von Daten, doch eine Bildung von Apperzeptionen wäre sachlich unmöglich.
Auch die Konstitution des Ich weist also eine sachliche Bedingung der Mög-
lichkeit auf. Damit das Subjekt „ein festes Sich-Entscheiden“ haben kann und
ein „stehendes und bleibendes Ich“ sein kann, ist nämlich zweierlei erforder-
lich: einerseits muss die Erfahrung „eine gewisse Struktur haben“, andererseits
muss das Subjekt „potenziell die Möglichkeit einer zu erwerbenden festen Ha-
bitualität“ tragen (ebd./38a-b). „Ohne Objekt bin ich nicht Ich“: Wären die
Meinungen gesetzlos, so könnten „für mich (wahre) Objekte“ nicht bestehen
und der „Relativismus der Meinungen“ würde die Möglichkeit eines Ich als
identisches Subjekts meiner Akte ausschließen (ebd./54a). Die Voraussetzung
20
Vgl. Hua XI, 84f., 342; Hua XXXVII, 332; Hua IX, 131, 209.
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348 Vittorio De Palma
der Konstitution des personalen Ich ist also, dass eine einstimmig bestimmba-
re „Objektwelt für mich beständig erhalten bleibt“ (ebd./54b), d.h. dass eine
„wahre Natur“ oder „Natur an sich“ besteht (ebd./49a). Auflösung der Welt
und Auflösung des Ich gehen Hand in Hand, weil Konstitution der Welt und
Konstitution des Ich korrelativ sind und nach demselben sachlichen Prinzip
stattfinden.
Kant löst die materialen Bedingungen der Erfahrung in die formalen auf,
da er das Ich denke statt der sachlichen Struktur der Inhalte als Grund der
Konstitution hinstellt. Denn er behauptet zwar, die notwendige Bedingung
aller möglichen Wahrnehmung sei, dass die Assoziation einen „objektiven
Grund“ in der Affinität der Erscheinungen hat, die an sich assoziabel sein
müssen; aber er führt diesen sachlichen Grund auf den „subjektiven Grund der
Apperzeption“ zurück, der ein bloß formales Prinzip ist: „die Einheit, welche
der Gegenstand notwendig macht“, kann nur „die formale Einheit des Be-
wusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ sein.21 Nun
ist die formale Einheit des Bewusstseins notwendige, aber nicht hinreichen-
de Bedingung der materialen Einheit des Gegenstandes, da die Synthesis der
mannigfaltigen Erscheinungen zum Bewusstsein eines Gegenstandes stattfin-
det, nur wenn die Erscheinungen eine inhaltliche Kongruenz aufweisen. Eine
sachlich zusammenhangslose Folge von Erscheinungen gehört zu meinem Be-
wusstsein, aber motiviert keine Gegenstandsauffassung. Damit eine Einheit
sich konstituieren kann, „muss im erfüllenden Inhalt Kontinuität der Ähn-
lichkeit statthaben“ bzw. „es müssen inhaltliche Bedingungen der Assoziation
nach Koexistenz und Sukzession erfüllt sein“ (Hua Mat VIII, 9). Kant selbst
bemerkt, dass Regelmäßigkeit nicht Ergebnis, sondern Voraussetzung der
assoziativen Verknüpfung ist: Würden die Erscheinungen nicht einer Regel
wirklich unterworfen werden, so „würde unsere empirische Einbildungskraft
wie ein totes und uns selbst unbekanntes Vermögen im Inneren des Gemüts
verborgen bleiben“.22 Der letzte Grund der Assoziation liegt also nicht im
assoziativen Vermögen des Subjekts, sondern in den sachlichen Beziehungen,
die zwischen den Inhalten bestehen und die das Ausüben solches subjektiven
Vermögens ermöglichen.
Das in letzter Instanz bestimmende Moment der assoziativen Konstitution
ist also nicht die Subjektivität bzw. das Bewusstsein, sondern der Inhalt, und
zwar seine sachliche Beschaffenheit.
21
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga: Hartknoch, 1781, S. 114, 121-123, 105.
22
Ebd., S. 100f.
23
Vgl. E. Husserl, a.a.O., S. 221.
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 349
[…] Sind die betreffenden Gegenstände, so ist notwendig auch die zugehörige
Einheit.“24 Merkmal einer Ideenrelation ist, dass sie mit den Inhalten eo ipso
gesetzt ist und nicht mehr besteht, nur wenn die Inhalte wechseln. Sie wird
einzig von der Besonderheit der Inhalte bedingt und ist unabhängig von der
Subjektivität, der die Inhalte gegeben sind.
Ähnlichkeit ist kein transzendentales Prinzip, da sie eine im Wesensinhalt
gegründete Ideenrelation ist. Dass zwei sinnliche Inhalte ähnlich sind, hängt
von ihrer Beschaffenheit ab und ist nicht auf die Subjektivität zurückführ-
bar. Die Subjektivität ist nur formale Bedingung der inhaltlichen Synthesen.
„Erscheint neben einem Baum ein anderer Baum, und zwar in gleichartiger
Erscheinungsweise, so kann ich nicht anders als ,beide‘ in eins, als Paar, be-
wusst haben“ (Hua XV, 26). Nun, wenn neben einem Baum statt einem an-
deren Baum ein Hund erscheint, kann man kein Paar erfahren. Denn eine
solche Verknüpfung gründet nicht im Subjekt, sondern in den Inhalten. Eine
Theorie der Erfahrung, die solcher Sachlage eine bloße empirische Bedeutung
verleiht bzw. sie als epistemisch irrelevant betrachtet, ist nicht in der Lage, der
Konstitution der Erfahrung gerecht zu werden. Denn es sind nicht die oberen
Stufen, die die niederen begründen, sondern umgekehrt. Die Bedingungen
der Möglichkeit der Erfahrung liegen nämlich in dem, was Husserl im Brief
an Natorp vom 18.III.1909 als das „phänomenologische Unten“ bezeichnet.
Affektionen stammen nicht naturalistisch von Dingen an sich, wie Kant
meint, sondern von Phänomenen, und kommen also durch eine rein moti-
vationale Gesetzmäßigkeit zustande. Doch ist solche motivationale Gesetz-
mäßigkeit eine sachliche, da sie in der Besonderheit der phänomenalen bzw.
sinnlichen Inhalte gründet, nicht im Subjekt, dem die Inhalte gegeben sind.
Dass die assoziative Synthesis nicht naturalistisch begründet ist, impliziert
keineswegs, dass sie transzendental begründet sei. Alle Wesenszusammenhän-
ge sind nicht naturalistisch begründet, aber sie sind nicht deshalb transzen-
dental begründet.
Husserls Assoziationstheorie stellt eine Entwicklung seines Gedankens der
materialen Wesensgesetzmäßigkeit dar. Assoziative Gesetze sind in den betref-
fenden sinnlichen Inhalten gegründete Wesensgesetze, d.h. Ideenrelationen.
Dass Husserl seine Assoziationstheorie als transzendental bezeichnet, ändert
nichts daran, dass ihr Kern nicht transzendental ist. Denn der assoziativen
Synthese legt Husserl dasselbe nichttranszendentale Prinzip zugrunde, das er
in der vortranszendentalen Phase den sachlichen bzw. sinnlichen Zusammen-
hängen zugrunde legte: die Besonderheit des Inhalts. Es genügt nicht, eine
Theorie mit dem Schild oder dem Name ,transzendental‘ zu versehen, um
sie transzendental zu machen. Die inhaltlichen Synthesen sind einzig in dem
Sinne als transzendental zu bezeichnen, dass sie die Bedingungen der Mög-
lichkeit der Welt darstellen: Sie sind transzendental begründend (d.h. welt-
konstituierend), aber nicht transzendental (d.h. im Subjekt) begründet. Eine
24
Ebd., S. 215.
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350 Vittorio De Palma
10. Die materiale Ebene der strukturellen Beschreibung der Welt und
die formale Ebene ihrer wissenschaftlichen Erklärung bzw. logischen Denk-
formung sind auseinander zu halten, aber zugleich durch ein Fundierun-
gungsverhältnis verbunden. Die theoretischen Denkleistungen enthüllen die
Struktur der Erfahrung nicht bloß, sondern gestalten letztere fort und neu, da
sie ihr neue Formmomente zuführen (Ms. A IV 5/45). Doch gehen sie von
solcher Struktur aus und werden von ihr gewissermaßen nahe gelegt (Hua
XXXII, 73f.). Denn, um die Konstruktion der exakten Welt der Physik zu
ermöglichen, soll die sinnliche Erfahrungswelt an sich logisch bzw. objektiv
bestimmbar sein, sie soll Antizipation einer exakt wahren Welt sein: Hätte
sinnliche Erfahrung keine sachliche Struktur und wäre keine objektiv durch-
haltende Welt schon durch Erfahrung gegeben, so wären keine Erkenntnis
und Wissenschaft der Welt möglich, da sie keinen Boden für ihre höheren
Objektivationen hätten (ebd., 100f., 116, 142, 223; Hua IX, 56). Erfahrung
kann nämlich „ein Feld […] für eine mögliche Wissenschaft“ sein (Ms. B
I 13/58f.) und die Anwendung der Logik bzw. Mathematik gestatten (Hua
VII, 394), nur insofern sie eine „Rationalität“ besitzt (Ms. F I 30/46a). In
diesem Sinn ist Erfahrung schon Methode.25 Denn in der Erfahrung ist vor
allem Bereden, Bedenken, Begründen und Theoretisieren eine einheitliche, in
sich zusammenhängende und standhaltende Welt anschaulich gegeben (Hua
XLI, 289; Hua XXXII, 15). Und, obwohl in der vor allem begrifflichen Den-
ken und allem begrifflichen Wesen gegebenen Erfahrung weder die Idee einer
an sich seienden Welt noch das Allgemeinheitsbewusstsein liegt, ist eine sol-
che Idee die Auseinanderlegung der in der Erfahrung liegenden Präsumtion
der Erfahrungswelt und ein solches Bewusstsein beruht darauf, dass zu jedem
Erfahrenen ein Wesensgehalt gehört (Hua XXXII, 233ff.).
Die Welt hat demzufolge „ein doppeltes Apriori“ (ebd., 120), da „über
das formal-mathematische Apriori hinaus […] eine apriorische Form für alle
mögliche Realität besteht“ (Hua XLI, 319f.). Gerade durch die materialen
Zusammenhänge ist die Welt vor aller Denktätigkeit kein Sammelsurium von
Realitäten, sondern „ein Ganzes, das alle Ganzen und alle etwaigen unteilba-
ren Realitäten in sich trägt in Verbundenheit“ (ebd., 261). Denn „die einzel-
nen Realen können nur reale Wirklichkeiten sein, wenn sie […] eine gewisse
Form der realen Verbundenheit innehalten“ (ebd., 377).
Die Anwendbarkeit des formalen Apriori bzw. der logischen Gesetzte auf
die Erfahrung ist also an das Bestehen vom sachhaltigen Apriori bzw. von
sachlichen Gesetzten gebunden: Man kann der Erfahrungswelt nur insofern
25
Vgl. Hua XV, 98; Hua XXXIV, 234; Hua XXXIX, 81ff.; Ms. B I 13/37a; Ms. A VII
20/19a.
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 351
eine kategoriale Sprach- und Denkform verleihen, als sie vor der Sprache und
dem kategorialen Denken eine apriorische Struktur besitzt.
11. Die Idee einer „Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt“
(Hua VI, 176) stammt aus dem Gedanken des natürlichen Weltbegriffs, den
Husserl von Avenarius entlehnt, aber eidetisch umdeutet im Sinne einer Be-
schreibung der invarianten Strukturen der Erfahrung.26 Es geht darum, durch
den „Rückgang auf die vor allen Wissenschaften und ihren theoretischen In-
tentionen liegende Welt als Welt vortheoretischer Anschauung“ (Hua IX, 56)
die apriorische Strukturform der Erfahrungswelt als solcher herauszufassen.27
Dazu erarbeitet Husserl eine apriorische bzw. transzendentale Ästhetik, die
von der Gegenüberstellung zwischen dem Erfahren und dem theoretischen
Bestimmen ausgeht und durch Abbau der konkreten Welt in eidetischen
Strukturschichten vorgeht, um nach der notwendigen Erfahrungsgestalt einer
Welt überhaupt zu fragen, die jedem Denken, Theoretisieren und Auffassen
vorangeht (Hua XXXIX, 259ff.).28
Wie Husserl im Brief an Lévy-Bruhl vom 11.III.1935 schreibt, ist es be-
rechtigt, die Menschen als Subjekte ihrer Welt zu betrachten, da jede Ge-
meinschaft ihre Weltvorstellung bzw. ihre Arten, zu apperzipieren, zu identi-
fizieren, zu denken, also ihre Logik und ihre Ontologie hat; doch setzt solche
anthropologische Betrachtung „die elementare Grammatik von Bildung von
,Objekten‘“ voraus. Mit solcher Grammatik beschäftigt sich die transzenden-
tale Ästhetik:
Sie behandelt das eidetische Problem einer möglichen Welt überhaupt als Welt
„reiner Erfahrung“, als wie sie aller Wissenschaft im „höheren“ Sinn vorangeht,
also die eidetische Deskription des universalen Apriori, ohne welches in bloßer
Erfahrung und vor den kategorialen Aktionen […] einheitlich Objekte nicht
erscheinen können und so überhaupt Einheit einer Natur, einer Welt sich als
passive synthetische Einheit nicht konstituieren könnte (Hua XVII, 297).
26
„Meine ursprüngliche Fragestellung angeregt durch Avenarius’ positivistische Lehre vom
natürlichen Weltbegriff: die wissenschaftliche Deskription der Welt rein als Welt der Erfahrung
[…] nicht als zufällige empirische Beschreibung gedacht, sondern als Wesensbeschreibung in-
nerhalb der phänomenologischen Reduktion. Dann handelt es sich also um die Wesensstruktur
des Weltphänomens reduziert auf das von ihm, was rein Erfahrungsphänomen ist, Phänomen
der erfahrenen Welt rein als solcher“ (Ms. A VII 20/47a). Vgl. D. Cairns, Conversations with
Husserl and Fink, Den Haag: Njihoff, 1976, S. 63.
27
Vgl. R. Sowa, „Husserls Idee einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt“,
in: Husserl Studies 26 (2010), S. 49–66.
28
In den Logik-Vorlesungen der 1920er Jahre vollzieht Husserl ausdrücklich die „Be-
schränkung der transzendentalen Ästhetik“ auf Wahrnehmung unter Ausschließung des ur-
teilsmäßigen Wissens, um die sinnliche Struktur herauszustellen, welche das Gegebene vor der
Denktätigkeit besitzt (Hua XI, 295).
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352 Vittorio De Palma
Was der Welt „ihre Identität und Wirklichkeit gegenüber den wechselnden
Weisen der Apperzeption“ gibt (Hua XV, 167), ist gerade diejenige „absolut
identische objektive Struktur“, welche die sinnliche Unterschicht der vorge-
gebenen Welt darstellt (Hua XXXIX, 297f.). Zu ihr gehören weder Gefühl-
sprädikate noch kulturelle Bestimmungen, die im Gegensatz zu den sinnli-
chen Bestimmungen in einer außerwesentlichen Beziehung zum Ding stehen.
Denn Gefühle und Stimmungen kommen dem Ding nicht als sein Eigenes,
sondern nur subjektiv zu, während die Perspektiven „in einem wesentlichen
Zusammenhang mit dem Ding innerhalb seiner dinglichen Natur“ stehen
(ebd., 269). Die geistige Bedeutung als Werkzeug, Kunstgebilde usw. ist „eine
rein geistig-personale Leistung und steht darin nicht gleich den naturalen Er-
scheinungsweisen“, die sich passiv konstituieren (ebd., 277). Sollen Welt und
Gegenstände identisch für alle sein, muss in der Erfahrung ein für jedermann
identischer Inhaltskern bestehen, d.h. ein „unbedingt Objektives“, über das
hinaus subjektiv (nach den Sondergemeinschaften) wechselnde Bestimmun-
gen bestehen (ebd., 295). Im Gegensatz zur Dingwelt ist die Kulturwelt nur
bedingt zugänglich und besitzt eine beschränkte Objektivität (Hua I, 160ff.;
Hua Mat VIII, 398ff.). Denn – anders als die unbedingt objektiven Bestim-
mungen, welche die Identifikation des Realen ermöglichen und zu dem ge-
hören, „was für jedermann unbedingt objektiv ist“ – müssen die kulturellen
Bestimmungen nicht für jedermann denselben Gehalt haben und machen
also „das relativ Objektive“ aus, das auf besondere Gemeinschaften und Welt-
anschauungen bezogen ist (Hua XXXIX, 297).
Es besteht demzufolge ein überzeitliches bzw. universales Apriori der his-
torischen Welt, vermöge dessen die Welt „wesensmäßig dieselbe“ ist (Hua
VI, 386), obwohl die Apperzeptionsweisen wandelbar sind: in allen Zeiten
und für alle Gemeinschaften weisen die Gegenstände eine räumliche Gestalt,
sinnliche Qualitäten und einen kausalen Stil auf und gliedern sich in Regi-
onen nach ihrer inhaltlichen Besonderheit. Die Erfahrungswelt hat also in
ihrem historischen Wandel bzw. in allen ihren Relativitäten eine invariante
und allgemeine Struktur, welche nicht selbst relativ ist und die Identität der
Welt trotz der Verschiedenheit der Weltauffassungen ermöglicht (ebd., 142,
176, 360; Hua XXXIX, 282). Die Struktur der einen sinnlichen Erfahrungs-
welt stellt also die Grundlage der mannigfaltigen kulturell bestimmten Um-
welten dar und ermöglicht das Verständnis von fremden Kulturgebilden sowie
den Vergleich zwischen verschiedenen Weltbildern oder Begriffsschemen. Die
Welt ist für jeden Kulturkreis eine andere, aber die invariante Strukturtypik
der sinnlichen Erfahrung ergibt, „dass jeder sich mit jedem einig weiß darin,
dass die eine und selbe Welt erfahren sei, aber dass jede Sondermenschheit sie,
dieselbe, ,anders auffasse‘“ (Hua XV, 217).
Deshalb existiert eigentlich nur eine Welt, obwohl es viele Deutungen und
Vorstellungen von ihr gibt, wie Husserl im Laufe seines ganzen Denkens ver-
tritt. 1894 schreibt er:
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 353
Die „Welt“ des Mythus, die Welt der Poesie, die Welt der Geometrie, die
wirkliche Welt, das sind nicht gleichberechtigte „Welten“. Es gibt nur eine
Wahrheit und eine Welt, aber vielfache Vorstellungen, religiöse oder mythi-
sche Überzeugungen, Hypothesen, Fiktionen (Hua XXII, 329).
Im besonderen Gehalt der Weltauffassungen, unserer und der von uns verstan-
denen Menschen, Völker, Zeiten, mögen noch so große Widersprüche sich
zeigen, im Wechselverkehr mögen wir über Wahrheit und Schein streiten, es
ist aber dieselbe Welt […], die widersprechend aufgefasst wird, über die ge-
stritten wird. Begründen wir als Wissenschaftler eine Weltauffassung als wah-
re, bewerten wir andere Auffassungen danach als mythologische Supposition
oder als wissenschaftlich längst überholt, so ändert das nichts an der Evidenz
des Seins derselben Welt, die auch die Primitiven, die wie immer Irrenden
vorstellen, und die wir nur besser vorstellen, bzw. beurteilen (Hua XV, 396f.).
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354 Vittorio De Palma
Die Ontologie der Erfahrungswelt ist nicht eine Ontologie der bloß sub-
jektiven bzw. scheinbaren Welt, die neben der von den Wissenschaften erar-
beiteten Ontologie der wahren bzw. wirklichen Welt liegt, sondern die On-
tologie der einzigen wirklich existierenden Welt, d.h. der sinnlich gegebenen
Welt.
Sinnliche Erfahrung ist kein zufälliger Ausgangspunkt, von dem man sich
befreien kann, wie die Leiter, die man wegwerfen kann, nachdem man auf ihr
hinaufgestiegen ist, sondern die letzte Ausweisungsquelle jeder Wirklichkeits-
setzung, da alle erdenkliche Bewährung auf sie zurückführt. Selbst der Wissen-
schaftler muss unvermeidlich auf das bloß Subjektiv-Relative rekurrieren und
auch für ihn fungiert die Gültigkeit des sinnlich Seienden als eine „Prämisse“,
d.h. nicht „als ein irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objekti-
ve Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende,
also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstri-
che usw. sind benützt als wirklich seiend, und nicht als Illusionen“ (Hua VI,
129). Die Lebenswelt stellt einen Boden von ursprünglichen Evidenzen dar,
da das in ihr Gegebene intersubjektiv erfahrbar und bewährbar ist, während
die gedanklichen Substruktionen der Wissenschaften prinzipiell unerfahrbar
sind und wirkliche Wahrheit haben können nur durch Rückbeziehung auf die
lebensweltlichen Evidenzen, die also eine „höhere Dignität der Erkenntnisbe-
gründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen“ besitzen
(ebd., 130f.). Jede objektive Evidenz hat ihre Begründungsquelle in der „Ure-
videnz, in der die Lebenswelt ständig vorgegeben ist“, und Erfahrung ist „die
Evidenzquelle der objektiven Feststellungen der Wissenschaften, die ihrerseits
nie selbst Erfahrungen von dem Objektiven sind“, da letzteres – genau so wie
ein metaphysisch Transzendentes – „als es selbst nie erfahrbar“ ist (ebd., 131).
Die Wissenschaften gehören zum Bestand der Lebenswelt, weil jede ka-
tegoriale Gestaltung oder Idealisierung auf die vorkategoriale und nichtide-
alisierte sinnliche Welt zurückbezogen ist, in der der Wissenschaftler seine
Instrumente sieht und sich mit all seinem Tun und all seinen Gedanken
enthalten weiß (ebd., 123f.) – d.h. weil „die praktische Subjektivität es mit
keinen anderen Realitäten als den anschaulichen zu tun hat“ (Hua XXXII,
197). Die Begründung der wissenschaftlichen Wahrheiten führt gerade auf
die „alltäglich-praktischen Situationswahrheiten“ zurück, die in der wissen-
schaftlichen Methode gebraucht werden (Hua VI, 135). Man kann die Er-
gebnisse eines wissenschaftlichen Experiments nur durch eine Wahrnehmung
lesen, die einzig von einer anderen Wahrnehmung korrigiert werden kann.
Die Wahrnehmung fungiert demzufolge als letzte Berufungsinstanz jeder
objektiven Theorie. Sinnliche Gegenstände und sinnliche Beziehungen bzw.
Strukturen sind vor und unabhängig von jedem Verstandeseingreifen gegeben,
beruhen nicht auf theoretischen Annahmen und machen den Grund jeder
theoretischen Annahme aus. Die Wahrnehmung setzt nicht die Geltung von
wissenschaftlichen Theorien voraus, während die wissenschaftlichen Theorien
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 355
die Geltung der Wahrnehmung voraussetzen. Die sinnliche Welt und ihre
sinnlichen Gegebenheitsweisen haben einen Vorrang, da sie epistemisch (und
nicht bloß kausal oder genetisch) unhintergehbar bzw. unumgänglich sind.
Die angebliche Überwindung der sinnlichen Relativität ist also trügerisch und
ergibt Paradoxien.
Das Ding, von dem die Physik spricht und dem sie Prädikate wie Mas-
se, elektrischen Widerstand usw. zuschreibt, ist das sinnlich gegebene Ding
(Hua III, 113). Die Wissenschaft bestimmt die sinnlichen Dinge anders, als
sie sinnlich gegeben sind. Sie ändert also nicht die Weise, wie wir die Dinge
wahrnehmen, sondern nur die Weise, wie wir sie denken, deuten und erklären.
Die Erfahrungswelt „bleibt, als sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in
ihrem eigenen konkreten Kausalstil ungeändert, was immer wir kunstlos oder
als Kunst tun“ (Hua VI, 51). Wie Merleau-Ponty bemerkt, Wissenschaft kann
nie denselben Seinssinn wie die Erfahrungswelt haben, aus dem einfachen
Grunde, dass sie deren Bestimmung oder Erklärung ist.30
Deshalb ist der wissenschaftliche Realismus verkehrt. Da er den theoreti-
schen Entitäten eine ontologische Dignität verleiht, setzt er in der Tat die Exis-
tenz von zwei Welten (d.h. der Welt der Meinung und der Welt der Wahrheit)
an und übernimmt die „Bahn der doppelten Wahrheit“ (ebd., 179), so dass
er in die Verdoppelung der Gegenstände fällt. Die empirischen Gegenstände
(welche die einzigen wirklich bestehenden sind) werden nämlich zu Bildern
oder Zeichen der vermeintlich hinter ihnen bestehenden und sie verursachen-
den wirklichen Gegenstände (welche bloße subjektive Substruktionen sind).
Doch sind Kausalschlüsse nur auf einem homogenen Erfahrungsboden sinn-
voll und können nicht vom Erfahrenen ins prinzipiell Unerfahrbare führen
(Hua XXXVI, 178). Sonst wären auch Thomas’ Gottesbeweise begründet.
Übrigens, selbst wenn eine unbekannte Ursache der Erscheinungen wirklich
bestünde, müsste sie prinzipiell wahrnehmbar sein, wenn nicht für uns, so für
andere bzw. anders beschaffene Subjekte, so dass sie sich wieder in Erschei-
nungen geben müsste, und so weiter in infinitum (Hua III, 111). Solcher
rekursive Charakter macht die Erklärung des Beobachtbaren durch das Un-
beobachtbare fade, wie heute van Fraassen hervorhebt31 und schon Hume im
vierten der Dialogues concerning Natural Religion bemerkte:
If the material world rests upon a similar ideal world, this ideal world must
rest upon some other, and so on without end. It were better, therefore, never
to look beyond the present material world. By supposing it to contain the
principle of its order within itself, we really assert it to be God; and the sooner
we arrive at that Divine Being, so much the better. When you go one step
30
Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter, 1974,
S. 4f.
31
Vgl. B. van Fraassen, The Scientific Image, Oxford: Clarendon, 1980.
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356 Vittorio De Palma
beyond the mundane system, you only excite an inquisitive humour which it
is impossible ever to satisfy.
13. Husserl lehrt, dass es nicht gilt, Objektivität zu sichern, sondern sie
zu verstehen (Hua VI, 193) und dass man, um die Objektivität zu verstehen,
die Erfahrung erforschen muss, in der sie sich konstituiert, d.h. jenes sinnlich
Gegebene, dem Hegel, Wittgenstein und Sellars eine epistemische Bedeutung
aberkennen, indem sie vertreten, dass eine solche Bedeutung nur den Denk-
bestimmungen und der Sprache zuzuschreiben sei. Die Phänomenologie zeigt
auf, dass das sinnlich Gegebene maßgebend ist, den Grund der Erkenntnis
ausmacht, eine Struktur vor der Denktätigkeit besitzt, und dass es nur des-
halb möglich ist, von ihm zu sprechen und es durch Denkbestimmungen zu
begreifen. Erfahrung ist der Unterbau. Sprache und Denkbestimmungen sind
ein Überbau.
Der Antiempirismus ist Ausdruck der ideologischen Weigerung, die Wirk-
lichkeit (die sinnlich ist) anzuerkennen, und steht für den Versuch, selbige in
Denkbestimmungen aufzulösen. Im Zusatz zu § 38 der Enzyklopädie schreibt
Hegel: „Zudem nun dies Sinnliche für den Empirismus ein Gegebenes ist und
bleibt, so ist dies eine Lehre der Unfreiheit, denn die Freiheit besteht gerade
darin, dass ich kein absolut Anderes gegen mich habe, sondern abhänge von
einem Inhalt, der ich selbst bin“. Hegel hat Recht. Der Empirismus ist keine
Lehre der Freiheit, sondern eine Lehre der Wahrheit (die doch frei machen
sollte), da er weder eine nichtbestehende Welt als wirklich hinstellt, um den
Menschen in seinem Kummer zu trösten, noch die Erkenntnis auf Tautologie
reduziert, um das mannigfaltig Gegebene und Nicht-Identische zu vernich-
ten, sondern versucht, das Wirkliche zu erfassen, d.h. den Sinn auszulegen,
den die Welt aus der Erfahrung bzw. vor der Philosophie hat und der philoso-
phisch enthüllt, aber nicht verändert werden kann (Hua I, 177). Dass Husserl
an seinem empiristischen Programm nicht immer konsequent festgehalten
hat, ändert nichts an der Gültigkeit solchen Programms.
Vittorio De Palma
via Edgardo Cortese 13,
80128 Napoli,
Italia
vittdepalma@hotmail.com
Literaturverzeichnis
Breda, H. L. van, „Husserl und das Problem der Freiheit“, in: H. Noack, (Hg.), Husserl,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 277–281.
Brentano, F., , Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. I, Leipzig: Meiner, 21924.
Cairns, D., Conversations with Husserl and Fink, Den Haag: Njihoff, 1976.
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Die Phänomenologie als radikaler Empirismus 357
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