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Nr. 17 / 21.4.

2018
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Macron braucht Hilfe, doch Deutschland versagt

Ex-FBI-Chef im SPIEGEL-Gespräch »Bild« im Kampfmodus Philosoph Precht über die Zukunft


James Comey: Donald Trump Der journalistische Gemeinschaftliche Werte
regiert wie ein Mafia-Boss Grenzgänger Julian Reichelt statt Karriere
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Abläufe
Meine
Hausmitteilung
Betr.: »Bild«, Bosch, Art Directors Club, SPIEGEL WISSEN
vereinfachen?
Unter Chefredakteur Julian Reichelt, 37, ist »Bild« In einem System, das
aggressiv wie lange nicht, und auch Reichelt selbst ist
ständig im Kampfmodus. Auf Twitter zieht der frü-
here Kriegsreporter ins Gefecht gegen Russland, er alle verbindet.
wettert gegen die ARD und empört sich über alle, die
ihn kritisieren. Wie viel davon ist Pose? Wie viel
ist Überzeugung? Die SPIEGEL-Redakteure Isabell
Hülsen und Alexander Kühn haben nach Antworten
gesucht und näherten sich dem »Bild«-Chef über
Monate. Sie begegneten dem Hardliner Reichelt, den
es nicht kümmert, wenn er sich unbeliebt macht; aber
sie entdeckten auch den Privatmann Reichelt, der
URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL

Flüchtlinge nach Deutschland geholt hat. Doch so


verbissen Reichelt oft wirkt, er hat dennoch Humor.
Für Hülsens Besuch in der »Bild«-Redaktionskon-
ferenz ließ er einen SPIEGEL-Buzzer bauen: Der klei-
ne, rote Kasten brüllt auf Knopfdruck »Brandstifter,
Brandstifter!« – eine Anspielung auf eine kritische
Hülsen in Reichelts Büro SPIEGEL-Titelgeschichte über »Bild« 2011. Seite 82

Die Robert Bosch GmbH, gegründet 1886, galt lange als Vorzeigeunternehmen der
deutschen Wirtschaft, und dieses schmeichelhafte Image verdankte es einem Grund-
satz seines Firmengründers: Robert Bosch verlor lieber Geld als Vertrauen. Für
Mitglieder der jetzigen Firmenspitze scheint das jedoch nicht zu gelten. Schon 2015
ermittelte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter des Konzerns, die
Ermittler gingen von Beihilfe im Dieselskandal aus. Nun legen interne Dokumente,
die dem SPIEGEL vorliegen, nahe, dass Bosch möglicherweise eine viel größere Rolle
gespielt hat, als Mitinitiator des weltweiten Betrugs an Umwelt, Behörden und
Dieselkäufern. Frank Dohmen, Simon Hage und Martin Hesse beschreiben die
riskante Doppelstrategie des Unternehmens ab Seite 72

Jedes Jahr kürt der Art Directors Club für Deutsch-


land die besten Arbeiten der Kommunikationsbran-
che. Der Club verleiht allerdings keine Oscars, son-
dern Nägel – goldene, silberne, bronzene. Während
der Preisverleihung am Donnerstag in Hamburg
wurde der SPIEGEL dreimal ausgezeichnet. In der
TINKA DIETZ / DER SPIEGEL

Kategorie Magazin / Titelbild würdigte die Jury die


Titelbilder mit Zeichnungen des Illustrator Edel
Rodriguez mit einem silbernen Nagel. Ausgezeichnet
wurde auch der Titel »Macht und Missbrauch«, und
zwar mit einem bronzenen Nagel. In der Kategorie
Editorial / Ausgabe erhielt das Heft »Die Lage der Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-
Nation« ebenfalls einen bronzenen Nagel. Preisträger schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
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die wichtigsten Fitnessketten und stellt ein erfolgreiches Konzept
gegen Rückenschmerzen vor. Das Heft erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 5


Inhalt
71. Jahrgang | Heft 17 | 21. April 2018

Titel Bestattungen Zunehmend


mehr Menschen verzichten auf
Diplomatie In der späten eine klassische Beerdigung 49
Ära Merkel schrumpft
Deutschlands Bedeutung E-Government Ein Insider
auf der Weltbühne . . . . . . . . . . 12 erklärt, warum deutsche
Behörden noch immer nicht
USA SPIEGEL-Gespräch mit digital sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
dem gefeuerten FBI-Chef
James Comey über die Präsi- Verbrechen Wie vietnamesische
dentschaft Donald Trumps Agenten einen in Ungnade
und die Russlandaffäre . . . . . 20 gefallenen Parteifunktionär
und seine Geliebte aus Berlin
entführten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Deutschland
Spionage Iranische Hacker sol-

NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL


Leitartikel Warum Antisemi- len erfolgreich deutsche Uni-
tismus uns alle angeht ....... 8 versitäten attackiert haben 58

Meinung Der schwarze Kanal /


So gesehen: Delirium Gesellschaft
Bavaricum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Früher war alles schlechter:
Dutzende Reichsbürger im Grenzenlose Reisefreiheit /
Staatsdienst / Todespfleger Gehört David Hasselhoff zu
Niels Högel muss Schadens- First Lady Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . 60
ersatz an Klinik zahlen /
Naziglocken in deutschen Die SPD steht vor einer historischen Zäsur: Erst- Ein Video und seine
Kirchtürmen . . . . . . . . . . . . . . . . 26 mals wird mit Andrea Nahles eine Frau die Partei Geschichte Ein Schotte steht
führen. Die Mission der 47-Jährigen: Sie soll in vor Gericht, weil er seinem
SPD Der lange Aufstieg einem immer komplexer werdenden politischen Hund den Hitlergruß
von Andrea Nahles beibrachte . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
zur ersten Frau an der
System das Überleben der Sozialdemokratie
Parteispitze . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 sichern. Wie geht sie mit der Rolle um? Seite 30 Verlassenheit Ein Flüchtling
prostituiert sich im Berliner
Regierung SPIEGEL-Gespräch Tiergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
mit Innenminister Horst
Seehofer über Donald Trumps Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 67
Militärschläge gegen
C. SCHMITZ UND J.-M. FRITZ / DER SPIEGEL

Syrien und Deutschlands


Rolle in der Welt . . . . . . . . . . . 34 Wirtschaft

AfD Wie die Rechtspopulisten Tunnelpanne in Rastatt kostete


die deutsche Geschichte Milliarden / Ackermann wird
für sich instrumentalisieren 38 »NZZ«-Aktionär / Die geplante
Musterfeststellungsklage stärkt
Recht Wird das Kirchenasyl die Rechte der Verbraucher 70
eingeschränkt? . . . . . . . . . . . . . 42
Affären Der Autozulieferer
Gesundheit Politiker fordern, Bosch rückt immer stärker ins
Alkohol aus den Regalen Verloren in Mitte Zentrum des Dieselskandals 72
an Supermarktkassen Porsche gerät ins Visier der
zu verbannen . . . . . . . . . . . . . . . 45 Ein Flüchtling aus Iran landet in Berlin. Er gerät Ermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
an Drogen und beginnt, sich im Tiergarten für
Zeitgeschichte Ein Gift Jobs Warum das Rückkehr-
namens Nowitschok – die
deutsche Männer zu prostituieren. Alle Versuche recht von Teil- in Vollzeit
wechselvolle Geschichte auszusteigen scheitern. Niemand kümmert sich. nur ein erster Schritt zu mehr
des tödlichen Stoffs . . . . . . . . . 46 Er führt einen täglichen Überlebenskampf. Seite 62 Gerechtigkeit ist . . . . . . . . . 76

6 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Digitalisierung SPIEGEL- Wissenschaft
Gespräch mit dem Philosophen
Richard David Precht Ur-Hefe entdeckt / Habicht-
über seine Vision von der Hauptstadt Berlin / Kommen-
Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . 78 tar: Europa muss härter gegen
Umweltsünder vorgehen 106
Luftfahrt Wer bei Eurowings

GABRIELLA DEMCZUK / NYT / REDUX / LAIF


wie viel verdient, entscheiden Umwelt Großangriff der
Zufall und Willkür . . . . . . . . . . 81 Schwammspinner auf die
Eichenwälder . . . . . . . . . . . . . . 108

Medien Luftfahrt Der Horrorflug


Southwest 1380 . . . . . . . . . . . . 111
Karrieren »Bild«-Chefredak-
teur Julian Reichelt ist, wie Archäologie Spektakuläre Sil-
sein Blatt, in ständigem berschatzfunde . . . . . . . . . . . . 112
Kampfmodus . . . . . . . . . . . . . . . 82
»Totalitäre Tradition« Paläontologie Haust in den
#MeToo Wie ernst nimmt Tiefen der Ozeane der
der WDR die Aufklärung Richard David Precht entwirft in seinem neuen Urzeithai Megalodon? . . . . . 114
der hauseigenen Affäre Buch die Vision einer digitalen Zukunft. Im
wirklich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
SPIEGEL-Gespräch warnt er vor dem Menschen-
Kultur
bild des Silicon Valley, es sei »näher beim Stali-
Ausland nismus als bei unseren Demokratien«. Seite 78 Das Bauhaus als Stoff eines
Dokumentarfilms / Ein neuer
Moskau will das Internet Ton von Botho Strauß /
zähmen / Die Ermordung Kolumne: Zur Zeit . . . . . . . . . 116
eines kleinen Mädchens
zerreißt das Milliardenland Kampf um die Eichen Theater Die Krise an der Volks-
Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bühne als Chance für einen
Hubschrauber sollen insektenreiche Wälder frischen Diskurs über den
Korea Der Präsident des mit Gift einnebeln. Der Gegner: eine nimmersatte Geist der Hauptstadt . . . . . . 118
Südens forciert die Aus-
söhnung mit Kim Jong Un –
Raupe, die zu Millionen über Eichen Volksbühne SPIEGEL-
auch wegen seiner eigenen herfällt. Ökologen halten den Insektizideinsatz Gespräch mit dem Theater-
Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 für überflüssig und schädlich. Seite 108 macher Frank Castorf über
seine Zeit in Berlin . . . . . . . . 121
Kommentar Der türkische
Präsident Erdoğan lässt die Rap Die seltsame Masche
Wahlen vorziehen, weil des Hip-Hoppers und Echo-
er um seinen Sieg fürchten Preisträgers Kollegah . . . . . . 124
muss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Der Pianist Igor Levit
erklärt, warum er seinen
Syrien Den Luftschlägen Echo Klassik zurückgab . . . 125
sollen wieder mal Verhand-
ANTONIO VILLALBA / REAL MADRID / GETTY IMAGES

lungen folgen – aber Assad Serien Wie »This Is Us«


setzt auf den militärischen unsere Zeit zugleich reflektiert
Sieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 und verzaubert . . . . . . . . . . . . 126

Vorabdruck Hans Magnus


Sport Enzensbergers Ȇberlebens-
künstler« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Die Zweite Fußball-Bundesliga
ist spannend wie nie / Kunstkritik Die Ausstellung
Magische Momente: Der Ex- »Facing India« in
Football-Profi Björn Werner Wolfsburg würdigt Werke
über seine Berufung in von Künstlerinnen . . . . . . . . . 131
die NFL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Grandioser Trickser
Football Leaks Es wird Cristiano Ronaldo ist vor den Halbfinalspielen Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
eng für den Steuertrickser der Champions League gegen Bayern München in Impressum, Leserservice . . . 132
Cristiano Ronaldo . . . . . . . 102 Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
großartiger Form. Gleichzeitig fürchtet der Star Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Olympia Träumereien von von Real Madrid wegen seiner Steuertricksereien Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Spielen im Ruhrgebiet . . . . . 105 einen Gerichtsprozess. Seite 102 Hohlspiegel / Rückspiegel . . 138

Titel-Illustration: SAMSON für den SPIEGEL 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Worte als Waffe


Leitartikel Beim Echo-Skandal geht es nicht um Kollegah, es geht um uns.

N
ach dem Eklat bei der Echo-Preisverleihung gibt lichung, Frauenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und
es kaum noch jemanden, der die prämierten Rap- Homophobie ab, behauptet der Echo-Veranstalter, der
Songs von Kollegah und Farid Bang öffentlich gut- Bundesverband Musikindustrie. Und warum ist er dann
heißt. Selbst die Mitglieder des Beirats, die den nicht dafür eingestanden, als es ernst wurde?
Preis trotz Bedenken zuließen, verurteilen die Texte jetzt Man muss gar nicht den Aufstand der Anständigen bemü-
scharf. Kulturratspräsident Christian Höppner nennt sie hen wie Gerhard Schröder im Jahr 2000 nach dem Angriff
»widerlich«, Musikratspräsident Martin Maria Krüger sagt, auf die Synagoge in Düsseldorf. Es geht alle an – in einer
sie verletzten in »unerträglicher und abstoßender Weise« Zeit eskalierender Rhetorik, in der Hass geschürt wird
ethische Grundsätze. Warum haben sie dann der Preisver- gegen Juden und Ausländer, gegen Politiker und Repräsen-
gabe zugestimmt? Die künstlerische Freiheit werde »nicht tanten des Staates. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des
so wesentlich übertreten«, hieß es, dass ein Ausschluss Nationalsozialismus ist Jude in Deutschland unter Jugend-
gerechtfertigt gewesen wäre. lichen wieder zum Schimpfwort geworden, wird Juden
Nicht so wesentlich? geraten, nicht mit Kippa auf die Straße zu gehen. Am Diens-
Die Geschäftsordnung des Echo-Beirats enthält klare tag wurde in Berlin ein Kippa tragender Israeli geschlagen.
Hinweise, wann Inhalte gegen Normen verstoßen, etwa Dass der Angreifer Arabisch sprach, ist keine Entlastung.
wenn sie »verrohend« wirken, zu Wir reden zu Recht über impor-
»Verbrechen oder Rassenhass tierten muslimischen Antisemi-
anreizen«, Gewalt »heroisieren«, tismus, aber was ist mit dem deut-
Menschen, denen Leid angetan schen? Es ist erschreckend, dass
wurde, »in einer die Menschenwür- wir einen Antisemitismusbeauf-
de verletzenden Weise verunglimp- tragten brauchen.
fen«. All das findet sich in den Tex- Warum müssen eigentlich
ten von Kollegah und Farid Bang. immer erst der Zentralrat der
Die Songs sind frauenverach- Juden, das Auschwitz-Komitee
tend, homophob, fremdenfeindlich oder Frau Knobloch protestie-
und gewaltverherrlichend. »Mache ren? Mitunter, so scheint es,
wieder mal ’nen Holocaust«, rappt fürchten wir den Antisemitismus-
Kollegah, er verwendet immer vorwurf mehr als den Antisemi-
ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES

wieder antisemitische Stereotype tismus. Ist dieser oder jener wirk-


(siehe auch Seite 124). Fast jedes lich ein Antisemit?, heißt es
Wort ist eine Waffe. Ausländer dann. Aber wie blind muss man
sind Syrer, die vergewaltigen, dem sein, um nicht zu sehen, dass der
Sänger Mark Forster will er »die Hohn über KZ-Häftlinge den
Darmflora per Schlagbohrer« zer- Judenhass nährt.
stören, andere werden mit der Ohne die »Auschwitz-Insas-
Kalaschnikow »massakriert«. Frü- Rapper Kollegah bei der Echo-Show in Berlin sen« wären sie vermutlich davon-
her schon beschwor er die Apoka- gekommen, der Echo, Kollegah
lypse, im Garten Eden leben nach und Farid Bang. Keiner hat auf-
dem Endkampf um den Tempelberg nur Buddhisten, Chris- geschrien, dass trotz #MeToo Songs ausgezeichnet wurden,
ten und Muslime – keine Juden. in denen Frauen nur »Fotzen« und »Nutten« sind, die
Nicht die Freiheit der Kunst muss hier geschützt werden, »gefickt« werden müssen. Im Echo-Beirat sitzen Vertreter
sondern die Grundwerte der Toleranz und Menschenwürde. der Kirchen, des deutschen Kulturrats, des Musikrats, ein
Verhandelt wurde ja nicht ein Verbot, sondern eine Wer- langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und ein Päda-
tung: nicht preiswürdig. Vielleicht ist das auch gar keine goge, Lehrer an einem Gymnasium in Hannover. Was lehrt
Kunst, sondern Hate Speech, verpackt in Rap? Man kann er seine Schüler? Nur die Katholikin hatte den Mumm,
die Freiheit der Kunst verteidigen und doch sagen: so nicht. gegen die Verleihung zu stimmen.
Man kann die Freiheit der Satire gegen Recep Tayyip Erdo- Der Chef des Bundesverbands Musikindustrie hat den
ğan verteidigen und doch finden, dass Jan Böhmermanns Echo für Kollegah und Farid Bang nun als Fehler bezeich-
»Ziegenficker«-Schmäh, dessen »Gelöt« nach »Döner net und sich entschuldigt – bei Charlotte Knobloch, der
stinkt«, dumpfe antitürkische Klischees bedient hat. früheren Zentralratspräsidentin. Zwei Beiratsmitglieder,
Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut, deshalb darf sie Höppner und Krüger, sind zurückgetreten. Auch die ande-
nicht als Ausrede für fehlenden Mut missbraucht werden. ren sollten mutigen Demokraten Platz machen – für den
Er lehne jede Art von Antisemitismus, Gewaltverherr- Fall, dass der Echo eine Zukunft hat. Annette Großbongardt

8 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Meinung So gesehen

Delirium
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Bavaricum
Wir israelisieren uns Die erste Regierungserklärung
Markus Söders (leicht gekürzt)

Das israelische Militär hat in Gaza leider immer noch so aus wie G Meine Damen und Herren, manch
am Wochenende einen vor dem Geldsegen. Aber vermutlich einer glaubt, wir sind im Wirtshaus,
Tunnel zerstört, den die sind die Israelis auch an der Korrup- aber wir sind im Parlament. Wenn
Hamas unter der Grenze tion dort schuld. Politik immer nur ankündigt und
hindurch nach Israel gegra- Manchmal ändert sich die Haltung, nie schafft, was umzusetzen … Ich
ben hatte, um Waffen ins wenn man selbst erlebt, was man bis sage Ihnen nur eins: Wir eröffnen ein
Land zu schmuggeln. »Gewalt dahin nur vom Lesen kannte. Als neues Kapitel der Demokratie in
im Gazastreifen, Israel zerstört Hamas- Israel vor Jahren eine Mauer baute, Bayern. Wir bauen eine Referenz-
Tunnel«, meldete das ZDF anschlie- um sich vor dem Terror aus den Paläs- strecke. Ein Hyperloop-System, tau-
ßend auf seiner Nachrichtenseite. Ich tinensergebieten zu schützen, war die send Kilometer pro Stunde, solar-
wäre nie auf die Idee gekommen, dass Aufregung in Deutschland groß. Das betrieben, ohne Lärmbelästigung.
man als Aggressor gelten könnte, weil änderte sich auch nicht, als die Zahl Bayerische Gemütlichkeit ist ein
man sich vor Terror schützt. Für mich der Attentate nach dem Mauerbau Exportschlager in der Welt – aber
war immer derjenige der Täter, der schlagartig zurückging. Inzwischen
anderen nach dem Leben trachtet. haben wir unsere eigenen Erfahrungen
Aber ich arbeite ja auch nicht in der mit Leuten, die den Koran als Anlei-
Nachrichtenredaktion des ZDF. tung zum Selbstmordattentat lesen.
Die Israelis feiern in diesen Tagen Wenn es in dem Tempo weitergeht, mit
den 70. Jahrestag der Staatsgründung, dem der Terror bislang bei uns Einzug
was nichts daran ändert, dass Israel auf gehalten hat, ist man in Berlin oder
der Anklagebank sitzt und nicht jene München bald nicht mehr viel sicherer
Nachbarn, die Juden sofort ins Meer als in Jerusalem oder Tel Aviv.
treiben würden, wenn sie könnten. Man kann auch sagen, wir israelisie-
Israelkritik gehört bei Leuten, die auf ren uns. Wenn man den Deutschen
ihre einwandfreie Gesinnung stolz heute vorschlagen würde, sie sollten die Konkurrenz schläft nicht. Aus
sind, zum guten Ton. Der Palästinen- die Anschläge als Ausdruck der Ver- Garmisch werden künstliche Glied-
ser hingegen ist so etwas wie das Hät- zweiflung sehen und lieber nach den maßen kommen, jeder Haushalt
schelkind aller anständigen Deutschen. Ursachen des Terrors fragen, anstatt kommt ans Gigabit-Netz, und in die
Niemand hat mehr Hilfsgelder erhal- die Täter zu jagen, hätten sie auch Staatsverwaltung kommt die Block-
ten als die armen Menschen in Gaza kein Verständnis dafür. Man kann das chain. Wir entwickeln einen neuen
und im Westjordanland, sie sind ver- für eine Kapitulation vor der Realität bayerischen Supercomputer mit
mutlich das am höchsten subventio- halten – oder für gesunden Menschen- 150-facher Rechenleistung, der ist
nierte Volk der Welt. Weil das Geld verstand. dann Weltspitze. 18 000 neue Stu-
nicht in Bildung und Infrastruktur denten werden in neuen Bussen über
geflossen ist, sondern in den Bau der An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan bessere Straßen rollen. Wir wollen
Villen der Fatah-Funktionäre, sieht es Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. keine Fahrverbote, wir erfinden sau-
beren Bayernsprit. Wir wollen kei-
nen Nationalpark, wir wollen ein
Kittihawk
Raumfahrtprogramm für suborbitale,
unbemannte Flugkörper, wir nennen
es Bavaria One. Sensible Daten kom-
men in die sichere BayernCloud.
Alles ist sicher, alle bekommen Geld,
auch die einheimische Bevölkerung,
denn man darf sie nicht mehr ver-
gessen, sie hat es verdient.
Krebs wird bekämpft. Herzkrank-
heiten ebenso. Nicht nur in der Stadt,
auch auf dem Land. Das und alles
ist besonders wichtig. Es sind zen-
trale Schlüsselfragen. Nirgends sonst
gibt’s das. Das wird in die Verfas-
sungsgeschichtsbücher eingehen.
Wir werden natürlich nicht alles
schon bis zum Oktober umgesetzt
haben. Stefan Kuzmany

10 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Titel

An der Seitenlinie
Diplomatie Unter dem irrlichternden Donald Trump ist die Welt zu einem gefährlichen Ort
geworden. Ausgerechnet in diesem Moment führt die Kanzlerin Deutschland wieder
zurück in die außenpolitische Nische und überlässt Frankreichs Präsidenten Macron das Feld.

N
och hat Emmanuel Macrons Par- kel«, schrieb der britische »Economist«. keinesfalls mitgetragen: »Ich hätte mein
tei En Marche keinen einzigen Die Gefahr sei nicht, dass Deutschland zu Veto eingelegt.«
Abgeordneten im Europäischen stark werde, sondern dass es sich weigern Es ist eine merkwürdige Regression, die
Parlament, doch als der franzö- könnte, die Führungsrolle anzunehmen. Deutschland derzeit erlebt: In der Ukrai-
sische Präsident am Dienstag den Straß- Und heute? Die Welt ist zu einem ge- nekrise war es noch Merkel, die anstelle
burger Plenarsaal betritt, wirkt es, als wäre fährlichen Ort geworden mit einem Kreml- der USA die Initiative ergriff. Kurz zuvor,
er schon der Hausherr. Macron gibt Fede- herrscher, der von der alten Sowjetmacht Anfang 2014, war Verteidigungsministerin
rica Mogherini die Hand, der EU-Chef- träumt, und einem amerikanischen Präsi- Ursula von der Leyen vor der Münchner
diplomatin, er schüttelt die Rechte von denten, der Politik offenbar nicht von Sicherheitskonferenz aufgetreten und hat-
Jean-Claude Juncker, die ihm der Kommis- einem Videogame zu unterscheiden weiß te erklärt, Gleichgültigkeit sei für ein Land
sionschef eilig entgegenstreckt. Viele Ab- (»Missiles, nice and smart«). Der große wie die Bundesrepublik keine Option.
geordnete applaudieren ihm stehend, an- Knall in Syrien blieb am vergangenen Wo- »Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten
dere verschanzen sich hinter Schildern, auf chenende aus, aber das war nicht im Min- verfügen, dann haben wir auch eine Ver-
denen sie die Raketenangriffe auf Syrien desten das Verdienst Merkels, sie stand antwortung, uns zu engagieren.«
geißeln. Macron tritt ans Pult. Dort wartet am Rande, während die Großen die Dinge Trump war im November 2016 kaum
schon der Ausdruck seiner Rede, die ein unter sich ausmachten. zum neuen amerikanischen Präsidenten
schneidiger Militäradjutant soeben abge- Deutschland ist wieder Zaungast der gewählt worden, da verstieg sich die »New
legt hat. Weltpolitik, das lässt sich an vielen Beispie- York Times« sogar zu dem Satz, Merkel
Der Mann, der dem Kontinent nach len zeigen. Die Bundesregierung musste sei nun so etwas wie die letzte Verteidige-
dem Brexit und den Wahlsiegen der Popu- sich ihren Platz beim Anti-Assad-Gipfel in rin des liberalen Westens. Die Kanzlerin
listen neuen Mut eingehaucht hat, lässt hielt diesen Anspruch immer für irre, wo-
keinen Zweifel, was auf dem Spiel steht: mit sie – einerseits – natürlich recht hatte.
»Die illiberale Faszination wird jeden Tag »Merkel hat in Macron Wie soll ein Land den Westen verteidigen,
größer«, warnt er. »Die Antwort ist nicht ihren Meister gefunden. das erst einmal lange Debatten im Bundes-
die autoritäre Demokratie, sondern Auto- tag führen muss, bevor es einen einzigen
rität durch Demokratie.« In jede Lücke, die sie Soldaten in Marsch setzt?
Es sind die ganz großen Linien, die Ma- lässt, stößt er hinein.« Andererseits fühlte sich die Kanzlerin
cron entwirft, er spricht von dem Philoso- durchaus geschmeichelt. Dass sie kurz
phen Alexis de Tocqueville, dem großen nach Trumps Wahl verkündete, noch ein-
Erzähler der amerikanischen Demokratie, der kommenden Woche in Brüssel regel- mal zu kandidieren, hing auch mit dem
während die Bundeskanzlerin sich fast recht erkämpfen, bei den Sanktionen ge- Gefühl zusammen, dass sie in einer irre
zeitgleich in deutlich bescheidenerem Rah- gen Russland im Fall des Doppelagenten gewordenen Welt doch irgendwie unver-
men erst die Genehmigung für ihre Politik Sergej Skripal wurde Berlin von den Ver- zichtbar sei. Und dann, mitten im Wahl-
holen muss. bündeten vor vollendete Tatsachen gestellt. kampf, in einem Bierzelt in Trudering, sag-
Ralph Brinkhaus und Katja Leikert hei- Und in Europa hat nun Macron das Sagen. te sie jenen berühmten Satz, der so klang,
ßen die beiden stellvertretenden Fraktions- Es ist mehr als ein Symbol, dass der fran- als lasse Merkel die Nachkriegsordnung
chefs, die an diesem Dienstag vor den ver- zösische Präsident Anfang der kommen- hinter sich. Die Europäer müssten ihr
sammelten Unionsabgeordneten in Berlin den Woche mit großem Bahnhof im Wa- Schicksal in die eigene Hand nehmen.
ihre Bedenken gegen die Pläne Macrons shington empfangen wird – während Mer- Es waren Worte, die einen Wendepunkt
vortragen. Merkel tut, was sie kann, sie kel am Freitag, kurz vor dem Wochenende, in der europäischen Geschichte hätten
spannt in ihrer Rede den Bogen vom Augs- noch kurz zu einem »Arbeitsbesuch« ins markieren können, aber ernst nahm sie of-
burger Religionsfrieden bis zu den Krisen Weiße Haus huschen darf. fenbar nur Macron, der am 14. Mai 2017
der Gegenwart, Begeisterung erzeugt sie Deutschland steckt wieder in der Ni- zum neuen französischen Präsidenten ver-
keine. Am Ende kommt sie der Fraktion sche, und das liegt nicht nur an der quä- eidigt wurde. Nach knapp einem Jahr im
weit entgegen, sodass es fast scheint, als lend langen Regierungsfindung, wie nun Amt hat er Frankreich zur Lead Nation in
bestimme nicht Merkel die Richtlinien der im Kanzleramt behauptet wird. Merkel Europa gemacht, er steht jetzt da als Ver-
Europapolitik, sondern eine Handvoll Ab- hat in den vergangenen Jahren viel Kredit teidiger von Freiheit und Demokratie.
geordnete, von denen Macron wohl noch verspielt, vor allem wegen der Flüchtlings- Man muss Macron nicht in jedem
nie etwas gehört hat. politik, mit der sie fast alle Verbündeten Punkt folgen. Es gibt gute Gründe dafür,
Es ist noch keine fünf Jahre her, da wur- vor den Kopf gestoßen hat. Dazu kommt, sich einem Militärschlag zu verweigern,
den lange Essays und Leitartikel über die dass Merkel in Berlin nur noch beschränk- der von einem Mann angeführt wird, bei
hegemoniale Macht Deutschlands auf dem te Prokura hat. Jahrelang ließ CSU-Chef dem man nicht weiß, ob er eines Tages
Kontinent geschrieben. »In der EU pas- Horst Seehofer der Bundeskanzlerin in seine Handytastatur mit dem sprichwört-
siert nichts ohne das Einverständnis der der Außenpolitik freie Hand. Nun sagt er, lichen Atomknopf verwechselt. Und wenn
deutschen Bundeskanzlerin Angela Mer- einen Militärschlag gegen Syrien hätte er der künftige Europäische Währungsfonds

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GREGOR FISCHER / DPA

Politiker Macron, Merkel am Berliner Schloss: »Der macht Weltpolitik, und ich sitze hier fest«

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SIPA / ACTION PRESS


Staatschefs Macron, Trump, Ehefrauen Brigitte, Melania am 14. Juli 2017 in Paris: Zu viert ins Edelrestaurant

dazu führt, dass der Reformdruck auf ist es das Dreifache«. Eine jüngere Frau Jean-Claude Juncker nach Macrons Rede
Schuldnerländer im Süden nachlässt, ist sorgt sich wegen der wachsenden Konkur- im Europaparlament.
niemandem gedient. renz durch Arbeiter aus den Nachbarlän- Als Macron im Januar China besuchte,
Dennoch hebt sich der französische Prä- dern, auch Macrons Militärschlag in Syrien steckte Merkel gerade in Koalitionsver-
sident wohltuend von der deutschen Kanz- kommt zur Sprache. Es sind Fragen, die handlungen mit der SPD, die Bundestags-
lerin ab, denn er hat nicht nur den Mut, es dem Präsidenten erlauben, seine euro- wahl lag da schon drei Monate zurück.
Ideen zu formen, sondern er lässt sich von päische Vision auszupacken. Seit 70 Jah- »Der macht Weltpolitik, und ich sitze hier
Widerstand auch nicht entmutigen. ren gebe es keinen Krieg in Europa, sagt fest«, sagte sie in einem besonders lang-
Wenn Macron über Europa spricht, tut er, dank der EU. »Denken Sie bei Ihrem weiligen Moment zu einem Kollegen.
er das voller Engagement, Energie und Lei- nächsten Picon daran!« Macrons Stil unterscheidet sich völlig
denschaft. Er tänzelt in der Saalmitte wie »Für mich gibt es keine rote Linie, nur von Merkels Ansatz. Er scheut sich nicht
ein Boxer im Ring, auf einem kleinen Pult Horizonte«, hat er bei seiner Rede an der vor großen Ideen, vor Pathos und Leiden-
stehen sechs volle Gläser Wasser, fünfein- Sorbonne vor sieben Monaten gesagt. Es schaft. Am ehesten ist Macron in diesem
halb wird er im Laufe des Abends leeren. steckt viel Wagemut in diesem Satz oder Punkt mit Barack Obama vergleichbar, der
Knapp zwei Stunden diskutiert Macron die Lust daran, weiter zu blicken als nur seinen Aufstieg auch der Macht der Rede
am Dienstagabend in Épinal, einem Städt- auf das, was einen unmittelbar umgibt. zu verdanken hatte.
chen am Rande der Vogesen, mit rund Aber es klingt auch Hybris mit, eine Por- Aber im Gegensatz zu Obama hat
300 Menschen über Europa. Es ist sein tion Größenwahn. Macron seinen Worten bisher immer Ta-
erster Bürgerdialog zur Zukunft des Kon- Natürlich spürt Merkel selbst, dass sich ten folgen lassen. Mitte Februar verkün-
tinents. Geht es nach Macron, soll es sol- gerade eine Machtverschiebung abzeich- dete er, dass mit dem Einsatz chemischer
che Veranstaltungen nun in der ganzen EU net. Ihre Rolle als »Königin Europas« hatte Waffen in Syrien eine »rote Linie« über-
geben, auch in Deutschland. viele Schattenseiten, in Griechenland wur- schritten wäre, jenseits derer er militäri-
Macron hat sich keine leichte Adresse de sie mit Hitlerbärtchen gezeigt, Merkel- sche Vergeltung üben werde.
für den Auftakt ausgesucht. Wie vielerorts Puppen wurden verbrannt, aber sie galt Es war nicht nur eine symbolische Aus-
in Frankreich sterben auch in Épinal die eben auch als Frau, an der man nicht vor- sage. Denn Macron benutzte nicht nur
großen Fabriken, Widerstand gegen Euro- beikam, wenn man etwas erreichen wollte. jene Formulierung, die Obama fast sechs
pa gehört hier zur Tradition, der frühere Heute wollen alle mit Macron reden. Jahre zuvor verwendet hatte; Frankreichs
Bürgermeister war einst einer der Haupt- Am Ende von europäischen Gipfelaben- Präsident setzte anschließend tatsächlich
gegner des Maastrichter Vertrags. In Épi- den verschwindet Merkel nun oft nach Raketen gegen Assad ein.
nal, so viel ist klar, wird Macron nichts ge- einem kurzen Statement rasch in ihrem Merkel käme niemals auf die Idee, Ame-
schenkt. Genau deshalb ist er hier. Hotel. Macron hingegen gibt bei solchen rikas Führungsrolle übernehmen zu wol-
Vor der Einführung des Euro habe ein Gelegenheiten in längeren Auftritten len. Sie kennt den maroden Zustand der
Picon, ein Aperitif, »am Tresen fünf Francs« gern den Weltpolitiker. »Frankreich ist wie- Bundeswehr, sie weiß um den Wunsch der
gekostet, erregt sich ein älterer Herr, »jetzt der da«, freut sich Kommissionspräsident Deutschen, nicht in die Konflikte der Welt

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HASSAN AMMAR / AP
Raketen über der syrischen Hauptstadt Damaskus am 14. April: Trumps Abenteuer

verwickelt zu werden. Merkels Erfolg zwei Parteien, die Sozialisten und die Kon- rauf ansprechen. Macron weiß um die
gründete immer auf ihren Pragmatismus. servativen, pulverisiert. Diese hatten über Zwänge der deutschen Kanzlerin. Er weiß,
Erst als sie in der Flüchtlingskrise eine eher Jahrzehnte die Geschicke Frankreichs be- dass es in den Reihen von CDU und CSU
idealistisch anmutende Seite zeigte, be- stimmt. genügend Abgeordnete gibt, die nichts
gann ihre Popularität zu bröckeln. Diese Erfahrung verleiht Macron ein mehr fürchten, als dass Deutschland künf-
Auch das Talent zur Inszenierung, das Selbstbewusstsein, wie es wohl kein fran- tig ein paar Milliarden Euro mehr in die
Macron zweifellos besitzt, geht Merkel zösischer Politiker seit Charles de Gaulle europäische Gemeinschaft investieren
gänzlich ab. Nie käme sie auf die Idee, eine besaß. Wenn er es schaffen sollte, Frank- könnte. Auch deshalb hat er seine Ideen
Siegesrede vor einem nationalen Symbol reich zu revolutionieren, wieso dann nicht längst auf Merkel-Maß gestutzt, in der
zu halten, anders als Macron, der am die EU, Europa, ja das Machtgefüge des Öffentlichkeit jedenfalls.
Abend der Präsidentschaftswahl vor der Westens? So spricht er in Straßburg nur noch von
Glaspyramide des Louvre sprach, einge- einem »Fahrplan, der es erlaubt, einen
läutet übrigens von der Europahymne, Schritt Richtung Bankenunion zu gehen
Beethovens »Ode an die Freude«. Als Im Gegensatz zu Obama und eine Finanzkapazität zu errichten«.
Merkel im Herbst 2013 fast die absolute
Mehrheit geholt hatte und ihre Leute in
hat Macron seinen »Fahrplan«, das klingt schon fast wie die
Kanzlerin.
der Parteizentrale siegestrunken schwarz- Worten bisher immer Merkel und ihr Finanzminister Olaf
rot-goldene Papierfähnchen schwenkten, Taten folgen lassen. Scholz nehmen das mit Genugtuung zur
sammelte sie diese ratzfatz wieder ein. Kenntnis. Schon mehrmals saßen die bei-
Merkels Aufstieg zur »Königin von den im Kanzleramt zusammen, um zu
Europa« folgte keinem Plan, sondern der Macron hat die Franzosen davon über- überlegen, wie sie auf Macron reagieren
Logik der Eurokrise. Sie war die Frau mit zeugt, dass ihre Zukunft in Europa liegt, sollen. Beide sind entschlossen, gemein-
der größten Kasse, das verlieh ihr in Brüs- entsprechend groß ist der Druck jetzt, ein sam mit dem Franzosen beim EU-Gipfel
sel Macht. Sie ging die Krise wie alle an- Jahr vor den Europawahlen, erste Erfolge im Juni einen Zukunftsplan vorzulegen:
deren Krisen an: ohne großen Plan, dafür zu präsentieren. Notfalls, das macht er bei Die Frage ist nur, was da drinstehen soll.
mit viel Verständnis fürs Detail. Am Ende seiner Rede am Dienstag vor dem Europa- Manche Vorschläge des Franzosen hal-
durfte Griechenland in der Gemeinschafts- parlament in Straßburg klar, halt ohne den ten sie für Humbug. Beide sind skeptisch,
währung bleiben, und Europa bekam ei- großen Pakt mit Berlin. ob der von Macron vorgeschlagene euro-
nen Rettungsfonds. Europa sei schon immer auch durch die päische Finanzminister eine gute Idee ist.
Während Merkel versucht, den gordi- Ambitionen »verrückter Menschen« ent- Ähnlich verhält es sich mit einem Haushalt
schen Knoten vorsichtig auseinanderzu- standen, sagt Macron. Das deutsch-fran- für die Eurozone, mit dessen Mitteln Ma-
dröseln, versucht Macron ihn entzweizu- zösische Tandem erwähnt er in seiner cron Konjunkturschwankungen innerhalb
schlagen. Er hat mal eben eine neue poli- Rede mit keinem Wort, »bewusst«, wie er des Währungsraums ausgleichen will. Es
tische Kraft aus dem Boden gestampft und sagt, als ihn die Abgeordneten später da- wäre jedenfalls das erste Budget in der

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Titel

Wirtschaftsgeschichte, bei dem offenbleibt, den hypernervösen Nicolas Sarkozy und Putin: auf der emotionalen, halb privaten
wofür das Geld eingesetzt wird. schließlich den Unglücksraben François Ebene einen Kontakt aufzubauen, der sich
Den größten Konflikt aber gibt es über Hollande. Am Ende war ihr keiner gewach- dann politisch nutzbar machen lässt.
die Zukunft der Eurozone. Ein Kompro- sen, doch nun scheint sie in Macron ihren Merkel hat das nie gekonnt. Aber sie
miss wäre, den Rettungsschirm ESM zu Meister gefunden zu haben. In jede Lücke, galt noch vor Kurzem als die Frau, die die
einem Europäischen Währungsfonds auf- die sie lässt, stößt er hinein. Männer mit den dicken Egos von Erdoğan
zurüsten. Der könnte, so das Kalkül in Macron erkannte früh, welches Poten- über Putin bis Trump im Zaum halten
Kanzleramt und Finanzministerium, künf- zial in der Präsidentschaft von Donald kann – mit ihrem scharfen Verstand, der
tig eine Art Frühwarnsystem für die Staats- Trump liegt. Vor allem für ihn selbst. Dem »no bullshit«-Haltung und dem Ansatz,
finanzen in der Eurozone abgeben. Dazu französischen Präsidenten gelang das Gefühle so weit wie möglich aus der Poli-
könnte er eine wichtigere Rolle bei der Kunststück, sich zugleich als Antipode und tik herauszuhalten.
Bankenrettung spielen, wie es auch Ma- als oberster Verbündeter des US-Präsiden- Aber Gefühle spielen eben auch in der
cron vorschwebt. ten zu inszenieren. Weltpolitik eine Rolle. Trump hat nicht
Merkel steht vor einer Gratwanderung. Er schüttelte Trump beim G-7-Gipfel vergessen, dass Merkel die Glückwünsche
Sie muss verhindern, dass Macron Geduld so lange die Hand, bis dessen Fingerknö- nach seiner Wahl mit einer kleinen Predigt
oder Gesicht verliert. Zum anderen muss chel weiß hervortraten. Und ließ die Welt verband, Werte wie Demokratie, Freiheit
sie Rücksicht nehmen auf Widerständler umgehend wissen, warum er das getan und Menschenwürde doch bitte im Auge
in den eigenen Reihen. Viele in der Uni- hatte. Für ihn zähle vor allem Stärke, er- zu behalten. Jetzt ist Macron sein Freund,
onsfraktion beäugen die Aktivitäten des zählte Trump einer französischen Wochen- und Merkel bleibt die Rolle der Gou-
französischen Präsidenten mit Argwohn. zeitung. vernante.
»Ich habe überhaupt keine Veranlas- Es war der Beginn einer wunderbaren Der Militärschlag gegen Assad in Syrien
sung, Macrons persönliche Glücksgefühle Freundschaft. Kurz darauf lud Macron den hat Trump und Macron noch enger zu-
zu meinem politischen Programm zu ma- Amerikaner ein, mit ihm zusammen den sammengeschweißt. Die beiden telefonie-
chen«, sagt CSU-Landesgruppenchef Ale- französischen Nationalfeiertag zu bege- ren jetzt fast jeden Tag – so berichten es
xander Dobrindt. Sicher, die CSU haderte hen. Die Bilder dieses 14. Juli 2017 gingen Macrons Berater. »Das gegenseitige Ver-
schon immer mit Merkels Europapolitik, um die Welt: Macron umarmte Trump, trauen ist groß«, sagt ein Diplomat, der
doch in den vergangenen Jahren hatte Par- fast herzte er ihn. Zu viert, mit den Gat- Macron außenpolitisch berät.
teichef Seehofer das Feld Merkel weit- tinnen, dinierte man im Edelrestaurant auf Die Operation gegen das Assad-Regime
gehend überlassen. dem Eiffelturm. planten Trump und Macron zwar mit der
Mit der neuen CSU, so viel ist klar, wird Macron sei »stark« und »smart«, sagt britischen Premierministerin Theresa May,
es keine Reformbeschlüsse geben, die ei- Donald Trump seither. »Er ist mein jedoch komplett ohne die Deutschen. Sie
nen Erfolg bei der bayerischen Landtags- Freund.« kamen gar nicht auf die Idee, Berlin um
wahl im Oktober gefährden könnten. In der kommenden Woche reist Macron militärischen Beistand zu fragen, weil sie
Und selbst auf den CDU-Teil der Frak- auf Einladung des Freundes nach Washing- die Antwort bereits ahnten: ohne uns.
tionsspitze kann Merkel sich nicht mehr ton. Es ist der erste Staatsbesuch über- So blieb man in der Bundesregierung
verlassen. Ein Europapapier der Fraktions- weitgehend ahnungslos, wann und in wel-
vizes Brinkhaus und Leikert war zwar le- chem Umfang die Reaktion auf den Gift-
diglich als Positionsbestimmung deklariert. »Wir sind uns nicht immer gasangriff erfolgen würde. Der einzig ver-
In Wirklichkeit enthielt es eine versteckte einig, aber wir schätzen lässliche Informationskanal bestand zwi-
Drohung in Richtung Kanzleramt. schen Verteidigungsministerin Ursula von
Im Papier wird nämlich explizit auf den uns sehr. Wir haben viel der Leyen und ihrem US-Counterpart
Artikel 23 Abs. 3 des Grundgesetzes ver- gemeinsam.« James Mattis, dem wohl letzten Pragmati-
wiesen, der eine Stellungnahme des ker in der US-Regierung. Von der Leyen
Bundestags bei europäischen Verhandlun- und Mattis telefonieren regelmäßig, auch
gen vorsieht. Was so technisch daher- haupt, den Trump ausrichtet. Drei Tage in den Tagen nach Trumps Twitter-Dro-
kommt, hat in der Praxis enorme Konse- lang wird es um die französisch-amerika- hung gegen Russland.
quenzen: Die Regierung verliert dadurch nische Freundschaft gehen und um die zwi- Durch einen weiteren Draht zum ame-
ihre Handlungsfreiheit, sie kann sich nicht schen Donald und Emmanuel. rikanischen Militärchef Joe Dunford hatte
einfach über die Vorgaben des Parlaments Während Trump für Macron den roten man im Wehrressort so zumindest eine
hinwegsetzen. Dass die Unionsabgeordne- Teppich ausrollt, darf die Kanzlerin nur grobe Idee, wie der Vergeltungsangriff aus-
ten der eigenen Kanzlerin eine solche auf einen eintägigen Arbeitsbesuch hoffen, sehen würde. Nicht ohne Stolz gab man
Möglichkeit vor Augen führen, ist ein und das liegt nicht nur daran, dass es sich das Insiderwissen in den Tagen vor der
ziemlich ungewöhnlicher Vorgang. Auch bei Macron um ein Staatsoberhaupt han- Attacke ans Kanzleramt weiter.
wenn am Ende keine Beschlüsse gefasst delt und bei Merkel bloß um eine Regie- Trump wiederum dankte am vergange-
wurden, war die Botschaft deutlich: »Nach rungschefin. nen Wochenende demonstrativ Frankreich
der Partei hat jetzt auch die Fraktion klar- Macron ist, daran besteht kein Zweifel, und Großbritannien, weil sie sich am Mili-
gemacht, dass sie nicht gewillt ist, die Re- Trumps Ansprechpartner Nummer eins in tärschlag gegen Assad beteiligt hatten.
gierungspolitik einfach zu akzeptieren«, Europa. Zu niemandem hat er eine so per- Deutschland kommt in seiner Lobesliste
sagt ein Mitglied der Fraktionsspitze. sönliche Beziehung. »Wir sind uns nicht schon seit Längerem nicht mehr vor.
Wie aber soll eine derart gefesselte immer einig, aber wir schätzen uns sehr. Die deutsche militärische Zurückhal-
Kanzlerin schwungvoll die Zukunft Euro- Wir haben viel gemeinsam«, sagt Macron. tung kommt im Weißen Haus nicht gut an.
pas gestalten? Selbst wenn sie Ideen dazu Merkel hingegen hat es bislang nicht ge- Berlin hätte sich am Militärschlag gegen
hätte, könnte Merkel sie jetzt wohl nicht schafft, einen halbwegs belastbaren Draht Syrien beteiligen sollen, schrieb etwa Ri-
mehr umsetzen. zu Trump aufzubauen. Zugegeben, das chard Grenell auf Twitter, Trumps Kandi-
Die Kanzlerin hat in ihrer Amtszeit vier Format der Männerfreundschaft steht ihr dat für den US-Botschafterposten in Ber-
französische Präsidenten erlebt. Jacques nicht zur Verfügung, im Grunde macht Ma- lin. Grenells Lage ist bezeichnend für den
Chirac mit seinem gockelhaften Charme, cron es ja wie einst Gerhard Schröder mit traurigen Stand der deutsch-amerikani-

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KAY NIETFELD / DPA
Außenminister Maas in seinem Berliner Ministerium*: Keine Verhandlungen mit Assad

schen Beziehungen: Seit einem Jahr und Rolle. Jetzt hat man größte Mühe, über- abzustimmen. Er schlug vor, die russischen
drei Monaten hat Trump keinen Botschaf- haupt noch irgendwie dabei zu sein. Vertretungen in Frankreich zu schließen
ter in Berlin. Die Demokraten im US- Die Koalition der Willigen will nach und drohte mit einem Alleingang, falls sich
Senat weigern sich, seine Bestellung zu dem Militärschlag von deutschen Vermitt- Deutschland verweigern würde.
bestätigen. lungsbemühungen und Friedensinitiativen Berlin blieb nichts anderes übrig, als
Niemand in Washington versteht die zunächst nichts hören. »Unser Einfluss ist mitzumachen. Am Ende wies die Bundes-
deutsche Haltung zu den Luftschlägen in jetzt erst mal geringer geworden«, sagt ein regierung vier Angehörige der russischen
Syrien – dafür, aber nicht dabei. Anspruch Mitglied der Bundesregierung. Botschaft aus, um im eigenen Lager nicht
und Wirklichkeit deutscher Außenpolitik Zudem scheinen sich die Kanzlerin und völlig isoliert dazustehen.
klaffen zu weit auseinander. Entsprechend ihr neuer Außenminister nicht ganz einig Nun also auch Russland. Jahrelang war
widersprüchlich wirkten die Berliner Er- zu sein in der Frage, wie der politische Pro- die Russlandpolitik Merkels Domäne in
klärungen am Morgen nach der Attacke zess in Syrien organisiert werden soll: Europa. Während der Ukrainekrise erziel-
der westlichen Verbündeten. »Erforderlich Maas will Verhandlungen mit Assad aus- te sie ihre größten außenpolitischen Erfol-
und angemessen« sei der Militäreinsatz ge- schließen, im Kanzleramt sieht man das ge, nie war Deutschlands Bedeutung grö-
wesen, sagte die Kanzlerin. weniger dogmatisch. ßer als in jener langen Nacht in Minsk im
Der Außenminister zeigte im SPIEGEL- Macron und Trump fanden auch im Fall Februar 2015, als sie auf dem Höhepunkt
Gespräch (16/2018) zwar Sympathie für Skripal eine gemeinsame Linie. Nach dem der Kämpfe in der Ostukraine zwischen
den Einsatz der Bundeswehr 1999 in Ju- Anschlag auf den ehemaligen russischen Moskau und Kiew vermittelte und damit
goslawien, um das Morden im Kosovo zu Agenten in Großbritannien zögerte die verhinderte, dass sich der Krieg zum Flä-
stoppen (»Nie wieder Auschwitz«), bei Sy- Bundesregierung, Moskau schnell zu be- chenbrand auswuchs. Damals hatte sie mit
rien allerdings mochte er trotz nach Schät- strafen. Endgültige Beweise fehlen bis heu- François Hollande einen französischen
zungen mittlerweile bis zu fast einer hal- te. Aber die Briten machten Druck, sie for- Präsidenten im Schlepptau, der am Tisch
ben Million Toten keine direkte Linie von derten Solidarität und Sanktionen. Ma- einschlief, während Merkel den Weltfrie-
der Vergangenheit zur Gegenwart ziehen. cron stellte sich auf ihre Seite – gegen die den rettete.
Das sei, so Maas, »nicht die Rolle, die wir Deutschen. Merkel hielt die Amerikaner davon ab,
in Abstimmung mit unseren Partnern ein- In Berlin heißt es, Macron habe den Bri- Waffen an die Ukraine zu liefern. Sie galt
nehmen wollen«. ten und Amerikanern harte Sanktionen als die Person, die, wenn überhaupt je-
Das klang ein bisschen nach der alten angeboten, ohne das vorher mit Merkel mand, bei Putin etwas erreichen kann.
Arbeitsteilung, nach dem Motto: Die einen Doch die unzähligen Telefonate zwischen
schießen, die anderen schlichten. In Wirk- *Am vergangenen Dienstag mit seiner kanadischen Kanzlerin und Kremlherrn erweckten nur
lichkeit spielte Deutschland einfach keine Kollegin Chrystia Freeland. den Anschein eines engen Drahts. Tatsäch-

17
Titel

STEFFEN KUGLER / ZUMA PRESS / IMAGO


G-20-Teilnehmer Merkel, Putin, Macron in Hamburg 2017: Anschein eines engen Drahts

lich entstand zwischen Merkel und Putin Vor allem aber braucht Deutschland sche Zusammenarbeit in Europa. So sieht
nie ein Vertrauensverhältnis. Inzwischen eine Antwort auf die Frage: Wer sind wir? das übrigens auch der französische Präsi-
ist der russische Präsident seit Jahren nicht Wo stehen wir in der Konfrontation zwi- dent. Als Macron am Donnerstag neben
mehr zu einem bilateralen Besuch in schen Russland und dem Westen? Deutsch- der deutschen Kanzlerin im Berliner Hum-
Deutschland gewesen, Merkel war zuletzt land ist Teil des Westens, aber es kann sei- boldt-Forum stand, wurde er von einem
2016 in Moskau – zum 75. Jahrestag des ne besondere Verbindung nach Russland Journalisten gefragt, ob er sich ein stärke-
Überfalls auf die Sowjetunion. Nun ist nutzen, um dagegenzuwirken, dass der res deutsches Engagement in Syrien ge-
immerhin wieder ein Besuch in Planung. neue Ost-West-Konflikt weiter eskaliert. wünscht hätte.
Das wäre dann auch die erste Erwar- Die deutsche Kanzlerin benötigt, auch Er habe sich in den Tagen vor dem Mi-
tung an die deutsche Außenpolitik, wenn wenn das schwerfällt, einen besseren Draht litärschlag sehr intensiv mit »Madame la
sie ihren Anspruch auf Führung und Ver- zu Trump, auf allen Ebenen wäre es richtig, Chancelière« ausgetauscht, sagte Macron.
antwortung nicht aufgeben will. Deutsch- die Kontakte wieder auszubauen. Macron Aber ein deutscher Einsatz sei schon des-
land muss nach einer Phase der Selbst- macht es ja vor, dass es möglich ist, auf halb nicht realistisch gewesen, weil das aus
beschäftigung außenpolitisch wieder aktiv Washington Einfluss zu nehmen. Es ist im Verfassungsgründen nicht möglich sei. In
werden. deutschen Interesse, dass die Amerikaner einer solch brisanten Lage aber könne man
Macron braucht endlich eine Antwort in Syrien bleiben, um die Kurden gegen nicht »mehrere Wochen auf eine parla-
auf seine Vorschläge zur Eurozone, Berlin die Türkei zu schützen. Aber auch, damit mentarische Debatte warten«.
muss Reformen unterstützen, den Euro- überhaupt eine westliche Macht präsent Macron hätte auch sagen können:
päischen Währungsfonds zum Beispiel. ist, um Russen, Iranern und Türken nicht Kommt endlich raus aus eurer Nische.
Das wird nicht gänzlich ohne Souveräni- das ganze Feld zu überlassen. Matthias Gebauer, Julia Amalia Heyer,
tätsverzicht gehen. Trotzdem heißt es Und schließlich: Auch wenn es richtig Christiane Hoffmann, Peter Müller,
nicht, dass Berlin von dem richtigen Prin- war, dass sich Deutschland an Trumps Ralf Neukirch, René Pfister,
zip der Eurokrise – finanzielle Solidarität Abenteuer am vergangenen Wochenende Christian Reiermann,
nur gegen Strukturreformen – abrücken nicht beteiligt hat – Deutschland kann Christoph Scheuermann,
Christoph Schult
müsste. nicht auf Dauer aus Prinzip militärische
Für die Ukraine braucht es einen neuen Enthaltsamkeit üben. Deshalb wäre es nö-
Anlauf, Außenminister Maas hat das schon tig, den Parlamentsvorbehalt einzuschrän- ‣ Lesen Sie auch auf Seite 34: Im
angekündigt. Ein Land mit mehr als 40 ken. Um überhaupt die Voraussetzung zu SPIEGEL-Gespräch spricht sich Horst
Millionen Einwohnern am Rand der EU, schaffen, dass Deutschland dabei sein Seehofer für eine Vermittlerrolle
das zum Failed State zu werden droht, könnte, wenn ein Einsatz schnell erfolgen Deutschlands zwischen den USA und
Russland aus.
kann Deutschland nicht kaltlassen. muss. Und auch für eine engere militäri-

18 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Titel

»Ich schaute auf mich selbst


herunter und dachte:
Was mache ich hier? Wie bin
ich hier hineingeraten?«
SPIEGEL-Gespräch Der gefeuerte FBI-Chef James Comey vergleicht US-Präsident
Donald Trump mit einem Mafiaboss, spricht über seine bizarren Treffen im Weißen Haus
und erklärt, warum er trotz der Russlandaffäre gegen eine Amtsenthebung ist.

D
as Flatiron Building auf der Fifth von einem Zweier-Dinner im Weißen Haus, Amerika zu einer Art Idol wurde, zum
Avenue ist eines dieser Hochhäu- in dem Trump ihn zur Loyalität zwingen Gegenspieler Trumps. Die saftigsten Zitate
ser in Manhattan, die jeder Tou- wollte; und schließlich unterschrieb Comey, aus dem Buch kursierten schon vorige Wo-
rist kennt: dreieckiger Grundriss, natürlich, einen Buchvertrag. che in US-Medien, meist mehr oder weni-
vorn spitz zulaufend, ein eleganter, mon- »Größer als das Amt« heißt das Werk ger persönliche Attacken gegen den Präsi-
däner Keil. Drinnen, im zweiten Stock, auf Deutsch, das diese Woche zeitgleich in denten, den Comey als notorischen Lügner
sieht es schlichter aus. Ein dunkler Flur, mehreren Sprachen erschienen ist. Der Ti- beschreibt, als Bedrohung für die Vereinig-
auf dem Boden Bücherkartons, es riecht tel spielt auch auf die Körpergröße des Au- ten Staaten und den Westen.
nach Filterkaffee. James B. Comey, 57, der tors an, mit 2,03 Metern ist er nur zehn Was dieses Buch spannend macht, ist
frühere FBI-Direktor, zwängt sich in eine Zentimeter kleiner als der Basketballer sein Autor. Comey nimmt den Leser mit
Kammer des Verlags Flatiron Books, der Dirk Nowitzki. Es ist das zweite umfassen- in die New Yorker Halbwelt aus Mafiaclans
die engen Räumlichkeiten belegt. de Enthüllungsbuch der Trump-Ära, nach und Finanzbetrügern, wo er seine Karriere
Er wirkt locker, fast vergnügt – es ist sein »Feuer und Zorn« des Journalisten Michael als Staatsanwalt beginnt. Er erlebt als stell-
einziges Interview mit einem deutschspra- Wolff. Im Gegensatz zu Wolff vertretender Justizminister die
chigen Medium. Comey ist nach seiner öf- aber kann Comey einen exklu- Debatte um Folter im irakischen
fentlichen Demütigung auf dem Zenit sei- siven, langfristigen Zugang ins Gefängnis Abu Ghuraib mit, bis
nes Ruhms angelangt. Vor fast genau einem Innerste der Macht vorweisen – ihn Obama zum Chef des FBI er-
Jahr, am 9. Mai 2017, warf ihn Donald außerdem besitzt er das gefähr- nennt. Sein Vorgänger und Men-
Trump in einer unerhörten Wutaktion aus liche Wissen eines Juristen, der tor ist übrigens ebenjener Robert
dem Amt, weil das FBI dem Präsidenten das Räderwerk von Washington Mueller, der dem Präsidenten seit
in dieser »Russland-Sache« – wie er sie in- und auswendig kennt. Comeys Rauswurf als Russland-
nannte – zu nahe gekommen war. Seither Comey schreibt mit der Präzi- Sonderermittler zusetzt.
hat Comey Trump auf verschiedenste sion eines Staatsanwalts, dem Ta- Trump steht nun durch seine Af-
Weise das Leben schwer gemacht. Er lent eines Romanciers und dem James fären, Mueller, die FBI-Ermittlung
spielte der Presse Aufzeichnungen zu, die Ehrgeiz eines begabten Narzissten. Comey: gegen seinen Anwalt Michael Co-
Größer als
er als FBI-Direktor nach Begegnungen mit Sein überwölbendes Thema sind das Amt.
hen sowie das Comey-Buch stär-
Trump angefertigt hatte, die sogenannten die Prinzipien guter, ethischer Füh- Droemer; ker unter Druck denn je. Und das
Comey-Memos; er erzählte vor einem Se- rung. Er weiß, dass er, der einstige 384 Seiten; in einer Zeit, in der ihn auch die
natsausschuss in literarischer Detailtiefe Republikaner, für das linksliberale 19,99 Euro. Weltpolitik herausfordert.

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BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Comey, lassen Sie uns hielt eine Rede vor Mitarbeitern. Sie wa- es ist sehr wichtig, dass wir nicht einfach
gleich zur Sache kommen. ren in einem großen Raum versammelt, abstumpfen. Unsere Anführer dürfen sich
Comey: Ja. Haut drauf, haut drauf! an dessen Rückwand drei Fernsehbildschir- nicht auf diese Weise verhalten. Wir kön-
SPIEGEL: Sie haben ein Buch über gute me hingen. Ich sprach über die Werte des nen das nicht als eine Art Hintergrundrau-
Führung geschrieben, in dem es bei Wei- FBI und unsere Mission, als ich plötzlich schen akzeptieren.
tem nicht nur, aber doch sehr viel um Do- die Meldung auf den Bildschirmen sah: SPIEGEL: Sie greifen Trump in Ihrem Buch
nald Trump geht. Und nun haben Sie auch »Comey tritt zurück.« Ich dachte, es sei aber auch persönlich an und schreiben,
noch gesagt, Trump sei »moralisch unge- ein Scherz meiner Mitarbeiter. Ich sagte: dass er klein wirke, mit einem orangefar-
eignet«, Präsident zu sein. Warum? »Da habt ihr euch aber viel Arbeit ge- benen Teint und hellen Halbmonden unter
Comey: Wer über Frauen spricht und sie macht.« Dann wechselte die Nachricht zu den Augen, vermutlich von der Schutzbril-
behandelt, als wären sie ein Stück Fleisch, »Comey gefeuert«. Eine bizarre Erfahrung. le im Solarium. Sie erwähnen sogar, dass
wer dauernd große und kleine Lügen ver- SPIEGEL: Wollten Sie sich mit dem Buch seine Hände kleiner seien als Ihre. Beschä-
breitet und wer bei den Vorgängen in Char- an Trump rächen? digen Sie mit diesen etwas billigen Atta-
lottesville im vergangenen Jahr eine mo- Comey: An Rache bin ich wirklich nicht cken nicht Ihr eigenes Argument über Mo-
ralische Äquivalenz sah zwischen Rechts- interessiert. Eigentlich würde ich das alles ral und Anstand?
extremisten und jenen, die gegen sie viel lieber nicht tun, aber ich habe mir ge- Comey: Ich finde nicht, dass das Angriffe
protestierten – der ist in meinen Augen sagt: Ich kann nützlich sein, vor allem jetzt. sind, so habe ich das zumindest nicht be-
moralisch ungeeignet, Präsident zu sein. Ich habe eine Pflicht, das zu tun. Und des- absichtigt, und ich glaube auch nicht, dass
Ich habe es auch deshalb gesagt, weil nach halb tue ich es. sie so verstanden werden können. Ich bin
»Feuer und Zorn« die Frage kursierte, ob SPIEGEL: Der Präsident hat Sie einen zum ersten Mal Autor, mein Verleger hat
er aus gesundheitlichen Gründen ungeeig- »Schleimbolzen«, einen »Lügner«, einen mir den Tipp gegeben: Nimm den Leser
net sei. Dafür wiederum habe ich keine »Leaker« genannt, und klargemacht, dass mit, zeig ihm, was dir durch den Kopf geht,
Anzeichen gesehen. Sie ins Gefängnis gehörten. Ihre Reaktion? er soll mit dir im selben Raum sein. Und
SPIEGEL: Es ist fast genau ein Jahr her, Comey: Erstens ein Schulterzucken. Und als ich zum ersten Mal Trump gegenüber-
dass Donald Trump Sie überraschend als zweitens: Das kann uns allen nicht gleich- stand, fiel mir sein oranges Gesicht auf –
Direktor des FBI gefeuert hat. Wie haben gültig sein. Es ist nicht normal in diesem er hatte diese Ringe unter den Augen, auch
Sie das damals erlebt? Land, dass der Präsident sagt, ein Bürger sein Haar war sehr beeindruckend. Ich
Comey: Es war surreal. Ich war gerade zu müsse ins Gefängnis. Das steht nicht im wollte mich nicht über die Größe seiner
Besuch im FBI-Büro in Los Angeles und Einklang mit amerikanischen Werten, und Hände lustig machen. Ich erinnerte mich

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 21


BRENDAN SMIALOWSKI / AFP

ALEX BRANDON / AP
Gefeuerter Comey vor dem Senat am 8. Juni 2017, FBI-Chef Comey mit Präsident Trump im Weißen Haus am 22. Januar 2017

daran, dass es im Wahlkampf einmal diese Comey: Sein einziges Referenzsystem sein sollte. Vielleicht, weil ich überrascht,
Episode mit der Größe von Trumps Hän- scheint intern zu sein: Was ist gut für mich? fassungslos war. Aber ich weiß auch nicht,
den gab. Daran musste ich denken, als ich Was bringt mir die Bestätigung, die ich wie viele Leute sagen würden: »Herr Prä-
ihm zum ersten Mal die Hand schüttelte – brauche? sident, das dürfen Sie nicht sagen.« In ge-
wie groß ist sie? SPIEGEL: Sie schreiben, er habe von An- wisser Weise habe ich das ja aber getan,
SPIEGEL: Sie haben wirklich nicht erwar- fang an versucht, Sie zu einer Art Kompli- weil ich auf seine Bitte zunächst mit
tet, dass Trump zurückschlägt, wenn Sie ze zu machen. Bei einem Treffen im Wei- Schweigen reagierte und, obwohl es
über die Größe seiner Hände schreiben? ßen Haus schien er Sie sogar auf die Wan- schwierig war, überhaupt zu Wort zu kom-
Comey: Der Gedanke ist mir nie gekom- ge zu küssen. men, immer wieder erwähnte, wie wichtig
men. (Er grinst.) Comey: Dieser angebliche Kuss war kein die Distanz zwischen dem Präsidenten,
SPIEGEL: Sie trafen Trump zum ersten Mal Kuss. Aber die Szene war kaum auszuhal- dem Justizministerium und dem FBI ist.
Anfang Januar 2017, als Sie ihn mit den ten, sie spielt sich bis heute in meinem Trotzdem kam er wieder darauf zurück
Chefs von CIA und NSA zur Einmischung Kopf in Zeitlupe ab. Ich wollte mit allen und fragte noch einmal.
Russlands in die Präsidentschaftswahl in- Mitteln vermeiden, dass es so aussieht, als SPIEGEL: Am Ende haben Sie beide sich
formierten. Das Treffen im Trump Tower stünde ich dem Präsidenten nahe. Seit Wa- dann auf »ehrliche Loyalität« geeinigt.
in New York erinnerte Sie an die Begeg- tergate gibt es in den USA eine Tradition, Comey: Ja. Er sagte noch einmal, dass er
nung mit einem Mafiaboss. Wie kommen dass das FBI eine Distanz zum Präsidenten Loyalität brauche, und ich sagte: »Sie wer-
Sie darauf? einhält – zu große Nähe war damals einer den von mir immer Ehrlichkeit bekom-
Comey: Ich kenne die Mafia gut von mei- der Fehler von FBI-Chef J. Edgar Hoover. men.« Er antwortete: »Das ist es, was ich
ner Arbeit als Staatsanwalt in Manhattan SPIEGEL: An jenem Tag empfing Trump will. Ehrliche Loyalität.« Das habe ich
in den Neunzigerjahren. Als der gewählte die Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden, dann akzeptiert, um irgendwie aus dieser
Präsident und sein Team sofort darüber um ihnen für ihre Arbeit während seiner unangenehmen Konversation herauszu-
sprachen, was der beste politische »Spin« Amtseinführung zu danken. Sie als FBI- kommen und auch weil ich dachte, dass
für dieses Russland-Thema wäre, während Chef wollten zuerst gar nicht hingehen … ich klargemacht hätte, wie er »ehrliche
wir noch mit am Tisch saßen, da drängte Comey: Als ich dann dort war, habe ich Loyalität« verstehen soll.
sich dieses Bild in meinen Kopf. Es fühlte versucht, mich mit meinem blauen Anzug SPIEGEL: Bei Ihrem ersten Treffen mit
sich an wie der Versuch eines Mafiabosses, zwischen den blauen Vorhängen unsicht- Trump am 6. Januar 2017 mussten Sie ihm
Neulinge in die Familie zu integrieren. Ich bar zu machen. Nach der ganzen Aufre- von einem Bericht des britischen Ex-
versuchte, das Bild zu verdrängen, es wirk- gung mit Hillary Clinton war ich besorgt, Spions Christopher Steele erzählen. Darin
te erst ein wenig dramatisch auf mich, aber dass ein falscher Anschein entstehen könn- wird unter anderem behauptet, er sei in
es kam wieder, auch bei weiteren Treffen. te. Aber Trump rief mich zu sich. Ich ging Moskau in einem Hotelzimmer mit Pros-
SPIEGEL: Trump als Mafiaboss – ist das quer durch den Raum, entschlossen, mich tituierten gewesen. Was haben Sie ihm ge-
nicht ein bisschen übertrieben? nicht umarmen zu lassen. Das konnte ich nau gesagt?
Comey: Ich sage nicht, dass er Beine bricht, zwar vermeiden, aber Trump zog mich Comey: Ich wollte ihn darauf aufmerksam
Brandbomben in Läden wirft oder Last- nach unten und flüsterte mir ins Ohr: »Ich machen, dass dieses Material in der Welt
wagen entführt. Aber der Führungsstil äh- freue mich wirklich auf unsere Zusammen- ist. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich die
nelt sich. In der Mafia ist der Boss alles, arbeit.« Weil die Kameras auf der anderen Anschuldigungen glaube – aber wir von
das oberste Gebot ist Loyalität. Die meis- Seite waren, haben alle, auch meine Kin- den Sicherheitsbehörden dachten, es sei
ten ethisch verantwortlichen Anführer ha- der, einen Kuss gesehen, obwohl da keiner unsere Pflicht, ihn zu informieren. Ich
ben externe Referenzpunkte, an denen sie war. Das sah gar nicht gut aus. habe nicht alle Details genannt. Ich habe
sich bei Entscheidungen orientieren – sei SPIEGEL: Es kam dann zu einem mittler- von Prostituierten in Russland gesprochen,
es Philosophie, Religion, Logik, Tradition, weile berühmten Abendessen zu zweit. aber ich hielt es nicht für notwendig,
Geschichte. Aber bei den Mafiachefs, mit Dort verlangte Trump, dass Sie ihm Ihre über den Teil zu sprechen, der auch als
denen ich über die Jahre zu tun hatte, geht persönliche Loyalität zusichern. Warum »golden shower« bezeichnet wird. Mir war
es immer nur um den Boss. Was kannst haben Sie nicht einfach gesagt, dass sich das alles sehr unangenehm. Ich schaute
du für mich tun, wie dienst du mir? Mich dieses Ansinnen nicht gehört? auf mich selbst herunter und dachte: Was
erinnerte das an Trumps Führungskultur. Comey: Das ist eine sehr gute Frage. Viel- mache ich hier? Wie bin ich hier hinein-
SPIEGEL: Trump geht es nur um Trump? leicht, weil ich nicht so stark bin, wie ich geraten?

22 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Titel

SPIEGEL: Sie haben ihm also nicht gesagt, zwischen allgemein bekannt ist, dass ein schen Kämpfe. Und wenn Trump aus dem
dass die Prostituierten laut dem Bericht Mitarbeiter Trumps mit einem Vertreter Amt gejagt wird, zementieren sich nur un-
aufeinander uriniert haben sollen? Russlands in Kontakt war. Es ging darum, sere Differenzen. Wir sollten besser bei der
Comey: Nein, das habe ich nicht. E-Mails zu erhalten, die Hillary Clinton nächsten Wahl für unsere Werte eintreten.
SPIEGEL: Wie hat er reagiert? schaden könnten. Ich weiß nicht, welche SPIEGEL: Machen Sie sich Sorgen, dass
Comey: Abwehrend. Er hat mich sehr Schlüsse daraus folgen werden, aber wenn Trump Sonderermittler Mueller feuern
schnell unterbrochen und fing an, über die Mueller seine Arbeit zu Ende machen darf, könnte?
Anschuldigungen zu reden, die etliche Frau- wird er die Wahrheit herausfinden. Comey: Natürlich mache ich mir Sorgen.
en gegen ihn erhoben hatten. Er stellte mir SPIEGEL: Hat Trump die Justiz behindert, Es wäre ein enormer Fehler und ein An-
die Frage – ich denke, sie war rhetorisch als er Ihnen nahelegte, die Ermittlungen griff auf den Rechtsstaat. Es wäre auch aus
gemeint –, ob er aussehe wie ein Typ, der gegen seinen kurzzeitigen Sicherheitsbe- praktischer Sicht ein Fehler, denn so wich-
die Dienste von Huren brauche. Das Ge- rater Michael Flynn einzustellen, und Sie tig der Sonderermittler ist, ich bin mir si-
spräch geriet nach meinem Gefühl außer darauf schließlich entließ? cher, dass die Arbeit von anderen fortge-
Kontrolle, und da habe ich ihm gesagt, dass Comey: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. setzt würde. Um das zu verhindern, müss-
wir nicht gegen ihn persönlich ermitteln. Es gibt Indizien dafür, dass er sich der Jus- te der Präsident jede einzelne Person im
Ich dachte, das sollte er wissen, weil klar tizbehinderung schuldig gemacht hat, vor Justizministerium und im FBI feuern, und
war, dass die Medien bald darüber berich- allem im Zusammenhang mit dem Treffen, das kann er nicht.
ten würden. Eine unserer Aufgaben beim in dem es um Flynn ging. In dieser Sache SPIEGEL: Muellers Ermittlung dreht sich
FBI ist es, das Präsidentenamt zu beschüt- bin ich ein Zeuge, ich kann nicht sagen, auch um die Frage, ob der Präsident die
zen. Und wenn jemand in Gefahr ist, er- zu welchem Schluss der Sonderermittler Justiz behindert hat, dafür sind Sie einer
presst zu werden, dann gehen wir unter an- kommt. der wichtigsten Zeugen. Besteht nicht die
derem so vor, dass wir die betroffene Per- SPIEGEL: Sollte gegen Trump ein Amts- Gefahr, dass Sie sich durch Ihr Buch und
son informieren, dass wir davon wissen. enthebungsverfahren eingeleitet werden? Ihre deutlichen Kommentare über den Prä-
SPIEGEL: Hat Trump verstanden, dass es Comey: Zunächst einmal werden die Ge- sidenten selbst beschädigen?
um etwas Ernstes geht? setze, die Fakten und unsere Verfassung da- Comey: Das ist eine begründete Frage,
Comey: Ich glaube schon, denn später rief rüber entscheiden. Aber ich hoffe, auch aber ich denke das nicht. Meine Aussage
er mich wieder an, weil er mit mir darüber wenn es seltsam klingen mag, dass es kein ist abgeschlossen, ich habe vor dem Senat
reden wollte. Impeachment-Verfahren gibt. Denn damit darüber Auskunft gegeben. Ich habe Me-
SPIEGEL: Das FBI soll das Präsidentenamt würden die Amerikaner aus der Verantwor- mos über die wichtigsten Begegnungen ge-
beschützen, aber zur gleichen Zeit er- tung entlassen. Wir haben gemeinsame Wer- schrieben, das heißt, es gibt Protokolle.
mittelten Sie gegen Leute, die dem Präsi- te, die bedeutsamer sind als unsere politi- Und ich erzähle konsistent die Wahrheit.
denten nahestanden, wegen der russischen
Einflussnahme auf die Wahl. Ist das nicht
ein grundsätzlicher Konflikt?
Comey: Das kann es sein. Es gibt ein na-
türliches Spannungsverhältnis zwischen
den Verpflichtungen des FBI, die Regierung
zu beschützen und gegen Teile der Regie-
rung zu ermitteln. Aber ich denke, das ist
ein Konflikt, der sich bewältigen lässt.
SPIEGEL: Hielten Sie dieses sogenannte
Steele-Dossier damals für wahr?
Comey: Damals wusste ich es nicht. Es
kam von einer verlässlichen Quelle, die
ein bestehendes Netzwerk von russischen
Kontakten hatte. Und ich wusste auch,
dass eine zentrale Feststellung dieser Ma-
terialsammlung zutreffend war, nämlich
dass die Russen eine gewaltige Anstren-
gung unternommen hatten, um die Wahl
zu beeinflussen. Die Leute sagen immer
wieder, das Dossier sei unbestätigt. Dieser
Teil war wahr. Was den Rest angeht, in-
klusive der schlüpfrigen Teile, wusste ich
BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL

es einfach nicht. Als ich gefeuert wurde,


gab es Anstrengungen, das Dossier tiefer
auszuwerten, und ich weiß nicht, wie das
ausgegangen ist.
SPIEGEL: Im Zentrum dieser Angelegen-
heit steht die Frage, ob Teile der Trump-
Kampagne im Wahlkampf geheime Ab-
sprachen mit Russland getroffen haben.
Gab es die?
Comey: Das herauszufinden ist die Auf- »Es ist nicht normal in diesem Land, dass
gabe des Sonderermittlers Robert Muel-
ler. Für unsere Ermittlungen gab es jeden- ein Präsident sagt, ein Bürger gehöre ins Gefängnis.«
falls eine Basis. Das FBI wusste, wie in-

23
Titel

SPIEGEL: Aber Sie könnten als parteiisch SPIEGEL: Der Vorwurf gegen Sie lautet,
gesehen werden und damit die Glaubwür- Sie hätten sich zu sehr ins Rampenlicht ge-
digkeit Ihrer Aussagen beschädigen. drängt. Sie geben selbst zu, manchmal zu
Comey: Vielleicht. Wenn mich allerdings sehr von Ihrem Ego angetrieben zu wer-

BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL


jemand ins Kreuzverhör nähme, würde er den. Sind Sie zu egozentrisch?
die gleichen Fragen stellen, ob ich nun ein Comey: Was erlauben Sie sich? (Er lacht.)
Buch geschrieben habe oder nicht. Des- Die Frage kann niemand über sich selbst
halb sehe ich das nicht als Problem. beantworten. In meinem Buch schreibe
SPIEGEL: Sie sind jetzt für viele Trump- ich aber, dass ich mir schon als Teenager
Unterstützer der Erzfeind, im Oktober Sorgen über meinen Stolz und mein Ego
2016 war es umgekehrt – damals teilten gemacht habe, weil ich weiß, dass sie zu
Sie dem US-Kongress nur elf Tage vor der Comey, SPIEGEL-Redakteure* meinen Schwächen gehören.
Wahl mit, dass das FBI die Ermittlungen »Ich empfand großen Respekt für Obama« SPIEGEL: Sie haben als Staatsanwalt, stell-
gegen Hillary Clinton wieder aufnehme, vertretender Justizminister und FBI-Chef
weil ein Laptop mit E-Mails aufgetaucht viele der großen Affären in den USA haut-
war. Clintons Leute griffen Sie damals an, Ermittlungen gegen Clinton informierten, nah miterlebt. Sie waren in den Neunzi-
Trumps Unterstützer verteidigten Sie. obwohl das die Aufgabe des Justizminis- gerjahren an Ermittlungen wegen umstrit-
Comey: Es ist wirklich lustig. Meine Frau teriums gewesen wäre. Sie wollten damit tener Immobiliengeschäfte der Clintons
hat mal gesagt: »Du wusstest immer, dass Ihre Unabhängigkeit demonstrieren. Wa- beteiligt, zuvor am Verfahren gegen den
du die Hälfte des politischen Spektrums rum sind Sie nicht einfach nach Lehrbuch Milliardär Marc Rich. Sie waren in die Fra-
verärgern würdest. Ich dachte nie, dass du vorgegangen? ge involviert, ob US-Soldaten im Irak ge-
es fertigbringst, beide Hälften gegen dich Comey: Dieses Lehrbuch hätte ich gern. foltert haben …
aufzubringen.« Es stimmt, sowohl Demo- Erinnern Sie sich an 2016, das war eine Comey: Sie haben das Buch wirklich ge-
kraten als auch Republikaner sind wütend katastrophale Ausgangslage. Das FBI führt lesen!
auf mich, logisch ist das nicht – ich kann Ermittlungen gegen eine Präsidentschafts- SPIEGEL: Natürlich. Und doch kommen
ja nicht sowohl auf Trumps wie auf Clin- kandidatin wegen ihrer E-Mails, mitten in Sie immer wieder auf Trump zurück.
tons Seite gewesen sein. einer der politisch zerrissensten Phasen Warum?
SPIEGEL: Haben Sie Hillary Clinton die unserer Geschichte. Ich will niemanden Comey: Man kann nicht über ethische Füh-
Präsidentschaft gekostet? Sie selbst ist da- überzeugen, dass ich recht hatte, sondern rung schreiben, ohne Trump zu nennen,
von überzeugt. lediglich aufzeigen, wie jemand in meiner als Antithese.
Comey: Ich hoffe es wirklich nicht, aber Position versucht, ethisch zu handeln. Ich SPIEGEL: Trumps jetziger Stabschef John
ich weiß es nicht. bete dafür, dass kein FBI-Direktor mehr Kelly wollte kündigen, nachdem Sie gefeu-
SPIEGEL: Clintons Umfragewerte brachen solche Entscheidungen treffen muss. Es ert wurden. Sie baten ihn zu bleiben – sa-
damals ein. Ihr Brief hatte also offensicht- war eine Reihe von No-Win-Situationen, gen aber auch, Trump beschmutze alle, die
lich einen Einfluss. alle Optionen waren furchtbar. mit ihm arbeiten. Was sollen seine Mitar-
Comey: Das kann sein, aber ich habe nicht SPIEGEL: Sie haben auch zugegeben, dass beiter also tun? Bleiben oder gehen?
aus politischen Erwägungen heraus gehan- Sie von der Annahme beeinflusst waren, Comey: Eine gute Frage, die aber nur der
delt. Ich habe einen großen Teil meines dass Clinton gewinnt, als Sie im Oktober Betreffende für sich beantworten kann.
Berufslebens Institutionen gewidmet, an den Brief an den Kongress schrieben. Von außen kann ich nicht sagen, ab wann
denen ich geliebt habe, dass sie nichts mit Comey: Ich erinnere mich nicht daran, das Gleichgewicht nicht mehr stimmt
Politik zu tun haben. Aber manchmal sit- über Meinungsumfragen nachgedacht zu zwischen der Anstrengung, das Land zu
zen Sie einfach zwischen den Stühlen. haben. Aber damals ging das ganze Land beschützen, und den persönlichen Kom-
SPIEGEL: Sie beschreiben im Buch aber, davon aus, dass Clinton gewinnt. Hatte promissen. Ich glaube, in Trumps Stab
dass Sie selbst politische Überlegungen an- das einen Einfluss auf mich? Möglich. sind Leute, die dieses Land lieben und un-
stellten: Sie gaben zum Beispiel im Juli sere Werte bewahren wollen. Jeder muss
2016 eine umstrittene Pressekonferenz, in * Christoph Scheuermann und Mathieu von Rohr in selbst urteilen, ab welchem Punkt er so be-
der Sie persönlich über die Einstellung der New York. schmutzt ist oder zum reinen Gehilfen
DOUG MILLS / THE NEW YORK TIMES / LAIF
DOULIERY OLIVIER / DDP IMAGES

Comey bei der Vorstellung als designierter FBI-Chef am 21. Juni 2013, Wahlkämpferin Clinton im Oktober 2016

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wird, dass es keinen Sinn mehr ergibt zu
bleiben.
SPIEGEL: Sie wären geblieben?
Comey: Ich wäre auf jeden Fall geblieben,
weil ich mich verpflichtet gesehen hätte,
das FBI zu beschützen.
SPIEGEL: Sie vergleichen diese Präsident-
schaft mit einem Waldbrand. Was macht
Trump so gefährlich für Amerika?
Comey: Einer der wichtigsten Werte in die-
sem Land ist die Wahrheit. Wir haben Prä-
sidenten immer nach der Entfernung be-
urteilt, die sie zur Wahrheit hatten. Als
George W. Bush über den Irakkrieg sprach
oder Barack Obama über das Gesundheits-
wesen, haben wir immer gefragt: Erzählen
sie uns die Wahrheit? Die Gefahr ist, dass
Donald Trump so häufig lügt, dass wir die-
ses Fundament verlieren.
SPIEGEL: Ein Waldbrand – glauben Sie,
dass Trump alles niederbrennt?

BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL


Comey: Ich hoffe nicht. Am Ende wird das
Feuer gelöscht, und dann können wieder
bemerkenswerte Dinge gedeihen. Das pas-
siert teilweise schon jetzt, wie nach der
Schießerei in Parkland, als Schüler im gan-
zen Land auf die Straße gingen und über
Waffen redeten. Das hat mich stark beein-
druckt. Im ganzen Land diskutieren Eltern
über Werte, über Wahrheit. Mir ist egal,
ob der nächste Präsident Republikaner »Trumps einziges Referenzsystem scheint intern
oder Demokrat ist. Mir geht es nicht um
Parteipolitik. Der nächste Präsident sollte
zu sein: Was bringt mir Bestätigung?«
diese Werte verkörpern, in Amerika und
der gesamten Welt.
SPIEGEL: Vermissen Sie Barack Obama? Comey: Ich weise die Prämisse zurück. Ich te, die Leute würden nicht herausfinden,
Comey: Ja. Jawohl. Ja. Ich habe ihm das glaube wirklich nicht, dass das FBI politi- dass ich es bin …
am Ende seiner Amtszeit auch gesagt. Am siert ist. Das FBI wird politisch attackiert, SPIEGEL: … lange hat es nicht gedauert.
Anfang war ich skeptisch, ich hatte seinen vor allem von den Republikanern, und das Comey: Und Niebuhr bedeutet mir immer
Gegnern Geld gespendet. Am Ende emp- ist sehr kurzsichtig. noch viel.
fand ich großen Respekt für ihn. Er ist SPIEGEL: Sie haben zu Beginn Ihrer Amts- SPIEGEL: Inwiefern?
nicht perfekt, aber er schätzt die demokra- zeit gesagt: »FBI-Chef ist der beste Job, Comey: Für Niebuhr sind die Menschen
tischen Institutionen. den ich je hatte.« zu unglaublich Schlechtem fähig, aber das
SPIEGEL: Das FBI hat Ihr Buch vor der Comey: Stimmt. ist für ihn keine Ausrede, nicht trotzdem
Publikation – ist »zensiert« ein angemes- SPIEGEL: Was kommt danach? zu versuchen, Gerechtigkeit in die Welt
senes Wort? Comey: Ich weiß es nicht. Ich habe ein zu bringen. Und das gefiel mir, denn ich
Comey: Vorüberprüfung. Wir nennen es Buch geschrieben. Ich werde über Ethik konnte die dunkle Seite der Menschheit
nie »Zensur«. und Führung sprechen, und ich werde sehen, aber Niebuhr konnte das in einer
SPIEGEL: Hat das FBI viele Eingriffe vor- nächstes Studienjahr an meiner früheren Weise darstellen, die sagt: »Na und? Du
genommen? Universität lehren, am College of William hast eine Verpflichtung, es zu versuchen
Comey: Nein. and Mary in Virginia, darauf freue ich und den Leuten zu helfen und Gutes zu
SPIEGEL: Gar keine? mich sehr. Aber ich werde meinen FBI-Job tun.« Er hat die Amerikaner auch an die
Comey: Doch, ein paar schon. Ich war stets vermissen. Ich wollte ihn schließlich Ironie ihrer eigenen Geschichte erinnert,
der FBI-Chef und wollte, dass das Buch sechs weitere Jahre machen. dass die Leute gute Absichten nicht immer
für das FBI akzeptabel ist. Mir war SPIEGEL: Werden Sie für ein politisches wertschätzen. Und schließlich war er mir
schon klar, dass ich keine geschützten Amt antreten? ein steter Mahner. Er schrieb über »die
Informationen verwenden kann, keine Comey: Nein. Sünde des Stolzes«, und das ist eine Sache,
heiklen Details aus Ermittlungen, und SPIEGEL: Niemals? über die ich bei mir stets besorgt bin.
das habe ich auch nicht getan. Die Dinge, Comey: Niemals. SPIEGEL: Herr Comey, wir danken Ihnen
die sie vorgeschlagen haben, waren alle SPIEGEL: Das hört sich definitiv an. für dieses Gespräch.
marginal. Comey: Ja, so ist es. Das ist nicht meins.
SPIEGEL: Ihr Ziel, das sagen Sie auch im SPIEGEL: Kurz bevor Sie gefeuert wurden,
Buch, war es, das FBI aus der Politik he- fingen Sie an zu twittern. Sie wählten als Video
Der Rächer
rauszuhalten. Doch nun kommt von bei- Pseudonym den 1971 verstorbenen US-
den Seiten des politischen Spektrums der Theologen Reinhold Niebuhr. Warum? spiegel.de/sp172018comey
Vorwurf, Sie hätten das FBI politisiert. Comey: Niebuhr hat mich sehr stark be- oder in der App DER SPIEGEL
Was haben Sie falsch gemacht? einflusst, als ich Student war, und ich dach-

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 25


Deutschland
»Und da denk ich mir: Boah. Jetzt fängt was Neues an.« ‣ S. 30

UPI PHOTO / IMAGO


Drohne »Heron TP«

Rüstung

Beschaffung von Drohnen wackelt


Das Programm der Bundeswehr kommt nicht voran. Ein Hersteller droht erneut zu klagen.

 Die Bundeswehr muss wohl noch länger auf neue Drohnen die genauen Umstände der Vergabe herstellen.« Im Haushalts-
warten. Grund ist ein Streit um die Anschaffung israelischer ausschuss des Bundestags regt sich ohnehin Widerstand. Denn
Drohnen vom Typ »Heron TP«. Das US-Konkurrenzunterneh- die Parlamentarier sollen 800 Millionen Euro für das Geschäft
men General Atomics erwägt eine Wettbewerbsklage für den freigeben, obwohl es noch keinen Haushalt für das Jahr 2018
Fall, dass ein Leasingvertrag mit dem israelischen Hersteller IAI gibt, in dem die Anschaffung eingestellt wäre. Der Linken-Abge-
zustande kommt. Die Amerikaner argumentieren, dass die Droh- ordnete Andrej Hunko plädiert dafür, das entstandene »Chaos«
nen gemäß der ursprünglichen Beschaffungsvorlage bewaffnet für eine grundsätzliche Debatte über Drohnen und deren künf-
werden sollten. Dies soll in der aktuellen Vorlage auf Wunsch tige Bewaffnung zu nutzen, wie es der Koalitionsvertrag vorsehe.
der SPD gestrichen werden. »Die Bundesregierung bewegt sich Im Verteidigungsministerium heißt es, man halte an dem Plan
auf rechtlich dünnem Eis«, sagt der Grünen-Verteidigungs- fest, das Parlament noch vor der Sommerpause mit dem Droh-
experte Tobias Lindner: »Sie muss dringend Transparenz über nenvertrag zu befassen. GT, MGB, ROM

Extremismus Dienst bekannt, heißt es in einem vertrau- waffen abgenommen worden, so das
Reichsbürger in Uniform lichen Lagebild der Behörden. Allein bei
der bayerischen Polizei laufen gegen elf
Bundesinnenministerium. Den Truppen-
gerichten der Bundeswehr liegen vier Fälle
 Dutzende Beamte stehen der obskuren mutmaßliche Reichsbürger in Uniform von Soldaten und der Fall eines Beamten
Reichsbürger-Bewegung nahe, die die Disziplinarverfahren, fünf Beamte wurden zur Entscheidung vor, die nach internen
Existenz der Bundesrepublik bestreitet. nach Angaben des dortigen Innenministe- Ermittlungen den »Reichsbürgern« ange-
Dem Verfassungsschutz sei »eine im riums vom Dienst suspendiert. Bei der hören sollen. Gegen acht weitere Soldaten
hohen zweistelligen Bereich liegende Zahl Bundespolizei gibt es sieben Verdachts- laufen Vorermittlungen des Militärgeheim-
von Verdachtsfällen« im öffentlichen fälle, vier der Polizisten seien die Dienst- diensts MAD. KNO, MGB, WOW

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Gesundheit SPIEGEL: Wird ein Mensch eingewiesen, Grundrechte so vieler Menschen aushe-
sollen seine Daten in einer Akte gespei- beln? Gewalttaten von psychisch Kranken
U-Haft für Kranke chert werden. Was halten Sie davon? gegen Fremde sind extrem selten. Am
Finzen: Ich bezweifle, dass das mit dem stärksten gefährdet sind Angehörige, die
Der Berliner Psychiater Grundgesetz vereinbar ist. Behörden helfen wollen, aber die Distanz nicht hin-
Asmus Finzen, 78, über könnten feststellen, ob jemand wegen kriegen. Ein großes Problem ist, dass sie
den umstrittenen Entwurf Depressionen und Suizidgedanken in der von allen Stellen abgewimmelt werden,
für ein neues bayerisches Klinik war. In eine solche Krise kann wenn sie auf eine Krise hinweisen wollen.
DPA

Psychiatriegesetz jeder von uns geraten, zumal der Ge- Da hilft keine Datensammelei. Hilfreich
setzentwurf nicht unterscheidet, etwa wäre dagegen eine Zentralstelle zur Erfas-
SPIEGEL: Das Gesetz soll Kranken helfen zwischen Menschen mit Psychose und sung von Polizeigewalt gegen psychisch
und verhindern, dass sie unter Zwang in Depressiven. Ich kann mir auch kein Kranke.
eine Klinik eingewiesen werden. Was kri- Szenario vorstellen, in dem es einem SPIEGEL: Warum?
tisieren Sie? psychisch Kranken nutzen würde, wenn Finzen: In manchen Situationen bleibt
Finzen: Die Passagen zu Hilfe und Kri- man seine Daten speichert. Im Gegenteil. der Polizei nichts anderes, als Gewalt
senintervention sind gut, aber zu kurz. Kranke würden sich hüten, von sich aus anzuwenden, auch in Formen, die von
Dem Gesetz fehlt jeglicher Respekt vor in eine Klinik zu gehen oder zur Krisen- den Betroffenen als demütigend empfun-
den Kranken. Es ist darin immer nur von intervention, wenn sie fürchten, von den werden. Da brauchen wir Transpa-
»Untergebrachten« die Rede. Alles dreht dort in eine Art Überwachungssystem zu renz. Pro Jahr werden in Deutschland
sich um Freiheitsentzug für Menschen, bei geraten. aber auch fünf bis sechs psychisch Kranke
denen man fürchtet, dass sie sich selbst SPIEGEL: Das neue Gesetz soll auch der von der Polizei getötet. In der Regel tra-
oder andere verletzen könnten. Kranke in Gefahrenabwehr dienen. gen Kranke keine Schusswaffen. Sie wer-
Krisensituationen werden wie Menschen Finzen: Hier wird der Eindruck erweckt, den erschossen, weil die Polizei nicht
behandelt, die eine schwere Straftat be- man müsse die Bevölkerung vor psychisch genug geübt ist im Umgang mit Menschen
gangen haben: eingeschränkte, überwach- Kranken schützen. Das ist für die Betrof- in psychischen Krisen. In Hamburg rief
te Besuche, zensierte Briefe, körperliche fenen verheerend. Pro Jahr gibt es in eine Mutter die Polizei zu Hilfe, weil ihr
Untersuchung, auch im Intimbereich – all Deutschland um die 30 Tötungshandlun- Sohn die Wohnung demolierte. Und die
das erinnert an Untersuchungshaft. Klini- gen durch psychisch Kranke. Das bedeu- Polizei hat ihn erschossen. Das sind die
ken wären gezwungen, sich zu verhalten, tet: In Bayern sind es vielleicht 5. Das ist typischen Situationen. In denen hilft so
als würden sie ein Gefängnis führen. auch noch zu viel, aber kann man dafür ein Gesetz gar nichts. BEL

Klinikmorde Klinikleitung über den schweren Verdacht Geheimdienste


Niels Högel muss zahlen gegen Högel beraten, sich aber dagegen
entschieden, die Staatsanwaltschaft ein-
Kabale unter Freunden
 Das Arbeitsgericht Oldenburg hat den zuschalten. Auch der Betriebsrat war  Die Bundesregierung von Helmut
Krankenpfleger Niels Högel, angeklagt mit dem Fall befasst gewesen. »Nach dem Kohl ist 1987 knapp einer peinlichen
wegen 97-fachen Mordes, verurteilt, schweren Versagen bei der Aufklärung Panne entgangen. Bonns Gesandter an
Schadensersatz an das Klinikum Olden- der Mordserie muss das Klinikum Olden- der Botschaft in Washington wollte den
burg zu zahlen. Laut dem Urteil vom burg nun Verantwortung gegenüber allen Amerikanern einen Gefallen tun. Die
7. März muss Högel rund 47 000 Euro für Opfern übernehmen, auch denen aus Del- Verbündeten hatten gejammert, Außen-
zwei medizinische Gutachten und menhorst«, sagt Marbach. GUD minister George Shultz könne bei einem
Anwaltsleistungen aufbringen, anstehenden Besuch in Moskau nicht
die die Klinik zur Aufklärung sei- telefonieren, weil die Sowjets die US-
ner mutmaßlichen Mordserie in Botschaft verwanzt hätten. Da bot der
Auftrag gegeben hatte. Insgesamt hilfsbereite Deutsche an, den abhörsi-
hatte das Klinikum mehr als cheren Raum in der Bonner Vertretung
600 000 Euro gefordert, konnte in Moskau zu nutzen – und brachte
sich damit aber nicht durchset- damit Bonn in die Bredouille, wie Unter-
zen. Das Urteil ist noch nicht lagen des Auswärtigen Amts zeigen, die
rechtskräftig. Angehörige von das Institut für Zeitgeschichte veröffent-
Högels Opfern wiederum wollen licht (De Gruyter Verlag). Man wisse
nun juristisch gegen das Kranken- doch, wie umfassend die Sicherungs-
haus vorgehen. »Der Mord an maßnahmen der CIA ausfielen, schimpf-
meinem Großvater und alle ande- te ein Diplomat. Der US-Geheimdienst
ren Morde in Delmenhorst hätten würde gleich »die Botschaft ›besetzen‹«,
verhindert werden können, wenn in den Räumen möglicherweise sogar
die Klinikleitung in Oldenburg, »manipulieren und präparieren«. Der
wo Högel bis 2002 gearbeitet hat, Chiffrierraum sei tabu. Spezialisten
die Polizei eingeschaltet hätte«, müssten hinterher alles »gründlich
sagt Opfersprecher Christian untersuchen«. Doch dazu kam es nicht.
RAINER FROMM / BILD

Marbach, »darum bereiten wir Für den Shultz-Besuch flogen die Ameri-
umfangreiche zivilrechtliche Kla- kaner einen Campingbus nach Moskau.
gen gegen das Klinikum vor.« Das Gefährt sollte abhörsicher sein,
Wie der SPIEGEL (16/2018) Högel 2014 hofften sie. Von dort telefonierte Shultz
berichtete, hatte die damalige mit Präsident Ronald Reagan. KLW

27
AfD
Enkel klagen gegen
Stresemann-Stiftung
 Im Streit um die Gustav-Stresemann-
Stiftung wird es grundsätzlich: Die bei-
den Enkel des einstigen Reichskanzlers
Gustav Stresemann haben Klage beim
Landgericht Berlin eingereicht. Sie wol-
len dem »Gustav-Stresemann-Stiftung
e. V.« verbieten, den Namen ihres Groß-
vaters überhaupt zu benutzen. Der
rechtsnationale Stiftungsverein mit Sitz
im thüringischen Jena steht dem rech-

UWE ANSPACH / DPA


ten Flügel der AfD nahe. Parteichef
Alexander Gauland favorisierte dessen
Namen für eine parteinahe Stiftung; die
Stresemann-Enkel versuchten, das zu
»Hitler-Glocke« im pfälzischen Herxheim unterbinden. Offenbar hat sich die AfD
zwar mittlerweile darauf verständigt,
Kirchen den Glocken finden sich Hakenkreuze zumindest vorläufig die Desiderius-
Braunes Läuten oder Inschriften, die auf Adolf Hitler Erasmus-Stiftung als parteinah anzuer-
oder Ereignisse wie den Anschluss des kennen. Doch die Stresemann-Enkel,
 In etwa zwei Dutzend deutschen Kir- Saargebiets an das Deutsche Reich ver- darunter Christina
chen hängen noch heute Glocken mit weisen. Einige wurden bereits stillgelegt, Stresemann, Vor-
Bezug zum Nationalsozialismus. Das er- abgehängt oder ersetzt, in manchen Fäl- sitzende Richterin
gab eine Umfrage des SPIEGEL in den len ist noch keine Entscheidung gefallen. beim Bundesge-
evangelischen Landeskirchen und der ka- Es könnte noch mehr solcher Funde richtshof, wollen
tholischen Kirche. Mindestens 21 Exem- geben, da manche Landeskirchen nach das Persönlich-
plare hängen in evangelischen Gotteshäu- eigenen Angaben keine oder nur unvoll- keitsrecht ihres
sern, zwei weitere in einer katholischen ständige Erkenntnisse über Inschriften Vorfahren nun
Kirche im hessischen Amöneburg. Auf und Symbole im Turmgeläut haben. MXW grundsätzlich

AKG
schützen. »Mit
Stresemann dem Gedankengut
um 1927 der AfD hätte sich
Terrorismus Mitgliedschaft im IS sowie wegen sexuel- Stresemann nie-
IS-Logistiker gestoppt ler Gewalt. Die Bundespolizei ließ im
Zusammenspiel mit dem Stuttgarter Lan-
mals gemeingemacht«, sagt der Anwalt
der Enkel, Christian Schertz. »Die Nut-
 Die Polizei hat verhindert, dass ein deskriminalamt vor wenigen Wochen zung seines Namens für derartiges
mutmaßlicher Logistiker der Terrororga- das Visum des Vaters annullieren, sodass Gedankengut verletzt seine Menschen-
nisation »Islamischer Staat« (IS) einreist. er den Flug nach Stuttgart nicht antreten würde schwer.« Der Liberalkonserva-
In einem deutschen Konsulat hatte er ein konnte. Das Visum zurückzunehmen tive der Weimarer Republik hatte 1926
Visum zur Familienzusammenführung habe nur 14 Stunden gedauert; die Bun- für seine Politik der Verständigung mit
mit seinem bereits in Deutschland leben- despolizei könne »auch kurzfristig« Frankreich den Friedensnobelpreis
den Sohn Fares al-B. erhalten. Gegen ihn Gefährder fernhalten, heißt es in einem erhalten, gemeinsam mit dem französi-
ermitteln die Behörden ebenfalls wegen vertraulichen Vermerk. JDL schen Staatsmann Aristide Briand. MUM

Sozialdemokraten bundesweiten Liste. 2014 etwa rangierte der Sozialdemokraten in Deutschland


Ossis für Brüssel der erste auf Platz 22. Damals war das
kein Problem, da die SPD mit ihrem Spit-
könnte es nun jedoch bei ähnlicher Platzie-
rung womöglich gar kein Ostdeutscher ins
 Der SPD-Europaparlamentarier Arne zenkandidaten Martin Schulz ein verhält- Europaparlament schaffen. Lietz betont
Lietz aus Wittenberg fordert von seiner nismäßig gutes Ergebnis erzielte. Ange- die »Brückenfunktion« ostdeutscher Ab-
Parteispitze sichere Listenplätze für ost- sichts der aktuellen mauen Umfragewerte geordneter zu Kollegen aus Ländern wie
deutsche Kandidaten bei der nächsten Polen oder Ungarn, deren Regierungen
Europawahl. »Vor dem Hintergrund der sich immer weiter von der EU entfernen.
großen Bedeutung europäischer Fonds für Ostdeutsche Sozialdemokraten haben es
die ostdeutschen Bundesländer und der bei der Listenaufstellung traditionell
CHRISTIAN SCHROEDTER / IMAGO

oftmals großen Unkenntnis über Europa, schwer, da nur fünf Prozent der SPD-Mit-
die hier herrscht, wäre es fatal, wenn keine glieder aus den neuen Ländern stammen.
Abgeordneten aus den neuen Ländern Zuletzt hatte es dort erheblichen Unmut
mehr im Europaparlament vertreten gegeben, weil der neuen Bundesregierung
wären«, so Lietz. Bei den vergangenen außer der Kanzlerin nur eine weitere
Europawahlen standen die ostdeutschen Lietz Ostdeutsche angehört. Die SPD wird ihre
SPD-Kandidaten weit hinten auf der Liste Ende des Jahres beschließen. MP

28 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Deutschland

NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL

»Uiuiui«
SPD Andrea Nahles, 47, hat schon viele Rollen in ihrer Laufbahn gespielt.
Jetzt soll sie als Superheldin ihrer Partei die Genossen
mit den Deutschen versöhnen. Kann das klappen? Von Veit Medick

30
W
enn Andrea Nahles zuletzt Ums Überleben geht es von nun an. Am Tresen sitzt Siggi Hüyng. Kurzhaar-
ins Willy-Brandt-Haus ging, Und von ihr hängt ab, ob das gelingt. frisur und Jeansjacke, Pils und Kippe.
machte sie einen Umweg. Uiuiui. Hüyng arbeitet im Altersheim, vor 30 Jah-
Klar, sie nahm die Drehtür, Ein Dienstag im Frühjahr, der Ort Wei- ren gründete er mit Nahles und ein paar
spazierte ins Foyer, nahm dann den Auf- ler in der Eifel, der einzige Flecken in Freunden einen SPD-Ortsverein, genauer:
zug in die höheren Etagen. Aber statt ins Deutschland, in dem Nahles schon die Nahles gründete ihn mit den anderen, weil
Chefbüro in der hinteren Ecke des fünften Superheldin ist, die sie für die SPD erst sie schon damals ahnte, dass manches nur
Stocks zu gehen, schaute sie sich lieber für noch werden soll. 500 Einwohner, eine über Bündnisse geht. »Der Ortsverein war
einen Moment die Porträts jener Herren davon Nahles. Sie ist hier aufgewachsen. natürlich ihre Idee«, sagt Hüyng.
an, die sie nun beerben soll. Ging zur Schule und wurde Messdienerin. Die Gruppe hatte Spaß, und sie hatte
Die Fotos von Brandt, Vogel, Schröder, Ritt als Kind durch die Wälder und heira- was vor. Sie sammelte Aluminium, um es
Müntefering. Helden im Siegestaumel. tete in der örtlichen Kirche. zur Alteisensammlung zu bringen und die
Oder in Denkerpose. Gute Fotos. Aber Es gibt Leute, die sagen, man kennt Ortsvereinskasse aufzubessern. Sie rettete
eben Symbole vergangener Zeiten und Nahles nicht, ohne Weiler zu kennen. Mit einen Berg vor den Schaufelbaggern und
Belege dafür, wie gern sich die Sozial- solchen Sätzen muss man vorsichtig sein. trommelte gegen eine örtliche Mülldepo-
demokraten historisieren. Nahles machte Weil Politiker ihre Heimat gern mal nut- nie. »Wir wurden damals schon manchmal
sich ihre Gedanken. »Diese wahnsinnige zen, um sich basisnah zu zeigen. Um eine schief angeguckt«, erzählt Hüyng, was völ-
Ahnengalerie«, sagt sie. »Diese Schwarz- Distanz zwischen sich und diesem verrück- lig plausibel ist, weil die Eifel ja eine derart
Weiß-Bilder. Uiuiui. Ganz viele ernst bli- ten Hauptstadtbetrieb zu schaffen. Ob- schwarze Gegend ist, dass die Union bei
ckende Männer. Uiuiui.« wohl sie sich im Regierungsviertel in Wahr- Wahlen auch einen Gartenzwerg aufstel-
»Und da denk ich mir: Boah. Jetzt fängt heit sehr, sehr wohl fühlen. len könnte – er würde gewinnen.
was Neues an.« Aber das Verhältnis Berlin-Weiler-Nah- Eine hübsche Geschichte ist das mit die-
Es gibt viele Geschichten über Andrea les ist schon eine besondere Geschichte. sem Ortsverein. Vom Kleinen ins Große,
Nahles, aber dass sie mal Angst gehabt Weil diese zwei sehr unterschiedlichen aus Weiler in die weite Welt. Der Wermuts-
hätte vor einer neuen Aufgabe, tropfen ist, dass Hüyng nicht mehr
geschweige denn vor irgendeiner in der SPD ist. Er wählt sie noch,
Ikone, hat noch nie jemand er- aber sein Parteibuch gab er 1995
zählt. Wenige sind ähnlich furcht- zurück. Wegen Nahles. Die knöpf-
los bergauf geklettert und haben te sich damals auf dem Mannhei-
dabei so viele Parteifreunde hin- mer Parteitag Rudolf Scharping
ter sich gelassen wie sie. Es gibt vor. »Das war mir ein bisschen zu
auch nicht viele, die schon immer viel Lirum, larum, Löffelstiel, Ru-
irgendwie da waren und trotz- dolf«, hielt sie dem schwankenden
dem für einen Wandel stehen sol- Vorsitzenden damals vor. Hüyng
len. Nahles soll von Sonntag an fand, dass man einen Parteichef so
die SPD führen, was ein Teil der nicht abservieren dürfe. »Das war
Sozialdemokratie völlig logisch nicht meine Sprache«, sagt er.
findet, weil es schlicht nicht Und war weg.
mehr so mutlos weitergehen kann In Weiler ist Hüyng mit der Hal-
wie zuletzt. Ein anderer Teil fin- tung eher allein, im Rest der Re-
det das aber auch unmöglich. publik nicht. Die Deutschen haben
Wegen der vielen Bremsspuren, Auszug aus Abi-Buch von Nahles’ Gymnasium ihre Probleme mit Nahles, und
die Nahles in ihrer Laufbahn Zwischen Authentizität und Show ihre Sprache spielt wohl eine Rolle.
hinterlassen hat. Das ist eigenartig, gibt es doch an-
Aber statt ihr wieder ein Mann? Das Welten, in denen die Sozialdemokratin geblich eine Sehnsucht nach Politikern, die
geht nun noch weniger. Die hatten jetzt lebt, eine Spannung erzeugen, die man als keine Redemaschinen sind, die man an-
154 Jahre ihre Chance. Politiker erst einmal aushalten muss. Un- knipst, nur um ein paar leblose Sätze aus
Dass sie nun die erste Chefin in der Par- ter der Woche Dienstwagen, Plenarsaal, ihrem Mund purzeln zu hören.
teihistorie sein wird, habe »was Befreien- Machtspielchen. Am Wochenende zur Nahles ist selten leblos. Aber wenn sie
des«, sagt sie. Mehr überhöhen möchte sie Tochter auf den modernisierten Bauern- mal wieder »verdammte Kacke« sagt oder
den Moment nicht, das müssen andere ma- hof, der einst ihren Urgroßeltern gehörte. der Union eins »in die Fresse« geben will,
chen. Und außerdem hat sie schon viele Rol- Straße kehren. Brot backen. Hinten der wenn sie »Bätschi« ruft oder ihre Leute
len gehabt in ihrer Laufbahn. Nervensäge, Wald, vorn der Dorfkern. Ein paar Wind- warnt, dass die Wähler der SPD doch »den
Regierungslinke, Streberin, Koalitionsanker. räder, eine Kirche, ein Gemeindezentrum, Vooogäl« zeigen würden, scheint das vielen
Jetzt eben Chefin. Aber ihr Problem ist, dass viel gibt es nicht in Weiler. Zum Einkauf dann doch wieder zu weit zu gehen.
sie nun so vieles zugleich sein muss. Sie soll muss man ins Nachbardorf fahren, Breit- Ja, ihr Jargon beißt sich zuweilen mit ihrer
die Kanzlerin treiben und den Betrieb in bandnetz gibt es nicht. Machtstellung. Aber an Nahles lässt sich
der Koalition am Laufen halten. Die Union Eine der beiden Gaststätten im Dorf ist auch studieren, wie schwierig dieser Beruf
nerven und Konflikte wegmoderieren. Ego- das Kirjässer am Ortsausgang. Über der sein kann. Ist man so wie alle anderen, gilt
shooter und Teamspielerin in einer Person. Tür steht: »Hier ist es doch viel schöner man als Teil der Blase. Schlüpft man aus
Ja, und vor allem wollen ihre Leute na- als bei normalen Menschen.« Das Kamin- dem Korsett, gilt man schnell als schwer ver-
türlich, dass sie die Partei heilt. Dass sie feuer knistert, an der Wand hängen Ge- mittelbar. Die Gratwanderung kann Poli-
aus diesem Häuflein SPD wieder eine star- weihe, und aus den Boxen schallt Peter tiker kaputt machen. Martin Schulz etwa.
ke Truppe macht. Hokuspokus. Bis 2021, Alexanders »Die kleine Kneipe«. Wenn Der lief am Ende wie ein Roboter umher.
spätestens. Sonst kann es auch schnell vor- Jens Spahn mal wieder genervt ist von den Nahles hat längst bewiesen, dass sie regie-
bei sein für sie mit der Politik und für die Hipstern in der Hauptstadt – das Kirjässer ren kann. Sie denkt auch nicht mehr in der
SPD mit der Rolle als Volkspartei. wäre eine Option. klassischen Freund-Feind-Kategorie. Wenn

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 31


Deutschland

sie zum Beispiel vom »blöden Dobrindt« handeln und zum Beispiel im »Star Trek«- ren, sagt sie. Als ob das so einfach wäre.
spricht, ist das ein Stück weit Fassade. In Outfit auftauchen darf, so wie sie früher Früher, in den Neunzigern, waren die Par-
Wahrheit versteht sie sich mit dem CSU- manchmal rumlief. teien der Ort, wo man sein musste. Nahles
Mann nämlich ganz gut. Beide waren einst Damals trug sie einen sogenannten las Zeitung, sprach mit Leuten, setzte eine
Generalsekretäre. Und hatten schwierige Communicator, auf den die TV-Helden These in die Welt, fertig war die Debatte.
Chefs. Das verbindet. Nahles und Dobrindt drückten, um miteinander zu kommuni- Heutzutage haben alle schon eine These,
treffen sich manchmal, um sich auszutau- zieren. Positives Verhältnis zur Technik, noch bevor Nahles die Zeitung aufgeschla-
schen. Um zu schauen, was die Gegenseite Neugierde, ein Stück Utopie. »Auf eine ge- gen hat. Das Tempo ist einer der Gründe,
so denkt. Intellektuelles Pingpong. wisse Weise die Verfilmung der sozial- weswegen Parteien heute so alt wirken.
Einmal, vor Jahren, hat Dobrindt demokratischen Idee«, findet Nahles. Und Für die Erneuerung müsse man »auch
Hannelore Kraft aus Düsseldorf mal als so ganz anders als »Star Wars«. »Das fand den Mumm haben, mal ’n paar heiße Eisen
»faulstes Ei« in der deutschen Politik be- ich immer düster. Krieg und so.« anzufassen«, ruft Nahles vorn auf der Büh-
zeichnet. Nahles reagierte, indem sie öf- Für Nahles gehörten das Authentische ne und sagt, dass sich die SPD vor allem
fentlich an Krafts berührende Trauerrede und die Show schon immer zusammen. Im die Zukunft der Arbeit vornehmen müsse.
nach dem Loveparade-Unglück erinnerte, Abi-Buch des Megina-Gymnasiums in Ihre »Cousine Roswitha« zum Beispiel
was Kraft ziemlich gut und Dobrindt ziem- Mayen aus dem Jahr 1989 werden auf den habe 23 Jahre bei einer Bank gearbeitet
lich schlecht hat aussehen lassen. Dobrindt Seiten 54 bis 60 die Stars und Sternchen und werde jetzt von einem Algorithmus
fand das böse. Aber sehr professionell. Sie ihres Jahrgangs vorgestellt. Die Coolsten ersetzt. Gemurmel im Saal. »Ja, für den
wisse, wie sie den Hammer ansetzen müs- und die Schönsten, die größten Schleimer Namen kann die auch nix«, ruft Nahles,
se, um den Nagel reinzukriegen, sagt er. und die schlimmsten Streber. Nahles und schon ist gute Stimmung.
Nahles sitzt in ihrem Wagen, Tempo taucht häufig auf. Platz drei bei den »Stu- Als Ministerin hat sie ein Gesetz nach
130, Lüneburger Heide. Sie holt ein Knop- fenclowns«. Platz zwei bei den »Geschwät- dem anderen gemacht. Sie sehnt sich danach,
pers aus der Tasche und atmet durch. zigsten«. Und Platz eins bei der »Eman- Dinge wegzuschaffen und abzuarbeiten,
Wenn sie dieser Tage mal einen Moment ze«. Sie war auch »Mrs Abitur« – Andrea man sieht es, wenn man ihr zuguckt. Sie
Zeit hat, liest sie »Hector und die Kunst Nahles, die Goldmedaille. Die große Büh- hämmert mit den Fäusten und sticht mit den
der Zuversicht« von François Lelord. ne suchte sie schon immer. Fingern. Sie gräbt und greift und presst und
Unterhaltungsgeschichten, kurze Kapitel, Samstagmittag vergangener Woche, die schiebt. Sie schiebt so ziemlich alles weg,
nicht allzu kompliziert. Genau das Rich- Heidmark-Halle in Bad Fallingbostel. Nah- was ihr in die Quere kommt. Die Kanzlerin,
tige in Phasen wie diesen, in denen das les ist zum Parteitag der Niedersachsen- Hartz IV, die Krise der eigenen Partei. »Die
politische Berlin im Hochbetrieb läuft. SPD gekommen. Sie soll den Genossen et- SPD muss nicht gerettet werden«, ruft sie.
Nahles hat schon manche Torheit began- was über die Erneuerung erzählen. Es gel- Fragende Gesichter der Delegierten.
gen. Aber sie kann sich einschätzen, sie hat te jetzt, wieder echte »Debatten« zu füh- Wie jetzt, nicht gerettet werden?
einen guten Blick auf sich selbst. »Die SPD wird gebraucht oder
»Dieses ›Darauf achten, wie man zu nicht!« Und im Moment werde sie
sein hat‹ – das ist mir total fremd«, sehr gebraucht, sagt Nahles. Als Frie-
sagt sie. »Einerseits verursache ich denspartei in Kriegszeiten zum Bei-
natürlich manchmal ein paar Über- spiel. Großer Applaus in der Halle.
schriften, die ich gar nicht haben Nicht überall tritt Nahles über-
will. Andererseits sagen mir viele: zeugend auf. Das Fernsehen zum
Das ist authentisch. Man kann halt Beispiel mit seinem geschliffenen
nicht beides haben.« Stil ist nicht ihr Format. Auch im
Neulich, beim Karneval in Wei- Bundestag wirkt sie manchmal
ler, hat sie im Clownskostüm ein orientierungslos darin, zwischen
paar Sätze in eine Fernsehkamera der Fraktion, den Kabinettsmitglie-
gesagt. Das hat nicht allen gefallen dern und den Zuschauern den rich-
in der Partei. Aber so etwas kommt tigen Ton zu finden. In sozialdemo-
vor, wenn man versucht, zwei Wel- kratischen Räumen, Parteitagen zu-
ten miteinander zu verbinden. mal, funktioniert Nahles besser. In
Es kann sein, dass es bald nur diesen Räumen gibt es Prozesse, die
noch eine ist. Im Willy-Brandt- man beherrschen, und Dynamiken,
Haus geht man davon aus, dass die man lesen können muss. Sie trans-
Nahles bald nach Berlin ziehen portieren eine Wirklichkeit, in der
wird, damit die Pendelei nicht die eigene Truppe stets für den Fort-
mehr so viel Zeit verschlingt. Aber schritt steht und die anderen immer
sie hängt an Weiler. »Immer wenn die Bösen sind. Und wer vorn auf der
ich in mein Heimatdorf komme Bühne steht, ist irgendwas zwischen
und merke, dass da von diesen auf- Dompteur und Therapeut, je nach
geregten Berliner Debatten maxi- Verfassung der SPD.
NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL

mal eine angekommen ist, ist das Nahles hat schon häufig auf der
für mein Deutschlandbild nicht Bühne gestanden, und die Krisen
ganz unerheblich«, sagt sie. der SPD, die sie selbst erlebt hat,
Nahles ist klar, dass sie jetzt an- kann sie kaum noch zählen. Sie
ders vermessen wird als früher. spürt auch, wenn es mal richtig
Nachfolgerin von Bebel und Brandt. schiefzugehen droht, wie bei jenem
Vor sich nur noch die Kanzlerin. Das Parteitag im Januar, als es um Koa-
ist jetzt die Ebene. Sie weiß, dass sie Wahlurnen auf SPD-Landesparteitag litionsgespräche mit der Union ging
da nicht völlig jenseits aller Regeln Rettet Nahles ihre Partei? und sie schon eine ziemlich harte

32 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Löwennummer hinlegen musste, um die kandidiert Nahles als Generalsekretärin,
Genossen zur Vernunft zu bringen. »Leu- obwohl er jemand anderen will. Ein Af-
te!«, schrie sie. »Wir geben doch die Es-Pe- front kurz vor den Koalitionsverhandlun-
De nicht auf!« Am Ende stand eine knappe gen. Sie gewinnt die Abstimmung. Er tritt
Mehrheit für Gespräche mit der Union. zurück und ruft die Kanzlerin an. Merkel:
Der Nachteil ist, dass man Nahles prak- O Gott. Was machen wir jetzt mit den Ver-
tisch nur vor der sozialdemokratischen Fo- handlungen? Er: Na, das kriegen wir noch
lie sieht. Es ist schwierig, sie sich als Staats- hin. Wenig später steht das Bündnis, aber
frau vorzustellen, als Figur, die etwas das Verhältnis zu Nahles ist im Eimer. Er
Größeres repräsentiert als ihre Partei. ein Märtyrer, sie ein Paria. So sehen das
Deutschland etwa. Sie kennt die SPD in- manche Genossen auch heute noch.
und auswendig. Aber sie ist auch in ihrer Die Kurfürstenstraße in Berlin, das Café
Partei gefangen. Das ist ein Unterschied Einstein. Müntefering bestellt einen »ganz
zu Angela Merkel, mit der sie sonst viel normalen Kaffee«, womit er eigentlich sa-
gemein hat: den Umgang mit Macht. Den gen will: Bringen Sie mir bloß nicht so ei-
Fleiß. Den Feuerring an loyalen Mitstrei- nen Schaumquatsch. Müntefering ist jetzt
tern, den sie zum Schutz aufgebaut haben. 78, aber diesen wachen Blick hat er immer
Aber Merkel, die Pastorentochter aus noch. Stets denkt man: Jetzt kommt gleich
der DDR, kam von außen in die Union. wieder irgendwas Schlaues. Oder Fieses.
Müntefering wird nicht mehr der größte
Fan von Andrea Nahles, so viel ist gewiss.
»Da ist viel mehr Aber er hat mit ihr seinen Frieden geschlos-
Solidität drin, als man sen. »Bei mir ist da nichts geblieben«, sagt
er. »Ich finde es gut, dass sie das jetzt
denkt, wenn macht. Da ist viel mehr Solidität drin, als
sie so losbollert.« man denkt, wenn sie so losbollert.«
Er denkt immer noch sehr in Macht-
strukturen. Man kann sich wahrscheinlich
Sie konnte damals die Muster und Abhän- nie ganz lösen von der alten Rolle, wenn
gigkeiten leichter erkennen, die sich mit man einmal SPD-Chef war. Dass Nahles
dem System Kohl in die CDU einge- dem Kabinett ferngeblieben ist, findet
schlichen hatten. Nahles dagegen ist in so Müntefering nicht optimal. »Ich hoffe,
vielen Systemen der SPD groß geworden, dass sie keine Parteiseparationskiste
dass die Frage, welches System genau das macht«, sagt er. »Wir sind in der Regie-
Problem gewesen sein könnte, für sie gar rung. Wenn wir als Partei die Regierung
nicht so leicht zu beantworten sein wird. taktisch angreifen, greifen wir uns selbst
Wenn man mal keine Antwort haben an. Das geht den Leuten nicht in den
will von Andrea Nahles, muss man sie auf Kopf.« Die Fraktion müsse jetzt zum zen-
eine mögliche Kanzlerkandidatur anspre- tralen Platz für Debatten werden. »Der
chen. Sie quietscht dann kurz oder blickt Organisationsimpuls für die Partei ist eine
einen über den Brillenrand an, als wolle Sache. Das andere ist die Idee: Wie geht
sie sagen: Nicht ernsthaft, oder? Nahles das weiter mit der Demokratie?« Das müs-
hält es für absurd, über eine solche Frage se zur Leitfrage werden.
nachzudenken, wo die Koalition doch ge- Sein Rat ist wie immer der Fußballwelt
rade erst ihre Arbeit aufgenommen hat. entlehnt. »Andrea kann jetzt mit Über-
Ist ja auch absurd. sicht aus dem Mittelfeld herausspielen. Sie
Aber der Betrieb funktioniert so. Wenn ist kein Lewandowski und kein Ribéry«,
die Koalition vorzeitig zerbrechen sollte, sagt er. »Das kann noch werden. Aber sie
was wiederum kein so absurder Gedanke sollte jetzt nicht die Wahlkampfmaschine
ist, muss klar sein, wer es macht. Also lie- anschmeißen.« Dann geht er zum Bus.
ber vorher planen. Nahles wäre nicht Nah- Müntefering kommt übrigens auch zum
les, wenn sie nicht schon mal einen Ge- Parteitag. Er wird vorn im Saal mit vielen
danken daran verschwendet hätte, wie das anderen ehemaligen Vorsitzenden der SPD
werden soll 2021. Oder früher. sitzen. Schulz, Gabriel, Platzeck, Beck,
Wahrscheinlich wird die Sache irgend- Scharping. Eine lebende Ahnengalerie.
wie zwischen ihr und Olaf Scholz ausge- Symbole vergangener Zeiten. Andrea Nah-
macht, mit dem sie gut kann, angeblich so- les wird oben auf der Bühne stehen und
gar befreundet ist. Manche in der SPD sa- merken, wie viel jetzt von ihr abhängt.
gen, sie würde für ihn im Zweifel auch auf Und dann müssen die Herren zugucken,
eine Kandidatur verzichten. Weil er schon wie jetzt was Neues beginnt in der SPD.
mal eine Wahl gewonnen hat. Und sie
nicht. Merkel hat auch einmal verzichtet
und Edmund Stoiber gedient. Das hat ihr Video
Unterwegs mit
geholfen, wie man weiß. Andrea Nahles
Kann Nahles dienen? spiegel.de/sp172018nahles
Franz Müntefering hat seine Erfahrun-
JETZT IM KINO
oder in der App DER SPIEGEL
gen mit ihr gemacht. Im Oktober 2005

33
Deutschland

»Ich bin für


gen für Europa reden. Das geschieht ja
jetzt auch.
SPIEGEL: Die Bundesregierung formuliert
vor allem, was sie alles nicht will.

mehr Härte«
Seehofer: CDU und CSU haben nach dem
Wahlergebnis erklärt, dass wir die Bot-
schaft der Wähler verstanden haben. Das
gilt natürlich auch für die Europapolitik.
Wir müssen und werden die nationalen
Interessen stark in eine europäische Inte-
SPIEGEL-Gespräch Innenminister Horst Seehofer, 68, über grationspolitik einbringen. Die Debatte
kommt sowieso im nächsten Frühjahr bei
den Umgang mit abgelehnten Asylbewerbern, der Europawahl. Also ist es doch gut,
Deutschland als Mittler zwischen Ost und West und seine wenn man sie jetzt führt und bestimmte
Leitplanken einzieht, die aus der Sicht
Enttäuschung über US-Präsident Donald Trump des deutschen Parlaments erfüllt sein
sollen.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
SPIEGEL: Herr Minister, es gibt auf der letzte Beweis, dass Russland hinter dieser Seehofer: Alles, was wir in der Eurozone
einen Seite einen amerikanischen Präsi- Sache steckt, ist ja nicht erbracht. institutionell verändern, muss strikt den
denten, der per Twitter Raketenangriffe Seehofer: Das war ein Akt der Solidarität Stabilitätskriterien entsprechen. Wir
ankündigt. Auf der anderen Seite steht ein gegenüber den Briten, den ich für richtig dürfen nicht in einer Schuldenunion lan-
russischer Staatschef, der sich als Schutz- halte. den, in der alles, was man sich vorstellt
patron eines Diktators gibt, der Chemie- SPIEGEL: Haben die Belege aus Großbri- in Europa, entweder mit deutschem
waffen gegen sein eigenes Volk anwendet. tannien Sie überzeugt? Steuergeld oder über Schulden finanziert
Wer von beiden macht Ihnen mehr Seehofer: Sie werden in solchen Fällen nie wird. Wenn Angela Merkel darauf pocht,
Angst? den unwiderleglichen Beweis bekommen. dass der Bundestag bei allen Entscheidun-
Seehofer: Mich beruhigt die Reaktion der Da geht es um Wahrscheinlichkeiten. gen eines Europäischen Währungsfonds
Bundesregierung und der Kanzlerin. Sie Außerdem war die Bereitschaft Russlands, beteiligt sein muss, dann entspricht das
steht solidarisch zu unseren Verbündeten, an der Aufklärung mitzuwirken, gering. genau meiner Position. Und das muss
setzt aber auf das Gespräch und die diplo- Daher war die Reaktion angemessen. man dann auch gegenüber Frankreich
matische Lösung. Dazu braucht man übri- SPIEGEL: Werden Sie im Sommer zur vertreten.
gens beide, Moskau und Washington. Fußballweltmeisterschaft nach Russland SPIEGEL: Sie haben jetzt auch noch die
SPIEGEL: Die deutsche Position gegenüber fahren? Zuständigkeit fürs Bauen. Ist die Woh-
den Verbündeten ist: Wir machen bei Seehofer: Wieso nicht? Wenn mein Ter- nungsnot in Deutschland dank Horst See-
nichts mit, aber wir drücken euch die Dau- minkalender das zulässt, werde ich fahren. hofer bald besiegt?
men. Ist das eine angemessene Haltung? Wir sollten den Sport nicht politisch in- Seehofer: Wir wollen dafür sorgen, dass
Seehofer: Die Bundesregierung setzt auf strumentalisieren, das war schon immer 1,5 Millionen neue Wohnungen gebaut
eine Strategie des Dialogs, des Gesprächs, meine Meinung. werden. Das sind 50 Prozent mehr als in
der Diplomatie. Genau das ist angesagt. SPIEGEL: Sie haben sich vor einem Jahr der vergangenen Legislaturperiode. Dafür
Anders gewinnen Sie gar nichts. Ich hätte sehr lobend über Donald Trump geäußert. müssen wir Anreize schaffen. Dazu zählen
gegen eine militärische Beteiligung Wir dürfen Sie zitieren: »Er setzt mit steuerliche Absetzmöglichkeiten für den
Deutschlands mein Veto eingelegt. Konsequenz und Geschwindigkeit seine Mietwohnungsbau und das Baukindergeld.
SPIEGEL: Das klingt jetzt, als würden Sie Wahlversprechen Punkt für Punkt um. In Und wir müssen die Förderung auf die
die jüngsten Luftangriffe durch Amerika- Deutschland würden wir da erst mal einen Regionen konzentrieren, in denen das
ner, Briten und Franzosen in Syrien nicht Arbeitskreis einsetzen.« Hat sich Ihr Bild Problem am größten ist.
für sinnvoll halten. von Trump gewandelt? SPIEGEL: Soll der Bund auch selbst als
Seehofer: Das habe ich nicht gesagt. Ich Seehofer: Ja. Das kann man schon sagen. Bauherr auftreten?
habe gesagt, dass die Kanzlerin angemes- Mein damaliges Urteil habe ich einige Wo- Seehofer: In Bayern haben wir am Ende
sen auf die Situation reagiert hat. chen nach der Wahl gefällt. Mir hat gefal- meiner Amtszeit als Ministerpräsident den
SPIEGEL: Fänden Sie es sinnvoll, wenn len, dass Trump konsequent das angepackt Bau von Wohnungen für Staatsbedienstete
Deutschland eine Mittlerrolle zwischen hat, was er der amerikanischen Bevölke- beschlossen. Ein Polizist in München zum
den USA und Russland einnähme? rung zugesagt hatte. Was da in den letzten Beispiel kann sonst seine Miete gar nicht
Seehofer: Ich habe ausdrücklich begrüßt, Monaten abgeliefert wurde, würde mich mehr bezahlen.
dass die Kanzlerin schon vor diesen Vor- nicht veranlassen, meine Äußerungen zu SPIEGEL: Und Ähnliches planen Sie für
gängen erklärt hat, in die Vereinigten Staa- wiederholen. den Bund?
ten zu reisen – trotz all der Ärgernisse, die SPIEGEL: Was hat Sie irritiert? Die Tweets, Seehofer: Es wäre jedenfalls eine Überle-
derzeit aus Washington kommen, etwa in sein Umgang mit den Mitarbeitern … gung, ob man nicht auf den vielen Grund-
der Handelspolitik. Ich war jetzt sehr er- Seehofer: Alles. Lassen wir das so stehen. stücken, die der Bund hat, auch Wohnun-
freut, dass sie auch angekündigt hat, zu SPIEGEL: Auch in der Europapolitik steht gen baut. Wir müssen da ganz neue Wege
Putin zu fahren. Ich glaube, dass die Deutschland am Spielfeldrand. Wann darf gehen. Einerseits brauchen wir Wohn-
Bundesregierung mit Angela Merkel an der französische Präsident Emmanuel Ma- raum, andererseits wird der Flächenver-
der Spitze eine ganz wichtige Scharnier- cron mit einer konstruktiven Antwort auf brauch kritisiert. Möglicherweise müssen
funktion erfüllen kann. seine Reformvorschläge rechnen? wir höher bauen. Auf jeden Fall müssen
SPIEGEL: War es voreilig, die russischen Seehofer: Die deutsche Regierungs- wir effizienter mit den Flächen umgehen.
Diplomaten wegen der Vergiftung eines bildung hat sehr lange gedauert. Es wird Das sind spannende Fragen, die wir noch
Ex-Spions in Salisbury auszuweisen? Der Zeit, dass wir mit Frankreich über Lösun- mit den Experten diskutieren müssen. Die

34 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

CSU-Chef Seehofer: »Ich hätte gegen eine militärische Beteiligung mein Veto eingelegt«

35
Deutschland

Wohnungskosten sind aus meiner Sicht Wer hat ein Recht auf Schutz und wer
vielleicht die brennendste soziale Frage nicht. Am Ende werden die »Anker-Zen-
unserer Zeit. tren« dazu beitragen, dass es deutlich we-
SPIEGEL: Nach den Diskussionen in der niger Zuwanderung nach Deutschland
Großen Koalition konnte man in den ver- gibt.
gangenen Wochen eher den Eindruck be- SPIEGEL: Wenn Sie viele Flüchtlinge an
kommen, Hartz IV sei das drängendste einem Ort unterbringen, schaffen Sie vor
Problem. allem neue Konflikte.
Seehofer: Was sollen diese Phantom- Seehofer: Diese Einrichtungen dürfen

REISEAUKTION
diskussionen? Hartz IV war eine richtige nicht zu groß sein, sonst gibt es Probleme.
Reform, und ich kann nur davor warnen, Viel mehr als tausend Menschen sollten
das zu ändern. dort nicht untergebracht werden.
SPIEGEL: Fast jeder sechste Hartz-IV-Emp- SPIEGEL: Wie müssen wir uns diese »An-
www.tagesspiegel.de/reiseauktion fänger ist mittlerweile ein Flüchtling. Was ker-Zentren« vorstellen? Großlager mit ei-
folgt für Sie daraus? nem Zaun drum herum, damit keiner raus
Seehofer: Es zeigt jedenfalls, dass die Aus- kann?
sage mancher hochrangigen Wirtschafts- Seehofer: Das sind doch Schauermärchen.
vertreter, es kämen genau die Fachkräfte, Die Asylbewerber werden dort nicht ein-
die wir brauchen, falsch war. Ich war ge- gesperrt. Sie haben aber eine Residenz-
rade beim Bundesamt für Migration und pflicht und bekommen nur Leistungen,
Flüchtlinge in Nürnberg und habe mir die wenn sie in der Unterkunft wohnen. Es
Integrationskurse angeschaut. Das sind geht darum, dass sie für die Behörden ver-
auch Alphabetisierungskurse, wo jemand, fügbar sind, damit die Verfahren innerhalb
der bisher von rechts nach links ge- weniger Wochen abgeschlossen sind.

Bieten schrieben hat, unsere Schreibweise ken- SPIEGEL: Die Realität ist davon weit ent-
fernt. Die Verfahren dauern Monate, teil-

Sie mit!
weise sogar Jahre. Aktuell hängen noch
370 000 Asylfälle bei den Verwaltungs-
»Die Asylbewerber werden gerichten.
Ab 1 Euro nicht in den ›Anker-Zen- Seehofer: Das stimmt. Aber wir sind ein
Rechtsstaat, und da können gegen jede
tren‹ eingesperrt. Das sind Entscheidung einer Behörde Rechtsmittel
doch Schauermärchen.« eingelegt werden. Wir können das verkür-
zen, aber nicht abschaffen. Das unterschei-
det uns von vielen Staaten, aus denen die
nenlernen muss. Wir müssen bei denen, Flüchtlinge kommen.
die zu Recht Schutz in Deutschland ge- SPIEGEL: Also wird sich an der Situation
nießen, die Anstrengungen massiv ver- nichts ändern.
stärken. Ansonsten wird Hartz IV zur Seehofer: Doch, da gibt es Möglichkeiten,
Zuwandererstütze. An guter Integration und dafür setzen wir uns ein. Die Bundes-
derer, die ein Bleiberecht haben, führt länder müssen mehr Verwaltungsrichter
kein Weg vorbei. einstellen, die Verfahren werden effizien-
SPIEGEL: Und bei den anderen? ter gestaltet. Und die Abschiebungen müs-
Seehofer: Ich habe immer gesagt: Die In- sen konsequenter werden.
tegrationsfähigkeit unseres Landes darf SPIEGEL: Mehrere 10 000 Migranten kön-
nicht überfordert werden. Bei abgelehn- nen derzeit nicht abgeschoben werden,
ten Asylbewerbern sieht es anders aus, da auch weil ihre Heimatländer oft kein Inter-
bin ich für mehr Härte. Ihnen sollten nur esse zeigen, sie zurückzunehmen. Wie wol-
noch Sachleistungen gewährt werden, len Sie das ändern?
wenn sie nicht freiwillig in ihre Heimat Seehofer: Die Gründe, woran die Abschie-
zurückkehren. bung scheitert, müssen wir genau ansehen:
SPIEGEL: Die Zahl der Abschiebungen ist Wenn die Heimatländer sich weigern,
im vergangenen Jahr trotz großer Anstren- Staatsangehörige zurückzunehmen, ver-
gungen nicht gestiegen, sondern sogar handeln wir. Wir brauchen Abkommen
zurückgegangen. Das Gleiche gilt für die und verbindliche Absprachen mit den Her-
freiwillige Rückkehr abgelehnter Asyl- kunftsländern.
Fast 200 Reisen – von Island über bewerber. Wie wollen Sie das ändern? SPI EGEL: Ihr Vorgänger wollte Ländern,
Seehofer: Die Schwierigkeit ist doch: die nicht kooperieren, die Entwicklungs-
Ostsee und Elbsandsteingebirge, Wenn Zuwanderer jahrelang hier sind, hilfe kürzen.
nach Österreich und bis nach können sie immer schwerer zurückgeführt Seehofer: Diese Länder haben alle ihren
werden, weil sie Wurzeln geschlagen Stolz. Mir sind Anreize lieber als Strafen.
Sri Lanka – ersteigern haben. Deshalb setze ich auf die neuen Aber die Rücknahmebereitschaft muss
Sie Ihre Traumreise! Die exklusive »Anker-Zentren«, wo die Ankunft, die Ver- deutlich nach oben gehen. Darauf arbeiten
fahren und die Rückführung gebündelt wir hin.
Reiseauktion des Tagesspiegels und beschleunigt werden. Dort wird, SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
vom 22. bis 29. April 2018. noch bevor die Asylbewerber auf die für dieses Gespräch.
Gemeinden verteilt werden, entschieden:

36 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

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Deutschland

Festes drohte kein Obrigkeitsstaat Otte mit

»Gnade euch Gott« dem Zuchthaus. Die Polizei wird seine


Gäste nicht wie einst kujonieren, sondern
schützen. Sogar der Kultusminister von
Rheinland-Pfalz schreibe in seinen Briefen
AfD Das rechte Milieu kapert historische Personen und Bewegungen: »Neues Hambacher Fest« ohne Anfüh-
vom Hambacher Fest bis zum Widerstand gegen das NS-Regime. rungszeichen, sagt Otte zufrieden: »Im
Sprachgebrauch der Ministerialbürokratie
hat sich dieser Name schon festgefressen.«

D er Chauffeur lenkt die schwarze


S-Klasse auf den Vorplatz des Ham-
bacher Schlosses, springt aus dem
Fahrersitz und öffnet die Tür für den Chef.
gegen die NS-Diktatur mit dem Leben be-
zahlten.
Es ist eine Okkupation und Provokation
zugleich und überdies eine geschickte Stra-
Steht diese Offenheit nicht im Wider-
spruch zur behaupteten Demontage der
Meinungsfreiheit? Keinesfalls, sagt Otte.
»Ich habe einfach Fortune gehabt.« Denn
Max Otte, königsblauer Anzug, Hornbril- tegie: Die historischen Figuren können welches Ausmaß die Diskriminierung kri-
le, Hemd mit eingesticktem Monogramm, sich nicht gegen ihre Vereinnahmung weh- tischer Geister in Deutschland schon an-
wuchtet sich aus dem Fond des Wagens ren. Und politischen Gegnern fallen Ein- genommen habe, zeige sich darin, dass
und breitet die Arme aus, als wollte er das wände schwer, denn wer gegen die selbst- ihm zwei Sound-Dienstleister abgesprun-
Tal der pfälzischen Weinstraße umarmen. erklärten AfD-Widerständler austeilt, gen seien, aus Angst vor Repressalien.
»Ist das nicht grandios? Ich hoffe, Sie ha- könnte auch Sophie Scholl treffen. Für historische Inszenierungen wie das
ben den Blick gebührend genossen.« Otte erwartet 1200 Gäste zu dem Fest, »Neue Hambacher Fest« haben die Rech-
Als Kind verbrachte Otte, 53, hier oft mehr lassen Brandschutz und Bauauflagen ten die Wahl zwischen zwei Rollen: Opfer
seine Ferien, sein Großvater hatte in der nicht zu, aber es könnten noch mehr sein. und Held. Einfacher ist die Opferrolle, zu-
Pfalz einen kleinen Weinberg. Vom Tal »Wir wurden überrannt von Anmeldun- mal es viele gewalttätige Angriffe von
aus konnte der Bub das Hambacher gen.« Sogar die Warteliste ist geschlossen, Linksextremen auf AfD-Politiker gibt.
Schloss hoch auf dem Berg thronen sehen. es gibt nur noch Plätze für die »Patrioten- Aber AfD-Leute bezeichnen nicht nur sich,
Nun wird der Finanzberater und Buchau- wanderung«, die früh um acht Uhr durch sondern das ganze Volk als Geiseln der
tor aus Köln bald Schlossherr von Ham- den Wald hoch zum Schloss führen soll. »Diktatorin« Angela Merkel, montieren
bach sein, für einen Tag jedenfalls. Nein, die Feier sei kein AfD-Event, be- die Gesichter von Ministern auf Fotos der
Am 5. Mai richtet Otte das »Neue Ham- teuert Otte. Das Problem ist nur, dass die Angeklagten der Nürnberger Prozesse.
bacher Fest« aus, er will das historische Politiker anderer Parteien abgesagt haben: Besonders beliebt sind Vergleiche der
Ereignis vom 27. Mai 1832 wiederbeleben, der FDP-Politiker Frank Schäffler zum Bei- BRD mit dem DDR-Unrechtsstaat. So gei-
als bis zu 30 000 Deutsche hier für ein ei- spiel oder der CDU-Mann Klaus-Peter ßeln AfD-Politiker das Gesetz des damali-
niges Deutschland, für ihre Bürgerrechte Willsch. So wird AfD-Chef Meuthen der gen Justizministers Heiko Maas gegen
und die Freiheit demonstrierten. einzige aktive Politiker sein, der auf der Hassrede im Internet als »Zensur« nach
Das Hambacher Fest ist eine Wegmarke Nicht-AfD-Veranstaltung spricht. Stasi-Manier. Dass freilich DDR-Bürger
der deutschen Geschichte, jedes Schulkind Für das CDU-Mitglied Otte ist die AfD keine Kritik an Erich Honecker üben konn-
lernt, dass sich hier erstmals das Streben auch die einzige Partei, die das Grundpro- ten, ohne Repressalien zu riskieren, wäh-
der Deutschen nach Demokratie Bahn rend heute ein AfD-Politiker die Kanzlerin
brach. Die bürgerliche Massendemonstra- gefahrlos als »Merkelnutte« titulieren
tion war Vorbote und Wegbereiter des Für ihre Inszenierungen kann, stört die Hobbyhistoriker nicht.
Frankfurter Paulskirchenparlaments, des- können die Rechten Mitunter geht Geschichtsklitterung in
halb spricht auf den offiziellen Jubiläums- Fälschung über: So nutzen AfD-Vertreter
feiern schon mal der Bundespräsident. zwischen zwei Rollen gern ein angebliches Zitat des freiheitlich
Aber nun gehört das Fest für einen Tag wählen: Opfer und Held. gesinnten Dichters Theodor Körner:
Max Otte und den sieben Rednern, die er »Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Ge-
ausgewählt hat, darunter Thilo Sarrazin, stalten, vom Feinde bezahlt und dem Vol-
AfD-Chef Jörg Meuthen und die ehemali- blem dieses Landes offen anspreche. Näm- ke zum Spott. Doch einst wird wieder Ge-
ge DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. lich: »Wir erleben die Demontage all des- rechtigkeit walten, dann richtet das Volk,
Alles »demokratische Systemkritiker«, sen, worauf wir stolz sein können.« und es gnade euch Gott.« Doch es stammt
sagt Otte zufrieden. Wie beim alten Ham- Auf Uli Hoeneß etwa, in dem Otte nicht nicht von Körner, den schon die Nazis für
bacher Fest würden seine Gäste ein Zei- den Mann sieht, der 28,5 Millionen Euro sich vereinnahmen wollten, sondern wur-
chen gegen die abgehobene Herrscherkas- an Steuern hinterzogen hat, sondern ein de offenbar im NPD-Milieu gedichtet.
te und den Niedergang der Bürgerrechte Vorbild, dessen große Verdienste »wegen Zum Meister der AfD-Geschichtslehre
setzen, die Otte überall beobachtet. kleiner Verfehlungen« beschmutzt wür- hat es Björn Höcke gebracht. Seit 2015 lädt
Die Methode, historische Daten und den. Oder auf die Autokonzerne, die für Thüringens AfD-Chef seine Anhänger zu
Orte für sich zu reklamieren, hat im rech- Otte keine Abgasbetrüger sind, sondern jährlichen Treffen am monumentalen Kyff-
ten Milieu Tradition. Ob AfD-Politiker, Pe- eine stolze Industrie, die »wegen ein paar häuserdenkmal. Hier ruhe nach dem
gida-Demonstranten oder Rechtsintellek- Gramm Feinstaub« zerstört werde. »Volksglauben« Friedrich I., der »Friedens-
tuelle – sie alle eint das Bemühen, ihr Tun Vor allem sieht Otte eine stetige Demon- kaiser«, predigte Höcke im vergangenen
als logische Fortführung des Werks hero- tage der Meinungsfreiheit, nicht zuletzt Jahr. Der Legende nach werde der Herr-
ischer Vorbilder zu zeichnen. bei sich selbst: Wegen missliebiger Mei- scher »eines Tages erscheinen, die Feinde
Manche berufen sich auf das Erbe der nungen sitze er nicht mehr in Talkshows. schlagen und das Unrecht beseitigen«.
DDR-Dissidenten, andere beschwören Gut, die Anmeldung seines Festes sei Ein inspirierender Mythos, so Höcke,
große Staatsmänner wie Otto von Bis- problemlos über die Bühne gegangen, aber jeder wisse, dass Barbarossa nie wieder-
marck oder stellen sich in eine Reihe räumt er ein, wie auch die Werbung über kehren werde. »Wir müssen heute auch nicht
mit Sophie Scholl und Claus Schenk Graf alternative Medien. Anders als den Orga- mehr warten, bis er das tut.« Dank der AfD
von Stauffenberg, die ihren Widerstand nisatoren des historischen Hambacher könne das Volk sein Schicksal wieder selbst

38 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


AKG
BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

AfD-Sympathisant Otte, historische Darstellung des Hambacher Fests, Nationalist Höcke: »Ist das nicht grandios?«

in die Hand nehmen. Der Andrang der will Karim, der einst selbst aus einem ara- zu hassen.« Die Deutschen sollten zu den
Höcke-Fans zu dieser Wallfahrt ist so groß, bischen Land einwanderte, das Publikum Verbrechen des Faschismus stehen, aber
dass man heuer auf das größere Schloss vor den Gefahren der Masseneinwande- sich befreien vom »Schuldkult« – eine
Burgscheidungen in Sachsen-Anhalt auswei- rung warnen. »Viele sogenannte Flüchtlin- auch bei Neonazis beliebte Vokabel.
chen muss. Aber der Name »Kyffhäusertref- ge, die hierherkommen, kennen unsere Fühlt Karim sich von seinen Partnern
fen« bleibe, verspricht der Höcke-Flügel, Werte leider nicht oder lachen uns dafür auf der politischen Rechten als Deutscher
»weil wir um die Bedeutung von Mythen aus.« Dass diese Leute wie er deutsche akzeptiert? »Diese Frage ist beleidigend«,
auch in der Gegenwart und Zukunft wissen«. Werte lernen könnten, hält er angesichts sagt Karim. Er sei kein »Onkel Tom der
Anders als Höckes Lager scheut Max ihrer schieren Zahl für ausgeschlossen. AfD«. Thilo Sarrazin kenne er seit Jahren,
Otte zurück vor Anleihen an völkische Mit der unversöhnlichen Islamkritik ist und er sei mit AfD-Leuten und Mitglie-
Ideologien. Auf der Rednerliste seines Fests Karim ein beliebter Gast auf AfD-Podien. dern der Identitären Bewegung (IB) privat
steht auch der Name Imad Karim. Der ge- Er urteilt schärfer über seine Ex-Glaubens- befreundet. Die IB ist eine rechtsextreme
bürtige Libanese ist einer der schärfsten brüder, als viele AfD-Leute es sich trauen. Splittergruppe, die der Verfassungsschutz
Islamkritiker im Land und, wie Otte findet, »Ich, der Sohn von Abdul Karim, Enkel von beobachtet, weil sie für ethnisch möglichst
»ein sehr gut integrierter Ausländer«. Ali Karim, fühle mich als Humanist ver- homogene Völker eintritt.
Karim ist deutscher Staatsbürger, das pflichtet, über den Islam als Ideologie auf- Die »Zeit« fragte jüngst einen IB-Akti-
Hambacher Schloss besuchte er schon zuklären.« Die Religion verhindere, dass visten, ob er Deutsche türkischer Herkunft
1979 als Student, aus Interesse an der deut- ihre Anhänger in der Moderne ankämen. als vollwertige Bürger anerkenne. »Nein«,
schen Geschichte. »Ein wunderschöner Und da sei die »bedauerliche Tatsache«, entgegnete der Mann. »Ich kann ja auch
Ort mit positiver historischer Symbol- dass 70 Prozent der Muslime ihre Cousinen einen Hund nicht einfach Katze nennen.«
kraft«, findet Karim. Er liebt Deutschland heirateten, wie Karim behauptet. Aber die- Gut, so ein Spruch sei menschenverach-
von ganzem Herzen. »Hier ist die Heimat se Frage überlasse er den Biologen. tend, sagt Karim. Für ihn als Agnostiker
meiner Werte.« Als TV-Journalist drehte Die Hambacher Demonstranten von sei aber entscheidend, »dass die Identi-
er 58 Filme meist für öffentlich-rechtliche 1832 mussten sich nicht mit Massenein- tären den Mut haben, die Gefahren des
Sender, saß in Jurys für Filmpreise. Heute wanderung oder religiösem Extremismus politischen Islam zu benennen«.
fühlt er sich wie Otte von den »Main- befassen. Trotzdem sieht sich Karim in ih- Und beim »Neuen Hambacher Fest« ist
stream-Medien« wegen unbequemer Mei- rer Tradition. Dem Publikum will er erklä- die IB ja auch nicht dabei. Melanie Amann
nungen fallen gelassen. In seiner Festrede ren: »Heimatliebe bedeutet nicht, andere

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Deutschland

Um Himmels willen
Recht Für manche Flüchtlinge ist das Kirchenasyl die letzte Hoffnung. Nun urteilt ein Gericht,
ob der Staat sie nicht doch abschieben darf.

N
ach vorn hinaus, ent- sind keine Familienangehörigen
lang der Ludwigstraße, gemäß Dublin-III-Verordnung.«
sitzen die Studenten im Das Verwaltungsgericht Regens-
Straßencafé und genie- burg lehnte den Antrag des Ira-
ßen die Sonne. Auf der anderen kers auf Aufschub ab. Dem Leiter
Seite des Areals, im Englischen des Jesuitenkollegs schickte die
Garten, flanieren die Spaziergän- Staatsanwaltschaft München I
ger. Dazwischen lebt Raad Ju- eine Strafanzeige wegen Beihilfe
maah Geigo, mitten in München zum unerlaubten Aufenthalt, die
und doch getrennt vom Rest der Ermittlungen wurden eingestellt.
Welt. Mehr als vier Fünftel der Kir-
Der junge Mann aus dem Irak, chenasyle sind Dublin-Fälle: Die
20 Jahre alt, wohnt in der Bruder- Menschen flüchten in die Kirchen,
schaft der Jesuiten in der Münch- weil sie nach Ablauf eines halben
ner Kaulbachstraße. Er hat ein Jahres in der Regel eine Duldung
Zimmer mit Schreibtisch, Wasch- bekommen oder in Deutschland
becken und knarrendem Parkett- Asyl beantragen können.
boden. Wenn ihm langweilig ist, Da die Politik höhere Abschie-
kann er in den Gemeinschafts- bezahlen präsentieren will, steigt
raum, die Bibliothek oder den die Versuchung, das Kirchenasyl
Garten gehen. Weiter nicht – Gei- anzutasten. Juristisch sind viele
go lebt im Kirchenasyl. Verließe Fälle simpel. Im Kirchenasyl sind
er das Grundstück, könnte er fest- meistens Menschen, die den
genommen und nach Bulgarien

DIRK BRUNIECKI / DER SPIEGEL


Rechtsweg ausgeschöpft haben
abgeschoben werden. und ausreisen müssen – sonst wür-
Er hätte es schlechter treffen den sie sich kaum in ein christli-
können. Geistliche und Studenten ches Gotteshaus begeben. Zudem
bringen ihm viermal pro Woche sind die meisten Kirchenflüchtlin-
Deutsch bei. Sein Bruder Nazaar ge leicht greifbar. Nach einer Ver-
arbeitet als Hausmeistergehilfe in einbarung vom Februar 2015 zwi-
der Hochschule für Philosophie, Iraker Geigo: »Wir können nur fliehen« schen den Kirchen und dem Bamf
die dem Kolleg der Jesuiten ange- melden die Kirchengemeinden
gliedert ist. Und um alles Organi- die Personalien an die Behörden.
satorische kümmert sich ein Betreuer, Die- Raad Jumaah Geigo floh mit seiner Vorerst bleibt es bei einer paradoxen Si-
ter Müller vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst. kleinen Schwester aus der Nähe von Mos- tuation, zumindest für den Staat. Er prüft
Bis in den Juni muss Geigo noch aus- sul, rund 30 Verwandte leben schon in zuerst mit einigem Aufwand, ob eine Per-
harren. »Dann ist Bulgarien passé«, sagt Deutschland. An die deutschen Behörden son in Deutschland bleiben darf. Dann
Müller. schrieb der Jeside, seine Religionsgruppe nimmt er es hin, dass sich eine zusätzliche
Dann hat die Kirche mal wieder ge- werde verfolgt. »Sie verachten uns, und Institution über das Votum hinwegsetzt –
wonnen und der Staat verloren, der Geigo sie stehlen uns auch einfach die Mädchen. aus Barmherzigkeit in besonderen Härte-
nach Bulgarien zurückschicken will. Es ist Wir haben keine Möglichkeit, uns dagegen fällen. Aufgrund jahrhundertealter Tradi-
ein alter Konflikt, das Kirchenasyl hat eine zu wehren. Wir können nur fliehen.« tion behandelt der Staat die Kirchen an-
lange Geschichte, aber er ist aktueller denn Geigo reiste 2017 über Bulgarien nach ders als beispielsweise einen engagierten
je. 1561 Fälle zählte das Bundesamt für Europa ein. Sein Asylantrag wurde erst- Verein oder einen Helferkreis.
Migration und Flüchtlinge (Bamf) im ver- mals in dem Land an der EU-Außengrenze Längst hat auch die AfD das Thema für
gangenen Jahr. 330 waren es schon in den registriert, gemäß der Dublin-III-Verord- sich entdeckt: In mehreren Bundesländern,
ersten beiden Monaten des Jahres 2018. nung der Europäischen Union muss er in Schleswig-Holstein, Sachsen, Mecklen-
Das wollen die Behörden nicht mehr so dorthin zurück – und dort muss über burg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz,
einfach hinnehmen, der Druck aus Politik seinen Antrag entschieden werden. überzieht sie die Landesregierungen mit
und Justiz wächst. Die Innenminister der Daher der Bescheid des Bamf vom Anfragen. Vor einigen Monaten platzte
Bundesländer bestätigten den Status quo, 13. September 2017: Asylantrag abgelehnt. dem Schweriner Innenminister Lorenz
stellten aber zugleich fest, dass die hohe »Die Abschiebung nach Bulgarien wird Caffier (CDU) im Landtag der Kragen, als
Zahl der Kirchenasyle »in Teilen der Öf- angeordnet.« Zu Bulgarien: »Es droht dem die AfD eine Namensliste von ihm einfor-
fentlichkeit zunehmend kritisch betrach- Antragsteller keine individuelle Gefahr für derte. »Was, um Allerherrgotts willen, be-
tet« werde. In München wird nun das Leib und Leben, die zur Feststellung eines zwecken Sie damit?«, ging der Innen-
Oberlandesgericht entscheiden, was das Abschiebungsverbots führen würde.« Und minister die Fragesteller an. »Wollen Sie
Kirchenasyl heute wert ist. zur Familie in Deutschland: »Geschwister diese Menschen öffentlich denunzieren,

42 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


wollen Sie diese Namen an irgendwelche ten wie Fraktionschef Volker Kauder, der
dunklen Gestalten weitergeben?« ehemalige Innenminister Thomas de
In Flintbek in Schleswig-Holstein sollen Maizière oder der Parlamentarische Staats-
zwei evangelische Pastoren nach einem sekretär im Bundesinnenministerium
Beschluss des Amtsgerichts Rendsburg je Günter Krings haben sich kritisch zum Kir-
400 Euro an eine gemeinnützige Organi- chenasyl geäußert. Selbst im schwarz-grün-
sation bezahlen, in dem Fall hatte die NPD
Anzeige erstattet. Das Verfahren, derzeit
noch schwebend, ist der vorläufige Höhe-
regierten Hessen setzten die Behörden in
einem Dublin-Fall die Frist herauf: Die
Flüchtlinge sollen erst nach 18 Monaten
Handeln zu
punkt in einem Zwist, der die Kirchen-
gemeinde des idyllischen Sprengels seit
Monaten entzweit. »Viele schlimme Hass-
geduldet werden, die Gemeinde müsste sie
also dreimal so lange beherbergen wie bis-
her.
Testsieger-
mails« habe sie erhalten, erzählt Julia
Wendt, die Leiterin der evangelischen Kita,
Offensichtlich ist der Widerspruch in
Bayern. Dort sind mehr Menschen im Kir- Konditionen
»die meisten davon anonym«. chenasyl als in jedem anderen Bundesland.
Die Pastoren brachten einen jungen Und dort profiliert sich die CSU als Hüterin
Mann aus Eritrea in der kleinen Parterre- der Außengrenzen und ficht für eine rigide
wohnung des alten Küsterhauses unter. Abschiebepraxis. »Wenn feststeht, dass
Die liegt unterhalb der Räume der Kita- jemand nicht das hohe Grundrecht Asyl
gruppe »Glückskäfer«, mit eigenem Ein- erhält, dann ist es klar, dass der Rechtsstaat

5,00 EUR
gang. Sie hatte schon Menschen im tätig wird«, erklärte Ministerpräsident
Kirchenasyl als Bleibe gedient, es sollte Markus Söder nach der ersten Sitzung sei-
weiterhin ein »stilles Asyl« sein, wie Julia nes neuen Kabinetts. Sein Innenminister
Wendt erzählt. Doch dann wurde es sehr Joachim Herrmann ergänzte: »Die, die
laut um den Eritreer – als Eltern den un- nicht bleiben dürfen, müssen wir konse-
sichtbaren Gast bemerkten. quent außer Landes bringen.«
Eine Mutter beschwerte sich über Es- Viele große Klöster in Bayern boten indes
sensgerüche. Eine andere fragte: Wie stelle Menschen Kirchenasyl, zum Beispiel Alt-
Orderprovision *
die Gemeinde sicher, dass der Afrikaner ötting, Ottobeuren, Schäftlarn oder Schön- pro Trade
nicht nach oben gelange und Kinder be- brunn. Die beiden Kirchenführer mit Sitz
lästige? Die beiden Pastoren, die Asyl ge- in München, Reinhard Marx für die Katho-
währt hatten, schrieben den Eltern einen liken und Heinrich Bedford-Strohm für die
leidenschaftlichen Brief: Die »Schutzge- Protestanten, haben mehrmals betont, wie
währung für in Not geratene Menschen« wichtig das Institut des Kirchenasyls für die [H2UGHUSURYLVRQ*
sei ein »Auftrag« der Kirche. Man dürfe Kirchen sei. 2014 gab es Proteste, als die I¾UDOOH:HUWSDSLHUH
nicht akzeptieren, dass »die schwächsten Polizei ein katholisches Kirchenasyl in Augs-
Glieder dieser Gesellschaft als potenzielle burg räumte. Inzwischen gilt die Losung, die
Gefährder oder Terroristen verunglimpft« Innenminister Herrmann im Landtag aus-
6SDUSO¦QHRKQH
würden. Wem dies nicht passe, so legte gab: dass »mit Rücksicht auf die besondere Gebühren kaufen
der Brief nahe, der könne ja sein Kind aus Stellung der Kirchen« in aller Regel »auf
der Kita abmelden. polizeiliche Vollzugsmaßnahmen in Räum- 9.000 Fonds ohne
Sympathisanten und Gegner des Kirchen- lichkeiten der Kirche verzichtet« werde. Ausgabeaufschlag
asyls gifteten einander auf den Straßen der Dieses Stillhalteabkommen empfinden
kleinen Gemeinde an. Der Landrat Rolf-Oli- viele Behördenmitarbeiter und Juristen
ver Schwemer schaltete sich als untragbar: Sie müssen NRVWHQORVH'HSRW
ein, ein Kritiker des Kirchen- von Amts wegen ermitteln Kontoführung
asyls. Es »stammt aus den Kirchenasylfälle und Sanktionen ausspre-
Anfängen des Christen- in Deutschland über chen, die nicht durchgesetzt
tums«, schreibt der parteilo- 1000 werden. Gleichzeitig stehen
se Jurist in der »Zeitschrift sie in der Öffentlichkeit als +DQGHOQ6LHΖKUH:HUWSDSLHUH]X
für Rechtspolitik«, »aus Quelle: Ökumenische
hartherzig da. XQVFKODJEDUJ¾QVWLJHQ2UGHU
einer Zeit, als von einer Ge- Bundesarbeitsgemein- Nun wird das Oberlan-
schaft Asyl in der Kirche, NRVWHQ)LQDQ]WHVWEHLP
waltenteilung und Grund- desgericht München über
dem Verein bislang 7HVWVLHJHULP2QOLQHEURNHU7HVW
rechten in unserem heutigen bekannte Fälle einen Fall verhandeln, der
GHU(XURDP6RQQWDJ

Sinne noch keine Rede war«. 692 die bisherige Praxis verän-
Gothart Magaard, evangeli- 620 dern könnte. Die Staatsan-
scher Bischof im Sprengel waltschaft Landshut hat Re-
Schleswig und Holstein,
430 445 vision gegen ein Urteil des
sieht die Sache anders. »Wir Amtsgerichts Freising ein-
lassen uns nicht einschüch- gelegt. Das hatte im Herbst ZZZQDQ]HQEURNHUQHW
tern«, sagt er, »wir unter- einen Nigerianer vom Vor-
stützen die betroffenen Kir- wurf freigesprochen, er ver-
chengemeinden in solchen 79 stoße gegen das Aufent- *
'LH 2UGHUSURYLVLRQ YRQ  (XUR JLOW I¾U GHQ .DXI
Fällen.« haltsgesetz. XQG 9HUNDXI DQ DOOHQ GHXWVFKHQ +DQGHOVSO¦W]HQ

=XV¦W]OLFK ]XU 2UGHUSURYLVLRQ I¦OOW HLQH SDXVFKD-
Vor allem Politiker der 2013 14 15 16 17 2018 Der Nigerianer hätte OLHUWH +DQGHOVSODW]JHE¾KU LQ +¸KH YRQ   (XUR
Union tun sich mit dem The- Stand: laut Abschiebebescheid des DQ LPE¸UVOLFKHQ+DQGHOJJI
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%¸UVHQJHE¾KU
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 (LQH $XIVWHOOXQJ GHU %¸UVHQJH-
ma schwer. Christdemokra- 17. April Bamf nach Italien ausreisen E¾KUHQQGHQ6LHDXIQDQ]HQEURNHU
QHWE]Z
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GHQMHZHLOLJHQΖQWHUQHWVHLWHQGHU%¸UVHQ

43
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1 JAHR DEN SPIEGEL DIGITAL LESEN + PRÄMIE.
müssen, stattdessen ging er 2016 für
mehrere Monate in die Freisinger Pfarrei
St. Jakob ins Kirchenasyl. Inzwischen hat
er eine Duldung erhalten. Durch das
Kirchenasyl habe ein »inlandsbezogenes
Abschiebungshindernis« bestanden, das
nicht durch »Verschulden des Ausländers«
bestehe, heißt es im Urteil des Amts-
gerichts.
Die Staatsanwaltschaft Landshut wider-
spricht in ihrer Revisionsbegründung. Eine
Abschiebung sei möglich, denn »das Kir-
chenasyl findet keinerlei Grundlage in der
100 € Amazon.de Gutschein staatlichen Ordnung«. Zugleich warnt sie
Über eine Million Bücher sowie DVDs, davor, dass sich »vollziehbar ausreise-
pflichtige Ausländer immer öfter in ein Kir-
Technikartikel und mehr zur Auswahl.
chenasyl« begeben, weil sie von der lang-
jährigen Praxis wüssten. Dies sei »einem
Untertauchen gleichzusetzen«.
Der Rechtsanwalt des Nigerianers,
Franz Bethäuser, hält es dagegen für einen
Widerspruch, »einerseits während des
Kirchenasyls auf unmittelbaren Zwang zu
verzichten und andererseits dem Aus-
länder genau dieses Sich-Begeben in das
Kirchenasyl als Untertauchen entgegen-
zuhalten«.
Die Pastoren und Gemeindemitglieder,
die sich für Flüchtlinge einsetzen, werden
€ 100,– Prämie sich ohnehin kaum abschrecken lassen.
Erfüllen Sie sich einen Wunsch: Ende April wird in Kaiserslautern ein evan-
€ 100,– als Prämie. gelischer Geistlicher vor Gericht stehen. Der
Pfarrer aus Hochspeyer nahm den Strafbe-
fehl nicht an, den er erhielt, weil er einem
Eritreer Kirchenasyl gewährt hatte. Es gehe
um »unsere Identität als Christen«, argu-
mentierte er.
Auch Bruder Benedikt will sich nicht
beugen. Seit Ende Januar lebt ein iraki-
sches Paar mit dreijähriger Tochter in sei-
nem Kloster. »Wir fühlen uns hier wie bei
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital lesen Engeln«, sagt B., der Ehemann, 37. »Ich
kann zum ersten Mal seit drei Jahren wie-
und wähle eine Prämie! der schlafen«, sagt seine Frau R., 31.
Bruder Benedikt möchte nicht, dass der
Ich lese 52 Ausgaben des SPIEGEL digital inklusive Name seines Klosters genannt wird. »Es
SPIEGEL DAILY für nur € 4,10 pro Ausgabe und erhalte eine klopfen weit mehr Menschen an unsere
Prämie meiner Wahl. Pforte, als wir beherbergen können«,
sagt er. Die Bruderschaft wäge die Fälle
genau ab und gewähre Kirchenasyl nur
in echten Härtefällen. Natürlich kann
52 x den SPIEGEL digital lesen der Mönch die Bibel auswendig zitieren:
Bereits ab freitags, 18 Uhr »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe
an.« Und: »Was ihr für einen meiner ge-
Auch offline lesbar ringsten Brüder getan habt, das habt ihr
Auf bis zu 5 Geräten mir getan.«
Inklusive SPIEGEL-E-Books Doch der groß gewachsene Norddeut-
sche kennt auch die staatlichen Gesetze
Wunschprämie dazu besser als andere: Er war früher Polizist.
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

Annette Bruhns, Jan Friedmann


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Die neue digitale Tageszeitung
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Wer das Kirchenasyl
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www.spiegel.de/digital18
44
Deutschland

zu 74 000 Menschen an den Folgen ihrer Kassenbereich frei von Alkoholfläschchen

In der Alkoholabhängigkeit sterben. Und je ver-


fügbarer der Stoff, desto größer die Gefahr.
Zum Beispiel dort, wo die Verbraucher
bliebe. »Fällt dieser Test positiv aus, müs-
ste die Politik handeln.«
Allerdings weist der Handel jede Ver-

Quengelzone zum Bezahlen anstehen. Genau hier plat-


zieren Marktleiter all jene Umsatzbringer,
die in der Branche »Impulsware« genannt
antwortung von sich. Spirituosen in klei-
nen Größen würden in Sichtweite des
Kassenbereichs platziert, um »potenzielle
Gesundheit Supermärkte stellen werden, weil die Kunden zugreifen, ohne Diebe« abzuschrecken, heißt es beim
Schnapsfläschchen gern an nachzudenken. Diese »Quengelzone« ist Bundesverband des Deutschen Lebens-
wegen ihres Süßwarenangebots auch bei mittelhandels. Schon für Süßigkeiten in
der Kasse ins Regal – eine Gefahr Eltern kleinerer Kinder gefürchtet. Bei der Quengelzone gelte: »Der Handel hat
nicht nur für Alkoholiker. Suchtexperten ist sie verhasst. keinen Erziehungsauftrag.«
Muss die Politik eingreifen? Schnaps- und Wermutfläschchen sollten Die Grünen dagegen finden, dass die
von dort besser verbannt werden, fordern Zeit der vorsichtigen Appelle vorbei ist.
»Wir brauchen eine gesetzliche Re-

A ls man Uli Borowka noch


»den Eisenfuß« nannte,
leerte er auch mal eine Kis-
te Bier, eine Flasche Wodka und
gelung, die das Anbieten von Al-
kohol im Einzelhandel reguliert«,
sagt Kirsten Kappert-Gonther,
drogenpolitische Sprecherin der
eine Flasche Whiskey – am Tag. Bundestagsfraktion.
Bei den Gegnern von Werder Bre- Das Problem ist nur, dass sich
men war er als rabiater Abwehr- der Verkauf nicht einfach verbie-
spieler gefürchtet. Dass er trank, ten lässt, das Grundgesetz legt
verheimlichte der Fußballprofi auf hohe Hürden. Ohnehin tun sich
dem Platz. Nach 16 Jahren an der Politiker schwer, unpopuläre Ein-
Flasche ging Borowka in Entzug. schränkungen der Trinkkultur
Nie wieder, das hat er sich nach durchzusetzen.
der Therapie geschworen, will er Schon vor mehr als einem Jahr
einen Tropfen Alkohol anrühren. hatte die Bürgerschaft in Bremen
Seinen Schwur hält er seit 18 beschlossen, den Verkauf von
Jahren. »Jeder Tag, an dem ich Schnapsfläschchen an Supermarkt-
trocken bin, ist für mich wichtiger kassen zu beschränken. Alkohol
als jeder Titel, den ich je gewon- sei »das Suchtmittel Nummer
nen habe«, sagt Borowka. eins«, so stand es in dem Beschluss.
Trockener Alkoholiker, das Der Senat müsse sich auf Bundes-
heißt, allen Versuchungen des All- ebene dafür einsetzen, die Kassen-
tags zu widerstehen. »Ich muss zone von Alkohol freizuhalten.
Obacht geben«, sagt Borowka. Seither gibt es unverbindliche
»Mein Leben lang.« Heute ist er Gespräche mit dem Handel, aber
55 Jahre alt, und noch immer noch immer keine Lösung.
untersucht er bei jedem Einkauf Auch andere Projekte versan-
das Kleingedruckte, ob sich nicht deten. Baden-Württemberg bei-
doch Alkoholspuren in der Toma- spielsweise hatte im Jahr 2010 ein
FELIX STROSETZKI / DER SPIEGEL

tensuppe verbergen. Weil er alle Verkaufsverbot für Alkohol an


Gefahren meiden will, kommt es Tankstellen und Kiosken nach 22
vor, dass ihn an der Supermarkt- Uhr eingeführt. Ende 2017 hat die
kasse der Ärger überkommt. »Wie schwarz-grüne Landesregierung
kann es sein, dass die Schnaps- es wieder gekippt.
fläschchen da immer direkt neben Maßnahmen, mit denen andere
den Schokoriegeln im Regal lie- europäische Staaten experimen-
gen?«, fragt Borowka. Hochprozentiges an der Kasse tieren, sind in Deutschland ohne-
Seine eigene Suchtgeschichte »Der Handel hat keinen Erziehungsauftrag« hin ein politisches Tabu. In Est-
machte der Ex-Nationalspieler land beispielsweise dürfen größe-
vor mehr als fünf Jahren mit einem Buch Politiker. »Vom Handel würde ich mir in re Supermärkte Hochprozentiges von Juni
öffentlich. Heute kämpft er mit seinem diesem Punkt ganz klar mehr Sensibilität 2019 an nur in abgetrennten Abteilungen
eigenen Verein dafür, dass Jugendliche erst wünschen«, sagt Marlene Mortler, CSU, anbieten. Auch Ex-Fußballer Borowka
gar nicht dem Alkohol verfallen. Umso Drogenbeauftragte der Bundesregierung. hielte das für eine kluge Idee. Trockene
mehr ärgern ihn die hochprozentigen An- Es müsse nicht sein, dass hochprozentige Alkoholiker und junge Erwachsene wür-
gebote: »Dort hat Alkohol nichts zu su- Alkoholika an der Kasse »sozusagen als den damit besser geschützt. Allerdings
chen«, sagt er. Und er steht mit dieser Kri- Mitnahmeartikel« angeboten würden. glaubt er nicht daran, dass Vorschläge wie
tik nicht allein. SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach dieser in Deutschland durchsetzbar wären.
Nach offiziellen Schätzungen sind in nennt die Quengelzone für Menschen mit »Politiker sabbeln immer viel über die
Deutschland rund 1,77 Millionen Men- Suchtproblemen »einen gefährlichen Ort«. Gefahren der Sucht«, sagt Borowka. »Am
schen alkoholsüchtig. Etwa acht Millionen Die Bundeszentrale für gesundheitliche Ende aber greifen sie nicht durch.« Da müs-
Menschen trinken mehr, als ihrer Gesund- Aufklärung und die gesetzlichen Kranken- se endlich mal einer reingrätschen.
heit guttut. Die Deutsche Hauptstelle für kassen sollten untersuchen, ob die Zahl Cornelia Schmergal
Suchtfragen rechnet vor, dass jährlich bis der Süchtigen sinken würde, wenn der

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 45


Deutschland

Politisches Gift
Zeitgeschichte Der Anschlag auf den Ex-Spion Skripal hat den Stoff Nowitschok bekannt gemacht.
Dessen Vorgeschichte war bisher unbekannt: Seit Jahren streiten West und Ost über das Mittel.

K
ein Problem, sagt Andrew We- ministerin Theresa May, Frankreichs Prä- Die Geschichte, die sich aus den Papieren
ber, ich kann Ihnen die Aufnah- sident Emmanuel Macron und Bundes- und Erzählungen fügt, ist symptomatisch
men zeigen. Der Waffenexperte, kanzlerin Angela Merkel forderten: Russ- für den Niedergang des Verhältnisses zwi-
der ein hochrangiger Mitarbeiter lands Präsident Wladimir Putin müsse das schen Russland und dem Westen. Sie han-
des US-Verteidigungsministeriums war, russische Nowitschok-Programm »voll- delt von enttäuschten Erwartungen – auf
sitzt in einem Hotel in Berlin. Er wischt umfänglich offenlegen«. beiden Seiten.
über sein Smartphone, dann hat er die Da gebe es nichts offenzulegen, antwor- »Die Russen haben uns immer wieder
Fotos gefunden. tete Putin und schickte seinerseits eine grö- über das Nowitschok-Programm angelo-
Sie zeigen einen metallenen Reaktor, in ßere Anzahl westlicher Vertreter aus Russ- gen«, sagt Weber. Viele Jahre lang nahmen
dem der tödliche Kampfstoff hergestellt
wurde. Die Apparaturen, die wie Gasmas-
ken für Hunde aussehen und im Keller la-
gen. Und den lang gestreckten Komplex,
vier Stockwerke in hellem Beige. Er steht
in einer Brachlandschaft, Schrott liegt im
Vordergrund.
So also sieht ein Ort aus, an dem sowje-
tische Forscher eines der gefährlichsten
Gifte in der Geschichte der Menschheit
produzierten. Nowitschok war in der So-
wjetunion entwickelt worden; nach deren
Zerfall 1991 hatte auch Russland damit ge-
arbeitet. Wer es berührt, stirbt in aller Re-
gel. Zuerst tritt ihm Schaum vor den Mund,
dann muss er erbrechen, die Muskeln er-
lahmen, am Ende bleibt das Herz stehen.
Weber durfte das Gebäude nur in einem
Schutzanzug betreten. Das Forschungs-
institut liegt auf einem ehemals sowje-
tischen Militärgelände in der usbekischen
Provinzstadt Nukus. 1992 hatten die Rus-
sen es geräumt und den besorgten Usbe-
ken jede Auskunft über die Hinterlassen-
schaft verweigert. Die baten schließlich in
Washington um Hilfe.
ANDREW WEBER

»Alles war abgesperrt, drinnen war ein


riesiges Chaos, überall lagen Chemikalien
herum«, erzählt Weber. Die Amerikaner
fanden nach seiner Aussage zwar kein Produktionsanlage im usbekischen Nukus um 1997:
Nowitschok, aber Abbauprodukte des
Stoffs. Es dauerte Monate, das Gelände
zu dekontaminieren. land nach Hause. Der russische Botschafter Diplomaten, Geheimdienstler und Politi-
Damals war Nowitschok (russisch »Neu- in London erklärte: »Wir haben Nowi- ker in Berlin, Washington, London die un-
ling«) nur Experten ein Begriff. Seit dem tschok nicht produziert und nicht gelagert.« durchschaubare Haltung Moskaus hin. Sie
Anschlag auf den britisch-russischen Dop- Die Weltöffentlichkeit schaut dem hofften: Wenn sich erst McDonald’s in
pelagenten Sergej Skripal und dessen Schlagabtausch staunend und teilweise Russland ausbreite und die Demokratie
Tochter im englischen Salisbury vor eini- bangend zu. Was kaum jemand weiß: Der Wurzeln schlage, verschwänden Probleme
gen Wochen aber ist das Gift weltbekannt. heutige Konflikt hat eine lange Vorge- wie Nowitschok, erzählt der ehemalige bri-
Britische Ermittler fanden Reste im Blut schichte, Ost und West streiten seit Jahr- tische Konteradmiral und Chemiewaffen-
der Skripals und an Orten, die Vater und zehnten über Nowitschok. experte John Gower.
Tochter aufgesucht hatten. Der SPIEGEL hat nun diese Vorgeschich- Aber auch die Russen waren womöglich
Der Westen wirft Russland vor, für das te rekonstruiert. Er hat dafür US-Doku- desillusioniert. Putins Generation – in der
Attentat verantwortlich zu sein, und wies mente aus dem Bestand der Enthüllungs- Sowjetunion aufgewachsen – hatte ge-
mehr als hundert russische Diplomaten plattform WikiLeaks ausgewertet und mit glaubt, der Westen würde es nach dem
und Geheimdienstler aus Washington, ehemaligen Diplomaten, Geheimdienst- Zerfall des Imperiums akzeptieren, wenn
London oder Berlin aus. US-Präsident lern, Chemiewaffenexperten gesprochen. Russland sich wie eine rücksichtslose
Donald Trump, Großbritanniens Premier- Die meisten bestanden auf Anonymität. Supermacht gebärde.

46 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Der russische Topdiplomat Anatolij kanische Raketenabwehr in Osteuropa. nen Nachfolger Boris Jelzin »nicht bloß-
Antonow, Abteilungsleiter im Außen- Erst wenn die Russen in der Australischen stellen« wollen.
ministerium und später stellvertretender Gruppe mitmachen dürften, sei »der Kalte Damals verhandelten Ost und West auf
Verteidigungsminister, schimpfte 2006: Krieg wirklich vorbei«, erklärte Antonow. der Genfer Uno-Abrüstungskonferenz
»Sie müssen sich entscheiden, ob Sie in Vergebens: Russland blieb außen vor. über eine Chemiewaffenkonvention. Sie
uns einen Partner sehen oder glauben, Nowitschok resultierte aus dem Rüs- sollte es verbieten, solche Waffen herzu-
Sie seien die Supermacht und wir aus Afri- tungswettlauf der Siebzigerjahre. Die stellen, zu besitzen, weiterzugeben oder
ka.« Russland sei nicht mehr so schwach Amerikaner lagen bei den modernsten gar einzusetzen. Das Abkommen wurde
wie vor zehn Jahren, »aber Sie behandeln Chemiewaffen zunächst vorn; die sowje- im Januar 1993 zur Unterzeichnung frei-
uns, als wäre Russland auf der gleichen tische Seite wollte aufholen und entwi- gegeben und zählt zu den bedeutendsten
Stufe wie Mali oder Burundi«. Er betonte: ckelte eine neue Generation von Chemie- Abrüstungsvereinbarungen im 20. Jahr-
»Wir sind nicht die Studenten und Sie die waffen, die um ein Vielfaches giftiger war hundert. Von dem Nowitschok-Problem
Professoren, sondern wir sind gleichge- als bekannte Stoffe. wollten sich westliche Verhandler nicht
stellt.« Das Nowitschok-Programm lief auch stören lassen.
Heute ist Antonow Botschafter in Wa- dann weiter, als Michail Gorbatschow, der Die Amerikaner hielten still, auch weil
shington und steht auf der EU-Sanktions- Reformer im Kreml, 1987 der Welt ver- die Sowjetunion über den größten Che-
liste. In den Nullerjahren sollte er Russland sprach, die sowjetische Chemiewaffen- miewaffenbestand der Welt verfügte und
den Zugang zur sogenannten Australi- produktion einzustellen. Kurz vor dem Nowitschok nur ein sehr kleiner Teil davon
schen Gruppe ebnen, einem Forum über- Zusammenbruch der Sowjetunion ehrte war. Die Chance, das übrige Todesarsenal
zwischen Kaliningrad und Wladiwostok
entsorgen zu können, überwog viele Be-
denken.
Die Deutschen hatten offenbar noch ein-
mal eigene Interessen. »Uns ging es darum,
unsere Chemieindustrie zu schützen«, be-
schreibt ein Bonner Vertreter, der von dem
Kampfstoff wusste, die Prioritäten der Re-
gierung von Helmut Kohl. Die Ausgangs-
stoffe sind gängige Chemikalien, etwa aus
der Pestizidindustrie.
Die Lage ändert sich mit dem Whistle-
blower Wil Mirsajanow, zunächst eine Art
Umweltschutzbeauftragter und dann Chef
der Spionageabwehr an jenem Moskauer
Institut, das für das Nowitschok-Pro-
gramm verantwortlich war. Empört über
die Doppelmoral seiner Regierung, die ab-
zurüsten vorgab und tatsächlich weiter-
machte, wandte sich der Chemiker an die
westliche Öffentlichkeit.
Mirsajanow sorgte dafür, dass die US-
Regierung Nowitschok wichtiger nahm.
Die Chemiewaffenkonvention sollte rati-
fiziert werden, die Aussagen Mirsajanows
ANDREW WEBER

ANDREW WEBER

seien »überaus beunruhigend«, urteilte


der US-Senat. 1994 stellten die Amerika-
ner die Russen zur Rede.
Wie ein Mitarbeiter im State Depart-
Zuerst tritt ihm Schaum vor den Mund, am Ende bleibt das Herz stehen ment später berichtete, bestritten Moskaus
Diplomaten nicht, was Mirsajanow erzählt
hatte, wohl aber dessen Deutung. Russ-
wiegend westlicher Staaten. Sie stimmen der Friedensnobelpreisträger die Verant- land habe nur kleine Mengen produziert,
ihre Exportpolitik ab, damit sich Chemie- wortlichen heimlich mit dem Lenin-Preis, für Entwicklungs- und Testzwecke. Das
waffen nicht verbreiten. Die Mitgliedschaft eine der höchsten Auszeichnungen des sei völkerrechtlich in Ordnung.
ist wie ein Unbedenklichkeitsstempel: Wer Imperiums. Westliche Nachrichtendienstler hielten
dabei ist, gehört zu den Guten. Und der Westen? Beobachtete und die russischen Angaben damals für glaub-
Die Geheimnistuerei um den Kampf- schwieg. Schon vor dem Fall der Mauer würdig. »Wir waren blauäugig«, sagt heute
stoff brachte Moskau bei Amerikanern, wussten westliche Spione von dem grausi- einer der Beteiligten. Andrew Weber ver-
Briten, Kanadiern den Ruf ein, in Sachen gen Kampfstoff. Die Geheimdienstler aber weist auf seine Erfahrungen aus Nukus in
Chemiewaffen »nicht zu kooperieren«. Da wollten ihre Quellen schützen, Papiere zu Usbekistan: Die Anlage, die er dort vor-
hätten wir ja den Bock zum Gärtner ge- Nowitschok unterlagen der obersten Ge- gefunden habe, sei für Laborversuche viel
macht, empört sich noch heute ein ehema- heimhaltungsstufe. Und die Nachrichten- zu groß.
liger Berliner Diplomat. dienstler glaubten nicht daran, dass die Doch der US-Senat rügte Jelzin nur.
Für seine russischen Kollegen zählte die neue politische Führung tatsächlich hinter Dieser solle endlich jene »Ewiggestrigen
Aufnahme jedoch zu den großen Streitfra- den Militärs stehe, die Nowitschok unver- aus der Sowjetära« abberufen, die das No-
gen, vergleichbar mit dem Konflikt über ändert vorantrieben, wie sich ein Agent witschok-Programm betrieben. Whistle-
die Nato-Osterweiterung oder die ameri- erinnert: Man habe Gorbatschow und sei- blower Mirsajanow gab sich damals zu-

47
Get your versichtlich. Die russische Wirtschaft lag lag nahe, die Russen führten das Programm

kicks on
darnieder, die Fortsetzung der bisherigen nur weiter, weil sie es konnten.
Arbeiten sei einfach zu teuer. Moskau kön- Die Chemiewaffenkonvention sieht
ne sich Nowitschok nicht mehr leisten. Meldepflichten für bestimmte Chemika-

ROUTE
Westliche Wissenschaftler begannen lien vor. Experten diskutierten deshalb
nun ihrerseits Forschungen: in den Labors über die Möglichkeit, Nowitschok und sei-
in Porton Down in England, in Edgewood ne Vorprodukte auf eine solche Liste zu
in den USA, bei der sogenannten Nieder- setzen. Doch dann kam 2001 der Anschlag
ländischen Organisation für Angewandte auf das World Trade Center in New York.
Naturwissenschaftliche Forschung (TNO) Fortan dominierte die Sorge, Schurken-
mit Hauptsitz in Den Haag sowie in min- staaten könnten Massenvernichtungswaf-
destens einem weiteren westlichen Staat. fen erwerben.
Nach jetzigem Kenntnisstand ging es um US-Diplomaten informierten Washing-
Schutzprogramme. Man muss Nowitschok- ton darüber, dass Kollegen aus Finnland
Substanzen herstellen, um Gegenmittel und anderen Ländern über Nowitschok
entwickeln zu können. sprächen. Die besorgte Zentrale wies sie
Als ein tschechischer Wissenschaftler in an, über jede Unterhaltung zu berichten,
der Szene für Aufsehen sorgte, weil er den von sich aus das Thema zu meiden und
Amerikanern vorwarf, ein Nowitschok- sich unwissend zu stellen. Im Zweifel soll-
Waffenprogramm zu betreiben, versicher- ten sie empfehlen, das Thema »den Exper-
te ein Diplomat aus der Ständigen Vertre- ten in den Hauptstädten zu überlassen«.
tung der USA bei der »Organisation für Die Meldelisten sind öffentlich. Viele
das Verbot chemischer Waffen« (OVCW) Staaten fürchteten, der Weiterverbreitung
in Den Haag einigen Verbündeten: Sein Vorschub zu leisten, wenn zu viel über
Land würde Nowitschok »nicht entwi- Nowitschok bekannt würde, erinnert sich
ckeln und auch keine Waffe daraus herstel- der deutsche OVCW-Berater Ralf Trapp
len«. So steht es in einer geheimen US- (SPIEGEL 15/2018). Dass Putin 2000 in
Depesche. Die Erklärung war mit Bedacht
gewählt: Das Wort »Forschung« fehlte.
1997 trat die Chemiewaffenkonvention Westliche Diplomaten
in Kraft, Nowitschok stand nun regelmäßig erlebten nun, dass ihnen
auf der amerikanisch-russischen Tagesord-
nung. Die westlichen Vertreter debattier- der Zutritt zu Anlagen
ten miteinander über Fragen, die aus der verwehrt wurde.
Gegenwart stammen könnten: Wer be-
treibt das Programm? Steht die politische
Führung dahinter? Wie gefährlich ist das Russland Präsident wurde, schien aus die-
ISBN 978-3-86124-715-9 alles? ser Sicht von Vorteil zu sein. Er päppelte
224 S., 70 farb. Abb., Paperback, 18 € [D] »Ich habe auf der anderen Seite Leute den Sicherheitsapparat, was jene im West-
getroffen, die wirklich den Wandel woll- en beruhigte, die fürchteten, alte Seilschaf-
ten, aber es gab eben immer auch die an- ten könnten Kampfstoffe wie Nowitschok
deren«, erinnert sich ein westlicher Ge- hinter dem Rücken des Kreml weitergeben.
heimdienstler an seine Gespräche über Allerdings erwartete Putin auch, dass
Auf der Bundesstraße 96 Massenvernichtungswaffen. sein Land wieder wie eine Supermacht be-
reisten Raphael Thelen und Die USA, die Bundesrepublik und an- handelt werde. Westliche Diplomaten er-
dere westliche Staaten halfen den klam- lebten nun, dass ihnen der Zutritt zu An-
Thomas Victor einmal quer durch men Russen mit Milliardenbeträgen, ihre lagen verwehrt wurde, die lange offen ge-
Chemiewaffenbestände zu entsorgen. Sie standen hatten. Mit jedem Jahr nahm das
Ostdeutschland – vom tiefsten erhielten Zugang zu einst hoch geheimen Misstrauen zu. Man habe versucht, mit
Sachsen bis zur Ostseeküste. Militärstandorten. Doch sobald es um No- den Russen offene Fragen bei den Chemie-
witschok ging, wurden die Russen schmal- waffen zu klären, das aber sei »unproduk-
Was ihnen unterwegs begegnete, lippig. »Ich glaube nicht, dass sie jemals tiv«, schimpfte ein britischer Diplomat im
umfassend ihr Programm dargelegt ha- April 2008 und verwies ausdrücklich auf
hatten sie nicht erwartet. Ihre ben«, sagt Weber. Das entspricht dem Vor- Nowitschok.
halt, den der britische Nationale Sicher- Den vorliegenden US-Depeschen zu-
Gespräche mit Hausbesetzern, heitsberater Mark Sedwill in einem Brief folge widersprach keiner der Verbündeten.
Architektinnen, Barfrauen, Pop- an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Sie waren sich einig, dass Russland nicht
in der vergangenen Woche erhob: dass die Mitglied der Australischen Gruppe werden
musikern und vielen anderen Russen auch »nach der Ratifizierung der sollte. Dabei ist es geblieben.
Chemiewaffenkonvention Nowitschoks Glaubt man dem britischen Geheim-
Menschen brachten ein Klischee entwickelten«. dienst, hat Putin damals entschieden,
ums andere ins Wanken … Die einstige Supermacht hatte die wohl »kleine Mengen Nowitschoks zu produzie-
umfassendste Abrüstung der Weltgeschich- ren und zu lagern«. Aus diesen Beständen
te in Friedenszeiten hinter sich. Nowi- sollen sich jetzt jene bedient haben, die
tschok-Kampfstoffe gehören zu den weni- Sergej Skripal und seine Tochter umbrin-
gen Spitzentechnologien im Waffenbereich, gen wollten. Klaus Wiegrefe
die dem Kreml blieben. Die Vermutung

48 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Deutschland

streuen ist noch die Ausnahme, doch da- sagt Schnaß, Asche zu verstreuen sei dort

»Der Tod ran zeigt sich die Richtung: Zeremonien


und Rituale werden unbeliebter, stattdes-
sen geht der Trend zum schnellen, preis-
üblich. Viele Deutsche ließen ihren Leich-
nam bislang hinter der Grenze in Venlo
verbrennen und ausstreuen. »Jetzt können

stirbt aus« werten Schlussstrich.


Auf dem Waldfriedhof Lauheide kostet
ein Reihengrab für Särge knapp tausend
wir unsere Kunden in der Region halten«,
sagt der Friedhofsmanager.
Markt, Zeitgeist, Kunden? Johann Hin-
Bestattungen Viele Menschen Euro, die Aschelösung rund die Hälfte. Wer rich Claussen kann damit wenig anfangen.
wollen heute schnell und schlicht sich auf einem solchen Feld verteilen lassenEr ist Kulturbeauftragter der Evangelischen
möchte, muss es vorab im Testament fest- Kirche in Deutschland und spricht von
beerdigt werden. Manche lassen legen. Damit soll verhindert werden, dass einer »schleichenden Trendwende«. Viele
ihre Asche anonym verstreuen – knauserige Angehörige für Oma oder Opa Menschen wollten nicht mehr, dass man sie
ein Problem für die Trauernden. eine Ascheverstreuung anordnen, nur weil nach ihrem Tod verabschiedet. »Es wird
es sie zu Discountpreisen gibt. nicht mehr gefeiert, um einen letzten Blick
Jedes Bundesland hat ein eigenes Be- auf das Leben zu werfen, oft geht es nur

A lfred Rasch entschied sich gegen all


das, was eine Beerdigung üblicher-
weise ausmacht. Er wollte keine
Rede, kein Gebet, keine Blumen und
stattungsgesetz. Nordrhein-Westfalen, Bre-
men und Thüringen zum Beispiel erlauben
Aschestreufelder. Voriges Jahr wollte auch
noch um die Entsorgung«, sagt der Theolo-
ge. »Der Tod stirbt aus.« Doch es sei wich-
tig, die Verstorbenen bewusst zu bestatten:
»Das unterscheidet den Menschen
Kerzen, keinen Grabstein mit seinem vom Tier«, sagt Claussen, »und es
Namen darauf. Und auch kein Grab. hilft denen, die zurückbleiben.«
An einem kühlen Frühjahrsmor- Tatsächlich ist es für manche
gen erfüllt sich Raschs letzter Wille Hinterbliebenen schwierig, mit der
auf dem Waldfriedhof Lauheide bei Verstreuung umzugehen. »Wer
Münster. Seine Ehefrau Helga und jemanden verloren hat, braucht ei-
sein Sohn Siegfried stehen Hand in nen Ort für die Trauer«, sagt Chris-
Hand neben dem Aschestreufeld, tian Jäger von der nordrhein-west-
einer Grasfläche, so groß wie ein Vol- fälischen Bestatterinnung, »aber
leyballfeld, umrahmt von Bäumen. wo bringt man die Gefühle zum
Ein Mitarbeiter der Friedhofsverwal- Ausdruck, wenn es kein Grab gibt?«
tung bringt die schwarze Urne mit Angehörige würden die Aschestreu-
den Überresten. »Wenn Sie dann so felder deswegen manchmal mit
weit sind, fange ich an«, sagt er. Der Blumen und Kerzen schmücken –
Sohn nickt. obwohl die Friedhöfe das verbieten.
Der Friedhofsmitarbeiter öffnet Mancherorts haben die kleinen
eine Luke an der Urne, dann geht er Ascheberge schon großen Ärger ver-
langsam über das Feld und schwenkt ursacht. Nachdem 2013 ein Feld in
das Gefäß hin und her. Die Asche der Gemeinde Kürten im Bergischen
fällt wie Salz aus einem Salzstreuer, Land eingerichtet worden war, stör-
sie bleibt auf dem harten Boden lie- ten sich Friedhofsbesucher an den
gen, bildet dort einen grauen Tep- Häufchen, die offen auf der Wiese
pich. Nach einer Minute ist die Bei- lagen. Das lade zur Leichenschän-
LARS BERG / DER SPIEGEL

setzung vorbei. dung ein, hieß es. Inzwischen ma-


»Das hatte ich mir anders vorge- chen sie es anders in Kürten: Rasen-
stellt«, sagt Siegfried Rasch danach, stück ausheben, Asche in das Loch
»irgendwie idyllischer.« Auch seine streuen, später wieder verschließen.
Mutter wünsche sich, nach ihrem Der Rentner Peter Gabor, 65, hat
Tod verstreut zu werden, erzählt er. Aschestreugefäß auf dem Waldfriedhof Lauheide in Mönchengladbach für das neue
Seine Eltern hätten nicht gewollt, Nach einer Minute vorbei Aschestreufeld gekämpft. Gabor ist
dass er auf ihrem Grab Blumen gie- katholisch, an Auferstehung glaube
ßen und Unkraut jäten müsse. er aber nicht, sagt er. »Der Tod ist
In Deutschland möchte sich nur noch Niedersachsen sein Gesetz entsprechend das Ende, danach kommt nichts mehr.« Er
jeder Vierte in einem Sarg und unter der ändern, ein Entwurf aus dem Sozial- wolle sich verstreuen lassen, sagt er, seine
Erde begraben lassen, das ergab eine Um- ministerium scheiterte aber im Kabinett. Kinder seien einverstanden. Sie brauchten
frage des Forschungsinstituts Emnid. Die Gegner befürchteten, dass Tiere die keinen Grabstein, um sich an ihn zu er-
Schon fast zwei Drittel der Bundesbür- ausgestreute Asche fressen könnten. innern. »Ich werde in den Geschichten
ger lassen sich einäschern. Die Nachfrage Auf dem Hauptfriedhof in Mönchen- über mich weiterleben.« Er wolle nach
nach Ruhestätten, die den Angehörigen gladbach wurde kürzlich das erste Streu- dem Tod seine Ruhe haben, keine Reden,
keine Umstände bereiten, steigt. 13 Pro- feld der Stadt angelegt. Ein 60 Zentimeter keine Namenstafel, so soll die Sache ab-
zent der Deutschen, die auf einem Friedhof hoher Erdwall begrenzt das Areal, er soll laufen, zack und weg. Lukas Eberle
beigesetzt werden möchten, wünschen sich Hunde von der Asche fernhalten.
eine Grabstätte, die nicht gepflegt werden Der Markt sei »hart umkämpft«, sagt
muss. Sie lassen das, was von ihnen übrig Hans-Jürgen Schnaß, als Chef der Stadt- Video
Entsorgung statt
bleibt, in Urnenwänden und unter Bäumen betriebe für die Friedhöfe in Mönchen- Bestattung
bestatten oder anonym verstreuen. gladbach zuständig. Man müsse »das Be- spiegel.de/sp172018asche
Einige Friedhöfe haben dafür Felder stattungsangebot dem Zeitgeist anpassen«. oder in der App DER SPIEGEL
und Wiesen hergerichtet. Asche zu ver- Die Niederlande hätten liberalere Gesetze,

49
Deutschland

Analogistan
neues Datum: Noch in diesem Jahr soll ein
Portal starten, über das die Bürger mit ei-
ner einzigen Kennung und wenigen Klicks
wesentliche Dienste in Anspruch nehmen
können. Bis 2022 solle alles, was online
E-Government Vieles im Alltag lässt sich heute online erledigen, nur möglich sei, »digital erledigt werden kön-
auf deutschen Ämtern geht es oft zu wie vor Jahrzehnten. Ein Insider nen«, so Braun. Diesmal aber wirklich.
berichtet, woran der digitale Fortschritt in den Behörden scheitert. Auch die Kanzlerin erkennt mittlerweile
eine gewisse Dringlichkeit: Sie war einige
Male in Estland, dem digitalen

D ie Voraussetzungen für
das Projekt schienen ideal:
Es gab den politischen
Willen, einen Plan, einen werbe-
Vorzeigestaat der EU. Seit die
Esten Angela Merkel im Schnell-
verfahren zur E-Residentin ge-
macht haben, spricht sie von »ei-
tauglichen Namen und einen pas- ner Bringschuld« gegenüber den
senden Ort, um das Ganze vor- Bürgern: »Andere Regionen ent-
zustellen: die Computermesse wickeln sich deutlich schneller.«
Cebit in Hannover. Die Erkenntnis kommt spät.
Der hohe Gast aus der Politik Dabei geht es nicht um irgend-
präsentierte »BundOnline« als welche Technikspielereien, son-
großes Versprechen: Statt mühsa- dern um das Verhältnis von Bür-
mer Behördengänge sollten die ger und Staat: Neben Wahlen
Bürger künftig ihre Lebensbüro- sind es vor allem die Erfahrungen
kratie online erledigen können, mit Ämtern und Behörden, die
vom Antrag auf BaföG bis zur Zu- das Staatsbild prägen. Eine effi-
lassung ihres Autos. Niemand ziente und moderne Verwaltung
müsse sich mehr einen Tag Urlaub ist auch ein wichtiger wirtschaft-
nehmen, um Wartemarken zu zie- licher Standortfaktor. Seit den
hen und auf Ämtern zu schmoren. preußischen Verwaltungsrefor-
Das war im Frühjahr 2001, und men galt Deutschland internatio-
der Bundeskanzler, der den Bür- nal als Vorbild, seine Verwaltung
gern versprach, den Traum vom als Ausweis deutschen Organisa-
digitalen Staat zu erfüllen, hieß tionstalents. Und natürlich kann
Gerhard Schröder. Schon auf der man sich fragen, wie glaubwürdig
Expo einige Monate vorher hatte die Digitalpolitik einer Bundes-
er gescherzt, bald würden »die regierung ist, die auf diesem Ge-
Daten laufen, nicht die Bürger«. biet den Anschluss verloren hat.
Die damals geborenen Kinder Das Problem ist spätestens seit
sind inzwischen fast volljährig, sie »BundOnline« erkannt, und die
leben mit Instagram und Snap- Parteien sind sich einig: Es muss
chat. Vom Telefon bis zum Fern- gelöst werden. 91 Prozent der Be-
FELIX STROSETZKI / DER SPIEGEL

seher ist alles »smart« – bis auf fragten würden einer Umfrage zu-
den Staat. Es gibt Apps für alle folge ihre Anliegen gern digital er-
Bedürfnisse und Lebenslagen, so ledigen. Etwa 400 Millionen Stun-
gut wie jede Dienstleistung lässt den jährlich verbringen die Deut-
sich vom Smartphone aus buchen, schen mit Behördenangelegen-
bestellen und bezahlen. Nur der heiten, das Einsparpotenzial wird
Umgang mit Behörden gleicht oft auf Milliarden Euro geschätzt.
einem Besuch in Analogistan. Forscher Schallbruch: »Kampf der Politik gegen die Apparate« Die Nachbarn machen es
Bis heute können Studenten Deutschland vor: In Österreich
ihr BaföG nicht problemlos flä- bekommt, wer die Geburt seines
chendeckend online beantragen, und »Wirksames E-Government ist hierzu- Kindes meldet, automatisch und ohne An-
wer sein Auto anmelden will, muss dafür lande noch nicht erkennbar«, bilanzierte trag Kindergeld gezahlt. Dänemark hat
einen halben Tag einplanen – oder eine der im Kanzleramt angesiedelte Normen- schon vor Jahren begonnen, seine Register
Servicefirma beauftragen, die aus der kontrollrat Ende vorigen Jahres bitter. Die zu modernisieren und das »once only«-
lästigen Bürokratie ein Geschäftsmodell EU-Kommission verortet Deutschland bei Prinzip einzuführen: Damit müssen die
gemacht hat. der Digitalisierung der Verwaltung nur Bürger ihre Daten nicht mehr bei jedem
Egal ob es um Wohngeld geht, um Ge- noch auf Platz 20 ihrer Mitgliedstaaten, Antrag komplett neu ausfüllen.
burtsurkunden oder den Antrag auf eine Nachbarn wie Dänemark und Österreich »In Deutschland fehlt bislang jede Digi-
Grabstätte beim Friedhofsamt: Hierzulan- sind weit enteilt. tal Leadership«, sagt Martin Schallbruch.
de gilt es in der Regel schon als fortschritt- Mit der neuen Regierung bricht wieder Der Diplom-Informatiker war der erste IT-
lich, Termine online buchen und Antrags- die Zeit der Versprechungen an. Dorothee Direktor des Bundes im Innenministerium,
formulare herunterladen zu können. Und Bär, die frisch berufene Digital-Staatsmi- Otto Schily hatte die Position einst für ihn
anders als beim Onlineshopping kann man nisterin im Kanzleramt, nutzte ihren ers- geschaffen. Er war unter vier Ministern an
als frustrierter Bürger in der staatlichen ten öffentlichen Auftritt in Berlin, um Bes- sämtlichen vergeblichen Versuchen betei-
Servicewüste nicht einfach mal eben den serung zu geloben. Und ihr Vorgesetzter, ligt, Politik und Verwaltung in Deutsch-
Anbieter wechseln. Kanzleramtschef Helge Braun, nennt ein land digital voranzubringen.

50 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


An einem warmen Berliner Frühlingstag Elektronische Behördendienste
sitzt Schallbruch im Garten des ehemaligen 83,8 Indexwerte für E-Government 2017, in Prozent
Staatsratsgebäudes des DDR, wo er jetzt
Quelle: Fortschrittsindex für die digitale
am Digital Society Institute forscht. Frus- 73,1 Wirtschaft und Gesellschaft (DESI)
triert sei er nicht ausgeschieden, sagt der 64,9 der EU-Kommission

52-jährige Politfrühpensionär, aber gewurmt 57,3


habe ihn der Stillstand schon. Er hat seine EU-Durchschnitt: 54,9
46,2
Erfahrungen nun in einem Buch verarbeitet,
in dem er deutliche Worte wählt. Er spricht 26,5
darin von »hilflosen Bürokraten« und »ent-
täuschten Erwartungen«, den aktuellen Zu-
stand nennt er »trostlos«*.
Vor allem den Behördenwirrwarr auf al-
len Ebenen macht er darin als Grund für
die digitale Misere aus: Für Kindergeld

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und Hartz IV ist der Bund zuständig, für

I
Wohngeld, Umweltplaketten und Anwoh-

Gr
nerparkausweise sind es die Kommunen,
und dann gibt es ja noch Landkreise und Da ist zum Beispiel die Sache mit der regierung ist er überzeugt, dass es dem
Bundesländer. eigenhändigen Unterschrift – eine wesent- Staat nicht anders geht als allen Orga-
Anfangs seien er und seine Kollegen liche Hürde für digitale Verfahren. Mehr nisationen, die mit dem digitalen Struk-
noch »ziemlich naiv« gewesen und hätten als zehn Jahre Vorarbeit habe es gebraucht, turwandel kämpfen: Er muss sich grund-
geglaubt, eine flächendeckende Online- bis der Bund auf diese »Schriftform«-Er- sätzlich neu organisieren, wenn es digital
Autozulassung aus Berlin dekretieren zu fordernis voriges Jahr in vielen Fällen ver- vorangehen soll. Das Verhältnis von Bund,
können. Immerhin hätten sich die Bundes- zichtet habe, so Schallbruch. Ländern und Kommunen müsse man
kanzlerin und sämtliche Ministerpräsiden- Hinzu kommt der Wildwuchs der staat- »komplett neu ordnen«, der Bund müsse
ten 2006 einstimmig darauf verständigt. lichen IT: Allein der Bund betreibt laut In- zentrale IT-Systeme für Wohngeld, Eltern-
Damals hieß das Projekt: »Deutschland – formatiker Schallbruch 96 Rechenzentren geld und Melderegister bereitstellen, alle
Online«. Das Problem: Die Verkehrs- und 1245 Serverräume – einen vollständi- Basisinformationen müssten in einheit-
minister waren nicht eingebunden, fühlten gen Überblick habe dort längst niemand lichen bundesweiten Registern gespei-
sich übergangen und blockierten. mehr, nicht einmal über die damit verbun- chert werden. Darauf könnten Länder und
»Beim Thema E-Government«, so denen Kosten. Gemeinden dann ihre jeweiligen Dienste
Schallbruch, »führt die Politik einen lan- Nun soll es neben dem neuen Digital- aufbauen.
gen, zähen Kampf gegen die eigenen Ap- personal im Kanzleramt, das das Bürger- Auch ein eigenes Digitalministerium
parate.« Der deutsche Beamte, schreibt er, portal aufbaut, einen Etat von 500 Millio- hält Schallbruch für notwendig. »Die Auf-
sei grundsätzlich darauf aus, Risiken zu nen Euro geben, ein Beratergremium fürs teilung auf mehrere Ressorts aus parteipo-
vermeiden. Die Verwaltung traue sich da- E-Government und vor allem einen neuen litischem Proporz war und ist ein schwerer
her »nichts Umstürzendes, sie hält eher Geist: »Digital first«. Fehler.« Wenn das so bleibe, so Schall-
an Bewährtem fest«. »Die Widerstände und Reibungen wer- bruch, werde es kaum vorangehen: »Ich
den bleiben«, fürchtet Schallbruch, trotz fürchte, wir werden jetzt übermäßig viel
* Martin Schallbruch: »Schwacher Staat im Netz – Wie
eines neuen Gesetzes, das dem Bund Geld ausgeben und weiter unter dem Welt-
die Digitalisierung den Staat in Frage stellt«. Springer mehr Durchgriffsrechte einräumt. Nach standard dümpeln.« Marcel Rosenbach
Fachmedien; 271 Seiten. fast 20 Jahren Arbeit für die Bundes-

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ISLE OF DOGS – Berlin


Filmtheater am Friedrichshain
ATARIS REISE Bötzowstraße 1 – 5
Beginn: 20.00 Uhr
ISLE OF DOGS – ATARIS REISE erzählt Düsseldorf
die Geschichte von Atari Kobayashi, dem Cinema
12-jährigen Pflegesohn des korrupten Schneider-Wibbel-Gasse 5 – 7
Bürgermeisters Kobayashi. Als durch Beginn: 20.00 Uhr
einen Regierungserlass alle Hunde der
Stadt Megasaki City auf eine riesige Frankfurt am Main
Cinema
Mülldeponie auf Trash Island verbannt
Roßmarkt 7
werden, macht sich Atari allein in einem Beginn: 20.00 Uhr
Miniatur-Junior-Turboprop auf den Weg,
um seinen verschollenen Bodyguard- Hamburg Abaton
Hund Spots zu suchen. Auf Trash Island Allende-Platz 3, Ecke Grindel Hof
freundet er sich mit einem Rudel streu- Beginn: 20.00 Uhr
nender Mischlingshunde an und bricht Hannover Kino am Raschplatz
gemeinsam mit seinen neu gewonnenen Raschplatz 5
zotteligen Freunden zu einer epischen Beginn: 20.00 Uhr
Abenteuerreise auf, die das Schicksal und
die Zukunft der ganzen Präfektur Köln Weisshaus Kino
April
Preview am 30. . Mai entscheiden wird. Luxemburger Straße 253
Beginn: 20.00 Uhr
Kinostart am 10 Wes Andersons fantasievoller Animati-
Leipzig Passage Kinos
onsfilm ISLE OF DOGS – ATARIS REISE
Hainstraße 19a
hat im Februar bei seiner Weltpremiere Beginn: 20.00 Uhr
als erster animierter Eröffnungsfilm
Berlinale-Geschichte geschrieben und München City Kinos
wurde mit dem Silbernen Bären in der Sonnenstraße 12
Kategorie Beste Regie prämiert. Der viel- Beginn: 20.00 Uhr
fach ausgezeichnete Regisseur und Autor Nürnberg Cinecittà
beweist mit seiner Liebeserklärung an Gewerbemuseumsplatz 3
die treuesten Freunde des Menschen Beginn: 20.00 Uhr
einmal mehr, dass er zu den prägendsten
Ausnahmekünstlern im heutigen Kino Stuttgart Metropol
zählt. Bolzstraße 10
Beginn: 20.00 Uhr

www.fox.de/isle-of-dogs
/ 20thCenturyFoxGermany
Deutschland

Ein fatales Rendezvous


Verbrechen Vietnamesische Agenten entführen einen ehemaligen Parteifunktionär und dessen
Geliebte aus Berlin. Die Täter können fliehen, nur ein Gehilfe steht jetzt vor Gericht.

BUNDESPOLIZEI
Angeklagter Long N. H., Polizisten*: Er tat, was man ihm befahl

D
as Kommando, das sich am Vor- munistischen Partei Vietnams und gehörte Die Operation dauert keine Minute. Die
mittag des 19. Juli 2017 in der zu den Reformern, die dem Westen zu- Männer packen die Frau, die sich so heftig
Ankunftshalle des Berliner Flug- geneigt waren. Doch die Konservativen, wehrt, dass Augenzeugen glauben, sie er-
hafens Tegel trifft, ist hochrangig eher nach China orientiert, gewannen die leide einen epileptischen Anfall. Auch der
besetzt. Duong Minh Hung, der Vizechef Oberhand, Trinh fiel beim Regime in Un- Mann boxt um sich, selbst dann noch, als
eines vietnamesischen Geheimdienstes, ist gnade. Womöglich auch, weil er die Vor- er in einem silberfarbenen VW-Bus zu
angereist, ein Zwei-Sterne-General mit züge des Kapitalismus allzu sehr genoss. Boden gedrückt wird. Auf dem Gehweg
randloser Brille. Auch der Geheimdienst- Vietnamesische Ermittler warfen ihm bleiben seine Sonnenbrille und sein Smart-
resident an der vietnamesischen Botschaft Korruption und finanzielle Unregelmäßig- phone zurück. Als Passanten es aufheben,
in Berlin erscheint. Zwei weitere Helfer keiten in seiner Zeit als Chef einer staat- leuchtet auf dem Display das Bild einer
kommen mit dem Flugzeug aus Paris, an- lichen Baufirma vor. Es ging um hohe Sum- Blume.
dere mit dem Auto aus Prag, am Ende sind men, ihm drohte die Todesstrafe. Er floh Bei der Polizei gehen an diesem Morgen
sie wohl zu acht. nach Deutschland und beantragte Asyl. mehrere Notrufe ein. Ein Augenzeuge ver-
Sie wissen, dass auch eines ihrer Opfer Seine Affäre mit der 24 Jahre jüngeren folgt den VW-Bus bis zum Brandenburger
mit einer Maschine aus Paris landen wird, Frau aus Hanoi pflegte er weiter. Tor. Als er an einer roten Ampel aus sei-
sie wissen nur nicht, wann. Also warten Die Männer aus der Ankunftshalle fol- nem Auto springt, auf mehrere Polizisten
sie, rund drei Stunden lang. gen der Frau zum Hotel und lassen die bei- zurennt und ihnen erklären will, was er
Das Flugzeug der Zielperson setzt mit 16 den nun nicht mehr aus den Augen. Nicht, gerade gesehen hat, rast der VW-Transpor-
Minuten Verspätung um 12.56 Uhr auf, Thi als sie ein Brillengeschäft betreten. Nicht, ter weiter. Um 11.13 Uhr erreicht er die
Minh P. D. nimmt ein Taxi. Eine knappe als sie am Abend beim Italiener essen. vietnamesische Botschaft in Berlin-Trep-
Stunde später checkt sie im Hotel Sheraton Nach vier Tagen schlagen sie zu. tow. Dort bleibt der Wagen fünf Stunden
beim Berliner Tiergarten ein. Dort ist sie mit Es ist Sonntag, der 23. Juli, der Himmel lang geparkt.
ihrem Geliebten verabredet, dem vietname- ist bewölkt. Um 10.39 Uhr verlässt das Paar Der Fall erschüttert die Berliner Politik,
sischen Geschäftsmann Trinh Xuan Thanh. das Hotel und geht im Tiergarten spazieren. nicht nur, weil die Szenen an einen schlech-
Der heute 52 Jahre alte Trinh spielte ten Agentenkrimi erinnern. Dass ein frem-
einmal eine bedeutende Rolle in der Kom- * Am 23. August 2017 an der deutsch-tschechischen Grenze. der Geheimdienst Menschen auf deut-

54 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


schem Boden am helllichten Tag kidnappt, tionen. Daraus entwarfen die Ermittler ein tischen Partei angehörte. Unter ihm wuchs
geschah zuletzt vor 27 Jahren. 1991 ent- Bewegungsbild der Täter und ihrer Autos. die Wirtschaft, aber auch die Korruption.
führten US-Agenten den ehemaligen Ge- Der Plan, Trinh Xuan Thanh aus Deutsch- 2009 wurde Trinh Vorstandsvorsitzen-
heimdienstmitarbeiter Jeffrey Carney, der land zu entführen, entstand vermutlich ein der des Baukonzerns PetroVietnam Con-
sich 1986 nach Ost-Berlin abgesetzt und Dreivierteljahr vor der Tat. Neben Berlin struction, einer Tochter des staatlichen Öl-
für die Stasi gearbeitet hatte. Die Bundes- war Prag eine wichtige Basis für die ge- und Gaskonzerns mit 3000 Mitarbeitern.
regierung protestierte nur verhalten. Dies- plante Operation. Er arbeitete außerdem in führender Stel-
mal sind ihre Worte scharf: Die Tat sei ein Wie der Verbindungsbeamte des Bun- lung im Ministerium für Industrie und
»präzedenzloser und eklatanter Verstoß deskriminalamts in Tschechien seinen Kol- Handel und sollte dort, so erzählt es ein
gegen deutsches Recht und gegen das Völ- legen in Deutschland mitteilte, reiste be- enger Freund Trinhs in Berlin, stellvertre-
kerrecht«, erklärt das Auswärtige Amt. reits im September 2016 eine Delegation tender Minister werden.
Der entführte Geschäftsmann wird spä- hochrangiger vietnamesischer Polizisten Doch Anfang Januar 2016 war es mit
ter nach Hanoi geflogen, womöglich über der Fahndungsabteilung C52 nach Prag. der steilen Karriere vorbei: Auf dem
Moskau, womöglich als Krankentransport Sie wollten dort Quellen, teilweise aus 12. Parteitag der Kommunistischen Partei
getarnt. Das staatliche Fernsehen jeden- dem »kriminellen Milieu«, aktivieren, um setzte sich der konservative Flügel durch.
falls präsentiert ihn am 3. August 2017 als herauszufinden, wo sich Trinh genau auf- Dem scheidenden Premierminister miss-
reuigen Sünder. Richter des Volksgerichts- hielt. lang der Sprung ins mächtige Zentralko-
hofs verurteilen ihn Anfang dieses Jahres Am 16. September hatten die vietname- mitee. Die Reformer waren entmachtet.
zweimal zu lebenslanger Haft. sischen Ermittlungsbehörden einen Haft- Erste Vorwürfe gegen Trinh wurden ein
Die vietnamesische Führung hat am befehl gegen den Geschäftsmann erlassen. halbes Jahr später laut, im Juni 2016. Er
Ende ihr Ziel erreicht und einen lästigen, Als Manager bei einer Tochtergesellschaft sei als Parteivertreter mit einem teuren
womöglich auch korrupten Gegner ausge- des staatlichen Öl- und Gaskonzerns Pe- Wagen der Marke Lexus durch die Gegend
schaltet. Öffentlich entschuldigt, wie von troVietnam sei er für Verluste in Höhe von gefahren und habe sich lukrative Immo-
der deutschen Regierung gefordert, hat sie umgerechnet 130 Millionen Euro verant- bilien angeschafft. Dann folgten die Er-
sich für die brutale Aktion nicht. wortlich. Er habe trotz zahlreicher War- mittlungen wegen der Verluste bei der
Auch strafrechtlich werden die meisten nungen »leichtsinnig« gehandelt und meh- Baufirma. Monate später warfen ihm die
der Täter wohl nicht belangt. Zwar beginnt rere Fehler begangen. Behörden Veruntreuung vor.
am 24. April vor dem Berliner Kammer- Am 30. September ging in Deutschland In einem offenen Brief vom 4. Septem-
gericht der Prozess gegen den vietname- ein internationales Festnahmeersuchen ber 2016 wies Trinh die Vorwürfe zurück
sischen und tschechischen Staatsbürger der vietnamesischen Behörden ein. Wie und erinnerte daran, dass sie bereits ge-
Long N. H. aus Prag, dem der Generalbun- in solchen Fällen üblich, prüften das Aus- prüft worden seien. Die Parteileitung habe
desanwalt geheimdienstliche Agententä- wärtige Amt und das Bundesamt für Justiz sich mehrheitlich gegen ein Disziplinarver-
tigkeit und Beihilfe zur Freiheitsberaubung fahren ausgesprochen. Die Sache sei längst
vorwirft. Doch spielte der 47-Jährige, wie vom Tisch. In dem Schreiben erklärte
die Ankläger selbst einräumen, innerhalb In Berlin lebte die Familie Trinh auch, dass er aus der Partei austreten
der Gruppe eine nur untergeordnete Rolle. zurückgezogen. Die werde. Das Land hatte er kurz zuvor ver-
Er tat, was man ihm befahl. lassen.
Ob er wusste, um was es ging, wie es offizielle Meldeadresse Über Laos und Thailand floh Trinh in
die Staatsanwälte behaupten, oder ob er war nur eine Tarnung. die Türkei und von dort mit seinem Diplo-
ahnungslos war, wie er selbst sagt, müssen matenpass nach Deutschland. Dort traf er
die Richter klären. Angesetzt sind 21 Ver- mit seiner Frau und den zwei jüngeren
handlungstage. das Begehren. Sie reagierten zurückhal- Töchtern zusammen, die beiden Söhne
Die anderen Tatverdächtigen sind ver- tend: Zunächst sollte nur der Aufenthalt blieben in Vietnam. Er wolle kein »Bau-
mutlich längst geflohen, wie der General von Trinh ermittelt werden. ernopfer in einem schmutzigen Macht-
und die Helfer aus Paris. Oder sie genießen Dessen ungeachtet reiste im Oktober kampf« sein, schrieb Trinh Monate später,
diplomatische Immunität, wie jene Mit- 2016 eine vietnamesische Delegation aus als er am 29. Mai 2017 seinen Antrag auf
arbeiter der vietnamesischen Botschaft in dem Ministerium für Öffentliche Sicher- Asyl stellte. Er erinnerte daran, dass ihm
Berlin, die an der Tat beteiligt gewesen heit nach Deutschland, wie der Verbin- zu Hause die Todesstrafe drohe. Das Bamf
sein sollen. Zwei von ihnen wies die dungsbeamte der Bundespolizei in Hanoi lud ihn zu einer Anhörung ein. Der Termin
Bundesregierung aus, darunter den offi- in einem Bericht festhielt. Ihr Ziel: den war am Tag nach der Entführung ange-
ziellen Vertreter des Geheimdienstes. Ein flüchtigen Trinh Xuan Thanh zu finden. setzt, Trinhs Anwalt wartete vergebens.
symbolischer Akt, mehr nicht. Am 4. November teilte das Ministerium In Berlin lebte die Familie zurückgezo-
Es gibt in diesem Fall kaum Beteiligte, dem deutschen Beamten Vollzug mit: Man gen in einem Einfamilienhaus in Spandau.
die aussagen, auch keine Opfer, die erzäh- wisse nun, dass Trinh sich in Deutschland Die offizielle Meldeadresse im Berliner
len können. Dennoch gelang es den Er- aufhalte. Aus heutiger Sicht klingt es wie Wedding war nur eine Tarnung. Kontakt
mittlern, die Entführung über weite Stre- eine letzte Warnung. zu anderen der 16 000 Vietnamesen in der
cken auf die Minute genau zu rekonstruie- Noch Jahre zuvor sah es so aus, als habe Hauptstadt vermieden sie. Nur manchmal
ren. Geholfen hat ihnen die Überwa- Trinh Xuan Thanh eine glänzende Karrie- gingen Trinh und seine Ehefrau mit einem
chungstechnik: Die Leihwagen der Entfüh- re in Vietnam vor sich. Der Architekt, der engen Freund zum Golfen in einen Klub
rer waren an ein GPS-Sicherheitssystem bereits Anfang der Neunzigerjahre als nach Gatow. Sie waren dort Schnupper-
angeschlossen. So war es möglich, die Rou- Asylbewerber drei Jahre lang in Deutsch- mitglieder. Von einer Geliebten ahnte die
te nachzuzeichnen. Videoaufnahmen aus land lebte, trat 2003 in die Kommunisti- Ehefrau offenbar nichts.
Tankstellen verrieten, wer wann in wel- sche Partei ein und war in der Baubranche Im vorigen Sommer erhöht die vietna-
chem Auto fuhr. Ein automatisches Erfas- tätig. Er arbeitete eng mit Nguyen Tan mesische Regierung den Druck auf die
sungssystem von Kennzeichen namens Dung zusammen, der 2006 Premierminis- Deutschen. Es bestehe offenbar »ein er-
Kesy, das in Brandenburg gegen Kfz-Diebe ter des Landes wurde und dem westlich hebliches Strafverfolgungsinteresse im
eingesetzt wird, lieferte weitere Informa- orientierten Reformflügel der Kommunis- Rahmen des Antikorruptionskampfes«,

55
Deutschland

heißt es in einem Polizeibericht. Auf dem kurzfristig die Zimmer und zahlen oft in
PLANET E. G-20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli bar, doch geben sie bei der Reservierung
SONNTAG, 22. 4., 16.30 – 17.00 UHR | ZDF spricht der vietnamesische Premierminis- ihre echten Namen an.
ter Nguyen Xuan Phuc angeblich die Auch die Überwachungskameras in
Der Plastik-Fluch – Kanzlerin auf den Fall an. Doch Angela den Hotels scheinen sie nicht weiter zu
Wie wir unseren Planeten Merkel macht ihm wohl wenig Hoffnung, interessieren, ihre Gesichter sind später
vermüllen dass der Ex-Funktionär ausgeliefert wer- gut zu erkennen. Nur Duong Minh Hung,
2050 könnte Plastikmüll im Meer den könnte. der General, agiert etwas vorsichtiger. Sein
leichter zu finden sein als Fische. Spätestens jetzt beschließt die Führung Zimmer im Sylter Hof hat ein anderer des
Mikroplastik findet sich im arkti- des Geheimdienstes Tong cuc An ninh, Teams angemietet, es wird die Kommando-
Trinh mit Gewalt aus Berlin zu entführen. zentrale für die Aktion. Der hochrangige
Die Agenten wissen, dass Thi Minh P. D., Geheimdienstmann verlässt nur selten den
die Trinh noch aus dem Handelsministe- Raum und bekommt spärlich Besuch, etwa
rium kennt, im Juli wieder zu ihrem Ge- von seinem Geheimdienstkollegen aus der
liebten fliegen will, wie immer über Paris. Berliner Botschaft.
Eine gute Gelegenheit für die streng gehei- Am Morgen der Entführung geht Du-
QUELLE: POND5

me Operation. ong um 8.18 Uhr aus dem Hotel und kehrt


Von wem der nun in Berlin angeklagte nicht wieder zurück. Noch am selben Tag
Long N. H. den Auftrag erhält, können die wird Long N. H. an der Rezeption das Zim-
Plastikmüllverbrennung in Asien Ermittler nicht genau sagen. Am 18. Juli mer für die restlichen Tage stornieren, ein
2017 leiht er bei einem Autovermieter auf anderer Helfer aus Prag holt das Gepäck
schen Eis und in unserer Nahrungs- dem vietnamesischen Sapa-Markt in Prag des Generals ab.
kette. Diese Dokumentation geht der einen BMW aus. Er betreibt nur wenige Nur wenige Stunden nach dem Überfall
Frage nach, wie wir das Plastikpro- Meter entfernt eine Geldwechselstube. im Tiergarten wird Thi Minh P. D., die
blem in den Griff bekommen können. Als Gastarbeiter hat Long N. H. noch Geliebte, außer Landes geschafft. Ein
die DDR erlebt, allerdings nur für kurze Botschaftsmitarbeiter fährt mit einem
Zeit. 1990 kehrte er nach Vietnam zurück, Freund zum Hotel Sheraton, der dort ihr
SPIEGEL TV MAGAZIN 1991 stellte er in Deutschland einen Asyl- Gepäck aus ihrem Hotelzimmer holt. Ein
SONNTAG, 22. 4., 22.35 – 23.30 UHR | RTL antrag, der erst 1996 endgültig abgelehnt Koffer, das Schminkzeug, Papiertaschen
wurde. Seit 1999 lebt er in Tschechien, zu- von Louis Vuitton und Chanel. Nur ein
Frust auf beiden Seiten – Sigmarin- sammen mit seiner Freundin und deren Herrenhemd übersieht er. Sie bringen das
gen und die Flüchtlinge; SPD-Karrie- Kindern. Gepäck zum Flughafen Tegel.
re trotz Handicap – Bijan Kaffenber- Er übergibt den Wagen an einen an- Zwei vietnamesische Aufpasser beglei-
ger hat Tourette, na und?; Die deren Vietnamesen, der gemeinsam mit ten die Geliebte via Peking und Seoul nach
Gesichtsretter – Deutsche Ärzte einem weiteren Mann damit nach Berlin Hanoi, den Flug hatte die Botschaft in Ber-
operieren missgebildete Kinder in fährt. Das Auto wird zum Observieren des lin gebucht. Einer Freundin schreibt Thi
Manila. verliebten Pärchens benötigt. Zwei Tage Minh P. D. später aus Hanoi, sie habe sich
später leiht er beim selben Anbieter das den Arm gebrochen und ins Krankenhaus
spätere Entführungsauto aus, den silber- gemusst. Möglicherweise wurde sie beim
SPIEGEL TV REPORTAGE farbenen VW-Bus. Er fährt ihn selbst nach Kampf mit ihren Entführern verletzt. Wie
DIENSTAG, 24. 4., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 Berlin. Am Morgen der Tat allerdings wird es ihr heute geht, wissen die deutschen Be-
ihn ein anderer steuern. hörden nicht.
Brennpunkt Steilshoop – Die Entführer versuchen vergebens, Auch General Duong hat es nun eilig,
ein Getto mit Herz ihre Identitäten zu verschleiern. Sie wech- das Land zu verlassen. Er lässt sich von
Graue Wohnblöcke, verwahrloste seln zwar spontan die Hotels, stornieren einem Helfer im Porsche nach Prag chauf-
Spielplätze, leer stehende Geschäf-
te. Im Hamburger Stadtteil Steils-
hoop lebt jeder fünften Bewohner
von Hartz IV. Trotzdem gibt es
Menschen, die hier niemals wegzie-
hen würden, die in Steilshoop ihr
Glück gefunden haben. Ein Film
über Armut und Lebensmut, Ein-
samkeit und Zivilcourage.

SPIEGEL GESCHICHTE
FREITAG, 27. 4., 22.00 – 22.50 UHR | SKY

Auf Sendung:
Der Massenmörder
von New York
KHAM / REUTERS

Mitte der Siebzigerjahre hält eine


Reihe von Morden die Bevölkerung
New Yorks in Atem. Die Medien
sind elektrisiert und befassen sich
intensiv mit den Verbrechen. Entführter Trinh im vietnamesischen Staatsfernsehen: Als reuiger Sünder präsentiert

56 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


LACKENTWICKLER
fieren. Long N. H. fährt den Entführungs-
bus zurück in die tschechische Hauptstadt.
Am Abend treffen sich alle drei in einem
vietnamesischen Restaurant. War es die
gemeinsame Abschlussfeier für die erfolg-
reiche Operation?
KLIMA-
Man habe viel Bier getrunken, erinnert
sich Long N. H. bei der Polizei. Am nächs-
ten Tag reist der General über Moskau
zurück nach Hanoi. Die Ermittler wissen
SCHÜTZER
bis heute nicht, wann und wie Trinh Xuan
Thanh ausgeflogen wurde.
Die Bundesregierung bestellt später den
vietnamesischen Botschafter ein und weist
zwei Botschaftsmitarbeiter aus. Außerdem
setzt sie ihre strategische Partnerschaft mit
Vietnam aus. Vietnamesische Diplomaten
dürfen nicht mehr visafrei einreisen. Auch
die Ratifizierung des Freihandelsabkom-
mens zwischen der Europäischen Union
und Vietnam ist durch den Entführungsfall
ins Stocken geraten.
Der Druck hat zunächst Wirkung: Zu
den zwei Prozessen gegen Trinh Xuan
Thanh in Hanoi werden Beobachter aus
der deutschen Botschaft zugelassen. Auch
die Todesstrafe ist vom Tisch.
Zu schärferen Reaktionen, etwa den
Botschafter auszuweisen, können sich die
Deutschen nicht durchringen. Zu eng sind
die politischen und wirtschaftlichen
Beziehungen zu Vietnam, man will die
Gesprächskanäle offen halten. Auch für
die deutschen Nachrichtendienste ist Viet-
nam ein wichtiger Partner, wegen seiner
Nähe zu China.
Trinh Xuan Thanh sitzt in einem Sicher-
heitsgefängnis in Hanoi. Es gehe ihm den
Umständen entsprechend gut, sagt der
enge Freund in Berlin. Einmal im Monat
dürfen ihn Verwandte besuchen, einer der ALTANA – global führend in reiner Spezialchemie. Für den Erfolg
Söhne konnte zur Mutter nach Deutsch- unserer Kunden denken wir in alle Richtungen. Zum Beispiel wenn
land ausreisen. Im anstehenden Prozess es um die Entwicklung innovativer Isolierstoffe für die Elektroindus-
gegen einen seiner mutmaßlichen Ent- trie geht. Sie ermöglichen Produktentwicklern, immer kleinere und
führer wird Trinh als Nebenkläger auf-
leistungsfähigere Geräte zu bauen. Damit können Sie nicht nur bei
treten, auch wenn er persönlich nicht
anwesend ist. Ihren Kunden punkten, sondern auch Energie, Material und Kosten
»Der Prozess wird den Beweis erbrin- sparen.
gen, dass mein Mandant durch ein Ge-
heimdienstkommando gewaltsam aus Ber-
lin entführt worden ist – was die vietna- Entdecken Sie dieses Plus für Ihr Geschäft:
mesische Seite immer bestritten hat«, sagt www.altana.de/plus
seine Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf.
Sie fordert die deutschen Behörden auf,
sich für die Freilassung ihres Mandanten
einzusetzen. »Ein solch ungeheuerlicher
Vorgang kann nicht ohne deutliche Reak-
tion vonseiten der Bundesregierung blei-
ben.« DR. KLAUS LIENERT, FORSCHER IM GESCHÄFTSBEREICH ELANTAS ELECTRICAL INSULATION
Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge hat mittlerweile über den Asyl-
antrag Trinhs entschieden, gut vier Mona-
te nach der Entführung.
Das Ergebnis ist positiv.
Martin Knobbe
Mail: martin.knobbe@spiegel.de

57
Teherans
SPIEGEL-Gespräche live Papierdiebe
im Thalia Theater – Spionage Hacker aus Iran
griffen weltweit Universitäten
Heimat heute und Unternehmen an – und
stahlen auch 23 deutschen Hoch-
schulen viele Dokumente.

A ls Rod Rosenstein eine Woche vor

Heike Steinweg
Frank Peter

Christian O. Bruch
Ostern in Washington vor die Pres-
se trat, wählte er drastische Worte.
Die US-amerikanischen Behörden seien
»feindlichen Akteuren« auf der Spur, sagte
der Vizechef des Justizministeriums. Diese
wollten »von Amerikas Ideen profitieren«.
Rosenstein enthüllte einen groß ange-
legten Hackerangriff aus Iran. Computer-
experten im Dienst der Revolutionswäch-
ter hätten weltweit 320 Universitäten
attackiert, zudem amerikanische Unter-
nehmen und Behörden und die Vereinten
Robert Habeck Sasha Marianna Salzmann Tobias Becker
Nationen. Allein die Erkenntnisse, die
amerikanischen Universitäten gestohlen
Der Begriff »Heimat« ist umkämpft. Für den einen ist es ein Ort, worden seien, hätten einen Wert von
für den anderen ein Gefühl. Der Nächste findet die Idee 3,4 Milliarden Dollar. Das FBI habe neun
Iraner zur Fahndung ausgeschrieben, un-
einfach nur suspekt. Heimat und Herkunft geben ter anderem wegen Verschwörung.
Geborgenheit oder engen ein. Kurz vor Rosensteins Auftritt hatten
die Umtriebe der Hacker auch in Deutsch-
land Betriebsamkeit ausgelöst – allerdings
Was kann das heute überhaupt noch sein, in unserer still und leise, unbemerkt von der Öffent-
grenzenlosen, dauermobilen Gegenwart: Heimat? Wie heimisch lichkeit.
kann man sich in der Fremde fühlen? Wie fremd in der Heimat? Das Kanzleramt hatte eilig eine Sonder-
sitzung des Parlamentarischen Kontrollgre-
miums einberufen: Diese Bundestagsabge-
Über Heimat heute diskutieren Robert Habeck, Parteivorsitzender ordneten tagen geheim und kontrollieren
der Grünen und Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein, die Arbeit der deutschen Geheimdienste.
Und Ermittler des Bundeskriminalamts
und die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann und des Generalbundesanwalts hatten sich
mit dem SPIEGEL-Kulturredakteur Tobias Becker. auf den Weg nach Wuppertal gemacht. Im
Gepäck: ein Durchsuchungsbeschluss für
die Räumlichkeiten eines iranischen Staats-
bürgers.
Mittwoch, 25. April 2018, 20.00 Uhr Die Zeit drängte. Informationen, die
sorgsam gehütet worden waren, schienen
Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg nun im fernen Washington öffentlich zu
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de.
werden. Die Hacker infiltrierten offenbar
Eintritt: 9 bis 18 Euro, Abonnenten 7 bis 15 Euro (nur an der Thalia-Kasse am Alstertor). auch 23 Universitäten in Deutschland und
Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. erbeuteten unter anderem unveröffentlich-
Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für te Forschungsergebnisse, Dissertationen
unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. und Konferenzberichte.
Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen.
Diese könnten wertvoll für den Geheim-
dienst sein, selbst wenn es sich nicht um
Papiere über Nuklear- und Raketentech-
nologie handelt – jene Felder, an denen
Iran trotz des Atomabkommens mit dem
Westen ein intensives Interesse nachgesagt
wird. Teile ihrer weltweiten Beute stellten
die Täter unter dem Titel »Megapaper«
online und warben damit, »wissenschaft-

58
Deutschland
Aufstieg und Fall
des Martin Schulz –
das Buch zur
»REPORTAGE
DES JAHRES«

WIN MCNAMEE / GETTY IMAGES


US-Vizejustizminister Rosenstein*: »Feindliche Akteure«

liche Schätze« von Fachverlagen wie falschen Seite ihre Nutzerdaten einzuge-
Springer, Nature Publishing Group, Else- ben – ansonsten laufe ihr Online-Biblio-
vier oder Thieme im Angebot zu haben. thekszugang aus.
Gegen Bezahlung können Nutzer angeb- Die Behörden konnten nun nachvollzie-
lich auf 85 Millionen Dokumente zugrei- hen, wer hinter dem Angriff steckte. Die
fen, darunter Zigtausende deutsche For- Spur führte zu einem Institut in Teheran
schungsarbeiten. mit dem Namen Mabna. Zu dessen Auf-
Ihren Raubzug in der deutschen Wis- traggebern sollen die iranischen Revolu-
senschaft betrieben Teherans Papierdiebe tionswächter gehören. In Sicherheitskrei-
320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D)
mit großem Aufwand und über Jahre. Die sen heißt es, das Institut sei eine Tarnfirma
Auch als E-Book erhältlich
Ermittler können erste Attacken bis in den der iranischen Spione.
Herbst 2014 zurückverfolgen. Im Januar Die Bundesanwaltschaft hat deswegen
2015 bekamen deutsche Behörden erst- ein Verfahren wegen des Verdachts auf
mals Wind von der Operation. Mitarbeiter »geheimdienstliche Agententätigkeit« ein-
Nie zuvor lagen in der deutschen
der Universität Göttingen erhielten Mails, geleitet. Doch Ermittlungen im virtuellen Politik der extreme Höhenflug und der
die auf sie zugeschnitten waren. Die Ab- Raum sind schwierig und langwierig – und krachende Absturz näher beieinander als
sender baten zum Beispiel um wissen- die Hacker suchen sich immer neue Ziele.
schaftliche Zusammenarbeit. »Sie haben nicht aufgehört«, sagt der bei Martin Schulz. Markus Feldenkirchen
Klickten die Empfänger auf einen Link, IT-Spezialist und Ex-FBI-Mann Crane hat den Kanzlerkandidaten und
öffnete sich eine professionell gefälschte Hassold, »die Attacke läuft weiter.« SPD-Vorsitzenden begleitet, so exklusiv
Webseite mit ihrem Universitätslogo und Das könnte auch für Deutschland gelten.
der Aufforderung, Benutzernamen und Inzwischen heißt es, dass auch hierzulande und hautnah, wie es in Deutschland
Passwort erneut einzugeben. Allein in Göt- Unternehmen angegriffen worden sein bislang nicht möglich gewesen ist.
tingen gelangten die Cyberdiebe so an die könnten. Ob am Ende ein Täter gefasst
Login-Daten von 34 Universitätsmitarbei- wird, ist unsicher.
tern. Das war beachtlich – aber sah noch Ein Ansatzpunkt, den die Fahnder
nicht wie ein flächendeckender Angriff aus.
Zwei Jahre später jedoch erreichte der
zwischenzeitlich hatten, führte offenbar
zunächst zu keinem Erfolg: Bei der Razzia
» Zweifellos eines der wichtigsten
Hinweis eines Nachrichtendienstes aus in Wuppertal sahen sie sich einem Mann politischen Bücher der letzten Jahre.
den Vereinigten Staaten die Bundesrepu- gegenüber, zu dem die Hacker womöglich Eine unglaublich dichte und selten
blik. Neben Göttingen seien 22 weitere eine falsche Spur gelegt hatten. Er soll, als zu lesende Nahaufnahme aus dem
deutsche Hochschulen betroffen, allesamt die Fahnder bei ihm auftauchten, verdutzt
mit Sitz in Hessen und Nordrhein-West- reagiert haben – und nach Einschätzung Maschinenraum der Macht. «
falen. Die Angreifer fälschten offenbar die der Ermittler »eine glaubhafte Erklärung« MARKUS LANZ, ZDF
Seite eines Bibliotheksportals, das viele dafür abgegeben haben, nichts mit der
Universitäten benutzen: Eine Mail verlei- Sache zu tun zu haben.
tete die Wissenschaftler dazu, auf dieser Jörg Diehl, Matthias Gebauer,
Martin Knobbe, Fidelius Schmid,
* Auf der Pressekonferenz zum iranischen Hacker- Wolf Wiedmann-Schmidt
angriff im Ministerium in Washington am 23. März.

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 59 www.dva.de


Gesellschaft
»Vor dem Toilettenhaus unter der Siegessäule stehen die älteren Berliner Herren. Hier beginnt das Spiel.« ‣ S. 62

Früher war alles schlechter


Nº 121: Reisefreiheit

Q U E L L E : H E N L E Y & PART N E R S PAS S P O RT I N D E X


1925 durften die Deutschen 1 Land 1956: 2018:
(Österreich) ohne Visum besuchen. 21 179

Ihren Ausweis mal bitte! Ohne Kriege, Vertreibungen, Kaper- pass- und visumfrei reisen, sofern dort nicht gerade, wie in
fahrten oder Versklavungen ist man im Mittelalter als Normal- Polen, Aufstände an der Tagesordnung waren. Inzwischen
bürger nicht viel herumgekommen. Wenn doch, als Wander- genießt ein deutscher Pass höchste Wertschätzung gerade unter
geselle oder Kaufmann, stieß man kaum auf Grenzen. Nur man- Global Playern, die – aus welchen Gründen auch immer –
cherorts wurde am Stadttor nach einem Passierschein gefragt – gern über diverse Staatsbürgerschaften verfügen. Im Passport-
ein Zustand, der sich nur in Berlin bis in die jüngere Vergangen- Index der Beratungsfirma Henley & Partners rangierte Deutsch-
heit halten konnte. Ende des 19. Jahrhunderts verzichteten meh- land lange auf Platz 1, bis es kürzlich von Singapur und Japan
rere Nationalstaaten in Europa auf ein Visum. Mit Beginn des überholt wurde. Ein Originalreisepass der Bundesrepublik
Weltkriegs 1914 war damit Schluss. Ab 1925 wollten erste Län- Deutschland (32 Seiten, bordeauxroter Einband, Goldprägung,
der keinen Sichtvermerk mehr von den Deutschen sehen. Bis zur ab 37,50 Euro) gewährt problemlosen Einlass in 179 Staaten
Nazizeit konnte der deutsche Passbürger dann in immerhin rund der Erde. Ein afghanischer Pass ist zwar womöglich günstiger in
20 Länder reisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergrößerte sich der Anschaffung, erlaubt aber nur, 24 andere Länder ohne
der Reiseradius der (West-)Deutschen zügig. DDR-Bewohner Visum zu bereisen. Das erklärt vielleicht einen Teil der globalen
durften seit den Siebzigern nur ins nähere sozialistische Ausland Migrationsbewegungen. alexander.smoltczyk@spiegel.de

Verklärung land und Österreich beschränkt. In den ler plötzlich zu einer Figur mit gewisser
Gehört David Hasselhoff zu USA sind keine Konzerte bekannt. historischer Relevanz. Was läuft übrigens
Kleiner: Nun ja, es gibt ohne Frage den noch heute auf seinen Konzerten? Der
Deutschland, Herr Kleiner? deutschen David-Hasselhoff-Mythos, seit Mitschnitt von seinem Auftritt 1989.
er Silvester 1989 an der Berliner Mauer SPIEGEL: Aber erklärt das, warum heute
Professor Marcus S. Kleiner, 44, von der gesungen hat … bis zu 530 Euro pro Ticket gezahlt werden?
SRH Hochschule der populären Künste in SPIEGEL: … kurz vor dem Ende der DDR Kleiner: In Deutschland, und das finde ich
Berlin über den Mythos Hasselhoff war »Looking for Freedom« Nummer eins etwas besorgniserregend, gibt es einen
der deutschen Charts. ausgeprägten Nostalgiewahn. Kultserien
SPIEGEL: Derzeit ist David Hasselhoff mit Kleiner: Damals wurde wie »Baywatch« oder
seiner »30 Years Looking for Freedom«- dieser Mythos geboren. Die- »Knight Rider«, die nach
Tour unterwegs. Sie finden das faszinie- se besondere Verbindung heutigen Maßstäben
rend. Warum? zwischen Deutschland und medienästhetisch furcht-
Kleiner: Ja, Hasselhoff, heute 65, ist ein Hasselhoff, der ja deutsche bar sind, werden gern
Serienstar aus den ironiefreien Achtziger- Vorfahren hat. Natürlich ist geschaut. Es gibt eine mas-
TAMARA BIEBER / BABIRADPICTURE

jahren. Perfekter Körper, perfekte Moral. es absurd zu denken, dass sive Verklärung der guten,
Heute strömen noch immer Leute in seine Hasselhoff etwas mit dem alten Zeit. Das Zurückseh-
Konzerte. Nicht nur die ältere Generation, Fall der Mauer zu tun hat – nen ins Vergangene lässt
sondern auch 20-Jährige, die jetzt aber die Legende gibt es ja –, sich ja teilweise auch durch
seine lockere, selbstironische Art mögen. aber der Mythos existiert. politische Entwicklungen
SPIEGEL: Man muss ehrlicherweise sagen, Dadurch wurde ein völlig beobachten, Stichwort:
dass Hasselhoffs Tour sich auf Deutsch- unpolitischer Seriendarstel- AfD. JMO

60 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Ein Video und seine Geschichte ist nun kein dahergelaufener Comedian mehr, man kennt ihn
in Schottland, im Rest Großbritanniens, in den USA. Seine
Karriere hat einen unerwarteten Schub bekommen, die Frage

Gib Pfötchen ist nur, wo der ihn hinführt.


Kurz nachdem das Video veröffentlicht war, klopften
Polizisten an die Haustür des Produzenten, durchsuchten
seine Wohnung, führten ihn in Handschellen aus dem Haus,
Ein Schotte steht vor Gericht, weil er seinem wo seltsamerweise schon Journalisten warteten, und sperrten
Hund den Hitlergruß beibrachte. ihn dann für eine Nacht in eine Zelle. Es gibt ein Foto,
geschossen in dem Moment, in dem Meechan von einem
Polizisten und einer Polizistin abgeführt wird. Er lächelt auf

V or zwei Jahren fasste Mark Meechan, damals ein un-


bescholtener Mann aus Schottland, einen Entschluss,
der mit Sicherheit nicht der klügste seines Lebens ge-
wesen ist. Es ging um seine Freundin oder, genauer gesagt,
diesem Foto, triumphal, als habe er einen Sieg errungen.
Im März musste Meechan mit seinem Anwalt vor Gericht
erscheinen. Grundlage der Anklage ist das Kommunikations-
gesetz von 2003, dessen Paragraf 127 besagt, dass man sich
um den Hund seiner Freundin, einen Mops, der auf den strafbar macht, wenn man über das Internet eine Nachricht
Namen Buddha hört. Seine Freundin hatte eine innige Be- sendet, die »grob beleidigend, unanständig, obszön oder
ziehung zu diesem Tier. Es war ganz egal, was der Hund bedrohlich« ist.
machte, ob er lief, fraß oder schlief. Immer sagte sie: »Ist der Es ist ein umstrittenes Gesetz, mit ihm lassen sich Volks-
nicht süß?« verhetzer und Hassprediger ebenso verurteilen wie normale
Meechan hatte nichts gegen diesen Mops. Er ertrug nur Bürger. Der Brite Paul Chambers beispielsweise wurde damit
das Verhältnis der Freundin zu dem Tier immer weniger. Süß, berühmt, ein Mann, der einfach nur genervt war, dass sein
süß, süß. Dieses ewige »Süß« nervte ihn. Er dachte nach. Die Flug Verspätung hatte und der deswegen die Flughafen-
Frage war: Könnte man dem Hund nicht etwas beibringen, manager über Twitter hatte wissen lassen: »Ich gebe euch
was garantiert nicht süß ist? Irgend- eine Woche, euren Kram geregelt
etwas, was jeder verabscheut, so- zu kriegen, sonst sprenge ich den
gar seine Freundin? Flughafen in die Luft.« Er wurde
Mark Meechan war zu diesem verhaftet, angeklagt, zu einer Geld-
Zeitpunkt ein ehrgeiziger, aber er- strafe verurteilt und verlor deshalb
folgloser YouTuber. Er stellte Vi- seinen Job. Erst in der dritten In-
deos her, die kaum jemand sehen stanz wurde das Urteil aufgehoben.
wollte. Vielleicht, weil er Sachen Im Fall von Mark Meechan rief
witzig findet, über die niemand la- die Staatsanwaltschaft als Zeugen
chen kann, außer ihm. Sehr wahr- Ephraim Borowski auf, Vorsitzen-
scheinlich dachte er: Vielleicht der der Schottischen Vereinigung
QUELLE: YOUTUBE

kann man beides auf einen Schlag Jüdischer Gemeinden, der Famili-
ändern, die Sache mit dem Hund enmitglieder während des Holo-
und die Sache mit YouTube. Dann caust verloren hat. Er sah sich das
hatte er die Idee. Video an und sagte: »Das ist grob
Er wollte Buddha heimlich bei- Mops Buddha beleidigend, und ich verstehe nicht,
bringen, die rechte Pfote zu heben. wie jemand das lustig finden
Und zwar immer dann, wenn der kann.«
Hund das Kommando »Sieg Heil« Meechans Anwalt warf der
hört. Außerdem sollte Buddha sei- Staatsanwaltschaft vor, das Video
nen Kopf zur Seite legen und sein nicht in seinem Kontext zu beurtei-
Herrchen skeptisch anschauen, Von der Website Noizz.de len. Es gebe keinen Hinweis darauf,
wenn er den Satz »Vergas die Ju- dass Meechan ein Antisemit sei.
den« hört. Späße mit dem Nationalsozialismus waren offen- Das Video sei aus privaten Gründen hergestellt worden, nicht
bar Späße, über die Mark Meechan lachen konnte. aus ideologischen. Wenn man sich durch Meechans YouTube-
Es war nicht besonders schwer, den Hund zu trainieren. Kanal klickt, sieht man Filme, in denen er Veganer veralbert,
Meechan brauchte nur Geduld und Leckerchen, und aus dem weiße und schwarze Rassisten, den Kommunismus und Steven
Heben der rechten Pfote wurde ein Hitlergruß. Als das ver- Spielberg. Manchmal tanzt Meechan auch, manchmal singt
lässlich funktionierte und als Buddha auch fehlerfrei seinen er. Die meisten Aufrufe hat ein kurzer Musikclip, der nach
Kopf zur Seite legen konnte, sobald er den Befehl »Vergas Ansicht von YouTube nicht jugendfrei ist und in dem Meechan
die Juden« hörte, lud Meechan seine Freundin zur Urauffüh- die Nationalisten der Welt schmäht. Antisemitische Spuren
rung ein. Sie war mäßig amüsiert. finden sich nicht. Aber ist das wirklich wichtig?
Mark Meechan ließ sich nicht beirren. Er filmte den Mops Richter Derek O’Caroll jedenfalls kümmerte das alles nicht.
bei seinen neu erlernten Kunststücken und veröffentlichte Er sprach Meechan schuldig, weil das Video grob beleidigend
das Video auf YouTube, auf seinem Kanal, den er unter dem sei, vertagte aber dann die Verkündigung des Strafmaßes.
Namen Count Dankula führt. Meechan war offensichtlich Das Urteil soll noch im April gesprochen werden, das
ganz hingerissen von dem Hund, womöglich auch von sich Höchstmaß wären sechs Monate Gefängnis. Mark Meechan
selbst. Jedenfalls ließ er Buddha in dem Zweieinhalb-Minu- scheint das nicht weiter zu kümmern. Auf seinem Twitter-
ten-Clip neunmal die rechte Pfote zum Gruß heben. Account nimmt er das Urteil vorweg, er schreibt: »Professio-
Bevor Meechan das Video ins Internet stellte, zählte sein nal Shitposter. Going to jail for a Joke.«
YouTube-Kanal 8 Abonnenten. Heute sind es 180 000, seine Dann folgt eine Mailadresse. Laut Meechan für geschäft-
Videos wurden über 13 Millionen Mal aufgerufen. Meechan liche Anfragen. Uwe Buse

61
Gesellschaft

Help!
Verlassenheit Ein junger Flüchtling aus Iran wird in Berlin drogensüchtig und prostituiert sich.
Aus dem Alltag eines Überlebenskampfes mitten in Deutschland.
Von Barbara Hardinghaus, Fotos: Charlotte Schmitz und Johanna Maria Fritz

N
avid spricht nicht viel Deutsch, fen, und es gab Tage, an denen er das Geld hinunter und fährt eine Station bis zum
es sind nur ein paar Wörter. für das Heroin seiner Freunde einfach mit- Hansaplatz.
Hallo. Tschüss. Alles gut? Wie verdiente, 200, 300 Euro am Tag. Er hat Was er weiß, ist, dass der Freund zuletzt
heißt du? Ich heiße. Heroin. ein Weltstarlächeln, er könnte Schauspie- im Holzhaus auf der Rutsche vom Spiel-
Methadon. Arzt. Gehen Park. Sex. ler sein oder Teeniestar. platz geschlafen hat, aber da war er schon
Navid ist ein junger Mann, 30 Jahre alt, »Die deutschen Männer wollen alle Af- lange nicht mehr.
braune Haare und braune Augen, in ghanen«, sagt er. Unten in der U-Bahn sitzen obdachlose
Afghanistan geboren, in Iran aufgewach- Warum? Trinker, Navid kennt sie alle, weil sie jeden
sen. Er ist als Flüchtling vor gut zwei »Keine Ahnung.« Tag auf derselben Bank sitzen, an der Na-
Jahren nach Deutschland gekommen. Da- Navid und die anderen aus dem Tiergar- vid jeden Tag vorbeiläuft. Aber er hat
mals wog er 70 Kilogramm. Er sah müde ten nennen die deutschen Männer Siggi noch nie mit ihnen gesprochen.
aus, aber gesund. Heute wiegt er Er trifft einen Kollegen, der seit
50 Kilogramm. Seine Arme ste- Stunden im Park gewesen war und
cken in einem dunkelblauen Ano- jetzt mit der Rolltreppe hinabge-
rak wie Stöcke. fahren ist, um sich aufzuwärmen.
Er hat sich bereit erklärt, über Der Kollege glaubt zu wissen, wo
sein Leben zu sprechen. Vielleicht, Navids Freund jetzt ist. Navid
weil er hofft, etwas ändern zu kön- läuft hinaus aus dem Schacht,
nen, wenn er sein Leben öffentlich draußen ist es dunkel geworden,
macht. Er möchte nur nicht, dass er läuft an einer Mauer entlang
man seinen echten Namen erfährt und dann tief in ein Gebüsch
und auf Fotos sein Gesicht erkennt. hinein, er leuchtet mit seinem
Wir treffen uns in einem Café an Handy in das Gestrüpp, aber da
der Turmstraße in Berlin-Mitte, ist nichts mehr, niemand, nur ein
eine Dolmetscherin ist dabei, Navid bisschen Müll.
spricht kein Englisch, nur Persisch. Navid geht über Schotterwege
Was hast du heute gemacht? zurück in den Park, dahin, wo
»Geschlafen und geraucht«, sagt die Technische Universität liegt.
Navid. Über 200 Hektar ist der Park groß,
Und dann? durch seine Mitte verläuft, sechs-
»Wieder geschlafen, wieder ge- spurig, die Straße des 17. Juni
raucht. Und dann bin ich spazieren wie eine Ländergrenze. Auf der
gegangen.« einen Seite, nördlich, leben die
Navid lebt in einem Container- Afghanen, auf der anderen junge
dorf am Stadtrand von Berlin. Bulgaren und Rumänen. Sie sind
Wenn er zu Hause ist, schläft er im selben Alter wie Navid, sie ma-
meistens. Tagsüber läuft er durch chen dasselbe wie er, aber jedes
den Tiergarten in Mitte und wartet Mal, wenn er einen von ihnen
darauf, mit deutschen Männern ins sieht, fragt er: »Warum arbeitest
Geschäft zu kommen. Er ist ein du nicht? Du kannst doch arbei-
Stricher. Und der große Park, die ten!« Es ist wie eine Frage an sich
Lunge von Mitte, der Vorgarten selbst.
des Kanzleramts, ist sein Revier. Er macht oder Hansi, gepflegte Erscheinungen meist, Navid ist jetzt an einem Toilettenhaus
es hier für 30 Euro. Um sein Leben auszu- die sich jünger anziehen, als sie sind. angekommen, direkt unter der Siegessäule.
halten, raucht er Heroin. Wer sind die? Über ihm erhebt sich, triumphal, erhaben,
Wie viel rauchst du? »Keine Ahnung, manche sind schwul, die goldglänzende Siegesgöttin.
»Ein paar Kugeln. Zwei Gramm«, sagt manche haben eine Frau oder Familie. Die Vor dem Toilettenhaus stehen die älte-
Navid. sind alle älter, 50, 60, haben so einen ...«, ren Berliner Herren. Hier beginnt das
Seine Haut ist glänzend grau, sein Blick er zeigt mit dem Zeigefinger an seinen Spiel. Und das Spiel geht so: Wenn sie sich
weit entfernt. Er trägt eine grüne Kappe Hinterkopf. erkennen, verzögern sie den Schritt. Blei-
mit den Initialen R F, Roger Federer. Er »Haarkranz.« ben stehen. Kreuzen ihre Blicke. Gehen
weiß aber nicht, wer Roger Federer ist. Navid steht auf, er will raus in den Tier- ein Stück weiter. Bleiben wieder stehen.
Im vergangenen Sommer war Navid garten, einen seiner Freunde finden. Er Gehen hinter den Rhododendron. Im
fast immer im Park. Er hat im Park geschla- läuft die Stufen zur U-Bahn Turmstraße Matsch darunter liegen Kondome und

62 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


63
Gesellschaft

Taschentücher. Das Spiel begann im vori- Winter in dieser Stadt würde ihnen das Kind, das in einem weißen T-Shirt auf
gen Sommer. Problem vom Hals schaffen. Im Herbst einer Mauer unter einem Baum sitzt. Al-
Der Tiergarten, einst als Jagdrevier an- schnitten die Landschaftsgärtner die Bü- les ist hell von der Sonne beschienen. In
gelegt, Mitte des 18. Jahrhunderts unter sche zurück. Die Zelte verschwanden von seinem Handy kann er sich mit ein paar
Friedrich dem Großen umgebaut als Ort den Wiesen. Handbewegungen zwischen zwei Welten
zur Erholung fürs Volk und heute von Und wo sind die Flüchtlinge jetzt? bewegen, die normalerweise nichts mit-
TripAdvisor ausgezeichnet mit fast fünf »Im Park«, sagt Navid. einander zu tun haben.
Sternen, ein Must-have für Touristen aus Ihre Zelte liegen versteckt unter Tannen- Als er zehn Jahre alt war, nahm ihn sein
aller Welt, war über Nacht ein Ort der bäumen, die sie sich nach Weihnachten von Cousin mit in die Hauptstadt Teheran
Hölle geworden. Gekapert von Obdach- den Gehwegen gezogen haben. Sie treffen zum Arbeiten. Auf den Baustellen verleg-
losen, von Strichern, von lüsternen Rent- die Männer jetzt im Kino, 50 Euro, im Auto, te er Kabel und Fliesen. Mit 15 machte
nern, von grillenden Gangs, ein Zeltlager 80 Euro, in der Wohnung, 100 Euro, da ist er sich selbstständig, mit 17 wurde er von
der Verlorenen, der Heimatlosen. Das Duschen inklusive. Das sind jetzt die Tarife, seinen Eltern zwangsverheiratet. Sie
Mahnmal einer gescheiterten Flüchtlings- im Winter-Business. Es lebt von Stamm- machten einen Ehevertrag, in dem stand,
politik. Die deutsche Bronx, mitten im kunden. dass er 300 Goldstücke zahlen müsse,
Herzen der supercoolen Hauptstadt, ohne Navid hat seine Stammkunden im Han- 75 000 Euro, wenn diese Ehe scheitern
Gesetze, ohne Aufsicht, ohne Zuständig- dy gespeichert, mit Foto und Telefonnum- würde. Das Paar bekam einen Sohn, und
keit. mer. Er zeigt Bilder vom »Mann aus Span- als die Ehe scheiterte, schickten ihn seine
Der Bezirk, zuständig für die Eltern nach Europa, weil er keine
Obdachlosen, nicht aber für die 300 Goldstücke hatte.
Flüchtlinge, gab die Verantwor- Es war der 15. September 2015,
tung weiter an das Land, zuständig an dem er aufbrach, in Jeans,
für die Flüchtlinge, aber nicht für T-Shirt, Turnschuhen. Die Grenze
die Obdachlosen. Und auch wenn zur Türkei überschritt er zu Fuß
die Polizei ab und zu mal vorbei- und allein. Da war sein Sohn drei
schaute, hinderte niemand Navid Monate alt. Am 5. Oktober kam
daran, Heroin zu rauchen und Sex er mit dem Zug in München an,
zu verkaufen für wenig Geld. es war die Zeit, als Deutschland
Im Spätsommer ließ das Bezirks- seine Flüchtlinge mit Brezeln und
amt zwei Streetworkerinnen in den Luftballons empfing. Er stieg aus,
Park, geschickt von einem Verein, die Deutschen nahmen seine Fin-
der es gut meinte mit Flüchtlingen. gerabdrücke, er fuhr weiter nach
Das Bezirksamt bezahlte für Finnland, wollte bleiben, weil er
die Arbeit der beiden Frauen die Natur mochte und die stillen
43 014 Euro, der Job war befristet Menschen, aber er hörte zum
bis Ende Dezember. Sie verteilten ersten Mal den Begriff Dublin-
Flyer unter den Leuten, auf den Abkommen. Er verstand, dass
Flyern waren Adressen und Tele- Flüchtlinge da bleiben müssen,
fonnummern, bei denen man Hilfe wo sie zum ersten Mal registriert
suchen konnte. Navid speicherte wurden. Er musste zurück nach
die Nummer von den Streetworke- Deutschland. So landete er in
rinnen in seinem Handy. Berlin.
Im Oktober, der Herbst war Ein Fliesenleger aus Teheran,
jetzt da, hatte der Chef des Vereins den die Zeitläufte in den Berliner
beim Land Berlin einen Antrag ge- Tiergarten geschossen hatten.
stellt, in dem er schrieb, dass die Er stellte einen Asylantrag und
jungen Männer aus dem Tier- wartete. Aber es bewegte sich
garten auch im Winter dringend nichts. Er schlug seine Tage tot. An
Hilfe brauchten. einem dieser Tage stand er da, wo
Dass sie ja nur obdachlos geworden dau«, auf einem Bild sieht man einen viele Flüchtlinge stehen, U-Bahnhof Turm-
seien durch die »chaotische Aufnahme- Mann am Strand, von rechts wehen Haare straße.
situation der Asylbewerber in Berlin in einer Frau ins Bild. Auf einem anderen »Nimm es!«, hörte er den Dealer sagen.
den Jahren 2015/2016 in überfüllten Not- Foto liegt der Mann aus Spandau im Pool Die erste Kugel war kostenlos.
unterkünften«, durch »die Belegung in einer Ferienanlage, mit Sonnenbrille. Dar- In den ersten Tagen hatte er das Gefühl,
Wohnheimen ohne Privatsphäre«. Er er- unter der Chatverlauf, mit Dutzenden Her- dass er irgendwo weit oben war, nicht
innerte daran, dass diese Menschen Ver- zen, mit Emojis, die Küsse verschicken. mehr auf der Erde. Sie legten mit sechs
folgung, Flucht, Krieg erlebt hatten. Auch das gehört zur Wirklichkeit deut- Leuten ihr Sozialgeld zusammen, kauften
Er erwähnte einen Paragrafen aus dem scher Willkommenskultur. für 1000 Euro Heroin, schlossen die Augen
EU-Flüchtlingsrecht, der einen besonde- Es ist nicht so, dass Navid nach Deutsch- und benahmen sich wie Verrückte.
ren Schutz für körperlich und psychisch land wollte. Er wollte nirgendwohin. Er Und dann?
kranke Flüchtlinge vorsieht. wollte eigentlich immer in Iran bleiben. Er »Ich habe geraucht, geraucht.«
Und er schlug vor, ein Wohnheim zu er- erzählt gern von Iran, von seiner Kindheit Woher hattest du dann das Geld?
öffnen, mit 20 Schlafplätzen, wo Männer in Varamin, eine Stunde südlich von Te- »Aus dem Tiergarten.«
wie Navid zur Ruhe kommen, ihre innere heran, ein Leben zwischen Wassermelo- Jemand hatte ihm gesagt, der Tiergarten
Sicherheit wiederfinden würden. nen, Granatäpfeln und Weintrauben. sei ein guter Ort.
Er bekam keine Antwort. Vielleicht In seinem Handy gibt es auch noch Bil- Navid hatte vorher nie etwas mit Män-
haben sie in Berlin gedacht, der ewige der aus dieser Zeit. Eines zeigt ihn als nern gehabt. Als er in Deutschland ankam,

64 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


dachte er an eine neue Frau. Was er wollte, feststellen, dass es Flüchtlinge gibt, die von Männern. Er bedient Fetische, lässt sich
war eine Frau, die gut zu ihm wäre, die zu Deutschen ausgenutzt werden, und zwar ins Gesicht pinkeln. Und nachts träumt er
ihm stünde und für immer bei ihm bliebe. auf die widerliche Art. manchmal von der Hölle.
Sie sollte nur nicht aus Afghanistan sein Als es dunkel wird in Berlin, muss Navid Er ist vor dem Leben in Iran geflohen.
wie seine erste Frau. noch einmal raus auf die Straße, es regnet, Und kämpft in Deutschland ums Über-
Der erste Mann sagte zu Navid: zwischen Scheinwerfern hindurch läuft er leben.
»Komm einfach mit!« zur Kreuzung an der Landsberger Allee. Im vergangenen Sommer wollte er
Seit vier Monaten lebt er in der Unter- Er hat heute noch einen Termin, mit einem zum ersten Mal aufhören. Eine der bei-
kunft am Stadtrand, ein Dorf aus Contai- Professor. Der hat gerade eine Nachricht den Streetworkerinnen hatte ihm den grü-
nern, flach und weiß. Rechts von ihm geschickt, darin steht: »Sorry. Flug ver- nen Flyer von der »Drogenberatung für
wohnt ein alleinstehender Mann, der passt, wird später.« Flüchtlinge« gegeben. Die schickten ihn
manchmal Obst bringt, links leben zwei Navid braucht einen neuen Plan. Er hat ins Krankenhaus, eine Woche Schlafmit-
Familien aus Syrien. kein Geld. Er ruft den Glatzkopf an. tel, eine Woche Entzug, dann hieß es, er
Navid teilt sich einen Container mit »Ich komme Westend«, sagt Navid. könne wieder gehen. Er hatte noch blei-
einem jungen Mann aus Afghanistan, »Wie lange brauchst du?«, fragt der ben wollen und ihnen gesagt, er werde
21 Jahre alt. Der nimmt keine Drogen Glatzkopf. noch am selben Abend wieder anfangen,
und geht gern zu Netto einkaufen. Sie »Zwei Stunden.« wenn sie ihn jetzt gehen ließen. Und so
teilen sich Bad und Küche. Navids Mit- »Wieso zwei Stunden?« war es dann auch.
bewohner macht den Abwasch und Anfang des Jahres versuchte er
die Wäsche für Navid, Navid liest es das zweite Mal. Drei Tage lang
ihm die Post und die Textnach- nahm er kein Heroin. Am vierten
richten auf seinem Telefon vor, Tag waren seine Schmerzen so
weil der Mann aus Afghanistan stark, dass er saufen ging an der
früher Zwiebeln und Karotten ge- Warschauer Straße. Sein Mitbewoh-
erntet, aber nie lesen und schreiben ner brachte ihn ins Krankenhaus,
gelernt hat. mit zwei Flaschen Wodka im Blut.
In Deutschland hatte er mit ei- Ein Montagmorgen Anfang
nem Sprachkurs begonnen. Aber März, der Tag beginnt freundlich,
er brach ihn ab, weil alle anderen mit einem hellen Himmel. Navid
immer besser waren. Navid flog nimmt die M6, die S41, die U7 und
aus dem Deutschkurs, weil er im- fährt zum Arzt, blauer Anorak,
mer verschlafen hat. grüne Kappe. Er hat sich den We-
Er kommt vom Rauchen aus der cker gestellt und ist aufgestanden,
Toilette, er dreht den Rauchmelder als alle anderen noch schliefen.
wieder in die Decke, öffnet die Tür Er hat in der Nacht gar nicht ge-
des Containers, streckt seinen Hals schlafen. Er war aufgeregt.
in den weißen Winterhimmel, at- »Wenn ich aufgehört habe mit
met tief kalte Luft ein. Immer wenn Rauchen, kann ich die Männer aus
er nicht raucht, schmerzt sein meinem Leben streichen«, sagt er.
Bauch, schmerzen seine Hände Er klingt trotzdem siegessicher.
und Füße, wird ihm heiß, als hätte Als er wach im Bett lag, hat er
er Fieber. ein Spiel auf seinem Handy gespielt,
Wie fühlt sich das Rauchen an? dass er immer gern spielt, wenn er
»Kein Gefühl.« angespannt ist. Man erkennt auf
Nach dem Rauchen ist er die dem Display eine Burg, einen Fluss,
Schmerzen los. Er geht zurück in eine Landschaft mit Bäumen. Er
sein Zimmer, auf dem Boden liegen drückt ziellos irgendwelche Felder,
Blättchen und Tabak verstreut wie dann erscheinen Wörter wie »Help«
Konfetti, im Regal daneben zer- oder »Hospital«.
knüllte Jeans und eine Dose »Mass Gai- »Zwei Stunden, kapiert?«, sagt Navid. Er Navid hat das Spiel nicht verstanden, aber
ner«, Muskelaufbaumittel, Kohlenhydrate, müsse den Glatzkopf schlecht behandeln, das ist nicht wichtig. Er starrt auf das Handy,
Proteine, damit das Heroin seinen Magen sagt er, der Glatzkopf wolle das so. er ist weg, in dieser Welt mit der Burg.
nicht zusammenkrampft. Navid klopft das Der Glatzkopf sagt nie Nein, er war des- Er ist zu früh beim Arzt, steht vor der
Kissen auf seinem Bett zurecht, ohne La- halb für den Moment die beste Lösung. Praxis auf der Straße und spielt dieses
ken, ohne Bezug. Navid hätte auch andere anrufen können. Spiel.
Er hatte keine schlechten Voraussetzun- Er hat einen, der will nur reden und im »Weshalb sind Sie da?«, fragt ihn kurz
gen, als er ankam. Integrationskurs, Sprach- Auto rumfahren und zahlt dafür 60 Euro. darauf der Arzt, ein kleiner, junger Mann
kurs, er erhielt jeden Monat 400 Euro vom Der Mann aus Spandau überweist ihm in Poloshirt, mit schwarzer Brille.
Jobcenter, er war geduldet für drei Jahre. mal 80, mal 100, mal 110 Euro. Seine Frau »Ich möchte eine Methadonbehandlung
Schwer zu sagen, warum sein Leben zu- mag es, dass ihr Mann sich so gut um den oder Ähnliches. Ich möchte die Sucht los-
sammenbrach. Es ist sicher nicht falsch, Flüchtling kümmert. Sie stellt keine Fra- werden«, sagt Navid, und die Übersetzerin
wenn man sagt, dass Navid zu den Flücht- gen, sie kocht gern, sie essen zusammen, übersetzt.
lingen gehört, die die deutschen Sozialsys- sie haben keine eigenen Kinder. »Die »Was rauchen Sie?«, fragt der Arzt.
teme ausnutzen. Das sagen ja gerade viele mögen mich«, sagt Navid. Sie machen ihm »Heroin«, sagt Navid. Der Arzt tippt
Deutsche über die Flüchtlinge. Aber man seine Welt bequemer. die Antworten in den Computer.
darf, wenn man dem Flüchtling Navid ein Er hat sich im Laufe der Zeit an alles ge- »Hatten Sie schon mal eine Substitu-
paar Tage durch Berlin gefolgt ist, auch wöhnt. Mittlerweile küsst er sich mit zwei tionsbehandlung?«

65
»Nein«, sagt Navid.
»Seit wann rauchen Sie?«, »Wann rau-
chen Sie?«, »Haben Sie in Deutschland an-
gefangen?«
Als alle Fragen beantwortet sind, sagt
der Arzt: »Im Moment sind wir voll aus-
gelastet, es wird Monate dauern, bis es los-
gehen kann.«
Es sind immer zu wenig Plätze. Und seit
es so viele Flüchtlinge in der Stadt gibt,
sind es noch weniger Plätze.
Der Arzt reicht Navid noch eine Karte
mit der Telefonnummer seiner Praxis.
»Ansonsten würde ich Ihnen wärmstens
empfehlen, am Donnerstag mal anzurufen
und nachzufragen. Wir möchten auch Ei-
geninitiative sehen.«
Dann gibt er ihm noch einen grünen
Flyer mit, denselben, den er im ver-
gangenen Sommer schon einmal be-
kommen hat, von den Streetworke -
rinnen, Adressen und Telefonnummern
für den Notfall.
»Alles, alles Gute!«, sagt der Arzt noch.

Das Nachrichten-Magazin
Navid läuft die Treppen hinunter, er
wirft den Flyer auf den Boden, als wäre es
eine unerwünschte Werbung. Er bleibt un-
ten vor der Tür stehen und spielt das Spiel,
das er nicht versteht. »Help!«

für Kinder. Fährt den Weg zurück, U7, S41, bis Ge-
sundbrunnen. Sagt kein Wort.
Steigt aus und läuft durch ein Einkauf-
szentrum, das er mag. Hört sein Telefon
läuten, seine Schwester ist dran und fragt
ihn nach Geld.
Während sie miteinander reden, ist eine
Jetzt neue Sprachnachricht angekommen. Er

testen:
hört sie ab, nachdem er sich von seiner
Schwester verabschiedet hat. Eine Män-
nerstimme, sie sagt: »Kannst du mal nach-
www.deinspiegel.de sehen, ob du Filzläuse hast im Intimbe-
reich? Ich habe das jetzt das zweite Mal
nach dem Sex mit dir.«
Er kommt an in seinem Containerzim-
mer, zwei Mahnbescheide liegen da, weil
er schwarzgefahren ist, und ein Brief vom
Jobcenter, das ihm das Geld streicht, weil
er nicht mehr zum Deutschkurs kommt.
Draußen zwitschern die ersten Vögel.
Im Tiergarten ist der Frost verschwunden,
es wird allmählich Frühling. Navid zieht
sein Handy aus der Jacke und wählt die
Nummer der Streetworkerinnen, die er im
vorigen Jahr gespeichert hatte.
Aber er hört nur eine elektronische
Stimme, die sagt, dass diese Nummer nicht
mehr vergeben ist.

Charlotte Schmitz und Johanna Maria


Fritz fotografieren seit 2017 das Leben von
Flüchtlingen im Berliner Tiergarten. Ihr
Projekt, das durch das Buch »Wir Kinder
vom Bahnhof Zoo« inspiriert wurde,
nannten sie »Garden of Lost Dreams«. Die
Fotos von dem iranischen Flüchtling Na-
vid entstanden für den vorliegenden Text.

66
Gesellschaft

Unterschreiben
sels seien, spreche für uns. Dann verschwand sie in die Feier-
tage. Es war Pessach. Yves schrieb: Ich warte!!! Ich rief die
Kollegin an, die beim SPIEGEL fürs Geld zuständig ist, und

Sie hier
sagte: Ich nehm es auf meine Kappe. Sie überwies das Geld.
Yves entspannte sich augenblicklich. Er sagte: »Du musst
wissen, Alex, das Land ist verrückt. Man kann hier nieman-
dem trauen.«
Seltsamerweise empfinde ich inzwischen das Gegenteil.
Leitkultur Alexander Osang erfährt, wie man Ich traue jetzt allen.
in Israel seine Ängste loswerden kann. Auf dem Amt, das die Arbeitsvisa erteilt, erzählte ich einer
älteren Dame, welche Länder dieser Welt ich bereits bereist
habe und wie viele Kinder ich habe. Ich nannte ihr die Vor-

A nfang des Jahres lud mich der israelische Botschafter in


Deutschland zu einem Frühstück, weil er gehört hatte,
dass ich in sein Land ziehen möchte. Es war ein ange-
nehmes Gespräch, es gab Käsekuchen. Der Botschafter wollte
namen meiner Eltern. Das musste ich zuletzt für die Kader-
akte des Berliner Verlags angeben, wo ich vorm Mauerfall
mein Volontariat absolvierte. Anschließend unterschrieb ich
auf etwa 30 Vordrucken.
wissen, wie ich Angela Merkel fände. Ich antwortete zurück- Ich unterschreibe normalerweise nicht gern, wahrschein-
haltend. Angela Merkel hatte genug Probleme. Es war eisig, lich, weil ich aus einem Land stamme, in dem eine Unter-
die israelische Botschaft liegt in Berlin-Schmargendorf, einem schrift über ein Leben entscheiden konnte. Aus dem Land
sehr deutschen Ort, vor allem im Januar. der Verpflichtungserklärungen. Mir wird schon die Hand
Mein Herz war kalt. schwer, wenn ich meine Bahncard unterschreiben soll.
Ich traute niemandem. Jetzt sah ich meiner Unterschrift dabei zu, wie sie sich ver-
Inzwischen bin ich lockerer. änderte. Sie wurde spielerischer,
Das habe ich Yves zu verdanken. leicht irre.
Yves ist ein französischer Jude, der Vorige Woche war ich in Gaza
ein paar Wohnungen in Israel ge- und habe verschiedene Sachen für
kauft hat. Er ist mein Vermieter. Ich die Palästinenser unterschrieben.
habe ihn nur einmal kurz getroffen. Sie haben jetzt auch bei der Hamas
Er sagte, er sei in Frankreich Entre- den Mädchennamen meiner Mutter.
preneur gewesen, jetzt ins Filmge- In der israelischen Bank, bei der
schäft gewechselt. ich Kunde sein möchte, kenne ich
Ich fuhr nach Deutschland zurück inzwischen das gesamte Personal.
und wartete auf den Mietvertrag. Ich war oft da. Meist vor oder nach
Yves’ Maklerin mailte ihn mit der einem Feiertag. Es gibt jede Menge
Bitte, ihn schnell zu unterschreiben. Feiertage. Die meisten Feiertage
Allerdings fehlten Yves’ Name und berühren mein Herz. Auf dem
auch seine Unterschrift. Es gab nur Schreibtisch des Filialleiters steht
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

eine handschriftlich eingetragene is- ein Gefäß mit 50 Bleistiften, alle


raelische Kontonummer. Ich unter- spitz wie Haifischzähne. Unter-
schrieb trotzdem, scannte den Ver- schreiben muss ich allerdings im-
trag und schickte ihn weg. Am Tag mer bei seiner schönen jungen Kol-
darauf flogen wir nach Israel und be- legin. Bei jeder Sitzung leiste ich
zogen unsere neue Wohnung. Die etwa 80 Unterschriften. Gestern,
Maklerin gab uns einen Schlüssel. als ich eines der Formulare fotogra-
Ich wartete aufs Yves’ Unterschrift. fierte, auf dem ich zwölfmal unter-
Nach ein paar Tagen fragte Yves, wo Israelisches Formular, unterschrieben schrieben hatte, ohne zu wissen,
die Kaution bleibe. Es ist viel Geld, wofür, fragte sie: »Warum machen
die Mieten hier sind hoch. Mein Sparkassenberater sagte, Über- Sie das?« Ich sagte: »Ich beobachte meine Unterschrift.« Sie
weisungen nach Israel dauerten eine Woche. Das sagte ich sagte: »Wollen Sie mal meine sehen?« Sie kritzelte einen
Yves. Er schickte die Nummer eines französischen Kontos. Blitz aufs Papier. Einen flachen Blitz.
Wenn das Geld nicht innerhalb von 24 Stunden da sei, beende Dann war erst mal Unabhängigkeitstag.
er unsere Geschäftsbeziehung. Die Kollegin, die beim SPIEGEL Ich habe kein Geld auf dem Konto. Aber ich habe alles
fürs Geld zuständig ist, sagte, wir könnten nichts auf irgendein unterschrieben. Auch den endgültigen, anwaltlich beglaubig-
französisches Privatkonto überweisen, wenn der Mietvertrag ten Mietvertrag.
nicht unterschrieben sei. Sie schickten mir eine Anwaltsadresse, 44. Stock eines Tel
Ohne Unterschrift kein Geld, ohne Geld keine Unterschrift. Aviver Hochhauses. Die Fahrstuhltür öffnete sich, ich stieg
Ein Nahostkonflikt. Ich ahnte, wie sich Bill Clinton in Camp aus und stand auf einer Baustelle. Zementsäcke, Gipskarton-
David gefühlt haben musste. plattenstapel, Kabel, rauchende Bauarbeiter. Ein letztes Mal
Ich saß in einer leeren Wohnung, die mir nicht gehörte. meldete sich mein deutsches Misstrauen. So hat sich Michael
Meine Möbel waren noch nicht da, weil der israelische Zoll Douglas in »The Game« gefühlt. Opfer eines großen Tricks.
die Garantie einer Bank einforderte, bei der ich noch nicht Aber dann fand ich, ganz am Ende der Baustelle, eine Tür.
Kunde war. Ich sah mich auf der Straße sitzen mit Frau und Ich öffnete sie wie Alice im Wunderland und fand eine junge,
Katze, während die Möbelpacker mit meinen Kisten um die gut aussehende Anwältin, die an einem Tisch saß, auf dem
Ecke bogen. mein Mietvertrag lag. In vierfacher Ausfertigung. Sie wollte
Wo soll das Zeug hin, Scheff? 84 Unterschriften.
Meine Maklerin sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, Ich sah kurz in den leichten, blauen Himmel über Tel Aviv,
die Tatsache, dass wir bereits im Besitz des Wohnungsschlüs- dann fing ich an. Es war, als schriebe ich einen Popsong.

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 67


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žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Wirtschaft
»Die Trumps kommen und gehen. Die Gefahr, dass Facebook bleibt, ist groß.« ‣ S. 78

BENEDIKT SPETHER / DPA


Bahnbaustelle in Rastatt

Bahnverkehr Vollsperrung: Auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Basel


wurden 39 000 Tonnen mehr CO2 ausgestoßen, etwa weil
Milliardenkosten durch Güter statt mit der Bahn auf der Straße transportiert werden
mussten. In der Analyse wird die Bahn auch für ihr Krisen-
Tunnelpanne management gerügt. Es habe weder Notfallpläne gegeben
noch praktikable Umleitungsstrecken – die Koordination von
Baustellen sei »absolut unzureichend«. Das müsse sich nun
Studie zeigt Folgen der Streckensperrung in Rastatt. ändern, fordern die Autoren der Studie. »Rastatt war zu teu-
er, um zur Tagesordnung überzugehen«, sagt Peter Westen-
 Die Panne an der Rastatter Tunnelbaustelle der Deutschen berger, Geschäftsführer des NEE, »es wurde ohne Sicher-
Bahn im Spätsommer 2017 hat der Volkswirtschaft Schäden heitsreserve an der Halsschlagader der europäischen Indus-
von rund zwei Milliarden Euro zugefügt. Zu diesem Ergebnis trie herumgefummelt.« Die Studie hat nur den Güterverkehr
kommt eine Analyse im Auftrag mehrerer Güterverkehrs- untersucht, doch auch Zehntausende Reisende – darunter
verbände, darunter das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen Berufspendler – waren von der wochenlangen Vollsperrung
(NEE). Rund 8200 Güterzüge waren demnach von der betroffen. Der gesamte Bau des Streckenabschnitts soll 693
Streckensperrung betroffen. Geschätzte 969 Millionen Euro Millionen Euro kosten, die berechneten Schäden liegen bei
Schaden entfallen allein auf Unternehmen der Schienenlogis- einem Vielfachen. Die Rheintalstrecke war vom 12. August
tik, 771 Millionen auf deren Kunden, produzierende Unter- bis 2. Oktober 2017 vollständig unterbrochen, nachdem sich
nehmen. Auch die Umwelt litt unter der 51 Tage dauernden über einer Tunnelbaustelle Gleise abgesenkt hatten. MUM

Dieselfahrverbote stoffdioxid gibt es nur in Mönchenglad- verkehrsministers Andreas Scheuer


Messgeräte arbeiten korrekt bach kleinere Beanstandungen. Die (CSU), der sich kritisch über die Position
Stationen etwa in den schwer belasteten der Geräte an Verkehrsknotenpunkten
 Die EU-Kommission hat das System Innenstädten von München und Stuttgart wie dem Neckartor geäußert hat. Der Par-
von Messstationen in deutschen Städten hingegen arbeiten korrekt. So steht es in lamentarische Staatssekretär im Verkehrs-
überprüfen lassen, das in über 60 Gemein- einem Zwischenbericht des Sachverständi- ministerium, Steffen Bilger (CDU), hatte
den seit Jahren überhöhte Stickoxidwerte genbüros aus Großbritannien, das für die sogar eine Überprüfung der Standorte
ermittelt hat. Demnach sind die Geräte Nachkontrolle des Messsystems von der gefordert. Die Kontrolle der Messsta-
den Vorgaben gemäß aufgestellt und lie- EU beauftragt worden ist. Die Ergebnisse tionen soll von der EU-Kommission bald
fern valide Ergebnisse. In Bezug auf Stick- widersprechen Aussagen des Bundes- veröffentlicht werden. GT

70 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Aluminium Medien
Engpass trifft Josef Ackermann kauft
deutsche Industrie sich bei »NZZ« ein
 Die Wirtschaftsvereinigung Metalle  Der ehemalige Deutsche-Bank-Chef
warnt vor einem Engpass in der Versor- Josef Ackermann wird zum Wohltäter,
gung der deutschen Industrie mit Alumi- zumindest in der Schweiz: Er ist seit
nium. Verantwortlich dafür sind die US- Kurzem Aktionär der »Neuen Zürcher
Sanktionen vom 6. April, die insbesonde- Zeitung« (»NZZ«), deren Wurzeln bis

ANDREY RUDAKOV / BLOOMBERG / GETTY IMAGES


re das Geschäft des russischen Rohstoff- 1780 zurückreichen und die seit 1868
konzerns Rusal beeinträchtigen, des als Aktiengesellschaft firmiert. Er wolle
größten Alu-Produzenten außerhalb Chi- gesellschaftlich sinnvolle Ziele fördern,
nas. Das Embargo hat den Preis des Vor- in diesem Fall offenbar Qualitätsjourna-
produkts Aluminiumoxid innerhalb einer lismus, verlautet aus Zürich, wo kürz-
Woche um 26 Prozent steigen lassen, lich in Ackermanns Beisein die Gene-
damit nähert er sich einem Zwölf-Jahres- ralversammlung der NZZ AG stattfand.
Hoch. Fast ein Drittel des Rohalumini- Einfluss auf die Redaktion wolle er
ums, das die deutsche Industrie impor- nicht nehmen, zumal kein Aktionär
tiert, bezieht sie aus Russland, ein großer mehr als ein Prozent erwerben darf.
Teil davon stammt von Rusal. Zudem Ackermanns Beteiligungshöhe ist
spielt eine Rusal-Tochter in Irland, das Aluminiumschmelze in Russland unklar. Die 40 000 Aktien der »NZZ«,
Unternehmen Aughinish Alumina, eine deren Aktionäre eine »freisinnig-demo-
entscheidende Rolle im Markt, sie sei keit der Preisentwicklung sei nicht mehr kratische Grundhaltung« haben müs-
»unverzichtbar für die Aluminiumoxid- sichergestellt: »Damit wären auch große sen, werden auf außerbörslichen Platt-
Versorgung« Europas, heißt es in einem Abnehmerbranchen wie die Automobil- formen gehandelt und kosten aktuell
Positionspapier des Verbands. Die industrie betroffen.« Der Lobbyverband jeweils 5250 Franken. Bei einer Maxi-
Sanktionen hätten »erheblichen Einfluss fordert die Politik auf, schnell eine malbeteiligung von einem Prozent wür-
auf die Handelsströme«, dies werde »in Lösung zu finden, welche die Rohstoff- de den Schweizer, der als Investment-
der gesamten Lieferkette zu spüren« sein, versorgung sicherstelle. Sonst würde banker und Konzernchef einen dreistel-
warnt die Wirtschaftsvereinigung. Die »der ganze Wirtschaftsstandort Deutsch- ligen Millionenbetrag verdient haben
Versorgungssicherheit und die Planbar- land leiden«. AJU dürfte, sein Engagement also gut zwei
Millionen Franken kosten. Die Zeitung
und Ackermann wollten die Informatio-
nen nicht kommentieren. Die »NZZ«
Verbraucherschutz Euro nicht vor Gericht zieht, und selbst ist die älteste heute noch erscheinende
wenn ein Erfolg gewiss ist, immer noch Zeitung der Schweiz. Ihre Auflage ist
»Ein Machtwort ein Drittel davor zurückschreckt. Diese leicht rückläufig: Die der werktäglichen
der Kanzlerin« Menschen sind allerdings extrem frus- Printausgabe schrumpfte 2017 inklu-
triert über ihre Machtlosigkeit. sive ePaper um gut zwei Prozent auf
Der Chef des Verbraucher- SPIEGEL: Wirtschaftsverbände warnen 113 000 Exemplare, die der Sonntags-
zentrale Bundesverbands, davor, dass Abmahnvereine Unterneh- ausgabe sank um knapp drei Prozent
JAN ZAPPNER / VZBV

Klaus Müller, 47, über men mit ungerechtfertigten Klagen über- auf 118 000. Dafür wuchs die Zahl der
einen neuen Gesetz- ziehen. Ist die Sorge berechtigt? täglichen Onlinenutzer um neun Pro-
entwurf für Musterfest- Müller: Nein, denn im Gesetzentwurf ist zent auf 175 000. Zu den Abo-Zahlen
stellungsklagen es geregelt, dass die klageberechtigten des im Sommer 2017 gestarteten
Verbände bestimmte Qualitätsmaßstäbe Deutschland-Ablegers »NZZ Perspek-
SPIEGEL: Was soll sich durch das vom erfüllen müssen. Außerdem dürfen sie tive« teilt der Verlag nur so viel mit:
Bundesjustizministerium geplante keine kommerziellen Interessen verfol- Sie seien besser als erwartet. BAZ
Gesetz ändern? gen. Ein Richter könnte eine Musterfest-
Müller: Verbraucher können sich etwa stellungsklage eines Abmahnvereins also
bei ungerechtfertigten Bearbeitungs- problemlos zurückweisen. Der Wider-
gebühren für Kredite oder unzulässigen stand etwa aus dem Bundesinnen- und
Kosten für ihren Handyvertrag in Listen dem Bundeswirtschaftsministerium in
eintragen. Verbände können dann für dieser Frage ist nicht nachvollziehbar.
diese Bürger ein Musterfeststellungs- SPIEGEL: Droht das Vorhaben daran zu
urteil erstreiten. Darauf können sich Ver- scheitern?
braucher später berufen, um Entschädi- Müller: Das muss die Bundeskanzlerin
gungen zu erhalten. im Zweifel mit einem Machtwort verhin-
SPIEGEL: Warum braucht es dieses neue dern. Denn das Gesetz ist im Koalitions-
Klageinstrument überhaupt? vertrag klar vereinbart. Darin heißt es
Müller: Die Musterfeststellungsklage auch, es müsse bis zum 1. November in
wird die Rechtsdurchsetzung für Ver- Kraft treten. Nur so könnten die vielen
KROHNFOTO.DE

braucher erheblich erleichtern. Das ist Zehntausend VW-Kunden noch davon


dringend nötig. Denn Studien zeigen, profitieren, die von Abgasmanipulatio-
dass die überwiegende Zahl von Bürgern nen an ihren Dieseln betroffen sind. Ihre
bei einem Streitwert von unter 1500 Ansprüche verjähren Ende des Jahres. GT Ackermann

71
ALEX KRAUS / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
Bosch-Logo, Produktion von Einspritzpumpen in Stuttgart: Größter Profiteur des Dieselbooms

JÖRG EBERL / ACTION PRESS

72
Wirtschaft

Eine unheilvolle Allianz


Affären Der Autozulieferer Bosch rückt immer stärker ins Zentrum
des Dieselskandals. Mit einer riskanten Strategie
versuchen die Stuttgarter, drohende Strafen abzuwenden.

T
ageslicht sehen die Ermittler der Weik, 51, eine erfahrene Juristin, leitet die industrie bekannt wurden – Bosch steckte
Abteilung Diesel derzeit selten. Schwerpunktabteilung Wirtschaftskrimi- mittendrin.
Das Justizgebäude mit grauer nalität. Sie verantwortete zuletzt das Schle- So spielt der Konzern in gleich drei Kar-
Fassade und rostbraunen Fenster- cker-Verfahren, an dessen Ende die Kinder tellverfahren eine Rolle. Vor wenigen Wo-
rahmen wird gerade aufwendig saniert. des Drogeriemarktgründers Anton Schle- chen musste das Unternehmen eine zwei-
Viele Fenster und Türen sind zum Schutz cker zu Haftstrafen verurteilt wurden. stellige Millionenstrafe zahlen, weil es sich
vor Staub und gefährlichen Fasern mit di- Im Fall Bosch gehen die Ermittlerinnen mit Konkurrenten über Bremssysteme und
cken Planen und Folien verklebt. bislang von Beihilfe aus. Doch vieles Zündkerzen abgesprochen hatte. Das
Hinter der Bauverkleidung arbeiten sich spricht dafür, dass Bosch nicht nur unwis- Bundeskartellamt ermittelt zudem, ob der
die Strafverfolger immer tiefer ein in die sender Helfer, sondern vielleicht sogar Mit- Zulieferer zusammen mit den deutschen
Akten eines Falls, der zu einem der spek- initiator des weltweiten Betrugs an Um- Autobauern über Jahrzehnte hinweg die
takulärsten Wirtschaftskrimis der jüngeren welt, Behörden und Dieselkäufern war. Einkaufspreise von Stahl manipuliert hat.
Industriegeschichte werden könnte: des Interne Protokolle und E-Mails belegen, Im sogenannten Fünferkartell der deut-
Betrugs von Millionen Dieselkäufern dass sich Bosch-Manager mit den Autoher- schen Autobauer, das die EU-Wettbewerbs-
durch Autohersteller wie Volkswagen, stellern VW, Audi, BMW, Daimler und teil- behörde wegen möglicher illegaler Abspra-
Audi, Porsche oder Daimler. weise auch Porsche minutiös über Mani- chen bei Technik und Abgassystemen unter-
Vergangenes Jahr hatten die Staats- pulationsfunktionen in der Steuerungssoft- sucht (siehe SPIEGEL 30/2017), war Bosch
anwälte gegen Mitarbeiter der in Stuttgart ware ausgetauscht und abgestimmt haben. zumindest teilweise mit von der Partie.
ansässigen Autobauer Porsche und Daim- Aus diesen Dokumenten, die dem SPIE- Im schlimmsten Fall wird Bosch in die-
ler Ermittlungsverfahren eingeleitet, noch GEL, Kartellwächtern und Ermittlungsbe- sen Verfahren zu hohen Strafzahlungen
in dieser Woche durchsuchten sie beim hörden vorliegen, geht hervor, dass Bosch verurteilt. Regress droht dem Unterneh-
Sportwagenhersteller in Zuffenhausen Fir- eine weitaus aktivere Rolle in der Betrugs- men zudem aus Dutzenden Zivilklagen
menzentralen und Privatwohnungen von affäre gespielt haben dürfte als bislang aufgebrachter Dieselkunden, die in den
Managern. Es geht um die Verschmutzung bekannt. nächsten Monaten und Jahren in den USA
der Umwelt, die Umgehung von Geset- Das Image vom guten und sauberen und in Europa entschieden werden. An-
zen – und um die Frage, welche Rolle ein Unternehmen, das der Elektronikkonzern wälte und Richter sehen nicht nur die
Konzern dabei spielte, der als Vorzeigeun- so gern propagiert, wird dadurch zur Farce. Autobauer in der Pflicht, Kunden und
ternehmen der deutschen Wirtschaft galt: Angekratzt war es schon vorher: Wann Anleger zu entschädigen, sondern auch
die 1886 gegründete Robert Bosch GmbH. immer Affären und Skandale in der Auto- Bosch. Der Zulieferer sei ein »wissender
Acht Personen stehen derzeit im Visier und aktiver Teil in einer massiven, jahr-
der Strafverfolgungsbehörde. Die Staats- zehntelangen Verschwörung« mit VW,
anwälte untersuchen, ob Bosch als Liefe- Bosch-Umsatzanteile Audi, Mercedes und anderen gewesen,
rant elektronischer Bauteile und Steue- nach Bereichen 2017 sagt etwa der US-Anwalt Steve Berman.
rungssoftware von der Manipulation der Erste Gerichte in den USA haben Prozesse
Dieselabgassysteme gewusst oder sogar gegen Bosch bereits zugelassen.
daran mitgewirkt haben könnte. In einem Verfahren gegen General Mo-
Unter dem Druck der Ermittler in tors und Bosch beschied ein Gericht, die
Deutschland und den USA hat sich Bosch Kläger hätten »plausibel dargelegt, dass
für eine riskante Doppelstrategie entschie- Unter- Bosch und GM ein Vorhaben betrieben
den. In der Öffentlichkeit versucht das 61 % nehmens-
24% haben, das offenkundig darauf abzielte,
Unternehmen, die Dieselaffäre totzu- Fahrzeug- umsatz Konsumgüter Verbraucher und Behörden zu betrügen«.
schweigen. Den Untersuchungsausschuss technik 78 Mrd. €
Bosch erklärt zu den Vorwürfen, man
des EU-Parlaments speisten die Manager äußere sich grundsätzlich nicht »zu Details
nur mit Floskeln ab. Gegenüber Strafver- dieser Verfahren«. Bosch unterstütze lau-
folgern und Verkehrsbehörden hingegen 8% fende Ermittlungen und kooperiere »un-
gibt Bosch den Whistleblower. Der Zulie- 7% Industrietechnik eingeschränkt und vollumfänglich« mit
ferer verpfeift Großkunden, legt internen Energie- und den zuständigen Behörden.
Schriftverkehr offen. Das Ziel: möglichst Gebäudetechnik So unberührt von den Vorwürfen sich
unbeschadet aus der Affäre zu kommen. Bosch nach außen auch gibt, der Skandal
Ob das Kalkül aufgeht, hängt vor allem Entwicklung des Umsatzanteils rüttelt am Selbstverständnis des Stiftungs-
von zwei Stuttgarter Ermittlerinnen ab. Si- der Fahrzeugtechniksparte konzerns, der noch immer vom Mythos
bylle Gottschalch, 42, gilt unter Kollegen 68% und moralischen Anspruch des Firmen-
als zäh, unerschrocken, extrovertiert. Eine 61% gründers Robert Bosch zehrt, lieber Geld
59 %
Staatsanwältin, die in Verhören sehr un- zu verlieren als Vertrauen. »Die Diesel-
gemütlich werden kann. Ihre Chefin Beate 2008 2014 2017 affäre steht in krassem Widerspruch zum

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 73


Wirtschaft

Wertekanon und dem über Jahrzehnte ge- von Klägeranwälten wird Denner als »Mr Techniker von Bosch gemeinsam mit den
pflegten Selbstverständnis von Bosch«, Diesel« bezeichnet. Er war ab 1998 Ent- Autobauern Strategien, wie mit neuen, im-
sagt der Historiker und Bosch-Biograf Jo- wicklungsleiter für Motorsteuergeräte, lei- mer strengeren Abgasnormen und Um-
hannes Bähr. Die Affäre könne Bosch in tete ab 2003 den Bereich »Automotive weltgesetzen umzugehen sei.
eine Identitätskrise stürzen. Electronics« und stieg drei Jahre später in Konkret geht es in den Dokumenten um
Kaum ein Unternehmen der Auto- und die Geschäftsführung auf. die Jahre 2006 und 2007. Da verschärften
Zulieferbranche hat vergleichbar stark Just zu dieser Zeit erreichte die Diesel- die US-Behörden die Vorschriften für Die-
vom Dieselboom der Neunziger- und geschichte einen Wendepunkt: Aus einem selfahrzeuge. Ohne teure Eingriffe in die
Zweitausenderjahre profitiert. Die Stutt- Erfolg wurde ein Betrugsfall. Zum Chiffre Produktion, so viel war den Autobauern
garter machten aus dem stinkenden Diesel für den Skandal wurde ECD17. schnell klar, waren die Anforderungen
mithilfe neuartiger Hochdruckeinspritz- Das Kürzel steht für »Electronic Diesel nicht zu erfüllen. Ihr Versprechen, die Ab-
systeme einen Hightech-Antrieb. Sie er- Control«. In den gerade einmal zehn Zen- gase mithilfe des Harnstoffgemischs Ad-
höhten Drehmoment und Leistung des timeter großen Boxen haben die Bosch-In- Blue gesetzeskonform zu reinigen, konn-
Motors und senkten zugleich den Ver- genieure Tausende Zeilen Programmier- ten sie oft nicht halten. Es scheiterte unter
brauch und die Emissionen. Die Verkaufs- codes untergebracht. Sie regeln und über- anderem daran, dass die verbauten Tanks
zahlen stiegen rasant – und mit ihnen der wachen das komplette Motormanagement, zu klein waren, um die notwendige Menge
Erfolg von Bosch. die Zündung, die Einspritzung des Diesel vorzuhalten (siehe SPIEGEL 32/2017).
Schon wenige Jahre später ging ohne oder die Motortemperatur. Und das Ab- So ersannen die Techniker von Bosch
die Stuttgarter nichts mehr in der weltwei- gasverhalten der Autos. gemeinsam mit den Autoherstellern Tricks,
ten Dieselfertigung. VW-Manager spra- In dieser Software, benutzt in Autos von wie sie die Menge des eingespritzten Ad-
chen offen von einer Monopolstellung des Marken wie VW, Audi, Porsche, Opel oder Blue möglichst unbemerkt von den Behör-
Bosch-Konzerns und riefen die Wettbe- Mercedes, entdeckten Experten später du- den reduzieren konnten. Die Autos sollten
werbsbehörden zu Untersuchungen auf. biose Funktionen, mit deren Hilfe die Ab- so präpariert werden, dass sie die niedri-
Verantwortet wurde das Dieselwunder gasreinigung gedrosselt und manipuliert gen Grenzwerte in Tests einhielten, nicht
bei Bosch maßgeblich von zwei Männern, werden konnte. Auch illegale Abschaltein- unbedingt auch auf der Straße.
die den Konzern bis heute lenken: dem richtungen und Software zur Prüfstands- Die internen E-Mails, formuliert in
heutigen Aufsichtsratschef Franz Fehren- erkennung waren darunter. kryptischem Ingenieursdeutsch, zeigen:
bach, 68, und Geschäftsführer Volkmar Bosch will von alldem nichts gewusst Allen Beteiligten war klar, dass sie zumin-
Denner, 61. Fehrenbach leitete den Bereich haben. Man sei, beteuern Konzernmana- dest in Graubereichen arbeiteten. In einer
Dieselsysteme, bevor er 2003 an die ger, in die Dieselaffäre ohne aktives Zutun E-Mail aus dem Jahr 2006 heißt es bei-
Bosch-Spitze rückte. Er baute das Image »hineingeraten«. Zwar habe man die Kom- spielsweise: Wenn die Behörden von einer
des grünen und fairen Konzerns auf, ver- ponenten geliefert und auch die Software solchen Limitierung Kenntnis erlangten,
bunden mit dem Anspruch moralischer programmiert. Die konkrete Bestimmung werde dadurch eine »Außerhalb-Testzy-
Überlegenheit. In der Finanzkrise echauf- der Software aber habe man nicht gekannt. klus-Erkennung« offenbart. Es war eine
fierte sich Fehrenbach über die »verant- Verantwortlich für den Einsatz und den unverhohlene Warnung, sich nicht erwi-
wortungslosen Praktiken« der Banken. Betrug seien ausschließlich die Autobauer. schen zu lassen.
Sein Nachfolger Denner ist ein trocke- Das ist schwer zu glauben. Denn die Aufgabe der Bosch-Ingenieure war es,
ner, introvertierter Typ. Der promovierte dem SPIEGEL vorliegenden Protokolle solche Funktionen in die Software einzu-
Physiker sagt, er orientiere sich an Fakten, über Treffen von Bosch mit BMW, VW, arbeiten. Der Zulieferer und die Hersteller
nicht an Emotionen. Seine Forderung: Das Audi und Daimler sprechen eine andere diskutierten lebhaft, die eingespritzte Ad-
»Diesel-Bashing« müsse endlich aufhören, Sprache. In diesen Runden ersannen die Blue-Menge zu begrenzen, und zwar in
Abhängigkeit von Parametern wie »Dreh-
zahl«, »Umgebungstemperatur« oder
»Höhe«. Solche Parameter sind bei Fahr-
zeugtests fest definiert. Mit ihrer Hilfe
kann eine Software etwa erkennen, ob sich
das Auto auf dem Prüfstand befindet oder
auf der Straße.
VW und Audi hatten so etwas für ihre
Autos bereits unter dem Tarnnamen
»Akustikfunktion« entwickelt, angeblich
war sie zunächst dafür vorgesehen, das
Nagelgeräusch der Motoren zu reduzieren.
Die US-Behörden sahen darin später eine
Betrugssoftware – und verlangten von VW
Milliardenstrafen.
Die Protokolle der Arbeitskreise zeigen,
HAROLD CUNNINGHAM / GETTY IMAGES

dass vor allem VW-Vertreter sich immer


neue Tricks einfallen ließen, um Auto-
käufer und Behörden zu hintergehen: Man
könne die »Akustikfunktion« auch bei
der Dosierung von AdBlue nutzen. Die
Techniker schlugen vor, die VW-Software
mit der von Bosch programmierten Ad-
Blue-Dosierung zu verknüpfen. Dadurch
sollte offenbar verhindert werden, dass
VW-Modelle auf der Automesse Genf: Der Kunde bestellte und Bosch lieferte Autos den Prüfstand nicht erkennen – und

74
in Tests in den AdBlue-Sparmodus um- kunden VW nicht brüskieren wollten.
schalten. Auch verräterische Spuren soll- Beim Thema Diesel bestand zwischen bei-
ten die Bosch-Ingenieure beseitigen. Im den eine unheilvolle Abhängigkeit: VW
Januar 2007 hielt ein Autohersteller im brauchte die Bosch-Technik. Und Bosch
Protokoll fest: Während der AdBlue-Do- die Aufträge aus Wolfsburg.
sierung werde aktuell die Diagnoseeinheit Die interne Untersuchung der Affäre
ausgeschaltet. Dies könne aber nicht den bei Bosch soll zwar ergeben haben, dass
Behörden vermittelt werden. die Geschäftsführung um Fehrenbach und
Am Ende scheiterte der Plan, die Ad- Denner unwissend war. Die Frage ist je-
Blue-Dosierung mit der Akustikfunktion doch, ob dabei wirklich alle Sachverhalte
in der von Bosch entwickelten Software- offengelegt wurden. Außerdem bleibt un-
plattform für alle Hersteller umzusetzen: beantwortet, ob die Topmanager zu wenig

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES


BMW und Daimler sperrten sich dagegen. dafür taten, ihre Ingenieure zu kontrollie-
Das hinderte die übrigen Manager aber of- ren – und damit ein eklatantes Haftungs-
fenbar nicht, das Projekt voranzutreiben. risiko eingingen. Juristen sprechen in sol-
Im Oktober 2007 erging der Arbeitsauf- chen Fällen von Organisationsverschulden:
trag an Bosch: Die Anforderung sei kun- Geschäftsführer können in solchen Fällen
denspezifisch (VW/Audi) umzusetzen. zu Geldbußen verurteilt werden.
Der Kunde bestellte, und Bosch lieferte. Bosch-Chef Denner Fest steht: Die Bosch-Führung zeigte in
BMW hat eine Manipulation stets be- »Das Diesel-Bashing muss aufhören« all den Jahren kein Interesse, das lukrative
stritten. VW und Daimler wollen sich Geschäft mit den Dieselantrieben zu brem-
wegen der Ermittlungen nicht äußern. sen. Im Gegenteil, die Stuttgarter beteilig-
Der VW-Konzern schweigt auch zu ei- – aber ausgeprägtem Selbstbewusstsein im ten sich fleißig an der Vermarktung.
nem weiteren Vorgang, der erhebliche Umgang mit mächtigen Konzernen. Schon 2006 heuerten die Stuttgarter
Zweifel daran nährt, dass Bosch nicht ge- Aktionäre haben den VW-Konzern in eine amerikanische Lobbyfirma an, um im
wusst haben soll, wozu die Software ein- Stuttgart wegen der Dieselaffäre auf Scha- US-Kongress und bei der Umweltbehörde
gesetzt wird. Schon im Juni 2008 ging der densersatz verklagt. Bosch sitzt zwar nicht EPA für die »saubere« Dieseltechnologie
Zulieferer auf Distanz zum eigenen Pro- auf der Anklagebank, dennoch bringt Rich- Stimmung zu machen. Zudem finanzierte
dukt. Da forderten Bosch-Mitarbeiter den ter Reuschle das Unternehmen in ernste Bosch in den Folgejahren Studien und
VW-Kollegen Thorsten S. per E-Mail auf, Bedrängnis: Er hat Bosch aufgefordert, Symposien, um bei Behörden und Auto-
Bosch von jeglicher Haftung zu befreien: dem Gericht eine Reihe brisanter Dokumen- käufern das Bild vom schmutzigen Diesel
Bei der Software, so die Begründung, kön- te vorzulegen. Darunter auch den Brief zu korrigieren.
ne es sich um ein »Defeat Device« han- mit der Bitte um Haftungsfreistellung. Bis zum 18. September 2015. Da flog in
deln. Das ist der Ausdruck für eine illegale Das Schriftstück hat einen Makel: Die den USA der Dieselbetrug auf. Auf viele
Abschalteinrichtung. Das Schreiben könn- Unterschrift von Volkswagen fehlt. Der Bosch-Beschäftigte wirkte die Nachricht
te für Bosch zum Problem werden: Es wird Konzern hat sich offenbar geweigert, die wie ein Schock, der bis heute anhält. Die
zum Beweisstück in einem Musterprozess Erklärung zu unterzeichnen. Warum ha- Betroffenheit ist groß und könnte noch
am Stuttgarter Landgericht. ben die Bosch-Ingenieure trotzdem bis viel größer werden.
Geleitet wird er von Fabian Richter 2015 die strittige Software programmiert? Noch ermittelt die Staatsanwaltschaft
Reuschle, einem Mann mit sanft schwä- Womöglich machten sie einfach weiter, Stuttgart lediglich gegen acht Mitarbeiter.
belnder Stimme, weichen Gesichtszügen trotz aller Rechtsrisiken, weil sie den Groß- Es sind Fachexperten, die direkt mit der

Abgase Welche Rolle spielte der Sportwagenbauer Porsche im Zudem soll Chefaufklärer Steiner nach
einer Zeugenaussage bei der Münchner
Skandal um illegale Prüfstandserkennungen? Staatsanwaltschaft daran mitgewirkt haben,
den Dieselskandal vor den US-Behörden

Schnell und schmutzig zu vertuschen. Zum laufenden Verfahren


will sich Steiner nicht äußern. Hatz hat bis-
lang alle Vorwürfe zurückgewiesen. In VW-
Kreisen bezweifelt man die Darstellung.

L ange Zeit hatte die Stuttgarter Staats-


anwaltschaft den Porsche-Managern ge-
glaubt: Sie beteuerten, sie hätten in der
Dieselaffäre keine aktive Rolle gespielt. Es
Er steht im Verdacht, weitreichende Kennt-
nisse über Manipulationen gehabt zu haben.
Mit seinem Vorgänger, dem in München
in U-Haft sitzenden Wolfgang Hatz, könnte
Das Ermittlungsverfahren gegen Porsche
hatte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft be-
reits im Juli 2017 eingeleitet. Zuvor hatte
der SPIEGEL (24 /2017) in eigenen Tests
schien einleuchtend, dass Porsche in seinen Steiner die Entwicklungen der illegalen nachgewiesen, dass im Cayenne illegale
Geländewagen Cayenne nur die Motoren Funktionen nicht nur unterstützt, sondern Prüfstandserkennungen verbaut und die
und Getriebe von Audi verbaut habe. Man später auch vertuscht haben. Mitarbeiter Abgasreinigung manipuliert worden waren.
sei Opfer, nicht Täter, hieß es bei Porsche. wollen sich an Rennen mit dem Porsche- Steiner hatte damals auf Nachfrage beteu-
Inzwischen wissen es die Strafverfolger Geländewagen Macan und dem fast bau- ert, von Manipulationen nichts zu wissen.
möglicherweise besser. Am Mittwoch durch- gleichen Audi Q5 erinnern, bei denen es Die Tests wurden anschließend vom
suchten 33 Ermittler die Firmenzentrale darum ging, aus dem Porsche-Modell mehr Kraftfahrt-Bundesamt weitgehend bestätigt.
und Privatwohnungen mehrerer Verdächti- Leistung herauszukitzeln – auf Kosten der Die Behörde entzog den Dieselvarianten
ger, unter ihnen der Entwicklungsvorstand Emissionen. Hatz und Steiner sollen an sol- des Cayenne daraufhin die Zulassung.
und heutige Chefaufklärer Michael Steiner. chen Aktionen beteiligt gewesen sein. Frank Dohmen, Simon Hage

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Wirtschaft

Motorsteuersoftware befasst waren, Che-


miker oder Nachrichtentechniker, die oft-
mals direkt nach der Uni zu Bosch gewech-
selt sind. Der ranghöchste Beschuldigte
Über die Brücke
stammt aus dem mittleren Management.
Doch dabei wird es womöglich nicht Jobs Minister Hubertus Heil will ein Rückkehrrecht von Teil-
bleiben. Denn nicht nur bei VW, Audi, in Vollzeit einführen. Doch wenn die Arbeit zwischen Männern und
Chrysler und Daimler – den vier bereits Frauen gerechter verteilt werden soll, reichen Gesetze allein nicht.
bekannten, in Stuttgart anhängigen Bosch-
Verfahren – könnte der Zulieferer Beihilfe
zum Betrug geleistet haben. Die Staats-
anwaltschaft prüft im Zuge eines Vorer-
mittlungsverfahrens, ob der Konzern auch
für Fiat, Hyundai, Ford und General
I n der Theorie sind sich alle einig: Teil-
zeitarbeit gehört zu den besten Mit-
teln, wenn es um die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie geht. Sie schafft die
Das Vorhaben wanderte in den neuen
Koalitionsvertrag. Vorsichtshalber wurden
gleich etliche Details des geplanten Geset-
zes festgelegt. Heil arbeitete sie in den Ent-
Motors (GM) illegale Dieselsoftware pro- Möglichkeit, dass Kinder nicht automa- wurf ein, nannte das Ganze »Brückenteil-
grammiert haben könnte. Ford und Fiat tisch für einen Elternteil das Aus im Be- zeit« und schickte ihn diese Woche in
Chrysler bestreiten, eine illegale Software rufsleben bedeuten, weil er sich zwischen die Ressortabstimmung – pünktlich zum
eingesetzt zu haben. Hyundai und GM äu- Familie oder Vollzeitjob entscheiden muss. SPD-Sonderparteitag am Sonntag als
ßerten sich nicht. Deshalb gibt es seit 2001 einen gesetz- Stimmungsaufheller.
Aus Justizkreisen heißt es, man habe lichen Anspruch für Arbeitnehmer, ihre Doch wen betrifft das Gesetz? Vor al-
bereits Tausende Akten, Protokolle, E- Wochenarbeitszeit zu reduzieren. lem: Wie wird es wirken?
Mails und Datenträger ausgewertet. Doch In der Praxis ist allerdings etwas schief- 2017 arbeiteten fast 15,7 Millionen Men-
mit jeder Zeugenvernehmung oder Haus- gelaufen: Das Gesetz bietet zwar Männern schen in Deutschland in Teilzeit. Auch
durchsuchung bei einem Hersteller wächst und Frauen die gleichen Rechte, in Teilzeit wenn ihre Zahl über die Jahre zugenom-
die Menge weiter an. zu gehen. Doch es sind seit Anbeginn vor men hat, liegt ihr Anteil an der Zahl aller
Dabei stecken die Ermittler in einer allem Frauen, die davon Gebrauch ma- Beschäftigten seit 2011 relativ konstant
schwierigen Lage: Die Materie ist schwer chen. Fast jede zweite Frau arbeitet heute zwischen rund 38 und 39 Prozent – weil
zu durchdringen, ohne Hilfe von Insidern Teilzeit, aber nur gut jeder zehnte Mann. auch die Gesamtzahl der Beschäftigten
ist das kaum möglich. Bosch weiß das und Und so hat sich die Chance für viele Frau- entsprechend angestiegen ist.
nutzt es offenbar aus. Anders als der Daim- en zur Falle entwickelt. Denn das Gesetz Die meisten Menschen sind mit ihrer
ler-Konzern, der sogar juristisch gegen die ebnet viele Wege in die Teilzeit, aber kei- derzeitigen Arbeitszeit zufrieden. Doch
Methoden der Stuttgarter Ermittler vor- nen, der aus ihr herausführt. nach Zahlen des Arbeitsministeriums wür-
ging, suchen die Bosch-Manager ihre Ret- Das will Hubertus Heil (SPD) ändern. den eine Million Beschäftigte gern ihre
tung in weitreichender Kooperation. Gerade einmal fünf Wochen im Amt, legte Arbeitszeit reduzieren. Zugleich gibt es
Stets geschieht das im Verborgenen, bei der Bundesarbeitsminister der Großen Ko- 1,8 Millionen Teilzeitbeschäftigte, die lie-
Vernehmungen in den abgedunkelten Räu- alition einen Gesetzentwurf vor. Der soll ber mehr arbeiten würden.
men der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. schon im Mai durchs Kabinett und im Ja- Dort setzt Heils Brückenteilzeit an. Sie
Oder beim Kraftfahrt-Bundesamt, wie nuar 2019 in Kraft treten. soll nicht vorrangig Menschen aus der Teil-
etwa am 14. April 2016. Da meldete Bosch zeitfalle holen, sondern verhindern, dass
der Aufsichtsbehörde »Unregelmäßigkei- sie hineingeraten. Und sie soll auch Män-
ten« in der Software von Fiat Chrysler. »Väter und Mütter ner ermutigen, in Teilzeit zu gehen.
Nach 22 Minuten werde die Abgasrück- müssen dringend Denn das ist die Realität: Einer Umfrage
führung heruntergefahren. Die Reinigung des Wissenschaftszentrums Berlin für So-
des Katalysators schalte sich nach einiger ihr Zusammenleben zialforschung (WZB) zufolge arbeiten Vä-
Zeit sogar komplett ab. Seitdem steht auch neu verhandeln.« ter mit Kindern unter 13 Jahren im Schnitt
Fiat im Visier der deutschen Behörden. 42 Stunden pro Woche, die Mütter dage-
Ob sich der Kurs für Bosch auszahlen gen nur 24 Wochenstunden.
wird, ist offen. Nicht ausgeschlossen, dass Zum einen will Heil Arbeitnehmern in Deshalb sollen Arbeitnehmer, die mindes-
die Staatsanwälte den Fall im Lauf des Ver- Vollzeit die Möglichkeit geben, für eine tens sechs Monate in einer Firma arbeiten,
fahrens anders bewerten und Bosch dann befristete Zeit in Teilzeit gehen zu kön- künftig ihre Arbeitszeit für mindestens ein
nicht nur wegen Beihilfe verfolgen. nen – allerdings mit dem gesetzlich ver- bis maximal fünf Jahre mit Rückkehrrecht
Vorstellbar ist auch, dass einer der ver- brieften Recht, danach wieder auf eine vol- reduzieren können. Nach einem Jahr War-
ratenen Autobauer irgendwann zurück- le Stelle zurückkehren zu können. tezeit darf wieder neu beantragt werden.
schlägt – und seinerseits mit Interna über Zum anderen will er die Chancen derer Doch es gibt wesentliche Einschränkungen:
Boschs Rolle im Dieselskandal aufwartet. verbessern, die bereits einen unbefristeten Betriebe mit weniger als 45 Beschäftigten
Die Stimmung ist zumindest gereizt. Ei- Teilzeitvertrag haben, ihre Wochenstun- sollen von dem Gesetz ausgenommen wer-
nige Hersteller haben den Eindruck, dass den aber gern erhöhen möchten. den. Nach Regierungsangaben können des-
Bosch Behörden bereitwillig Teile der Kun- Für das rekordverdächtige Tempo, in halb 15 Millionen der 37 Millionen Beschäf-
denkommunikation in Sachen Motorsteu- dem die Vorlage fertig wurde, mussten die tigten in Deutschland die neue Brückenteil-
erung bereitgestellt hat. Und sich durch Beamten im Ministerium keine Nacht- zeit gar nicht in Anspruch nehmen – das
die Preisgabe diskreter Informationen schichten einlegen, sie konnten auf einen sind etwa 40 Prozent der Arbeitnehmer.
selbst aus der Verantwortung stehlen will. Entwurf von Heils Vorgängerin Andrea Betriebe mit bis zu 200 Beschäftigten
Bosch droht damit sein wichtigstes Ka- Nahles zurückgreifen. Schon die letzte müssen pro 15 Mitarbeiter oberhalb des
pital endgültig zu verspielen: Vertrauen. Regierung wollte das Rückkehrrecht ein- Schwellenwerts nur eine Befristung ermög-
Frank Dohmen, Simon Hage, führen, am Ende der Amtszeit konnten lichen. Erst bei über 200 Mitarbeitern ha-
Martin Hesse sich Union und SPD aber nicht mehr ben alle ein Recht auf befristete Teilzeit.
einigen. In der vorigen Legislaturperiode wollte

76 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Nahles lediglich Firmen mit bis zu 15 Mit- Die Gründe sind zu vielfältig: Das »Es ist dringend notwendig, dass Väter
arbeitern von dem Gesetz ausklammern. Ehegattensplitting etwa wird Ehepaare und Mütter ihr Zusammenleben neu ver-
Der Entwurf ist der schwierige Versuch, weiterhin steuerlich belohnen, wenn einer handeln«, sagt deshalb Heide Pfarr vom
den Arbeitnehmerinteressen entgegenzu- sehr viel weniger verdient als der andere. Deutschen Juristinnenbund.
kommen, über ihre Arbeitszeit in unter- Auch die gesellschaftlichen Vorstellungen Man könnte also argumentieren, dass
schiedlichen Lebensphasen selbst bestim- davon, was einen Vater und eine Mutter Heils Gesetzesvorschlag gut daran tut, die
men zu können, und zugleich den Unter- ausmacht, wirken sich stark aus. Unter- Brückenteilzeit auf fünf Jahre zu begren-
nehmen Planungssicherheit zu geben. suchungen zufolge unterliegen Männer, zen. Im Idealfall würde eine solche Rege-
Alles in allem sei das Gesetz ein »Schritt die in Teilzeit arbeiten, einem hohen lung dazu führen, dass Paare sich künftig
in die richtige Richtung«, sagt die Soziolo- Rechtfertigungsdruck im Betrieb. Mütter als Hauptverdiener abwechseln. Für Väter,
gin Mareike Bünning, die am WZB zum mit Kleinkindern wiederum müssen sich sagt Soziologin Bünning, sei die Brücken-
Thema Elternschaft und Arbeitszeit oft verteidigen, wenn sie in Vollzeit arbei- teilzeit ihrer Studie zufolge durchaus at-
forscht. Die Idee der Brückenteilzeit, wie ten gehen. traktiv: Sie wären sehr wohl bereit, ihre
sie im Entwurf steht, gehe jedoch »an den In den Familien selbst sieht es nicht an- Arbeitszeit deutlich zu senken. »Langfris-
Bedürfnissen der meisten Frauen vorbei«. ders aus: Studien zeigen, dass Frauen tig könnte das Gesetz auf diesem Wege ei-
Mütter beispielsweise brauchten mehr selbst dann mehr Stunden mit Haushalt nen gesellschaftlichen Wandel anstoßen.«
Flexibilität. Bünning hat mit einer Kollegin und Kindern beschäftigt sind, wenn sie Kurzfristig dürfte die Brückenteilzeit
vor etwa zwei Jahren 800 Elternpaare mit genauso viel arbeiten wie ihre Männer. kein Massenphänomen werden. Heils
Kindern unter 13 Jahren befragt, wie sich Einfach, weil es ihren Vorstellungen von Fachleute rechnen mit rund 143 000 An-
ein Rückkehrrecht aus der Teil- in die Voll- Männlichkeit und Weiblichkeit entspricht. trägen im ersten Jahr. Danach würde die
zeit auf ihre Arbeitszeitwünsche auswir- Die finanziellen Auswirkungen der klas- Zahl auf gut 14 000 jährlich sinken.
ken würde. »Frauen mit Kindern unter 13 sischen Rollenverteilung sind dramatisch. Viel zentraler vor allem für Frauen –
wollen nur selten in Vollzeit arbeiten, sie Laut einer Studie des Familienministeri- und sehr viel umstrittener – ist ein anderer
wünschen sich aber oft eine Erhöhung ih- ums verdienen 63 Prozent der verheirate- Passus in Heils Entwurf. Denn der Arbeits-
rer Stundenzahl«, sagt sie. ten Frauen im Alter von 30 bis 50 Jahren minister will es Beschäftigten mit unbefris-
Das Ergebnis belegt einmal mehr, dass weniger als 1000 Euro netto im Monat. teten Teilzeitverträgen künftig viel leichter
deutsche Familien ihr Leben immer noch Bei einer Scheidung bedeutet das für viele machen, eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit
nach dem alten Prinzip organisieren, wo- den Ruin. Rund 68 Prozent aller allein- im Betrieb durchzusetzen.
nach der Mann Vollzeit arbeitet und die erziehenden Eltern, das sind vor allem Schon heute gilt, dass Teilzeitkräfte im
Frau sich in erster Linie um die Familie Frauen, sind armutsgefährdet, die Alters- eigenen Betrieb bevorzugt werden müssen,
kümmert – und dass auch Heils Gesetzes- bezüge von Frauen sind im Schnitt nur wenn sie sich dort auf eine frei werdende
entwurf das nicht ändern wird. halb so hoch wie die von Männer. Stelle mit mehr Stunden bewerben. Aller-
dings müssen sie nachweisen, dass ein sol-
cher Arbeitsplatz existiert und sie die nöti-
Arbeitszeiten und Arbeitszeitwünsche Quelle: Statistisches Bundesamt, 2018 ge Qualifikation haben. Heil will die Be-
weislast umkehren, der Arbeitgeber müsste
Wochenarbeitsstunden von Erwerbstätigen dann belegen, dass er die Arbeitszeit des
gewünschte betroffenen Arbeitnehmers nicht verlän-
Unterbeschäftigte Veränderung
gern kann. »Das würde tatsächlich vielen
Frauen helfen«, sagt Wissenschaftlerin Bün-
ning. Das Ministerium schätzt, dass im ers-
24,2 + 11,2 33,8 + 10,5 ten Jahr rund 555 000 Beschäftigte in der
Privatwirtschaft einen entsprechenden An-
FRAUEN trag stellen würden. In der Folge kämen
MÄNNER
dann jährlich 27 000 neue Anträge dazu.
Als Heil am Mittwoch seinen Antritts-
besuch beim Arbeitgeberverband absol-
Überbeschäftigte vierte, traf er dort auf einen entsprechend
entsetzten Arbeitgeberpräsidenten. Vor
laufenden Kameras erklärte Ingo Kramer,
der Entwurf überschreite »eine rote Linie«.
38,7 – 10,4 44,1 – 11,4 Die Beweislastumkehr sei ein Angriff auf
die unternehmerische Freiheit.
Heil setzte auf Beschwichtigung. Über
das Ob des Gesetzes lasse er nicht mit sich
reden, erklärte er, sehr wohl aber über das
Wie. Und dann erinnerte er Kramer an

69
Prozent der
berufstätigen Mütter* eine Weisheit des ehemaligen SPD-Frak-
arbeiten Teilzeit. tionschefs Peter Struck: Der hatte stets ge-
sagt, kein Gesetz komme aus dem Bundes-
Väter: 5 Prozent
tag so heraus, wie es eingebracht wurde.
*in einer Partnerschaft; Quelle: Statistisches Bundesamt, 2014
Es kann also gut sein, dass Heils Ent-
wurf genau in dem Teil überarbeitet wird,
der Frauen am ehesten aus der Teilzeitfalle
heraushelfen würde.
Markus Dettmer, Anne Seith

77
Wirtschaft

SPIEGEL: Wer will ihnen denn die Vergan-

»Die Digitalisierung genheit wegnehmen?


Precht: Wir haben heute im Silicon Valley
mächtige Menschen, die eine Vergangen-
heitsvergessenheit regelrecht predigen. Sie

bedroht alles, was ist«


sagen, wir brauchen Disruption, wir brau-
chen Umbruch, wir müssen alles anders
machen. Gut ist nur, was in der Zukunft
liegt. Nur das Werden ist wichtig, und das
Sein ist schlecht.
SPIEGEL-Gespräch Der Philosoph Richard David Precht, 53, über SPIEGEL: Das sorgt jedenfalls für Dynamik.
Precht: Natürlich hat das alles enorme
die Vision des Silicon Valley, die Sehnsucht nach der kommunikative Vorteile, aber es hat eben
Vergangenheit und seine Vorstellung von der digitalen Zukunft auch Nachteile. Diese Ideologie wider-
spricht völlig dem Lebensgefühl der aller-
meisten Menschen, die sagen, durch die
Globalisierung gehe die Heimat verloren,
SPIEGEL: Herr Precht, Mark Zuckerberg deren eine Restauration, das beschreiben durch die Digitalisierung beschleunige sich
musste sich vor dem US-Senat rechtferti- Sie auch in Ihrem neuen Buch*. Worum alles immer mehr. Man redet nicht mehr
gen. US-Präsident Donald Trump greift wird da gerade gekämpft? mit den pubertierenden Kindern am Tisch,
Amazon an. Die Digitalkonzerne stehen Precht: Es ist ein gutes Anzeichen dafür, jeder lebt in seinem eigenen Segment, die
in der Kritik wie nie. Überrascht Sie diese dass Revolutionen in der Luft liegen, wenn Öffentlichkeit fragmentarisiert sich, zer-
Empörungswelle? die Restauration so stark wird. Man ver- splittert, keiner weiß noch, wo das Zu-
Precht: Einen Stimmungswandel gibt es sucht alles zusammenzuhalten, obwohl sammengehörigkeitsgefühl sein soll – und
seit etwa zwei Jahren. Dass Facebook, Goo- man weiß, dass der Deckel langfristig nicht dass Menschen das betrauern, halte ich für
gle, Amazon und Apple nicht mehr die Gu- auf dem Kessel bleiben wird. Und so wür- völlig normal. Ängste sind irrational, na-
ten sind, das ist schon länger klar. Neu ist de ich auch das Aufflammen des Nationa- türlich, aber sie zu haben ist biologisch ge-
allerdings, dass man sich empört – und ku- lismus und das Erstarken des islamischen sehen sehr vernünftig.
rioserweise gegen ein Geschäftsmodell, von Fundamentalismus erklären. Es sind ge- SPIEGEL: Dann ist auch ein Heimatminis-
dem Facebook lebt, seit es Facebook gibt. waltige Rückzugsgefechte von Ideologien, terium vernünftig?
SPIEGEL: Sie halten die Empörung für auf- die langfristig nicht mehr haltbar sind. Die Precht: Nein, das ist Quatsch. Man kann
gesetzt? Digitalisierung bedroht alles, was ist. Heimat nicht über den zweiten Bildungs-
Precht: Warum finden die Menschen es SPIEGEL: Lässt sich Fremdenhass wirklich weg rekonstruieren. Auch nicht dadurch,
auf einmal unsittlich, dass die Digitalkon- mit der Furcht vor einer digitalen Revolu- dass man ein Ministerium danach benennt.
zerne machen, was sie immer gemacht ha- tion erklären? SPIEGEL: Wenn man die Vergangenheit
ben: Daten abschöpfen, Menschen aus- nicht verlieren will, wie wichtig sind Tra-
spionieren, Daten weitergeben, Profile er- ditionen?
stellen? Sie finden es unsittlich, weil es Precht: Ich habe mich immer gewundert,
Trump genutzt hat. Wenn Cambridge Ana- »Jeder lebt in seinem wie leicht sich die Deutschen ihre Tradi-
lytica die Daten an Bernie Sanders gege- eigenen Segment, die tionen nehmen lassen. Die Anzahl der
ben hätte, wäre der Aufschrei wahrschein- Öffentlichkeit fragmentiert Menschen, die X-mas feiern statt tatsäch-
lich sehr viel kleiner, obwohl der eigent- lich Weihnachten, ist lächerlich hoch.
liche Skandal nicht die Weitergabe an sich, zersplittert.« Wenn ich durch die Straßen gehe, zähle
Trump war, sondern, dass man Personen- ich gern, wie viel qualifizierten Einzelhan-
daten ohne detaillierte Zustimmung über- del es gibt. Laden für Laden. Da ist fast
haupt kommerziell weitergeben kann. Precht: Das wirkliche Motiv ist die Angst nichts mehr übrig. Es sind fast alles globa-
SPIEGEL: Wen halten Sie für gefährlicher: vor dem Neuen. Aber das Neue ist noch lisierte Ketten, und die sind auch noch
Donald Trump oder Mark Zuckerberg? nicht sichtbar. Deshalb entzündet sich der durch den Onlinehandel bedroht. Das sind
Precht: Langfristig gesehen halte ich Face- Konflikt an dem, was phänomenologisch alles Dinge, die von den Leuten willig in
book für gefährlicher, weil es nicht einfach sichtbar ist, wie den Geflüchteten. Aber Kauf genommen werden.
verschwinden wird. Die Trumps kommen eigentlich ist es nicht der Hass auf Geflüch- SPIEGEL: Aber zeigt der Unmut über Face-
und gehen. Die Gefahr, dass Facebook tete, es ist Zukunftsangst. Die Menschen book nicht, dass die Leute es eben nicht
bleibt, ist groß. reagieren wie Tiere, die wittern, dass das mehr willig in Kauf nehmen?
SPIEGEL: Facebook und das Silicon Valley Erdbeben kommt, weil der Boden anfängt Precht: Genau da stehen wir jetzt ja. Die
stehen für einen ungetrübten Fortschritts- zu schwanken. Viele Menschen fürchten, Menschen merken, dass es tatsächlich Ent-
glauben. Trump für eine Glorifizierung dass das, was sie sich als Deutschland vor- scheidungsspielräume gibt. Komischer-
der Vergangenheit. gestellt haben, keinen Bestand mehr hat. weise lernen sie es am Beispiel des Daten-
Precht: Trump steht für Restauration. Und Und dass bis auf die Wetterkarte und die handels. Und auf einmal befindet sich die
nicht nur er, es drängt ja in der gesamten Fußballnationalmannschaft und blaue Politik, befindet sich die Demokratie in ei-
westlichen Welt eine neue Restauration an Autobahnschilder nicht viel übrig bleibt. ner Machtprobe mit den Konzernen, von
die Macht oder sitzt schon da. SPIEGEL: Finden Sie die Furcht lächerlich? denen man noch vor zwei Jahren gesagt
SPIEGEL: Je mehr die einen von Revolu- Precht: Ich empfinde Menschen, die Angst hat, die seien so unfassbar allmächtig, da
tion reden, desto wütender fordern die an- vor dem Verlust ihrer Heimatgefühle ha- könne man sowieso nichts machen. Immer
ben, nicht als seltsam. Ich halte das für mehr Menschen merken, dass die Digita-
* Richard David Precht: »Jäger, Hirten, Kritiker. Eine
Utopie für die digitale Gesellschaft«. Goldmann; 288
nachvollziehbar. Die Menschen lieben die lisierung nicht allein eine technisch-öko-
Seiten; 20 Euro. Vergangenheit, weil sie ein Teil ihrer eige- nomische Revolution ist, sondern dass sie
Das Gespräch führte der Redakteur Markus Brauck. nen Identität ist. ihre Lebensverhältnisse umwälzt. Und sie

78 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


DOMINIK BUTZMANN / LAIF

Silicon-Valley-Kritiker Precht: »Der Versuch, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern«

stellen die Frage: Was davon will ich ei- stalten. Damit wir nicht in eine Gesell- auch steuerbar ist – und genau die findet
gentlich – und was davon nicht? schaft kommen, in der ganz viele Men- sich in den Mechanismen des Silicon Val-
SPIEGEL: Und die Frage haben wir uns bis- schen abgehängt sind, müssen wir überle- ley. Es geht nicht mehr um Entscheidun-
lang nicht gestellt? gen, was wollen wir von der Digitalisie- gen, sondern um Reiz und Reaktion, um
Precht: Nein, bislang führen wir die Digi- rung haben und was nicht. Wir müssen Problem und Lösung.
talisierungsdiskussion rein technisch-öko- überlegen: Wo liegen die Grenzen? SPIEGEL: Warum ist das gleich das Ende
nomisch nach dem Motto: Wir dürfen SPIEGEL: Und was ist Ihre Antwort? der Freiheit?
nicht zurückfallen. Die Politik wiederholt Precht: Zunächst einmal sollten wir uns Precht: Mein Beispiel ist das »Flüchtlings-
immer dieselben Sätze: Wir müssen zu klarmachen, dass das Menschenbild des problem«. Oh, da ist ein Problem, das müs-
den führenden Ländern der Digitalisie- Silicon Valley nicht das der Aufklärung ist, sen wir lösen. Dann machen wir eine Ober-
rung gehören, wir brauchen mehr Start- nicht das Menschenbild, auf dem unsere grenze, und dann ist das Problem weg. Wir
ups. Und wir müssen im Kindergarten mit Demokratien beruhen. haben es aber mit einer Jahrhundertheraus-
dem Programmieren anfangen. Dass wir SPIEGEL: Die Aufklärung sagt, der Mensch forderung zu tun und nicht mit einem Pro-
die Digitalisierung wirtschaftlich nicht ver- ist frei und soll seinen Verstand benutzen. blem, das weg ist, wenn man es gelöst hat.
schlafen dürfen, ist natürlich richtig. Aber Precht: Das Silicon Valley folgt dem Men- In diesem Denkschema können wir das,
im Kindergarten mit Programmieren für schenbild der Kybernetik. Es sieht den was der Aufklärung wichtig ist, überhaupt
alle anzufangen ist in jeder Hinsicht Un- Menschen als einen lernenden Orga- nicht erfassen. Man muss nur einmal ver-
sinn. Millionen untalentierte ITler braucht nismus, der als Reflexmechanismus funk- suchen, seine Beziehung im Problem-Lö-
in der Zukunft niemand. Vieles, was da tioniert, nicht anders als eine Ratte im La- sungs-Schema zu betrachten oder das Ver-
diskutiert wird, ist nicht mehr als ein Ver- bor. Und auf genau die gleiche Weise ar- hältnis zu seinen Kindern: Da sieht man die
such, mit der Luftpumpe die Windrichtung beiten die Leute, die die Algorithmen bei Grenzen eines solchen Denkens. Alles, was
zu ändern. Was dagegen wirklich fehlt, Facebook programmieren. Wenn ich weiß, das Wesen des Menschen ausmacht, entzieht
sind die großen gesellschaftlichen Antwor- was dich interessiert, dann werde ich dir sich dem Schema Problem-Lösung. Auch
ten auf die Dinge, über die wir uns hier immer das empfehlen, was du magst. Auf in der Kultur. Welches Problem hat Kafka
gerade unterhalten. diese Weise kann ich dir nicht nur deine gelöst oder Mozart oder Rembrandt?
SPIEGEL: Welche Zukunft wir eigentlich Wünsche erfüllen, sondern ich kann deine SPIEGEL: Technische Lösungen sind doch
selbst wollen. Wünsche steuern. Und das ist die zentrale nichts Schlechtes, wenn sie verhindern,
Precht: Wir müssen nicht immer nur alles Erkenntnis der Kybernetik, dass jedes dass Menschen Fehler machen. Etwa beim
bloß mitmachen, sondern wir können ge- Ding oder Wesen, das vorhersagbar ist, autonomen Fahren oder in der Medizin.

79
Wirtschaft

Precht: Ja, das sind zwei Bereiche, in de- Da stellt sich erstens die Frage: Wollen die Erfolg weiter fortsetzen? Es gibt leider zu
nen ich die Digitalisierung bejahe. Wenn Menschen das überhaupt? Und die zweite viele Berufe, in denen man seinen Indivi-
es gelingt, dass weniger Menschen sterben Frage: Wie würde eine solche Gesellschaft dualismus nicht ausleben und seine Per-
– im Straßenverkehr oder durch Krankhei- ökonomisch funktionieren? Wir haben da sönlichkeit nicht kultivieren kann wie in
ten, dann ist das ein Fortschritt. Anderer- bislang noch keine wirkliche Blaupause. seiner Freizeit. Erst als die Freizeit erfun-
seits machen Fehler den Menschen auch SPIEGEL: Deutschland hat fast Vollbeschäf- den wurde, hat der Mensch überhaupt an-
erst liebenswert, das darf man nie verges- tigung. Wie wollen Sie da eine Debatte gefangen, darüber nachzudenken, wie er
sen. Ein fehlerfreier Mensch wäre nicht über Massenarbeitslosigkeit irgendwann leben will – jedenfalls in den reichen Län-
sehr sympathisch. in der Zukunft führen? dern. Bei meinen Großeltern galt noch die
SPIEGEL: Davon sind wir weit entfernt. Precht: Die Zahl der Arbeitslosen wird auf Devise, das Leben ist kein Wunschkonzert.
Precht: Aber es ist die Vision des Silicon jeden Fall stark steigen. Und da ist der Fach- Und diese Frage, was wir eigentlich wollen,
Valley. Es will und verspricht den Super- kräftemangel überhaupt kein Gegenargu- wird immer größeren Raum bekommen.
menschen. Und das ist keine Position der ment. Wir werden in einer Zukunft leben, SPIEGEL: Zu einer positiven Zukunft wird
Spinner, das wird sehr breit vertreten, das in der es viele Millionen Menschen ohne das aber nur, wenn diese Arbeitslosigkeit
ist der Weg. Dass wir mit der Technik ver- Jobs geben wird und zugleich einen Fach- nicht zugleich Armut bedeutet.
schmelzen, dass wir Teil einer Cloud wer- kräftemangel, weil sehr viele, die ihre Jobs Precht: Deshalb werden wir über kurz oder
den und dass sich der Mensch aus seinen verlieren, nicht in der Lage sind, dort zu lang ein bedingungsloses Grundeinkommen
biologischen Fesseln sprengt. arbeiten, wo es welche gibt. Ein Busfahrer, einführen müssen. Und das darf nicht bloß
SPIEGEL: Vielleicht wäre das wunderbar. der seinen Beruf verliert, wird nicht an- eine Ruhigstellungsprämie sein, sondern es
Precht: Ja, das wäre wunderbar, wenn das schließend Virtual-Reality-Designer. Wenn muss die Menschen in die Lage versetzen,
wirklich das Problem des Menschen wäre. man wissen will, wo Arbeitslosigkeit zu er- sich auszusuchen, was sie arbeiten wollen.
Aber es ist die Antwort auf eine nicht ge- warten ist, dann muss man nur schauen, Es muss ein Zugewinn an Freiheit sein.
stellte Frage. Die Probleme der Menschen wer in der deutschen Industrie für das be- SPIEGEL: Arbeit ist nicht nur Pflicht, son-
sind ganz andere. Wir schaffen es nicht, dingungslose Grundeinkommen ist. Joe dern auch sinnstiftend.
trotz gewaltiger Überproduktionen die Kaeser von Siemens, Tim Höttges von der Precht: Ich sehe ja nicht eine untätige Ge-
Weltbevölkerung zu ernähren. Wir schaf- Telekom. Weil die ziemlich genau wissen, sellschaft vor mir. Die Leute wollen weiter
fen es nicht, die Kriege auszurotten. Wir dass sie einen ganz erheblichen Teil ihrer was tun, und sie werden weiter was tun.
schaffen es nicht, mehr internationale So- Belegschaft in der Zukunft nicht mehr brau- Aber es wird im Vergleich zu heute weni-
lidarität zu zeigen. Das scheinen mir die chen, und das gilt natürlich auch in großem ger um Geld und Karriere gehen, sondern
Probleme des Menschen zu sein, und ich Stil für Banken und Versicherungen. Diese mehr um gemeinschaftliche Werte. Da
sehe nicht, was das Silicon Valley zu ihrer Arbeitslosigkeit dürfte größer werden als wird sich etwas gänzlich Neues entwickeln.
Lösung beiträgt. Ich kenne in meinem pri- alles, was wir in der Bundesrepublik jemals Es werden jedenfalls viele Tätigkeiten ent-
vaten Umfeld niemanden, der gern Super- als Arbeitslosigkeit gehabt haben. stehen in Bereichen, die keine klassische
mensch werden will, außer ein paar klei- SPIEGEL: Ein düsteres Szenario. Lohn- und Erwerbsarbeit mehr sind. Und
nen Kindern vielleicht. es wird eine zentrale Aufgabe des Staats
SPIEGEL: Die allgemeine Vision ist doch sein, dafür zu sorgen, dass wir nicht in eine
nicht der Supermensch, sondern ein Mensch, Zweiklassengesellschaft zerfallen. Einen
dem Roboter, Maschinen und künstliche »Das Grundeinkommen Arbeitsadel, der seine Kinder auf Privat-
Intelligenz eine Menge Arbeit abnehmen. muss es Menschen ermög- schulen schickt, und ein Millionenheer an
Precht: Der Mensch soll zur Mensch-Ma- Abgehängten, die durch eine immer
schine werden, ja. Dahinter steht ja gerade
lichen, sich auszusuchen, ausgefuchstere Unterhaltungsindustrie be-
die Vorstellung, der Mensch müsste opti- was sie arbeiten wollen.« spaßt werden, durch ein universelles Las
miert werden, und die hat eine finstere Ver- Vegas.
gangenheit in der Geschichte der abend- SPIEGEL: Wir haben die Chance zu ent-
ländischen Kultur und Philosophie. Die ist Precht: Das Problem ist, dass diese Sze- scheiden, ob die digitale Zukunft ein men-
uralt. Das beginnt bei Platon, da soll der narien allen Angst machen. Auch der Poli- schenverachtender Albtraum wird oder
Mensch klüger, weiser und vor allem ge- tik. Und dass sie keine positiven Szenarien ein Traum, in dem alle weniger arbeiten,
rechter werden. Und dann gab es diese For- dagegensetzen kann. Und wie soll man aber keiner weniger hat?
men, künstlich und mit Gewalt auf den mit einem Thema Wahlen gewinnen, wenn Precht: Es wird weder die Hölle noch das
Menschen einzuwirken, im Stalinismus man nichts versprechen kann? Paradies. Aber wir können uns entschei-
und bei Mao. Ich sehe das Silicon Valley in SPIEGEL: Was ist Ihre Vision? den und müssen nicht der Logik des Sili-
dieser totalitären Tradition, in dieser Vor- Precht: Die Entwicklung von ihrer positi- con Valley folgen, nach der alles schon vor-
stellung, das ist der Imperativ, der Mensch ven Seite zu sehen. Dass den Menschen gezeichnet ist. Der eigentliche Kern der
müsse geändert oder optimiert werden. Da- die Arbeit abgenommen wird, ist ja ein ur- Digitalisierung besteht darin, dass die Leis-
mit liegt es vom Menschenbild viel näher alter Menschheitstraum, es gibt ihn schon tungs- und Arbeitsgesellschaft, wie wir sie
beim Stalinismus als bei unseren freiheit- bei Aristoteles. Er erscheint uns nur irreal, bisher kannten, zu Ende geht. Und das ist
lichen Demokratien. Ich bezweifle auch, weil wir in einer Arbeits- und Leistungs- ein epochaler Umbruch. Bislang haben wir
dass der Weg in die Herrschaft der Maschi- gesellschaft leben, die wir für ewig halten – das Problem maßlos verniedlicht.
nen ökonomisch funktioniert. die es aber auch gerade mal 200 Jahre gibt. SPIEGEL: Herr Precht, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Weil die Arbeit verschwindet? SPIEGEL: Mehr Freizeit für alle? für dieses Gespräch.
Precht: Das Ziel der Digitalisierung be- Precht: Die ganze Entwicklung besteht
steht darin, so viel wie möglich automati- doch darin, dass die Menschen immer we-
siert von Maschinen machen zu lassen, von niger arbeiten. Zu Beginn der ersten in- Video
Precht im Zeitraffer
Robotern, durch künstliche Intelligenz. dustriellen Revolution waren es 80 Stun-
Nicht alles, aber alles, was irgendwie geht. den wöchentlich, heute ist es in Deutsch- spiegel.de/sp172018precht
Und wenn man das täte, hätte die Hälfte land im Schnitt nicht mal die Hälfte davon. oder in der App DER SPIEGEL
der heute Beschäftigten keine Arbeit mehr. Und warum soll sich dieser Weg nicht mit

80 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


auf gut 140 000 Euro im Jahr kommen,
dümpeln ihre Sun-Express-Kollegen am
unteren Ende der Skala – bei rund 82 000
Euro. Dabei übernehmen sie überwiegend
anspruchsvolle Langstreckeneinsätze.
Eher kurzgehalten werden auch Cock-
pitkräfte der ehemaligen Air-Berlin-Toch-
ter LGW. Sie kommen im Schnitt auf bis
zu 15 Prozent weniger als Piloten des deut-
schen Eurowings-Ablegers, und das, ob-
wohl viele von ihnen statt Turboprops neu-
erdings Airbusse vom Typ A320 steuern.
Die größte Schieflage herrscht allerdings
bei den rund 240 Flugzeugführern des ös-
terreichischen Eurowings-Ablegers. Weil
es dort ebenfalls nach wie vor keine Tarif-
verträge gibt, zerfällt die Belegschaft in-
zwischen in ein halbes Dutzend Gruppen,
die je nach Dienstantritt und Vorbeschäf-
tigung unterschiedlich bezahlt werden.
Das sorgt für erheblichen Unmut.
Eurowings-Jets: Himmelschreiende Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen Vergleichsweise fürstlich werden ehe-
malige Piloten von Austrian Airlines ent-
lohnt. Verlierer sind ehemalige Lufthansa-

Schieflage
errichten, wie sie bei der Lufthansa und Flugschüler, die vom Konzern nicht über-
anderen Töchtern üblich sind. Beim flie- nommen wurden und deshalb vor drei
genden Personal ist das allerdings nur über Jahren in Wien notgedrungen zu Dum-

im Cockpit
den Abschluss eines Tarifvertrags möglich. pinggehältern anfingen.
Die SunExpress-Führung weigert sich Heute wären sie besser dran. Weil in
bislang jedoch, Verhandlungen mit den Österreich, aber auch anderswo, Piloten
Gewerkschaften aufzunehmen. Deshalb fehlen, zahlt Eurowings Kapitänen neuer-
Luftfahrt Das schnelle Wachstum versuchten VC und UFO auf direktem dings Anwerbeprämien von 18 000 Euro
des Lufthansa-Billigablegers Weg, einen Betriebsrat zu gründen. und überproportional hohe Gehälter. Co-
Das hat das Gericht am Mittwoch ver- Piloten erhalten immerhin noch 10 000
Eurowings spaltet die Beleg- boten – aus formalen Gründen. Die Pilo- Euro zusätzlich und ebenfalls eine bessere
schaft. Wer wie viel verdient, tengewerkschaft will nun Berufung ein- Vergütung.
entscheiden Zufall und Willkür. legen. Trotzdem können sich die VC-Ver- Die Einstellungsprämien führen dazu,
treter als Sieger fühlen – in moralischer dass viele Cockpitkräfte, die mehr Erfah-
Hinsicht. Denn der Prozess zeigt exempla- rung haben und schon länger dabei sind,

P rozesse vor deutschen Arbeits-


gerichten sind in der Regel eher un-
spektakulär. Meist klagen geschasste
Mitarbeiter gegen ihre Kündigung. Hin
risch, welche himmelschreienden Unter-
schiede bei den Arbeitsbedingungen im
Vergleich zur Lufthansa, aber auch inner-
halb des Eurowings-Verbunds herrschen.
weniger verdienen als ihre aktuell einge-
stellten Kollegen. Das verstößt gegen ei-
nen ehernen Grundsatz der Zunft, nämlich
dass derjenige, der mehr Flugstunden auf-
und wieder wehrt sich auch eine Firma ge- Seit Konzernchef Carsten Spohr vor gut zuweisen hat, auch mehr in der Tasche ha-
gen untreue oder übergriffige Angestellte. drei Jahren beschloss, einen hauseigenen ben sollte.
Das Verfahren mit dem Aktenzeichen Wettbewerber zu installieren, um auch die Noch bizarrer ist die Situation für Pilo-
14 BVGa 206/18, über das ein Richter am eigenen Piloten zu disziplinieren und die ten , die mit einem österreichischen Kolle-
Frankfurter Arbeitsgericht am Mittwoch Urzelle im kostengünstigen Wien anzusie- gen fliegen, der an einem deutschen Stand-
entschieden hat, bildet da eine Ausnahme. deln, gilt Eurowings als Erfolgsgeschichte. ort wie München stationiert ist. Obwohl
In dem Streit geht es vordergründig um Unter dem Dach der Zweitmarke do- beide denselben Pass haben, kann es sein,
die Einrichtung eines Betriebsrats bei der cken immer neue Flugbetriebe an, darun- dass der Co-Pilot aus Bayern mehr be-
Firma SunExpress, einer gemeinsamen ter Gewächse wie die frühere Billigtochter kommt als der Kapitän aus Salzburg. Ein
Tochter von Lufthansa und Turkish Air- Germanwings, der belgische Ableger SN neuer, Ende vergangenen Jahres abge-
lines. Sie bedient für den Konzern-Billig- Brussels oder SunExpress. schlossener Tarifvertrag für den deutschen
ableger Eurowings Langstreckenziele wie Auch Teile der insolventen Air Berlin Ableger von Eurowings sieht das vor.
Miami oder Kuba. wie die Firma LGW (Luftfahrtgesellschaft Gerecht ist das alles nicht, aber angeb-
Tatsächlich aber geht es um viel mehr: Walter) haben dort Unterschlupf gefun- lich alternativlos. Das behauptet zumin-
nämlich um die Frage, was die Lufthansa den. »Wir stemmen zurzeit das größte dest ein Firmensprecher.
ihren Mitarbeitern alles zumutet, um mit Wachstum, das der deutsche Luftverkehr »Vorrang hat bei Eurowings schnelles
Wettbewerbern wie Ryanair oder Easyjet jemals erlebt hat«, schwärmt der zustän- Wachstum, um Marktführern auf Augen-
mitzuhalten, und ob sie bereit ist, dafür dige Lufthansa-Vorstand Thorsten Dirks. höhe begegnen zu können«, erklärt er.
angestammte Sozialstandards aufzugeben. Doch das hat offenbar seinen Preis. Und Erst danach beginne »Phase zwei«, die
Die Pilotengewerkschaft Vereinigung den zahlen vor allem die Mitarbeiter, wie »Konsolidierung der Flugbetriebe«. Dafür
Cockpit (VC) und die Kabinengewerk- das Beispiel der Piloten exemplarisch zeigt. gebe es allerdings »noch keine konkreten
schaft UFO (Unabhängige Flugbegleiter- Während Germanwings-Flugzeugführer Pläne«.
organisation) versuchen seit Jahren, bei noch immer ähnlich viel verdienen wie Dinah Deckstein
SunExpress Mitbestimmungsgremien zu ihre Lufthansa-Kollegen und im Schnitt

81
Medien

Im Stahlgetwitter

Karrieren Seitdem Julian Reichelt bei »Bild« das Kommando übernommen hat,
ist das Blatt im Kampfmodus. Wie aus einem besonnenen Reporter
ein journalistischer Grenzgänger wurde. Von Isabell Hülsen und Alexander Kühn

82
J
ulian Reichelt war Mitte zwanzig, che Termine mit ihm finden statt, andere Bei Springer laufen zu diesem Zeitpunkt
als Zeta ihn eroberte. »Die Kälte lässt er ohne Absage platzen. Die Presse- längst Wetten, wie lange Koch noch durch-
eint unsere klirrenden Herzen«, stelle bremst. hält. Die beiden können nicht miteinan-
schrieb er im Winter 2005. »Unsere Der Verlag will einfach nur Ruhe, erst der, was sie an diesem Abend gut über-
fröstelnden Blicke verstehen sich.« recht nach dem PR-Desaster im Februar, spielen. Sechs Wochen später schmeißt
Zeta war sein Hund. Ein Labradormäd- als der Machtkampf zwischen Reichelt und Koch hin.
chen. Reichelt widmete ihr – und sich – Tanit Koch, der ihm unterstellten Chefin »Bild« ist jetzt die »Bild« von Julian Rei-
im Boulevardableger »Tier Bild« eine Ko- der gedruckten »Bild«, eskalierte und mit chelt. Seitdem er das Blatt macht, sieht
lumne: »Reichelt streichelt«. deren Abgang endete. Springer liebt große eine normale Woche so aus:
Der Leser erfuhr von Zetas Faible für Erzählungen, doch jene so schön ersonne- Am Montag macht »Bild« auf mit »Bis
Pasta mit Scampi (»verfressen wedelndes ne Geschichte von der klugen jungen Frau, zu 300 Prozent mehr Angriffe – Messer-
Wunder«). Manchmal rollte sie sich in Rei- die dem Laden ein neues Image geben soll- Angst in Deutschland«. Dienstag folgen
chelts Mantel (»Mein Geruch ist ihre Höh- te, hatte kein Happy End. Hartz-IV-Banden, die »dreist betrügen«.
le«). Kränkelte Zeta, war jeder Kilometer Berlin, Mitte Dezember. Reichelt steht Am Mittwoch die »Razzia bei Deutsch-
zum Tierarzt »ein Kilometer bewusster an der Bar des Springer-Journalisten-Clubs, lands reichsten Hartz-IV-Betrügern«. Don-
Liebe«. Sitz, Platz. »Pfote diem!« das Personal gießt nach, kaum dass das nerstag ist es der »EU-Irrsinn mit unserem
Zeta ist lange tot, begraben unter einer Bierglas leer ist. Gerade hat Vorstandschef Kindergeld«, das ins Ausland fließt. Frei-
Eiche. Und Reichelt befehligt heute einen Döpfner der Presse seine Strategie vorge- tag dann doch nur: »Skandal um SS-Lied
Kettenhund. So hatte Verleger Axel Cäsar stellt, in Anwesenheit der Springer-Chef- auf Heino-Platte«.
Springer seine Schöpfung »Bild« einst be- redakteure. Reichelt saß in einer der hinte- Die ideale Seite eins besteht aus: Hetze
zeichnet. Gestreichelt wurde da noch nie. ren Reihen und twitterte. gegen, Skandal um, Jagd auf. Und wenn
Doch unter Oberchefredakteur Reichelt Der holzvertäfelte Klub im 19. Stock es Wildschweine sind. Stimmung machen,
ist »Bild« so aggressiv wie lange nicht. des Verlags ist der heiligste Ort im Haus. Angst schüren, das volle Programm.
Es wird getrieben und gejagt, mal geht Hier oben war einst auch das Büro des Ver- Harmlos war »Bild« nie. Man nahm sie
es gegen Hartz-IV-Betrüger, mal gegen aus- legers Axel Springer, mit Blick über die nur lange Zeit nicht mehr ernst. Angefan-
ländische SPD-Mitglieder. Was »Bild« an Stadt, die er so liebte. Reichelt, aufgewach- gen hatte das mit der Spaßgesellschaft der
Auflage verloren hat, macht Reichelt durch sen in Hamburg, verachtet Berlin: »Arm, Neunzigerjahre, Harald Schmidt zog viele
Gebrüll wieder wett. depressiv, unfähig.« Das ist bei ihm oft so: seiner Gags aus »Bild«. Sie war aufge-
Reichelt ist die Mensch gewordene Was alle gut finden, findet er blöd. Und stiegen vom Bauarbeiterblatt zum Amü-
»Bild«. Gerade mal 37 Jahre jung, steht er umgekehrt. sement für Akademiker, die angeblich mit
für einen Boulevardjournalismus, von dem ironischer Distanz lasen.
man dachte, dass er selbst dem Springer- Wer zum ersten Mal mit Reichelt redet, Chefredakteur Kai Diekmann, der 15
Verlag peinlich geworden sei. Reichelt ist irritiert, dass er den Blick nicht lange Jahre lang amtierte, wurde für die Zeile
macht es den Kritikern der »Bild« wieder halten kann. Er hat die Augen überall und »Wir sind Papst« gefeiert. Er verlegte Bi-
leicht, sie zu hassen. nirgends, als hätte er sich das Ziel gesetzt, beln, verschenkte Stücke der Berliner
Nicht nur das Blatt ist im ständigen dauernd die Welt als Ganzes im Visier zu Mauer, verlieh dem Dalai Lama den
Kampfmodus, auch der Chefredakteur. haben. Selbst wenn er einen anschaut, deu- »Bild«-Medienpreis. Selbst über seine Ver-
Vor allem auf Twitter, wo Reichelt gegen tet nichts auf ein Interesse an seinem ehrung für Helmut Kohl konnte man
Russland schießt oder gegen den Kinder- Gegenüber hin. Er fragt einen auch nichts. irgendwann lächeln. Der späte Diekmann
kanal Kika. Auch mitten in der Nacht. Rei- Reichelt strahlt eine kalte Ruhe aus. Er hatte so viel Selbstironie, dass man über
chelt im Stahlgetwitter. Recht hat immer redet mit leiser Eindringlichkeit, seine Ton- das, was sein Blatt täglich anrichtete, groß-
nur einer: er. Wer anderer Meinung ist, hat lage variiert kaum. Zugleich hat er eine zügig hinwegsah.
es einfach nicht verstanden. hibbelige Art zu rauchen oder zu trinken. Die schmutzigen »Bild«-Methoden, die
Die öffentliche Figur mag leicht zu Eines seiner zwei Handys bespielt er fast der Journalist Günter Wallraff in den Sieb-
durchschauen sein, als Person ist er ein immer. zigerjahren enthüllt hatte, schienen ver-
Rätsel. Deckt sich der wild gewordene Bier, Zigarette, Bier. Reichelt sitzt auf gessen. Offenbar auch von Wallraff selbst.
Twitterer mit dem Menschen Reichelt? einem Ledersessel und sortiert mal kurz 2016 trat er gegen Diekmann im Tisch-
Wie viel ist Pose, wie viel Überzeugung? das Weltgeschehen. Trump ist gar nicht so tennis an. Diekmann verlor. Super PR für
Und wie schafft es jemand wie er so weit schlimm. Putin dafür umso schlimmer. »Bild«.
nach oben? Whistleblower Edward Snowden ist ein Wer »Bild« las, schämte sich nicht mehr
Unter dem Vorstandsvorsitzenden Ma- Verbrecher. Bei Reichelt herrscht immer dafür. Mit ihrer flüchtlingsfreundlichen
thias Döpfner ist Axel Springer ein digitales noch Kalter Krieg. Kampagne »Refugees welcome« wurde
Vorzeigeunternehmen geworden. Der Ver- Irgendwann kommt Tanit Koch dazu die Zeitung regelrecht sympathisch. Rei-
lag präsentiert sich als cooles Riesen-Start- und nimmt die Couch gegenüber ein. Wäh- chelt hatte die Kampagne mitinitiiert, trieb
up, das Frauen fördert und Führungskräfte rend Reichelt vorn an der Kante sitzt, in »Bild« die Freundlichkeit aber bald wieder
auf Entdeckungsreise ins Silicon Valley Habtachtstellung, lehnt sie sich zurück, aus, und die Ironie auch.
schickt. Doch Reichelts Aufstieg zeigt, dass fast liegt sie, in der Hand ein Glas Rotwein. Reichelt nimmt alles ernst. Vor allem
der Verlag – vor allem »Bild« – nicht abge- Koch, 40, ist da noch Chefredakteurin sich selbst. Er inszeniert sich als Moralist.
legt hat, was Springer über Jahrzehnte im der gedruckten »Bild«. Sie ist höflich, lä- Im Messen mit zweierlei Maß aber ist er
Innersten prägte: Korpsgeist, Skrupellosig- chelt. Wer mit ihr spricht, vergisst nach unbestrittener Meister.
keit und der unbedingte Wille zur Macht. wenigen Sätzen fast, für welches Blatt sie »Bild« fühlt mit den Kindern in Syrien
»Mach ich gern«, mailt Reichelt im Ok- arbeitet. Seit Anfang 2016 ist sie die erste – und spielt mit Ressentiments gegen Mus-
tober, eine halbe Stunde nachdem ihn die Frau an der Spitze der Zeitung, doch Rei- lime.
Anfrage erreicht hat, ob er sich für ein Por- chelt ist ihr übergeordnet. Er ist Chef der »Bild« veröffentlicht Spitzengehälter
trät begleiten lasse. Die folgenden Monate Onlineausgabe und als Sprecher der von Fußballern und Konzernchefs – Rei-
werden zum Verwirrspiel. Reichelt will. »Bild«-Chefredaktionen seit vergangenem chelt aber versucht, das Medienmagazin
Dann wieder nicht. Plötzlich doch. Man- Jahr auch die oberste Stimme. »Kress« davon abzubringen, sein geschätz-

Fotos: Urban Zintel / DER SPIEGEL 83


Medien

tes Einkommen zu benennen. Das gefähr- antwortet stundenlang nicht, schließlich zu fassen. Für ein Interview in Ruhe
de die Sicherheit seiner Familie. kommt eine kurze SMS: »Yes!« schlägt er ein Treffen an der Bar seines
Als die Kanzlerin die Essener Tafel kri- Die gemeinsame Reise nach München Hotels vor, gegen 23 Uhr. Doch er kommt
tisiert, weil diese entschieden hatte, fürs war Reichelts Idee. Man könne ihn doch nicht. Sagt nicht ab. Auch das in Aussicht
Erste keine weiteren Ausländer aufzuneh- zwei Tage lang auf der Sicherheitskonfe- gestellte gemeinsame Frühstück fällt aus.
men, empört sich »Bild«: »Diejenigen, die renz begleiten, im Hotel Bayerischer Hof. Anrufe und Nachrichten ignoriert er. Um
von Chauffeuren gefahren werden, dre- Dort schwirren die Mächtigen und Wich- 12 Uhr mittags ein Lebenszeichen, gegen
schen auf jene ein, die ehrenamtlich Essen tigen umeinander, Regierungschefs aus 14 Uhr die Ansage, man möge in Schu-
ausfahren.« Reichelt wird von zwei Chauf- aller Welt, Generäle und Admiräle. Es geht mann’s Tagesbar kommen. Später wird
feuren im Mercedes durch Berlin gefahren. um Krieg und Frieden, Geheimdienste und man mit ihm nach Berlin fliegen. Dass er
Wenn man Reichelt hört, ist »Bild« ein Diplomatie. Reichelt liebt es. einen für den Abend zu einer »Bild«-Ber-
journalistisch sauberes, menschenfreundli- Er steigt aus dem Flugzeug, eine schwar- linale-Party eingeladen hat, muss ihm aller-
ches Blatt, die schlimmen Jahre sind vorbei. ze Tasche über die Schulter geworfen. Er dings entfallen sein, die Veranstaltung sei
Die ehemals nackten »Bild«-Girls werden sagt kurz Hallo, dann rennt er vorweg, ein jetzt jedenfalls überbucht, tue ihm leid.
jetzt nur noch im Bikini gezeigt. Paparaz- Handy am Ohr. Er muss jetzt erst mal Paul Es ist nicht klar, ob es eine Art psycho-
zi-Fotos von Promis will Reichelt ohne de- Ronzheimer anrufen, Chefreporter bei logische Kriegsführung ist. Eine Demons-
ren Zustimmung nicht mehr drucken: »Ich »Bild« und Reichelts bester Kumpel. Der tration seiner Macht. Oder mangelnde Kin-
will mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen, ist schon auf der Konferenz. derstube.
wo die Privatsphäre von Leuten beginnt.« Reichelt muss ihm eine Geschichte er- Im Bayerischen Hof. Anzugträger, Da-
Wer jedoch ein Verbrechen begangen hat, zählen. Die Polizei habe ihn vorhin am men im Kostüm. Und Reichelt. Er hat ein
darf auf seine Milde nicht hoffen. Flughafen Berlin-Tegel angehalten, weil er zerknittertes olivgrünes Sakko an, aus sei-
Anfang März zeigte »Bild« unverpixelt eine Sonnenbrille getragen habe und eilig nem Hemd lugt das Brusthaar. Die Jeans
einen älteren Herrn auf einer Parkbank: aus einer Menschentraube weggelaufen sind ausgebeult von seinen Handys, die
Dieter Degowski. Der Geiselgangster von sei. Die Beamten hätten geglaubt, er sei Arme verschränkt, die Schultern zurück-
Gladbeck war gerade aus dem Gefängnis auf der Flucht. Dabei habe er nur sein Gate genommen, Bauch raus.
entlassen worden, 27 Jahre nach seiner gesucht. Reichelt lacht. Es ist ein idealer Tag, um mit Reichelt
Verurteilung. Vermutlich hätte ihn auf der Er hantiert jetzt mit beiden Handys. über »Bild« zu reden. Das Blatt macht
Straße niemand erkannt. Nun kennt ihn Schreibt mit dem BlackBerry, spricht ins auf mit einer angeblichen »Schmutz-Kam-
die halbe Republik. Eine Chance auf Re- iPhone. Dessen Sperrbildschirm zeigt einen pagne bei der SPD«. Ein Russe namens
sozialisierung sieht anders aus. der »Tomahawk«-Marschflugkörper, mit Juri soll Juso-Chef Kevin Kühnert angebo-
Wer Anspruch auf Schutz hat, entschei- denen die USA vor einem Jahr Syrien an- ten haben, dessen Kampagne gegen die
det nicht der Pressekodex, sondern Rei- gegriffen haben, im Namen der Gerechtig- Große Koalition zu unterstützen, durch
chelt. Er ist Gesetzgeber und Richter, keit. Das jeden Tag zu sehen gibt ihm ein Stimmungsmache auf Facebook. So stehe
zweite bis vierte Gewalt. Und »Bild« gutes Gefühl. es in »brisanten E-Mails«, zugespielt von
immer noch zu mächtig, um nicht gefähr- Reichelt muss im Flughafen noch schnell einem »anonymen Informanten«.
lich zu sein. zu Edeka. Er greift nach zwei Flaschen Die Mails kommen nicht aus Russland
Bier. »Kleiner Scherz«, sagt er und kauft und von Kühnert, sondern vom Satire-
Zur Hochform lief »Bild« nach den Kra- einen Bio-Trinkjoghurt, eine Flasche stilles magazin »Titanic«. Doch das weiß Reichelt
wallen beim G-20-Gipfel in Hamburg auf. Wasser und Zigaretten. zu dem Zeitpunkt nicht. Noch genießt er
Da wurde die Zeitung zum Pranger um- Es wird an diesem und am folgenden seinen vermeintlichen Coup. SPD-Gene-
funktioniert. Auf dem Titelblatt fahndete Tag Gespräche geben, im Gewühl der Kon- ralsekretär Lars Klingbeil steht neben ihm
sie unter anderem nach dem 19-jährigen ferenz. Reichelt wirkt dabei immer wie auf und sagt, wenn die Geschichte stimme,
Kevin, der Steine in Richtung eines Was- der Flucht. Ein Eichhörnchen wäre leichter habe die SPD jetzt ein Problem.
serwerfers geschmissen hatte. Er stellte Über den 28-jährigen Kühnert redet Rei-
sich daraufhin der Polizei. Reichelt twit- chelt wie über ein Kind. Er gibt zwar zu,
terte: »Meine Prognose: Das macht Kevin man wisse nicht, ob die Sache so stimme,
nicht noch mal.« Er sei froh, sagt Reichelt und das stehe ja auch im Text. Die »Bild«-
heute, »dass unsere Berichterstattung Aus- Schlagzeile mit der »Schmutz-Kampagne«
wirkungen hatte«. findet Reichelt trotzdem okay. Das Lebens-
Aber weil Reichelt ja ein Guter ist, hat motto von Dieter Bohlen scheint auch sei-
er den jungen Mann angerufen und ihm nes zu sein: »Wenn jemand ein Problem
einen Job bei »Bild« angeboten, wenn sein mit mir hat, kann er es gerne behalten –
Gerichtsverfahren abgeschlossen ist – es es ist ja seins.« Der Presserat wird die Küh-
soll ein Resozialisierungsangebot sein: nert-Story später als »schweren Verstoß
»Man muss helfen, wenn man die Möglich- gegen das Wahrhaftigkeitsgebot« rügen.
keit dazu hat.« Am Abend verabschiedet sich Reichelt,
Ein Freitagvormittag im Februar. Flug- er gehe noch essen. Es sei kein »Bild«-Din-
hafen München. Warten auf Julian Rei- ner. Nur ein Treffen mit einer Handvoll
chelt. Man hat in den Tagen zuvor ein hal- Freunden. Es kommen, wie man später er-
bes Dutzend SMS und E-Mails verschickt, fährt: der österreichische Bundeskanzler
um zu erfahren, ob man wie geplant zu- Sebastian Kurz, Verteidigungsministerin
sammen von Hamburg nach München flie- Ursula von der Leyen, Kiews Bürger-
ge, ob er überhaupt komme. Am Donners- meister Vitali Klitschko, Ex-Grünen-Chef
tagabend dann die Nachricht, dass er aus Cem Özdemir und SPD-Staatssekretärin
Berlin anreise, danach wieder Funkstille. Sawsan Chebli.
Ob man sich wenigstens ein Taxi in die Collage mit »Bild«-Schlagzeile Um 22.59 Uhr twittert Ex-»Bild«-Chef
Stadt teilen solle, um zu reden? Reichelt Amüsement für Akademiker Diekmann aus dem Lokal, »das beste Late-

84 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


night-meeting« der Sicherheitskonferenz
sei das von »Bild«, »Congrats, @jreichelt«.
Reichelt wird am folgenden Tag sagen, die
Rechnung für den Abend habe er privat
bezahlt, 980 Euro, wenn man es genau
wissen wolle.
Reichelt ist ein »Bild«-Kind. Vater Hans-
Heinrich leitete eine Zeit lang als Stellver-
treter die Lokalredaktion Berlin, Mutter
Katrin war dort Volontärin. Beide haben
den Boulevardjournalismus hinter sich ge-
lassen. Mutter Reichelt vertreibt gluten-
freie Backwaren. Der Vater hat ein Steak-
buch herausgebracht. Auf der Plattform
globulix.net schreiben beide für und über
Menschen, die auf die Heilkraft von Kü-
gelchen schwören.
Als Siebenjähriger hielt Julian Reichelt
seine erste »Bild« in der Hand, die Berich-
te über die Barschel-Affäre sind ihm bis
heute in Erinnerung. Reichelt sagt, »Bild«
habe damals einen »großen Zauber« auf
ihn ausgeübt.
Mit 17 erfindet er seine eigene »Bild«.
In der Schülerzeitung, die er am Gymna-
sium in Hamburg-Othmarschen gründet,
gibt es große Fotos und knallige Über-
schriften. Die Redaktionskonferenzen fin-
den im elterlichen Wohnzimmer statt. An
eine Schlagzeile kann sich Reichelt noch
erinnern. In der Nähe der Schule waren
drei Autos aufgebrochen worden. Er titel-
te: »Welle der Gewalt«.
Seine Kommentare von damals könnten
heute in »Bild« stehen: »Unser Erbe heißt
Auschwitz«, schreibt Reichelt, oder: »Mi-
lošević ist ein Verbrecher. Wer sich mit
ihm an einen Tisch setzt, gibt das falsche
Zeichen an Diktatoren in aller Welt.«
Schüler Reichelt kleidet sich, wie man
Journalisten aus alten Filmen kennt, mit Reichelts Bürotisch: »Mit 17 wusste ich, diesen Job will ich«
Trenchcoat und Hut, raucht Zigaretten. Er
trägt keine Strümpfe, auch nicht im Winter.
Er zelebriert das Unangepasste.
Sein Ehrgeiz sei damals schon aufgefal- Reporter hätte er auch bei jedem anderen getrieben ist vom Ehrgeiz, als Erster vor
len, sagen Mitschüler. Reichelt hat zu allem Blatt Karriere machen können. Ort zu sein. Aber besonnen. Und hilfs-
eine Meinung und hält damit nicht hinterm Was ihn an »Bild« von Anfang an faszi- bereit. Der auf den staubigen Straßen im
Berg, auch gegenüber Lehrern nicht. Er niert habe, sei die »Geisteshaltung« gewe- Irak mit Kindern Fußball spielt. Der auch
spuckt große Töne, hat aber auch was drauf. sen. Was er damit meint? »Dass ›Bild‹ mal weint, wenn er mit seinen Eltern tele-
Ähnlich beschreiben ihn heute »Bild«- groß denkt.« Größer denkt nur Reichelt. foniert. Und nach der Rückkehr aus den
Kollegen. Er hat immer schon alles gesehen, Er sagt, er habe schon immer »Bild«-Chef vom Tsunami zerstörten Küstenorten Thai-
alles erlebt. Wenn jemand einen neuen Film werden wollen. »Mit 17 wusste ich: Diesen lands seine dreckigen Hemden weg-
geschaut hat, hat er zwei geschaut. Guckt Job will ich.« schmeißt, weil er das Gefühl hat, den Lei-
jemand die erste Folge einer US-Serie, chengestank darin nie mehr loszuwerden.
kennt er bereits die ganze Staffel. Reichelts Aufstieg in die Chefredaktion Über seine Zeit als Kriegsreporter hat
Reichelt bleibt Springer fast immer treu. führt durch den Schützengraben. Er war Reichelt mit Ende zwanzig ein Buch ge-
Als Gymnasiast ist er Praktikant bei »Bild« nicht beim Bund, schuld war eine Rücken- schrieben. Auf dem Umschlag ist er in
und bei Springer in New York. Er ist auf verletzung, zugezogen beim Skifahren. Da- Schutzweste vor einem Haufen Sandsäcke
der Axel-Springer-Journalistenschule und bei wäre er gern Gebirgsjäger geworden. zu sehen. Es ist nicht der verbissene Rei-
danach fast durchgehend bei »Bild«. Bis Er lernt den Krieg als Reporter kennen, chelt von heute, sein Blick ist einfühlsam.
auf knapp zwei Jahre, in denen er frei für mit der US-Armee in Afghanistan und im Und müde.
»Park Avenue« schreibt, das inzwischen ein- Irak. Die Soldaten sind so alt wie er, Mitte Das Buch ist beeindruckend; wer Rei-
gestellte People-Magazin von Gruner+Jahr, zwanzig. Einer von ihnen stirbt vor Rei- chelt nur von seinen Grabenkämpfen bei
und für Bauers Klatschpostille »InTouch«. chelts Augen. Twitter kennt, traut ihm so viel Selbst-
Er liefert überall Gutes ab, passt seine Menschen, die Reichelt als Reporter in reflexion nicht zu. Er sei abhängig von
Schreibe dem Produkt an. Reichelt kann Kriegs- und Krisengebieten erlebt haben, diesen Augenblicken geballter Gefühle,
kuschelig, krawallig oder bourgeois. Als beschreiben einen Journalisten, der zwar schreibt Reichelt. »Je mehr man sieht, des-

85
Medien

to mehr braucht man.« Man wolle »wissen, nach Deutschland zu kommen. Journalis- Jacht; Reichelt ist kein JFK-Fan, aber des-
wie viel Leid man ertragen kann. Es ist, ten, die ihn für seine harte Haltung kriti- sen harte Haltung gegen die Sowjets in der
als würde man die Hand über eine Flamme sieren, ohne im Krieg gewesen zu sein, Kubakrise imponiert ihm, gerade jetzt, wo
halten«. nimmt er nicht wirklich ernst. es darum gehe, wie unnachgiebig der Wes-
Testen, wie weit man gehen kann – so ten gegenüber Russland auftreten solle.
macht Reichelt auch »Bild«. Er braucht, Ende März, nach wochenlanger Funkstille, Und die US-Flagge, die unter Glas an der
so scheint es, den Konflikt, um sich selbst bietet Reichelt an, ihn im 16. Stock des Wand hängt; er hat sie ersteigert, sie ge-
zu spüren. Wo keiner ist, zettelt er einen Springer-Hauses zu besuchen, in seinem hörte zu einem Kriegsschiff, das am
an. Die Ruhe, die er im Krieg hatte, geht Büro. Bis Ende 2016 war es das von Diek- 1. April 1945 Truppen für die Invasion der
ihm im Alltag ab. mann. Reichelt hat daraus eine Reporter- japanischen Insel Okinawa absetzte. Der
Reichelt hat in Aleppo Kinder sterben höhle gemacht. Sieg der freien Welt war nah.
sehen, in Misrata einen Freund verloren Einen Schreibtisch hat er nicht, selbst län- Neben der Tür steht ein Feldbett. »Nir-
und einmal selbst eine Pistole am Kopf ge- gere Texte schreibt er auf dem BlackBerry. gendwo sonst schläft man so gut«, sagt Rei-
habt. Aus solchen Erfahrungen zieht er of- In der Mitte des Raums steht ein Couchtisch, chelt. Seines hat er bei Amazon bestellt.
fenbar die Berechtigung, hart zu urteilen, darauf ein Knäuel von Kabeln, Ladegeräten, Über einem Baugerüst, das als Bücher-
wenn es um Syrien oder die Ukraine geht. Konsolen, angetrocknete Kaffeetassen und regal dient, hängt Reichelts Schutzweste
Er räumt schon mal zwei Seiten frei für volle Aschenbecher. Der größte Teil der Ein- aus seinen Kriegseinsätzen.
das Elend der Menschen in Kriegsgebieten, richtung sei gemietet, sagt er, auch die klei- Man möchte mit ihm darüber reden,
selbst wenn es am »Bild«-Leser vorbei- nen Holzhocker, die überall herumstehen. wie das zusammenpasst: sein Engagement
geht. Kaum eine Zeitung hat so viel über »Das meiste bedeutet mir nichts.« für Flüchtlinge – und die Stimmungs-
den Krieg in Syrien berichtet wie »Bild«. Zu den Dingen, die ihm wichtig sind, mache gegen Ausländer im Blatt, wie etwa
Reichelt selbst hat Flüchtlingen geholfen, gehört ein Foto von Kennedy auf dessen im Oktober die »Bild«-Schlagzeile: »Ma-
chen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau
Merkel!«
»Ich sehe keine Stimmungsmache«, sagt
Reichelt. Auch keine Kehrtwende nach der
»Refugees welcome«-Kampagne. Die For-
derung, Flüchtlinge nach Syrien zurückzu-
schicken, werde man von ihm nicht hören.
Auch den Familiennachzug finde er gut.
Deshalb sei er zur Flüchtlingskrise auch
nicht in Talkshows eingeladen worden:
Die gute »Bild« habe keiner haben wollen.
Aber die Bürger kämen nun mal nicht
mehr mit, wenn ausreisepflichtige Auslän-
der nicht abgeschoben würden, sagt Rei-
chelt. Und selbst wenn Politik und Medien
das unter Verweis auf Statistiken demen-
tierten: Es gebe genug Hinweise, dass die
Zahl von Messerattacken steige, die Leute
hätten Angst. Die Politik aber sei von den
Menschen so weit entfernt, »da steuern
wir auf eine Explosion zu«.
Dass »Bild« mitzündele, findet er nicht:
»›Bild‹ ist kein Brandstifter, sondern ein
Ventil.« Das Blatt trete für die Leser den
Beweis an, dass der gern von der AfD
bemühte Satz »Das darf man ja nicht
mehr sagen« nicht stimme – weil »Bild«
es doch sagt. Als wäre es weniger gefähr-
lich, wenn »Bild« Ängste schürt, bevor die
AfD das tut.
Die Redaktionskonferenzen bei »Bild«
sind ein großer Spaß, Gags fliegen wie
Pingpongbälle, einer geht immer noch.
Die Schauspielerin Ingrid Steeger, 71, hat
sich gemeldet. Sie liegt nach einem Sturz
im Krankenhaus, ihren Hund hat sie dabei.
»Bild« darf sie in der Klinik besuchen.
»Alte Schule«, sagt ein Kollege. Statt Blu-
men, so bittet Steeger, sollen die Reporter
ihr Hundefutter mitbringen. Steeger soll
auf einer Eisscholle ausgerutscht sein.
Oder war es doch eine Weinscholle? Dröh-
nendes Lachen.
Was ist mit der Abzocke der Autoversi-
Chefredakteur Reichelt: »›Bild‹ ist kein Brandstifter, sondern ein Ventil« cherungen? Das erzeugt Wut. »Das ist

86
schon mal gut«, sagt Reichelt halb scherz-
haft. Er futtert Brötchen, Gummibärchen, durchtriebene Junge gegen das nette Mäd-
M&Ms, redet mit vollem Mund. chen durch. Aber so einfach ist es nicht.
Die Russen verlegen Kriegsschiffe, Reichelt ist nicht »Baby-Diekmann«, als
»ganz schön unheimlich«. Das Giftgas in der er auf Twitter verspottet wurde. Das
Syrien und der Fall Skripal könnten oben Ziehkind war eher Koch. Sie sei mustergül-
auf die Seite: »Die Welt in Angst«, das ge- tig darin gewesen, Diekmanns Wünsche zu
höre zusammen, sagt Reichelt. Die Bilder erspüren, sagt ein leitender Redakteur. Wo
von der Messerattacke am Hamburger Diekmann harte Zeilen gemacht hätte,
Jungfernstieg sind da. Reichelt spöttelt: habe sie noch härtere gemacht. Von Koch
Wieso die dpa jetzt eine Auflistung ähn- stammen deshalb Überschriften wie »Grü-
licher Fälle mache, »wo es doch gar keine ner mit Hitler-Droge erwischt«, als der
Häufung von Messerattacken gibt, diese Politiker Volker Beck mit Crystal Meth auf-
Hetzer!«. flog. Solche Zeilen trugen ihr intern den
Auf Seite eins steht Spargelwerbung Spitznamen Granit ein. Der Versuch, Diek-
von Penny. Reichelt muss noch loswerden, mann nachzueifern, sorgte bei manchen
wie er am Marktstand vor einem Berliner für Spott. Wenn sie Zeitungsschnipsel an
Kaufhaus mal fünf Kilogramm Spargel die Redakteure verteilte, wie früher Diek-
kaufen wollte und die Verkäuferin ihm mann, fanden viele das albern.
fünf Stangen einpackte. Nein, er wolle fünf Kennedy-Foto in Reichelts Büro Als Koch 2016 zur Chefredakteurin der
Kilo. »Wissen Se, wat det kostet«, macht Wer an ihm zweifelt, ist gern ein Luschi gedruckten »Bild« ernannt wurde, soll sie
Reichelt die Frau nach. sinngemäß gesagt haben: Alles, was sie
Die Fröhlichkeit, mit der »Bild« entsteht, habe, verdanke sie Kai. Die Ergebenheit
hat etwas Zynisches angesichts der täg- der Art, wie man leben will. Keine Kom- gegenüber Diekmann aber nützte ihr am
lichen Härte und Empörung des Blattes. promisse mehr gegen sich selbst. Man lässt Ende nichts gegen das kraftstrotzende Ego
Reichelt und die Redaktion, das ist Ab- sich nichts mehr gefallen.« eines Julian Reichelt, dem es keine Angst
kumpeln. Das ist Frotzeln. Menschliche Wer an ihm zweifelt, ist gern mal ein macht, wenn ihn niemand mag.
Nähe aber ist es nicht. Sein bester, viel- Idiot. Oder ein Luschi. Seine Kritiker vom Reichelt, überzeugt, sich nirgendwo an-
leicht einziger Freund bei »Bild« ist Paul »Bildblog«, die ihn auf Twitter mit Fehlern dienen zu müssen, pflegte eine professio-
Ronzheimer. Nur fünf Jahre jünger als Rei- oder Unwahrheiten aus seiner Zeitung nelle Loyalität zu Diekmann, nicht mehr
chelt, ist er sein journalistischer Ziehsohn. konfrontieren, hat er auch schon als »ideo- und nicht weniger. Reichelt siezte Diek-
Er ist Reichelts Sidekick. Sie nennen ei- logischen Betonkopf-Verein« bezeichnet. mann auch dann noch, als bei »Bild« das
nander »Paolo« und »Dschuliän«. Ronz- Reichelt sieht sich als jemand, »der mit große Duzen ausbrach.
heimer ist für einen »Bild«-Mann eine einem klaren Kompass Dinge ausspricht,
eher knuffige Erscheinung. Er ist mit das auch wenn sie unpopulär sind«. Ziehsohn? Unsinn, sagt Reichelt. Diek-
Netteste an Reichelt. »Julian ist durch und Egal wie komplex die Weltlage sein mann und er, das sei auch keine private
durch Reporter, rund um die Uhr«, sagt er. mag: Reichelt weiß, was zu tun ist. Er er- Freundschaft. Eher eine gut geölte Maschi-
Die beiden telefonieren mehrmals am Tag, klärt der Kanzlerin, warum ihre Haltung ne: Man kann sich aufeinander verlassen,
auch nachts. Ronzheimer schaut abends zum Islam in Deutschland falsch sei. Und wenn es darauf ankommt.
schon mal bei ihm daheim zum Trinken warum sie Putin nicht zum Wahlsieg gra- Wie gut die Maschine funktioniert, zeig-
vorbei. Den Rest der Redaktion hält Rei- tulieren solle. Zuletzt hatte er sich in den te sich im Sommer 2016. Diekmann, zu
chelt auf Abstand. Kinderkanal verbissen, der in einer Sen- dem Zeitpunkt nur noch »Bild«-Heraus-
Die Kollegen wissen gerade mal, dass dung das Alter eines Flüchtlings nicht kor- geber, wurde der Vergewaltigung bezich-
er verheiratet ist. Die Anzahl der Kinder rekt angegeben hatte. tigt. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat
ist ihnen nicht bekannt, ebenso wenig sein Was Reichelt bei Twitter vorgibt, findet das Verfahren vor acht Monaten einge-
derzeitiger Beziehungsstatus. In Geheim- sich ein, zwei Tage später auch in »Bild«. stellt, weil sich kein hinreichender Tatver-
niskrämerei kann er es mit jedem CIA- Twitter sei sein »Notizbuch«, sagt er. Was dacht ermitteln ließ. Was sich in der Nacht
Agenten aufnehmen. Nur wenige haben er dort schreibt, treibe ihn so um, dass es und den Monaten danach bei »Bild« und
deshalb auch von Reichelts Erkrankung ins Blatt gehörte. Ihm fehle nur die Diszi- im Konzern abgespielt hat, sagt dennoch
gehört, die ihn mit zu dem gemacht hat, plin, es so lange für sich zu behalten. viel über die Unternehmenskultur bei
der er heute ist. Dass er übers Ziel hinausschießt? Findet Springer. Und über Reichelt.
Mit 20 wurde bei Reichelt Krebs ent- er nicht. »Ich denke schon drüber nach, Diekmann wohnt in Potsdam in einer
deckt. Ein halbes Jahr lang kämpfte er um was ich falsch mache«, sagt er. Villa am Jungfernsee. Nach einer Klausur-
sein Leben, eine Chemotherapie rettete Niemand liebt Reichelt so sehr wie er tagung in einem nahe gelegenen Hotel
ihn. Fragt man ihn danach, redet er da- sich selbst. Und niemandem verdankt er grillten die »Bild«-Leute bei ihm. Man
rüber, aber nur ungern. Die wenigen so viel. Nicht einmal Kai Diekmann. Der trank und badete im See, Diekmann auch
Minuten, in denen es um seine Krankheit beförderte ihn Ende 2013 quasi aus dem nackt. Am Ende dieser Nacht stand ein un-
geht, sind die einzigen während all der Krieg heraus auf den Chefsessel von geheurer Vorwurf im Raum: Diekmann
Treffen, in denen Reichelt unsicher wirkt. Bild.de. Als die Personalie verkündet wur- wurde von einer Mitarbeiterin beschuldigt,
Er knetet seine Finger. Sagt, dass er de, soll die Redaktion geschockt gewesen sie im See vergewaltigt zu haben.
nicht besonders gut darin sei, über Gefühle sein. Kein anderer habe vorher so verächt- Einige Wochen später zog Diekmann
zu sprechen. Auch nicht mit Freunden. Er lich über die Onlinekollegen gesprochen Reichelt ins Vertrauen, fast verzweifelt.
habe einfach kein Bedürfnis danach. Er wie Reichelt. Der war zwar beim Baden im See nicht
entschied sich damals gegen eine Psycho- Von außen stellten sich die Verhältnisse dabei gewesen, aber auf der Party. Und
therapie und für Verdrängung. »Ich habe bei »Bild« so dar: Diekmann ist der Papa. Reichelt wusste offenbar, was zu tun war.
es überlebt«, sagt Reichelt. »Alles ist für Seine Kinder, Tanit und Julian, wetteifern Reichelt fertigte ein Gedächtnisproto-
etwas gut. Das macht kompromisslos in um seine Gunst. Am Ende setzt sich der koll über seine Erfahrungen mit der Kol-

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 87


Medien

Buch-
Fragen Sie Ihren legin an, das einer charakterlichen Ver- Reichelts Ausbrüche bei Twitter und
neuen nichtung gleichkommt: Sie habe etwa sein Borderline-Journalismus mögen dem
händler nach der während der Recherche über den Absturz Image des Blatts schaden, seine Karriere
e!
Frühjahrsausgab
einer Germanwings-Maschine damit ge- leidet darunter bisher nicht. Von jeher gel-
prahlt, einen Pilotenschein zu besitzen, ten für die »Bild«-Spitze andere Maßstäbe
um später davon wieder abzurücken. Er als für Chefredakteure anderer Häuser.
sei schon vorher zu dem Schluss gekom- Kai Diekmann war frisch im Amt, als
men, sie sei eine »unfassbare, gefährliche er im Januar 2001 ein altes Foto von Jür-
Hochstaplerin«. gen Trittin druckte, das den Grünen-Poli-
Ein Mitarbeiter Reichelts schrieb auf tiker auf einer Demo zeigte. Um ihn he-
dessen Bitte hin zusammen, welche Erfah- rum Vermummte, angeblich mit »Bolzen-
rungen er bei der Zusammenarbeit mit der schneider« und »Schlagstock«. Tatsächlich
Kollegin im Haus gemacht habe. Ein wei- waren es ein Seil und ein Handschuh. Es
terer »Bild«-Mann erkundigte sich an ihrer war ein veritabler Skandal. »Bild« wurde
Universität nach ihrer Dissertation. Die vom Presserat gerügt, Diekmann entschul-
Recherche lief wie eine »Bild«-Kampagne digte sich. Und blieb.
im eigenen Haus. Auch Reichelt wird nicht darüber stol-
Reichelt schickte Diekmann zudem ein pern, dass er hier ein bisschen zündelt und
Foto. Er hatte es in jener Nacht um kurz dort ein wenig an der Wahrheit vorbei-
vor vier Uhr gemacht, im Hotel, wo die schrammt. Affären wie sein »Titanic«-Gau
Belegschaft einquartiert war. Zu sehen ist können einen Journalisten sogar stählen.
darauf besagte Mitarbeiterin, die nach der Rückblickend sind das dann die Narben,
Party mit Kollegen auf der Terrasse noch die von geschlagenen Schlachten zeugen.
etwas trinkt, vermeintlich gut gelaunt. Im Idealfall dienen sie der eigenen Legen-
Springer schaltete einen externen An- denbildung.
walt ein, der Zeugen und Kollegen befrag- Doch funktioniert das nur bei Men-
te. Das Prozedere gipfelte in einer absur- schen, die in der Lage sind, die Kontrolle
den Szene, die wohl in keinem anderen zu behalten, auch über sich selbst. Diek-
Konzern vorstellbar wäre: Die Mitarbei- mann konnte das. Es gab immer einen klei-
terin und Diekmann wurden, nacheinan- nen Spalt zwischen dem Menschen und
der, vor dem Vorstand und Verlegerin Frie- der Kunstfigur.
de Springer befragt. Döpfner persönlich Reichelt spielt nicht Reichelt, er ist so.
stellte Fragen. Er kannte dabei augen- Ein Überzeugungstäter. Ein Besessener.
scheinlich auch die Informationen aus Rei- Schwer zu sagen, wie sehr er sich dessen
chelts Niederschrift. bewusst ist. Und ob er bremsen kann, be-
Erst danach gab der Konzern den Fall vor er auf einen Abgrund zusteuert. Wird
an die Staatsanwaltschaft ab. jemand, der mit Ende dreißig so hart drauf
Diekmann verließ Springer bald darauf. ist, mit den Jahren radikaler? Oder viel-
Reichelt wurde »Bild«-Oberchef. Als Be- mehr milder? Wird Reichelt sich bald
lohnung für seine Loyalität sei das nicht unterfordert fühlen an der »Bild«-Spitze?
zu verstehen, sagen Verlagskenner. Dass Und noch höher hinauswollen?
er den Job bekomme, hätte wohl vorher Anfang März wird der frühere russische
schon festgestanden. Doppelagent Sergej Skripal in Großbri-
Bei der gedruckten »Bild« regierte Rei- tannien Opfer eines Giftanschlags, gesteu-
chelt seit seiner Beförderung faktisch ert angeblich von Moskau. Russland, Ge-
durch. Er riss die Leitung von Konferenzen heimdienst, Verschwörung – ein Fall für
an sich, überging Koch bei Entscheidun- Reichelt.
gen. Als sie im Januar beim Weltwirt- Der britischen BBC gibt er dazu ein
schaftsforum in Davos war, schrieb Rei- Interview, offenbar aus einem Hotelzim-
chelt aus Deutschland in einem langen mer, das Bild ist unscharf, Reichelt doziert
»Bild«-Kommentar, wie abgehoben und mit aufgerissenen Augen: Wenn Großbri-
lebenswert ist das Trendmagazin für nutzlos diese Veranstaltung doch sei. tannien die Nato-Staaten bitten würde, die
Wenn man Reichelt zu dem Macht- Fußball-Weltmeisterschaft in Russland zu
die Bereiche Gesundheit, Familie und kampf mit Koch fragt, sagt er: »Es gab kei- boykottieren, dann würde »Bild« ein sol-
© Anthony Delanoix

Genuss. Die Frühjahrsausgabe jetzt nen, sie hat meine Entscheidungen auch ches Anliegen unterstützen: Reichelt als
nie hintergangen oder unterlaufen.« Bündnispartner, seine Redaktion als para-
kostenlos im Buchhandel.
Tanit Koch hätte bei Springer einen an- moralische Sondereinheit.
deren Job bekommen können. Sie zog es Bei »Bild« spotten manche, Reichelts
vor zu gehen, nach 13 Jahren im Konzern. Ziel sei die Weltherrschaft. Andere halten
Das Magazin lebenswert erscheint in der Bei ihrem Abschied sagte Döpfner: »Bild« das für untertrieben.
Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien brauche »ganz klare Verhältnisse«.
GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund In Reichelt sieht die Verlagsspitze vor
allem den engagierten jungen Mann, der Video
In der »Bild«-Konferenz
polarisiert und keine Angst hat, sich un- mit Julian Reichelt
beliebt zu machen. »›Bild‹ muss anecken spiegel.de/sp172018reichelt
und darf nicht Everybody’s Darling sein oder in der App DER SPIEGEL
wollen«, sagt Döpfner.
kundenmagazine
88 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018
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Medien

Quelle für neue Opfer


und mich gefragt, ob mir meine Karriere
wichtig sei«, sagt Karls. »Er könne mir hel-
fen, aber ich müsste ihm dann auch ent-
gegenkommen.« Dabei habe er sich auf
das Bett zurückgelegt und sich auf dem
#MeToo In der Affäre um Korrespondenten, Rücken hin- und hergewälzt.
die Kolleginnen belästigt haben sollen, gelobt der WDR Aufklärung. Sie stand auf, er habe protestiert, doch
Doch wie ernst meint es die Senderspitze wirklich? sie ging. Vor ihrer Abreise warnte sie die
nächste Praktikantin. Jahre später schrieb
er ihr noch mal, dass er lange nichts mehr

E s gab diese Interviewübung, die vie-


len komisch vorkam. Der Seminar-
leiter, über 50 Jahre alt, habe vor
dem ganzen Kurs eine der Teilnehmerin-
drängt, sagt sie. Sie heißt eigentlich anders,
will aber nicht ewig mit der Sache in Ver-
bindung gebracht werden und lieber ano-
nym bleiben. Ihre Erlebnisse berichtet sie
von ihr gehört hätte. Dahinter setzte er ei-
nen traurigen Smiley. »Im Endeffekt dien-
te das Seminar nicht den Jungjournalisten,
sondern in erster Linie ihm, als Quelle für
nen befragt, die noch nicht allzu lange voll- zum ersten Mal. neue Opfer«, sagt Karls.
jährig war: Wo hört Treue auf, wo fängt Am Ende ihres Praktikums habe der Stu- Der Korrespondent teilt auf Anfrage
Fremdgehen an? Hast du einen Freund? dioleiter sie auf Dienstreise mitgenommen. mit, dass die Schilderungen »nicht den Tat-
Würdest du fremdgehen? Dabei sei er im- Sie seien vorgeflogen, das Kamerateam am sachen entsprechen«. Zu den Interview-
mer näher an sie herangerutscht. »Er ist Tag darauf nachgekommen. Sie seien essen übungen erklärt er zusätzlich, die Teilneh-
ihr richtig auf die Pelle gerückt«, sagt eine, gegangen, danach habe er in der Hotelbar mer hätten lernen sollen, »sich in schwie-
die dabei war. einen Absacker trinken wollen, sagt sie. rigen Interviewsituationen (Tod, Liebe,
Später sollten sich die Nachwuchsjour- Doch die Bar sei geschlossen gewesen. AIDS, Gewissen etc.) zu behaupten«.
nalisten gegenseitig interviewen und dabei Also habe er vorgeschlagen, sich bei Während der Vorstand des Journalisten-
»möglichst intime Dinge« herausfinden, ihm ins Zimmer zu setzen, er hatte eine seminars entschied, das Seminar für dieses
berichten sie. Die Interviewversuche wur- Flasche Wodka. »Ich habe ihm vertraut, Jahr abzusagen, und alle ehemaligen Teil-
den aufgezeichnet, der Seminarleiter hörte dachte, er sei eine Art Mentor«, sagt Karls. nehmer dazu aufrief, sich zu melden, falls
sie später ab. Um sie besprechen zu kön- Die Jahre zuvor sei er ja auch immer an- sie Fehlverhalten erlebt haben, war in der
nen, sagt er. Es wurde schnell auch über ständig gewesen. Doch auf dem Zimmer Causa vom WDR bislang nichts zu hören.
Sexualpraktiken geredet, die Atmosphäre habe er sie plötzlich nach ihrem Freund Der Sender bestätigt auf Anfrage, dass
war locker. Das Seminar dauerte zehn gefragt, erklärt, dass der Mensch nicht für Nebentätigkeitsanträge durch »die ganze
Tage, alle waren gemeinsam in einer Al- Monogamie gemacht sei. »Als ich abge- Hierarchie gehen« und »für jedes Projekt
penvereinshütte untergebracht, im Som- blockt habe, hat er das Thema gewechselt neu beantragt werden« müssen. Im Fall
mer, es fühlte sich an »wie auf Klassen-
fahrt«, sagt einer, der dort war.
Das war 2012, der Seminarleiter war
WDR-Korrespondent, jenes »Alpha-Tier«,
über das »Stern« und Correctiv.org vor
gut zwei Wochen zuerst berichtet hatten
und mit dem die »Affäre WDR« begann.
Denn der Beschuldigte konnte, ebenso wie
zwei weitere WDR-Männer, deren Fälle
mittlerweile bekannt wurden, noch Kar-
riere machen. Obwohl die Hausspitze im
Falle des »Alpha-Tiers« seit den Neunzi-
gerjahren von Gerüchten gewusst hatte,
dass er Kolleginnen belästigt haben soll.
Es sind solche Enthüllungen, die zeigen,
dass der WDR in den vergangenen Jahr-
zehnten interne Hinweise auf Verfehlun-
gen nicht ernst genug nahm – und offenbar
auch heute Probleme damit hat, die haus-
eigene #Metoo-Affäre aufzuarbeiten.
Jahrelang ließ es der Sender etwa zu,
dass der beschuldigte Korrespondent die
Seminare für Nachwuchsjournalisten lei-
tete. Dabei braucht jeder Mitarbeiter des
WDR für solche Nebentätigkeiten eine Ge-
nehmigung, die auch von den Hierarchen
unterzeichnet werden muss.
»Es ist unglaublich, dass der WDR es ge-
schehen ließ, dass er ständig auf neue, jun-
HERBY SACHS / WDR

ge Frauen traf und die dann auch noch in


sein Auslandsstudio schleuste«, sagt Ta-
mara Karls. Sie nahm vor Jahren an dem
Seminar teil, 2010 war sie Praktikantin in
dem von jenem Kollegen geleiteten Aus-
landsstudio – und wurde dort von ihm be- WDR-Hierarchen Buhrow, Schönenborn 2015: »Zusätzlich sensibilisiert«

90
IN DER SPIEGEL-APP

des Korrespondenten sei »nach Bekannt- len »zusätzlich geschult und sensibilisiert«
werden der Vorwürfe« 2016 kein Neben- werden. Es soll Dialogveranstaltungen ge-
tätigkeitsantrag mehr gestellt worden. ben, mit festen wie freien Mitarbeitern, in
Das Irritierende: Jörg Schönenborn, der Zentrale und den Studios. Zudem sol-
heute Fernsehdirektor, hatte auf Anfrage len alle Mitarbeiter über die »konkreten
des SPIEGEL vergangene Woche bekannt, Beschwerdestellen« informiert werden.
dass er Gerüchte »aus der Zeit um 1990« Und doch bleibt die Frage, wie ernst es
kannte und in seiner Zeit als Chefredak- dem WDR mit der Aufklärung ist. Ein Pro-
teur ab 2002 »intensiv« geprüft habe. blem: Als externer Aufklärer wurde aus-
Allerdings ohne Ergebnis. Und so entzog gerechnet jene Kanzlei bestimmt, die den
niemand dem Korrespondenten in den Sender oft in arbeitsrechtlichen Streitig-
vergangenen 16 Jahren die Erlaubnis zur keiten vor Gericht vertritt. Auch in dem
Nebentätigkeit als Seminarleiter. Fall jenes Reporters, der die Beschwerden
Auch bei der Frage, warum die WDR- von Kolleginnen wegen sexueller Belästi-
Oberen es zuließen, dass immer wieder gung ernst genommen und sie der damali-
Praktikantinnen zu ihm ins Auslands- gen Intendantin Monika Piel gemeldet hat-
te. Am Ende wurde er schriftlich ermahnt,

CHIARA MARINA GRIONI


wogegen er sich vor Gericht wehrte. Der
Der Sender tut sich beschuldigte Kollege aber wurde befördert.
offenkundig schwer Prompt verschickte der Personalrat am
Donnerstag eine Mail an alle Mitarbeiter:
damit, eigene Versäum- Die Beauftragung der Kanzlei als Anlauf-
nisse einzugestehen. stelle »wurde nicht mit uns abgesprochen«,
hieß es darin. Und: »Wir raten von dieser
Kanzlei ab.« Der WDR rechtfertigt die
studio durften, verweist der Sender nur Entscheidung auf Nachfrage: »Wichtig war,
auf 2016 und schreibt, dass er nach Be- zunächst sofort vertrauenswürdige An-
kanntwerden der Vorwürfe »keine Perso- sprechpartnerinnen für neue Hinweise zu
nalverantwortung mehr hatte, auch nicht haben.« Schließlich müsse für mögliche ar-
für Praktikantinnen und Praktikanten«. beitsrechtliche Maßnahmen zeitnah ge-
Doch warum ließ man nicht mehr Vor- handelt werden.
sicht walten, nachdem es schon in den Noch eine weitere Entscheidung verun-
Neunzigern die Vorwürfe gegeben hatte? sichert die, die eigentlich aufklären wollen.
Der Sender tut sich offenkundig schwer Vergangene Woche verkündete Buhrow,
damit, eigene Versäumnisse der Vergan- dass die Abteilung Revision, die sich sonst
genheit einzugestehen. Und das, obwohl eigentlich mit Korruption auseinander-
es nach SPIEGEL-Informationen noch
zwei weitere Fälle gibt, in denen schwere
setzt, einen Überblick zu den bislang be-
stehenden Vorwürfen erstellen wird.
Die Geister
Vorwürfe erhoben werden: gegen einen Ausgerechnet die Abteilung Revision.
prominenten TV-Kollegen, der mittlerwei- Dabei liegen gegen einen Mitarbeiter die- der Wand
le im Ruhestand ist, und gegen einen Hör- ser Abteilung »massive Vorwürfe wegen
funk-Kollegen, der wegen Stalkings bereits sexueller Belästigung« vor. Das sagt je- Mit Sprengstoff, Glas-Scratching und
aktenkundig sein soll, aber bis heute dort mand, der aufgrund seiner Position im Spezialdraht erschaffen junge Süd-
arbeitet. WDR darüber Bescheid weiß. »Da wurde europäer neue Formen der Urban Art.
Der Sender teilt zu den Fällen mit, dass der Bock zum Gärtner gemacht.« Die Künstler Vhils, Borondo und Tre-
die Verantwortlichen alle Hinweise ernst Der Mitarbeiter der Revision soll zwei soldi gehören zu einer Generation,
nähmen und ihnen nachgingen. »Aus jüngere Kolleginnen belästigt und so be- die aus der Krise ihrer Länder Kunst
Gründen des Persönlichkeitsschutzes äu- drängt haben, dass sie sich eingeschüchtert macht: Aus den Mauern der Städte
ßern wir uns aber nicht öffentlich zu ein- gefühlt hätten. Eine Frau habe deswegen erschaffen sie Neues, Pressluft-
zelnen Namen und Mitarbeitern.« sogar gekündigt, heißt es. Diese Vorwürfe hämmer ersetzen Pinsel. Die Werke
Die Stimmung unter den Mitarbeitern seien auch schon erhoben worden, bevor
erzählen von der Flüchtigkeit unseres
sinkt währenddessen mit jedem Tag ein es Veröffentlichungen zum WDR gegeben
bisschen tiefer. Immer mehr sagen, die habe. Eine weitere Person, die mit dem Stadtlebens und stellen die ganz
Führung müsse endlich Konsequenzen zie- Vorgang betraut ist, bestätigt den Fall. große Frage: Was ist Heimat?
hen, auch personelle. Weil sich bis heute Der WDR sagt dazu, dass der von der
keiner aus der Hausspitze bei den Betrof- Revision erstellte Überblick bereits vorge- Sehen Sie die Visual Story im
fenen dafür entschuldigt habe, nicht früher legt wurde. »Damit endete die Befassung digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie
eingegriffen zu haben, was weitere Fälle der Revision.« Die Frage, ob der beschul- den QR-Code
hätte verhindern können. Weil es deren digte Mitarbeiter aus der Revision in dem
Verantwortung sei, dass sich niemand eigens erstellten Überblick der Revision
traue zu reden. Und weil sie, die Mitarbei- aufgeführt wird, ließ der WDR unbeant-
ter, befürchten, dass die öffentlichen Be- wortet. Die Sprecherin lässt lediglich wis-
teuerungen, nun aufzuklären, nicht ernst sen, dass der Überblick von zwei Mit-
gemeint seien. arbeiterinnen erstellt worden sei.
Zwar verkündete Intendant Tom Buh- Ann-Katrin Müller
row am Mittwoch »ein Paket von Sofort- Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de
maßnahmen«. Aktive Führungskräfte sol- JETZT DIGITAL LESEN

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 91


Ausland
Zum ersten Mal übertritt ein Herrscher Nordkoreas die Grenze zum Süden, wenn auch nur um hundert Meter. ‣ S. 94

JAIPAL SINGH / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


Demonstrierende im Bundesstaat Jammu und Kaschmir

Kommentar

Der Zauderer
Der Mord an einem Mädchen zerreißt Indien – Premier Modi versagt.

Der Mann, der als Meister der Kommunikation gilt, ringt in die- nismus, der nicht mal halt vor Kindern macht. Aber er spaltet
sen Tagen oft um Worte: der indische Premier Narendra Modi, auch das Land: Tausende Inder machten ihrer Wut auf die
der bisher noch jeden Fehlschlag als Sieg verkaufen konnte. Hindu-Extremisten im Netz und auf der Straße Luft. Und viele
Schuld daran ist ein Verbrechen, das in seiner Brutalität schwer fragten: Warum nur sagt Modi nichts?
zu ertragen ist. Im Bundesstaat Jammu und Kaschmir haben Modis Partei BJP fährt einen hindunationalistischen Kurs. Zwei
mehrere Männer ein Mädchen entführt, sie haben es betäubt und ihrer Minister befanden sich sogar unter den Demonstranten,
über Tage hinweg in einem Tempel vergewaltigt. Dann erschlu- um die mutmaßlichen Täter zu verteidigen. Modi selbst hat sich
gen sie ihr Opfer mit einem Stein, Mitte Januar wurde die Leiche zwar immer generell für den Schutz von Frauen ausgesprochen.
entdeckt. Das Mädchen hieß Asifa Bano, sie war acht Jahre Aber als der Premier sich schließlich Tage später und wohl nur
alt und Muslimin. Die mutmaßlichen Täter sind Hindus. Ihr Plan: unter dem Druck der Öffentlichkeit zu Wort meldete, klang sein
die muslimische Minderheit in der Region in Angst und Schre- Bedauern seltsam hohl. Modi ist noch immer beliebt, aber ein
cken zu versetzen. Terror also. Jahr vor den Wahlen kommen nun Zweifel auf, ob er wirklich
Viele Bewohner forderten Gerechtigkeit – aber nicht für das alternativlos ist. Er kann seine Versprechen, etwa mehr Jobs,
Mädchen, sondern für die mutmaßlichen Vergewaltiger. Der nicht halten. Und nun entpuppt er sich auch noch als Zauderer,
Fall Asifa wurde zum Symbol für einen nationalistischen Chauvi- der Angst hat, radikale Hindus zu verprellen. Laura Höflinger

92 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Russland Rumänien
Held im Exil Tödliche Gerüchte
 Die russische Regierung  In ein dunkles Kapitel der rumäni-
blamiert sich gerade beim schen Geschichte kommt neues Licht:
Versuch, das Internet in Die Generalstaatsanwaltschaft will den
den Griff zu bekommen. ehemaligen Staatschef Ion Iliescu sowie
Im Kampf gegen den Mes- den früheren Premier Petre Roman
sengerdienst Telegram wegen »Verbrechens gegen die Mensch-
hat die Netzaufsichtsbe- lichkeit« anklagen. Sie seien verant-
hörde Roskomnadsor wei- wortlich für den Tod von mehr als
te Teile des russischen 1100 Menschen, die während des bluti-

PAVEL GOLOVKIN / AP
Netzes lahmgelegt – nicht gen Aufstands im Dezember 1989 ums
aber Telegram selbst. Leben kamen. Beim Sturz des kommu-
Der Dienst ist in Russ- nistischen Diktators Nicolae Ceauşescu
land populär, weil Nach- hatte es mehrtägige Gefechte unter
richten dort als gut Papierflieger als Protest gegen Netzsperre in Moskau anderem zwischen dem Geheimdienst
verschlüsselt gelten. Securitate, Einheiten der Armee sowie
15 Millionen Russen nutzen ihn, vom der Behörde »irre«. Die Beamten hätten bewaffneten Zivilisten gegeben.
Oppositionellen bis zum hohen Kreml- Russlands Internet »völlig kaputt ge- Das Blutvergießen war die Folge von
beamten. Gegründet hat ihn Pawel Durow, macht«. Nun hängt alles daran, ob Inter- Gerüchten, »Spione« seien ins Land
ehedem Chef des russischen Facebook- netgiganten Telegram stützen: In den eingedrungen. Dabei, so Rumäniens
Rivalen VKontakte. Mittlerweile lebt App-Stores von Google und Apple kann Ankläger jetzt, habe es sich um »Täu-
Durow in Dubai im Exil. Weil er sich wei- man Durows Messenger herunterladen, schungsmanöver« der neuen politi-
gert, die Verschlüsselungstechnik offen- und Amazon stellt Cloud-Dienste bereit, schen Führung um Iliescu und Roman
zulegen, ordnete ein Gericht nun die Sper- damit Nachrichten überhaupt verschickt
rung von Telegram an. Diese richtet viel werden können.
Schaden an – allerdings nicht bei Telegram. Und der Kreml muss sich fragen, wie
Weil der Messengerdienst ständig neue er das Internet unterwerfen will. Anders
IP-Adressen nutzt, etwa von Anbieter als Nachbar China haben die Russen da-
Amazon, sperrte Roskomnadsor fast rauf verzichtet, eine digitale Mauer um

ALAMY / MAURITIUS IMAGES


20 Millionen IP-Adressen. Das legte unter ihren Teil des Netzes zu ziehen. Statt auf
anderem viele Onlineshops lahm, aber technische Kontrolle und entsprechende
Telegram funktioniert weiterhin, wenn Filter setzt die Regierung auf Einschüch-
auch mit leichten Einschränkungen. Der terung mit juristischen Mitteln. Aber
in Moskau lebende NSA-Whistleblower diese Methode hat ihre Grenzen, wie der
Edward Snowden nannte das Vorgehen Fall Telegram beweist. ESC
Iliescu

gehandelt. Das erst auf Druck des Euro-


Chappatte päischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte jetzt wiedereröffnete Verfahren
war in der Vergangenheit mehrfach
eingestellt worden. Nun liegen neue
Beweise vor. Der Vorstoß der Justiz
dürfte das innenpolitische Klima weiter
verschärfen: »In Rumänien herrscht
schon jetzt Krieg zwischen denen, die
sich das Land vor 28 Jahren unter den
Nagel gerissen haben, und jenen, die
versuchen, es am Laufen zu halten«,
sagt der bekannte TV-Journalist Rares
Bogdan. Iliescu, einst Ceauşescus Kron-
prinz, war nach der Wende insgesamt
zehn Jahre Staatspräsident und ist bis
heute Ehrenvorsitzender der kommu-
nistischen Nachfolgepartei PSD, die
Rumänien seit 1990 mit Unterbrechun-
gen regiert. Die skandalgebeutelte
Truppe unter dem wegen Wahlbetrug
vorbestraften Chef Liviu Dragnea ver-
sucht, die Justiz an die Kandare zu neh-
men. Am Montag konnte etwa die von
der PSD geforderte Absetzung der
Chefermittlerin gegen Korruption nur
durch ein Veto des Staatspräsidenten
Klaus Johannis verhindert werden. WMA

93
Ausland

Echte Chance
Korea Erstmals treffen Südkoreas Präsident Moon Jae In
und Nordkoreas Diktator Kim Jong Un aufeinander. Moon will den
Atomkonflikt beilegen, für ihn ist die Aussöhnung Lebensthema.
Auch weil der Riss durch die Halbinsel seine eigene Familie teilt.

P
anmunjom ist ein schauriger Ort, rundlichen Brille etwas auffällt, dann ist es
ein Überrest des Kalten Krieges. seine Unauffälligkeit. Es gehe ihm nicht um
Hier, am 38. Breitengrad, an der die eigene Person, hört man von fast allen,
Demarkationslinie zwischen den die ihn gut kennen, sondern um die Sache:
beiden Koreas, befindet sich die am Er will die Teilung der Nation überwinden,
schwersten bewachte Grenze der Welt. deren Folgen er selbst erfahren hat. Denn
Immer wieder kommt es zu blutigen auch durch seine Familie geht ein Riss.
Zwischenfällen; erst im November schos- Ende Dezember 1950, ein halbes Jahr
sen nordkoreanische Grenzposten auf ei- nach Ausbruch des Koreakriegs, flohen sei-
nen Kameraden, als er in den Süden floh. ne Eltern in den Süden, auf der SS »Mere-
Er überlebte schwer verletzt. dith Victory«, einem US-Schiff, das mit
Moon Jae In, 65, kennt Panmunjom gut, Flüchtlingen überladen war. Sie kamen auf
er diente dort als Wehrpflichtiger in einer die Insel Geoje, bekannt für ihre Werft-
Spezialeinheit, als nordkoreanische Gren- industrie, die zur Zeit des Wirtschaftswun-
zer zwei US-Soldaten mit Äxten töteten. ders aus dem Boden gestampft worden ist.
Das war 1976, der »Axt-Vorfall« brachte Aber als Moon hier 1953 zur Welt kam, als
die koreanische Halbinsel an den Rand ei- ältestes von fünf Kindern, war die Armut
nes Krieges, wie so oft. Und an eben die- noch groß. Sein Geburtshaus steht noch, ein
sem schicksalsträchtigen Ort will Moon, graues Häuschen gegenüber einem Reisfeld.
inzwischen Präsident Südkoreas, nun am »Wir würden sein Geburtshaus gern
kommenden Freitag den nordkoreani- kaufen und ein Museum daraus machen«,
schen Diktator Kim Jong Un empfangen. sagt der Bezirksleiter auf Geoje. Doch da-
»Haus des Friedens« heißt das Gebäude, raus wird vorerst nichts: Kurz nach Moons
in dem sie miteinander reden wollen. Wahl sei dessen Ehefrau hergekommen und
Es wird der erste Nord-Süd-Gipfel seit habe den Wunsch übermittelt, dass hier kein
2007 sein. Und das erste Mal, dass ein Wallfahrtsort entstehen solle. »Unserer
Herrscher des Nordens die Grenze zum Wirtschaft geht es nicht gut«, so der Präsi-
Süden übertritt – wenn auch nur um wenig dent, »unsere Nation hat andere Sorgen.«
mehr als 100 Meter. Aber das Treffen ist Typisch Moon. Von Geoje zog Moons
auch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Familie bald in die Hafenstadt Busan. Auch
Mit Moon rückt ein Mann in den Blick- dort ging es der Familie nicht besser; der
punkt, der sich vom Tyrannen Kim krass Vater handelte mit Schuhen, die Mutter mit
unterscheidet. Ein überzeugter Demokrat, Eiern und Kohlebriketts. Moon besaß nicht
ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt, der einmal Geschirr für das Schulessen, als Scha-
dem weltweiten Trend zu autoritären le für den Reis lieh er sich angeblich die
Herrschern zu widersprechen scheint. Deckel von Imbissboxen der Mitschüler. ge, wurde er vor seiner Wahl im vergan-
Vor knapp einem Jahr wurde Moon zum Und dann war da noch die Familie im genen Jahr zitiert. Seine Mutter ist jetzt
Nachfolger von Park Geun Hye gewählt, Norden. Moons Großeltern und andere 91 Jahre alt, ihr letzter Wunsch sei es, die
der zunehmend autoritär regierenden und Verwandte waren dort zurückgeblieben, Verwandte noch einmal zu sehen. Auch im
volksfernen Präsidentin, die gegenüber es gab keinen Kontakt. Doch im Jahr 2004, Februar, als er Kim Yo Jong, die Schwester
dem Norden einen kompromisslosen Kurs Moon war Sekretär im Präsidentenpalast, des nordkoreanischen Diktators, in Seoul
verfolgt hatte. Fünf Jahre zuvor war Moon nahmen er und seine Mutter an einem der empfing, erwähnte Moon das aufwühlende
ihr noch knapp unterlegen, diesmal aber höchst seltenen Treffen von getrennten Fa- Treffen mit seiner Tante im Norden.
trug ihn eine Welle des Protestes an die milien im nordkoreanischen Ferienort Die Hoffnung auf die Aussöhnung treibt
Macht. Die konservative Park war kurz zu- Kumgangsan teil. Moons Mutter und ihre ihn an, dafür arbeitet er beharrlich. Doch
vor abgesetzt worden; gerade erst wurde jüngere Schwester sahen sich zum ersten die Mission, die Moon zu erfüllen hat,
sie wegen Machtmissbrauchs, Nötigung Mal seit über fünf Jahrzehnten wieder. Ein scheint fast unmöglich: Er muss Nordkoreas
und Bestechung in erster Instanz zu 24 Jah- Foto von dem Treffen zeigt Moon, er steht Diktator und den US-Präsidenten dazu
ren Gefängnis verurteilt. neben den beiden Frauen, die traditionelle bringen, den Streit um das nordkoreanische
Moon ist ein Mann des Volkes, aber er Tracht tragen und weinen. Atomprogramm friedlich beizulegen, und
ist kein Populist. Wenn an diesem Staatschef Auch deshalb hat Moon es eilig mit der zwar dauerhaft. Er will den Waffenstill-
mit den weichen Gesichtszügen und der Annäherung an den Norden. Die Zeit drän- stand, der seit 1953 herrscht, durch einen

94 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


ADAM FERGUSON
Politiker Moon vor einem Fernsehauftritt: »Sehr streng gegen sich selbst«

Friedensvertrag ersetzen. Und so einen Pyeongchang empfing er nordkoreanische den CIA-Direktor Mike Pompeo auf ge-
Krieg abwenden, den viele Experten vor Sportler und Funktionäre, allen voran die heime Mission nach Pjöngjang.
einem halben Jahr für denkbar hielten. Schwester des Diktators. Nord und Süd Im Vergleich dazu verblasst der Nord-
Für Moon ist es schon ein Erfolg, dass schwelgten in Harmonie und bejubelten Süd-Gipfel in Panmunjom wie ein Vor-
es den Gipfel mit Kim überhaupt geben ihre Sportler; sie besuchten sich gegenseitig kampf vor einer Boxweltmeisterschaft. Am
soll. Zwar plädierte er von Anfang an für mit Sängern und Orchestern. Ende aber könnte er sich als entscheidend
Gespräche mit dem Norden. Doch statt Zwar schien es oft, als führte Kim aus erweisen: Denn Moon will den Diktator da-
auf ihn zu hören, trieben sich Kim und der Ferne die Regie bei der Wiederannä- von überzeugen, dass er den USA mit kon-
Trump in eine gefährliche Eskalationsspi- herung, doch er überließ Moon zeitweise kreten Schritten für eine atomare Abrüs-
rale. Der eine mit Atom- und Raketentests. die Rolle des diplomatischen Vermittlers. tung entgegenkommen muss. Und er sagt,
Der andere mit Twitter-Tiraden, in denen So waren es Moons Unterhändler, die Kim bestehe nicht mehr wie bislang auf den
er auch Moons Entspannungspolitik als Trump nach einem Besuch bei Kim in Abzug der US-Truppen aus Südkorea. Das
»Appeasement« verhöhnte. Pjöngjang die Gipfeleinladung überbrach- könnte eine der wichtigsten Bedingungen
Anfang dieses Jahres überraschte Kim ten – die dieser überraschend annahm. dafür sein, damit das Treffen zwischen Kim
die Welt dann mit einer Charmeoffensive – Das Aufeinandertreffen der beiden Super- und Trump überhaupt Erfolg haben kann.
und Moon ergriff die Chance. Als Gast- egos soll Ende Mai oder Anfang Juni statt- Es gibt vermutlich kaum jemanden, der
geber der Olympischen Winterspiele von finden. Kürzlich schickte Trump bereits für diese schwierige Aufgabe besser geeig-

95
Ausland

net ist als Moon. Mit Fleiß und Ehrgeiz hat den Pekinger Sechsergesprächen zwischen dass Moon den US-Präsidenten fast schon
er es einst an eine Universität in Seoul ge- den beiden Koreas, den USA, China, Russ- hofiert. Als es im Januar erste Kontakte
schafft. Damals war Südkorea eine Dikta- land und Japan hatte das Kim-Regime zu- zwischen Nord und Süd gab, lobte er dafür
tur, und Moon demonstrierte gegen das Re- vor versprochen, seine Atomanlage Yong- nicht sich selbst, sondern Trump. Ebenso
gime. Die Nachricht von seiner bestande- byon abzuschalten. Und beim von Moon wie Trump beharrt Moon darauf, dass die
nen Juraprüfung erhielt er hinter Gittern. vorbereiteten Gipfel in Pjöngjang 2007 Uno-Sanktionen gegen das Kim-Regime
Wegen seiner Verhaftung war ihm eine vereinbarten Nord und Süd dann Verhand- in Kraft bleiben, solange es seinem Atom-
Laufbahn als Richter versperrt, er wurde lungen über einen Friedensvertrag – pa- programm nicht abschwört.
daher Anwalt. Gemeinsam mit dem späte- rallel zur Lösung des Atomproblems auf Doch wird Diktator Kim sich darauf ein-
ren Präsidenten Roh Moo Hyun betrieb er der Halbinsel. Der Frieden sollte endlich lassen? Er hat zwar angekündigt, eine Ab-
in Busan eine Kanzlei; sie verteidigten Stu- den Waffenstillstand ersetzen, der seit dem rüstung sei denkbar – aber kann man ihm
denten, Arbeiter und andere Verfolgte des Koreakrieg herrscht. Auch ambitionierte glauben?
Regimes. Wirtschaftsprojekte wurden angepeilt, da- Die USA und ihre Verbündeten fordern
»Er drängt sich nicht in den Vordergrund, runter eine gemeinsame Fischereizone und zudem, dass Kim auf sein nukleares Arse-
er respektiert die Position seines Gegen- der Ausbau von Haeju, einem Hafen an nal verzichtet, und zwar vollständig, über-
übers.« Das sagt der Anwalt Jung Jae Sung, der nordkoreanischen Westküste. prüfbar und unumkehrbar. Kim deutet da-
der Moon seit den späten Achtzigerjahren gegen nur eine schrittweise Abrüstung an,
kennt; jahrelang arbeitete er mit Moon Sei- zeitlich abgestimmt mit Konzessionen der
te an Seite in ihrer gemeinsamen Kanzlei. »2007 hatte Moon alles USA. Überdies verlangt er Überlebens-
»Moon war extrem geduldig, er arbeitete persönlich vorbereitet, garantien für sein Regime.
hart und dachte weit voraus«, sagt Jung. Er Nicht nur, dass diese Differenzen schwer
berichtet von einer Klientin, einer Queru- dann sah er, wie sich zu überbrücken sein werden, Moon steckt
lantin, vor der andere Kollegen sich am liebs- alles in Luft auflöste.« auch in einem geostrategischen Dilemma:
ten versteckt hätten. Doch Moon habe ihr Kim ist mittlerweile nicht nur der Führer
stets aufmerksam und freundlich zugehört. einer Atommacht. Geschickt nutzt er auch
Jung betont überdies den anspruchs- Doch dann brach das Kim-Regime ein die Rivalität zwischen den Supermächten
losen Lebensstil des ehemaligen Kollegen. Versprechen nach dem anderen; es rüstete USA und China, die auf der koreanischen
»Moon ist sehr streng gegen sich selbst, atomar weiter auf. »Moon hatte alles per- Halbinsel letztlich einen Konflikt über die
fast schon zu streng.« Von sich aus habe sönlich vorbereitet, und später sah er dann, künftige Machtverteilung im Pazifik aus-
er nie vorgeschlagen, nach Feierabend ge- wie sich alles in Luft auflöste«, erinnert tragen. Das wird dadurch deutlich, dass
meinsam ins Restaurant zu gehen. »Wenn sich Kim Kyoung Soo, ein damaliger Mit- Chinas Staatschef Xi Jinping demnächst
wir dann allerdings loszogen, dann hat er arbeiter von Moon, der jetzt für die Re- wahrscheinlich zu einem Staatsbesuch
immer für gute Stimmung gesorgt.« gierungspartei im Parlament in Seoul sitzt. nach Pjöngjang reisen wird.
Nachdem sein Anwaltskollege, der Aber diesmal, glaubt er, gebe es eine Mit der Schutzmacht China im Rücken
linksliberale Roh Moo Hyun, 2002 zum echte Chance für Frieden. »Die damalige kann Kim noch selbstbewusster verhan-
Staatsoberhaupt gewählt worden war, folg- Erfahrung hat Moon gelehrt, jeden einzel- deln. Dagegen kann Moon sich bei Trump
te Moon ihm als Stabschef ins Blaue Haus, nen Schritt gründlich vorzubereiten.« Vor keineswegs sicher sein, inwieweit der die
den Präsidentenpalast in Seoul. 2007 be- allem aber habe Moon verstanden, dass Interessen des Südens berücksichtigt.
reitete Moon federführend den Nord-Süd- Versöhnung nur möglich sei, »wenn wir »Das schlimmste Szenario wäre, wenn
Gipfel zwischen Roh und Kim Jong Il vor, uns eng mit den USA abstimmen«. die USA sich aus dem Süden der Halbinsel
dem Vater des heutigen Diktators. Tatsächlich herrschten 2007 erhebliche zurückzögen«, sagt Park Myung Lim, ein
Schon damals keimte Friedenshoffnung Unstimmigkeiten zwischen Seoul und Wegbegleiter von Moon. Der Politologe
auf der koreanischen Halbinsel auf. Bei Washington. Diesmal fällt dagegen auf, lehrt an der Yonsei-Universität in Seoul,
er hat Moon oft beraten. Auch Park befür-
wortet die Aussöhnung, blickt den beiden
Gipfeln jedoch skeptisch entgegen. Denn
er unterstellt den USA, dass es ihnen weni-
ger um das Atomprogramm geht als darum,
die Bedrohung von New York oder Los
Angeles durch Kims Langstreckenraketen
abzuwenden.
»Falls Nordkorea sich mit den USA ei-
nigt, die Reichweite seiner Raketen zu
beschränken, würde der Atomstreit zu ei-
ner lokalen Angelegenheit herabgestuft.«
Dann müsste der Süden zusehen, wie er
mit dem Norden zurechtkommt.
Er fügt hinzu: Selbst wenn Kim der Welt
verspreche, auf Atomwaffen zu verzichten,
lasse sich diese sogenannte Denuklearisie-
rung kaum überprüfen. »Der Norden hat
große Fortschritte bei der Verkleinerung
seiner Atomwaffen gemacht, die kann er
immer besser verstecken.«
REUTERS

Wieland Wagner
Mail: wieland.wagner@spiegel.de
Regierungsmitarbeiter Moon mit Mutter (l.), Tante in Nordkorea 2004: Die Zeit drängt

96 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Kommentar

Ein Panik-Manöver
Die Entscheidung von Staatschef Erdoğan, die Wahlen bereits in neun Wochen
abzuhalten, ist ein Zeichen der Schwäche.

hat Milliarden Euro in die Wirtschaft gepumpt, wo-


durch die Inflation stark angestiegen ist. Die Lira ist
im Vergleich zum Euro so schwach wie nie zuvor. Je-
der fünfte Türke zwischen 15 und 24 Jahren ist ohne
Arbeit. Türkische Unternehmen haben Schulden im
Wert von 180 Milliarden Euro angehäuft, und aus-
ländische Investoren ziehen ihr Kapital aus der Tür-
kei ab. Die letzte große türkische Wirtschaftskrise
hat die damalige Regierung 2002 die Macht gekos-
tet – und die AKP nach ganz oben gebracht. Erdoğan
hat Angst, dass sich die Geschichte nun wiederholen
könnte, nur eben mit anderen Vorzeichen.
Denn eine Mehrheit der Menschen in der Türkei
unterstützt Erdoğan nicht wegen seiner nationalis-
tischen Agenda oder islamistischen Parolen, son-

ADEM ALTAN / AFP


dern wegen des Versprechens auf Wohlstand. Un-
ter Erdoğan ist in Anatolien eine Mittelschicht ent-
standen, die nun um ihren Lebensstandard bangt.
Dazu kommen noch andere Probleme: Der
Politiker Erdoǧan bei der Pressekonferenz am Mittwoch Krieg gegen die kurdische YPG-Miliz in Syrien
hat Erdoğan zwar zu einem kurzfristigen Popula-

R
ritätsschub verholfen. Sein Militär hat die Region
ecep Tayyip Erdoğan regiert die Türkei seit 15 Jahren. um Afrin im Nordwesten des Landes schneller eingenommen
Er hält so gut wie jeden Tag mindestens eine Rede. als von Beobachtern prophezeit. Seither jedoch zeigt sich
Er ist beinahe 24 Stunden am Tag, sieben Tage die mit jedem Tag mehr, dass Erdoğan keine langfristige Strategie
Woche im Fernsehen zu sehen. Und trotzdem gelingt hat. Es kommt dort regelmäßig zu Anschlägen durch YPG-
es dem türkischen Präsidenten immer noch, seine Landsleute Kämpfer; im Guerillakrieg könnten noch viele türkische Sol-
zu überraschen. Wie am Mittwoch. Seit Wochen war darüber daten sterben. Das kommt zu Hause nicht gut an. Deshalb
spekuliert worden, ob die Regierung die Präsidentschafts- wird Erdoğan die Region wohl früher oder später an Syriens
und Parlamentswahlen vorziehen würde. Erdoğan hatte das Diktator Baschar al-Assad übergeben müssen. Gleichzeitig
beharrlich bestritten. Doch dann trat er vor die Presse, um würde Erdoğan seinen Einfluss gern auf die Provinz Idlib
Neuwahlen für den 24. Juni anzukündigen – ganz so, als ausweiten, woran aber weder Assad noch dessen Verbündete
hätte es all die Dementis zuvor nicht gegeben. Russland und Iran großes Interesse haben. Erdoğan wollte
Erdoğan hat die Opposition mit seinem Vorstoß überrum- einst Syrien neu ordnen. Nun bemüht er sich verzweifelt da-
pelt. Die Parteien haben noch nicht einmal einen Gegenkan- rum, zumindest nicht ganz leer auszugehen.
didaten benannt, bis auf die frühere Innenministerin Meral In der AKP begehrt bislang niemand offen gegen Erdoğan
Akşener, bei der jedoch nicht klar ist, ob sie mit ihrer neu ge- auf, doch der Frust über den autoritären Kurs des Präsidenten
gründeten Iyi-Partei überhaupt antreten darf. Erdoğans AKP ist spürbar. Mehrere Gründungsmitglieder der AKP haben
wirkt für einen Wahlgang im Juni dagegen bestens vorbereitet. sich inzwischen zurückgezogen, darunter Ex-Präsident Ab-
Sie hat eine Allianz mit der rechtsnationalen MHP geschlos- dullah Gül. Minister kämpfen offen gegeneinander. Auch steht
sen. Sie kontrolliert weitgehend die Medien. Und sie hat ge- der Abgang von Vizepremier Mehmet Şimşek, der Investoren
rade den Ausnahmezustand zum siebten Mal verlängert, was als letzter Garant für Stabilität gilt, immer wieder zur Debatte.
der Opposition den Wahlkampf weiter erschweren dürfte. Zugleich mag die Opposition derzeit zwar noch schwach
Trotzdem ist Erdoğans Entscheidung, Neuwahlen auszu- sein – aber sie ist dabei, sich nach Jahren der Stagnation neu
rufen und nicht bis zum Herbst 2019 zu warten, ein Zeichen aufzustellen. Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der mo-
der Schwäche und nicht der Stärke. Der Präsident bittet die deraten CHP, hat an Selbstbewusstsein gewonnen, seit er im
Wähler im Juni weniger deshalb an die Urnen, um seine vergangenen Sommer mehrere Millionen Menschen mit sei-
Macht noch weiter auszubauen, sondern eher, um einer nem »Gerechtigkeitsmarsch« auf die Straße gebracht hat.
Machterosion zuvorzukommen. Denn AKP und MHP haben Und mit der Iyi-Partei erwächst der AKP erstmals ernsthafte
im April 2017 das Referendum über die Einführung eines Konkurrenz im rechten Lager.
Präsidialsystems, das Erdoğan noch mehr Kompetenzen zu- Erdoğans finanzielle und logistische Überlegenheit dürfte
billigt, nur mit knappem Vorsprung gewonnen. Seither hat trotz allem ausreichen, um die Wahl zu gewinnen. Die Pro-
sich die Lage im Land nicht verbessert. bleme seines Landes aber werden nach dem 24. Juni nur
Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um noch größer werden.
etwa sieben Prozent gewachsen, stärker als in fast jedem anderen Maximilian Popp
Industrieland, doch dieses Wachstum ist teuer erkauft: Erdoğan Twitter: @maximilian_popp

97
Ausland

Das Vorgehen des Regimes war stets

Assads Triumph ähnlich: Im Vorfeld der Verhandlungen


steigerte Damaskus den militärischen
Druck, setzte Fassbomben ein, hungerte
Syrien Nach den westlichen Luftschlägen soll wieder einmal über eine die Bewohner von Oppositionsgebieten
noch brutaler aus. So geschehen 2013 in
diplomatische Lösung verhandelt werden. Doch der syrische Diktator Muadhamija und Jarmuk, Anfang 2016 in
will keinen Kompromiss, die Bombardierungen haben ihn gestärkt. der Ortschaft Madaja, wo Menschen an
Mangelernährung starben. Dass anschlie-
ßend einige Hilfskonvois passieren durften,

A m Montag trat der Sprecher des rus-


sischen Verteidigungsministeriums
vor die Presse, um einen glänzen-
den Sieg zu verkünden. Syriens Armee,
Baschar al-Assad dürfte die jüngste Kri-
se mehr genützt als geschadet haben.
Denn der westliche Angriff zeigt auch:
Mordet er ganz konventionell, toleriert die
wurde als Erfolg gefeiert. Indem Assad
jedes Mal die Anzahl der Verhandlungs-
gegenstände erhöhte, konnte er dann Kon-
zessionen machen – ohne von seinen Kern-
sagte Major Igor Konaschenkow, habe Weltgemeinschaft das. Zudem kam der interessen je etwas preiszugeben.
Großes geleistet. Von mehr als hundert Ra- Schlag für ihn zum perfekten Zeitpunkt, Vor allem die zentrale Frage ist noch im-
keten, die die USA und ihre Verbündeten direkt nach dem Sieg über die verhassten mer ungeklärt: Was passiert mit Baschar
auf syrische Ziele abgefeuert hätten, seien Rebellen in Ost-Ghuta und kurz vor dem al-Assad? Mit ihm sei kein echter Über-
zwei Drittel abgeschossen worden. Und Nationalfeiertag, der an das Ende der fran- gang denkbar, darin sind sich die Opposi-
das, wohlgemerkt, mithilfe von Waffen aus zösischen Besatzung 1946 erinnert. Und tionsvertreter in Genf einig. Auch im Wes-
der Sowjetzeit! Militärexperten wissen so- so feierte das Staatsfernsehen tagelang den ten wird das so gesehen. Doch Moskau
fort, dass das nicht sein kann. »Triumph Syriens über den Kolonialis- hält bislang an Assad fest. Als Parallelpro-
Es war ein bizarrer Auftritt, mit dem mus«, begleitet von Sondersendungen wie jekt zu Genf haben die Russen daher vor
die Russen darüber hinwegtäuschen woll- »Syrien: die Geschichte einer Nation, die einem Jahr den Verhandlungsprozess im
ten, dass die USA ihnen gerade ihre Gren- keine Kompromisse eingeht«. kasachischen Astana ins Leben gerufen.
zen aufgezeigt hatten. Und dass Russland, So ist also die Stimmung in Damaskus, Um den innersyrischen Konflikt geht es
obwohl Schutzmacht des syrischen Dikta- während die Europäer ihre neue Friedens- kaum, auch nicht um Assads Abgang. Das
tors Baschar al-Assad, bei einem Angriff initiative vorbereiten, über die bisher vorrangige Ziel Moskaus ist eine Beilegung
mit Marschflugkörpern lieber nur zu- nichts bekannt ist, außer dass sie an die des Krieges, keine Lösung.
schaut – auch wenn diese am Ende ledig- vergangenen, bisher stets gescheiterten Mit den Verhandlungen ebenso wie mit
lich drei wahrscheinlich leere Gebäude zer- Versuchen anknüpft. den zahlreichen lokalen Waffenstillständen
störten, mehr symbolisches Feuerwerk als Seit fast sechs Jahren versucht die Uno verfolgten das Assad-Regime und seine
ernsthafte Schädigung. mit immer neuen Verhandlungsrunden Alliierten lediglich ein Ziel: Zeit zu gewin-
Wieder einmal ist die Welt in Syrien zwischen syrischem Regime und opposi- nen für die Rückeroberung der Opposi-
an einer weiteren Eskalation vorbeige- tionellen Gruppen in Genf, den Krieg zu tionsgebiete mithilfe Zehntausender Mili-
schrammt. Und wieder einmal soll nun die beenden. Die Idee ist, dass die Syrer sich zionäre aus dem Irak und dem Libanon,
Stunde der Diplomatie schlagen. Kom- auf einen Übergangsprozess verständigen, aus Afghanistan und Pakistan, unter irani-
mende Woche wollen Vertreter von EU während dessen eine neue Verfassung er- scher Führung und aus der Luft unterstützt
und Uno in Brüssel auf einer Syrienkonfe- arbeitet wird und freie Wahlen unter Uno- von russischen Bombern. Und genau dieser
renz über eine Verhandlungslösung bera- Aufsicht stattfinden. Zudem soll es einen Sieg ist nun wieder ein Stück näher gerückt,
ten. Doch welche Aussicht auf Erfolg ha- Waffenstillstand geben, und alle politischen nach der Eroberung von Ost-Ghuta.
ben solche diplomatischen Bemühungen Gefangenen sollen freikommen. Doch Wie sicher sich Assad fühlt, zeigt sich
im achten Jahr des Syrienkonflikts – und nichts davon wurde bislang erreicht; die schon daran, dass Staffan de Mistura, offi-
welche Rolle spielt Russland dabei? letzte Runde endete im Dezember 2017. zieller Uno-Sonderbotschafter, seit fast an-
derthalb Jahren nicht nach Damaskus ein-
reisen darf, seit Kurzem auch nicht mal
mehr sein Vize, der Ägypter Ramzy Ramzy.
Wie also will man ausgerechnet nun, da
er triumphiert, Assad zu einer Übergangs-
regierung und echten Wahlen zwingen?
Das syrische Regime, das zeigt sich im-
mer deutlicher, beherrscht meisterhaft das
Aussitzen: Wenn die Lage bedrohlich wird,
hält es die Welt so lange hin, bis es sich
wieder aus der Gefahrenzone manövriert
hat. Auch bei den Chemiewaffen handelte
Damaskus nach diesem Prinzip. Erst hielt
es jahrzehntelang sein Programm geheim.
Dann gab es nach Androhung westlicher
Luftschläge 2013 zu, die geächteten Waffen
zu besitzen, und versprach, sie zu vernich-
ten. Mittlerweile ist jedoch klar, dass Syrien
die Experten der Organisation für das Ver-
bot von Chemiewaffen (OPCW) betrogen
hat: Mindestens 28-mal setzte das Regime
AP

laut Uno seitdem die angeblich doch längst


Syrischer Helfer mit Kind in Duma am 7. April: 28 Einsätze mit Chemiewaffen seit 2013 vernichteten Chemiewaffen ein.

98
SANA / IMAGO
Diktator Assad in Regierungsgebäude (Propagandabild): Das Sterben geht weiter, Damaskus feiert den Sieg

Und auch vergangene Woche ging das schen den Fronten. Es kämpft an der Seite zurückeroberten Orten deportiert. Mehr
syrische Feilschen wie gewohnt weiter. Irans und der Hisbollah, lässt aber zugleich als eine Million Menschen leben nun zu-
Zwar hatte Damaskus versprochen, die Israel ebendiese Alliierten in Syrien bom- sätzlich in dieser Provinz; und es gibt kei-
OPCW-Inspektoren nach Duma zu lassen, bardieren, ohne seine Luftabwehr zu akti- nen Ort, an den man sie von dort noch ver-
dorthin, wo am 7. April vermutlich eine Mi- vieren. Es ist mit Ankara verbündet und treiben könnte. Außerhalb von Assads
schung aus Chlorgas und Nervengift einge- lässt die türkische Armee Afrin erobern, Herrschaftsbereich existieren dann nur
setzt worden ist. Nach Tagen des Wartens ohne jedoch die Kurden in Nordsyrien noch die türkisch besetzten Gebiete und
durften die Inspektoren am Samstagmor- ganz fallen zu lassen. die Region, die bislang unter kurdischer
gen nach Damaskus reisen – allerdings Jetzt würde Russland gern als neutraler Kontrolle ist. In Idlib, so viel ist absehbar,
nicht ins eine Viertelstunde entfernte Duma. Makler auftreten, der Syriens verfeindete droht die nächste humanitäre Katastrophe.
Als schließlich am Dienstag Sicherheits- Mächte an einen Tisch bringt, nicht als Und für Verhandlungen, gar einen Abtritt
experten der OPCW endlich dorthin auf- Schutzmacht eines brutalen Diktators. Assads, wird es dann endgültig zu spät sein.
brachen, kamen sie in dem von der russi- Aber Assad lässt diesen Rollenwechsel Assad plant daher auch schon die Zu-
schen Militärpolizei kontrollierten Gebiet nicht zu, indem er mutmaßlich weiter Zi- kunft, sein Regime hat gerade »Dekret 10«
unter Beschuss und mussten sich zurückzie- vilisten mit Chemiewaffen angreift – und erlassen, das offiziell den Wiederaufbau
hen. Bei Redaktionsschluss am Donnerstag- so Moskau zwingt, das syrische Regime vereinfachen soll, in Wahrheit aber einen
abend waren die Inspektoren immer noch weiter zu verteidigen. gigantischen Landraub legalisiert. Es sieht
nicht am mutmaßlichen Tatort. Dagegen Und so wird es wohl weitergehen: Nach vor, dass in vielen einstigen Rebellenhoch-
konnten Journalisten, eskortiert vom syri- der Eroberung von Duma wird Assads mul- burgen Grundbesitz innerhalb von 30 Ta-
schen Regime, mühelos dorthin gelangen. tinationale Streitmacht dieser Tage in Jalda, gen neu registriert werden muss. Wer da-
All diesen Ausweichmanövern haben Babila und Beit Saham einrücken, den letz- für nicht persönlich vor Ort erscheint oder
die USA und die Europäer, die sich vor ten südlichen Vororten von Damaskus un- Verwandte schickt, dessen Land und Häu-
einem echten militärischen Eingreifen ter Kontrolle der Rebellen. Nebenan in Jar- ser fallen an den Staat.
scheuen, nichts entgegenzusetzen. muk wurde den geschätzt tausend Kämp- Man kann das »Dekret 10« auch als Ent-
Anders als Russland, das in Syrien be- fern des »Islamischen Staats«, die sich dort eignung derjenigen betrachten, die fliehen
harrlich eine Strategie verfolgt – und dafür jahrelang relativ unbehelligt halten konn- mussten und deren Loyalität das Regime
im Herbst 2015 seinen Militäreinsatz star- ten, bereits ein erstaunliches Angebot ge- bezweifelt. Statt einer Versöhnung den
tete. Er sollte Assad retten, aber er sollte macht: Sie dürfen in die Südprovinz Daraa Weg zu bereiten, legt das Regime so gleich
ebenso dessen Gegner an den Verhand- abziehen, Richtung israelische Grenze. Da- die Saat für den nächsten Konflikt.
lungstisch zwingen. Am Ende wollte Mos- mit würden sie den perfekten Vorwand für Christian Esch, Christoph Reuter,
kau sich Einfluss im Nahen Osten sichern Assads Truppen liefern, als Nächstes dort Raniah Salloum
und zugleich internationales Prestige ge- einzumarschieren.
winnen, indem es in Syrien Frieden schafft, Als Letztes wird Assad wohl versuchen,
nach seinen Vorstellungen natürlich. die seit Monaten von der russischen Luft- Video
Assads »alternative
Dafür hat Moskau einen beeindrucken- waffe bombardierte Nordprovinz Idlib zu- Fakten«
den diplomatischen Aufwand betrieben rückzuerobern. Dorthin wurden in den ver- spiegel.de/sp172018syrien
und erreicht, mit allen im Gespräch zu blei- gangenen zwei Jahren Rebellen, Aktivisten oder in der App DER SPIEGEL
ben und nicht zerrieben zu werden zwi- und Ärzte aus Aleppo, Duma und anderen

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 99


Hunderte
marschieren.

Bis Du
stehenbleibst.
Maria-Teresa Asplund in Borlänge, Schweden.
Die ganze Geschichte: handelsblatt.com/handeln

FÜR ALLE,
DIE HANDELN
Sport
Olympia im eigenen Land? Lieber nicht. ‣ S. 105

Punkteabstand zwischen Platz 3 und 16 nach dem 30. Spieltag in der 2. Liga* 25
*seit Einführung der Drei-Punkte-Regel 23 2007/08
35 22 2006/07 28
2001/02 26 21 2005/06 2010/11
30
2002/03 2004/05 20 22
2009/10 2011/12
2008/09

15
2003/04
21 21
2000/01 2012/13

24 21
T I M G RO OT H U I S / W I T T E R S

2013/14
1998/99
14 24
2014/15
1999/00
29
2015/16
21
1997/98
Christopher Buchtmann
FC St. Pauli 24
18 2016/17
1996/97

16 12
1995/96 2017/18

Spannender als jemals zuvor ist in diesem Jahr die Zweite Fuß- zwischen dem 3. und dem 16. Platz beträgt nur zwölf Punkte.
ball-Bundesliga. Während die Erste Liga vier Spieltage vor Kurios ist deshalb die Situation des FC St. Pauli: Die Hamburger,
Saisonende langweilig dem letzten Spieltag entgegendümpelt, derzeit auf dem drittletzten Rang, können direkt absteigen, aber
knubbeln sich die Vereine eine Klasse darunter. Der Abstand theoretisch auch noch den Aufstieg in die Erste Liga schaffen.

Magische Momente Werner: Es war der Generalmanager


Ryan Grigson. Er hat sich vorgestellt und
»Alles habe ich dem Football zu verdanken« gefragt, wie es mir geht. Wenn man da mit
dem Handy sitzt, guckt der ganze Green
Der ehemalige Profi Björn Werner, 27, über seine NFL-Berufung Room zu. Meine Familie rastete schon
aus, meine Frau, meine Oma, meine Brü-
SPIEGEL: Nächste Woche SPIEGEL: Will man denn überhaupt so der, alle heulten. Dann sagte Grigson, er
wählen Football-Teams früh gedraftet werden? Zuerst dürfen ja die wolle mich als 24. Draft Pick verkünden.
der NFL beim sogenann- schlechtesten Teams die Spieler wählen. Ich dachte nur: Oh, shit. Da kamen mir
ten Draft wieder die Werner: Es gab schon einige College- auch die Tränen.
besten College-Talente. Athleten, die gesagt haben: Hoffentlich SPIEGEL: Sie waren der erste Deutsche,
Wie haben Sie das vor fünf rufen mich die Cleveland Browns nicht der bei einem NFL-Draft in der ersten
Jahren erlebt? an. Aber je früher man gewählt wird, Runde verpflichtet wurde.
Werner: Das war eine emotionale Achter- desto mehr Geld bekommt man auch. Werner: Das war ein Moment, der mein
JÖRG CARSTENSEN / PICTURE ALLIANCE

bahn. Die NFL hatte mich nach Manhattan SPIEGEL: Sie haben beim Draft mehr als Leben verändert hat. Ich lebe in den USA,
eingeladen, in ein Fünfsternehotel, ich drei Stunden im Green Room gewartet. finanziell geht es mir sehr gut, ab und zu
konnte sogar meine Familie einfliegen. Mei- Bis die Indianapolis Colts anriefen. werde ich als Experte ins Fernsehen ein-
ne Brüder und meine Eltern waren noch geladen. Das alles habe ich dem Football
nie in den USA gewesen, wir hatten nie das zu verdanken.
Geld dafür gehabt. Aber wenn man ein SPIEGEL: Die College-Zeit blieb aller-
Kandidat für die erste Auswahlrunde ist, dings der Höhepunkt Ihrer Karriere.
wird man wie ein Superstar behandelt. Werner: Ich habe bei Florida State
SPIEGEL: In der ersten Runde werden die manchmal vor über 80 000 Leuten ge-
größten Talente verpflichtet. Sie waren spielt, alle besoffen, die haben total
IMAGO SPORTFOTODIENST

ein Kandidat. Party gemacht. In Indianapolis waren es


Werner: Aber kurz vor dem Draft sagte deutlich weniger, und die Fanbasis war
mir mein Agent, dass die drei Teams aus älter. In der NFL haben dann auch meine
den Top 15, die mich eigentlich nehmen Knie nicht mehr lange mitgemacht.
wollten, meine Kniebeschwerden für ein Nach drei Jahren war meine Karriere lei-
zu großes Risiko hielten. Werner 2013 in Indianapolis der schon vorbei. CW

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 101


RODRIGO JIMENEZ / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

Torschütze Ronaldo: »Gucken Sie mir in die Augen!«

102
Sport

Der Schauspieler
Football Leaks Sportlich ist Cristiano Ronaldo in glänzender Verfassung. In seinem Verfahren
wegen schwerer Steuerhinterziehung wird es hingegen zunehmend
düster. Neue Dokumente zeigen nun: Der Superstar nutzte weitere Steueroasen.

N
achspielzeit, 93. Minute, das Expertenmeinung eine Gefängnisstrafe die Muttergesellschaft auf der kleinen
Chaos bricht aus. Auf den Tri- von mindestens sieben Jahren. Kanalinsel Jersey verwaltet das Ganze.
bünen des Estadio Santiago Der SPIEGEL und seine Partner vom Was überall fehlt, ist der Name Cristiano
Bernabéu, der Heimspielstätte Recherchenetzwerk European Investiga- Ronaldo. Der Superstar taucht in keinem
von Real Madrid, liegen sich die spani- tive Collaborations (EIC) hatten Ronaldos öffentlichen Register auf. Stattdessen agie-
schen Fans in den Armen. Sie jubeln, man- Offshore-Aktivitäten im Dezember 2016 ren Treuhänder für ihn, die man auch als
che weinen. Unten auf dem Rasen rennen enthüllt. Grundlage der Berichterstattung Strohmänner bezeichnen kann. Ihre Firma
die Spieler von Juventus Turin auf den waren Dokumente der Enthüllungsplatt- trägt den passenden Namen »Private
Schiedsrichter zu, sie bedrängen ihn, form Football Leaks. Trustees«.
schreien. Die Verzweiflung muss irgend- Damit nicht genug: Neue Dokumente Aus den Dokumenten von Football
wie raus. von Football Leaks zeigen nun, dass Ro- Leaks geht hervor, wer der »einzige wirt-
Nur einer wirkt, als ginge ihn das alles naldo noch weitere Steueroasen nutzte. schaftlich Berechtigte« hinter der Kon-
nichts an. Sollten die Richter entscheiden, dass sie struktion ist: Cristiano Ronaldo.
Cristiano Ronaldo, 33, steht teilnahmslos einen Prozess gegen den Stürmer eröff- Offshore-Firmen sind grundsätzlich
im Trubel, fast fünf Minuten lang. Er nen, könnten auch all seine weiteren Ge- nicht illegal, sofern die Einkünfte korrekt
streicht sich durch die Haare, wischt sich schäfte Gegenstand der Verhandlungen versteuert werden. Ob Ronaldo dies getan
den Schweiß aus dem Gesicht, guckt ins werden. hat, ist nicht bekannt. In seiner Steuer-
Leere. Es steht 3:0 für Turin, Real braucht Und davon gibt es reichlich. erklärung für das Jahr 2015 taucht die
ein Tor, um ins Halbfinale der Champions Irland, die British Virgin Islands, eine Steueroase Jersey offenbar nicht auf.
League zu kommen. Ronaldo küsst den kleine Privatbank in der Schweiz, eine Stif- Cristiano Ronaldo äußerte sich dazu auf
Ball, legt ihn auf den Elfmeterpunkt, kurzer tung in Panama – dies sind Ronaldos Off- Anfrage des SPIEGEL nicht.
Anlauf, dann drischt er ihn in den Winkel. shore-Vehikel, die die spanischen Ermittler »Es sitzen viele unschuldige Menschen
Die Viertelfinalpartien der Champions bisher schon untersuchen. Im Kern geht im Gefängnis. Und ich fühle mich ein biss-
League waren Ronaldo-Festspiele, seine es dabei um rund 150 Millionen Euro aus chen wie sie. Du weißt, dass du nichts
drei Tore gegen Juve – darunter ein spek- Werbegeldern, für die Ronaldo in den Jah- falsch gemacht hast, und sie sagen, du hast
takulärer Fallrückzieher im Hinspiel – ren 2009 bis 2014 lediglich knapp sechs etwas falsch gemacht«, sagte Ronaldo kurz
wurden in den sozialen Netzwerken mil- Millionen Euro Steuern gezahlt hat. nach den Enthüllungen seiner mutmaß-
lionenfach gepostet, geteilt, gelikt. Niedliche vier Prozent Steuern – ein lichen Steuerhinterziehung. Der Portugiese
Ronaldo war endlich wieder dort, wo Witz. wechselte anschließend trotzdem seine An-
er sich am wohlsten fühlt: im Mittelpunkt. Die neuen Football-Leaks-Dokumente wälte und erweiterte seine Verteidigerriege
Nach einer durchwachsenen Hinrunde in zeigen, dass Ronaldo 2015 auch noch eine um namhafte Juristen, darunter auch die
der spanischen Liga ist er seit Wochen wie- Holding in Luxemburg und einen Trust frühere Kanzlei des heutigen spanischen
der in großartiger Form. Der Stürmer auf Jersey betreiben ließ. Zwei weitere Finanzministers Cristóbal Montoro.
kommt auf 15 Tore in der aktuellen Cham- Steueroasen, und wieder sind seine Ge- Aufgeschreckt haben dürfte ihn eine Mit-
pions League, 120 hat er insgesamt in der schäfte alles andere als transparent. Die teilung der Staatsanwaltschaft Madrid, die
Königsklasse erzielt. In der kommenden Luxemburger Firma hält Ronaldos Be- für die vermeintlichen Steuerbetrügereien
Woche trifft der Portugiese nun im Halb- teiligungen an unterschiedlichen Hotels, von Xabi Alonso, dem früheren Mittelfeld-
finale auf Bayern München.
Mit jedem Tor arbeitet Ronaldo weiter
an seiner Legende. Diese Legende muss
so groß werden, dass sie jedes Klein-
gedruckte überstrahlt. Kleingedrucktes
wie seine Steuererklärung.
Denn während Ronaldo seine Tore
schoss, vernahmen Richter in Madrid zahl-
reiche Zeugen. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihm vor, 14,8 Millionen Euro Steu-
ern mithilfe eines komplizierten Firmen-
geflechts hinterzogen zu haben. Und zwar
»wissentlich und willentlich«, wie die Er-
mittler formulierten. In den kommenden
Wochen werden die Richter nun darüber
entscheiden, ob sich Ronaldo einem Pro-
zess wegen des Verdachts der Steuerhin-
terziehung stellen muss. Ihm droht nach Ausriss aus Dokumenten einer Ronaldo-Firma: Strohmänner statt Transparenz

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 103


spieler von Bayern München und Real bar noch nicht einmal davor zurück, Do- ern zu zahlen. Der normale Spitzensteuer-
Madrid, fünf Jahre Haft fordert. Ihm wird kumente zu manipulieren. Entscheidende satz lag in Spanien bei 46 Prozent.
vorgeworfen, zwei Millionen Euro hinter- Verträge, die sie später den Behörden vor- Grotesk wurde es noch einmal Ende
zogen zu haben, was Alonso bestreitet. legen mussten, wurden wohl rückdatiert. März. Damals traten drei Gutachter vor
Auch das Urteil gegen Lionel Messi im vo- Als Ronaldo im Sommer vor Gericht zu Gericht auf. Ronaldo hatte sie selbst be-
rigen Mai dürfte Ronaldo eine Warnung diesen Vorgängen befragt wurde, erklärte nannt, sie sollten den Richtern eine Ein-
sein. Die Richter verurteilten den Barça- er wahlweise, er könne dazu nichts sagen, schätzung zu seinem Offshore-Konstrukt
Star zu 21 Monaten Haft wegen Steuerhin- sich nicht mehr erinnern oder er sei dafür geben. Laut spanischer Presse bestätigten
terziehung. Der Knast blieb Messi letztlich nicht verantwortlich gewesen. Er blaffte sie den Vorwurf der Steuerhinterziehung.
erspart. Strafen unter zwei Jahren müssen die Richterin sogar an, sie solle ihm »in Einer nannte offenbar Ronaldos Erklärun-
in Spanien oft nicht angetreten werden. die Augen gucken!«, denn er, Cristiano Ro- gen sogar »die absurdeste Version, die wir
Bei Messi ging es um 4,1 Millionen Euro, naldo, habe wirklich »die Steuern immer je gehört haben«.
bei Ronaldo geht es um 14,8 Millionen vollständig gezahlt«. Das sei ihm doch sehr Nun hängt alles von den Richtern ab.
Euro. wichtig! Und diese Sache mit der Briefkas- Sie haben in den vergangenen Monaten
Die Anwälte des portugiesischen Stür- tenfirma auf den British Virgin Islands, so Experten befragt, Ronaldo sowie viele sei-
mers versuchen laut spanischer Tageszei- Ronaldo sinngemäß, sei nichts Besonderes: ner Steuer- und Finanzberater gehört. Soll-
tung »El Mundo«, einen Deal mit den Be- Das Konstrukt habe ihm ein Berater ge- te das Gericht zu der Auffassung kommen,
hörden einzustielen. Demnach soll sich staltet, als er 2003 nach England zu Man- dass ein Prozess gegen den viermaligen
der fünfmalige Weltfußballer schuldig be- chester United gewechselt sei. »Die Struk- Champions-League-Sieger eröffnet wer-
kennen, eine Summe von rund 30 Millio- tur hatten dort alle Fußballer«, sagte den sollte, erhält auch die Staatsanwalt-
nen Euro zahlen und dafür eine Strafe er- Ronaldo. Er habe das Ganze einfach un- schaft noch einmal die Möglichkeit, wei-
tere Beweise vorzulegen.
Es ist anzunehmen, dass dann Ronaldos
Berater und Mentor Jorge Mendes eben-
falls eine gewichtige Rolle in dem Verfah-
ren spielen wird.
Die Football-Leaks-Dokumente zeigen,
dass gegen den einflussreichen Spieler-
berater ermittelt wird. Und zwar europa-
weit. Schon im August 2017 initiierte ein
Steuerfahnder aus Portugal ein Treffen mit
Finanzbeamten aus Spanien, Großbritan-
nien, Irland, Zypern und den Niederlan-
den. Sie nahmen sich Mendes’ Firmen,
Beteiligungen, Geldflüsse und alle seine
CAMERA PRESS / PICTURE PRESS

Geschäfte aus den Jahren 2015 und 2016


vor und errechneten, dass Mendes mit sei-
nen Transfers in diesem kurzen Zeitraum
1,3 Milliarden Euro umgesetzt hatte.
Milliarden, nicht Millionen.
Wie ungleich jedoch der Kampf der
Steuerfahnder mit ihren Zielobjekten ab-
Berater Mendes (l.), Klient Ronaldo im April 2016: Europaweite Ermittlungen läuft, zeigt die Anreise der Beamten. Wäh-
rend Mendes vorzugsweise in Privatjets
zu reisen pflegt, hatten die Fahnder im No-
halten, die ihm einen Prozess und das Ge- verändert beibehalten, als er 2009 zu vember die Wahl, ob sie ein Einzelticket
fängnis erspart. Real Madrid wechselte. für 1,45 Euro oder doch ein Tagesticket
Auch in einem Land wie Spanien, in Auch das ist Unsinn. für 6,15 Euro kaufen sollten, um mit der
dem hohe Strafzahlungen Steuerbetrüger Aus den Football-Leaks-Dokumenten Metro vom Flughafen zum verabredeten
oft vor dem Knast bewahren, wäre ein geht hervor, dass Ronaldos Anwälte die Tagungshotel zu fahren.
Deal dieser Art mehr als geschmäcklerisch. Geldrutsche in die Karibik erheblich nach- Zwei Tage lang diskutierten die Ermitt-
Zumal die Grundvoraussetzung für einen justierten, nachdem er nach Spanien ge- ler dort über Mendes’ Steuerkonstruktio-
solchen Pakt ist, dass der Täter seine wechselt war. Und dass Ronaldo nicht nen und beleuchteten auch die Geschäfte,
Schuld eingesteht. Ronaldo hat in den selbst in Gelächter ausbrach, als er der die der Agent mit seiner gewinnbringends-
vergangenen anderthalb Jahren nicht nur Richterin erklärte, dass er immer seine ten Anlage tätigte: mit Cristiano Ronaldo.
immer wieder beteuert, dass er »nichts Steuern zahlen wollte, ist vielleicht am Die Dokumente zeigen, dass Mendes
falsch gemacht« habe, nein, er und seine ehesten mit seinem Berufswunsch für die sich auf Ermittlungen vorbereitet hat. Er
Berater haben auch vieles versucht, um Zeit nach seiner Fußballerkarriere zu er- heuerte für Zehntausende Euro eine
die Finanzbeamten in die Irre zu führen. klären: Der Portugiese will Schauspieler Anwaltskanzlei an. Die Juristen schickten
Bis zu den Veröffentlichungen des werden. Vor Gericht hat er gezeigt, dass dem Berater anschließend Rechnungen,
SPIEGEL und des EIC hat er gegenüber er Talent dafür besitzt. die Betreffzeile war bezeichnend: »Jorge
den Behörden nie preisgegeben, dass er Denn in Wirklichkeit kämpften Ronaldo Mendes’ Tax fraud« – Jorge Mendes,
der wirtschaftlich Berechtigte hinter seiner und seine Anwälte von 2010 an mehrere Steuerhinterziehung.
Briefkastenfirma auf den British Virgin Is- Jahre lang vor spanischen Gerichten um Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
lands war. Dass er eine Stiftung in Panama einen ganz besonderen Steuerstatus, mit Gunther Latsch, Nicola Naber,
besaß, verschwieg er den Steuerbeamten dem es dem Portugiesen möglich wurde, Jörg Schmitt, Michael Wulzinger
gänzlich. Seine Anwälte schreckten offen- auf sein Gehalt lediglich 24 Prozent Steu-

104 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Sport

Ein Traum
eben abends bei einem Glas Kölsch ent- Die Olympiaplaner in NRW sagen,
standen ist.« beim IOC habe ein Umdenken eingesetzt,
Doch genau danach sieht es aus. man vertraue auf die Reformen von IOC-
In Deutschland sind zuletzt zwei Olym- Präsident Thomas Bach. Der verkündete
Olympia Soll sich piabewerbungen in Volksentscheiden ge- 2014, dass die Spiele billiger, sauberer wür-
scheitert. Die Münchner Bürger lehnten den, dass Ausrichter künftig Sportstätten
Deutschland wirklich mit die Winterspiele 2022 ab, die Hamburger im Ausland in ihr Konzept einbeziehen
14 Städten an Rhein stimmten gegen die Sommerspiele 2024. könnten. Das Versprechen: Die Spiele be-
und Ruhr für die Spiele Die Bewerbung Hamburgs platzte auch kämen eine Schrumpfkur, es werde eine
wegen der Finanzen, elf Milliarden Euro Art Olympia light geben.
bewerben? sollten die Spiele kosten, man kann auch In Wahrheit ist davon bislang nichts zu
sagen: so viel wie 13 Elbphilharmonien. sehen.

E s gibt Schlagwörter, die immer dann


fallen, wenn mal wieder die Idee von
Olympia verkauft werden soll. Dann
sind Phrasen vom »großen Traum« zu hö-
Bis zum Tag der Abstimmung war nicht
klar, wie sich die Kosten auf Stadt, Bund
und Wirtschaft verteilen sollten.
Immerhin hatten die Hamburger Planer
In Pyeongchang haben sie für die Ski-
piste der Abfahrer 60 000 Bäume gefällt,
manche waren bis zu 500 Jahre alt. Die
Sommerspiele 2020 in Tokio sollten ur-
ren, dem »Fest der Völkerverständigung«, konkrete Zahlen vorgelegt. Mronz will sich sprünglich sieben Milliarden Dollar kosten,
das »über den Sport hinaus Zeichen« set- zu den Kosten nicht äußern, das sei »zum am Ende könnten es 30 Milliarden werden.
ze. Man muss die Idee mit Emotionen pim- jetzigen Zeitpunkt unseriös«. Auch sonst Fünf Sportarten sind dort neu im Pro-
pen. Olympia, das wissen seine Verkäufer, gibt es Lücken im Konzept. Ein Ort für das gramm, es wird so viele Wettbewerbe ge-
lässt sich rational nicht mehr rechtfertigen. Leichtathletikstadion ist noch nicht gefun- ben wie nie zuvor bei den Spielen.
Über den Kopf funktioniert es nicht, also den, genauso wenig wie für das olympische In der olympischen Welt will niemand
probieren sie es über den Bauch. Dorf. Dafür zeigte Mronz ein Filmchen, in schrumpfen, man will klotzen, wachsen.
Die Olympiaslogans waren auch am Mitt- dem Kinder sagten, dass es nichts Schöne- Den IOC-Funktionären, die über die Aus-
woch in der Staatskanzlei in Düsseldorf zu res gebe als Olympia in Deutschland. tragungsorte entscheiden, geht es um spek-
hören. Die Initiative »Rhein Ruhr City« Wenn die Spiele im Fernsehen laufen, takuläre Bilder, die sich über TV-Verträge
stellte dort ihre Planungen für Olympische schalten die Deutschen ein. Als die Biath- teuer verkaufen lassen. Die Funktionäre
Spiele 2032 in Nordrhein-Westfalen vor. leten bei den Winterspielen im Februar in denken an Dressurreiten vor dem Schloss
Die Wettkampfstätten sollen auf 14 Kom- Pyeongchang ihre Goldmedaillen gewan- Versailles bei den Spielen 2024 in Paris.
munen verteilt werden: Turnen in der Lan- nen, schauten sieben Millionen Menschen Sie denken an die Surfer am Santa Monica
xess-Arena in Köln, Klettern in der Messe zu. Doch Olympia im eigenen Land? Lie- Beach bei Olympia 2028 in Los Angeles.
in Essen, Schwimmen im Fußballstadion in ber nicht. Sie denken eher nicht an Kanuslalom in
Gelsenkirchen. Die Spiele in einer Region, Das zweieinhalb Wochen kurze Spekta- Duisburg 2032.
nicht in einer Stadt, so lautet der Plan. kel lässt kaum etwas Positives zurück, für Vielleicht hält sich der Deutsche Olym-
Hinter der Idee steckt der Sportmana- die Städte und seine Bürger, auch nicht für pische Sportbund deswegen zurück. Zur
ger Michael Mronz. Zusammen mit dem den Breitensport. Dafür viel Negatives. Der Initiative aus NRW sagt man nichts, zu-
nordrhein-westfälischen Ministerpräsiden- Cheforganisator der Spiele 2016 in Rio de mindest nicht offiziell. Hinter vorgehalte-
ten Armin Laschet (CDU) präsentierte er Janeiro wurde vor einem halben Jahr ner Hand heißt es, die Pläne kämen zu
das Konzept. Die Spiele würden »nachhal- verhaftet, der Vorwurf: Stimmenkauf für früh. Und außerdem: Ist die Region über-
tig und bodenständig« werden, sagte La- Olympia und Geldwäsche. Im Olympia- haupt der richtige Ort für Olympia?
schet, »so wie unser Land«. 80 Prozent park veröden derweil die Sportstätten. In Nordrhein-Westfalen haben 270 Kom-
der Sportstätten seien bereits vorhanden, Dabei hätte man wissen müssen, dass in munen keinen ausgeglichenen Haushalt.
ergänzte Mronz. Man habe die Sache gut Rio niemand eine Wasserballarena braucht, Vor allem die Ausgaben im Sozialbereich
durchdacht: »Es ist keine Idee, die mal so die so groß ist wie ein Fußballstadion. steigen, in keinem anderen Bundesland
gibt es so viele Langzeitarbeitslose und so
viele Flüchtlinge. Sollte man vor diesem
Mögliche Wettkampfstätten für die Olympiabewerbung 2032 Hintergrund diese Verträge mit dem IOC
NORDRHEIN- abschließen? Verträge, die festlegen, dass
Gelsenkirchen Recklinghausen Mountainbike WESTFALEN
Schwimmen Syn- Wasser- Wasser- der Ausrichter bezahlt, wenn die Kosten
chron- ball springen explodieren?
schwimmen
Dortmund Laschet und Mronz wissen das alles.
Volleyball Oberhausen Fußball Ringen Schießen Straßen- Skate-
rad boarden
Natürlich. Warum sie die Bewerbung trotz-
Duisburg Bochum Fußball dem wollen? Der Politik geht es darum,
Essen
Fußball Kanu Kanu- Rudern dass die Städte in NRW zusammenwach-
slalom
Krefeld BMX Fußball Gewicht- Taek- Karate Sport- sen, man will aus ihnen eine Metropole
Boxen heben wondo klettern
machen.
Zehn Millionen Menschen leben in der
Hockey Düsseldorf Bad- Bahn- Basket- Beach- Hand- Judo Tennis Tisch- Volley-
Mönchen- minton rad ball volley- ball tennis ball Region, Rhein-Ruhr soll eine Stadt der
ball
gladbach Städte werden, die potente Investoren an-
Fußball Leverkusen lockt. Man orientiere sich am Silicon Val-
ley, sagt Mronz. Olympia ist ein Teil der
Köln Kampagne der Städteplaner. Ob man vom
Fechten Frei- Fußball Golf Rugby Rhyth- Tri- Turnen Turnen
wasser- mische athlon Trampolin IOC am Ende den Zuschlag erhält, ist in
schwimmen Sport-
gymnastik dieser Rechnung nebensächlich.
Aachen
Dressur- Moderner Spring- Viel- Bonn Lukas Eberle
reiten Fünfkampf reiten seitigkeit Basket- Bogen- Base- Soft-
ball schießen ball ball Mail: lukas.eberle@spiegel.de
Quelle: Rhein Ruhr City 2032

105
Wissenschaft+Technik
Gegen diesen Koloss wirkt der Killer aus »Der weiße Hai« wie ein Zierfisch aus dem Aquarium. ‣ S. 114

EAWAG · AQUATIC RESEARCH / DPA


Quietscheentchen, du bist ein Schwein! Das Innenleben der hohlen Plastiktiere ist erstaunlich belebt,
wie Mikrobiologen für ein Schweizer Institut in einer neuen Studie herausgefunden haben. Bis zu 73 Millio-
nen Pilze und Bakterien pro Quadratzentimeter tummeln sich darin. Experten sehen dennoch keinen
Grund zu allzu großer Sorge: Ein paar Millionen Mikroben finden sich auch unter einer x-beliebigen Achselhöhle.

Kommentar

Mehr Härte gegen Umweltsünder


EU-Richter haben einen polnischen Urwald gerettet. Bei Deutschlands Gewässern sollten sie weitermachen.

Danke, EU! Wisent, Wolf und Luchs, Dreizehenspecht und Rau- lich festgesetzt worden war für den Fall, dass weitere Bäume
fußkauz, sie alle können aufatmen: Bemerkenswert deutlich urteil- gefällt würden. Es war das erste Mal, dass die EU-Richter schon im
te der Europäische Gerichtshof (EuGH) vorige Woche, dass Polen vorläufigen Verfahren Zwangsgelder androhten.
den Holzeinschlag im Białowieża-Urwald stoppen muss. Die im Damit hat der EuGH ein neues Instrument genutzt, das er häu-
Grenzgebiet von Polen und Weißrussland liegende Wildnis gilt als figer anwenden sollte. Die Umweltgesetze der EU gelten als die
einer der letzten intakten Urwälder Europas. Auf polnischer besten der Welt. An ihrer Umsetzung mangelt es jedoch nicht nur
Seite sind rund 63000 Hektar nach EU-Recht besonders geschützt. in Polen. Deutschland verstößt seit Jahren gegen europäisches
Dennoch hatte die polnische Regierung 2016 sogar noch eine Aus- Umweltrecht. Hiesige Flüsse und Seen sind zu dreckig, das Grund-
weitung des Einschlags genehmigt – angeblich wegen einer Borken- wasser zu wenig geschützt. Die deutschen Meeresschutzgebiete
käferplage. Umweltschützer vermuteten hinter der Rodung rein existieren nur auf dem Papier. Doch die EU-Kommission tut zu
wirtschaftliche Interessen. Dabei ging es im Streit um Białowieża wenig, um ihre Umweltgesetze in Deutschland durchzusetzen.
wohl um noch viel mehr: Die Regierung in Warschau wollte zeigen, Mehr Härte gegen Umweltsünder könnte helfen, das schlechte
dass Polen trotz EU-Mitgliedschaft im Zweifel eben doch machen Image der Europäischen Union zu verbessern. Eine EU, die sich
kann, was es will. nicht nur um den Durchmesser von Pizza kümmert, sondern auch
Dem schiebt der EuGH nun einen Riegel vor – nachdem bereits für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen kämpft,
im November 2017 vorläufig ein Zwangsgeld von 100000 Euro täg- wäre die beste Werbung für ein vereintes Europa. Philip Bethge

106 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Kriminalistik liche Studien als auch durch Fehlurteile, Genetik
Trug am Tatort die auf dieser Methode basieren, dis-
kreditiert wurde.« In die Kritik geraten
Auf den Spuren
 Sechs führende US-Forensiker schla- seien auch die Haaranalyse und die der Ur-Hefe
gen Alarm: Sie fürchten um die Zukunft forensische Serologie, bei der Körper-
und den guten Ruf der Fachdisziplin. flüssigkeiten wie Blut, Speichel, Sperma  Ob Bier oder Wein, Brot oder Pizza –
Etliche Methoden zur Untersuchung von oder andere biologische Spuren im Zu- ohne den Hefepilz wären all diese
Straftaten, die auch durch diverse TV- sammenhang mit Verbrechen überprüft Lebensmittel nicht herzustellen. Ein
Sendungen populär geworden sind, hiel- werden – zu der aber auch die Analyse Team um zwei Genetiker aus Frank-
ten dem prüfenden Blick der Wissen- von Blutspurmustern am Tatort gehört. reich hat nun womöglich den Ursprung
schaft kaum stand, warnen die Experten Es müssten für derlei Untersuchungen des so wertvollen Mikroorganismus
in der jüngsten Ausgabe des Fachmaga- endlich »angemessene wissenschaftliche ergründet. Gianni Liti (Université
zins »PNAS«: »Das ungeheuerlichste Standards« entwickelt werden, bevor Côte d’Azur) und Joseph Schacherer
Beispiel ist die Identifikation durch Biss- man diese Methoden weiter verwenden (Université de Strasbourg) sind zu
spuren, die sowohl durch wissenschaft- könne, fordern die Forscher. THA dem Ergebnis gekommen, dass alle
uns heute bekannten Varianten von

Tiere SPIEGEL: Ist die Natur nicht der bessere


Ort, um Vögel zu beobachten?
»Tuuli, tuuli, tuuli« Lindo: Als ich nach Stuttgart fuhr,
Der britische Vogelkundler David Lindo, meinten meine Ornithologenfreunde:
54, über seine ornithologische Weltreise, die »Stuttgart? Da soll es Vögel geben?« Tat-
ihn auch in deutsche Metropolen führte sächlich fand ich dort eine grüne Oase

SCIENCE SOURCE / GETTY IMAGES


vor. In den bewaldeten Gebieten hörte
SPIEGEL: Sie haben auf der Halbinsel ich den wunderschönen Gesang der
Yucatán am Golf von Mexiko Vögel be- Mönchsgrasmücke. Doch statt des cha-
obachtet, in Taipeh, in Jerusalem. Was rakteristischen, fließenden, drosselähn-
um alles in der Welt hat Sie ausgerechnet lichen Trällerns, das ich aus England
auch nach Wuppertal verschlagen? gewohnt bin, brachen die Vögel jäh mit
Lindo: Ich hätte selbst nie geglaubt, wie einem wiederholten »Tuuli, tuuli, tuuli«
enorm unterschiedlich die Besiedlung ab. Manchmal stießen sie auch bloß diese Hefepilze
mit Vögeln in den verschiedenen Städ- Wiederholung aus, wohl um mich gänz-
ten der Welt sein kann. In Wuppertal lich zu verwirren. Saccharomyces cerevisiae auf nur einen
erlebte ich einen der ungewöhnlichsten SPIEGEL: Ihr Weg führte Sie auch einzigen Stamm zurückgehen, der
Momente der ganzen Reise: Ich stand nach Berlin. Gibt es da nicht vor allem einst im alten China kultiviert wurde.
in der Dämmerung an einer Tankstelle Tauben? Dazu untersuchten die beiden Wissen-
in Wuppertal-Nützenberg. Aber nicht Lindo: Vögel sind mein Leben und schaftler rund tausend Hefegenome
für eine Tankfüllung. Ich harrte mit dem meine Leidenschaft. Selbst eine Ringel- verschiedenster Herkunft. Um eine
Fernglas zwischen den Zapfsäulen aus, taube, die gemütlich wegflattert, weil möglichst große Vielfalt an Proben zu
um auf dem angrenzenden Felsen einen ich sie aus Versehen beim Krümelpicken bekommen, sammelten Schacherer und
Uhu zu beobachten. Ich halte zwar aufgescheucht habe, erfüllt mich mit Liti Hefestämme aus allen möglichen
schon mein ganzes Leben lang in Städ- Freude. In Berlin gibt es aber eher einen Weltregionen. Einige der Proben stam-
ten Ausschau nach Vögeln, aber das war Mangel an Stadttauben. men aus so kuriosen Quellen wie
selbst für mich eine Premiere. SPIEGEL: Wie bitte? nordkoreanischem Eichelmehl, mit Öl
Lindo: Ja, das hat mit gut kontaminiertem Asphalt, Pferdedung
120 Habichtbrutpaaren zu oder Termitenhügeln. THA
tun, die den Berliner Raum
bevölkern. Der Habicht ist
ein natürlicher Feind der
Taube. Die meisten Berli- Fußnote

330
ner stehen der unglaub-
lichen Anzahl an Habich-
ten, mit denen sie die Stadt
teilen, völlig ahnungslos
gegenüber. Berlin kann
sich der weltweit dichtes- Milliarden Dollar betrug laut einer
ten Population an diesen Studie der Schweizer Rückversiche-
Vögeln rühmen, und wenn rungsgesellschaft Swiss Re die Gesamt-
ich in der deutschen schadenssumme, die im Jahr 2017 durch
Hauptstadt leben würde, Naturkatastrophen weltweit verursacht
würde ich diese Tatsache wurde. Das ist nahezu doppelt so viel
voller Stolz von den Dä- wie im Vorjahr. Einen Großteil der Ver-
chern verkünden. THA wüstungen haben die Hurrikane »Har-
DARREN CRAIN

vey«, »Irma« und »Maria« angerichtet,


Lindo David Lindo: »#Urban Birding«. deren Versicherungsschäden sich
Kosmos; 352 Seiten; 20 Euro. auf rund 92 Milliarden Dollar belaufen.

107
Wissenschaft

Invasion der Krabbler


Umwelt Großangriff auf die deutsche Eiche: Millionen Schwammspinner-Raupen rüsten sich
in diesem Frühjahr zum Kahlfraß. Forstbehörden wollen vorsorglich Insektizide
verspritzen – Naturschützer warnen vor dem Gifteinsatz, der seltene Schmetterlinge gefährdet.

STEFFEN SCHELLHORN / IMAGO

Raupe des Schwammspinners: Bei kräftigem Wind lassen sie sich davonwehen wie Pusteblumen

B
ald sollen Hubschrauber aufstei- en und roten Wärzchen schmücken. Wenn warm und trocken, die lichten Eichen-
gen über den Wäldern der Frän- sie Schrecken verbreiten, dann durch ihre mischwälder Frankens sagen ihm von jeher
kischen Platte. An Bord haben sie Zahl. Zu Abermillionen treten die Raupen zu. Aber wenn die Lage besonders güns-
Tanks, gefüllt mit Insektengift. mitunter auf den Plan – und sie lieben Ei- tig ist, kann die Population binnen drei,
Auf den Flugkarten der Piloten sind gut chen. Gefräßig wie der Schwammspinner vier Jahren stetig zunehmen – bis sie am
60 Zielgebiete eingetragen. ist, kann er ganze Wälder entlauben. Ende schier explodiert. Dann wimmelt es
Die Gegner haben sich konzentriert in Die Bayerische Forstverwaltung will das im Wald von hungrigen Raupen. Eine jede
der Gegend um Schweinfurt, Kitzingen, unbedingt verhindern. Deshalb ist für Mai von ihnen vertilgt einen Quadratmeter
Uffenheim. Dort sitzen sie in den Bäumen, in Franken ein großer Helikoptereinsatz Eichenlaub.
kaum zentimetergroß und bewaffnet nur geplant. Insgesamt rund 1300 Hektar sol- Zu Fuß kommen die Krabbler nicht weit,
mit Kauwerkzeugen: die haarigen Raupen len aus der Luft besprüht werden. Auf die- aber bei kräftigem Wind lassen sie sich ein-
des Schwammspinners, eines unscheinba- sen Flächen, heißt es, seien die Eichen in fach davonwehen wie Pusteblumen. Dank
ren Schmetterlings. höchster Gefahr. ihrer langen, feinen Haare schweben sie
Es sind hübsche Krabbler, in den kom- Der Schmetterling lebt über Jahr und oft über Hunderte Meter. Zudem können
menden Wochen werden sie sich mit blau- Tag weitgehend unauffällig. Er mag es sie Fäden als Hilfssegel spinnen.

108 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


So manches haarige Flugobjekt erreicht,
mit Glück, eine noch unberührte Eiche.
Auf diese Weise kann der Schwammspin-
ner beträchtliche Areale abweiden.
Vor allem in Süddeutschland kommt es
gelegentlich zu einer Massenvermehrung.
In Bayern steht das Spektakel offenbar
kurz bevor. Aber im Zuge des Klimawan-
dels dürfte der Laubfresser weiter nach
Norden vordringen.
Früher oder später stellt sich dann über-
all, wo es Eichen gibt, eine Grundsatzfrage:
Darf der Wald mit Insektiziden eingene-
belt werden wie ein Maisfeld? Und zwar
einfach so, nur zur Sicherheit?
Denn nach jeder Massenvermehrung
bricht die Population von selbst wieder

JOHANNES VOITH / BAYERISCHES LANDESAMT FÜR UMWELT


zusammen. Gesunde Eichen überleben
den Kahlfraß in der Regel, sie treiben
wenig später neu aus. Sofern es zu Schäden
kommt, sind diese schwer zu beziffern.
Waldbesitzer und Forstbehörden be-
fürchten dennoch hohe Verluste. Natur-
schützer dagegen verurteilen den chemi-
schen Präventivschlag als Überreaktion;
sie empfehlen Gelassenheit.
Nicht immer ist das einfach. Die erste
Großattacke des Schwammspinners ereig-
nete sich 1993, nach vier warmen Frühsom-
mern in Folge. Millionen Raupen überfielen
die Wälder in Bayern, Hessen und Baden- Eichenwald in Bayern: »Da wird ein Geschäft mit der Angst betrieben«
Württemberg, sie fraßen großflächig die Ei-
chen kahl. Von »Horrorraupen« orgelte da-
mals die »Bild«-Zeitung: »Schwammspin- Das Mittel der Wahl hieß bisher Dimilin, die nach EU-Recht geschützt sind. Die
ner rotten die deutsche Eiche aus.« es bewirkte, dass die Raupen aufplatzten. Forstleute versichern aber, das Gift sei so
Als die Bestände geplündert waren, mar- Aber die Zulassung des Dimilin lief 2014 gering dosiert, da würden schon genügend
schierten hungrige Raupen in benachbarte aus, an einer Verlängerung ist der Herstel- Exemplare überleben. »Das ist ein Spiel
Weinberge ein. Nahe Ebelsbach im Maintal ler nicht interessiert. Nun bleibt den Forst- mit dem Feuer«, widerspricht Dolek. Er
lag ein Zentrum der Massenvermehrung; leuten nicht mehr viel – außer dem be- befürchtet, dass »mit jedem Spritzen ein-
die Feuerwehr hob dort Abwehrgräben ge- rüchtigten Karate Forst, das aber wohl nie- zelne Arten verloren gehen«.
gen die Invasoren aus. Die Raupen mach- mand ernsthaft erwägt, weil es praktisch Auch Wolfgang Weisser, Ökologe an
ten sich über Gärten her, krochen an Fas- alle Insekten vernichtet. der TU München, sieht das Risiko. Er fin-
saden empor, vereinzelt drangen sie sogar Und eben Mimic. Dieses Mittel kommt det aber, dass die Naturschützer es sich
in Häuser ein: »Jetzt greifen sie auch Men- aus dem Obst- und Weinbau, es soll nun zu einfach machen. Auch wer einen Wald
schen an. Sie kriechen dir in die Hosen, du gegen den Schwammspinner eingesetzt bewirtschafte, müsse das Recht haben, sei-
hast sie in den Haaren« (»Bild«). werden. Was es im Wald auf großer Fläche nen Bestand zu schützen. »Oder man ent-
Auch der Frankfurter Stadtwald fiel anrichtet, ist noch gar nicht untersucht schädigt ihn«, sagt Weisser, »falls er zu-
damals an die haarigen Heerscharen. Auf worden. gunsten der Artenvielfalt auf Spritzmittel
Spaziergänger rieselten Kotkügelchen he- Sicher ist nur: Das Gift wirkt gegen verzichtet.«
rab, groß wie Pfefferkörner. Die Medien sämtliche Schmetterlingsraupen – keine Den Forscher wundert, wie unterschied-
sprachen von einer biblischen Plage. gute Nachricht für die seltenen Arten, die lich Wald- und Landwirtschaft behandelt
Im Zuge dieses Naturschauspiels ließen sich den Lebensraum mit dem Schwamm- werden. »Ein Bauer kann zwischen rund
die Förster allein in Bayern auf rund spinner teilen: den Eschenscheckenfalter, 300 erlaubten Pflanzenschutzmitteln wäh-
23 000 Hektar Gift spritzen, das sind 230 den Heckenwollafter, das Wald-Wiesen- len«, sagt er. »Dem Förster bleiben gerade
Quadratkilometer. Angeblich ging es um vögelchen, die Spanische Flagge. mal zwei oder drei. Und deren Anwen-
die »Rettung der Bestände«. Umwelt- All diese Raritäten sind heimisch in den dung ist genau reguliert.«
schützer waren empört, Insektenforscher lichten Eichenmischwäldern Frankens. Die Landwirtschaft, fürchtet Weisser,
organisierten eine Unterschriftenaktion. Dieses Biotop ist ein artenreiches Schmet- habe man als Naturraum wohl schon auf-
Seit damals kokelt der Konflikt um den terlingsparadies. »Um die 400 Nachtfalter gegeben. Umso dringender nun das Be-
Schwammspinner. Für die Bayerische sind hier schon beobachtet worden«, sagt dürfnis, den Wald als reines Refugium zu
Forstverwaltung steht auch heute noch au- der Insektenkundler Matthias Dolek. verklären. So komme es, dass Naturschüt-
ßer Frage, dass gespritzt werden muss. In »Und von den Tagfaltern stehen an die zer kategorisch jedes Insektizid im Wald
diesem Jahr kommt das Fraßgift Mimic 40 Arten auf der Roten Liste.« ablehnen. »Die Forstwirtschaft wiederum
zum Einsatz. Nimmt die Raupe es auf, Wenn deren Raupen gerade in der be- kämpft um das Recht zu spritzen an sich«,
wird sie quasi chemisch umprogrammiert. sprühten Zone fressen, haben sie Pech ge- sagt Weisser. Es gehe also, typisch für den
Sie hört auf zu fressen, beginnt sich vorzei- habt. Zudem soll auch in ausgewiesenen Wald, wieder mal ums Prinzip. Viel Inte-
tig zu häuten und geht daran zugrunde. Fauna-Flora-Habitaten gespritzt werden, resse an Details und Fakten sei da nicht

109
Massenvermehrung 3. Das Nahrungsangebot 4. Raupen, die jetzt schlüpfen, ten suchen nun den Wald ab, sie spüren
schwindet, hungernde bleiben klein und kränklich. die Raupen auf bis in die letzten Winkel.
des Schwammspinners Raupen machen sich auch Viele sterben an Infektionen. So wird der Schwammspinner verhee-
über andere Bäume her. rend dezimiert – und auf Jahre hinaus
2. Auf dem Höhepunkt ver- 5. Die Menge der Raub- großflächig geschwächt.
breiten sich Millionen von parasiten (u. a. Brackwespen) Was bewirkt es da, wenn der Mensch
Raupen und fressen wächst. Die Raupen fallen frühzeitig mit Spritzmitteln eingreift?
alle erreichbaren ihnen ebenfalls zum Opfer. Macht er dadurch vielleicht sogar alles
Eichen kahl. noch schlimmer? Denn mit den gefräßigen
Raupen zerstört er ja auch die gerade an-
laufende Konjunktur ihrer Gegenspieler –
umso schneller könnte sich die überleben-
de Population der Schwammspinner wie-
der regenerieren.
Das klingt plausibel, aber mangels Da-
1. Unter günstigen Bedin- ten ist es bislang nur eine Theorie. In die-
gungen (warm, trocken) ser Lage helfen allein Experimente weiter.
steigt die Population Grundlegende Fragen wären zu klären:
binnen drei, vier Jahren Welchen Effekt hat das Spritzen? Und was
6. Die Population bricht
immer stärker an. geschieht mit den Eichen, wenn man sie
von selbst zusammen.
Die allermeisten Eichen einfach dem Kahlfraß überlässt?
treiben neu aus. Auch der Würzburger Forstökologe
Müller fordert, die klaffende Forschungs-
lücke endlich zu schließen. Es wäre keine
Hexerei. Man müsste paarweise eine Rei-
he von geeigneten Flächen bestimmen:
zu erwarten: »Beide Seiten wissen ja schon Unbestritten ist, dass die Invasionen des ökologisch jeweils vergleichbar und gleich
vorher Bescheid.« Schwammspinners früher oder später von stark befallen. Die einen behandelt man,
Die zuständige Forstbehörde warnt vor selbst zusammenbrechen. Wo die Nah- die anderen nicht.
einem regelrechten Eichensterben, sollte rung knapp wird, fallen neu geschlüpfte »Und wenn dabei herauskommt, dass
der Schwammspinner über mehrere Jahre Tiere eher klein und kränklich aus – leichte der Einsatz von Insektiziden sinnvoll ist«,
in Folge angreifen. Einmaligen Kahlfraß Beute für diverse Bakterien, Pilze und vor sagt Müller, »dann wäre ich der Letzte, der
würden die meisten Eichen noch überste- allem Viren. Die meisten Schwammspin- dagegen ist.« Es gehe aber nicht an, bei
hen. Sie treiben dann neu aus, nur ihr ner werden von Epidemien hinweggerafft. derart wackeliger Evidenz die Schmetter-
Zuwachs fällt in dem Jahr geringer aus. Den Rest erledigen Fressfeinde. Mehr linge in den Eichenmischwäldern mit frag-
Bereits geschwächte Bäume jedoch seien als 150 Arten von Raubparasiten lauern würdigen Mitteln wegzuspritzen: »Das ist
in Gefahr – zumal wenn Folgeprobleme auf die nahrhaften Raupen. Brackwespen einer der artenreichsten Lebensräume, die
wie etwa der Eichenmehltau ihnen zu- und Raupenfliegen legen ihre Eier in die wir in Deutschland noch haben.«
setzen. Leiber oder zwischen die Haare. Der Gro- Die Forstbehörde sei für solche Studien
»Wir wissen vorher nicht, wie es kommt«, ße Puppenräuber, ein Laufkäfer, kann in im Prinzip offen, sagt LWF-Experte Peter-
sagt Ralf Petercord von der Bayerischen einer einzigen Saison Hunderte Krabbler cord. Geschehen ist aber in den vergange-
Landesanstalt für Wald und Forstwirt- vertilgen. nen Jahrzehnten nichts dergleichen.
schaft (LWF). »So ein Risiko können wir So bleibt wohl vorerst alles beim Alten.
nicht eingehen.« Werde gar nicht gespritzt, Der Hubschraubereinsatz im Mai wird
seien letzten Endes die gesamten befal- »Macht der Einsatz von wieder Steuergelder kosten; hinzu kommt
lenen Eichenbestände bedroht – und da- Spritzmitteln die der Aufwand der laufenden Kontrollen:
mit auch der Lebensraum vieler seltener Förster suchen mühsam ihre Eichen ab,
Arten. Raupenplage womöglich Stamm für Stamm, und zählen die Gelege
»Das ist völlig abwegig«, widerspricht noch schlimmer?« des Schwammspinners.
der Forstökologe Jörg Müller von der Uni- Der Forstökologe Müller hätte eine bes-
versität Würzburg. Es gebe keinerlei Hin- sere Verwendung für das viele Geld, das
weise auf existenzielle Gefahren durch In normalen Zeiten halten diese Gegen- der Abwehrkampf verschlingt: »Man
Raupenfraß. »Hier geht es rein um wirt- spieler den Schwammspinner gut in könnte damit die Waldbesitzer entschädi-
schaftliche Interessen. Um die Zukunft un- Schach. Gelingt ihm alle paar Jahre eine gen«, sagt er, »falls ihnen doch mal ein
serer Eichenmischwälder mache ich mir Massenvermehrung, dann ist er seinen Ver- paar Eichen eingehen.«
überhaupt keine Sorgen.« folgern quasi nur für kurze Zeit entwischt. Als im August vorigen Jahres der Sturm
Müller wirft der LWF vor, sie wolle mit Aber das Glück durch Überzahl hält nicht »Kolle« viele Fichten im Bayerischen Wald
dem Schreckgespenst des Schwammspin- lange an: Bald schwillt – etwas zeitver- umwarf, bekamen die geschädigten Wald-
ners eine »Drohkulisse« aufbauen: »Da setzt – auch die Menge der Feinde bedroh- besitzer unbürokratisch 100 Millionen
wird ein Geschäft mit der Angst betrie- lich an. Diese profitieren von der nun über- Euro an Soforthilfe zugesprochen. »Und
ben.« reich verfügbaren Beute. das für eine Risikobaumart, bei der jeder
In der Tat geht es bei der Bekämpfung Kurz nach dem Höhepunkt seiner Ver- weiß, dass sie mit unserem Klima Proble-
nur nach der gefühlten Gefahr. Gesicherte mehrung blickt der Schmetterling also me bekommt«, sagt Müller. »Da sollten
Fakten gibt es kaum. Niemand kann sagen, schon wieder in den Abgrund: Seuchen uns auch die Eichenmischwälder mit ihrer
inwieweit der Wald Schaden nähme, wenn gehen um, die Eichen sind allesamt kahl Vielfalt an Insekten ein bisschen mehr
weniger gespritzt würde – oder auch gar gefressen und ringsum eine Übermacht Geld wert sein.« Manfred Dworschak
nicht. von Gegnern. Myriaden von Raubparasi-

110 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Technik

22 Minuten
ner mit aller Macht an der Frau, um sie Shults zudem sehen, dass auch der linke
wieder hineinzuziehen. Als das endlich ge- Vorflügel teils zerschossen war.
lang, blutete sie stark und war bewusstlos. Die Piloten entschieden, in Philadelphia

Albtraum
Von den übrigen Passagieren weinten notzulanden. Weshalb, das begründete die
manche, andere beteten, nicht alle wuss- Kapitänin gegenüber einem Fluglotsen in
ten, welches Drama auf Sitzplatz 14A ge- bemerkenswert kaltblütiger Weise: »Teile
schehen war; aber viele glaubten, so sag- des Flugzeugs fehlen«, sagte sie per Funk
Luftfahrt Ein Knall, ein Loch im ten sie hinterher, dass sie sterben müssten. so ruhig, als spräche sie über das Wetter.
Flugzeug – und eine Frau, die Links im Cockpit saß Flugkapitänin Sie erwähnte ein »Loch« und sagte: »Je-
Tammie Jo Shults, 56, ehemals eine der mand wurde herausgeschleudert.« Dass
herausgesogen wird: Der Horror ersten Kampfpilotinnen der US-Navy. Sie dieser Satz so nicht ganz richtig war, wuss-
an Bord von Flug SWA 1380 und ihr Co-Pilot brachten die Maschine te sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. 
hätte verhindert werden können. rasch und kontrolliert auf eine Flughöhe Tatsächlich gelang es den Piloten, die
von rund 3000 Metern, in der Menschen schwer lädierte Maschine sicher zu landen,
wieder ohne Hilfe atmen können.  22 Minuten nach Beginn des Horrors. Sani-

D ie Geschäftsreise war zu Ende, Jen-


nifer Riordan, 43, wollte von New
York nach Dallas fliegen. Am Diens-
tag bestieg die Bankangestellte eine Boeing
Ihre Bildschirme und akustischen Not-
signale zeigten ihnen gleichzeitig eine Viel-
zahl von Notfällen an – darunter den Aus-
fall des linken Triebwerks und ein Feuer
täter bargen die Frau, die im Krankenhaus
für tot erklärt wurde – und die Kapitänin
ging durch die Kabine, drückte die Hände
der Passagiere und sprach zu ihnen. In vie-
737-700 des US-Billigfliegers Southwest. ebendort (was eine Fehlmeldung war). Aus len Medien wird sie nun als Heldin gefeiert,
Die Passagiere hatten wie üblich freie Platz- dem Cockpitfenster konnte Tammie Jo ähnlich wie Chesley »Sully« Sullenberger,
wahl. Jennifer Riordan setzte sich der seinen Airbus A320 trotz dop-
auf 14A, einen Fensterplatz über pelten Triebwerksausfalls im Jahr
der linken Tragfläche. 2009 heil in den Hudson steuerte.
Auf tragische Weise wurde ihr Southwest ist eine der größten,
das zum Verhängnis. profitabelsten, billigsten und gleich-
Bei einem albtraumhaften Flug- wohl sichersten Airlines der Welt.
zeugunglück hat die zweifache Mut- Die Gesellschaft betreibt über 700
ter ihr Leben verloren. Flug SWA Boeing 737, und in ihrer mehr als
1380, mit 149 Menschen vollbe- 50-jährigen Geschichte hat sie noch
setzt, war etwa 20 Minuten in der keinen Absturz erlitten. Jennifer
Luft, als die Passagiere gegen elf Riordan ist die erste Southwest-Pas-
Uhr Ortszeit in fast 10 000 Meter sagierin, die zur falschen Zeit am
Höhe einen Knall hörten. sehr falschen Ort war und dafür mit
Wie Flugunfallermittler umge- dem Leben bezahlen musste.
hend feststellen konnten, war im lin- Auf der Fluggesellschaft lastet
ken Triebwerk eines von 24 Schau- nun dennoch ein Makel. Denn im
felblättern direkt an der Nabe abge- August 2016 hat sie einen sehr
brochen – die Folge einer tückischen ähnlichen Schaden schon einmal
und äußerlich nicht sichtbaren Ma- erlebt: Eine altersschwache Tur-
terialermüdung in dem Bauteil, das binenschaufel war abgebrochen,
seit Jahren im Dauereinsatz war. Das Trümmer hatten den Rumpf durch-
Metall zerfetzte mit hoher Geschwin- schlagen, in der Kabine war der
MARTY MARTINEZ / AP

digkeit den vordersten Teil der Trieb- Druck gefährlich abgefallen.


werksabdeckung. Große und kleine Damals blieben alle Passagiere
Trümmer flogen durch die Luft. unverletzt. Die Luftfahrtbehörde
Manche beschädigten die Tragfläche, FAA erwog daraufhin, den Airlines
eines krachte durch das Fenster von vorzuschreiben, ältere Triebwerke
14A ins Flugzeuginnere. der Modellreihe CFM56-7B einmal
Nur Momente später klaffte dort ein jährlich einer speziellen Inspektion per
großes Loch. Ultraschall zu unterziehen. Dazu kam es
In der Kabine: ein plötzlicher Druck- aber nicht – wohl auch deshalb, weil sich
abfall. Menschen schrien. Sauerstoffmas- die Fluggesellschaften einschließlich South-
ken fielen herunter. Die Maschine ächzte west aus Furcht vor den Kosten dagegen
und rüttelte und kippte in eine gefährliche zur Wehr setzten.
Schieflage. Und Jennifer Riordan hing mit Die FAA wird diese Inspektionen nun
dem Kopf, den Armen und dem halben in Kürze anordnen. Die europäische Flug-
Oberkörper außerhalb des Flugzeugrump- sicherheitsbehörde EASA war in diesem
fes in dünner, eisiger Luft. Punkt aktiver: Schon Ende März veröf-
Der geringe Druck in der Höhe hatte fentlichte sie eine Direktive, wonach alle
sie trotz ihres Sicherheitsgurtes förmlich betroffenen Triebwerke innerhalb von
U.S. NAVY / REUTERS

hinausgesogen. neun Monaten untersucht werden müssen.


Die Maschine ging in einen Notsinkflug Viele Airlines hatten damit bereits an-
über. Währenddessen zerrten zwei Män- gefangen, als es an Bord von Flug SWA
1380 zu dem tödlichen Unfall kam.
* Oben: Die Boeing 737 nach Notlandung in Philadel- Zerstörtes Triebwerk, Pilotin Shults* Marco Evers
phia; unten: 1992. »Teile des Flugzeugs fehlen«

111
Fundstücke aus Schaprode
Von Blauzahn im Boden versenkt?

im Boden und stieß auf ein rundes, sehr


dünnes Metallstück, das er zunächst für
wertlos hielt. Sein Gefährte identifizierte
das Fundstück allerdings als Münze aus
Haithabu, einer bedeutenden Wikinger-
siedlung an der Schlei.
Wegen hartnäckigen Bodenfrosts schick-
te das zuständige Landesamt für Kultur und
Denkmalpflege in Schwerin Luca und meh-
rere andere Hobbyschatzsucher erst Mitte
April wieder aufs Feld. Neben Münzen wur-
den dabei dann auch etliche Fibeln und
Schmuckstücke entdeckt, die zum Teil stark
STEFAN SAUER / DPA

zerkleinert waren. Derlei »Hacksilber«, das


manch ein Sondler für Schrott halten könn-
te, wurde als Gewichtswährung genutzt.
Weil einige der Münzen aus der Regie-
rungszeit des 987 gestorbenen dänischen
Königs Harald Blauzahn stammen, steht

Schrott vom
der Hortfund laut Landesamt »möglicher-
ein Jahr später piepte es heftig etwa 70 Ki- weise« in Beziehung zur Flucht des Regen-
lometer westlich in Altlandsberg. Das ten vor seinem Sohn Sven Gabelbart. Der

König
Detektorsignal deutete dort sogar auf verwickelte seinen verhassten Vater 986
7450 Gold- und Silbermünzen hin, die in eine Seeschlacht auf der Ostsee; der
zum Teil aus dem 13. Jahrhundert stam- Sohn obsiegte, der Erzeuger türmte, wo-
men. »Am laufenden Band« seien in möglich über Rügen Richtung Odermün-
Archäologie Mit der Entdeckung jüngster Zeit »großartige Funde« hochge- dung. Während der Reise könnte er, wa-
kommen, bilanziert Rainer Albert, Chef- rum auch immer, Teile seiner Kriegskasse
von Silbermünzen auf Rügen redakteur des »Numismatischen Nachrich- versteckt haben lassen, suggerieren die
wird ein Schüler zum Medien- tenblatts« mit Sitz in Speyer. Landesamt-Archäologen.
liebling. Doch es gibt Mehrere herausragende Entdeckungen Eine heikle Annahme, die viele Bericht-
aus den vergangenen Jahren werden jetzt erstatter in einem Anfall von historischem
weit spektakulärere Funde. in einer Ausstellung in der Staatlichen Leichtsinn sogleich zu einer Tatsache
Münzsammlung München präsentiert. Ge- machten. In einigen Artikeln wird unter-

M anch ein Sondengänger streift jah-


relang durch die Gegend und
stößt bis ins hohe Alter nur auf
Blechbüchsen, rostige Nägel oder anderen
zeigt werden unter anderem 7780 Mün-
zen, die irgendwann um 1210 in der
kleinen Marktgemeinde Waal verbuddelt
worden sein müssen – womöglich um sie
stellt, der legendäre Blauzahn habe die
Münzen eigenhändig im Boden versenkt.
Nach der gleichen Logik könnte man beim
Fund eines seit 2005 in Deutschland ge-
Metallschrott. Luca Malaschnitschenko, vor marodierenden Banden zu schützen. prägten Euros fantasieren, dass er Kanz-
Mitglied des Hobbyarchäologenklubs Medienberichte über diesen bayerischen lerin Merkel persönlich aus dem Blazer ge-
De Ackerlöper, ist erst 13 Jahre alt, aber Rekordfund blieben aus. rutscht ist.
hat dem Erdreich bereits einen Silber- Hauptgrund für die vielen Entdeckun- Auch Mecklenburg-Vorpommerns Lan-
schatz entrissen. gen von Münzen und anderen Metall- desarchäologe Detlef Jantzen hält die
»Es ist so unglaublich wie im Märchen, artefakten: Die Schatzsuche ist zu einer Theorie vom buddelnden König für »sehr
aber wahr«, dichtete das »Nordmagazin« Art Volkssport geworden. Das liegt unter weit gedacht« und kann sich auch vorstel-
des NDR. Der Nachwuchssondler schaffte anderem daran, dass es Ein- len, dass es ein Handlungsreisen-
es mit der Entdeckung von etwa 500 Mün- steigersonden inzwischen Bedeutende Münzfunde der war, der den Silberschatz einst
zen und Münzfragmenten auf der Insel Rü- schon für unter 50 Euro gibt. seit 2010 (Auswahl) vergrub.
gen auch auf die erste Seite der »Bild«-Zei- Die zuständigen Landesämter Klar ist: Die Blauzahn-Theorie
Schaprode, Rügen
tung und sogar in eine deutsche Institution: machen sich den Boom insofern ca. 500 Stück
macht die Geschichte um Teenager
die »Tagesschau«. zunutze, als dass sie die Hobby- (inklusive Fragmenten) Luca, der einen Silberschatz ent-
Die mediale Ehre sei dem Schüler ge- archäologen als »ehrenamtli- deckte, noch spannender – zumal
gönnt – zumal er sonst nichts von seinem che Bodendenkmalpfleger« an der König, dessen Beiname mög-
Kalkriese Altlandsberg
Fund hat: Alles, was im Boden steckt und sich binden und auf Areale ca. 200 7450 licherweise auf ein ungepflegtes
kulturelles Erbe ist, gehört dem Bundes- schicken, die vielverspre- Gebiss zurückgeht, mehr als ein
Lebus
land; es gibt nicht einmal Finderlohn. chend erscheinen (SPIEGEL Magdeburg
ca. 2200 Jahrtausend nach seinem Able-
Nüchtern betrachtet sticht der Fall aber in 26/2017). 535 ben zu großer Ehre gelangte.
erster Linie wegen Lucas Alter und des Auch Teenager Luca war Kanstein Weil der Regent als genialer
erfüllten Kindertraums vom Schatzfinden in offiziellem Auftrag unter- 2277 Netzwerker galt, benannten
heraus – aber nicht wegen seiner Größe wegs, als er im Januar mit fünf IT-Firmen eine mittlerweile
und Bedeutung. seinem Nachbarn auf einem Waal Obing weltweit bekannte Funktechnolo-
7780 ca. 1000
So stieß im Osten Brandenburgs ein Acker in Schaprode forschte. gie nach ihm: Bluetooth.
Sondler im Oktober 2015 auf fast 2200 Als es endlich piepte, grub der Guido Kleinhubbert
Münzen aus dem 11. Jahrhundert, etwa Junge mit einem Klappspaten

112 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


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Wissenschaft

Die XXL-Bestie
Knorpel besteht. Der beinahe einzige Hin-
weis auf die XXL-Bestie sind ihre Zähne –
davon allerdings gibt es reichlich.
Einer der größten Hauer wurde vor der
Küste des US-Bundesstaats South Caroli-
Paläontologie Der Urzeitfisch Megalodon war dreimal so groß na gefunden und misst rund 19 Zentimeter.
wie der Weiße Hai: Kreuzt der gefräßigste Nur: Welche Schlüsse lassen diese fossilen
Räuber aller Zeiten noch immer durch die Tiefen der Ozeane? Belege auf die Beschaffenheit und Größe
des Gruselfischs zu?
Auf der Grundlage eines einzelnen
Zahns können die Maße Megalodons nur

N atürliche Feinde muss der Weiße


Hai kaum fürchten. Kein anderes
Lebewesen kann mit einer Wucht
von 1,8 Tonnen zubeißen und seine Opfer
der Fleischfresser extrem viel Nahrung ver-
schlingen, um bei Kräften zu bleiben. Mit
seinem etwa zwei Meter breiten Schlund
könnte er die Mehrzahl aller derzeit exis-
unzureichend rekonstruiert werden; dazu
brauchte es schon ein komplettes Gebiss.
Doch auch dann stehen die Forscher vor
einem Problem: Wie ordnet man die Rie-
zerreißen. tierenden Lebewesen ohne Mühe mit ei- senbeißer richtig an?
Kein anderes Lebewesen? nem einzigen Happs verschlingen (siehe Bislang orientierten sich Biologen am
Wenn wahr wäre, was der in diesem Grafik). Gebiss des Weißen Hais, der lange als
Sommer in die Kinos kommende Katastro- Vermutlich war Megalodon einer der Nachfahre Megalodons galt. Doch inzwi-
phenfilm »The Meg« zeigt, gäbe es durch- größten Räuber, die jemals diesen Plane- schen steht fest, dass Megalodon und
aus einen beeindruckenden Kandidaten. ten bevölkert haben. Seine Kiefer lassen der Weiße Hai sogar mehrere Millionen
In dem neuen Horrorschocker terrorisiert sogar den Tyrannosaurus rex als ver- Jahre lang als Konkurrenten nebenein-
ein gigantischer Monsterfisch einen Bade- gleichsweise schlappen Beißer erscheinen. ander existierten.
strand und setzt der Besatzung eines Der australische Zoologe Stephen Wroe Womöglich weise der Urzeitgigant mehr
Tiefsee-U-Boots zu. Gegen diesen Koloss hat ausgerechnet, dass der Monsterhai mit Gemeinsamkeiten mit den Makohaien auf,
von 21 Meter Länge wirkt Steven Spiel- einer Wucht von mehr als 18 Tonnen zu- mutmaßt der Paläontologe Ronny Maik
bergs Killer aus dem Klassiker »Der weiße langen konnte. Megalodon hätte ohne Pro- Leder, Direktor des Naturkundemuseums
Hai« von 1975 wie ein Zierfisch aus dem bleme einen ICE durchbeißen können. in Leipzig. Die Makos sind für Menschen
Aquarium. Wenngleich eines der beeindruckends- potenziell kaum weniger gefährlich als der
Alles nur das übliche Hirngespinst aus ten Geschöpfe der Evolution, ist der Me- Weiße Hai, werden aber maximal vier Me-
der Albtraumfabrik Hollywood? Nicht galodon für Paläontologen noch immer ein ter lang. Vor allem besitzen sie im Vergleich
ganz: Den Riesenhai mit Zähnen so groß Phantom. Für eine Kreatur, die ungefähr zu ihrem eher bulligen Verwandten einen
wie Steakmesser gab es wirklich. Sein 20 Millionen Jahre lang die Ozeane be- deutlich schlankeren, torpedoförmigen
Name ist Megalodon – und er hat in grauer herrschte, hat er wenig Spuren hinterlassen. Körper. Sah Megalodon so aus, nur eben
Vorzeit die Weltmeere durchpflügt. Anders als die Knochen der Saurier zerfällt weitaus größer?
Und mehr noch: Der Film greift eine das Skelett von Haien meistens‚ weil es aus Auch wenn die Frage nach seinem ge-
reale Theorie auf. Hartnäckig hält sich die nauen Erscheinungsbild noch immer
Vermutung, der vermeintlich vor 2,6 Mil- ungeklärt ist: Zweifellos war Mega-
lionen Jahren ausgestorbene Urzeithai trei- lodon die effektivste Fressmaschine, die
be in der Tiefe der Ozeane nach wie vor Weißer Hai jemals auf diesem Plane-
sein Unwesen. Ist so ein Schre- ten vorkam. Zoologen
ckensszenario ernsthaft haben errechnet, dass er
vorstellbar? doppelt so schnell durch
Für ein solches le- Megalodon die Meere schwamm wie der
Größenschätzung: durchschnittlich maximal
bendes Fossil gibt es zu- Weiße Hai.
mindest ein berühmtes Vor- Lange gingen Forscher da-
bild. Einst waren Forscher von aus, dass eine klima-
auch davon überzeugt, dass bedingte Abkühlung der Oze-
Quastenflosser bereits am Ende der ane dem Wärmeliebhaber
Kreidezeit vor 70 Millionen Jahren Tyrannosaurus rex den Garaus gemacht hat. In-
ausgestorben seien. Nur Knochen zwischen scheint sich eine ande-
kündeten von ihrer früheren Existenz. re, überraschendere Theorie durch-
Völlig unerwartet ging einer dieser eigen- zusetzen: Demnach ließ sich der Topjäger
tümlichen Meeresbewohner jedoch 1938 beim Beutefang offenbar den Schneid ab-
Fischern vor der Küste Südafrikas kaufen.
ins Netz. 1998 wurde gar vor der indo- Obwohl im direkten Vergleich körper-
nesischen Insel Sulawesi eine zweite Art lich deutlich unterlegen, plünderten zum
entdeckt. Ende des Miozäns vor rund fünf Millionen
Wenn sich der weiß gesprenkelte Quas- Jahren die Ahnen der Weißen Haie und
tenflosser 70 Millionen Jahre erfolgreich der Orcas die Jagdgründe des Monsterhais
2 Meter
versteckt halten konnte, könnte das nicht so drastisch, dass dessen Population kolla-
auch Megalodon 2,6 Millionen Jahre bierte – so zumindest die Annahme.
lang gelungen sein? Dennoch halten es einige selbst er-
Der aggressive Riese wäre im heu- nannte Experten für möglich, dass
tigen Ökosystem Meer ein höchst un- Megalodon noch immer im Verborge-
angenehmer Zeitgenosse; bei einem nen seine Kreise ziehen könnte. Um
Gewicht von 50 bis 60 Tonnen müsste die vergangenen gut zweieinhalb Milli-

114
COURTESY OF WARNER BROS. PICTURES
Szene eines Haiangriffs aus dem Thriller »The Meg«: Zähne wie Steakmesser

onen Jahre überlebt zu haben, müsste indes würde ein durchschnittlich großer Mega- auch in den Bartenwalen, die ebenfalls
eine beträchtliche Population der giganti- lodon drei Millionen Dollar einbringen«, zu gigantischer Größe heranwachsen.
schen Killerhaie in den Ozeanen leben – sagt McClain. Erst das Aussterben des Superjägers
viel zu viele für eine Geheimexistenz. Dennoch berichten Taucher immer mal habe den Aufstieg der sanften Riesensäu-
So gilt heute der Weiße Hai als bedrohte wieder von angeblichen Sichtungen des getiere zu den größten Bewohnern des
Art; pessimistische Schätzungen gehen Urzeithais. Dass er sich kaum zeige, liege Planeten ermöglicht, vermuten einige Wis-
von lediglich 3000 Exemplaren aus, die nur daran, dass er sich vor langer Zeit in senschaftler.
noch durch die Weltmeere schwimmen. jene tiefsten Tiefen des Ozeans zurück- Alle Indizien sprechen somit dafür, dass
Dennoch ist es für versierte Taucher nicht gezogen habe, in die kein Licht mehr fällt, die spektakuläre Wiederauferstehung Me-
besonders schwierig, Exemplare aufzuspü- argumentieren die Megalodon-Fans. galodons im Katastrophenfilm »The Meg«
ren. Ist es vor diesem Hintergrund tatsäch- Für die Meeresbiologen ist das kein nur unterhaltsamer Mumpitz ist. Dennoch
lich denkbar, dass ein bis zu dreimal so plausibles Szenario. Auf dem dunklen wird es vielen Zuschauern nach der Vor-
großer Artgenosse auf Beutesuche unent- Meeresgrund, so ihr Einwand, würde der stellung schwerfallen, den nächsten Bade-
deckt bliebe? Vielfraß zwar allerhand kuriosen Kreatu- urlaub in vollen Zügen zu genießen.
»Wenn es irgendwo im Ozean einen 50- ren wie dem bizarr anmutenden Barten- Frank Thadeusz
Tonnen-Hai gäbe, dann würde er auch ge- Drachenfisch begegnen, aber kaum ausrei-
fangen – und er würde auf den Tellern der chend Beute finden. Zudem bevorzugte
ganzen Welt landen«, ist Craig McClain der Urzeithai eine warme Umgebung un- Video
Ausschnitte aus
überzeugt, Direktor des Louisiana Univer- weit der Meeresoberfläche; der kalte Oze- »The Meg«
sities Marine Consortium. »Ein Pfund anboden wäre für ihn gänzlich ungeeignet. spiegel.de/sp172018megalodon
Makofleisch wird auf dem Markt derzeit Einen indirekten Hinweis für das Ab- oder in der App DER SPIEGEL
für 30 Dollar angeboten. Bei diesem Preis leben Megalodons sehen Meeresforscher

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018 115


Kultur
Alles wird gut. Heute jedenfalls. ‣ S. 126

RENÉ PÄPKE
Brigitte, Jonathan Meese

Kunst Leben und Werk als eher amüsant, doch schrieben sie eben

Die Meeses
gemeinsam Kunstgeschichte. Nun würdigt der Sohn die
Zusammenarbeit mit einem filmischen Werk, in 360 Grad.
Im Berliner Martin-Gropius-Bau können Besucher mithilfe von
Virtual-Reality-Brillen ins Privatuniversum einsteigen (bis
 Eine Frau weckt ihren Sohn, treibt ihn an, genug geschlafen. 29. April). Meese sagt, seine Mutter werde mittlerweile doch
So beginnt der Alltag in vielen Familien. Bei den Meeses ist das als eigene Figur der Kunst ernst genommen. Sie verstelle sich
Kunst. Schon früh setzte Jonathan Meese – Maler, Performer, dabei nie, das erleichtere auch die Arbeit mit ihr. Tatsächlich
Opernregisseur und 48 Jahre alt – die Nähe zu seiner Mutter Bri- ist Brigitte Meese vor allem eines: unerschrocken. Deshalb spielt
gitte Meese als Stilmittel ein, machte daraus seinen persönlichen sie mit in diesen Szenen, die von Würstchenträumen, Wagner
Spezialeffekt. Lange galt die Anwesenheit der Mutter in Meeses und einer besonderen Mutter-Kind-Beziehung handeln. UK

Kino sie ihre glühende Wut über Vergewaltiger


Rache ist sauer und Kinderschänder bis zum Gefrier-
punkt heruntergekühlt. Therapie und
 Der amerikanische Schauspieler Joa- Rehabilitierungsmaßnahmen gibt es
quin Phoenix hat eine Vorliebe für Figu- in dieser Welt nicht. Phoenix’ Killer wirkt
ren, die an sich selbst und ihren Mitmen- wie das ausführende Organ eines strafen-
schen schwer leiden und sich durch die den Gottes, der alles sieht, nichts unge-
Gegend schleppen, als trügen sie alles sühnt lässt und keine Gnade kennt. Wenn
Elend dieser Welt auf ihren Schultern. der Killer mordet, und das tut er oft,
Daher ist er eine Idealbesetzung für die geht die Regisseurin auf Distanz. Viele
CONSTANTIN FILMVERLEIH

Rolle eines Profikillers, der in Lynne Rachefilme zeigen in solchen Momenten


Ramsays Rachedrama »A Beautiful Day« Großaufnahmen von einschlagenden
(Start: 26. April) Sexualverbrecher mit Kugeln und spritzendem Blut. Doch Ram-
grimmiger Entschlossenheit zur Strecke say will sich nicht an der Gewalt weiden,
bringt. Selten war in einem Film so viel denn die bringt keine Erlösung. Ein ver-
Trostloses und so wenig Freudvolles störender Film, der den Zuschauer ratlos
zu sehen. Ramsay inszeniert, als hätte Phoenix, Ekaterina Samsonov zurücklässt. LOB

116 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Dokumentationen Dessau. Berühmte Künstler wie Wassi- Nils Minkmar Zur Zeit
Weniger ist mehr ly Kandinsky, Paul Klee und Oskar

 Wie groß muss in einem Badezim-


Schlemmer arbeiteten zusammen mit Was man noch
Handwerkern. Sie alle suchten am Bau-
mer der ideale Abstand sein zwischen haus nach gesellschaftlichen Utopien, sagen darf
Wanne und Toilette? Und was verbin- Studenten wie Wilhelm Wagenfeld
det eine vor fast hundert Jahren in der erfanden Klassiker des Industrie- Als kleines Kind unternahm ich
deutschen Provinz gegründete Kunst- designs – Möbel, Leuchten, Salz- mit meiner Großmutter eine
schule mit einer neuen Seilbahn in streuer. 1933 zwangen die Nazis Zugreise. In unserem Abteil saß
Medellín, der Millionenstadt in Kolum- das Bauhaus zur Selbstauflösung. eine Dame mit einem markanten
bien? Diese und viele weitere Fragen Doch die Dokumentarfilmer Niels Äußeren, sie glich einer Hexe
stellt die Dokumentation »Vom Bauen Bolbrinker und Thomas Tielsch interes- aus dem Märchenbuch. Sie hatte Spielkar-
der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus« siert weniger die große Vergangenheit. ten, sogar Kekse dabei und unterhielt
(Kinostart: 26. April). Das Bauhaus war Stattdessen zeigen sie, wie der Geist mich bestens. Mitten im Spiel bemerkte ich
1919 in Weimar unter der Leitung des des Bauhauses bis heute Menschen hocherfreut, die Dame sei zwar hässlich,
Architekten Walter Gropius gegründet inspiriert: Ein Tänzer stellt geometri- aber sehr nett. Der Erfahrung, dass man
worden, später zog die Schule um nach sche Muster nach, Stadtplaner helfen zwischen Erscheinung und Wesen trennen
mit einer neuen Seilbahn kann, wird, als wir ausgestiegen waren,
den Bewohnern eines eine deutliche großmütterliche Lektion in
Armenviertels. Die Begeis- Höflichkeit gefolgt sein.
terung der Filmemacher für Man lernt als Kind, was man sagen kann
ihren Stoff wirkt anste- und was nicht. Es ist kein Problem. Wer,
ckend. Doch die vielen Pro- wie in einem Tweet für eine Gesprächssen-
tagonisten, Schauplätze dung des MDR, als Erwachsener fragt,
und Themen dürften einige ob »man noch Neger sagen« dürfe, möchte
NEUE VISIONEN FILMVERLEIH

Zuschauer arg verwirren. keine Antwort darauf hören. Dürfen darf


Das wichtigste Motto des man vieles, insbesondere sich unmöglich
Bauhausarchitekten Ludwig machen. Es gibt schließlich keine Polizei
Mies van der Rohe – weni- der „politischen Korrektheit“, die wie
ger ist manchmal mehr – ein Trupp wild gewordener Femen-Aktivis-
haben die Regisseure näm- tinnen durch die Wohnungen zieht und
Filmszene aus »Vom Bauen der Zukunft« lich missachtet. MWO den Sprachgebrauch beim Abendbrot über-
prüft. Nein, wer so fragt, verschleiert
seinen Wunsch nach autoritärer Bezeich-
nungskompetenz.
Literatur zur Barbarei führt, wie Thomas Mann All die halb witzigen Fragen, ob man
Systemwidrig es genannt hätte. Strauß schreibt: Es statt Zwerg im Märchen von horizontal her-
führt »zum ärgsten Fluch«. Es ist, als ausgeforderten Personen sprechen muss,
 Und dann, nachdem der Erzähler vie- habe der Mann, der so gern Fortführer sind die Kehrseite des Wunsches, nicht etwa
le, viele Seiten lang die Gegenwart ver- wäre, wenigstens für einige, erkannt, frei, sondern unwidersprochen sprechen zu
dammt und verachtet hat, sie in immer dass sein verantwortungsfreies, rück- dürfen. Der andere ist eine Zumutung,
neuen, mal melancholischen, mal jam- wärtsgewandtes Sehnen in Politik über- allein dass es ihn gibt. Darum beinhaltet so
mernden, mal wütenden Bildern zur setzt gefährlich, falsch und dumm ist. eine Frage einen Machtanspruch meist wei-
schlechtesten Gegenwart aller Zeiten Und als sei er wenigstens dankbar, dass ßer Männer; aber der Fall liegt gleich, wenn
erklärt hat – plötzlich die unverhoffte diese verachtenswerte liberale Toleranz türkische, russische oder sonstige Angeber
Erkenntnis: »Welch anderes System um ihn herum, die alles in ein großes Frauen, Homosexuelle oder Biodeutsche
aber hätte es mir erlaubt, fast mein gan- Egal verwandelt, wie er meint, ihm mit Schimpfwörtern belegen und auf Wider-
zes Leben systemwidrig zu verbrin- immerhin sein freies, reaktionäres, rede aggressiv reagieren. Auch das ent-
gen?« Das schreibt Botho Strauß zwei widerständiges Leben und Schreiben springt dem frustrierten Streben nach kom-
Seiten vor Schluss in seinem neuen ermöglicht. Vielleicht ist das ein munikativer Dominanz und macht diese
Buch »Der Fortführer«. Der Titelheld, Anfang von etwas Neuem im Schreiben Frustration zur Basis einer Opferpose. Es ist
das ist er selbst, der einsame Mann, der des Botho Strauß? Ein Ausweg aus dem ein Angriff, der sich als Abwehr tarnt. Sol-
in der Vergangenheit und in der Verach- Einstweh-Gefängnis? In eine Art Ver- ches Verhalten bezeugt eine gewisse Ein-
tung lebt. Manchmal bedauert er es: antwortung gar, Respekt vor den samkeit, denn wenn der Menschenhaufen,
»Er hat versäumt, sich an den Mast sei- Bewahrern der Freiheiten der Gegen- mit dem man täglich zu tun und zu arbeiten
ner Tage, an dem er lange Zeit so lässig wart? Botho Strauß wird wohl auch an hat, nur bunt genug ist, dann löst sich
lehnte, rechtzeitig fesseln zu sich selbst gedacht haben, als die Frage, wer wen wie nennen darf, recht
lassen.« Ein Mann, gefangen er im neuen Buch schrieb: schnell. Natürlich entstehen dafür andere
im Sehnsuchtsgefängnis »Was immer Sie festigt, woran Probleme, die Welt und die Menschen sind
Zurück. Ein zerrissener Mann. immer Sie glauben mögen – ja kompliziert. Man vertraue in Zweifels-
Das macht dieses neue Buch, glauben Sie einmal zwei Stun- fällen auf altmodische Herzensbildung. Es
bei aller jammernden Einst- den lang nicht daran.« Oder ist kein Problem und sogar eine Tugend,
mals-Verklärung, spannungs- gleich: die nächsten paar Sprache so anzupassen, dass sie höflichem
reich und neu. Botho Strauß Jahre und Bücher lang! Wir Umgang dient. Man benutzt keine
beschreibt, wie sein eigener freuen uns drauf! VW Bezeichnungen, die Menschen verletzen.
reaktionärer Rückbesinnungs- Botho Strauß: »Der Fortführer«. An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
eifer, ins Politische gewendet, Rowohlt; 208 Seiten; 20 Euro. Elke Schmitter im Wechsel.

117
Kultur

Alte Stadt, neue Idee


Theater Nach dem Aus des Volksbühnen-Chefs Chris Dercon stellt sich die Frage,
wie die Hauptstadt ihrer Zukunft begegnen möchte.

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Streitort Volksbühne: Ein Gegen-Stadtschloss zum grassierenden Neowilhelminismus

118 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


D
as Schauspiel, das Debakel, die für die Welt, zu groß für Europa und auch Visionär der Kleinteiligkeit, aber zu ihm
Chance, die das Scheitern des In- eine Kulisse für Touristen auf Spaßfahr- kommen wir etwas später.
tendanten Chris Dercon an der rädern. Um erst einmal die Kluft zwischen dem
Berliner Volksbühne war und ist, Die Volksbühne ist das Gegen-Stadt- Berlin zu verstehen, das die Theater-
ist zuerst politisch zu sehen in dem Sinn, schloss, und der Kampf darum, was dieser macher, Galeristen, Klubbetreiber, Musik-
dass sich die Frage stellt, wie sich Gesell- Ort sein kann, spiegelt viele der Ängste, produzenten, Tagträumer geschaffen ha-
schaft äußert und verändert, mit welchen die mit den Veränderungen der Stadt und ben, die heute zwischen 45 und 60 sind
Menschen und Mechanismen, in welchen der Gesellschaft überhaupt zu tun haben: und die keine Lust darauf haben, ihre sym-
Institutionen, an welchen Orten, wie. Es ist nicht mehr 1992, als sich Frank Cas- bolische oder reale Macht abzugeben –
Denn das ist der Hintergrund für diesen torf entschied, weltberühmt zu werden. und für das in vielem die Volksbühne steht
Streit, der so erbittert geführt wurde um Bis 2017 war er dann Intendant, und die –, und dem Berlin, das sich heute um die
die Identität dieser Stadt, die kein Bild von Auseinandersetzung um seinen Nachfol- Verwaltung dieser Vergangenheit küm-
sich hat, die vielleicht kein Bild von sich ger, den Belgier Chris Dercon, der vorher mert, muss man sich am besten eine Sit-
haben sollte, denn das Bild ist schon das Leiter des Londoner Museums Tate Mo- zung des Kulturausschusses im Berliner
Denkmal, das Ende von Veränderung, und dern war, also ein Kunstmann, reicht weit Abgeordnetenhaus ansehen, dort also, wo
die ist das Lebenselixier von Stadt über- zurück in diese Zeit der Neunzigerjahre. über Dercon auf die merkwürdigste Art
haupt. Berlin ist nur ein Symbol. Damals war die Kaputtheit Berlins das diskutiert wird.
Die Missverständnisse also, und das ist Kapital, die offenen Räume waren ein Ver- Es ist eine Form von epischem Theater,
das Wort, das viele verwenden, da die Per- sprechen für all jene, die genug Zeit oder ohne Inspiration, dafür mit dem Schuss
son verschwunden ist, die der Anlass für Mumm oder Leidensfähigkeit mitbrach- Selbstgerechtigkeit, der sicher gut ist für
all den Ärger war, wenn auch nicht der ten, um sich eine Zukunft zu erarbeiten politische Karrieren – jeder Darsteller,
Grund, die Missverständnisse lassen sich aus einer Gegenwart, die scheinbar gren- jede Darstellerin in diesem weiten Raum
sortieren in Gruppen von grundsätzlich zenlos war, in Kellerbars und illegalen ist benannt durch das Schild, das vor ihm,
bis vorsätzlich, von ernsthaft bis lächerlich. Klubs, in Galerien ohne Besucher und vor ihr steht, SPD, FDP, CDU, die Linke,
Ein Teil des Problems hängt damit zu- Wohnungen ohne Zentralheizung. die Grünen, die grimmigen Herren von
sammen, dass in Berlin, dieser Hauptstadt Das ist immer noch der Mythos, von der AfD.
am Beginn eines ästhetischen und ideolo- dem Berlin profitiert, und in vielem ist es Da gibt es kein Abweichen, da gilt es,
gischen Rollback, das zuerst auf dem Feld auch noch eine Realität, jedenfalls dort, einen Satz zu sagen, der, wenn sie Glück
der Kunst und Kultur geführt wird und wo die Gentrifizierungsexzesse noch nicht haben, am nächsten Tag in einer der Ber-
leicht versetzt auf dem Feld der Politik, ge- alle Möglichkeiten zerstört haben, aus ei- liner Zeitungen steht. Und so reden sie
rade verschiedene Vergangenheiten auf- ner Idee etwas Größeres zu machen – die von »Konzepten«, als wäre das eine Impf-
einanderprallen und Gegenwart und Zu- Relevanz des Unsichtbaren, wie Christian form gegen Ratlosigkeit. Klaus Lederer ist
kunft zwischen sich zerreiben. Schwarm es nennt, Unternehmer und da, der aktuelle Kultursenator von der Lin-
Da ist der Neowilhelminismus, ken, der Wahlkampf gegen Chris
wie ihn das Stadtschloss repräsen- Dercon gemacht hat und nichts, um
tiert, die neoadlige Hoffnung da- ihm zu helfen, im Gegenteil, und
rauf, ein Deutschland zu bauen, er ist an diesem Montagnachmittag
das sich nicht durch „diese 12 Jahre“ entschieden ausweichend, wenn es
(Alexander Gauland) definieren um seine eigene Rolle geht oder um
lässt, ein Deutschland also, das die Zukunft der Volksbühne: »Wir
eher nahtlos an Maßlosigkeit, Dün- werden uns die Zeit nehmen«, sagt
keltum und Angstzustände an- er, »die wir brauchen.«
knüpft, wie sie das späte Kaiser- Das Problem an dieser Politik-
reich prägten. performance ist die Tatsache, dass
Die Missverständnisse, die mit hier Menschen um einen großen
der Konzeption dieses scheuß- eckigen Tisch sitzen, die dafür ge-
lichen Schuhkastens zusammen- wählt wurden, dass sie Pläne ma-
hängen, was die Nutzung und den chen, die funktionieren. Und die
Zweck des Humboldt-Forums an- Frage, die Grundfrage hinter dem
geht, haben unter anderem damit ganzen Streit, wenn man mal die
zu tun, dass kein richtiges Ver- üblichen Bierpfützen der Berliner
hältnis von Vergangenheit und Lokalpossen umschifft, ist genau
Zukunft gefunden wurde. Hier soll diese: Wie planbar ist das frühe
ab 2019 außereuropäische Kunst 21. Jahrhundert?
gezeigt werden. Die wahre Frage Was ist eine Institution wie die
dabei ist: Was sagt das Erbe von Volksbühne, in Architektur und
Kolonialismus und westlicher Gestalt ein Produkt des frühen
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Welteroberungshybris heute zu 20. Jahrhunderts? Was ist, in grö-


Verantwortung und Weltgemein- ßerem Zusammenhang, die Gestalt
schaft? einer Politik, die in den Entschei-
Es wird hier also, an diesem Ort, dungswegen, der Rationalität und
der die Mitte, das tote Herz der Funktionsweise zwischen Wil-
der Stadt, schon jetzt prägt, sehr helminismus und frühen Neunzi-
grundsätzlich das verhandelt, was gerjahren hängen geblieben ist?
eine politische Philosophie der Der ehemalige Musikmanager
aggressiv unsicheren Mittelmacht Übergangsintendant Dörr und spätere Kulturstaatssekretär
Deutschland sein kann – zu klein Veteran der Berliner Szene Tim Renner, der Mann, den viele

119
für das Tamtam verantwortlich ma- tekt Sam Chermayeff zu einem
chen, ist durchaus jemand, der sich hybriden Raum zwischen Biblio-
über solche Dinge Gedanken thek und Küche gemacht hat, mit
macht – man könnte sogar sagen, einem ellenlangen Tisch für Essen
dass sein Zukunftshunger das Di- und Palaver.
lemma verursacht hat. Er wirkt ru- Schwarm, der lange eine eigene
hig und entspannt an diesem Nach- Beratungsagentur hatte, experi-
mittag, es ist eine Weile her, dass mentiert hier mit seinen Geschäfts-
ihm jemand ein Bier über den Kopf partnerinnen Jone Szmania und
gegossen hat als Rache für Dercon. Nina Raftopoulo, was Form und
Er sitzt im Café Barcomi’s, ei- Gestalt von Gesprächen mit Kun-
nem Zentralort des Neunzigerjah- den angeht, von BMW bis zum
re-Berlins, und spricht davon, wie kleinen Sozialverein Karuna – es
der damalige Regierende Bürger- sei ja überhaupt oft schon schwierig
meister Klaus Wowereit und er vor genug, sagt Raftopoulo, die ver-
dem Problem standen, dass an drei schiedenen Leute, die verschiede-
Berliner Theatern, der Schaubüh- nen Szenen und Milieus an einen
ne, dem Berliner Ensemble und der Tisch zu bringen.
Volksbühne, massive Verkrustungs- Auch Chris Dercon, fügt sie

WOLFGANG STAHR / LAIF


erscheinungen auffällig wurden, freundlich hinzu, hätte vielleicht
um die 20 Jahre dauerte die Ägide nicht nur mit seiner Kulturschicke-
der Meisterregisseure Ostermeier, ria reden sollen – das Abseitige
Peymann, Castorf schon, es musste jedenfalls, das an Orten wie diesen
etwas geschehen. gepflegt wird, das Gesellige auch,
Aber was? Der Wille war da, die das Graswurzelhafte, das sich
Ära der alten Männer zu beenden, Kulturmanager Dercon gegen die große Geste, die große
die »institutionalisierte Revolu- Die institutionalisierte Revolution beenden Lösung wendet, scheint in Zeiten,
tion« – doch für die Volksbühne, die durch den digitalen Kultur-
ein Bayreuth nach Wagner, wie Renner es noch eine Bedeutung habe in dieser Stadt, bruch geprägt sind, wie der vernünftigste
nennt, fand sich niemand, der den Mut immer noch ein »Kraftzentrum« sei. Weg, mit der planungsresistenten Gegen-
oder die Weltfremdheit hatte, sich diesen Auch Dörr ist ein Veteran der Berliner wart umzugehen.
Teufelsjob aufzuhalsen. Bis Chris Dercon Szene, seit 1991 ist er in der Stadt, hat Von einer »Reformohnmacht« spricht
kam, mit einer Mischung aus Gelassenheit schon am Maxim Gorki Theater gearbeitet Christian Schwarm und davon, dass alle
und Fahrlässigkeit. und zuletzt in Stuttgart, und seine Aufgabe das Gefühl hätten, sie müssten etwas tun,
Disruption jedenfalls, so sagt Renner, ist es nun, einerseits, einen Spielplan für aber keiner wisse, was. Alles zerfliege, so
war der Plan, und Disruption bekamen sie die nahe Zukunft zu entwerfen. Die künf- Schwarm, keine Szene sei prägend, kein
– zusammen mit dem Plan für ein kulturell tige Verantwortung würde er am liebsten Milieu, und das sei gut so. Das könne man
motiviertes Stadtentwicklungsprojekt, das »auf mehrere Schultern verteilen«. auch nutzen, wie damals in den frühen
die Entwicklung des ehemaligen Flug- Ab Oktober, so Dörr, sollen in dem Neunzigerjahren in Berlin, als aus dem Un-
hafens Tempelhof als Ort zwischen der al- einigermaßen leer gespielten Haus eigene sichtbaren eine Weltbedeutung erwuchs,
ten Mitte und dem neuen Neukölln eröff- Produktionen gezeigt werden, unterstützt die niemand planen konnte.
nen sollte; bis erst die Geflüchteten ka- von Gastspielen anderer Theater aus der Das Problem der Politik, meint
men, die dort untergebracht wurden und Stadt oder dem Land – für die mittlere Schwarm, sei, dass sie nur das Sichtbare
die Planungen durcheinanderbrachten, Zukunft hat er allerdings noch einen Vor- sehe und nur das Sichtbare wolle. Für die
und dann das Geld fehlte. schlag parat, der in der gegenwärtigen Volksbühne könnte das heißen, dass das
Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Katerstimmung erfreulich utopisch klingt: Scheitern hier, mit der Theaterlegende
Eine »Pogromstimmung« habe in der Einen Theaterneubau sollte sich die Stadt Christoph Schlingensief gesprochen, eben
Stadt geherrscht, findet Renner, es sei »fa- mal wieder leisten, sagt er. auch genau die Chance sein könnte, sich
schistoid übergriffig« zugegangen. Eigene Und damit ist Dörr, dieser sehr gewis- der eigenen Unsicherheit zu stellen.
Verantwortung räumt er ein, nach der Ab- senhaft wirkende Mann, sehr nah dran an Vielleicht, so hofft jemand wie die süd-
sage des Volksbühnen-Regisseurs René dem, was ein Grundproblem der ganzen afrikanische Künstlerin Candice Breitz, die
Pollesch etwa hätte man beherzter umsteu- Krise ist: die überkommene Struktur der seit 2002 in Berlin lebt, gibt es endlich die
ern müssen. Für die Zukunft aber, das ist Formen und Entscheidungen, aber auch Möglichkeit, etwas anders zu machen und
sein Naturell als Mann des digitalen Wan- die Größe und Organisation kultureller keine Macho-Egos mehr zu pflegen: »Jetzt
dels, ist er optimistisch, er hält die aktuel- Institutionen. Er sei für »kleinteiligere Ein- wäre die Zeit, endlich eine andere Tradi-
len Probleme für lösbar, »die Frage ist nur, heiten der Kulturproduktion«, sagt Dörr tion hier zu begründen, eine Tradition, die
ob man mutig genug ist«. – das ist in vielem eine Zauberformel. verschiedene Blickweisen, verschiedene
Die Allianz aber von Theater, Film, bil- Hier nun kommt endlich jemand wie Biografien zulässt. Echte Diversität eben.
dender Kunst, wie sie Chris Dercon vor- der Unternehmer und Kulturvisionär Und nicht wieder, das wäre in meiner Sicht
geschlagen hatte, ist erst einmal ein wenig Christian Schwarm ins Spiel, der von ein Fehler, riesiger Unsinn, wenn der
gestoppt – Klaus Dörr allerdings, der neue Philosophie und Praxis her der Gegenpol Posten wieder mit einem weißen Mann
geschäftsführende Direktor und Über- zur institutionellen Großdiskussion über besetzt würde.« Die Gelegenheit jeden-
gangsintendant der Volksbühne, ist freund- die Kultur in dieser Stadt ist und der für falls, das Neue zuzulassen, ist jetzt da, in
lich zuversichtlich, dass aus dem Schlamas- den Mut plädiert, das Neue entstehen zu der angstbeladenen Mitte, in diesen wun-
sel etwas Gutes entstehen kann: Schließ- lassen, ohne Garantie und mit Freude am derbaren und komplizierten Zeiten.
lich, sagt er, habe die Vehemenz der Dis- Risiko – an Orten wie seiner Remise im Georg Diez
kussion doch gezeigt, dass Theater immer Stadtteil Schöneberg, die ihm der Archi-

120 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Kultur

Castorf, geboren 1951 als Sohn eines Berliner

»Das ist doch Eisenhändlers, war von 1992 bis 2017 Chef
der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

SPIEGEL: Herr Castorf, ihr Nachfolger als

Mumpe«
Intendant der Volksbühne, Chris Dercon,
hat seinen Job nach wenigen Monaten und
vielen Anfeindungen aufgeben müssen. Ist
das für Sie ein Grund zur Freude?
Castorf: Warum sollte ich mich freuen?
SPIEGEL-Gespräch Regisseur Frank Castorf über die Man hat sehr viele Millionen Euro ausge-
geben, um mich loszuwerden. Und mit mir
Berliner Politik, die Weltoffenheit der dieses Theater, das wir in einer einmaligen
Stadt und die Theaterarbeit an der Volksbühne Gemeinschaft 25 Jahre lang genutzt haben
für eine besondere Kunstarbeit. Die Ent-
scheidung, dem ein Ende zu machen, wur-
de auf juristisch korrekte Weise getroffen.
SPIEGEL: Deshalb haben Sie sich am Pro-
test gegen die Entscheidung nicht beteiligt?
Castorf: Mir war nur wichtig, dass ich das
Räuberrad, das der Bühnenbildner Bert
Neumann und ich für unsere Arbeit vor
der Volksbühne aufgestellt hatten, in
Sicherheit bringen konnte. Es steht seit
letztem Sommer in Avignon. Das Rad war
ein Symbol ohne Inhalt, von dem wir im-
mer sagten, dass erst wir es mit Bedeutung
füllen müssen. Ein hässlicher Schrotthau-
fen. Deshalb stand es gut für das Theater.
SPIEGEL: Seit im April 2015 bekannt ge-
geben wurde, dass Chris Dercon Ihr Nach-
folger als Intendant werden sollte, haben
Sie sich geweigert, mit ihm und über ihn
zu sprechen. Warum?
Castorf: Ich habe mich nicht geweigert. Ich
hatte keine Lust, und ich hatte nichts zu sa-
gen. Wir leben in einer quatschenden Ge-
sellschaft. Jeder hat eine Meinung zu ver-
kaufen. Und wenn er sie gut verkauft, ist
er ein guter Demokrat? Dann bin ich keiner.
Man hat unser Theater politisch zerschla-
gen. Das war das Resultat der Feindselig-
keit, mit der uns ein Teil Berlins begegnet
ist. West-Berlin hat unser Theater gehasst.
SPIEGEL: Ist das nicht schwer übertrieben
angesichts der Preise und Lobreden, mit
denen Sie in 25 Jahren Volksbühne bedacht
wurden, auch aus dem Westen Berlins?
Castorf: Als wir anfingen, hat der West-
Berliner Theaterleiter Boleslaw Barlog ge-
sagt: »Für das deutsche Theater ist Frank
Castorf das Schlimmste, was ihm seit
Adolf Hitler widerfahren ist.« Ich fand die-
se Art von Bösartigkeit immer okay, und
sie ist nie verschwunden. Dass Christoph
Schlingensief in der Volksbühne auf ein
Transparent »Tötet Helmut Kohl« schrieb,
hat den Hass weiter geschürt. Jetzt sind
sie mich in der Volksbühne los, und der
Springer-Verlag hält dort die Verleihung
des »B.Z.«-Kulturpreises ab, der in West-
Berlin berühmte Professor Peter Raue mit
SLAVICA / DER SPIEGEL

seiner schönen weißen Haartolle ist dabei.


In den 25 Jahren, die wir dort waren, hat

Das Gespräch führte der Redakteur Wolfgang Höbel


in München.

121
Kultur

es das nicht gegeben. Aber jetzt gehört bejubelten »Faust«, für seinen Spielplan
ihnen ja das Theater. Es ist nur schade, überlassen hätten?
dass man das Haus nicht 365 Tage mit Castorf: Nee, nee. Er kam nach Berlin und
der Verleihung von Springer-Preisen be- hat gesagt: Ich mache alles völlig neu. Also
spielen kann. habe ich gesagt: Mach es! Alles andere
SPIEGEL: Könnte es nicht sein, dass der aus wäre ja so gewesen, als würde ich einem
dem Westen Berlins stammende Regieren- Schwerversehrten über die Straße helfen.
de Bürgermeister Michael Müller gemein- SPIEGEL: Klingt das jetzt nicht so, als hät-
sam mit seinem damaligen Kulturstaats- ten Sie Dercon doch als Feind empfunden?
sekretär, Tim Renner, Ihre Ablösung durch Castorf: Da antworte ich frei nach Carl
Chris Dercon nur deshalb beschlossen hat, Schmitt: Subjektiv empfinde ich über-
weil er fand, 25 Jahre Volksbühne mit Frank haupt keine Feindschaft, objektiv ist es ein
Castorf auf dem Chefsessel seien genug? unfreundlicher Akt, der von mir genau so
Castorf: Müller hatte nie was von uns ge- behandelt wird.

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL


sehen. Als ich mich mit dem Regierenden SPIEGEL: Wie schlimm ist Ihrer Meinung
Bürgermeister der Stadt Berlin und dem nach das Desaster, das mit der Volksbühne
dünnen Herrn Renner traf, sagte Müller: passiert ist, für die Kulturstadt Berlin?
»Herr Castorf, ich muss Ihnen sagen, ich Castorf: Ich habe mit dem Ganzen nichts
war noch nie im Theater.« Ich habe ihm mehr zu tun, das ist doch völlig Mumpe.
geantwortet: »Für den Bürgermeister und Ich bin jetzt oft woanders. Auch in Nizza
Kultursenator einer mittelgroßen deut- kann man sehr schön essen gehen. Ich stelle
schen Stadt ist das ein mutiges Geständ- fest: Überall ist es besser als da, wo man
nis.« Daraufhin sagte er: »Ja, aber ich war Ex-Kulturstaatssekretär Renner gerade ist. Ich arbeite in Hamburg und in
immerhin schon mal in der Oper.« Auch »So würde man ›Tartuffe‹ inszenieren« München, und einmal im Jahr, weil Brecht
das stimmt nicht, höre ich von meinem in gewisser Weise meine Vaterfigur ist, auch
Freund Jürgen Flimm aus der Staatsoper. Castorf: Das ist doch nur eine Hülse. Das am Berliner Ensemble. In Paris und in Epi-
SPIEGEL: Sie halten die Berliner Politik, die Galeristengerede vom Crossover, das in dauros kann man unter sehr guten Bedin-
ja mit der Bestellung des zuvor in London Berlin angeblich fehlt. Es stammt von Leu- gungen Theater machen. Es wäre doch eli-
beschäftigten Belgiers Chris Dercon Welt- ten, die nie in der Volksbühne und auch tär zu sagen, ich bin nur im deutschen The-
läufigkeit beweisen wollte, für provinziell? sonst nicht in der Stadt waren. Christoph ater richtig. Im Augenblick inszeniere ich
Castorf: Es fehlt in Berlin, natürlich auch Schlingensief war, wenn er nicht bei uns ar- an der Staatsoper in München. Die Oper
unter den Journalisten und den Künstlern, beitete, auf der Documenta. Mit Jonathan ist das letzte Refugium der Kunst. Als Sän-
dieses jüdische Element, das ausgerottet Meese habe ich selbst in »Kokain« gearbei- ger in der Oper kann ich mich nicht hinstel-
wurde. Und es gibt bis heute diese Zweitei- tet, Paul McCarthy war in der vorletzten len und sagen: »Tut mir leid, ich kann das
lung der Stadt. Vor 1989 sind bestimmte Spielzeit am Haus. Wir hatten an der Volks- hohe C nicht treffen, aber dafür bin ich Sy-
Leute einfach kleben geblieben in West-Ber- bühne Hunderte großer Musiker. Wir hat- rer.« Insofern ist die Oper kunstbewahrend,
lin, während die anderen Karriere in Ham- ten hungerstreikende PDS-Politiker und einerseits voller Tradition und andererseits
burg oder Frankfurt oder München gemacht die Tradition zerstörend. Das ist mir ganz
haben. West-Berlin war die Stadt der Wehr- nah. Das kann nicht jeder.
dienstverweigerer, der Leistungsverweige- SPIEGEL: Für Sie ist das Kapitel Volksbüh-
rer, der Geflüchteten. Das prägt die Stadt »Wann gab es je so viel ne erledigt?
kulturell und intellektuell bis heute. Streit ums Theater? Die Castorf: Absolut erledigt. Ich will das Le-
SPIEGEL: War da nicht der Impuls völlig ben genießen, auch wenn es mich als Regis-
richtig, einen Mann wie Dercon nach Ber-
beste Werbung für die Ein- seur immer reizt draufzuschlagen, wenn es
lin zu holen? Warum hat Sie das empört? maligkeit dieser Kunst!« zu angenehm wird. Kunstarbeit ist immer
Castorf: Ich war nie empört. Ich habe mich pro und kontra. Das ist ja das Erstaunliche
auch nie so geäußert. Es gibt da dieses wun- am Streit um die Volksbühne in den letzten
derbare Foto vom Jubiläumsakt anlässlich einen Piratensender im Haus. Wir hatten drei Jahren: Wann gab es jemals so viele
von 100 Jahren Berliner Volksbühne, auf Obdachlosentheater, Tanztheater und, und, Kommentare zum Theater, so viel Streit
dem sieht man an einer langen Festtafel, und. Da kommt man dann einfach so hin ums Theater? Das ist die beste Werbung für
die noch der wenig später verstorbene Bert und verspricht was völlig anderes. Bezahlt die Einmaligkeit dieser Kunst! Aber nicht
Neumann in das Theater gebaut hat, ge- werden sollte das von Sponsoren, Scheichs mal damit konnte sich das, was man aus der
schätzt tausend Leute sitzen. Und mitten- aus Dubai. Doch mit den Scheichs wurde Volksbühne gemacht hat, verkaufen.
drin beugen sich ein Mann mit weißem es nichts, das hat Herr Dercon dann erfah- SPIEGEL: Für Ihren Ruhm scheint der Streit
Bart, Chris Dercon, und einer, der aussieht ren. Natürlich hätte ihm die Berliner Politik dagegen gut gewesen zu sein. Jetzt sind Sie
wie Pinocchio, Tim Renner, über den Tisch mehr Geld geben können. Es wäre doch als Volksbühnen-Chef eine Legende.
und reichen mir die Hand. Ein tolles Bild, nur ein Bruchteil dessen, was jeden Tag für Castorf: Im Deutschlandfunk hieß es gera-
man muss sich die Mimik und die Gestik den Hauptstadtflughafen ausgegeben wird, de, so hat man mir erzählt: »Sie wollten in
dieses Augenblicks ansehen. So würde man dank der gesammelten Inkompetenz der Berlin eben den Castro loswerden.« Und
»Tartuffe« von Molière inszenieren! Berliner Politik. Wenn täglich eine Million erst nach fünf Sekunden Pause: »Ach nee,
SPIEGEL: Und doch, viele Kulturbegeister- für den neuen Flughafen ausgegeben wird, den Castorf.« Da bin ich doch an einem tol-
te und möglicherweise auch manche Ber- warum soll man nicht zehn Millionen Euro len Punkt angekommen. Da habe ich, finde
liner Politiker verbanden mit dem Inten- mehr für Herrn Dercon ausgeben? ich, alles erreicht. Ein Revolutionär, umge-
danten Dercon tatsächlich die Hoffnung SPIEGEL: Hätten Sie Ihrem Nachfolger ben von einem Meer von Feindseligkeit.
auf Neues, auf originelle Verknüpfungen Dercon nicht in einem Akt der Großzügig- SPIEGEL: Herr Castorf, wir danken Ihnen
zwischen Theater, bildender Kunst und keit helfen können, indem Sie ihm einige für dieses Gespräch.
Musik. Was ist daran verkehrt? Ihrer Produktionen, zum Beispiel Ihren

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Ferdinand von Schirach 1 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass


Strafe Luchterhand; 18 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

2 (4) Maja Lunde 2 (3) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt


Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro Mit den Händen sehen Insel; 22,95 Euro

3 (3) Jojo Moyes Mein Herz 3 (–) Hamed Abdel-Samad


in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro Integration
Droemer; 19,99 Euro
4 (5) Maja Lunde
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro Der streitbare Islamkritiker
Hamed Abdel-Samad
5 (2) Paluten / Klaas Kern Freedom. sucht Probleme bei der In-
tegration und findet sie
Die Schmahamas-Verschwörung auch – auf beiden Seiten
Community Editions; 12 Euro
4 (2) Manfred Lütz
6 (–) Haruki Murakami Die Ermordung Der Skandal der Skandale Herder; 22 Euro
des Commendatore II
DuMont; 26 Euro 5 (4) Michael Wolff
Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro
Der ewige Nobelpreisan-
wärter Murakami schreibt 6 (6) Gerald Hüther
im zweiten Band seines
Epos die Geschichte
Würde Knaus; 20 Euro In der nächsten
um einen namenlosen
7 (5) Markus Feldenkirchen
Porträtmaler fort
Die Schulz-Story DVA; 20 Euro SPIEGEL -Ausgabe
7 (6) Bernhard Schlink
8 (8) Wolfram Eilenberger
Olga Diogenes; 24 Euro
Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro am 28.4. 2018
8 (8) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist
nur eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro
9 (9) Elke Heidenreich
Alles fließt Corso; 24,90 Euro
9 (7) Laetitia Colombani
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro 10 (17) Hans-Werner Sinn Auf der Suche
nach der Wahrheit Herder; 28 Euro
10 (11) Mariana Leky Was man von
11 (12) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro
Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Themen im Mai:
11 (10) Daniel Kehlmann
Tyll Rowohlt; 22,95 Euro 12 (11) Gregor Gysi
Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro
Slapstick zum Weinen
12 (9) Elena Ferrante Die Geschichte des
verlorenen Kindes Suhrkamp; 25 Euro 13 (7) Franz Keller Vom Einfachen Volker Weidermann über
das Beste Westend; 24 Euro
13 (14) John Grisham
14 (14) Rolf Dobelli Die Kunst
Khaled Kalifas irren Kriegs-
Forderung Heyne; 24 Euro

14 (12) Marc-Uwe Kling


des guten Lebens Piper; 20 Euro roman Der Tod ist ein
QualityLand Ullstein; 18 Euro 15 (10) Peter Hahne Schluss mit euren mühseliges Geschäft
ewigen Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro
15 (19) Hardy Krüger Ein Buch von
Tod und Liebe Hoffmann und Campe; 18 Euro 16 (13) Wilhelm Schmid
Selbstfreundschaft Insel; 10 Euro Der Heimatdichter Andreas
16 (13) Elena Ferrante Meine geniale
Freundin Suhrkamp; 22 Euro 17 (16) Axel Hacke Über den Anstand in Maier über die neue
schwierigen Zeiten und die Frage,
17 (–) Lucy Fricke wie wir miteinander umgehen
deutsche Heimatsehnsucht
Töchter Rowohlt; 20 Euro Kunstmann; 18 Euro

18 (15) Sebastian Fitzek 18 (19) Yuval Noah Harari Von Zickzackdenker zu


Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
Zickzackdenker: Der Schrift-
19 (17) Guido Maria Kretschmer 19 (15) Peter Wohlleben Das geheime
Das rote Kleid Goldmann; 14 Euro Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro steller Ulrich Holbein verneigt
20 (16) Carmen Korn 20 (18) Navid Kermani sich vor dem Schriftsteller
Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro Entlang den Gräben C. H. Beck; 24,95 Euro
Laurence Sterne
123
Kultur

Die Masche
deutsche Hip-Hop-Alben, inzwischen
über 200 000-mal, also stand es auf der
Liste. Doch es war auch eine Fachjury, die
entschieden hat, dass »JBG 3« am Ende
den Preis gewann – trotz der den Holo-
Rap Der Jurastudent Felix Blume aus Hessen tritt als Kollegah auf und caust verharmlosenden Zeile.
rappt Zeilen, die aus dem Fundus der Antisemiten stammen. Schon im Vorfeld der Verleihung hatte
die Zeile Fragen aufgeworfen: Müsste man
Sein Erfolg ist bedenklich, dass er den Echo bekam, ein Skandal. Kollegah und Farid Bang nicht die Nomi-
nierung entziehen? Müsste man nicht ih-
ren Auftritt beim Echo, der auf den Holo-
caust-Gedenktag in Israel fiel, absagen?
Die Echo-Verantwortlichen entschieden
sich gegen beides. Nach dem Echo gaben
daraufhin einige Künstler ihre Preise zu-
rück, Marius Müller-Westernhagen etwa,
der alle seine Echos nicht mehr haben woll-
te, oder der Pianist Igor Levit (siehe Inter-
view). Und mit alldem kam noch eine
andere Frage wieder auf, mit der in den
vergangenen Jahren schon viele journalis-
tische Texte überschrieben waren – in der
Art: Hat der deutsche Hip-Hop ein Anti-
semitismusproblem?
Spricht man über ein Auto, sollte man
erst klären, ob es sich um einen SUV mit
dickem Auspuff oder ein Elektroauto mit
Ladekabel handelt. Deutscher Hip-Hop je-
denfalls ist inzwischen, lange nach seinen
ersten Erfolgen in den Neunzigerjahren,
zu einem vielseitigen System gewachsen.
Das zeigt sich zum Beispiel am Umgang
mit Genderfragen: Es gibt zwar einen
männlich bestimmten sexistischen Zweig,
aber auch Rapperinnen wie das Duo
SXTN, die eigentlich herabwürdigende
Ausdrücke wie »Fotze« rückerobern und
umdeuten. Es gibt im deutschen Hip-Hop
jüdische Rapper wie Spongebozz, der
ebenfalls für den Echo nominiert war, und
es gibt Anti-Antisemitismus-Hymnen wie
»Beate Zschäpe hört U2« der Politrapper
FRANK HOENSCH / REDFERNS / GETTY IMAGES

Antilopen Gang.
Grenzüberschreitungen sind in einigen
Zweigen des Hip-Hops, etwa dem Gangs-
ta-Rap, der Ende der Achtzigerjahre unter
anderem von der US-Gruppe N.W.A
(»Fuck tha Police«) ins Leben gerufen wur-
de, auch in der deutschen Spielart wichtige
Elemente dieser Form. Gangsta-Rap speist
sich vorwiegend aus einem Protest der
Marginalisierten oder jener, die sich als
Hip-Hopper Kollegah: Rappt auch vom »Hurensohn-Holocaust« solche empfinden, gegen bürgerliche Nor-
men. Er feiert gern mal das, was verpönt
ist oder verboten. Hier zählt Provokation;

E s war eine kurze Songzeile, die in


den vergangenen Wochen gleich
mehrere Debatten befeuerte und
über die sich unter anderem das Inter-
Die Zeile stammt aus dem Song »0815«
des Hip-Hoppers Kollegah und seines Kol-
legen Farid Bang, der die Zeile rappte.
2017 veröffentlichten sie ihn auf einer
ein Ausdruck des Aufbegehrens, der nicht
neu ist, sondern eine Tradition in der Pop-
kultur hat: Rock, Punk, Techno.
Wie passt nun der Rapper Kollegah in
nationale Auschwitz Komitee entsetzt XXL-Version ihres gemeinsamen Albums all das hinein?
zeigte, eine Zeile, die aus einem Vergleich »Jung, brutal, gutaussehend 3« (»JBG 3«). Kollegah heißt mit bürgerlichem Namen
besteht, der die Folgen körperlicher Selbst- Das Album war nominiert für einen der Felix Blume, ist 33 Jahre alt, Sohn eines
optimierung und unmenschlicher Qualen wichtigsten deutschen Musikpreise, den Kanadiers und einer Deutschen. Die El-
auf eine schiefe Ebene stellt, die Grenzen Echo, in der Kategorie »Hip-Hop/Urban tern ließen sich scheiden, als er 6 war. Er
des guten Geschmacks empfindlich über- National«. Nominiert werden hier auto- wuchs im Hunsrück auf, bei seiner Mutter,
schreitend: »Mein Körper definierter als matisch die erfolgreichsten Alben. »JBG 3« die als Putzfrau arbeitete. Mit 15 konver-
von Auschwitz-Insassen.« hatte sich 2017 besser verkauft als andere tierte er zum Islam, inspiriert von seinem

124 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Stiefvater, der ihm den Spitznamen »Kol- studenten, ein Mangel an Realness in der er lässt in seinem Song »Sanduhr« den
legah« gab. Er machte das Abitur und be- Szene vorgeworfen wurde. Aber er rappt Rapper Favorite zu Wort kommen, der
gann ein Jurastudium in Mainz. natürlich nicht über seinen Angstschweiß sich der Theorie von einer angeblichen jü-
Blume rappt seit fast 15 Jahren. Seine beim Büffeln von Paragrafen des Straf- dischen Weltverschwörung bedient: »Ich
Musik ordnet er selbst dem Battle-Rap zu, gesetzbuchs, sondern provoziert in der leih dir Geld, doch nie ohne ’nen jüdischen
einer Form, bei der es darum geht, mit Tradition des Gangsta-Rap: Er feiert das Zinssatz, äh, Zündsatz.« Wie die ARD-Do-
Sprachgewalt Gegner zu dissen; allein auf Verbotene. Charakteristischer als Realness kumentation »Die dunkle Seite des deut-
»JBG 3« fallen über 30 Namen gedisster ist für Kollegah die theatralische Über- schen Rap« aufzeigt, die einen Einblick in
Personen. Der Diss, die Beleidigung, die inszenierung, das Auftreten als ein fast ins antisemitische Tendenzen in der deut-
Provokation, in Kollegahs Rollenprosa zählt Groteske gezeichnetes, hypermaskulines schen Hip-Hop-Landschaft gibt, kämpft
sie sehr viel, er teilt aus wie kaum ein ande- Super-Alter-Ego. In dieser Rolle ist er der Kollegah in seinem Video zu »Apokalyp-
rer Rapper und hat damit Erfolg: Seine letz- »Boss«, ein starker Anführer, etwa im Song se« etwa gegen den Diener des Teufels –
ten vier Alben waren Nummer-eins-Platzie- »Hardcore« auch »Imperator« und »Dik- und der trägt einen Ring mit Davidstern.
rungen. Blume sagte von sich mal, er sei ein tator«, besser als die anderen, in jedem Das Böse wird als jüdisch markiert. Ähnli-
»Selfmademillionär« und ein »Vorbild«. che Tendenzen klingen in unterschied-
Sein Geld hat er, der seinen Bizeps gern vor lichen, in jedem Fall mit Genauigkeit zu
der Kamera zeigt, auch mit einem Fitnes- Weil er es versteht, begutachtenden Formen auch bei Rappern
sprogramm verdient, der »Bosstransforma- maximal zu provozieren, wie Bushido oder Haftbefehl an.
tion«, die man online buchen kann. Es ist also nicht so, dass die Zeile aus
Zum Muskelimage passt sein Sound, der ist er auch so erfolg- »0815« ein Einzelfall wäre. Und doch strei-
oft derb und schnell ist, Kollegah ist auch reich bei Jugendlichen. tet Kollegah selbst den Vorwurf des Anti-
für seine Raptechnik berühmt. Seine Texte semitismus ab, sagt von sich, er sei »kein
handeln vor allem von Kollegahs Erfolgen, Rassist«. Im Zuge der vor dem Echo ge-
seiner überbordenden Fitness, von einem Fall. Und besser kann vieles heißen: er- führten Debatte postete er auf Facebook:
grenzüberschreitenden Umgang mit Ge- folgreicher, männlicher, muskulöser, aber »Ab jetzt auf Lebenszeit freier Eintritt auf
walt und Sex (»Dein Chick ist ’ne Broke- auch krasser dissend, menschenverachten- jedes Konzert für alle unsere jüdischen
Ass-Bitch, denn ich fick’ sie, bis ihr Steiß- der. In »0815« zum Beispiel gegen Rapper Freunde!« Eine größenwahnsinnig, fast
bein bricht«), von Drogen und Reichtum, wie Bushido oder Sido, aber auch in Bezug irre anmutende Geste, um zu zeigen, dass
oft versehen mit sogenannten Punchlines, auf Frauen. »Du bist Boss«, heißt es in Kol- er kein Antisemit sei.
pointierten Zeilen, auch als Wortwitz legahs gleichnamigem Song, »… wenn du »Ich sehe bei Kollegah schon eine Ma-
(»Dein Tape gibt’s nicht bei Amazon, son- all die Blicke siehst der Menschen, doch sche am Werk«, sagt Professor Uffa Jensen
dern bei ArmerNuttensohn«). In seinem kein’ Fick gibst, was sie denken.« vom Berliner Zentrum für Antisemitismus-
Werk bedient er sich dabei Codes, die im Die Auschwitz-Zeile aus »0815« nun ist forschung. »Eine Masche, mit der er Geld
Hip-Hop nicht neu sind. Zwar pocht er nicht die erste eines Kollegah-Songs, die verdient. Er spielt immer wieder auf anti-
auch mal auf das, was in der Szene »Real- den Holocaust verharmlost. In anderen semitische Versatzstücke an und entschul-
ness« heißt, aufs »Wirklichsein«, darauf Songs rappt er von der »Endlösung der digt sich dann hinterher scheinheilig. Er
also, dass seine Geschichten glaubwürdig Rapperfrage« oder von einem »Huren- versucht sehr geschickt, Aufmerksamkeit
seien (etwa in »Alpha« oder »Genozid«), sohn-Holocaust«, er nutzt auch dieses Vo- zu generieren mit solchen Textzeilen, die
obgleich oder gerade weil ihm, dem Jura- kabular des Horrors, um zu dissen. Oder sicher auch auf ein bisschen fruchtbaren

Musik Der Pianist Igor Levit über die Gründe, die ihn SPIEGEL: Was hätte der Beirat aus Ihrer
Sicht leisten müssen?
zur Rückgabe seines Echo Klassik bewegten Levit: So ein Beirat muss auch die Größe
besitzen zu sagen: Ja, wir sind ein kommer-

»Diese Worte sind Gift« zieller Verein, aber wir sind auch verant-
wortlich für gesellschaftliches Klima. Wenn
die Echo-Verantwortlichen das nicht sind,
dann sollen sie es sagen. Dann sollen sie
Nach dem Echo für die Rapper Kollegah und SPIEGEL: Sie haben auf Twitter geschrie- sich aber auch nicht das Label »Kultur« auf
Farid Bang gab eine Reihe von Musikern aus ben, die Vergabe des Echo an Kollegah die Stirn kleben. Interview: Jurek Skrobala
Protest gegen die Entscheidung ihre Echos und Farid Bang sei auch ein »Ausdruck
zurück. Darunter der deutsch-russische Pia- für den derzeitigen Zustand unserer Ge-
nist Igor Levit, 31, der 2014 mit dem Echo sellschaft«. In welchem Zustand befindet
Klassik ausgezeichnet worden war. sich die Gesellschaft denn?
GREGOR HOHENBERG / SONY CLASSICAL

Levit: In einem Zustand, in dem seit Jah-


SPIEGEL: Herr Levit, wieso haben Sie den ren Konsens verschoben wird. Grenzen,
Echo zurückgegeben? über die man sich einig war, die nicht über-
Levit: Weil sich die Echo-Verantwort- schritten wurden, werden zerstört: Du
lichen mit ihrer Entscheidung, eine mora- trittst den Holocaust nicht mit Füßen; aus
lische Entgleisung zu ehren und sie da- welchen Gründen auch immer. Der Echo
durch zu legitimieren, in eine Ecke gestellt ist ein Symptom. Dass sich die Verantwort-
haben, mit der ich nichts mehr zu tun lichen so haben gehen lassen, ist uner-
haben möchte. Diese Worte in dem Song träglich. Und die haben einen Ethikbeirat:
sind Gift. Ganz einfach. Was macht der eigentlich beruflich? Künstler Levit

125
Kultur

Boden unter Jugendlichen, gerade mit ei-


nem muslimischen Hintergrund, fallen.«
Kollegah rappt sexistische Zeilen und
streitet auch mal ab, sexistisch zu sein. Kol-
Das sind wir
legah rappt homophobe Zeilen und streitet
auch mal ab, homophob zu sein. Kollegah Serien Gibt es guten Kitsch? Die amerikanische Serie »This Is Us«
verschafft sich so, durch den Bruch im erzählt die Sorgen einer Mittelschichtfamilie.
Bruch, mehr Aufmerksamkeit als nur In der Rolle des Bösewichts: das Leben selbst. Von Lothar Gorris
durch das schlichte Brechen eines Tabus:
Er provoziert, erhitzt die Gemüter, um im
Anschluss zu sagen, er sei kein Antisemit,
womit er die Gemüter, die noch nicht ab-
gekühlt sind, erneut erhitzt, und Kollegah
bleibt im Gespräch. Gerade weil er es ver-
D as Licht hat diesen milchigen Gelb-
stich eines heißen Sommertags. Die
Luft riecht nach Sonnencreme, nach
Ketchup und ein wenig Chlor. Das Wasser
an einem Julitag im Jahr 1988, wir sind
in Pittsburgh, Pennsylvania, bei den
Pearsons, einer amerikanischen Mittel-
schichtfamilie.
steht, maximal zu provozieren, ist er auch im Schwimmbecken wirft kleine Sterne in Ein Tag nur in der Chronik der Familie,
so erfolgreich bei Jugendlichen, die, faszi- den Nachmittag. Kühltasche, Sandwichs, die sich über Jahrzehnte hinwegspannt
niert von so viel Grausamkeit, von so viel fünf Liegen direkt am Pool, das ist Jacks und vom ganzen großen Leben erzählt, da-
Frei-Schnauze-Frechheit oder von einem Plan für den perfekten Tag im Freibad. Die von, wie Menschen zu dem wurden, was
»Endlich sagt’s mal einer«, auf den Schul- Kinder können Spaß haben, die Frau kann sie sind. Von ihrem Leid, von den Zweifeln
höfen seine Videos herumzeigen. ein Buch lesen und er den Kümmerer ge- und auch von den Momenten des Glücks.
Kollegahs Rap ist Rollenprosa. Nur darf ben. Aber wer sagt, dass immer alles ein- Davon, wie Vergangenheit und Gegenwart
das nicht verdrängen, dass ein selbst ernann- fach ist? Nichts ist einfach. Eine Familie sich nicht voneinander trennen lassen.
tes »Vorbild«, das zur Show zündelt, eben nicht. Und das Leben sowieso nicht. Weißt du noch, damals, im Freibad? Kates
auch riskiert, Feuer zu entfachen, die gefähr- Da ist Kate, sieben Jahre alt wie ihre Bikini, Randalls Notizblock, Kevins Wut-
lich werden können; je nachdem, wie syste- beiden Brüder. Kate, die süß und smart ist, anfall? Und wie sich die großen Lebens-
matisch es zündelt, wie stark sich gewisse aber allzu gern isst. Babyspeck, sagt Jack, themen dieser Kinder andeuteten? Wie
Fans mit diesem Vorbild identifizieren und der Vater. Und die gemobbt wird von ihren man das alles gleichzeitig ahnte und run-
wie sie letztlich deuten, was er verbreitet. Schulfreundinnen im Schwimmbad, weil terredete? Und auf Sorgen keine andere
»Das ist das, was Jugendliche hören, und sie ihnen peinlich ist in ihrem neuen Bikini. Antwort weiß als: Everything is going to
was dann eben auch zu diesen Ausbrüchen Da ist Randall, das adoptierte schwarze be okay. Alles wird gut.
von Mobbing an Schulen gegenüber jüdi- Findelkind, das der Zufall in ein weißes Man muss nicht lange drum herum-
schen Mitschülern führt«, sagt der For- Vorortleben geworfen hat, und das früh schreiben: »This Is Us« ist Kitsch. Ein Tear-
scher Jensen. »Da würde ich schon auch ahnt, dass es in dieser Welt nicht so normal jerker, wie man das in Amerika nennt. Ein
Leute wie Kollegah anprangern.« ist wie die anderen, auch wenn die Eltern Tränenzieher. Aber so ziemlich das Beste,
Die Echo-Debatte um Kollegah ist auch so tun, als ob; was schon damit anfängt, was das goldene Zeitalter des Fernsehens
ein Anlass zu prüfen, was gegenwärtig als dass die Frage, ob der Junge nun Sonnen- in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
normal gilt, wo die Gesellschaft Grenzüber- creme braucht oder nicht, noch nicht ab- Vielleicht auch weil Zeiten wie diese eher
schreitungen ahndet und wo nicht: Kolle- schließend beantwortet ist. Er hat einen Kitsch als Zynismus brauchen.
gahs millionenfach gestreamte, stellen- Notizblock dabei, in dem er eine Strich- Die großen Serien des goldenen Fern-
weise brutal sexistische Poesie hat nicht zu liste führt für jeden Menschen mit schwar- sehzeitalters erzählten bislang andere Ge-
einem Eklat geführt, der mit jenem von zer Haut, den er kennenlernt. Und da ist schichten. »Breaking Bad« beispielsweise
vor ein paar Wochen vergleichbar wäre, Kevin, das dritte Kind, das plötzlich vor ist auch eine Art Familienchronik, aber sie
den ein in den Fünfzigerjahren geschriebe- den Eltern steht, klein, zitternd, schreiend, handelt von einem Chemielehrer und Fa-
nes Gedicht an einer Berliner Hauswand das Wasser und die Tränen aus den Augen milienvater, der an Krebs erkrankt, einen
ausgelöst hat. Und zumindest merkwürdig wischend, weil es sich unbeachtet ins Tiefe Drogenhandel aufzieht und zum Monster
ist, dass die Auschwitz-Zeile aus »0815« wagte und sich selbst vor dem Ertrinken wird. Nichts wird gut in »Breaking Bad«,
recht lange nahezu unbemerkt blieb. »JBG rettete: »Ihr seid nur damit beschäftigt, sondern alles nur noch schlimmer.
3« erschien bereits am 1. Dezember ver- dass Kate nicht zu viel isst. Und Randall In »This Is Us« ist niemand böse. Jack
gangenen Jahres und feierte sofort große sich nicht zu adoptiert fühlt. Aber wo und Rebecca und ihre Kinder, sie alle ner-
Erfolge. Die späte Debatte wirft die Frage bleibt Kevin?«, fragt Kevin. »Ratet mal: ven, stehen sich selbst im Weg, man möch-
auf, ob aufseiten bestimmter Hörer in Er ist tot.« te ihnen manchmal zurufen, dass sie sich
Deutschland, der Kritiker, der Fachjury Wahrscheinlich gibt es auf die kleinen endlich zusammenreißen sollen, aber sie
beim Echo, eine Abstumpfung stattgefun- Alltagsdramen nur dieselbe Antwort wie sind keine Schurken, sondern das Leben
den hat im Hinblick auf lange Undenk- auf die großen Katastrophen des Lebens. selbst ist der Schurke, mit seinen Gemein-
bares: die Verharmlosung des Holocaust. Jack, der einen Tyrannen zum Vater hat heiten, Tücken, Überraschungen und den
Am Donnerstag wurde bekannt, dass und nun alles besser machen will, Jack, Verwüstungen, die es in uns anrichtet.
die Plattenfirma BMG die Zusammen- der in Vietnam war und ein Alkoholpro- »Breaking Bad« ist eine Dystopie der Ver-
arbeit mit Kollegah und Farid Bang vor- blem hat, ist wild entschlossen, den Kampf zweiflung und der Wut, eine gewalttätige
erst ruhen lässt. Jurek Skrobala um seine Familie und ein gutes Leben zu Rebellion gegen die Krankheit und die
Twitter: @Skrobala führen. Was nichts anderes heißt, als im Welt, »This Is Us« ist eher eine Therapie.
Labyrinth der volatilen Launen, der klei- 15 Millionen Menschen haben sich in
nen und der großen Dramen einfach im- den vergangenen zwei Jahren die Serie im
Video
So klingt Kollegah
mer weiterzumachen. Everything is going amerikanischen Fernsehen angeschaut. Sie
to be okay. Alles wird gut. Was denn sonst? wurde für zahlreiche Emmys und Golden
spiegel.de/sp172018kollegah Die Episode im Freibad wird in der vier- Globes nominiert, im März endete die
oder in der App DER SPIEGEL ten von bisher 36 Folgen der amerikani- zweite Staffel, im Herbst beginnt die dritte,
schen Serie »This Is Us« erzählt. Sie spielt die bisherigen Folgen werden bei Amazon

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und iTunes gestreamt. Drehbuchautor Finanzderivaten, ist verheiratet und hat gung darin selbst erkennt und den Tränen
Dan Fogelman, der die Drehbücher für zwei Kinder. Ein Detektiv hat seinen bio- hingibt, die das Schicksal produziert.
den Animationsfilm »Cars« und für »Cra- logischen Vater gefunden, der im Alter Kitsch, das schrieb Milan Kundera in sei-
zy, Stupid, Love« geschrieben hat, also schwul geworden und an Krebs erkrankt nem Roman »Die unerträgliche Leichtig-
nichts, was auf ganz Großes hindeutet, hat ist, er stirbt auf einem Roadtrip mit seinem keit des Seins«, basiere auf einem katego-
die Serie erfunden. Er kommt aus New Jer- Sohn zurück in die alte Heimat Memphis. rischen Einverständnis mit dem Sein. An-
sey, aus einer jüdischen Familie, einer lie- Randall und seine Frau nehmen ein Pfle- dererseits: Setzt nicht jede Therapie auch
benswerten, sagt er, aber total gestörten gekind bei sich auf, ein gestrandetes Mäd- darauf, genau das zu erreichen? Ein Ein-
Familie. chen aus der schwarzen Unterschicht. verständnis mit dem Sein?
36 Folgen »This Is Us« sind fast 30 Stun- Auch das ist eine Idee von Elternschaft: Und auch wenn die Serie die ökonomi-
den Film. Auf ein paar Sätze verdichtet, dass sich das eigene Leben in den Kindern schen Dinge des Lebens nahezu ignoriert,
klingt die Handlung wie ein Groschen- wiederholen möge. entwickelt sie doch eine Art von Vision
roman: Rebecca, eine Tochter aus gutem Fogelmans Trick aber besteht darin, kei- für eine gespaltene Gesellschaft: Ein Wir
Hause, träumt von einer Karriere als Sän- ne gerade Geschichte zu erzählen, sondern als Antwort auf Populismus und Identitäts-
gerin und lernt Jack kennen, der sich nach die Chronologie zu sprengen, keinen Weg debatten, auf Abgrenzungen und Ras-
seiner Rückkehr aus Vietnam, wo er den von A nach B zurückzulegen, nicht die sismus, auf das totale Ich der Selbstver-
Bruder verloren hat, als Gauner versucht. Logik zu akzeptieren, die der Ablauf von wirklichung. Die Familie als Urzelle der
Die große Liebe. Rebecca wird schwanger. Tagen, Monaten und Jahren nahelegt, son- Gesellschaft, auch das ist eigentlich eine
Sie erwartet Drillinge, aber eines der Ba- dern die Geschichte der Familie als ewigen konservative Idee, aber die Pearsons sind
bys überlebt die Geburt nicht. Stattdessen Kreislauf zu schildern. Die Kinder bei- keine Familie, die auf Blutsbande baut,
adoptieren sie ein schwarzes Findelkind, spielsweise sind erst 17, als der Vater stirbt, sondern darauf, dass der Zufall Menschen
vom biologischen Vater, einem Musiker und doch ist Jack die Hauptfigur der Serie, zusammenbringt und sie, wie auch immer,

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Darsteller Chrissy Metz, Justin Hartley, Sterling K. Brown als Seriengeschwister Kate, Kevin, Randall: Chaos der Gedanken und Gefühle

und Junkie, vor eine Feuerwehrwache ge- von der in jeder Folge erzählt wird; er ist miteinander klarkommen, im besten Fall
legt. Jack verdient das Geld, Rebecca küm- unsterblich, weil er immer weiterlebt in sogar sich lieben. Sie ist der Gegenentwurf
mert sich um die Kinder, ein Haus wird den Köpfen derer, die um ihn trauern. Fo- zu einer zynischen Welt, die das Böse be-
gekauft und ein großes Auto, manchmal gelmans Erzählprinzip sind Collagen aus schwört und das Trennende.
streiten sie sich, und die Kinder, na ja, sie Vergangenheit und Gegenwart, wie ein ge- Am Ende des Tages im Freibad, damals
werden älter und auch nicht einfacher, bis filmter Gedankenfluss, dessen einzelne im Jahr 1988, sind immerhin einige Dinge
schließlich Jack, der Übervater, an den Fol- Gedanken sich unendlich wiederholen wie geklärt. Kate hat sich ein T-Shirt ihrer Va-
gen einer Rauchvergiftung stirbt, nachdem die kleinen Filme, die unser Gedächtnis ters übergezogen, das, so sagt es Jack, ma-
ein defekter Elektrokocher das Haus der plötzlich abspult, morgens beim Kaffee gische Kräfte besitze und sie zur schönsten
Pearsons in Flammen aufgehen ließ. oder beim Joggen oder abends in den aller Prinzessinnen mache. Eine schwarze
Erzählt wird die Geschichte aus der Minuten, bevor der Schlaf uns ausschaltet. Mutter, mit deren Söhnen Randall sich be-
Gegenwart der erwachsenen Kinder. Kates Erinnerungen aus dem Gestern, Erlebnisse freundet, erklärt Rebecca, dass schwarze
Kampf gegen sich selbst und ihren Körper im Heute, Hoffnungen für das Morgen er- Haut vor allem Feuchtigkeitscreme brau-
ist der Inhalt ihres Daseins, ihr Kühl- schaffen eine innere Welt und Wahrheit, che. Randalls Strichliste über die Schwar-
schrank voll mit Dosen und Bechern, auf unlogisch und zufällig, ein Chaos der Ge- zen, die er trifft, erweist sich als Versuch
die sie kleine Post-its geklebt hat und die danken und Gefühle, die manchmal aus eines mathematisch begabten Kindes, seine
sie warnen sollen, die schönen Dinge zu alltäglichen Sorgen große Katastrophen Sehnsucht nach dem echten, biologischen
essen und zu trinken. Kevin, Kates Zwil- werden lassen. This is us. Das sind wir. Vater wenigstens statistisch zu stillen. Und
lingsbruder, ist inzwischen Schauspieler in Natürlich hat die Idee, das Seelenleben sogar Kevin liegt schließlich schlafend in
Hollywood, Star einer depperten Sitcom, einer Mittelschichtfamilie zu erzählen und den Armen des Vaters und seiner Geschwis-
aus dem Jungen mit dem Aufmerksam- daraus eine Art Marathon-Therapiesitzung ter, während die Mutter ihr Buch zu Ende
keitsdefizit ist ein ausgewachsener Nar- zu machen, etwas Kitschiges und vielleicht liest. Everything is gonna be okay. Heute
zisst geworden, der keine Sätze ohne ich sogar auch etwas Reaktionäres, weil man jedenfalls. Morgen vielleicht auch.
kennt. Randall handelt in New York mit sich als Zuschauer mit gerührter Befriedi-

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Als sie und ihr Schwiegersohn Franz Böhm 1937 bei
Hans Magnus Enzensberger
einer privaten Einladung die Politik der NSDAP kritisier-
ten, wurden sie denunziert und angeklagt. Eine Amnestie,

Überlebens- die das Regime erließ, lehnten beide ab. Böhm, ein Pro-
fessor an der Universität Freiburg, wurde entlassen; Ricar-
da Huch blieb verschont. Goebbels und Hitler sandten ihr

künstler
sogar Glückwunschtelegramme zum 80. Geburtstag.
Der erste Band ihrer »Deutschen Geschichte«, der 1934
erschienen war, wurde in der Presse heftig angegriffen;
der zweite bekam es mit der Zensur zu tun; und der letzte
wurde nicht mehr gedruckt und erst nach ihrem Tod in
Vorabdruck Wie viele geistige Kompromisse waren Zürich veröffentlicht. In Ricarda Huchs Jenaer Wohnung
nötig, um als Schriftsteller im 20. Jahrhundert trafen sich Leute aus Kreisen des Widerstandes, die später
am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt oder mit den
zu überleben? Einige subjektive Porträts Verschwörern verwandt waren. Franz Böhm entkam nur
von Glückssuchern, Taumelnden und Helden. wegen einer Namensverwechslung der Verhaftung.
Ohne solche Glückssträhnen hätten sie beide schwerlich
überlebt.
Nach dem Krieg bemühte man sich auf beiden Seiten
Ricarda Huch (1864 bis 1947) des geteilten Landes um die Gunst der inzwischen 83-
Niemand kann alles lesen, was sie geschrieben hat: Ge- jährigen Autorin. In Jena verlieh man ihr einen Ehren-
dichte, Novellen, Märchen, Werke über die Blütezeit der doktor, und auf dem ersten und letzten gesamtdeutschen
Romantik, den Dreißigjährigen Krieg, die gescheiterte Re- Schriftstellerkongreß in Berlin wurde sie zur Ehrenpräsi-
volution von 1848, das italienische Risorgimento und so- dentin gewählt.
gar einen Kriminalroman. Ricarda Huch ist »schwer ein- In der sowjetischen Zone hat sie es nicht lange ausge-
zuordnen«, lamentieren ihre Kritiker. Auch mir ist zu- halten. Sie fuhr in einem ungeheizten britischen Militär-
nächst nur ein kleiner Suhrkamp-Band in die Hände zug nach Frankfurt am Main, wo Franz Böhm hessischer
gefallen. Ich glaube, er war gelb und hieß »Mi- Kultusminister geworden war. Der Anstrengung dieser
chael Bakunin und die Anarchie«. Dieses Buch Reise waren ihre Lungen nicht gewachsen. Kurz darauf ist
hat mich sofort für sie eingenommen, ebenso sie an einer Pneumonie gestorben.
wie ihre Brieferzählung über einen russi- Für die Liebe war diese starke Frau anfälliger als für
schen Terroristen im Jahr 1905. die Politik. Mit 16 Jahren verliebte sie sich in ihren viel
Auf alten Photos wirkt sie imposant, älteren Schwager Richard. Das führte in ihrer Geburtsstadt
mit kalten, eulenhaften Augen und einem Braunschweig zu ihrem ersten, aber durchaus nicht letzten
blühenden, sinnlichen Mund. Aber war Skandal. Dann heiratete sie einen italienischen Zahnarzt
sie nun links, oder war sie rechts? Kann und zog zu ihm nach Triest, nur um 1907 zu ihrem Jugend-
man ihr antikapitalistische oder gar anti- schwarm zurückzukehren und ihn endlich zu heiraten. Sie
moderne Affekte nachweisen? Darüber ha- ließ sich von beiden Männern scheiden. Sie zog es vor, sich
ben sich die Nachgeborenen, diese ewigen über ihre leidenschaftlichen Turbulenzen auszuschweigen.
Besserwisser, den Kopf zerbrochen. Doch
sich durch den ideologischen Dschungel der
Weimarer Republik zu wühlen, das interessierte Curzio Malaparte (1898 bis 1957)
sie nicht. Nicht einmal in der feministischen Bewe- Er hat sich wohl als negatives Abziehbild des Korsen
gung wollte sie mitspielen, obschon sie sich als Frau sehr Bonaparte verstanden, aber tatsächlich hieß er Kurt Erich
wohl durchzusetzen verstand. Als das in Deutschland Suckert, und sein Vater kam aus dem sächsischen Zittau,
noch undenkbar war, wurde sie mit 28 Jahren in Zürich die Mutter war allerdings aus Mailand. Man kann nicht
als eine der ersten Frauen promoviert und beschloß, in sagen, daß er ein Wendehals war, denn auch das kräftigste
Zukunft von der Schriftstellerei zu leben. Rückgrat hätte seine Verwandlungen nicht bruchlos über-
Im Panoptikum der Überlebenden steht sie als bravou- standen.
röse Ausnahmeerscheinung da. Sie hat vielen zu schaffen Mit Grundsätzen oder Überzeugungen durfte man die-
gemacht, sogar den Nationalsozialisten. Die wußten nicht, sem Mann nicht kommen. Curzio Malaparte war abwech-
was sie mit ihr anfangen sollten. Sie war ihnen zwar lästig, selnd Anarchist, Dichter, Kriegsfreiwilliger, Diplomat,
aber sie zu beseitigen war nicht ratsam, obwohl sie 1933 Avantgardist, Reporter, Chefredakteur der Zeitung »La
sofort gegen »die Zentralisierung, den Zwang, die bruta- Stampa«, Faschist, Aufhetzer von Schlägertruppen,
len Methoden, die Diffamierung Andersdenkender und Tierfreund, Monarchist, Dandy, Volkstümler, Pazifist,
das prahlerische Selbstlob« der Regierung protestierte amerikanischer Spion, Bestsellerautor, Mythomane, Kom-
und aus der Preußischen Akademie der Künste austrat. munist, Antikommunist und Verehrer Mao Zedongs.
Dennoch wollte sie auf keinen Fall emigrieren, sondern Kurz vor Toresschluß ist er in den Schoß der Kirche heim-
in Deutschland ausharren. Weil sie damals schon eine gekehrt.
europäische Berühmtheit war und als Grande Dame der Schon als junger Mann war Malaparte ein geübter Lüg-
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deutschen Literatur galt, ließ der NS-Staat sie nicht nur in ner. Fiktion und Fakten wollte und konnte er nicht von-
Ruhe; er bemühte sich sogar um sie. Ohne absurde Wider- einander unterscheiden. Als Virtuose der Mimikry hat er
sprüche konnte es dabei nicht abgehen. seine Autobiographie des öfteren umgeschrieben.
Er war ein begabter, aber kränklicher Junge, der es an-
Hans Magnus Enzensberger: »Überlebenskünstler – 99 literarische fangs schwer hatte. Wonach hätte er haschen sollen, wenn
Vignetten aus dem 20. Jahrhundert«. Suhrkamp; 366 Seiten; 24 Euro. nicht nach Effekten? Sein erstes Buch mußte er 1921 auf

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Kultur

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eigene Kosten drucken lassen. Sofort bekam er damit Är- Als der Bauherr mit 59 Jahren an Lungenkrebs ge-
ger. Die erste Auflage wurde wegen »Verleumdung der storben war, blieb von seinem Ruhm wenig übrig. Daran
Streitkräfte« aus dem Verkehr gezogen. Daraufhin schloß konnte auch die 600 Seiten lange Biographie nichts än-
er sich Mussolini an, den er bewunderte, wurde Partei- dern, für die 2011 ein Italiener in Paris gelobt worden ist.
genosse der Faschisten und nahm am »Marsch auf Immerhin kann, wer eine halbe Wegstunde nicht scheut,
Rom« teil. in Prato, dem Geburtsort Malapartes, auf einer Anhöhe
1931 veröffentlichte er, vorsichtshalber in Paris, ein stattliches Mausoleum aufsuchen, das die Stadt
»Die Technik des Staatsstreichs«, die so treffend ihrem Sohn errichtet hat.
war, daß sie Mussolini an seinen eigenen
Putsch erinnerte, weshalb er sie kurzerhand
verbot. Zwei Jahre später wurde Malaparte, Gustav Regler (1898 bis 1963)
obwohl er sich als »Faschist der ersten Ein großer Schriftsteller war er wohl
Stunde« fühlte, von der Partei ausge- nicht, obwohl er eine Reihe von bemer-
schlossen und unter Hausarrest gestellt. kenswerten Büchern verfaßt hat, ins-
Verhaftet wurde er mehr als einmal, konn- gesamt mehr als ein Dutzend, auch unter
te aber seinen Kopf nach ein paar Tagen den Pseudonymen Thomas Michael,
stets aus der Schlinge ziehen. In Rom rief Thomas Michel und Gustav Saarländer:
er seinen Freund Ciano, den Außenminis- kommunistische Agitationsromane wie
ter Mussolinis, zu Hilfe. »Wasser, Brot und blaue Bohnen« oder
Nach dem Sturz des Diktators bot er seine »Im Kreuzfeuer«; historische Romane wie
Dienste dem amerikanischen Geheimdienst »Aretino«; eine Chronik des Spanischen Bür-
CIC an und wurde freigelassen. Der Stehauf- gerkriegs, »The Great Crusade«; eine Kampf-
mann konnte seine Karriere unbeeindruckt und naht- schrift wie »Sohn aus Niemandsland«, die erst 1994
los fortsetzen. zum Vorschein kam. Alles vergessen und nur in einer 15-
Unter seinen ungefähr 40 Büchern gab es auch zwei bändigen Ausgabe von Gustav Regler beim Stroemfeld
Reißer, die nicht nur in Italien Furore machten. Der eine Verlag zu finden. Aber als Zeitzeuge ist er unentbehr-
hieß »Kaputt« (1944) und war eine wilde Mixtur aus lich. Wiederentdeckt wurde Regler 1958, als »Das Ohr
durcheinandergeworfenen italienischen und deutschen des Malchus« erschien, sein Lebensroman, der nicht nur
Brocken, die zuverlässig skandalös wirkte. Auch »Die von ihm handelt, sondern von den kollektiven Er-
Haut« (1949) war ein Welterfolg. Neapel wurde als Para- fahrungen vieler Deutscher im 20. Jahrhundert: mit dem
dies des Schwarzmarkts und als Hölle auf Erden geschil- Katholizismus und der Jugendbewegung, dem wilhel-
dert, in der Jungen und Mädchen von ihren Eltern prosti- minischen Patriotismus, der Desillusion im Weltkrieg,
tuiert wurden, um die eigene Haut zu retten. »Mir war dem Selbsthaß des Bürgertums, dem kommunistischen
der Krieg lieber als die Pest«, beteuert der Erzähler, der Engagement, dem Exil und schließlich der Abkehr von
die Befreier als Vergewaltiger darstellt. Natürlich hat der den großen »Meistererzählungen«.
Vatikan das Buch sofort auf den Index gesetzt und damit Gustav Regler war der Sohn eines Buchhändlers aus
zu seiner Verbreitung beigetragen. Merzig an der Saar. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich
Feigheit kann man Malaparte nicht nachsagen. Vor Risi- freiwillig, wurde an der Westfront verwundet, verschüttet
ken ist er nie zurückgeschreckt. Als Kriegskorrespondent und vom Chlorgas geschädigt. In den Nachkriegsjahren
in Offiziersuniform besichtigte er Front und Etappe in studierte er in Heidelberg Germanistik bei Gundolf und
Frankreich, in Polen, wo er mit Himmler dinierte, auf dem anderswo Philosophie, Romanistik und Geschichte. In der
Balkan, in Nordafrika, Finnland, Rußland, der Ukraine Künstlerkolonie Worpswede lernte er 1928 den Maler
und in Bessarabien. Die Kritiker waren lange Zeit von ihm Heinrich Vogeler kennen. Er war von dessen utopischem
ROGER-VIOLLET / ULLSTEIN BILD

begeistert; sie übernahmen sogar ein eigenes Wort für sei- Kommunismus beeindruckt und heiratete Voglers Tochter
nen Stil; sie nannten ihn tremendismo; das ist spanisch Marie Luise, genannt Mieke. Die beiden zogen nach Ber-
und bedeutet sinngemäß etwas, wovor man zittert. In den lin. Dort wohnten sie am Laubenheimer Platz im »Roten
vierziger Jahren wurde es zur Markenbezeichnung für ein Block«, der so hieß, weil dort viele linke Künstler haus-
bestimmtes Genre des Sensationsromans, dessen bekann- ten. Regler wurde Mitglied in der KPD.
tester Vertreter Camilo José Cela war. Malaparte wurde Nach dem Reichstagsbrand 1933 mußte er vor der
reich genug, um sich eine großzügige Residenz auf Capri Gestapo über das Saarland nach Paris fliehen. In Münzen-
bauen zu lassen, die er wenig überraschend »Villa Ma- bergs Stab arbeitete er mit am Braunbuch über Reichs-
laparte« nannte. Im Lauf der Zeit gingen in die- tagsbrand und Hitler-Terror. Im Kampf um das Saarland
sem architektonisch hervorragenden Gebäude war er als Agitator dabei und flüchtete nach der Abstim-
nicht nur Gäste wie Cocteau und Moravia, mungsniederlage noch in der ersten Nacht über die fran-
sondern auch der Generalfeldmarschall zösische Grenze. Schon im November wurde er als Staats-
Rommel und Togliatti, der Chef der Kom- feind Nr. 19 ausgebürgert.
munistischen Partei, ein und aus. Godard Es folgten mehrere Besuche in der Sowjetunion. Klaus
hat dort mit Brigitte Bardot einen Film ge- Mann beschrieb ihn in seiner Autobiographie »Am Wen-
dreht, und Karl Lagerfeld konnte es nicht depunkt« als »derartig kommunistisch, daß einem vor so
lassen, einen teuren Bildband mit seinen viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute
Photos von diesem Haus zu publizieren. wird«: Er reiste zweimal nach Moskau, wo er Maxim Gor-
Malaparte wollte sein Anwesen, weil er ki und Ilja Erenburg traf, und führte im August 1936 beim
ein paar Wochen lang Mao bewunderte, der ersten Schauprozeß gegen Grigorij Sinowjew und Genos-
Volksrepublik China hinterlassen, aber seine sen das Protokoll.
Erben wußten diese Laune zu verhindern. Sie Dann löste er sich allmählich von der Partei und brach
strengten einen Prozeß an, den sie gewannen. nach dem Hitler-Stalin-Pakt ganz mit dem Kommunis-

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Kultur

mus. Er fragte sich und andere, warum sie den Terror in Bei der Auswahl seiner eigenen Todesart nützte Ossip
der Sowjetunion mit Schweigen übergangen hätten, und Mandelstam »eine bemerkenswerte Eigenschaft unserer
antwortete: »Es war bequemer, zu übersehen. Wir waren Führer: ihre grenzenlose Hochachtung der Dichtung
bestochen von Wünschen.« gegenüber. ›Worüber beklagst du dich‹, sagte er, ›nur bei
Ein paar Jahre zuvor hatte er sich noch im Spanischen uns achtet man die Dichtung – für sie werden Menschen
Bürgerkrieg als politischer Kommissar bei den Internatio- umgebracht. Das gibt es sonst nirgends.‹«
nalen Brigaden engagiert und war an der Front schwer Geboren in Saratow in einer jüdischen Familie aus
verwundet worden. Alle rühmten seinen Mut, auch Jo- dem Bürgertum, hat Nadeschda 1919 Ossip kennenge-
hannes R. Becher, dem später sein Lob lernt und dann geheiratet. Eine ménage à trois war in der
für den Renegaten peinlich war. Aus Reg- frühen Sowjetepoche nichts Außergewöhnliches. So
Regler hat unter den lers Tagebuchaufzeichnungen ist »The ein Arrangement galt in manchen Kreisen als schick und
politischen An- Great Crusade« hervorgegangen, eine progressiv. Eine Dreierbeziehung mit Anna Achmatowa
Chronik des Bürgerkrieges, die 1940 auf schien anfangs auch nach Nadeschdas Geschmack zu
griffen, die bis zur englisch mit einem Vorwort seines Freun- sein. Sie nannte ihren Mann scherzhaft einen »Mor-
Verleumdung des Ernest Hemingway erschien. Als der monen«. Über diese Verwicklungen hat sie sich später im
Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er in Rückblick geäußert, in ihren »Erinnerungen an Anna
gingen, sehr gelitten. dem französischen Lager Le Vernet inter- Achmatowa«.
niert, doch freigelassen, weil Eleanor Doch konnte es auch geschehen, daß die erotische
Roosevelt und Hemingway für ihn bürg- Situation außer Kontrolle geriet.
ten. Er konnte mit seiner Frau nach Mexiko emigrieren. Ein Idyll war diese Ehe nie. Mandelstam war von
Seine früheren Genossen und Freunde, darunter Egon Er- Anfang an ein eifersüchtiger Patriarch, der ihr keine eigene
win Kisch und Ernst Bloch, wollten nichts mehr von ihm Arbeit erlaubte und verlangte, daß sie völlig in seinem Le-
wissen. Unter den politischen Angriffen, die bis zur Ver- ben aufging. Sie hingegen wollte unabhängig sein und sich
leumdung gingen, hat er sehr gelitten. niemandem unterordnen. Besonders sanftmütig, geduldig
Seine Frau Mieke starb 1945 an Krebs. Seinem Heim- oder treu war sie nicht, und streiten konnte sie so gut wie
kehrerroman »Sterne der Dämmerung« merkt man an, ihr Mann. Sie fragte ihn: »Wozu brauchst du mich? Wa-
daß er nahe daran war, zu resignieren. Nachkriegs- rum hältst du mich zurück? Wieso soll ich so leben
deutschland hat er 1949 zum ersten Mal be- wie in einem Käfig? Laß mich gehen!« 1925 stell-
sucht. Er reiste viel und sprach regelmäßig im ten die Ärzte bei ihr ein Anfangsstadium der
Rundfunk. Tuberkulose fest, und Ossip erlitt einen
Er starb auf einer Indienreise in Neu- Herzanfall. Seine Briefe handeln vom zer-
Delhi im katholischen Krankenhaus »Hei- mürbenden Kampf um Geld, sind aber
lige Familie« an einem Hirnschlag. Seine auch Liebeserklärungen. Weil Russen be-
Asche liegt in seinem Geburtsort Merzig kanntlich mehr Namen haben als andere
an der Saar. Menschen, nannte er sie Nadja, Nadka,
Nadinka, Nadjuschka, Naditschka und so
weiter.
Nadeschda Mandelstam (1899 bis 1980) Bald waren sie beide gesundheitlich ange-
Muß jemand, der uns etwas zu sagen hat, schlagen. Weil er ein Gedicht über Stalin ge-
unbedingt ein Hauptwerk geschrieben schrieben hatte, in dem er ihn als Mörder und
haben? Reicht es nicht, das zwanzigste zum Bauernschlächter bezeichnet, wurde Ossip 1934
»Jahrhundert der Wölfe« zu erklären? Nadesch- verhaftet und nach Woronesch verbannt, vier Jah-
da Mandelstam hat das getan und begründet. Diese re später von neuem festgenommen und zu fünf Jahren
Autorin ist nicht nur die Witwe Ossip Mandelstams, des- Lager »wegen konterrevolutionärer Aktivitäten« verurteilt.
sen Werk sie gerettet hat, also gewissermaßen seine In einem Straf- und Arbeitslager im Fernen Osten der So-
Stellvertreterin, sondern sie hat auch eine Autobiogra- wjetunion auf Hungerrationen gesetzt, herzkrank und von
phie zu Protokoll gegeben. Das ist ein Buch, aus dem Halluzinationen geplagt, starb er in einer Krankenbaracke
man über die sowjetische Geschichte ganz andere Dinge und liegt an einem unbekannten Ort begraben.
erfährt als aus der wissenschaftlichen Geschichtsschrei- Nadeschda brachte die Kriegsjahre mit ihrer Freundin
bung. Mit der Chronologie hatte diese Frau nichts im Anna Achmatowa in Taschkent zu. Wir sind »bloß Späne,
Sinn. Sie verwirrt den Leser, weil sie private, um nicht uns reißt der ungestüme, ja rasende Strom der Geschichte
zu sagen intime Erfahrungen mit derselben Genauigkeit mit sich fort«, das ist ihr Resümee. »Willkür hat unser gan-
schildert wie die großen und blutigen Ereignisse im zes Leben geprägt ... Ich habe fast dreißig Jahre mit zu-
Kreml, die Verfolgungen, die Straflager und den Apparat sammengebissenen Zähnen gelebt.«
der Geheimpolizei. Ende der fünfziger Jahre begann sie, ihre Memoiren zu
Wie mit der Handkamera richtet sie ihren Blick auf die schreiben, die im Ausland viel Aufsehen erregten. Sie er-
Suche nach einer Maratze oder nach einem Stück Papier, schienen Anfang der siebziger Jahre, auf deutsch unter
auf einen Eimer, ein Bett, einen Petroleumkocher; dann dem Titel »Das Jahrhundert der Wölfe« und auf englisch,
fällt ihr ein Karamellbonbon ein, den ihr plötzlich wäh- mit einem Wortspiel, als »Hope Against Hope«, weil Na-
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rend einer Hausdurchsuchung ein Tschekist angeboten deschda im Russischen »Hoffnung« bedeutet. In Rußland
hat. »Zeugen dieser Epoche sind Manuskripte, die sie heil fanden sie als Samisdat hingegen nur wenige Leser.
überstanden haben. Wir müssen das als Wunder aner- Ein zweiter Band ist mit einer ebenso symbolischen,
kennen«, sagt sie. Mehr als jede andere hat sie zu diesem doch weniger zuversichtlichen Überschrift versehen. Er
Wunder beigetragen, schon weil sie die Gedichte ihres heißt »Hope Abandoned«, so als ließe Nadeschda Man-
Mannes auswendig lernte, um sie vor den »Organen« in delstam alle Hoffnung auf Rußland fahren. Sie starb 1980
Sicherheit zu bringen. mit 81 Jahren in Moskau.

130 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


COURTESY OF THE ARTIST; PROJECT 88, MUMBAI; AND BARBARA GROSS GALERIE, MUNICH
Collage »Lucid Dreaming VII« von Tejal Shah, 2013: Selbstmörderische Menschheit

um Kaschmir zum Thema machen, dann auch, weil die Frau-


Land der Frauen en und Kinder die besonderen Leidtragenden gewesen seien.
»Die Geschichte der Teilung ist untrennbar verknüpft mit
dem Anspruch auf den Besitz von Körpern«, sagt die Künst-
Kunstkritik In Wolfsburg sind die Werke lerin Reena Saini Kallat, also hat sie für eines ihrer Werke
indischer Künstlerinnen zu sehen. Grenzlinien mit roter Farbe auf einen weiblichen Körper ge-
stempelt.
Noch heute ist sexuelle Gewalt, sind Vergewaltigungen,

I ndien ist ein Plural: viele Sprachen, viele Götter, viele


Kasten, viele Sitten, viele Industrien. Das Land spaltet
sich auf in ein Vielfaches, und diese Vielfalt wird noch
einmal auf besondere Weise geteilt. Denn es wirkt so, als
aber auch Kinderehen (also meistens Verheiratungen min-
derjähriger Mädchen) ein Merkmal der indischen Gesell-
schaft, sind »Hijras«, Menschen ohne eindeutige Geschlechts-
zugehörigkeit, Opfer von Übergriffen.
gäbe es ein Indien der Männer und außerdem ein Indien der So handelt die Kunst in dieser Schau von vielem, was das
Frauen. Land prägt, von lauter parallelen, sich auch überkreuzenden
Die Zukunft scheint sich im 1,3-Milliarden-Einwohner-Staat Entwicklungen. Von der Vernichtung der Umwelt etwa, die
schneller zu entwickeln als andernorts, aber nicht in allen so apokalyptische Anmutungen hervorbringt, und davon,
Bereichen und ganz sicher nicht zum Segen aller. Das Kunst- was einen Ort wie die Küche ausmacht. Dieser häusliche
museum in Wolfsburg widmet sich dieser Gesellschaft, und Raum kann zum Gefängnis der Frauen werden – und selbst
es lud dazu sechs indische Künstlerinnen ein, weil es dieses das ist für viele, wenn man der Tradition folgt, noch ein
Land durch die Werke dieser Frauen sichtbar machen will. zu guter Platz. Wenn Frauen einer niederen Kaste angehören
»Facing India«, so der Titel der Schau, stellt also eine rein oder wenn sie menstruieren, müssen sie die Küche im
weibliche Perspektive vor, und offenbar fürchtet die zustän- Haushalt einer höheren Kaste meiden. So sieht der alte
dige (deutsche) Kuratorin, das sei erklärungsbedürftig, zu- Hintergrund des gegenwärtigen Indiens aus, und die Künst-
mindest weist sie auf das vermeintliche Dilemma im Katalog lerinnen erzählen davon in Interviews, die im Katalog abge-
hin. Denn Künstlerinnen sollen ja, so verlange es der westli- druckt sind.
che Kunstbetrieb, nicht mehr auf ihre geschlechtliche Zuge- Vor allem haben sie starke Werke geschaffen, sie beweisen
hörigkeit reduziert werden. Gruppenausstellungen mit aus- eine ungeheure visuelle Stärke, sie arbeiten mit Lehm und
schließlich weiblichen Künstlern würden daher als überholt Glasfaser, mit Reiskörnern und Stromkabeln, mit Armreifen,
gelten. Sie erwähnt die Diskussion des Herbstes 2017 um Stahl und Film, und sie zeigen, wie alles mit allem zusammen-
eine von einem Berliner Museum verliehene Auszeichnung, hängt, in Indien und überall, sie veranschaulichen einen Glau-
um den Preis der Nationalgalerie: Die vier Kandidatinnen ben an den Boom und eine Brutalität gegenüber Mensch und
selbst kritisierten in einer öffentlichen Mitteilung, es werde Natur, die letztlich selbstmörderisch für alle ist.
permanent über ihr Geschlecht und ihre Nationalität, nicht Bharti Kher hat die Körper von Prostituierten abgeformt,
aber über ihre Kunst gesprochen. Vibha Galhotra hat in Gläsern die Luft konserviert, die in man-
Trotzdem und zu Recht wird die Erzählung im Kunst- chen Städten nur noch Abgas ist. Das sei, sagt sie, »eine Äs-
museum Wolfsburg nun einer Gruppe von Frauen überlassen, thetisierung meiner katastrophalen Lebenssituation und mei-
denn ihr Indien ist eben dasselbe und doch ein ganz anderes ner Unfähigkeit, etwas zu ihrer Verbesserung beizutragen«.
als das der Männer. Und warum sollte das nicht Gegenstand Gibt es nicht doch ein Gegengift? Die Art von Mut, den
einer Reflexion sein? Wenn sie etwa die historischen Kon- diese Künstlerinnen haben, könnte wie eines wirken.
flikte um die Abtrennung Pakistans von Indien, die Kriege Ulrike Knöfel

131
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132 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Barbara Bush, 92 zugab. Nur einmal rutschte
Sie war ein waschechter es ihr raus: Wenn man so
Yankee: schlicht, handfest, lange verheiratet sei, sagte
direkt. Und doch auf ihre sie, »dann musst du Einfluss
Art charmant. 1999 ergab haben. Wenn du keinen
eine Umfrage, dass 63 Pro- hast, dann hast du wohl ein
zent der Amerikaner die ernsthaftes Problem«.
Patriarchin der texanischen Barbara Bush entschied
Bush-Dynastie mochten, gegen Ende, ihre Medika-
also offenbar auch viele mente abzusetzen. Sie starb
Demokraten. Dabei kämpf- am 17. April in ihrem Haus
te die Frau des 41. US-Präsi- in Houston, Texas. CH
denten (George Bush) und
Mutter des 43. Präsidenten Vittorio Taviani, 88
(George W. Bush) bedin- Zusammen mit seinem jün-
gungslos für die Politik geren Bruder Paolo schuf
ihrer Männer. Sie würde der Regisseur einige der
alles für sie tun, sagte sie stärksten Filme des italieni-
einmal, nur nicht ihre »Haa- schen Kinos: »Padre Padro-
re färben, andere Kleider ne« (1977), »Die Nacht von
anziehen oder abnehmen«. San Lorenzo« (1982) und

AFP
Den Irakkrieg ihres Sohnes
George W. verteidigte sie
Miloš Forman, 86 mit den Worten: »Warum
Die Helden seiner Filme sind Provokateure, oft renitent, sollte man etwas über Lei-
manchmal rebellisch. Das System, gegen das sie aufbegehr- chensäcke und Tote erfah-
ten, kann eine psychiatrische Anstalt sein wie in »Einer ren wollen? Warum sollte
flog über das Kuckucksnest« (1975), die Wiener Gesell- ich meine ansonsten schö-
schaft des 18. Jahrhunderts in »Amadeus« (1984) oder das nen Gedanken an so etwas
prüde Amerika in »Larry Flynt« (1996). Regeln waren für verschwenden?« Um die

GUILLAUME HORCAJUELO / DPA


die von Jack Nicholson, Tom Hulce oder Woody Harrel- Linie der Partei scherte sie
son verkörperten Helden nur dazu da, gebrochen zu wer- sich allerdings wenig – so
den. In der Verfilmung des Musicals »Hair« (1979) feierte konnte sie Donald Trump
Forman die Hippies als die Verheißung einer bunteren, zum Beispiel nicht ausste-
besseren Welt. Der in der Tschechoslowakei geborene hen und sagte auch öffent-
Regisseur, der sich in Filmen wie »Der Feuerwehrball« lich, dass sie seine Politik
(1967) über die kommunistische Führung seines Landes für »furchtbar« hielt. Ihren
lustig gemacht hatte und im Zuge des Prager Frühlings aus- späteren Mann George »Kaos« (1984) schienen
gebürgert worden war, wusste aus eigener Erfahrung, was Bush hatte sie im Alter von direkt aus der Erde auf die
mit Provokateuren passieren kann. Und schon als Kind 16 Jahren beim Tanzen ken- Leinwand gewachsen zu
hatte er erleben müssen, wie grausam Zwangsregime sein nengelernt; er wurde im sein. Ihre Geschichten
können. Seine Eltern wurden in Konzentrationslagern der Zweiten Weltkrieg Kampf- waren tief verwurzelt in
Nazis ermordet. Wie der aus Polen stammende Roman pilot und mit seinem Flug- den Gegenden, in denen sie
Polanski, der auch Verwandte durch den Holocaust verlo- zeug über dem Pazifik abge- spielten, in der Toskana, auf
ren hatte und diese Erfahrung in seinen Filme reflektierte, schossen, aber gerettet. Vor Sardinien oder Sizilien. Die
ging Forman nach Hollywood und hatte dort enormen 73 Jahren, im Januar 1945, Tavianis zeigten in ihren Fil-
Erfolg. Dabei suchte sich der Tscheche vorzugsweise Stof- heirateten die beiden dann. men oft harte, manchmal
fe aus, die davon erzählen, dass Amerika kein Land der Und Kenner der Familie unmenschliche Lebensbe-
unbegrenzten Freiheit ist, sondern des immerwährenden glauben, dass Barbara Bush dingungen und entwickel-
Freiheitskampfes. Im Laufe seiner Karriere gewann er die Politik der Bushs stärker ten dennoch mit bewun-
zweimal den Oscar. Miloš Forman starb am 13. April in prägte, als sie es selber dernswert leichter Hand
Dunbury, Connecticut. LOB Szenen von betörender
Schönheit. Die Brüder
waren Marxisten und
R. Lee Ermey, 74 erzählten in ihren Filmen
Es gibt Schauspieler, die sich mit einer einzigen Rolle so ins immer wieder davon, wie
Gedächtnis einbrennen, dass sie einen sogar im Albtraum sich Menschen aus der
verfolgen. R. Lee Ermey gelang das als sadistischer Drill- Umklammerung ihrer Fami-
Sergeant in Stanley Kubricks Antikriegsfilm »Full Metal lien oder der Gesellschaft
MELISSA GOLDEN / REDUX / LAIF

Jacket« (1987). Ermey war im Vietnamkrieg selbst Ausbil- zu befreien versuchen.


der gewesen und sollte am Filmset lediglich als Berater die- Dabei feierten die beiden
nen. Kubrick war von Ermey aber so beeindruckt, dass er die Kraft der Fantasie, auch
ihn für die Rolle verpflichtete. Ermey spielte danach in die trostloseste Wirklichkeit
zahlreichen Nebenrollen und lieh seine Stimme einem hinter sich lassen zu kön-
Spielzeugsoldaten in den »Toy Story«-Filmen. R. Lee nen. Vittorio Taviani starb
Ermey starb am 15. April in Santa Monica, Kalifornien. XVC am 15. April in Rom. LOB

DER SPIEGEL Nr. 17 / 21.04. 2018 133


Personalien ließe sich die Geschichte der Regentschaft der Queen erzählen.
Willow gehörte der 14. Generation an, und da die Königin sich
dafür entschieden hatte, dass es keinen Nachwuchs mehr
geben sollte, wird er auch der letzte Corgi gewesen sein. Es ist
besonders schade, dass Willow die königliche Hochzeit im Mai

Stille im Palast nicht mehr miterleben wird, da Meghan Markle, die zukünftige
Ehefrau Prinz Harrys, ein besonders gutes Verhältnis zu ihm
hatte. Als Prinz Harry die Verlobung verkündete, sagte er in
G Willow, 14, starb am vergangenen Sonntag, und mit ihm einem Fernsehinterview: »Ich wurde die letzten 33 Jahren nur
geht eine Ära zu Ende. Seit ihrem 18. Geburtstag, also seit 74 angebellt. Sie kommt in den Raum – und nichts passiert.« Dass
Jahren, wird Queen Elizabeth, 92, von Corgis begleitet. Die Willow nun gar nicht mehr bellen wird, löst im traditionell tier-
braunen wallisischen Hunde sind klein und treu, anhand ihrer lieben England große Trauer aus. XVC

CAMERA PRESS / PICTURE PRESS


Queen Elizabeth II. mit englischer Rugby-Mannschaft und einem ihrer Corgis 2003

Hier bleiben! zu begeistert wiederentdeckt


wurde. Das lag zum einen dar-
englische Titel, in den USA
anläuft, wird sich wieder
G Manchmal wird ein Kunst- an, dass das Buch zur Serie die Frage stellen, wie viel
werk zur Überraschung des verarbeitet wurde, die mehre- Gegenwart in der Dystopie
Publikums, aber auch der re Emmys und einen Golden Atwoods steckt beziehungs-
Person, die es geschaffen hat, Globe abräumte. Es lag aber weise umgekehrt. Der Zeit-
von der Realität derart ein- auch daran, dass die Dystopie schrift »Vanity Fair« sagte
geholt, dass es wirkt, als wäre eines frauenunterdrückenden die Kanadierin Atwood jetzt,
es vorausschauend auf die faschistoiden Amerikas im dass die zweite Staffel vor
Gegenwart hin gemacht wor- Schock nach der Wahl des allem deshalb wichtig sei,
den. Margaret Atwood, 78, übergriffigen Donald Trump weil sie einen Aufruf zur
schrieb vor über 30 Jahren vielen als eine schrecklich Handlung darstelle: »Ich will
GEORGE WHITESIDE

ihren Roman »Der Report der genaue Beschreibung der nicht, dass ihr jetzt alle nach
Magd«, der zwar schon Weltlage galt. Wenn nächste Kanada abhaut, denn ich will,
damals Anerkennung fand, Woche die zweite Staffel von dass ihr hier bleibt und wäh-
vergangenes Jahr aber gerade- »Handmaid’s Tale«, so der len geht.« XVC

134 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21.4. 2018


Königliche Möglich wurde dies erst
durch die am Mittwoch an-
Erlaubnis gekündigte Erweiterung der
G Die Debatte um die Statuten durch König Carl
Schwedische Akademie, die XVI. Gustaf. Bisher war
unter anderem den Literatur- ein formaler Rücktritt nicht
nobelpreis vergibt, kommt möglich. Der schwedischen
nicht zur Ruhe. In der ver- Zeitung »Dagens Nyheter«
gangenen Woche berichtete erklärte Lotass, dass sie das
der SPIEGEL über die Vor- für »ein gutes und weises
würfe von sexuellem und Eingreifen des Königs« halte.

LINA MITTELSTÄDT
finanziellem Fehlverhalten Trotz des anhaltenden Skan-
im sozialen Umfeld dals sagt sie über
der Akademie. Die die Schwedische
Schriftstellerin Lotta Akademie: »Die
Lotass, 54 (»Dritte Arbeit, die gemacht
Fluggeschwindig- wird, ist extrem Die Augenzeugin
keit«), beantragte wichtig, und ich hof-
DICK CLAÉSSON

am Donnerstag offi-
ziell ihren Austritt
aus der Akademie.
fe, dass die Mitglie-
der in Ruhe arbei-
ten können«. XVC
»Jeder macht Zuhälter
und Assi«
Deutschlandweit feiern Schüler zurzeit mit Motto-
die Welt geschickt, und es
Nicht von war wieder einer ihrer genial- wochen das Ende ihrer Schulzeit. Lina Mittelstädt, 18,
erzählt, was sie als Abiturientin am Goethe-Gymna-
dieser Wüste größenwahnsinnigen Moves,
den Auftritt »Beychella« zu sium in Berlin-Wilmersdorf erlebte.
G Beyoncé Knowles, 36, ist nennen und das ganze Festi-
die unangefochtene Königin val unter die eigene Marke G »In der Mottowoche verkleiden sich Abiturienten täglich
der Welt. Na gut, so etwas zu stellen. Wo Queen B nach einem anderen Thema. Es sind ja die letzten Tage unse-
gibt es nicht, aber zumindest erscheint, gibt es nur Queen rer Schulzeit, da dürfen wir endlich machen, was wir wollen.
der popkulturellen Welt. B. Ihre Performance war his- In den Jahren davor haben wir gesehen, wie die Großen mit
Queen B, wie sie genannt torisch, weil sie die erste anzüglichen Klamotten durch die Schule gelaufen sind, in
wird, gibt keine Interviews, schwarze Künstlerin ist, die knappen Röcken und Lederoutfits. In unserem Jahrgang
spricht nicht, twittert nicht. das Festival als Hauptakt ein- haben wir dann einfach abgestimmt, jeder konnte ein Motto
So schafft sie es, erratisch, geladen hat. Um das zu vorschlagen. »Nutten und Zuhälter« kam sehr oft, »Assi«
weitgehend unbefleckt von feiern, lobte sie Stipendien war auch sehr beliebt. Von Freunden habe ich gehört, dass es
irdischen Belanglosigkeiten, für Universitäten aus, an an ihren Schulen ähnlich ist – eigentlich überall. Jeder macht
die Welt auf sich auszurich- denen traditionell viele Afro- halt Zuhälter und Assi.
ten. Zuletzt konnte man das amerikaner studieren. Wer Ein, zwei Mädels haben es etwas übertrieben und wirklich
bei ihrem Auftritt beim all das verpasst hat, kann das sehr kurze Kleidchen und anzügliche Strapse angezogen.
Coachella-Festival sehen, nachholen, das Festival fin- Aber bei den meisten war es nicht dramatisch. Ich hatte eine
einem der berühmtesten Fes- det eine Woche später noch schwarze Leggins mit einem schwarzen bauchfreien Top an,
tivals der USA, in der kalifor- einmal statt. Auch an diesem andere Mädchen trugen kurze, enge Kleider oder Röcke. Die
nischen Wüste. Per Live- Samstag gibt es »Beychella« Jungs waren eigentlich alle in Schwarz gekleidet, dazu Son-
stream wurde vergangenen zu sehen. In ihrem Reich ist nenbrillen – eben so, wie man sich einen Zuhälter vorstellt.
Samstag Beyoncés Show in vieles möglich. XVC Manche Lehrer fanden das witzig. Andere haben uns
darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mit solchen Kos-
tümen über andere lustig machen, zum Beispiel über Sex-
arbeiter. Das war natürlich nicht unsere Absicht. Uns hat es
einfach Spaß gemacht. Ich meine, man sollte das nicht über-
dramatisieren. Viele Abiturienten denken nicht darüber nach,
dass man sich mit Themen wie »Assi-Tag« eigentlich über
Hartz-IV-Bezieher oder bildungsfernere Schichten stellt.
Ansonsten hatten wir noch »Länderklischees« als Motto.
An diesem Tag sind viele Mädchen im Dirndl gekommen.
Andere haben sich als asiatische Manga-Figur verkleidet.
Beim »20. Jahrhundert« bin ich als Hippie gekommen, auf
SILVERHUB / ACTION PRESS

dem Foto oben posiert ein Schulfreund als Sozialist aus den
Zwanzigerjahren. Und am »Tag der Lehrer« haben sich alle
einen Lehrer unserer Schule gesucht und sich wie er oder sie
gekleidet. Also mit einem Kissen unter dem Pullover oder
dicker Hornbrille. Das war ziemlich cool, das fanden auch
unsere Lehrer.« Aufgezeichnet von Vivien Krüger

135
»Kompliment zur Titelgeschichte. Ohne die üblichen Gräben
auszuheben, ist es endlich einmal gelungen,
das Thema Migration unaufgeregt aufzugreifen.«
Markus Michalak, Dülmen (NRW)

Ja, das ist mein Land Meine Eltern wurden während und kurz werden, wenn durch Wahlen wirkliche ge-
nach Ende des Zweiten Weltkriegs im sellschaftliche Kernfragen mitentschieden
Nr. 16/2018 Ist das noch mein Land?
Westen geboren. Beide waren liberal im werden können.
Berechtigte Sorge, übertriebene Angst – die
Fakten zur Debatte um Islam und Heimat besten Sinne, weltoffen, christlich und Uwe Seidel, Argenbühl (Bad.-Württ.)
wertegebunden. Ich bin in dem Verständ-
Was ist Heimat, was fremd? Darf sich da nis aufgewachsen, dass die Welt allen Ja, das ist mein Land, das des Grundgesetzes,
nichts verändern? Zugegeben, die Verän- Menschen offenstehen sollte. Ich verstehe der öffentlich-rechtlichen Medien, der libe-
derungen sind momentan ziemlich rasant. diese engstirnigen und von Angst be- ralen Haltungen, der Hilfe für Flüchtlinge
Aber der Artikel erweckt streckenweise herrschten Menschen nicht. Meine Eltern und auch des SPIEGEL. Was für ein Land!
den Eindruck, als seien vor allem Migran- hatten einen Globus aus der Zeit vor dem Dirk Wetzel, Guntersblum (Rhld.-Pf.)
ten und Flüchtlinge die Ursache. Welchen Ersten Weltkrieg, an dem erklärte mir
Anteil am Tempo der Veränderungen ha- mein Vater, wie groß die Welt ist und dass Arroganz der Mächtigen
ben Digitalisierung und Neoliberalismus? es auf Ländergrenzen nicht ankomme, da
Nr. 15/2017 Hartz IV ist besser als sein Ruf
Leben ist Bewegung, Entwicklung, Verän- sich diese immer wieder verschieben könn-
derung, für Gesellschaften wie für Indivi- ten. Die Grenzen hat man im Kopf, und Hartz IV wirkt: Es hat die deutsche Ge-
duen. Damit müssen wir uns einrichten. nur dort. sellschaft verändert, heizt Ängste vor so-
Ich kann nicht erwarten, dass die Welt ab Michaela Barth, Düsseldorf zialem Abstieg an und verändert so das
dem Tag X unverändert bleibt, weil ich an Gesellschaftsklima negativ. Positive Effek-
diesem Tag in die Welt gekommen bin. te auf die deutsche Wirtschaft sind min-
Heide Itasse, Ettlingen (Bad.-Württ.) destens genauso stark durch die Geldpoli-
tik der EZB zu erklären wie durch die Ent-
Endlich kommt auch der SPIEGEL in der MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
sozialisierung des Arbeitsmarkts aufgrund
Realität an, das wurde langsam auch Zeit! von Hartz IV. Dessen eigentlicher Erfolg
Die Sorgen und Nöte der Bürger, denen sind die schönen Statistiken. Diese bilden
das »bunte und weltoffene Deutschland, allerdings die Realität nicht ab, viele soge-
in dem wir gut und gerne leben«, Angst nannte Weiterbildungsprogramme sind
macht, werden endlich einmal ernst ge- Hokuspokus, von dem mittlerweile ein
nommen. Teil der Dienstleistungsbranche lebt.
Peter Barthelmes, Mainz Hobbyfußballer in Augsburg Florian Lahmann, Peine (Nieders.)

Ja. Deutschland ist noch mein Land. Die Der Islam »gehört« weder zu Deutschland Zu seiner Zeit hatte Hartz IV eine Funk-
meisten Zuwanderer bereichern Deutsch- noch nicht zu Deutschland. Das Wort »ge- tion, aber jetzt gehört es abgeschafft, denn
land. Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger hören« hat fünf Bedeutungen, und in die es spaltet die Gesellschaft. Hier die garan-
mit Migrationshintergrund in der zweiten, politische Debatte passt keine davon. Es tierten Beamten, dort die Bruttosozialpro-
dritten Generation sprechen besser Deutsch benennt erstens: einen Besitzanspruch duktknechte, die jetzt einen irrsinnigen
als viele Bayern, Sachsen oder Vorpom- (das Haus gehört mir), zweitens: den not- Außenhandelsüberschuss erwirtschaften
mern. Außerdem: Ohne die Menschen, die wendigen Bestandteil einer Sache (zum müssen, um dann in der Rezession auf
einst zu uns kamen, würden im geliebten Prozess gehört ein Richter), drittens: einen merkelsche Kurzarbeiter-Gnade hoffen zu
Deutschland der ängstlichen Gartenzwer- erwünschten Bestandteil (zum Auto ge- dürfen. Geld ist genug in den öffentlichen
ge Hotels, Gaststätten, Taxis vielerorts hört ein Navi), viertens: einen uner- Kassen, und die schwarze Null als Kon-
nicht mehr funktionieren. wünschten Bestandteil (zum Altern gehört sum- und Investitionsbremse muss auch
Hannes Albers, Benz (Meckl.-Vorp.) der Verfall), fünftens: ein Werturteil (»das weg. Wie viele andere empfinde ich das
gehört sich nicht«). Was davon »gehört« Fortbestehen von Hartz IV bei diesen vol-
Bei vielen Immigranten, vor allem den zum Islam in Deutschland? Nichts. Also len Kassen als Arroganz der Mächtigen.
muslimischen, aber auch bei einigen christ- schweigt doch endlich! Dr. Thomas Knott, San Antonio (USA)
lich-fundamentalen unter den Russland- Wolf Schneider, Starnberg (Bayern)
deutschen, hat man den Eindruck, dass die Die derzeitige Hartz-IV-Diskussion wird
Religion alle Vorstellungen dominiert. Ge- Das Volk als politischer Entscheidungsträ- doch wieder – wie immer – folgenlos im
nau da beginnt die Verträglichkeit mit un- ger hatte nie die Möglichkeit, über ein Ein- Sand versickern, denn das arbeitslose Ge-
serer Gesellschaft schwierig zu werden. Ich wanderungskonzept zu entscheiden. Wa- sindel hat eben keine finanzkräftige Lobby.
empfinde jede durch religiöse Vorschriften rum traut man einer angeblich mündigen Stattdessen werden die Rechten gegen die
bevormundete Frau als herben Rückschlag Bevölkerung nicht zu, innerhalb unseres Linken, die Jungen gegen die Alten, die
für Freiheit und Selbstbestimmung. Daraus Verfassungsrahmens zwischen gesellschaft- Dummen gegen die Flüchtlinge und die
entstehen sogar bei mir Abwehrhaltungen, lichen Entwicklungsalternativen zu wäh- Armen gegen die Arbeitslosen aufgehetzt
obwohl ich grundsätzlich fremde Kulturen len? Das wäre Demokratie! Letztendlich und umgekehrt, während sich die Leute
als Bereicherung empfinde. wird unsere Demokratie nur dann dauer- mit Geld selbst verwirklichen.
Beate Ramisch, Detmold (NRW) haft vom Volk respektiert und verteidigt Wolfgang Schmidt, Lage/Lippe (NRW)

136 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018


Briefe

Bedürfnis nach Feindbild mern, Unternehmen in Kleinstädten und


auf dem Land anzusiedeln. Warum zum
Nr. 15/2018 Der lange Marsch des
Beispiel müssen Zalando-Fotos in Berlin
Alexander Gauland an den rechten Rand
bearbeitet werden? Wenn das Gehaltsniveau

DIETRICH / BILDAGENTUR-ONLINE
Ich denke nicht, dass der alte Gauland ein auf dem großstädtischen Arbeitsmarkt
Trugbild war. Eine über Jahrzehnte bür- nicht im Einklang mit dem Mietniveau
gerferne Politik hat ihn zu dem gemacht, steigt, ist das ein starkes Indiz dafür, dass
was er heute ist. Und damit steht er beilei- es dort jetzt schon zu viele Menschen gibt.
be nicht allein da. Hätte man den Leuten Torsten Landmann, Hamburg
mehr aufs Maul geschaut, gäbe es heute
keine Gaulands und Co. Ich weiß nicht, Von Wahlperiode zu Wahlperiode hat sich
auf welche Bundestagsreden Sie sich be- die Politik dieses schnell wachsenden Pro- Wohnhaus in Hamburg
ziehen – das meiste Gelächter, zum Teil blems nicht angenommen – sträflich!
wütende Hohn- und Pfuirufe kommen von Durch die allseits emsige Verhökerei öf- Wenn die Mietpreise in Deutschland zu
links der AfD. Zudem ist auffällig, wie vie- fentlichen Baulands in Stadtlagen und einer sozialen Frage geworden sind, wie
le Abgeordnete sich während AfD-Reden kommunaler Wohnungen haben sich auch Sie schreiben, dann muss nicht nur nach
anderweitig beschäftigen. die Kommunen einen großen Anteil an der Zahl der zur Verfügung stehenden
Peter Rademacher, Schömberg (Bad.-Württ.) der Misere zuzuschreiben: Man hätte ge- Wohnungen gefragt werden, sondern auch
winnorientierten Investoren beim Bebau- nach der Größe der Haushalte und der der
Wieso der Abgeordnete Alexander Gau- en auch einen Anteil von preiswertem Wohnungen. Dann landen wir sehr schnell
land im SPIEGEL als Intellektueller geadelt Wohnraum abverlangen müssen. Bedarfs- bei einem Wohnflächenkonsum von 46,5
wird, bleibt nicht nur mir schleierhaft. Der gerechter Wohnraum für seine Bürger ist Quadratmetern pro Kopf, der 1950 noch
AfD-Politiker bezeichnet sich als Konser- ja ein Teil der Daseinsvorsorge des Staates! bei 15 gelegen hat. Und in den Wohnungen
vativer, zu den bewahrenden Werten der Die überhöhten Mietzahlungen fressen leben immer weniger Bewohner. Ist dieser
Republik bekennt er sich aber nicht. Er auch die immer wieder als Wachstumsmo- Wohnflächenkonsum im Hinblick auf
stützt vielmehr Demokratieverächter tor herbeizitierte Konsumsteigerung auf – Ressourcen und CO -Emissionen noch zu
²
und Rassisten. Die für einen Intellektuel- hat das mal jemand ausgerechnet? verantworten? Die soziale Antwort könn-
len notwendige Erkenntnisfähigkeit be- Charlotte Lemke, Goslar (Nieders.) te in einer Abgabe auf einen unsozialen
schränkt sich auf die Mobilisierung niede- übermäßigen Wohnflächenkonsum sein.
rer Instinkte: das Bedürfnis einer Minder- Die Lösung der Misere könnte von ande- Helgo Klatt, Hamburg
heit nach dem ewigen Feindbild. Der rer Seite kommen: Die meisten derjenigen,
Mann steht für nichts. Ihn treibt seine per- die arbeiten, bekommen leider, wie es An Jules Verne orientieren
sönliche Rache gegen die Merkel-CDU. scheint, deutlich zu wenig dafür gezahlt.
Hans Wallow, Bonn Dieter Reich, Berlin
Nr. 15/2018 Wasserstoff, Batterie,
Holzschnitzel? Die Suche nach dem
Kraftstoff der Zukunft
Die Klage von den vielen Fehlbelegern in
den Sozialwohnungen ist eine Legende. Der Beitrag zeigt überzeugend, dass der
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

Die soziale Stabilität ist in den Wohnquar- Kraftstoff der E-Mobilität in der ferneren
tieren erwünscht und für funktionierende Zukunft Wasserstoff sein wird. Der häufig
Stadtquartiere von elementarer Bedeu- beklagte schlechte Wirkungsgrad würde
tung. Dazu tragen auch Haushalte bei, die zum Teil ausgeglichen durch die Effizienz-
beim Bezug der Wohnungen die Vorgaben gewinne in den Stromnetzen, wenn man
erfüllt haben und nun durch eigene Leis- die von Sonne und Wind abhängigen Ver-
tungen mehr verdienen und trotzdem in sorgungsschwankungen durch Wasserstoff-
ihrem Viertel wohnen bleiben dürfen. Bei speicher ausgleichen würde. Politik und
AfD-Chef Gauland neuen Fördersystemen wie der Einkom- Wirtschaft sollten daher heute schon be-
mensorientierten Förderung wird das Ein- ginnen, in die benötigten Infrastrukturen
Wie soll man Herrn Gaulands Warnung kommen zudem jährlich überprüft und zu investieren, statt von dichten Netzen
vor einem »Bevölkerungsaustausch« ernst entsprechend die Förderung angepasst. für elektrische Ladestationen in den
nehmen, wenn gleichzeitig seine Pegida- Hans Maier, Verbandsdirektor, Verband bayerischer Ballungsräumen zu träumen. Japan und
Fans fordern: »Merkel nach Sibirien, Putin Wohnungsunternehmen e. V., München Toyota lassen grüßen.
nach Berlin«? Wladimir Putin ist doch Dr. rer. nat. Gunther Groh, Nürnberg
auch kein reinrassiger Deutscher. Solange selbst für kleine Wohnungen ein
Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.) Stellplatz gebaut werden muss, wird nie- Ja, wir sollten uns da langsam an Jules Verne
mand kleine Wohnungen bauen. Die Bau- orientieren, der 1875 prognostizierte: Das
Emsige Verhökerei träger versuchen, das Defizit aus dem Stell- Wasser ist die Kohle der Zukunft. Da hat
platznachweis auf möglichst viele Quadrat- er sich wohl auf die Entwicklung der
Nr. 15/2018 In deutschen Großstädten fehlen
meter Wohnfläche zu verteilen. Sozial Brennstoffzelle durch William Grove im
fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen
schwache Mitbürger fernzuhalten, die sich Jahr 1839 gestützt. Ohne den Wasserstoff
Ich halte es für kurzsichtig, die Migrations- nur kleinere Wohnungen leisten könnten, ist die weitere Energiewende undenkbar!
tendenz vom Land in die Großstädte ist wohl der Hauptzweck solcher Verord- Hans Sandlaß, Berlin
durch staatlich geförderten Wohnungsbau nungen. Urbanität entsteht mit der autoge-
und in der Folge sinkende Mieten noch zu rechten Bauweise auch nicht, weswegen
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
verschärfen. Außerdem kann es keine Lö- sich die Wohnungsnachfrage umso mehr in (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
sung sein, fast jedes Fleckchen Grün mit den bereits urbanisierten Zentren konzen- sowie digital zu veröffentlichen und unter
Billigarchitektur zuzubauen. Eine voraus- triert und dort die Wohnpreise hochtreibt. www.spiegel.de zu archivieren.
schauende Politik müsste sich darum küm- Joachim Falkenhagen, Berlin

137
Hohlspiegel
)RUWVFKULWW Rückspiegel

Aus der »Frankfurter


Allgemeinen«: »Osterloh steht seit
2500 Jahren an der Spitze der
LVWHLQIDFK Zitate
Der »Tagesspiegel« zum SPIEGEL-
Arbeitnehmervertretung bei VW.« Bericht »Grob lückenhaft« (Nr. 16/2018):

Es war eine große Menge an Material, das


die Task Force »Lupe« des damaligen Ber-
liner Polizeipräsidenten auszuwerten hat-
te: Allein 7600 Telefonate, die der Atten-
täter Anis Amri geführt, und mehr als
10 000 Kurznachrichten, die er verschickt
Hinweisschild am Sportplatz von hat, auf Arabisch natürlich, so die Innen-
Gemünden-Langenprozelten verwaltung im Januar … Nun liegt der Be-
richt vor. Der parlamentarische Untersu-
chungsausschuss hat ihn offenbar noch
Aus der »Kronen Zeitung«: »Die nicht, wohl aber der SPIEGEL. Er berich-
US-Regierung verfügte unter anderem tet, die Task Force benenne 254 Mängel,
das Einfrieren von amerikanischen davon 32 schwere, die sich auf das Ermitt-
Konten einiger Oligarchen-Konzerne lungsergebnis ausgewirkt hätten.
sowie von Putin-Gefolgsleuten.«
Die »Welt« zum SPIEGEL-Bericht
über dubiose Finanzhilfen des
DFB für den Inselstaat Tonga und
den russischen Fußballverband
(»Gern den Gefallen tun«, Nr. 16/2018):

Manchmal wird so ein Dokument publik,


diesmal im SPIEGEL, der die Vorreiterrolle
bei der Aufdeckung der üblen Machen-
Schild vor der Frauenklinik schaften rund um die WM 2006 in
des Universitätsklinikums Würzburg Deutschland (»Sommermärchen«) innehat
und nun wieder von Ländern berichtet,
»die dem DFB in einem Reigen schmie-
Aus der »Hünfelder Zeitung«: »Der rigen Gebens und Nehmens verbunden
CSU-Chef poltert, provoziert und pene- waren«.
triert mit seinem Debüt die Kanzlerin.«
Drehbuch- und Krimiautor Felix Huby in
der »Stuttgarter Zeitung« über seine
Vergangenheit als SPIEGEL-Redakteur:

»Obwohl ich 20 Jahre Journalist war, ein


begeisterter Rechercheur war ich nie. In-
sofern war mein Weggang vom SPIEGEL
Aus dem »Wochenspiegel Konz-Saarburg« ein großes Glück. Fortan musste ich nicht
VSDUNDVVHGH recherchieren, sondern konnte fabulieren.«

Aus der »Rhein-Neckar-Zeitung«: Die »Neue Zürcher Zeitung«


»Am Freitag war bekannt geworden, zur »Morgenlage« des SPIEGEL
dass etliche der vermeintlich minder- vom 24. März 2018 über
jährigen Männer aus Nordafrika, den Berliner Flughafen BER:
die seit Monaten in Mannheim Straftaten
begehen, in Wahrheit gar nicht Abends, wenn an den Baustellen Berlins
volljährig sind (die RNZ berichtete).« die Ausleger der Kräne alle in dieselbe
:HLOXQVHUH([SHUWHQ Richtung zeigen, möchte man an einen
,KU8QWHUQHKPHQPLWGHU Masterplan glauben. Aber es ist das
Gegenteil davon. Nochmals kurz der BER,
ULFKWLJHQ)LQDQ]LHUXQJ wichtig, denn der SPIEGEL schreibt von
YRUDQEULQJHQ dem »angeblichen Flughafen BER«. Tat-
sächlich geht diese scheinbar nebensäch-
liche Stichelei weit über das Flughafenpro-
jekt hinaus. Diese ganze Stadt muss sich
fragen lassen: Gibt es Berlin überhaupt –
oder ist das alles nur Gerede, nur ange-
sagt? Eine städtebauliche Chimäre? Ein
Riesenphantom, etwas wie Bielefeld – eine
Schild unterhalb des Birkenkopfs Stadt, die es gemäß einer klassischen Ver-
in Stuttgart schwörungstheorie gar nicht gibt?

138 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21.04. 2018


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