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OKTOBER 2006 · € 6,90 (D/A) DEUTSCHE AUSGABE DES

r Savants –
schwachsinnig und genial
r Wiedie Tiere
an Land gingen
r Seltsame Monde im
Sonnensystem

www.spektrum.de

Gene für ein


langes Leben
Forscher hoffen, dass sich das
Leben verlängern lässt –
auch ohne Alterskrankheiten

13,50 sFr / Luxemburg 8,– €


D6179E

SCH W ERPU N K T
NAN OT ECH N O LOGIE
EDITORIAL z Reinhard Breuer
Chefredakteur

Werden wir
zu Darwins Schildkröten ?

im Jahr 2003 starb meine Großtante im Alter von 104 Jahren. In den letzten beiden Le-
bensjahren hatte sie sich besonders darüber gefreut, die älteste Bürgerin von
Regensburg mit seinen 135 000 Einwohnern zu sein. Seit Demoskopen eine
jährliche Zunahme der mittleren Lebenserwartung um drei Monate prognos-
tizieren, steht zu erwarten, dass mit diesem Alter in Bälde nicht mehr so viel
Staat zu machen ist.
Der derzeitige Altersweltrekord für Menschen liegt seit 1997 bei 122 Jahren
und 164 Tagen. Aufgestellt hat ihn die Französin Jeanne Louise Calment; der
älteste Mann, ein Japaner, soll es auf 120 Jahre gebracht haben. Dem Vorbild
aller Übergreise, Methusalem, werden legendäre 969 Jahre nachgesagt. Dass,
um einmal die Spezies zu wechseln, eine angebliche »Schildkröte Darwins« im
letzten Juni im Alter von 176 Jahren dahinschied, ging zwar durch die Medien,
gilt aber unter Fachleuten als Unsinn (»New Scientist«, 15. Juli 2006, S. 21).
Aber könnten Menschen eines Tages wirklich 176 oder gar 969 Jahre alt
werden? Manche Forscher halten das für möglich – wie etwa Aubrey de Grey.
Der britische Biogerontologe hat längst einen Sieben-Punkte-Plan zur Be-
kämpfung eines frühen Ablebens vorgelegt, wird aber vom Rest der Wissen-
schaftsgemeinde eher mit Schweigen bedacht, wohl weil er dabei von eini-
gen unrealistischen Vorstellungen ausgeht.

Den fulminanten Altersschub der letzten Jahrzehnte schreiben Forscher mehreren


Faktoren zu: Absenkung der Kindersterblichkeit, besserer Hygiene, gesünde-
rer Ernährung – und einer Medizin, die lebensverkürzende Prozesse zuneh-
mend erkennt und zu stoppen versteht. Darum geht es auch in unserem Bei-
trag ab S. 34, der sich mit den genetischen Einflüssen auf unser Altern befasst.
Offenbar können einige Gene, die vor allem unter widrigen Bedingungen ak-
tiviert werden, bei künstlich stimuliertem Dauereinsatz Organismen langle- Die Premiumklasse
biger machen.
Aber wollen wir denn überhaupt so viel älter werden? Wird nicht das Alter
für die allermeisten zur Qual, wenn Demenz- und Krebskrankheiten das Le- Qualität ist für Sie ein Muss? Prozessopti-
ben in ein jämmerliches Siechtum verwandeln? Verblüffenderweise verspre-
chen, wie die Autoren unserer Titelgeschichte herausfanden, eben diese Gene mierung eine Herausforderung? Und Wett-
zugleich, altersbedingte Erkrankungen zu unterdrücken – weil sie molekulare
Abwehr- und Reparaturmechanismen aktivieren.
Könnte also »alt und vital« bald zum gesellschaftlichen Alltag werden? Sol- bewerbsvorteile ein Grund, die Korken knallen
len wir uns, wie Aubrey de Grey oder zahlreiche Sciencefiction-Romane, die
Städte mit 150- und 200-Jährigen bevölkert vorstellen, sodass im Jahr 2100 zu lassen? Dann feiern Sie mit uns die Welt-
auch meine Großtante mit 104 Lenzen als Frau in den mittleren Jahren gelten
würde? Die Molekularbiologie, so scheint es, ist derzeit dabei, die Grundla-
leitmesse der IBV! Denn hier servieren wir
gen dafür zu schaffen.

Herzlich Ihr Ihnen das gesamte Spektrum für Ihren hohen

Anspruch - auf der VISION 2006.

Mehr unter www.vision-messe.de


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Q OKTOBER 2006
O K T O B E R 2006
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 24
I N H A L T

SPEKTROGRAMM EVOLUTION
Was Fischen Beine machte
10 Verstecktes Deuterium · Die Lupe im
Lehrbücher müssen umgeschrieben
Kopf · Emulgator mit Schalter · Atom
schaltet Strom · Pestklima u. a. werden: Die ersten Vierfüßer wagten
sich noch nicht aufs Land. Sie schnapp-
13 Bild des Monats
Pferdekopf in Blau ten nur über dem Wasser nach Luft –
und stemmten sich dazu hoch
FORSCHUNG AKTUELL
14 Riviera in der Arktis
Einst war das Nordmeer eisfrei und
bis zu 24 Grad warm
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 44
16 Prager Planetensturz
Pluto verlor den Planetenstatus ASTRONOMIE
19 Elektronen in der Radarfalle Monde auf der schiefen Bahn
Das Ohm’sche Gesetz gilt auch Sie bewegen sich auf lang gestreckten
für Einzelelektronen und verwickelten Bahnen, oftmals
gegen die im Sonnensystem übliche
THEMEN
Richtung – eine Art planetarer Satel-
r 24 PALÄONTOLOGIE liten, deren Eigenheiten Neues über
Der Landgang der Wirbeltiere die Entstehung der Planeten verraten
r 34 TITELTHEMA MOLEKULARBIOLOGIE
Gene gegen das Altern
r 44 ASTRONOMIE
Irreguläre Monde

r NANOTECHNOLOGIE

54 Mehr Leistung aus Nanobatterien

57 Rastersondenmikroskope
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 68
58 Spezialschichten
HIRNFORSCHUNG
für Funktionstextilien
Ein Mensch mit
62 Die Chemie von Nanowasser phänomenalem Gedächtnis
Savants verfügen über extreme Son-
64 Wie gefährlich sind Nanopartikel?
Interview mit dem derbegabungen, oft bei schweren
Toxikologen Harald F. Krug geistigen Defiziten. Der Amerikaner
Kim Peek besitzt ein unheimliches
66 Atomgenaues Positionieren Gedächtnis. Ungewöhnlich sieht auch
sein Gehirn aus
r 68 HIRNFORSCHUNG
Das Gehirn eines Savants
74 METAMATERIALIEN
Die ultrascharfe Superlinse
84 NATURGESCHICHTE
Wie der Amazonas entstand
116 ESSAY SCHWERPUNKT AB SEITE 54
Plädoyer für eine liberalere Nanotechnologie
Reproduktionsmedizin
Maschinen aus wenigen Atomen
und Molekülen – allmählich wer-
den solche Visionen Realität, wäh-
rend gleichzeitig neue Fragen auf-
Die auf der Titelseite angekündigten Themen
sind mit r gekennzeichnet; kommen. Zum Beispiel: Wie viele
die mit markierten Artikel können Sie Moleküle braucht ein Wassertrop-
als Audiodatei im Internet beziehen, siehe: fen, um Wasser zu sein?
www.spektrum.de/audio

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2006
OKTOBER 2 0 0 6

KOMMENTAR
22 Springers Einwürfe
Ist der Kugelblitz nur ein Witz?
108 Nachgehakt
Poincaré und Perelman –
der Beweis einer Jahrhundertvermutung

WISSENSCHAFT IM …
42 Alltag: Turbulenter Latte macchiato
67 Rückblick: Frischkosttest · Textile
Wärmeisolation · Weinalterung mit Ozon ·
Linkshändigkeit trainiert u. a.

JUNGE WISSENSCHAFT
96 Ideenschmiede für das Jahr 2020

REZENSIONEN
100 Kurt Gödel von Rebecca Goldstein
Kurt Gödel – Das Album von Karl Sigmund,
John Dawson und Kurt Mühlberger
Die Zukunft der Arten von Josef H.
Reichholf
TITELTHEMA MOLEKULARBIOLOGIE SEITE 34 Wasser von oben von Guido Alberto Rossi,
Gabriele Zanetto
Regulatoren der Lebensspanne Wozu Sex? von Christian Göldenboog
Symmetry and Complexity von Klaus
Mainzer
Gesund ein biblisches Alter erreichen – eine Hand voll Gene für natürliche
Philosophie der Weltkulturen von Anton
Schutzmechanismen lassen sich vielleicht als Waffen gegen Krankheiten Grabner-Haider
und Verfallsprozesse einsetzen, die synonym für Altern stehen
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
112 Trojaner am Himmel

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 74 WEITERE RUBRIKEN


METAMATERIALIEN 3 Editorial
Bauplan für eine Superlinse 8 Leserbriefe/Impressum
110 Preisrätsel
Komplizierte Mikrostrukturen – Meta-
122 Vorschau
materialien – verhalten sich optisch
paradox. Eine Schicht aus solchem
Material vermag feinere Details abzu-
bilden als jede gewöhnliche Linse

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 84 TITELBILD

NATURGESCHICHTE Eine Altersbremse


in unserem Gen-
Die Geburt des Amazonas repertoire, symbo-
Nach neuesten Erkenntnissen dauerte lisiert durch die
es mehrere Millionen Jahre, bis sich DNA-Doppelhelix,
der mächtige Strom seinen Weg quer wollen Forscher
finden – und akti-
durch Südamerika gebahnt hatte
vieren

Hände: Corbis; DNA: Siganim; Composing:


Claus Schäfer / Spektrum der Wissenschaft

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 5
LESERBRIEFE
nis, dass der massive Einsatz von DDT noch tun und mit darüber entscheiden,
Streng sachlich
LESERBRIEFE

und anderen Insektiziden nicht der rich- ob man »sich riechen kann« oder nicht.
statt effekthascherisch tige Weg zur Bekämpfung ist. An den Auch ist inzwischen erwiesen, dass – im
Die Mischung macht’s damaligen diesbezüglichen Erfahrungen Gegensatz zu übertriebener Hygiene und
Forschung aktuell, August 2006 und Erkenntnissen hat sich seitdem Deodorants – die im Schweiß enthal-
nichts geändert. Und das kommt mir im tenen Substanzen zur Gesunderhaltung
Seit mehr als 30 Jahren werden Wir- Artikel viel zu kurz. der Haut beitragen, selbst wenn man
kungen von Stoffgemischen wissenschaft- Natürlich erfordern biologische For- sich nicht wie die Ureinwohner Australi-
lich eingehend untersucht. Dabei wur- schung und gesundheitliche Erziehung ens mit seinem Achselschweiß einreibt.
den für einige Kombinationen auch einen langen Atem und tragfähige Infra- Dr. Gerhard Rudolf, Bad Homburg
synergistische oder potenzierende Wir- strukturen. Aber ohne diese Anstren-
kungen beobachtet, welche allerdings gungen ist der erneute Einsatz von DDT,
mechanistisch erklärbar sind und damit und sei es in kleinerem Maßstab, nicht Versuch mit Gott
einem fachgerechten Risikomanagement zu verantworten. Oder sollte etwa das Nur ein frommer Wunsch
unterworfen werden können. eigentliche Ziel der Propagierung das Forschung aktuell, Juli 2006
Beide Sachverhalte lässt David Biello beträchtliche Profitpotenzial bei der in-
unberücksichtigt. Hingegen werden die dustriellen Produktion von DDT sein? Beten heißt, dass sich Menschen an Gott
effekthascherischen Analogien von Ty- Zwei Hinweise verstärken bei mir diesen mit Dank oder auch Bitte wenden, etwa
rone Hayes zwischen Kaulquappen in Ge- Eindruck: »Präsident Bush hat 1,2 Milli- der Bitte um Hilfe zur Genesung von
wässertümpeln und Föten in der Gebär- arden US-Dollar dafür vorgesehen, um Kranken. Da haben nun Wissenschaftler
mutter zitiert, die eine themengerechte die Seuche in den nächsten fünf Jahren zwei Gruppen gebildet, von denen die
Auseinandersetzung mit dem gegenwär- in Afrika zu bekämpfen« und der Litera- eine das Medikament Beten verordnet
tigen Erkenntnisstand erschweren. In ei- turhinweis »What the world needs now bekam, die andere aber nicht. Dieses Ex-
ner Gesellschaft, die technische Entwick- is DDT«. periment will im Endeffekt nicht nur
lungen zunehmend nur nach dem Risiko- Prof. Dieter Wenzel, Braunschweig feststellen, ob das Beten hilft, sondern
potenzial bewertet, erfordern komplexe auch, ob Gott reagiert oder nicht, ob
Sachverhalte mit ihrem hohen Verunsi- Gott existiert oder nicht. Gott ist somit
cherungspotenzial gerade von wissen- Individuelle Duftstoffe zu einem Versuchskaninchen der Wis-
schaftlich ausgerichteten Zeitschriften mitentscheidend senschaftler geworden. Wer auch nur
eine streng sachliche Themendarstellung. Sommer, Sonne, Schweißgeruch? eine ungefähre Ahnung hat, was man
Dr. Richard Schmuck, Wuppertal Wissenschaft im Alltag, August 2006 unter dem Wort »Gott« versteht, weiß,
dass wir seine Wege nicht auskundschaf-
Heute – nach der Hygienewut des 20. ten können.
Nicht der richtige Weg Jahrhunderts – weiß man dank biomedi- Dass Gott, wenn es ihn gibt, auf viel-
Der erbitterte Kampf gegen Malaria zinischer Forschung, dass die von den fältige Weise helfen kann, die keine
Juni 2006 apokrinen Schweißdrüsen erzeugten in- Versuchsanordnung ergründet, ist sicher-
dividuellen Duftstoffe nicht nur »in lich auch für einen Atheisten selbstver-
Speziell im Fall der Malaria war bereits grauer Vorzeit« eine Rolle bei der Part- ständlich.
in den 1960er Jahren gesicherte Erkennt- nerwahl spielten, sondern dies heute Prof. Franz Burgey, Dietramszell-Linden

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8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
SABINE LÖBBE

Spektrales Wolkenglühen o Dieser Zirkumhorizontalbogen wurde auf der


Bild des Monats, September 2006 Nordinsel Neuseelands fotografiert. Das Phäno-
men entsteht, wenn sich Sonnenstrahlen an den
Live erlebt hexagonalen Eiskristallen von mehrere Kilometer
Vielen Dank für dieses schöne Foto eines hohen Zirruswolken brechen.
Zirkumhorizontalbogens und die Erklä-
rung dazu.
Nun kann ich mir eine Erscheinung auch, dass Wissenschaft Politik nicht
zwischen den Wolken erklären, die ich ersetzen kann und nicht zum Konflikt-
auf der Nordinsel Neuseelands am 27. schlichter taugt.
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März dieses Jahres gesehen und auch fo- Falsch ist jedoch die Schlussfolge-
tografiert habe. Da es nicht regnete und rung, die Sarewitz daraus zieht, indem er
ich die Sonne auch nicht im Rücken hat- Wissenschaftler zur politischen Absti-
te, konnte es kein Teil eines Regenbogens nenz auffordert. Was wir brauchen, ist
sein. Und ich stellte mir die Frage: Was gute Politik, gute Wissenschaft und die
ist das? Nun weiß ich es. richtigen Formen, um beides zu konsens-
Sabine Löbbe, Hamburg fähigen Problemlösungen zu bündeln.
Wie unsere Studie zur Beteiligung
Brechung statt Beugung von Wissenschaftlern an der Klimadis-
Bei dieser Erscheinung handelt es sich um kussion zeigt, sind viele Forscher bereit,
Brechung, nicht um Beugung. sich in öffentliche politische Debatten
Prof. Walter Eichenauer, Bonn einzumischen. Sie tun dies oft mit Bauch-
schmerzen, manchmal ungeschickt, gele-
gentlich aus egoistischen Gründen. Aber
Ergebnisse einbringen viele tun es auch in der Überzeugung,
Wissenschaftler – Hände weg von der Politik dass sie zwar keine fertige politische Lö-
Essay, September 2006 sung präsentieren, aber einen wichtigen
Beitrag dazu leisten können.
Daniel Sarewitz hat in mehreren Punk- Wir finden es richtig, dass Wissen-
ten Recht: Wissenschaft kann politische schaftler ihre Ergebnisse selbst in die po-
Konflikte nicht entscheiden, Forschungs- litische Diskussion einbringen, statt dies
ergebnisse lassen verschiedene Deutun- Dritten zu überlassen und selbst vor-
gen zu, Werte und Interessen spielen in nehme Zurückhaltung zu üben.
der Forschung eine Rolle. Richtig ist Prof. Hans Peter Peters, Jülich,
Prof. Harald Heinrichs, Lüneburg

Briefe an die Redaktion …


… sind willkommen! Schreiben Sie Erratum
bitte mit Ihrer vollständigen Adresse an: Ring der Erkenntnis, September 2006
Spektrum der Wissenschaft
Frau Ursula Wessels In der Bildunterschrift auf S. 86 wurden
Postfach 10 48 40
D-69038 Heidelberg fälschlich aus Myonen Mesonen. Das
E-Mail: leserbriefe@spektrum.com Higgs-Teilchen zerfällt in 4 Myonen.
Die Redaktion

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
SPEKTROGRAMM
V E R H A LT E N
SPEKTROGRAMM

Aufmerksamkeits-
lupe im Kopf
Q Wie kommt es, dass wir beim Au-
tofahren konzentriert auf die Straße
vor uns blicken und das Stoppschild
am Straßenrand dennoch nicht über-
sehen? Offenbar alles nur eine Frage
der Aufmerksamkeit. Wissenschaftler
um Thilo Womelsdorf und Stefan
Treue vom Deutschen Primatenzen-
trum in Göttingen haben die Vorgänge
an Rhesusaffen untersucht und eine
Art Tuning von Nervenzellen im Ge-
hirn entdeckt. Die Forscher »verka-
belten« die Hirnrinde mit kleinen Elek-
troden. Vor allem die Region MT, ein
auf die Wahrnehmung von Bewe-
gungen spezialisierter Bereich, stand
im Zentrum ihres Interesses.

l Auch wenn er in eine andere


Richtung blickt: Durch die Lupe im
Kopf nimmt der Affe den Käfer am
Bildrand genau wahr.

DEUTSCHES PRIMATENZENTRUM, RODE-BROCKHAUSEN

NEUR OBIOLOGIE CHEMIE

Elektrischer Wegweiser für Zellen Emulgator


Q Woher wissen Zellen, wo und in Bei der Elektrotaxis spielt offenbar mit Schalter
welche Richtung eine Wunde im Gewe- das Protein Pl(3)K Gamma – wichtig für
be heilen muss? Neben chemischen den chemischen Spürsinn der Zellen –
Stoffen weisen ihnen offenbar auch eine Rolle. Das zeigte sich, als die Wis-
elektrische Felder den Weg. Eine solche senschaftler das zugehörige Gen in
»Elektrotaxis« wurde zwar schon lange den Epithelzellen ausschalteten: Diese
vermutet, den Nachweis erbrachten bewegten sich im angelegten elek-
jedoch erst jetzt Forscher um Min Zhao trischen Feld daraufhin nur noch un-
von der Universität Aberdeen, Schott- koordiniert. Inaktivierten die Forscher
land. Dazu legten sie elektrische Felder dagegen ein anderes Gen, das letzt-
an »Verletzungen« in einer künstlichen endlich die von Pl(3)K Gamma angesto-
Deckgewebsschicht (Epithel) sowie an ßene Singalkaskade hemmt, stieg Q Ölsande bergen weltweit etwa 16
echte Wunden in der explantierten Au- die Geschwindigkeit, mit der die Zellen Prozent der Ölreserven. Um daraus den
genhornhaut von Nagetieren. Je nach dem Feld folgten – und zwar um begehrten Energieträger zu extrahieren,
Richtung des Felds wurde die Heilung ganze 30 Prozent. wird eine wässrige Tensid-Lösung ein-
beschleunigt oder gebremst. Diese Erkenntnisse könnten für die gesetzt. Das »Spülmittel« bewirkt, dass
Behandlung chronischer Wunden oder sich das Öl in Form feiner Tröpfchen im
MIN ZHAO, UNIVERSITY OF ABERDEEN

– + + – anderer Verletzungen nützlich sein. Wasser verteilt. Am Ende muss die so


Nature, 27. 7. 2006, S. 457 entstandene Emulsion aber wieder ge-
trennt werden – ein Prozess, der zeit-
und kostenintensiv ist.
l Epithelzellen drehen sich in einem elektrischen In Zukunft wird das vielleicht ein-
Feld so, dass der Golgi-Apparat (orange) – ein in- facher. Chemiker aus Kanada und den
ternes Membransystem – zum Minuspol weist, USA haben eine Substanz aus der Klas-
10 ␮m und wandern dorthin (blau: Zellkern, grün: Aktin). se der Alkylamidine entwickelt, deren

10
Wunde heilt schneller Wunde öffnet sich
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Q OKTOBER 2006
KOSM OL OG I E

Das versteckte
Deuterium
Wurden die Affen darauf trainiert, Q Anders als in weit entfernten Gala-
ihren Blick fest, ohne abzuschwei- xien, die wir gewissermaßen noch in
ihrem Jugendstadium sehen, ist in un-

NASA / FUSE
fen, auf einen Punkt auf einem Bild- Der Satellit Fuse maß den Deuteriumgehalt im All
schirm zu richten und dabei gleich- serer unmittelbaren kosmischen Umge- – so auch in der Kleinen Magellanschen Wolke.
zeitig auf einen bestimmten Bereich bung überraschend wenig Deuterium
am Rand ihres Gesichtsfelds zu ach- zu beobachten. Bisher machten Astro- in Boulder, dass dort, wo viel interstella-
ten, reagierten gewisse Hirnzellen nomen Sterne dafür verantwortlich, die rer Staub vorhanden sein muss, an-
in der Region MT stärker auf Bewe- das schwere Wasserstoff-Isotop durch scheinend wenig Deuterium vorkommt
Kernfusion in Helium und andere Ele- und umgekehrt. Die Forscher entwickel-
gungen im Nebenfokus der Auf-
mente umwandeln. Spektralmessun- ten daraufhin ein Modell, wonach die
merksamkeit – die Sinne für diese
gen des Satelliten Fuse (»Far Ultraviolet Staubteilchen das Isotop an sich binden
Stelle hatten sich gleichsam ge-
Spectroscopic Explorer«) weisen nun und so dem Blick der Astronomen ent-
schärft. Diese Aufmerksamkeitslupe
aber auf eine weitere mögliche Erklä- ziehen. Vermutlich gibt es in unserer
schaltet sich schon ganz früh ein;
rung hin. Bei der Analyse der Daten ent- kosmischen Nachbarschaft also mehr
denn die Region MT ist bereits an deckten Wissenschaftler um Jeffrey Deuterium, als es den Anschein hat.
den ersten Schritten der visuellen Linsky von der Universität von Colorado Astrophysical Journal 20. 8. 2006, S.1106
Informationsverarbeitung beteiligt.
Die Forscher glauben, dass sich ihre
ARCHÄOL OG I E
Erkenntnisse ohne Weiteres auf
den Menschen übertragen lassen:
Unser visuelles System unter-
Neandertaler-Behausung entdeckt
scheide sich in diesem Gehirnbe- Q Nach landläufiger Vorstellung war der Braunkohlegrube Inden nahe der
reich kaum von dem der Affen. der Neandertaler ein tumber Geselle, nordrheinwestfälischen Stadt Titz ent-
Nature Neuroscience, 9/2006, S. 1156 der Steinkeulen schwang und in Höh- deckten die Forscher den Grundriss
len hauste. Doch dieses Zerrbild hat einer ovalen Behausung, der sich durch
mit der Wirklichkeit wenig zu tun. So Verfärbungen und Abdrücke im leh-
entdeckten schon in den 1980er Jahren migen Boden abzeichnete. Im Umfeld
u Eine Öl-Wasser-Emulsion, erzeugt mit einem Wissenschaftler bei Buhlen in Hessen lagen rund sechzig Werkzeuge aus Feu-
Hilfsstoff und CO2 (links), trennt sich nach Erwärmen die Überreste einer vier Quadratmeter erstein wie Axtkeile und Klingen zum
und Durchleiten von Argon rasch wieder (Mitte). großen künstlichen Behausung, in der Schneiden von Fleisch oder Fellen, die
Anderenfalls hält sie sich stundenlang (rechts). vor 35 000 bis 40 000 Jahren Neander- nach Schätzung der Archäologen etwa
taler gelebt und Steinwerkzeuge herge- 120 000 Jahre alt sind und damit aus
stellt hatten. der Frühzeit des Neandertalers stam-
Nun konnten Archäologen vom Rhei- men. Von der Behausung selbst ist
nischen Amt für Bodendenkmalpflege nichts mehr übrig, da sie aus vergäng-
zeigen, dass die mittelsteinzeitlichen lichen Materialien wie Holz oder Fellen
Jäger und Sammler auch schon viel bestanden haben dürfte.
früher zelt- oder hüttenartige Struktu- Pressemitteilung des Landschaftsverbands
ren bauten. Bei Rettungsgrabungen an Rheinland vom 15. 8. 2006

PHILIP JESSOP, QUEEN‘S UNIVERSITY, KANADA

Moleküle sich bei Raumtemperatur mit


Kohlendioxid zu einem stark wirkenden
Tensid verbinden. Die Besonderheit:
Lässt man durch die Emulsion später Verfärbungen und Abdrücke im Lehm-
bei einer Temperatur von 65 Grad Cel- boden zeigen eine ovale Struktur, die
sius Luft, Stickstoff oder Argon strö- sich in Verbindung mit Werkzeugfun-
men, wird die Reaktion rückgängig ge- den als Grundriss einer 120 000 Jahre
macht: Das Tensid zersetzt sich und das alten Neandertaler-Behausung iden-
Öl trennt sich wieder vom Wasser. Sol- tifizieren ließ.
che schalt- und wiederverwertbaren
UDO GEILENBRÜGGE / LVR

Emulgatoren sind auch für viele andere


industrielle Prozesse interessant – etwa
für die Herstellung von Nanopartikeln.
Science, 18. 8. 2006, S. 958

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 11
E L E KT R O N I K

Atom schaltet Strom


Q Strom marsch! Wie auf Kommando

JAMSTEC, FUMIO INAGAKI


eine kleine Lücke getrennte Elektro-
wechselt ein einzelnes Silberatom den den auf, bis ein einziges Atom die Brü-
Platz, verbindet zwei Elektroden und cke bildet. Ein weiterer Vorteil dieser
schon fließen Elektronen. Eine dritte Konstruktion: Der Metalltransistor
Elektrode kontrolliert die Position der kann tausendmal schneller schalten als
o Mit dem Tauchboot Shinkai 6500 holten deut- atomaren Brücke. Entwickelt wurde seine Pendants auf Halbleiterbasis.
sche und japanische Forscher Proben aus den Se- dieser winzige Transistor an der Univer- Universität Karlsruhe, Presseinformation vom
dimentschichten über einem Kohlendioxid-See. sität Karlsruhe. 14. 8.2006
»10 000 Millionen Elektronen wan-

THOMAS SCHIMMEL
dern pro Sekunde im Gänsemarsch Der Einzelatom-Transistor
MIK ROBIOLOGIE
durch das eine Atom!«, schwärmt Ent-

Leben am wickler Thomas Schimmel. Während


elektronische Bauteile normalerweise
Gatter
Kohlendioxid-See die Eigenschaften von Halbleitern nut-
zen, um Stromfluss oder Spannung zu
Q Flüssiges Kohlendioxid (CO2), neuer- regeln, ist dies der erste Metalltran-

Quelle

Senke
dings eingesetzt bei der Trockenreini- sistor.
gung von Textilien, wirkt ähnlich wie ein Sein großer Vorzug: Er kommt mit
organisches Lösungsmittel. Kaum vor- einer Kontrollspannung von wenigen
stellbar, dass in einem damit getränkten Millivolt aus, was den Verbrauch an
Milieu Organismen dauerhaft überleben elektrischer Leistung um den Faktor
können. Deutsche und japanische Wis- 10 000 senkt. Bei der Herstellung Zur Regelung des Stromkreises verschiebt eine
senschaftler haben jetzt das Gegenteil dampfen die Wissenschaftler Silber- Steuerelektrode (Gatter) ein Silberatom (lila).
bewiesen. In einem hydrothermalen atome Lage für Lage auf zwei durch
Feld in 1400 Meter Wassertiefe vor
der Ostküste Taiwans verbirgt sich un-
E PI DE M I O LO G I E
ter einer Sedimentschicht ein natür-
licher Kohlendioxid-See. Durch den ho-
hen Unterwasserdruck liegt das eigent-
Prima Klima für die Pest
lich gasförmige CO2 in flüssiger Form Q Der Erreger der Pest liebt feuchte ger übertragen. Ist nun das Frühjahr
vor. Es perlt durch die darüberliegende Wärme. Ein Klimawandel könnte die warm oder der Sommer feucht, so ge-
Schicht aus eisartigem CO2-Hydrat und durchaus nicht ausgerottete Seuche da- deihen Wirt und Überträger besonders
aufgelagertem Sediment. rum wieder häufiger ausbrechen lassen. gut. Die Bevölkerungsdichte der Renn-
Mit einem bemannten Tauchboot ent- So sind Populationen Großer Rennmäuse mäuse macht es den zahlreichen Flöhen
nahmen die Wissenschaftler Sediment- in Zentralasien noch immer Ansteckungs- dann leicht, die Beulenpest zu verbrei-
proben und untersuchten sie mittels herde, da die Tiere zu den Hauptwirten ten. Ein nur ein Grad Celsius wärmerer
DNA-Analyse auf mikrobielles Leben. des Pestbakteriums gehören. Frühling bedeutet den neuen Berech-
Das Ergebnis: Hier gedeihen Archaeen, Untersuchungen einer Gruppe von For- nungen nach, dass die Ausbruchshäufig-
eine früher Archaebakterien genannte schern um Nils Stenseth von der Univer- keit um fast sechzig Prozent zunimmt.
Organismengruppe, die eine Vorliebe sität Oslo zeigten, dass die Häufigkeit Ein Sommer mit zehn Prozent mehr Nie-
für extreme Umweltbedingungen hat. von Yersinia pestis sowohl von der Dich- derschlag erhöht sie um sieben Prozent.
An der Grenzfläche zum CO2-See te der Mäusepopulation als auch von der Proceedings of the National Academy of Sciences,
fanden sich noch etwa 10 Millionen Mi- Anzahl an Flöhen abhängt, die den Erre- 29. 8. 2006, S. 13110
kroben pro Kubikzentimeter; zwanzig
CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION (CDC),
MARGARET PARSONS, KARL F. MEYER, 1965

Zentimeter höher im Sediment – bei


Pestbakterien (dunkel gefärbt) in einem
deutlich geringerem Kohlendioxidge-
Abstrich aus den Lymphgefäßen eines
halt – immerhin über eine Milliarde. Das
Patienten
hören Astrobiologen sicher gern. Sie
hoffen, dass Leben im Umfeld von
flüssigem oder festem CO2 existieren
kann – und damit womöglich auch in
bestimmten Regionen auf dem Mars.
Proceedings of the National Academy of Sci-
ences, Online-Vorabveröffentlichung, 28. 8. 2006

Mitarbeit: E. Buyer, S. Hügler und S. Gellweiler

12 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2006
Pferdekopf in Blau
Zu den bekanntesten Himmelsobjekten zählt der Pferdekopfnebel
im Sternbild Orion, der sich als schwarze Silhouette gegen einen
dramatisch roten Hintergrund abzeichnet. Das gleiche Motiv gibt
es – in weniger plastischer Form – aber auch im Sternbild Skorpion.
Ganz in Blau erinnert es hier an eines der bekanntesten Bilder des
Malers Franz Marc. Wie beim Pferdekopfnebel handelt es sich um
Wolken aus sehr feinem Staub. Anders als dort blockieren sie je-
doch nicht helles Licht aus dem Hintergrund, sondern reflektieren
bläuliche Strahlung, die von sehr heißen, intensiv leuchtenden Ster-
nen dicht vor ihnen ausgeht.
Der gezeigte Reflexionsnebel trägt den Katalognamen IC 4592,
und die Beleuchtungsquelle – das Auge des Pferdes (links von der
Mitte) – ist die etwa 440 Lichtjahre entfernte Hauptkomponente des
Trios Nü Scorpii, das mit bloßem Auge als ein Stern erscheint und
den alten arabischen Namen Jabbah trägt. Ein zweiter Reflexions-
nebel namens IC 4601 umgibt die beiden Sterne rechts oben. Für
das Bild hat der Astrofotograf Robert Gendler Aufnahmen seiner
Kollegen Jim Misti und Steve Mazlin elektronisch nachbearbeitet.

ROBERT GENDLER, JIM MISTI UND STEVE MAZLIN

BILD DES MONATS


FORSCHUNG AKTUELL
FORSCHUNG AKTUELL

ALBERT GERDES, AWI BREMERHAVEN

o
K LIMATOLOGIE Im treibenden Packeis musste sich
Diesen Artikel können die Vidar Viking (links) exakt senk-

Riviera in der Arktis Sie als Audiodatei beziehen,


siehe: www.spektrum.de/audio
recht über dem Bohrloch halten. Um ihr
dies zu erleichtern, kreuzten zwei andere
Eisbrecher im Luv-Bereich der Meeres-
Vor 55 Millionen Jahren war das Wasser am Nordpol bis zu 24 Grad strömung vor ihr: die schwedische Oden
Celsius warm. Das zeigen Gesteinsbohrungen einer europäischen (Mittelgrund) und die atomgetriebene
russische Sowjetski Sojus (Hintergrund).
Expedition im Arktischen Meer.

Von Sven Titz Das Unternehmen erschien gewagt: zu zermalmen, die auf das Bohrschiff zu-
Von dem schwedischen Eisbrecher Vidar trieben. Dieses schaffte es so, stets genau

P olare Eiskappen gibt es – gemessen


an geologischen Zeiträumen – noch
nicht lange. Vor 55 Millionen Jahren,
Viking aus sollte tausend Meter unter
dem Meeresspiegel ins Gestein gebohrt
werden. Was schon in einem normalen
senkrecht über der Untersuchungsstelle
zu verharren.
Das erbohrte Sedimentgestein stammt
als das Paläozän ins Eozän überging, Ozean eine große Herausforderung dar- vom Lomonossow-Rücken, der sich bis
herrschte auf der Erde ein viel stärkerer stellt, ist in der Arktis noch um einiges auf rund hundert Kilometer dem Nord-
Treibhauseffekt als heute: Die Luft ent- schwieriger. Dicht an dicht strömende pol nähert. Dieser Teil der Erdkruste war
hielt mehr als fünfmal so viel Kohlen- Packeisschollen drohen sich am Bohr- vor ungefähr 57 Millionen Jahren von
dioxid. In diesem sehr warmen Klima schiff zu stauen und es von der Untersu- der eurasischen Kontinentalplatte abge-
waren die Pole eisfrei. chungsstelle fortzutreiben, wodurch das brochen, nach Norden gedriftet und da-
Erst vor 43 Millionen Jahren began- Bohrgestänge abbrechen kann. bei abgesunken. Auf dem Rücken lager-
nen Gletscher die Antarktis zu überzie- Um das zu verhindern, heuerte das ten sich im Lauf der Jahrmillionen Sedi-
hen. Wann am Nordpol die Vereisung Team der Arctic Coring Expedition mente ab – mit einer Rate von bis zu
einsetzte und wie sie ablief, war dagegen (ACEX) zwei weitere Eisbrecher an: die zwei Zentimetern pro Jahrtausend.
bislang kaum bekannt. Jetzt liefert die russische, nuklear betriebene Sowjetski Die Bohrung hat 430 Meter davon zu
Auswertung einer europäischen Arktis- Sojus und die schwedische Oden. Sie Tage befördert. Sie dokumentieren Klima
expedition vom August 2004 interessante kreuzten im Luv der Meeresströmung und Leben der vergangenen 56 Millionen
Antworten – und wirft neue Fragen auf. vor der Vidar Viking, um die Eisschollen Jahre im arktischen Becken. Zuvor hatten

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
nur Sedimentkerne der vergangenen
200 000 bis 500 000 Jahre und ein paar
vereinzelte Befunde aus früheren Epochen
existiert. Mit einem Schlag bietet sich so-
mit nun ein Blick in die Geschichte des
arktischen Klimas, der über hundertmal
so weit reicht wie bisher. Allerdings sam-
melte sich zu manchen Zeiten – zwischen
44 und 16 Millionen Jahre vor heute –
nur ziemlich wenig Material an, was die

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Interpretation erschwert.

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In einer »Onshore Science Party« mit

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Bohrung

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32 Teilnehmern, die unter der Leitung

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von Ursula Röhl vom 8. bis 23. Novem-

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ber 2004 im Bohrkernlager der Univer-

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sität Bremen stattfand, wurden die kost-

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baren Bohrkerne untersucht und ausge-
wertet. Ein großes internationales For-

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Bei einer Expedition im August Tromsø

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2004 bohrte der schwedische Eis-
brecher Vidar Viking 430 Meter tief in den
Lomonossow-Rücken, der sich bis auf
rund hundert Kilometer dem Nordpol nä-
hert. Die gewonnenen Sedimentproben Meter (relativ zum Meeresspiegel)
bilden ein lückenloses Klimaarchiv der
Arktis in den letzten 56 Millionen Jahren. – 5000 – 3000 –2000 –1000 –200 –50 0 50 200 400 600 800

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 15
r Fachartikeln die neuen Erkenntnisse, die umgebenden Meeren. Die Situation glich Steinchen in das Sediment gelangte –
FORSCHUNG AKTUELL

sich dabei über die einstigen Lebens- und somit derjenigen im heutigen Schwarzen etwa per Treibholz oder durch Tiere.
Klimabedingungen der Arktis ergaben Meer, das ebenfalls relativ salzarm ist. Wenn sich Morans Deutung bestä-
(Nature, Bd. 441, S. 601, 606 und 610). Während des Eozäns wurde das Was- tigt, muss die Nordpolarregion ungefähr
Manches davon ist frappierend. So ser am Nordpol noch süßer als zuvor. Das zur gleichen Zeit vereist sein wie die Ant-
fand Apply Sluijs von der Universität Ut- schließt ein Team um Henk Brinkhuis, arktis. Bislang hatten Klimaforscher an-
recht (Niederlande) zusammen mit zahl- ebenfalls von der Universität Utrecht, ins- genommen, dass die ersten Eisschollen
reichen Kollegen heraus, dass am Nord- besondere aus dem massenhaften Fund frühestens vor 10 Millionen Jahren in der
pol vor 55 Millionen Jahren Verhältnisse von Sporen des Algenfarns Azolla. Dessen Arktis schwammen. Allerdings spricht
herrschten wie heute am Mittelmeer: heutige Verwandte dienen oft als Zier- angesichts global wirkender Klimapro-
Das Wasser an der Oberfläche war bis zu pflanzen in Süßwasser-Aquarien. zesse einiges dafür, dass die Pole tatsäch-
24 Grad Celsius warm. Dieser Wert liegt Die Algenfarnzeit erreichte ihren lich synchron abkühlten. Das würde
um mindestens 15 Grad über den bishe- Höhepunkt vor ungefähr 49 Millionen auch gut zu neuen Resultaten eines inter-
rigen Schätzungen. Jahren. Offenbar war das arktische Was- nationalen Teams um Jörg Schäfer vom
serbecken damals von den salzhaltigeren Lamont-Doherty Observatory in Pali-
Einzeller als Temperatursonden Meeren ringsum so gut wie abgeschnit- sades (New York) über das Ende der
Zur Temperaturbestimmung nutzten die ten und im Sommer von Azolla bedeckt. jüngsten Eiszeit passen. Deren kälteste
Forscher eine neue Methode. Als Thermo- Süßwasserzuflüsse ließen es anscheinend Phase vor 18000 Jahren klang demnach
meter dienen dabei Fettstoffe in den Zell- manchmal überlaufen. Ein Hinweis da- in den mittleren Breiten auf der Nord-
wänden von einzelligen Organismen aus rauf sind Funde des Algenfarns auch in und Südhalbkugel ebenfalls gleichzeitig
der Gruppe der Crenarchaeota, die zu den Sedimenten benachbarter Becken. ab (Science, Bd. 312, S. 1510).
– früher Urbakterien genannten – Archaea Vor 48,3 Millionen Jahren ging die Klimaschwankungen haben viele Ur-
gehören. Zu Temperaturfühlern macht sie Süßwasserperiode mit dem Eindringen sachen. Die Eiszeiten der letzten Jahrmilli-
eine ungewöhnliche Eigenschaft: Sie bau- salzigen, warmen Meerwassers zu Ende. on wurden wohl durch periodische Ände-
en in die Lipide ihrer Zellwand umso mehr In der Folge sanken die Temperaturen ra- rungen der Erdbahn ausgelöst und durch
Ringe aus fünf oder sechs Kohlenstoff- pide: Schon 3 Millionen Jahre später gab Schwankungen der Treibhausgaskonzent-
atomen ein, je wärmer die Wassertem- es möglicherweise das erste Eis in der rationen verstärkt. Vor 50 Millionen Jah-
peratur ist. Damit passen sie, so die Ver- Arktis. Als Indiz dafür wertet das Team ren hingegen dürften es primär diese Gase
mutung, die mechanischen Eigenschaften um Kathryn Moran von der Universität gewesen sein, deren Schwund das Treib-
und die Durchlässigkeit der Membran den von Rhode Island in Narragansett ein haus in eine Kühltruhe verwandelte. Doch
Umgebungsbedingungen an. einzelnes Steinchen im ansonsten fein- viele Details liegen noch im Dunkeln. Bis
Bei paläoklimatologischen Studien körnigen Sediment. Es könnte von einem das Klima – sowie die Flora und Fauna –
dienen sonst oft kalkhaltige Mikrofos- Eisberg in das Meeresbecken verfrachtet der ferneren Vergangenheit wirklich ver-
silien – etwa Foraminiferen – zur Tempe- worden sein, nachdem ein Gletscher das standen ist, dürften sich noch einige Sedi-
raturbestimmung. Diese waren im Bohr- Gesteinsfragment an Land abgeschürft mentschichten in den Ozeanen ablagern.
kern vom Lomonossow-Rücken jedoch und zur Küste transportiert hatte, wo der
rar. Daraus schließen die Forscher um Eisberg in See stach. Allerdings sind auch Sven Titz ist promovierter Meteorologe und freier
Sluijs, dass die tieferen Wasserschichten andere Mechanismen denkbar, wie das Wissenschaftsjournalist in Berlin.
kaum Sauerstoff enthielten; denn Fora-
miniferen brauchen das gelöste Gas zum
Überleben. Mit der Wärme an der Was- AST RON O M I E
seroberfläche ist der Sauerstoffmangel in
der Tiefe sehr gut vereinbar.
Die gemessenen Badewassertempera- Prager Planetensturz
turen lassen sich mit Computermodellen
des Klimas allerdings noch nicht rekon- Ende August beschloss die Internationale Astronomische Union auf
struieren. Als mögliche Erklärung ver- ihrer Generalversammlung in der tschechischen Hauptstadt, Pluto
weist das Team um Sluijs auf polare stra- den Planetenstatus abzuerkennen – Konsequenz einer Neudefinition
tosphärische Wolken, die in Computersi-
mulationen nicht berücksichtigt werden der Körper im Sonnensystem.
und die Troposphäre wärmen. Doch die
Ursachenforschung dürfte die Klimatolo-
gen noch eine Weile beschäftigen. Von Götz Hoeppe sche Rechtschreibung längst schmerzvoll
Sluijs und seine Kollegen vermuten, bewusst ist, erfuhren nun auch Mitglieder
dass das arktische Becken an der Schwel-
le vom Paläozän zum Eozän mit Brack-
wasser gefüllt war, das eine starke Schich-
M achen sich Wissenschaftler daran,
Begriffe neu zu definieren, die selbst
für Kinder alltäglich sind, ist ihnen öffent-
des weltgrößten Astronomenverbands, als
sie versuchten, auf eine einfache Frage
eine sinnvolle und verständliche Antwort
tung aufwies: Die Wasserdichte nahm liches Interesse und Misstrauen sicher – zu geben: Was ist ein Planet?
mit der Tiefe deutlich zu. Anders als der- vor allem, wenn es dabei prominente Op- Seit ihrer Gründung im Jahr 1919
zeit gab es nur wenig Austausch mit den fer gibt. Was der Kommission für deut- bemüht sich die Internationale Astrono-

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
mische Union (IAU) darum, Ordnung eines etwa 2400 Kilometer großen Him- Als sich nach zwei Jahren keine Eini-
in unser Bild des Weltalls zu bringen. Sie melskörpers im äußeren Sonnensystems gung abzeichnete, löste der IAU-Präsi-
definiert Fachbegriffe, benennt Himmels- bekannt gaben, der die Sonne alle 557 dent Ronald Ekers von der Australia Te-
objekte und regelt die Grenzen zwischen Jahre umläuft. Vorläufig wurde das lescope National Facility die Runde auf
den Sternbildern. Auch über eine neue Objekt 2003 UB313 benannt, inoffiziell und setzte ein kleineres Komitee ein, das
Planetendefinition zerbrachen sich ihre hieß es bald Xena. nicht nur aus Spezialisten bestand – in
Mitglieder bereits die Köpfe. Schon seit 1992 hatten Astronomen der Hoffnung, auf diese Weise schneller
Im Jahr 1995 hatten zwei Forscher- im äußeren Sonnensystem Hunderte zu einer Lösung zu kommen und auch
gruppen so genannte Braune Zwerge kleinerer Körper gefunden, für die sich »die sozialen Auswirkungen einer neuen
identifiziert, Grenzgänger zwischen Ster- bald der Sammelname Transneptun- Planetendefinition« im Blick zu behal-
nen und gasförmigen Riesenplaneten wie Objekte durchsetzte, doch erst mit Xena ten; denn schließlich sollte diese langfris-
Jupiter und Saturn. Im Gegensatz zu Pla- kannte man eines, das größer als ein tig in Schulbücher aufgenommen wer-
neten setzen Sterne als »Fusoren« durch etablierter Planet ist – der 1930 entdeck- den. Das Komitee musste den Spagat
die Kernverschmelzung Energie frei, und te Pluto ist mit seinem Durchmesser von zwischen wissenschaftlicher Präzision
weil Braune Zwerge zumindest zeitweilig 2300 Kilometer geringfügig kleiner. und einfacher Verständlichkeit meistern
Deuterium in Helium verwandeln, gehö- und eine Konvention vorschlagen, die
ren sie in diese Klasse (siehe SdW 5/2006, Suche nach Präzision sich durchsetzt, weil sie einleuchtet, und
S. 42). Planeten sind dagegen »Nicht-Fu- und sozialer Akzeptanz nicht allein, weil sie vorgeschrieben ist.
soren, die Fusoren umlaufen«. Sowohl die Dass die Existenz der Transneptune Plu- Da die IAU über keine exekutive Gewalt
1993 um einen Neutronenstern gefun- tos Planetenstatus in Frage stellen würde, verfügt, blieb ihr nichts anderes übrig.
denen Pulsar-Planeten als auch die seit konnte schon nach der Entdeckung von Zu den sieben Mitgliedern des Ko-
1995 entdeckten extrasolaren Planeten Varuna (Durchmesser: etwa 900 Kilome- mitees gehörten führende Planetenfor-
sind damit eindeutig klassifiziert. ter; aufgespürt im Jahr 2001), Quaoar scher wie Iwan Williams von der Queen
War damit die obere Grenze des pla- (1250 Kilometer; 2002) und Sedna Mary University in London, Junichi Wa-
netaren Massenspektrums definiert, blieb (1600 Kilometer; 2004) nicht überra- tanabe als Pressesprecher des Nationalen
die Frage nach einer Mindestgröße für schen. Die IAU reagierte im Jahr 2003 Astronomischen Observatoriums von
Planeten weiterhin ungeklärt. Sie stellte und berief 19 Planetenforscher in ein Ko- Japan und der Astronomie-Historiker
sich, als Mike Brown, Chad Trujillo und mitee, das bis zur nächsten Versammlung Owen Gingerich von der Harvard-Uni-
David Rabinowitz vom California Ins- in Prag einen Vorschlag für eine neue versität in Cambridge (Massachusetts) –
titute for Technology die Entdeckung Planetendefinition erarbeiten sollte. außerdem die Autorin Dava Sobel, die r

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 17
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FORSCHUNG AKTUELL

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»Planeten«

»Zwerg-
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ABSTIMMUNG: IAU / LARS HOLM NIELSEN; OBEN: IAU / MARTIN KORNMESSER

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Der Internationalen Astronomischen Union (links bei der Tagung in Prag) zufolge
sind in unserem Sonnensystem derzeit nur acht Planeten bekannt. Damit fiel
ihrem Schiedsspruch nicht nur Pluto zum Opfer, sondern auch der altbekannte Merk-
spruch »Mein Vater erklärte mir jeden Sonntag unsere neun Planeten«, in dem jeder
Anfangsbuchstabe für den eines Planeten stand. Hermann Gottschewski aus Tokio
schlug der Redaktion von Spiegel Online folgenden Ersatz vor: »Mit Vorsatz entwende-
ten Medienrummel jagende Sternforscher unseren Neunten!«

r mit wissenschaftshistorischen Büchern innern Astronomen häufig an Kartoffeln. Gleich zu Beginn der Prager Gene-
wie »Längengrad«, »Galileos Tochter« und Erst ab einem Durchmesser von 800 Kilo- ralversammlung am 16. August veröf-
»Die Planeten« bekannt wurde. metern sind sie einigermaßen kugelförmig. fentlichte das Planetendefinitions-Komi-
Wie in der heutigen Astronomie üb- Gemäß dieser Definition behalten tee seinen Resolutionstext und löste da-
lich, sollte die Definition physikalisch alle neun im Volksmund bekannten Pla- mit eine weltweite Nachrichtenlawine
motiviert sein. Doch woran sollte man neten ihren Status bei, also Merkur, Ve- aus, die den planetaren Zuwachs verkün-
sich orientieren, am Abstand zur Sonne, nus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, dete. Doch die Reporter hatten die
der Umlaufperiode, Bahnebene, Masse Neptun und Pluto. Doch weitere Ob- Streitfreudigkeit der Astronomen unter-
oder Form des Planetenkörpers? Jedes jekte kämen hinzu, und zwar neben eini- schätzt, die diese im Lauf der folgenden
dieser Kriterien erscheint mehr oder we- gen Transneptunen auch der bereits 1801 Woche auslebten. Manche beklagten, die
niger willkürlich. Als sich die Mitglieder entdeckte Kleinplanet Ceres, der die Son- Definition sei zu kompliziert. So bedau-
des Komitees Ende Juni 2006 in der Pa- ne zwischen Mars und Jupiter umläuft. erte Leo Blitz von der Universität von
riser Sternwarte trafen, einigten sie sich Um die Flut der Kandidaten einzu- Kalifornien in Berkeley, er könne seinem
schnell auf zwei Grundsätze: Planeten schränken, ergänzte das Komitee die De- sechsjährigen Sohn nun nicht mehr er-
sollen rund sein und einen Stern umlau- finition durch ein historisches Aus- klären, was ein Planet sei, denn dafür
fen, ohne selbst ein Stern oder Begleiter schlusskriterium: Allein Objekte, die bis setze die Neudefinition zu viel Wissen
eines Planeten zu sein. zum Jahr 1900 entdeckt wurden, sollten voraus. Andere, wie David Nesvorny
als »klassische Planeten« gelten. Während vom South-West Research Institute in
Kugeln statt Kartoffeln der 1930 entdeckte Pluto aus dieser Ka- Boulder (Colorado), zeigten spitzfindig
Rund sind Himmelskörper, wenn die Ei- tegorie hinausfiele, wäre Ceres eine Klas- deren Schwächen auf. Computersimula-
gengravitation ihre Form bestimmt und se aufgestiegen. Als Entschädigung für tionen zufolge räumten entstehende Pla-
sich in ihnen überall die Schwere der äu- seine verlorene Ehre sollte Pluto fortan neten ihre Umlaufbahn von kleineren
ßeren Schichten und der Druck des In- als Prototyp der »Plutone« gelten, zu de- Gesteinsbrocken frei. Erst wenn sie die-
neren die Waage halten (hydrostatisches nen auch die größeren, also runden, sen Bereich dominierten, könne man
Gleichgewicht). Kleinkörper des Sonnen- Transneptune zu zählen seien. Die ver- von einem Planeten reden.
systems wie Kometen und die meisten As- bleibenden Nichtplaneten auf Umlauf- Über das willkürliche Entdeckungs-
teroiden scheiden als Planeten aus, denn bahnen um die Sonne seien als Kleinkör- datum gewann die Bedingung, ein Pla-
sie haben unregelmäßige Formen und er- per des Sonnensystems zu bezeichnen. net müsse seine Umlaufbahn freigeräumt

18 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
haben, die Oberhand und ersetzte dieses gresshalle versammelten, drohte ihnen angenommen, nicht jedoch der Vor-
in der überarbeiteten Resolution, die nur eine Blamage: Würden sie vor den Au- schlag, Pluto und seine Kollegen zukünf-
für das Sonnensystem und nicht für an- gen der Weltöffentlichkeit daran schei- tig »plutonische Objekte« zu nennen.
dere Planetensysteme gelten sollte. Da tern, sich darauf zu einigen, was die nach Vorerst ungeklärt bleibt zudem, was Pla-
Pluto letztere Bedingung nicht erfüllt, Sonne, Mond und Sternen wohl be- neten um andere Sterne ausmacht. Um
sei er aus dem Klub der Planeten zu ver- kannteste Kategorie von Himmelsob- darüber genauer nachzudenken, haben
bannen, eigne sich jedoch als Prototyp jekten ausmacht? die Astronomen weitere drei Jahre Zeit –
der »Zwergplaneten« (dwarf planets). Ob Doch am Schluss ging alles gut: bis zur nächsten Generalversammlung in
dieser Vorschlag mehrheitsfähig wäre, Nach einer hitzigen Diskussion wurde Rio de Janeiro.
war bis zuletzt offen. die überarbeitete Resolution mit den
Als sich die Astronomen am Nach- Stimmen von zwei Dritteln der 474 an Götz Hoeppe ist Redakteur bei Spektrum der Wis-
mittag des 24. August in der Prager Kon- der Abstimmung beteiligten Gelehrten senschaft.

PH YSIK Gesetzes wegen, sondern auch auf Grund


der Natur der geblitzten Raser. Es han-
Geblitzt: Elektronen Diesen Artikel können
delte sich nämlich nicht etwa um Per-
sonen, die schneller durchs Labor rann-
in der Radarfalle Sie als Audiodatei beziehen,
siehe: www.spektrum.de/audio
ten, als die Polizei erlaubt, sondern um
Leitungselektronen in metallähnlichen
Festkörpern. Dormann und seine Mitar-
Georg Ohm ermittelte den Zusammenhang zwischen Stromstärke beiter maßen mit ihrer Apparatur die
und Spannung einst rein empirisch, ohne die Träger des Stroms – die Geschwindigkeit dieser Teilchen beim
Stromfluss (Physical Review Letters, Bd.
Elektronen – selbst zu kennen. Dass auch diese seinem berühmten
96, Artikel 037601). So wollten sie prü-
Gesetz folgen, konnten erst jetzt Karlsruher Forscher zeigen. fen, ob das bekannte Ohm’sche Gesetz
auch für einzelne Elektronen gilt. An
sich sagt es ja nur aus, dass die Strom-

u
Um die Bewegung von Elektronen Von Stefan Maier stärke insgesamt proportional zur ange-
in einem Leiter zu messen, nutzten legten Spannung ist.
Physiker von der Universität Karlsruhe
aus, dass die Teilchen, wenn sie in einem
Magnetfeld zur Seite gekippt werden, wie
O b sie sich einen Kindheitstraum
verwirklicht haben, sei dahinge-
stellt. Fest steht nur, dass Malte Drescher
Wie aber verhalten sich die Elektro-
nen, aus denen der Strom besteht?
Nimmt die Geschwindigkeit, mit der sie
ein Kreisel präzedieren und elektromag- und Elmar Dormann von der Univer- durch den Leiter wandern, gleichfalls
netische Strahlung aussenden. Die Ge- sität Karlsruhe zusammen mit Noam mit der Spannung zu?
schwindigkeit der Präzession – und damit Kaplan von der Hebräischen Universität Das wollten die Karlsruher Physiker
die Frequenz der Strahlung – steigt mit in Jerusalem letzthin Verkehrspolizisten herausfinden. Dazu mussten sie aller-
der Feldstärke. Die Forscher umgaben spielten. Dazu hatten sie in ihrem Labor dings erst einmal eine Methode entwi-
den Leiter daher mit einem inhomogenen eine Radarfalle aufgestellt – Marke Ei- ckeln, um die Geschwindigkeit der Elek-
Magnetfeld. Ein wanderndes Elektron genbau, wohlgemerkt, und nicht von der tronen direkt zu messen – eine mikrosko-
verriet sich so durch eine Änderung in der Polizeiwache ausgeliehen. pische Radarfalle eben. Glücklicherweise
Frequenz der von ihm ausgesandten Knöllchen konnten die Forscher al- konnten sie dabei auf eine Variante der
Strahlung. lerdings keine verteilen – nicht nur von Magnetresonanztomografie zurückgrei- r

präzedierendes Elektron Magnet


ART FOR SCIENCE / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Elektronen transportierender Leiter abgestrahlte Radiowellen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 19
LINKS: MALTE DRESCHER; MITTE: AUS: M. DRESCHER ET AL., PHYSICAL REVIEWS LETTERS 2006, BD. 96, NO. 3; RECHTS: DOMINIK STÖFFLER
FORSCHUNG AKTUELL

Fluoranthen

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Als elektrischer Leiter diente ein Stab aus einer speziellen organischen Verbin-
dung (oben links). Darin ist der polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoff
Fluoranthen zu Stapeln übereinandergetürmt, die durch Ketten von Hexafluorophos-
phat getrennt sind (ganz rechts). Mit ihrer Apparatur konnten die Karlsruher Forscher
die Spindichte im Leiter messen und farbcodiert abbilden (oben rechts). Hexafluoro-
phosphat

r fen, die schon seit Längerem etwa in der chen lässt sich das Taumeln nicht mit Auf den ersten Blick schien das Ver-
medizinischen Forschung dazu dient, den bloßem Auge erfassen, sondern nur fahren damit zum Scheitern verurteilt.
Blutfluss im menschlichen Adernsystem durch Radiowellen, welche die präze- Doch gibt es einen eleganten Ausweg,
zu messen. Das Verfahren beruht auf den dierenden Elektronen aussenden. Die mit dem die Karlsruher Forschergruppe
Kernspins fließender Moleküle, und da Frequenz dieser Strahlung hängt dabei doch noch zum Erfolg kam: Sie ließ ihre
Elektronen ja auch einen Spin haben, von der Stärke des Magnetfelds ab. Radarfalle zweimal zuschnappen.
sollte es mit ihnen prinzipiell genauso Dies machten sich die Forscher bei Der erste Puls diente dabei dazu, die
funktionieren. ihrer Radarfalle zu Nutze. Der Trick be- Spins aller Elektronen des Leiters gleich-
stand darin, dass sie den Leiter einem zeitig in dieselbe Richtung – sagen wir
Elektronen drehen Pirouetten ungleichförmigen Magnetfeld aussetzten, aus der Vertikalen nach links – zu kip-
Spins gehören zu jenen Eigenschaften dessen Intensität vom einen Ende zum pen. Wie Eisläufer, die im selben Mo-
der atomaren Welt, die man am besten anderen hin anstieg. Elektronen an ver- ment in der gleichen Ausgangsposition
einfach als gegeben hinnimmt, ohne ge- schiedenen Orten strahlten je nach der eine Pirouette beginnen, fingen die klei-
nau nachzufragen, was das denn bitte lokalen Feldstärke beim Präzedieren so- nen Stabmagneten daraufhin zu taumeln
schön sei. In die Formeln der Quanten- mit Radiowellen unterschiedlicher Fre- an, wobei ihre Spitzen kleine horizontale
mechanik gestopft, beschreiben sie die quenzen aus. Kreise beschrieben.
Tatsache, dass subatomare Teilchen so- Stellen Sie sich nun vor, dass eines Das geschah anfangs synchron: Die
wohl ein Drehmoment haben als auch von ihnen von einer Stelle zu einer ande- Spins zeigten zu jeder Zeit alle in diesel-
magnetische Kräfte aufeinander ausüben ren wanderte. Dabei geriet es in ein stär- be Richtung. Da die Elektronen an den
können. Somit gleichen sie in gewisser keres oder schwächeres Magnetfeld und verschiedenen Orten aber unterschied-
Weise einerseits Miniaturkreiseln und strahlte entsprechend bei einer anderen lich schnell präzedierten, gerieten sie
andererseits winzigen Stabmagneten mit Frequenz. Daraus sollte sich im Prinzip schon nach Bruchteilen einer Sekunde
Nord- und Südpol. die zurückgelegte Strecke und in Verbin- aus dem Takt. Wie die Arme von zwei
Die Elektronen eines Leiters spüren dung mit der verstrichenen Zeit auch die Eisläufern, die sich bei einer Pirouette
folglich ein äußeres Magnetfeld und Wanderungsgeschwindigkeit berechnen unterschiedlich schnell drehen, nach ei-
richten ihre Spinachse parallel zu diesem lassen. ner Weile in verschiedene Richtungen
aus. Wird diese Achse gekippt, beginnt In der Realität hatten es die Forscher weisen, so herrschte bald auch ein Chaos
sie um die Feldlinien zu »präzedieren«. jedoch nicht nur mit einem einzelnen unter den Spins: Jeder hatte eine andere
Diese Bewegung gleicht dem Taumeln Elektron zu tun, sondern mit unvorstell- Orientierung.
eines rotierenden Kinderkreisels, wenn bar vielen, die sich mit unterschied- In dieser Situation gaben die Karls-
man ihn seitlich anstößt. lichem Tempo in die verschiedensten ruher Forscher den Elektronen mit dem
Elektronenspins kann man natürlich Richtungen bewegten. Ihre Signale über- zweiten Puls einen erneuten Stoß. Er er-
nicht einfach mit der Hand schubsen, lagerten sich folglich zu einem chao- folgte jedoch gleichsam von der anderen
wohl aber mit einem kurzen Strahlungs- tischen Durcheinander, das unmöglich Seite und kippte die Stabmagnete um
blitz im Mikrowellenbereich. Desglei- zu entwirren war. 180 Grad. Dadurch machten sie auf der

20 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


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21
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r Indem die Karlsruher Forscher die
FORSCHUNG AKTUELL

Struktur dieses Signals analysierten,


konnten sie daher sowohl die mittlere
Springers
Geschwindigkeit der Elektronen als auch EINWÜRFE von Michael Springer
deren Variationsbreite bestimmen.
Tatsächlich galt es weitere Feinheiten
zu berücksichtigen. So erzeugten die flie-
ßenden Elektronen selbst ein Magnetfeld Ist der Kugelblitz nur ein Witz?
zunächst unbekannter Stärke, das sich
mit dem von außen angelegten überla- Wilde Theorien durchzucken Physikerhirne.
gerte. Das Team um Dormann musste
das Ausmaß dieses Störeffekts ermitteln Das Leben ist ungerecht. Im Lauf der Jahrzehnte haben Tausen-
und berücksichtigen – keine leichte Auf- de einen Kugelblitz erlebt – ich nicht. Wie gern sähe ich einen
gabe. Doch die Mühe lohnte; denn das faust- bis kopfgroßen Lichtball (heiß oder kalt?) geisterhaft durchs geschlossene
Ergebnis entsprach voll und ganz der Er- Fenster hereinschweben (das Fensterglas lädierend oder spurlos?), im Zimmer
wartung: Die Elektronen wanderten im auf- und abschweben (lautlos oder leise brummend?) und wieder entschwinden
Mittel umso schneller, je höher die ange- (sanft oder mit einem Knall?).
legte Spannung und damit die Strom- So sehr die Berichte im Detail variieren, die Sichtungen sind wohl ernst zu neh-
stärke war. men. Nur: Was fängt die Wissenschaft mit einem Phänomen an, das für gründ-
liches Beobachten zu flüchtig, für vernünftige Statistik zu selten ist?
Ohm hatte – natürlich – Recht! Im holländischen Eindhoven kamen Mitte August Physiker aus aller Welt zum
Im Ernst hatten die Karlsruher Wissen- »9. Internationalen Symposium über Kugelblitze und unkonventionelle Plasmen«
schaftler ja auch nicht wirklich bezwei- zusammen. Die Vortragsthemen geben einen Eindruck von einem Gebiet am
felt, dass das Ohm’sche Gesetz genauso Rande der normalen Wissenschaft. Wenn die Physik einem kunstvoll gewebten
für die Bewegung der Elektronen selbst Teppich gleicht, dann hängen die Kugelblitzforscher daran wie die Fransen: fest
gelten würde; denn anders ließe es sich verbunden, aber nicht ganz dicht verwoben.
gar nicht erklären. Doch getreu der Ma- Während ein belgisch-amerikanisches Physikerduo ein vibrierendes Plasma-
xime »Probieren geht über Studieren« modell vorrechnet, aus dem sich das gelegentlich gehörte Summen von Kugel-
machten sie den Test trotzdem. Außer- blitzen zwanglos ergeben soll, lassen russische Experimente aus Hochspan-
dem bot er die Gelegenheit, ein Mess- nungsentladungen unter Wasser tatsächlich kurzlebige Plasmakugeln in die Luft
prinzip zu erproben, das sich auch für steigen. Andere Forscher greifen tollkühn zu extremeren Erklärungsmitteln.
andere Zwecke eignet. Eine Radarfalle So meint der griechische Physiker Philippos M. Papaelias von der Universität
für Elektronen, die nicht nur deren Ge- Athen, alles – auch ein eigenes Erlebnis – spräche für die Abkunft der Kugelblitze
schwindigkeit, sondern auch ihre Dich- von winzigen Antimaterie-Meteoren. Die würden von Antimaterie-Galaxien in
teverteilung bestimmt und sie in hüb- den Tiefen des Alls ausgehen, gelegentlich die Erde erreichen und im besten Fall
schen Bildchen festhält, hätte viele denk- zusammen mit einer Prise irdischer Materie unschädliche Leuchtkugeln bilden;
bare Anwendungen – zum Beispiel zur im schlimmsten Fall könnten sie gleich die ganze Erde in einen Kugelblitz ver-
Untersuchung von Fehlstellen in Halb- wandeln.
leitern.
Bis das gelingt, müssen die Forscher Dagegen wirkt es geradezu stoisch, wenn ein anderer Vortrag sich dem Thema
aber erst noch einen Weg finden, das Gesundheitsgefährdung durch Kugelblitzstrahlung widmet. Drei Physiker aus
Verfahren auf herkömmliche Materialien Georgien wiederum finden, die einfachste Erklärung für das Phänomen sei ein
zu erweitern. In ihrem Experiment be- Bose-Einstein-Kondensat, das sich bei Raumtemperatur als makroskopisches
nutzten sie nämlich kein simples Metall, Quantenobjekt majestätisch durchs Zimmer wälzt. Ein rumänisches Physiker-
sondern einen exotischen organischen team schließlich setzt auf wundersame Selbstorganisation: Der Plasmaballon sei
Leiter, der Säulen aus dem polyzykli- ein komplexes System, das rundum Ordnung einsauge und sich, da lern- und er-
schen aromatischen Kohlenwasserstoff innerungsfähig, erstaunlich selten an den Möbeln stoße.
Fluoranthen enthält. Der Grund: Die Nachdem wir uns die billigen Lachtränen aus den Augen gewischt haben, soll-
Elektronenspins drehen darin besonders ten wir einräumen, dass aus dieser Zwielichtzone zwischen seriöser Plasma-
ausdauernd ihre Pirouetten. Selbst mit physik und Ufo-Sichtung durchaus eines Tages eine spektakuläre Entdeckung
dieser Einschränkung und ohne die Aus- hervorkommen könnte. Wie schön das wäre: Ein Kugelblit-
sicht auf baldige praktische Anwen- zologe, sagen wir aus Usbekistan, präsentiert ein unkonven-
dungen aber bleibt ein Resultat, das sei- tionelles Plasmamodell, das endlich die Kernfusion zu einer
nen eigenen Reiz hat. Er liegt in der Er- technisch beherrschbaren, wirtschaftlich tragbaren Energie-
kenntnis, dass Ohm in einem tieferen quelle macht. Schlagartig wird die Menschheit alle Energie-
Sinne Recht hatte, als er selbst ahnen sorgen los, nie wieder Krieg um knappes Erdöl …
konnte. Sicher, nur ein Traum, so unwahrscheinlich wie die Chan-
ce, dass ich je einen Kugelblitz erlebe – aber ganz und gar
Stefan Maier ist Professor für Physik an der Universi- unmöglich ist beides nicht.
tät Bath (Großbritannien).

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
EVOLUTION z
Was Fischen
Beine machte
Die ersten Vierfüßer hoben nur den Kopf
zum Luftholen aus dem Wasser. Dazu
stemmten sie sich hoch. Den Landgang
wagten sie erst später.

Von Jennifer A. Clack vermutet. Wann das Ereignis


stattgefunden hatte, ob irgend-

Z
u den folgenreichsten Schrit- wann im Devon oder gleich da-
ten in der Evolution irdischen nach, war recht unsicher. Die

RA
Lebens gehörte die Verwand- Schätzungen reichten von vor 400

ÚL
M
AR
lung von Fischen in Landtiere. bis vor 350 Millionen Jahren. Für prä-

TÍN
Aus Flossen tragenden Wesen entstanden zisere Aussagen fehlten die Fossilien.
vierbeinige Kreaturen – Tetrapoden – Denn die Forscher kannten lange nur ei-
mit Fingern und Zehen. Ohne dieses Er- nen passenden Fisch, den ausgestorbenen
eignis hätte die Welt bis heute völlig an- Quastenflosser Eusthenopteron, und einen
ders ausgesehen: Weder Dinosaurier, we- einzigen Tetrapoden aus dem Devon,
der Frösche noch Vögel, Schlangen noch nämlich Ichthyostega, einen »Fischschä-
Säugetiere wären erschienen, natürlich dellurch« (siehe Bild S. 29). Dieser
auch nicht der Mensch. Manche Vertre- »Lurch« war jedoch schon zu sehr Vierfü-
ter der Tetrapoden mögen ihre Glied- ßer, als dass man von ihm über die Vor-
maßen verloren oder umgebaut haben, gänge viel hätte herleiten können.
doch ein ihnen gemeinsamer Vorfahre Die frühen Modelle zu dieser Evolu-
war mit vier Beinen ausgestattet. Zwei tion waren darum recht spekulativ. Am
saßen vorn und zwei hinten – an Stellen, bekanntesten wurde das Szenario, wel-
wo einmal Flossen geschlagen hatten. ches der Wirbeltierpaläontologe Alfred
Beine waren aber für den Landgang Sherwood Romer von der Harvard-Uni-
mitnichten das einzige neue Erfordernis. versität in Cambridge (Massachusetts) in
Für ein Leben außerhalb des Wassers den 1950er Jahren entwarf. Danach
brauchte es mehr neuartige Anpas- schleppten sich Fische ähnlich dem
sungen: zum Atmen, zum Hören, um Quastenflosser Eusthenopteron mit ihren
der Schwerkraft standzuhalten und zu muskulösen Flossen zu einem besseren
vielem anderen. Doch als sie das alles Gewässer, wenn ihr altes auszutrocknen
einmal errungen hatten, lag den Tetrapo- drohte. Auf Dauer gesehen, nahm Ro-
den das Land zu Füßen. mer an, hatte in Trockenzeiten einen Se-
Noch vor gut fünfzehn Jahren wuss- lektionsvorteil, wer mehr Strecke über
ten die Paläontologen kaum Genaueres Land bewältigte, denn der konnte die
über diese Evolution, vor allem nicht
über die Einzelschritte. Nur so viel stand
fest: Die Vierfüßer hatten sich aus be-

r
stimmten Fischen, den Fleischflossern, Der frühe Vierfüßer Acanthostega
entwickelt, zu denen die Lungenfische konnte mit seinen Beinen nicht lau-
und Quastenflosser gehören. Schon Ende fen. Die Tiere stemmten sich wahrschein-
des 19. Jahrhunderts hatte das der ameri- lich im warmen Flachwasser hoch, um
kanische Paläontologe Edward D. Cope Luft zu schnappen. r

24 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
letzten Wasserstellen noch erreichen.
Dieser Selektionsdruck sollte schließlich
die Beine hervorgebracht haben. Nach
Romers Modell verließen Fische zuerst
das Wasser, dann erst evolvierten Beine.
Dieses Bild stimmt heute nicht mehr,
denn zahlreiche neue Fossilien zeigen
den Übergang vom Wasser aufs Land
ganz anders. Auch sonst ist das Wissen
über die Evolution der frühen Tetrapo-
den erheblich angewachsen. Viele der al-
ten Vorstellungen über Vielfalt, Verbrei-
tung und ökologische Einnischung der
ersten Landwirbeltiere und ihrer Vorgän-
ger müssen von Grund auf korrigiert
werden.

Rätselhafter früher Vierbeiner


im Flachwasser
Wichtig sind für das Verständnis unter
anderem Fossilien der Gattung Acantho-
stega, eines der frühesten Tetrapoden
(siehe Bild links). Diese Versteinerungen
gehörten zu den ersten, die uns dazu ver-
anlassten, das Bild der Evolution der frü-
hen Landwirbeltiere zu revidieren. Acan-
thostega lebte vor rund 360 Millionen
Jahren im Gebiet des heutigen Ostgrön-
land. An sich hatte Erik Jarvik vom
Schwedischen Naturhistorischen Muse-
um in Stockholm diese Tiere schon 1952
anhand zweier unvollständiger Schädel-
decken beschrieben. Erst 1987 aber fan-
den meine Kollegen und ich in Grön-
land auch Überreste von anderen Kör-
perteilen.
Wie sich nun herausstellte, war Acan-
thostega anatomisch gesehen genau das
gesuchte Zwischenwesen zwischen Fisch
und voll entwickeltem Vierfüßer – nur
dass es keineswegs so aussah wie erwar-
tet. Dieses Tier besaß zwar schon Beine
und Füße, war aber zum Landleben
durchaus nicht gerüstet (siehe Kasten S.
27, mittleres Bild). Unter anderem hatte
es noch keine richtigen Fußknöchel.
Diese Beine, wohl eher noch Schwimm-
paddel, konnten das Körpergewicht au-
ßerhalb des Wassers sicherlich nicht tra-
gen. Lungen waren – neben Kiemen –
zwar vorhanden, doch bei den kurzen
Rippen, also ohne Brustkorb, wären sie
an Land kollabiert. Zu vieles an Acantho-
stega war unverkennbar noch fischmäßig.
Die Proportionen der Unterarmknochen
etwa erinnerten noch stark an die Brust-
flossen des Quastenflossers Eusthenopte-
ron. Tatsächlich trug das Tier auch einen
hohen paddelförmigen, von langen Flos-
senstrahlen durchzogenen Schwanz. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 25
r
EVOLUTION z
Das alles war verblüffend. Acantho-
stega, eindeutig ein Tetrapode, wirkt wie
achtzehiges Tier als Kuriosität und Miss-
bildung abgetan. Doch es gibt mehr
Paar großer Fangzähne auch noch einige
kleinere. Bei Acanthostega saßen in der
ein Wassertier. Seine nächsten Vorfahren solche unpassenden Funde. Skelettreste Außenreihe eher wenige größere Zähne,
müssen noch durch und durch Fische eines rätselhaften frühen Tetrapoden mit während die Größe der Innenzähne zu-
gewesen sein, die das nasse Element nie sechs Zehen, Tulerpeton getauft, waren rückgenommen war. Vermutlich fraßen
verließen. Die Extremitäten dieses Ge- schon früher in Russland entdeckt wor- die Tiere nicht mehr nur im Wasser, son-
schöpfs waren ganz klar an den Aufent- den. Auch Ichthyostega trug offenbar dern hielten öfter auch dabei mindestens
halt im Wasser angepasst. War das etwa mehr als fünf Zehen pro Fuß (siehe Bild den Kopf über Wasser.
die typische Lebenssituation der ur- S. 29). Das beweisen Fossilien dieses frü- Endlich gelang es nun, einige merk-
sprünglichen Tetrapoden? hen »Lurchs«, die wir auf unserer Grön- würdige Fossilien einzuordnen, die teils
land-Expedition gleichfalls fanden. seit Jahrzehnten in den Schubladen der
Mit dem Kopf voran Teilweise konnte die Entwicklungs- Museen gelegen hatten. Zu den spekta-
Die neuen Befunde zwangen uns zum genetik dieses Rätsel lösen. Zu den Steu- kulärsten davon gehört die Gattung Ven-
Umdenken. In welcher Reihenfolge hat- er- und Regulatorgenen, die an der Aus- tastega aus dem späten Devon. Schon
ten sich die einzelnen Körperteile bei der bildung von Flossen oder Gliedmaßen 1933 war von ihr in Lettland ein Unter-
Umgestaltung zum Vierfüßer wirklich beteiligt sind, gehören welche der so ge- kiefer aufgetaucht. Jetzt wurde plötzlich
verändert? Anscheinend war nicht, wie nannten Hox-Gruppe sowie das Gen so- klar, dass es sich um einen Tetrapoden
Romer vermutet hatte, zuerst ein Fisch nic hedgehog. Bei Flossen wie Gliedma- handelt. Neue Grabungen an der ur-
mit fleischigen Flossen aufs Trockene ge- ßen wirken im Grunde die gleichen sprünglichen Fundstätte förderten mehr
krochen, und dessen Nachfahren hatten Gene mit, aber sie haben unterschied- hervorragendes Material zu Tage, darun-
allmählich Beine bekommen. Sondern liche Aufgaben. So scheinen Hoxd 11 ter einen fast vollständigen Schädel.
Beine und Füße – somit die Tetrapoden und Hoxd 13 bei den Vierfüßern eine
– waren tatsächlich im Wasser entstan- prominentere Rolle zu spielen als bei den Die Luft machte
den. Erst später wurden diese Extremi- Fischen. In den Beinknospen sind sie in Hals und Schultern frei
täten so umgebaut, dass man damit ge- einem größeren Bezirk aktiv als in den Zudem nahmen sich Paläontologen ei-
hen konnte. Wieso aber brauchte Acan- Knospen von Flossen. Auch ist ihr Akti- nige alte Funde von Fischen genauer
thostega im Wasser Beine? Wenn der vitätsbereich verschoben, und genau dort vor, die wie Übergangsformen zwischen
Hintergrund dieser Veränderung nicht bilden sich die Zehen aus. Wie also aus Eusthenopteron und Acanthostega wirken.
der Zwang war, sich ans trockene Ele- einem achtfingrigen Glied ein fünffing- Einmal ist da die Gattung Panderichthys
ment anpassen zu müssen, welche Le- riges wurde, muss erst zukünftige For- aus dem Baltikum, 380 bis 375 Millio-
benserfordernisse, welche ökologischen schung erweisen. Zumindest glauben wir nen Jahre alt, ein großer Fisch mit spit-
Rahmenbedingungen, förderten diese aber zu verstehen, warum die Landwir- zer Schnauze und oben auf dem Kopf
Evolution dann? beltiere als Grundmuster fünf Zehen sitzenden Augen. Zum anderen betrifft
Gern wird Acanthostega als »Missing aufweisen: Diese Zahl scheint günstig es die 375 bis 370 Millionen Jahre alte
Link« (das gesuchte Bindeglied) zwi- gewesen zu sein, um genügend stabile Gattung Elpistostege aus Kanada. In Grö-
schen den Landwirbeltieren und ihren und dabei doch flexible Knöchel auszu- ße und Gestalt waren sich beide sehr
aquatischen Vorfahren angesehen. Mit bilden, die das Körpergewicht aushalten ähnlich, und sie standen den Tetrapoden
mindestens einem seiner Merkmale passt und auch ein Ausschreiten erlauben. wesentlich näher als Eusthenopteron.
das Tier in diese Rolle allerdings nicht. Durch die Acanthostega-Fossilien Eine sensationelle Entdeckung ge-
An jedem Fuß trug es acht gut ausgebil- wurden wir noch auf eine weitere, vor- lang im Jahr 2004 auf Ellesmere Island
dete Zehen – nicht fünf, wie es sich nach her wenig beachtete anatomische Eigen- im arktischen Kanada. Die Expedition
Ansicht der Forscher für einen ursprüng- art früher Tetrapoden aufmerksam: den unter Leitung des Paläontologen Neil
lichen Tetrapoden gehört. Sie hatten im- Zahnbesatz am Unterkiefer. Fische tra- Shubin von der Universität Chicago för-
mer geglaubt, dass sich der fünfzehige gen dort üblicherweise zwei Reihen Zäh- derte eine Reihe wunderbar erhaltener
Fuß anatomisch direkt von Flossen her- ne – in der äußeren Reihe eine Menge Fossilien eines Fischs zu Tage, der den
leitete. Normalerweise hätte man ein kleine und in der inneren neben einem frühen Tetrapoden noch stärker ähnelt
als Panderichthys oder Elpistostege. Das
IN KÜRZE Tier erhielt den Gattungsnamen Tiktaa-
lik, »großer Flachwasserfisch« (siehe Kas-
r Der Auftritt von Landwirbeltieren markiert einen Meilenstein in der Evolution ten S. 28). Durch diese Funde gewinnen
des Lebens. Wie sie entstanden, erkennen Paläontologen erst jetzt genauer. wir eine viel genauere Vorstellung vom
Fossilfunde aus den letzten fünfzehn Jahren enthüllen immer mehr der Evolu- Leben und Aussehen jener Fischgruppe,
tionsschritte hin zu den Tetrapoden (Vierfüßern) und darüber hinaus zum eigent- deren Nachfahren Tetrapodenmerkmale
lichen Landgang. hervorbrachten.
r Diese Entwicklung verlief völlig anders als bisher vermutet. Viele charakteris- Auch wie die Anpassung ans Land-
tische Merkmale der Landwirbeltiere entstanden bereits im Wasser, auch die Bei- leben ablief, ist inzwischen deutlicher
ne und die Luftatmung. Frühe Arten von Tetrapoden waren geografisch unerwar- geworden. Die bisher bekannten Gat-
tet weit gestreut. Sie waren zahlreicher und vielfältiger als früher angenommen, tungen dokumentieren rund 20 Millio-
manche zudem ökologisch auffallend spezialisiert. nen Jahre der frühen Vierfüßerevolution
(siehe Bild S. 30). Daher wissen wir:

26 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Nicht nur Beine entwickelten sich an- flossen nach und nach in seitwärts dürfte ihm zumindest möglich gewesen
fangs im Wasser, sondern interessanter- gerichtete Gliedmaßen mit großen Mus- sein, sich zum Luftschnappen hochzu-
weise begannen sich auch etliche andere kelansätzen. Wir vermuten, dass diese drücken. Vielleicht konnte es in dieser
entscheidende Merkmale der späteren ersten Beine immerhin schon genügten, Stellung sogar auf Beute lauern. Dage-
Landtiere schon zu zeigen, während die- um sich vorn hochzustemmen, damit gen enthielten die Flossen des Fischs Tik-
se Geschöpfe noch vorwiegend im Was- der Kopf aus dem Wasser kam und das taalik überraschenderweise Gelenke, die
ser wohnten. Im Übrigen sieht es so aus, Tier nach Luft schnappen konnte (siehe ihm wohl nicht nur Abstützen, sondern
als ob gar nicht die Fortbewegung den Bild S. 24/25). Dabei halfen die Zehen vielleicht auch eine Vorwärtsbewegung
Anfang machte, sondern die Atmung. das Gewicht besser zu verteilen. erlaubten.
So kurios es klingt – der Anpassungs- Zu dieser These passt gut ein neuerer Wer über dem Wasser nach Luft
druck, Luft atmen zu müssen, könnte Fund, den Shubins Team an der Fossil- schnappen musste, benötigte wegen der
den allmählichen Umbau von Schulter- stätte Red Hill in Pennsylvania machte. Schwerkraft einen stabileren Schädel und
gürtel und Brustflossen ausgelöst haben. Es handelt sich um den 365 Millionen Kiefer. Anatomisch änderte sich dadurch
Zunächst vermochten sich die Evoluti- Jahre alten Oberarmknochen eines Te- vieles. Zum Beispiel wurde die Schnauze
onsbiologen einfach nicht vorzustellen, trapoden. Aber an dessen oberem Ende länger (siehe Bilder unten). Die Zahl der
was Übergangsformen wie Acanthostega saß anscheinend ein Scharniergelenk, Schädelknochen nahm ab, und die üb-
mit ihren unfertigen Beinen wohl anfin- nicht ein Kugelgelenk wie bei den Land- rigen Teile verwuchsen fester. Am stärks-
gen. Nach heutiger Kenntnis verwandel- wirbeltieren. Ausschreiten konnte das ten verschmolzen die Knochen am Hin-
ten sich die rückwärts weisenden Brust- Tier hiermit sicherlich nicht, jedoch terkopf – dort setzten die kräftigen Na- r

Schritte zum Landleben


Ein radikaler Umbau des Skeletts war nötig, als die Landwirbel- Quastenflossern. Zwischenformen wie die Gattung Acantho-
tiere entstanden. Die Vorfahren gehörten zum Umfeld von stega lebten wahrscheinlich noch völlig im Wasser.

EUSTHENOPTERON Wirbel nicht hintere Rückenflosse


gelenkig verzahnt

Schwanzflosse
ausgestorbener Quastenflosser kurze Rippen sehr kurz
Schnauze hinten
mit vielen drei
Knochen unpaare
Flossen

Schädel und Schulter Afterflosse


verbunden Bauch-(Becken-)flosse
Knochen des Brustflosse mit mit Flossenstrahlen
Kiemendeckels Flossenstrahlen kleines, loses Becken

längere
ACANTHOSTEGA Wirbel eine vertikale Schwanzflosse
Schnauze Rippen länger
früher Tetrapode gelenkig verzahnt
aus
weniger
Knochen

Vorderextremität Hinterextremität
(acht Zehen) (acht Zehen)
Knochen von Schultergürtel und vergrößertes Becken mit
Kiemendeckel fehlen Schädel getrennt Wirbelsäule verbunden

ECHSE Hals
modernes landlebendes Reptil
lange Schnauze gelenkig verzahnte Wirbel
aus wenig
Knochen

lange großes Becken mit


gebogene
ANDREW RECHER

Vorderbein Wirbelsäule verbunden


Rippen
(fünf Zehen) Hinterbein (fünf Zehen)
Beine können Körper tragen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 27
EVOLUTION z Millionen Jahre
vor heute l
Evolutionslinien unserer Urver-
wandtschaft: Die ersten Tetrapo-
den traten im frühen Oberen Devon auf.

r)
sse
280
Zu ihrer unmittelbaren Stammgruppe im

flo

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späten Mittleren Devon gehörten Quas-

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zu den
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tenflosser wie Eusthenopteron. Die erst

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Tetrapoden

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kürzlich entdeckte Gattung Tiktaalik ist in
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362 dieses Schema noch nicht eingetragen.
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de idida

Diese Übergangsform dürfte sich irgend-


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OBERES wo zwischen Panderichthys / Elpistostege


p

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(Li teole

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ist

a
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DEVON
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und Acanthostega einreihen.


Elp
Eu
nie

nd
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Pa

Liv

382
)
ser

r
os
ste hys

MITTLERES Ichthyostega kroch auf dem Land


nfl
(Q nicht

DEVON wohl ähnlich wie Robben, lebte


ua

394 aber meist noch im Wasser. Bis zum Fund


Ke

UNTERES der neuen Gattung Tiktaalik war dies der


andere Fleischflosser DEVON älteste Tetrapode, der sich auch anders
als schwimmend fortbewegen konnte.
LUCY READING-IKKANDA

r ckenmuskeln von der Wirbelsäule her meisten Arten wenigstens um einen Me- Kopf. Natürlich war auch ein gründ-
an, die den Kopf anhoben. Auch der ter lang, dürften damals draußen nicht licher Umbau des Kiemensystems nötig.
Unterkiefer gewann durch zusammen- recht satt geworden sein, denn dort gab Manche von dessen Knochen wurden
wachsende Knochen mehr Stabilität, was es höchstens Insekten und dergleichen nun verzichtbar. Das Spritzloch aber –
sicherlich die vermutete Kehlatmung er- winziges Getier. Vielleicht war das aber eine besondere Kiemenöffnung –, das zu
leichterte. Moderne Amphibien und für den Nachwuchs ein prima Futter. einem luftgefüllten Sack in der Halsge-
Luft atmende Fische pressen oder schlu- Möglich, dass die Jugend sich anfangs gend führte, vergrößerte sich.
cken die Luft aus dem Mundraum wie am weitesten aus dem Wasser wagte.
bei einem Blasebalg in die Lungen. Auch am Kopfansatz tat sich einiges. Haien eine Kopflänge voraus
Oder entstand der starke, stabile Kie- Jene Knochen, die bei Fischen den Schä- Die große Frage ist, warum sich einige
fer als Anpassung ans Fressen an Land? del mit dem Schultergürtel verbinden, Fische plötzlich auf Luftatmung verleg-
Die frühen Tetrapoden lebten allesamt verschwanden. Tetrapoden haben einen ten, nachdem diese so lange im Wasser
räuberisch. Die Erwachsenen, bei den muskulösen Hals und frei beweglichen gut zurechtgekommen waren. Wie wir
wissen, lagerten die Fossilien, von denen
hier die Rede ist, in Sedimenten flacher
Neues Bindeglied Gewässer. Wir vermuten, diese Tiere
jagten im Seichten kleinere Fische. Viel-
Hoch im Norden Kanadas, auf Ellesmere längerten, sich überlagernden Rippen. leicht paarten sie sich auch im Flachwas-
Island, gräbt ein Team um Edward B. Dieser über einen Meter lange Fisch ser und legten dort ihre Eier. Alle bisher
Daeschler von der Naturwissenschaft- lebte im niedrigen Süßwasser, weswe- bekannten frühen Tetrapoden und Fast-
lichen Akademie in Philadelphia (Penn- gen die Gattung nach der lokalen Eski- Tetrapoden besaßen nämlich – wie auch
sylvania) und Neil H. Shubin von der Uni- mosprache »Tiktaalik« genannt wurde. Krokodile – einen auffallend flachen
versität Chicago seit 2004 Fossilien Er hatte schon einen beweglichen Kopf Schädel. In dem Zusammenhang sei die
eines Fleischflossers aus, der den ersten und eher flachen Rumpf. Auf seine star- Ausbreitung der Gefäßpflanzen erwähnt,
Tetrapoden näher stehen könnte als bis- ken Vorderflossen konnte er vermutlich die im Devon die Landschaften verän-
her jeder andere Fisch dieser Gruppe. sein Gewicht stützen und auf seinen derten. Zum ersten Mal gab es Pflanzen,
Hierauf hin deuten der Kopf, die Ohr- und Flossen gehen. Anstatt Fingern besaß er die Laub abwarfen. Kleine Tiere fanden
Schulterregion, aber etwa auch die ver- aber noch Flossenstrahlen. Dieser Fisch so im Uferbereich neue Verstecke, wohin
hielt sich vermutlich nicht nur im Flach- große Raubfische alter Art ihnen nicht
folgen konnten. Einige räuberische
KALLIOPI MONOYIOS

wasser, sondern wohl auch zumindest


an dessen Rand auf. Zwar besaß auch er Fleischflosser aber ließen die Konkurrenz
noch Kiemen, doch scheint das Atmen hinter sich. Und weil seichtes Wasser oft
von Luft schon ziemlich ausgeprägt ge- warm und dann sauerstoffärmer ist, ge-

o
Tiktaalik roseae, ein tropischer wesen zu sein. (Quelle: Nature, Bd. 440, 6. April wöhnten sie sich an, über Wasser nach
Flachwasserfisch aus dem frühen 2006, S. 747, 757 und 764) Luft zu schnappen. Wohl eher ein glück-
Oberen Devon. Allein sein Kopf war Von Adelheid Stahnke, Redakteurin licher Umstand mag es gewesen sein,
zwanzig Zentimeter lang. bei Spektrum der Wissenschaft dass ihnen die neuen Merkmale später
zur Eroberung des Landes verhalfen.

28 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
RAÚL MARTÍN

So wichtig die verschiedenen Neue- Die erste Phase dieser Umwandlung ten verschiedenste Fische und Wirbellose
rungen rund um das Atmen waren – muss schnell erfolgt sein, denn zu Zeiten und waren dabei vermutlich nicht son-
Lungen und Beine allein machten die von Acanthostega hatte der Knochen sei- derlich wählerisch. Doch hiervon gab es
Tetrapoden noch lange nicht landtaug- ne alte Funktion schon verloren. Wahr- offenbar Ausnahmen. Im Jahr 2000 ent-
lich. Zum Beispiel musste die Ohrregion scheinlich geschah das, während sich deckte Per Erik Ahlberg von der Univer-
umgebaut werden. Schon bei dem tetra- Gliedmaßen mit Fingern ausbildeten. sität Uppsala (Schweden) in einem Mu-
podennahen Fisch Panderichthys, und Allerdings fungierte er noch lange nicht seum in Lettland die Gattung Livoniana.
noch ausgeprägter bei der neuen Gat- als Gehörknöchelchen. Ein Ohr mit Von ihr existiert ein Unterkieferfragment
tung Tiktaalik, ist der Schädel hinter Trommelfell benötigten erst die Land- mit bizarrer Bezahnung. Statt der üb-
(über) den Augen wegen des veränderten tiere. Für Jahrmillionen dürfte dieser lichen zwei Zahnreihen säumen je deren
Innenohrs kürzer. Es scheint, als habe ehemalige Kiemenknochen ein Schädel- sieben die Unterkieferäste. Wie immer
der Schweresinn wegen des Aufenthalts element gewesen sein. sich dieses absonderliche Tier ernährt ha-
im Flachwasser mehr Bedeutung gewon- ben mag – es schlug völlig aus der Art.
nen. Die gleichzeitige Vergrößerung der Routiniert Übrigens fiel auch Ichthyostega aus
Luftkammer im Rachenraum – wiede- auf der Höhe ihrer Zeit der Reihe, jener vermeintliche Ahn der
rum bei Tiktaalik noch ausgeprägter als Viele Befunde solcher Art haben das Bild Landwirbeltiere. Erst neuere Studien ha-
bei Panderichthys – könnte das Hören der frühen Tetrapoden grundsätzlich ver- ben das aufgezeigt. Dieser erste aus dem
verbessert haben. Auch bei einigen heu- ändert. Das waren keine bemitleidens- Devon bekannt gewordene Vierbeiner
tigen Fischarten fängt der Luftsack werten, chimären Kreaturen einer evolu- hatte die Paläontologen stets irritiert,
Schallwellen auf, die dann über Knochen tionären Baustelle, die so richtig weder weil sich die Konstruktion der Ohrregi-
zum Innenohr geleitet werden. zum Wasser- noch zum Landleben on bei keinem modernen oder ausgestor-
Im Zusammenhang mit der Ohrre- taugten. Ihre Beine oder Ohren wird benen Tetrapoden oder Fisch wiederfin-
gion veränderte sich natürlich das Kie- man heute nicht mehr als halb- oder un- det. Meinen Kollegen und mir standen
menskelett, denn offenbar wurde schon fertig bezeichnen. Ganz im Gegenteil neue Fossilien zur Verfügung; auch ha-
früh die Luftatmung immer wichtiger. handelte es sich um je eigene für die je- ben wir ältere Funde des »Fischschädel-
Ein Knochen des zweiten Kiemenbo- weilige Lebensweise nützliche Anpas- lurchs« frisch präpariert; und vor allem
gens, das Hyomandibulare, wurde später sungen. Wie immer hatte natürlich nicht durchleuchteten wir wichtige Exemplare
bei den Landwirbeltieren zu einem Ge- alles weiterhin Bestand. Doch wir regis- computertomografisch. Der Sinn der
hörknöchelchen (dem Stapes, auch Colu- trieren, wie auf jeder Stufe während eigenartigen Ohrkonstruktion beginnt
mella genannt), das Schallwellen vom dieses Übergangs neue Tiere in neue Ni- sich nun abzuzeichnen. Die beste Erklä-
Trommelfell zum Innenohr überträgt schen drängten. Einige davon erwiesen rung dafür dürfte sein: Ichthyostega besaß
und dabei verstärkt. (Dieser Knochen ist sich hierin sogar als Spezialisten. hochspezialisierte Ohren – zum Hören
bei den Säugern zum Steigbügel im Mit- Alles in allem handelte es sich bei unter Wasser!
telohr geworden; bei ihnen kamen zwei den frühen Tetrapoden und ihren un- Ein Trommelfell, wie bei den meis-
weitere Gehörknöchelchen hinzu, Ham- mittelbaren Vorläufern um recht ansehn- ten Landwirbeltieren, fehlte diesem Tier.
mer und Amboss.) Dieses Hyomandibu- liche Geschöpfe. Fast alle Übergangs- Dafür saß beidseits im Hinterkopf je
lare ist bei Fischen für Fress- und Atem- formen maßen rund einen Meter Länge, eine wahrscheinlich luftgefüllte Kammer
bewegungen wichtig. manche noch einiges mehr. Sie erbeute- mit oben und seitlich verstärkten Wän- r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 29
EVOLUTION z
r den. Und in den Boden dieser Kammern
erstreckte sich jeweils ein äußerst zartes,
Das lässt schon der Brustkorb erahnen,
der ein seitliches Schlängeln des Rump-
Anpassungen an eine nicht schwim-
mende Fortbewegungsweise. Seit der
löffelförmiges Gehörknöchelchen. Das fes behinderte. Dazu fällt die Ausrich- Noch-Fisch Tiktaalik in diese Rolle zu
vibrierte vermutlich, wenn Schallwellen tung der Wirbelfortsätze auf: Bei Ichthyo- drängen scheint, darf man gespannt sein,
die Luft in den Kammern in Schwin- stega ändert sie sich entlang der Wirbel- inwiefern sich das Bild ändern wird.
gung versetzten, und übertrug die Vibra- säule, weswegen die daran ansetzenden Wozu der Tetrapode Ichthyostega über-
tion durch ein Loch in der Schädelkapsel Muskeln in den einzelnen Körperzonen haupt aus dem Wasser ging, darüber lässt
zum Innenohr. Mit solchen Ohren dürf- unterschiedlich spezialisiert gewesen sein sich nur spekulieren. Fraß er Fische, die
te das Tier einen Großteil der Zeit im dürften. Dieses Muster finden wir nicht aufs Trockene geraten waren? Dann
Wasser zugebracht haben. Das unter- bei Fischen, auch nicht bei Acanthostega paarten sich die Tiere vielleicht weiterhin
streichen zudem seine Schwanzflosse oder bei anderen frühen Tetrapoden. Es im Wasser, und sie lauschten dort nach
und die flossenartigen Hinterbeine. erinnert aber an die Wirbelsäule moder- Partnern – zu irgendetwas müssen die
ner Säugetiere. Offenbar bog Ichthyostega Ohren gut gewesen sein. In dem Fall
Doch nicht der erste Landgänger? den Rumpf nicht wie Fische seitlich, sollte Ichthyostega Laute erzeugt haben.
Daneben besaß Ichthyostega Skelettmerk- sondern vorwiegend nach oben und un- Oder nutzten die Tiere ihre Ohren zum
male, die es an Land gebrauchen konnte. ten. War das Tier an Land, dürften die Lauern auf Beute im Wasser? Gruben sie
Schultern und Arme waren kräftig. Die paddelförmigen Hinterbeine zum Vor- mit den kräftigen Vorderbeinen vielleicht
breiten, sich überlappenden Rippen bil- wärtskommen wenig beigetragen haben, an Land Löcher für ihre Eier?
deten praktisch ein Korsett, das sicher- Schultern und Arme umso mehr. Die Das Spezialmodell Ichthyostega ver-
lich ein Kollabieren der Lunge außerhalb Bewegung könnte ein wenig wie bei schwand später von der Bühne. Wie es
des Wassers zu verhindern vermochte. Robben ausgesehen haben: Zuerst wurde aussieht, ging die Linie unter. Wir ken-
Trotzdem scheint sich dieses Geschöpf der Rücken hochgestemmt, dann beide nen kein fossiles Tier, das jünger als 360
auf dem Trockenen in ganz eigener Wei- Arme zugleich vorgeworfen und als Letz- Millionen Jahre ist und als möglicher
se fortbewegt zu haben – nämlich nicht tes der Hinterkörper nachgezogen. Nachfahre passen würde. Damit steht
mit sich seitlich biegender Wirbelsäule Bis vor Kurzem hielten wir Ichthyo- diese Linie keineswegs allein. Wie oft in
wie bei kriechenden Landwirbeltieren. stega für das bisher älteste Wirbeltier mit der Geschichte der Lebewesen gab es r

Kosmopoliten schon im Devon


Von so vielen Stellen der Welt stammen Fossilien von frühen Te- Verbreitung über fast alle damaligen tropischen und subtro-
trapoden und ihnen bereits sehr nahe stehenden Fischen aus pischen Landregionen annehmen muss. Die ersten Vierfüßer
der Verwandtschaft der Quastenflosser, dass man ihrer beider lebten wohl im Süß- oder Brackwasser, nicht im Meer.

Tulerpeton, Russland, Tula Livoniana,


Lettland/Estland

Acanthostega, Ostgrönland Panderichthys,


Lettland/Estland

Ichthyostega, Ostgrönland
Sinostega,
China, Ningxia Hui
LAURASIEN
Oberarmknochen (Gattung nicht bekannt)
TETRAPODEN: ANDREW RECHER; KARTE: LUCY READING-IKKANDA

Red Hill, Pennsylvania


Metaxygnathus,
Australien,
New South Wales
Hynerpeton, Red Hill
GONDWANALAND

Ventastega,
Elpistostege, Quebec Lettland,
Pavari-/Ketleri-Formation

Gebirgsbildung Land Flachmeere

30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
ANZEIGE
r
EVOLUTION z Einsichten erwarten wir nicht nur
von neuen Fossilien, sondern auch von
der molekulargenetischen evolutionären
Entwicklungsbiologie. Jetzt gerade erge-
ben sich erste Hinweise auf Ähnlich-
keiten und Neuerungen in den gene-
tischen Kontrollmechanismen für die
Kiemenbildung beziehungsweise die
Halsentwicklung bei Fischen, Säugetie-
ren und Vögeln. Zum Beispiel haben die
Tetrapoden zwar sämtliche Knochen ver-
loren, die bei Fischen die Kiemen schüt-
zen. Aber die Steuergene zur Bildung
dieser Knochen sind bei Mäusen immer
noch vorhanden. Sie haben nur andere
Aufgaben. Interessant ist auch, dass in
der Halsregion von Tetrapoden die re-
gelnden Signalketten für die Gliedma-
ßenbildung ausgehebelt sind. An den
Flanken eines Landwirbeltiers kann man
r zweifellos auch rund um die Evolution Die bislang etablierte Annahme, die mit bestimmten Tricks ohne Weiteres
der frühen Tetrapoden viele Entwürfe, Tetrapoden seien in einem Süßwasser- zusätzliche Gliedmaßen wachsen lassen,
die sich später nicht durchsetzten. Zu- umfeld evolviert, entstand wegen der nicht aber am Hals. Als die Vierfüßer ih-
mindest zeichnet sich fast mit jedem ersten Funde von Ostgrönland. Einst ren Hals bekamen, muss im Genom et-
neuen Fund stärker ab, dass sie im De- existierte dort offensichtlich ein breites was Besonderes geschehen sein.
von mannigfaltiger waren, als sich die Flussbett, das in einem Monsunklima re- Schwieriger dürfte herauszufinden
Paläontologen zunächst vorgestellt hat- gelmäßig überflutete und wieder teilwei- sein – aber wundervoll wäre es zu wis-
ten. Von den weiteren Forschungen er- se trockenfiel. Dieser Fluss führte zwei- sen –, welche der bisher festgestellten
warten wir noch viele Überraschungen. fellos Süßwasser. Dagegen gab es an den Umwelten denn nun die allerersten Te-
Schärfer eingrenzen lässt sich heute, baltischen und russischen Fundorten trapoden hervorbrachte. Bisher ahnen
wann die Tetrapoden entstanden. Etwa einst Brackwasser wechselnden Salzge- wir nur, dass es nicht im Meerwasser ge-
im späten Mittleren Devon lebten ihre halts. Ökologisch besonders aufschluss- schah. Nur zu gern würden wir rundum
unmittelbaren Vorgänger. Die ersten reich ist die schon erwähnte Fossilstätte verstehen, welche Selektionsdrücke in
heute bekannten Vierbeiner waren im Red Hill in Pennsylvania. Es handelt sich den einzelnen Abschnitten des Wechsels
frühen Oberen Devon, vor rund 370 ebenfalls um ein ehemaliges Flussbett, vom Wasser aufs Land wirkten. Viel-
Millionen Jahren da. Mit einiger Sicher- nur herrschte kein Monsun-, sondern leicht wird die Forschung das Gesamtge-
heit fanden wichtige Evolutionsschritte ein gemäßigtes Klima. schehen nie vollständig aufklären, denn
im Zeitraum vor grob gesagt 380 bis 375 Leider gibt es zu den anatomischen Fossilien decken nicht alles ab. Wir
Millionen Jahren statt. Umstrukturierungen während des Über- müssten schon ins Devon zurückreisen
gangs zu den Tetrapoden immer noch können. Erwarten dürfen wir aber wei-
Rätsel Hinterbeine große Wissenslücken. Von der Evolution tere spannende Erkenntnisse zur Ge-
Spuren von diesen Entwicklungen fin- der Hinterbeine und des Beckens – ent- schichte vom Landgang. l
den sich keineswegs nur in Grönland, scheidenden Merkmalen der Vierbeiner
Nordkanada oder im Baltikum, sondern – fehlen jegliche fossilen Schlüssel. Shu- A U T O R I N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
an erstaunlich vielen weit auseinander bin hofft, hierzu bald lehrreiche Überres- Jennifer A. Clack lehrt Wir-
liegenden Orten der Erde. In gewissem te von Tiktaalik zu finden. Bisher liegen beltierpaläontologie an der Uni-
versität Cambridge (England).
Sinne waren die Tetrapoden des Devons entsprechende Skelettteile nur von den Seit 25 Jahren forscht sie über
und ihre Vorläufer insgesamt kosmopoli- Gattungen Ichthyostega und Acanthostega die Ursprünge der Tetrapoden.
tisch. Aus Fossilstätten im heutigen Chi- vor, aber deren Hinterextremitäten wa-
The emergence of early tetra-
na etwa stammt die Gattung Sinostega, ren schon zu weit entwickelt, um da- pods. Von Jennifer A. Clack in: Paleogeography,
aus Australien die Gattung Metaxygna- rüber Aufschluss zu geben, wie sie aus Paleoclimatology, Paleoecology (im Druck)
thus, vom Osten der USA kommt nicht Flossen entstanden. Fast mit Sicherheit
The axial skeleton of the devonian tetrapod Ich-
nur der erwähnte Armknochen, sondern verlief auch diese Entwicklung nicht ein- thyostega. Von Per Erik Ahlberg et al. in: Nature,
auch die Gattung Hynerpeton. So ziem- gleisig und geradlinig. Außerdem wüss- Bd. 437, 1. Sept. 2005, S. 137
lich in allen warmen Gebieten des dama- ten wir gern sehr viel genauer, wie die
Gaining ground: The origin and evolution of tetra-
ligen Superkontinents scheinen diese Veränderungen der verschiedenen Kör- pods. Von Jennifer A. Clack. Indiana University
Tiere aufgetreten zu sein, ein Zeichen für perteile ineinandergriffen, also in wel- Press, 2002
ihren Erfolg in jener Zeit (siehe Kasten chen Schritten sich zum Beispiel Hinter-
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
S. 30). Außerdem dürften sie ökologisch und Vorderbeine oder auch das Ohr auf- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
recht vielseitig gewesen sein. einander bezogen heranbildeten.

32 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
MOLEKULARBIOLOGIE z
Schlüssel
zur Langlebigkeit Diesen Artikel können
Sie als Audiodatei beziehen,
siehe: www.spektrum.de/audio

Eine Hand voll Gene, die ganz verschiedenartigen Organismen über


harte Zeiten hilft, kann zugleich deren Gesundheit und Lebens-
dauer insgesamt enorm steigern. Ihre Funktionsweise liefert vielleicht
die Schlüssel, Alterskrankheiten zu bannen und auch unsere
Lebensspanne auszudehnen.

Von David A. Sinclair und hinkt. Denn es besteht ein entschei- ein Verfall als vielmehr eine aktive Fort-
Lenny Guarente dender Unterschied: Anders als Maschi- setzung der genetisch programmierten
nen können biologische Systeme ihrem Entwicklung eines Lebewesens. Sobald

B
aujahr und Kilometerstand ver- eigenen Verfall entgegenwirken – indem dieses seine Geschlechtsreife erreicht
raten recht viel über den Zu- sie auf äußere Belastungen reagieren und habe, begännen »Alterungsgene« seine
stand eines Gebrauchtwagens. unter Energieaufwand sich schützen und Schritte langsam, aber sicher bergab in
Der Zahn der Zeit und der Ver- Schäden reparieren. Richtung Grab zu lenken. Nach heute
schleiß hinterlassen unvermeidlich ihre In der wechselvollen Geschichte der gängiger Vorstellung ist Altern hingegen
Spuren. Mit dem Altern von Menschen zahlreichen Theorien zum Altern gab es wirklich bloßer Verfall – verursacht da-
erscheint es ähnlich, doch der Vergleich einst die These, das Ganze sei weniger durch, dass natürliche Mechanismen zur

r
Der typische Lebensbogen neigt
sich wieder, wenn Wachstum und
Vitalität dem Niedergang des Alterns wei-
chen. Ließe sich die Macht von Langlebig-
keitsgenen als Bremse nutzen, würde
man sich vielleicht einmal auch jenseits
der 70, 90 oder gar 100 noch so jugend-
lich fühlen wie mit 50.

34 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Wartung und Reparatur des Körpers tion ein universelles Steuerungssystem unterschiedliche Organismen wie Hefen,
schlichtweg allmählich erlahmen. Aus hervorgebracht haben sollte, das die be- Fadenwürmer und Taufliegen langle-
evolutiver Sicht besteht eben kein reits gut untersuchten Reaktionen auf biger. (Ob das auch bei größeren Tieren
Grund, so die Argumentation, sie über Umweltstress koordiniert. Wir hofften, wie Mäusen funktioniert, untersuchen
die reproduktive Phase eines Individu- eines oder mehrere übergeordnete Gene wir gerade.) Als eines der zuerst er-
ums hinaus am Laufen zu halten, wenn zu identifizieren, die dabei als Schalt- kannten Langlebigkeitsgene ist SIR 2 zu-
sie nicht mehr zum Fortpflanzungserfolg zentrale dienen – und somit auch als gleich das bestuntersuchte. An seiner Ar-
beitragen. Hauptregulator der Lebensspanne. Ge- beitsweise lässt sich zeigen, wie ein gene-
Wie wir und andere Forscher he- länge uns das, ließen sich diese natür- tisch regulierter Überlebensmechanismus
rausgefunden haben, besitzt eine Fami- lichen Schutzmechanismen vielleicht in auch einen positiven Einfluss auf Ge-
lie von Genen dennoch die Macht, die Waffen gegen die Krankheiten und Ver- sundheit und Lebensspanne haben kann.
Stärke zelleigener Abwehr- und Repara- fallsprozesse umschmieden, die inzwi- Das ist nicht der einzige Grund, warum
turaktivitäten zu erhalten, unabhängig schen offenbar synonym für mensch- wir uns hier auf dieses Beispiel beschrän-
vom Alter. Eigentlich haben diese Gene liches Altern stehen. ken. Die Hinweise verdichten sich, dass
mit der Fähigkeit eines Lebewesens zu SIR 2 dabei sogar der Schlüssel, der
tun, zeitweise widrigen Bedingungen Hefe als Modell Hauptregler sein könnte.
wie Hitze, Wasser- und Nährstoffman- Unter den in jüngerer Zeit entdeckten Dass dieses Gen etwas mit Langle-
gel zu trotzen. Sie steigern seine Chan- Genen befinden sich tatsächlich viele, bigkeit zu tun hat, erkannten wir erst-
cen, solche Krisen zu überstehen, indem die Stressresistenz und Lebensspanne mals an der Bäckerhefe. Die Idee, die
sie den Funktionsmodus des Körpers von Labororganismen beeinflussen – Ursachen für die begrenzte Lebensspan-
bestmöglich auf Überleben ausrichten. und daher Komponenten eines grundle- ne eines solch vergleichsweise einfachen,
Sofern diese Gene nur lange genug akti- genden Mechanismus sein könnten, der einzelligen Organismus würde uns ir-
viert bleiben, können sie auch Gesund- widrige Bedingungen überstehen hilft gendetwas über das menschliche Altern
heit und Lebensspanne dramatisch stei- (siehe Kasten S. 38). Unsere beiden For- verraten, hielten viele Wissenschaftler
gern. Kurzum: Sie verkörpern das Ge- schungslabors befassen sich aber in erster damals für abwegig. Doch wir ließen uns
genteil von »Alterungsgenen« – nämlich Linie mit einem speziellen Gen namens nicht beirren.
Langlebigkeitsgene. SIR 2, das in vergleichbaren Formen bei Die Bäckerhefe teilt sich asymme-
Mit den Forschungen hierzu began- allen bisher untersuchten Lebewesen trisch: Die Mutterzelle schnürt eine
nen wir im letzten Jahrzehnt. Unsere vorkommt, einschließlich des Menschen. kleinere, aus ihr herausknospende Toch-
Überlegung damals war, dass die Evolu- Zusätzlich eingebaute Kopien machen so terzelle ab. Nach typischerweise etwa 20 r

FOTOS: CARY WOLINSKY; BEARBEITUNG: JEN CHRISTIANSEN

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 35
MOLEKULARBIOLOGIE z
r Teilungen stirbt die alternde Mutterzelle
schließlich. Wie oft sie sich teilen konn-
die Chromosomen vor jeder Teilung der
Mutterzelle repliziert, verbleiben jedoch
die Packungsdichte bestimmen. Durch
Entfernen von Acetylgruppen wird das
te, dient als Maß für ihre so genannte re- danach vorzugsweise in deren Zellkern. Ganze kompakter, was im Fall der Hefe
plikative Lebensspanne und damit auch Die sich immer mehr anhäufenden Ringe schließlich den kritischen DNA-Ab-
für Langlebigkeit. werden ihr schließlich zum Verhängnis: schnitt unzugänglich macht für jene En-
Als einer von uns (Guarente) vor fast Vermutlich beansprucht ihr Vervielfälti- zyme, die sonst für den Austritt von
15 Jahren Hefekolonien auf außerge- gen so viele Ressourcen, dass die Zelle es rDNA-Ringen sorgen. Entacetylierte Be-
wöhnlich langlebige Zellen hin durch- nicht mehr schafft, ihr eigenes Genom zu reiche von Chromosomen werden als
musterte, um dafür verantwortliche Erb- verdoppeln. still oder stumm bezeichnet, weil die
faktoren zu finden, stieß er auf eine enge Verpackung alle hier liegenden
Mutation in einem Gen mit der Bezeich- Schweigen ist Gold Gene auch an ihrer Ausprägung hindert.
nung SIR 4. Es trägt die Bauanweisung Bekamen Hefezellen indes ein zusätz- Sir 2, das Protein von SIR 2, ist zwar
für eine Komponente in einem Protein- liches Exemplar ihres SIR 2-Gens einge- nur eines von mehreren Enzymen, die
komplex, in dem auch das Produkt von schleust, so wurde die Bildung der Acetylgruppen von Histonen entfernen.
SIR 2 vorkommt. Die Mutation hatte rDNA-Ringe zurückgedrängt und die Aber es zeichnet sich, wie wir entdeck-
letztlich zur Folge, dass sich das Protein Lebensspanne um etwa 30 Prozent ver- ten, durch eine Besonderheit aus: Um
von SIR 2 vermehrt an einem Abschnitt längert. Wie wir wenig später zu unserer aktiv zu werden, benötigte es unbedingt
+
des Genoms ansammelte, der so genann- Verblüffung feststellten, kam auch der NAD (genauer NAD ). Nicotinamid-
te ribosomale DNA (rDNA) umfasst. Fadenwurm Caenorhabditis elegans durch adenin-dinucleotid, so der volle Name,
Dort reihen sich in zigfacher Wieder- Zusatzexemplare seines SIR 2-Pendants in spielt eine zentrale Rolle im Stoffwechsel
holung Gen-Einheiten aneinander, die den Genuss eines verlängerten Lebens – jeder Zelle. Diese Beziehung elektrisierte
für spezielle Bestandteile der zelleigenen hier sogar um die Hälfte. Überraschend uns. Denn dadurch war die Aktivität des
Proteinfabriken, der Ribosomen, codie- war ein solch gleichsinniger Effekt nicht Enzyms an Stoffwechselprozesse gekop-
ren. Mit durchschnittlich mehr als 100 nur, weil es sich um zwei evolutionär pelt. Sollte hier womöglich ein Zusam-
dieser rDNA-Wiederholungseinheiten weit getrennte Organismen handelte, menhang zu den positiven Auswirkun-
handelt es sich um den höchstrepetitiven sondern auch, weil sich bei diesem gen einer strikt kalorienarmen Ernäh-
Abschnitt im Erbgut einer Hefezelle. Er Wurm die Körperzellen nach dem Lar- rung auf das Altern bestehen?
wird leicht instabil. Repetitive Sequen- venstadium gar nicht mehr teilen. Somit Auf Schmalkost gesetzte Tiere leben
zen neigen nämlich dazu, zu rekombi- musste sich sein Alterungsprozess von länger. Das wurde bereits vor über sieb-
nieren. Beim Menschen können sich da- dem der Hefe unterscheiden. Jetzt woll- zig Jahren entdeckt. Bis heute ist sie die
durch beispielsweise »Stottersequenzen« ten wir genau wissen, welche Aufgabe berühmteste und einzige Maßnahme, die
in einem bestimmten Protein-Gen so SIR 2 erfüllte. erwiesenermaßen sicher funktioniert. Al-
weit verlängern, dass dies zur Hunting- Wie wir bald herausfanden, codierte lerdings muss dazu die Kalorienmenge
ton-Krankheit führt (siehe SdW 1/2004, das Gen für ein Enzym, das auf völlig im typischen Fall um 30 bis 40 Prozent
S. 60). Auch zahlreiche andere Erkran- neuartige Weise aktiviert wurde. Damals reduziert werden, ohne dass es zu einer
kungen gehen auf solche Effekte zurück. war bereits bekannt, dass Proteine von unausgewogenen Ernährung kommt.
Unsere an der Hefe gewonnenen Er- SIR-Genen am Stilllegen anderer Gene Ratten, Mäuse und Hunde, möglicher-
gebnisse legten somit nahe, dass das Al- mitwirken. Tatsächlich steht das Kürzel weise aber auch Primaten, leben dann
tern der Mutterzellen durch irgendeine für silent information regulator, was wört- nicht nur länger, sondern bleiben dabei
Form von rDNA-Instabilität verursacht lich »Regler stummer Information« be- auch weitaus gesünder. Die meisten mit
wurde, die sich durch das Produkt des deutet. Im Zellkern ist die DNA eines dem Alter zunehmenden Krankheiten,
SIR 2-Gens abmildern ließ. Tatsächlich Chromosoms um spulenartige Komplexe darunter Krebs, Diabetes und selbst neu-
beobachteten wir eine überraschende aus Verpackungsmolekülen gewickelt rodegenerative Erkrankungen, treten sel-
Form: Nach mehreren Teilungen gliedern (siehe Kasten rechts). Diese Proteine, die tener auf. Der Organismus scheint gera-
sich Extrakopien von rDNA als Ringe Histone, tragen chemische Markie- dezu auf Überleben getrimmt zu sein.
aus dem Genom aus. Diese werden wie rungen, darunter Acetylgruppen, welche Der einzige offenkundige Nachteil da-
bei: Manche Lebewesen werden steril.
IN KÜRZE Seit Jahrzehnten bemühen sich Wis-
senschaftler, die Wirkweise der Extrem-
r Widrige Bedingungen wie Nahrungsmangel bedeuten Stress für den Organis- diät zu ergründen, um dieses Wissen
mus. Kontrollgene verursachen dann Veränderungen im gesamten Körper, die ihn zum Wohl unserer Gesundheit auszu-
vorübergehend ganz auf Überleben einstellen. nutzen (siehe »Der steinige Weg zur
r Bleibt diese Stressreaktion langfristig aktiviert, wirkt sie bei völlig verschieden- Anti-Aging-Pille«, SdW 7/2003, S. 58).
artigen Lebewesen lebensverlängernd und zugleich krankheitsvorbeugend. Lange wurde der günstige Effekt schlicht
r Als übergeordnete Regulatoren dieses Überlebensmechanismus fungieren einer Verlangsamung des Stoffwechsels
möglicherweise Gene für so genannte Sirtuine. zugeschrieben – bei einer mangels
r Ein besseres Verständnis, wie sie ihren positiven Effekt auf Gesundheit und »Treibstoff« gedrosselten zellulären Ener-
Langlebigkeit ausüben, könnte zunächst zu Therapien gegen menschliche Alters- gieproduktion fielen auch weniger ihrer
krankheiten führen und schließlich allgemein zu einem längeren vitalen Leben. schädlichen Nebenprodukte an. Doch
diese Ansicht erscheint inzwischen über-

36 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
holt. Denn eine beschränkte Kalorien- wird er sogar beschleunigt und auch ver- physiologische Gegenmaßnahmen aus,
zufuhr verlangsamt den Stoffwechsel ändert. Wir glauben vielmehr, dass der welche die Überlebenschancen stark ver-
zumindest bei Säugetieren nicht, be- Kalorienmangel Stress auf den betrof- bessern. Dazu gehören bei Säugetieren
rücksichtigt man die sich reduzierende fenen Organismus ausübt. Ähnlich wie Veränderungen im Bereich Energiepro-
Körpermasse. Bei Hefen und Würmern natürliche Nahrungsknappheit löst er duktion, Zellschutz und Reparatur sowie r

Wie Sir2 Hefe vor Stress schützt


Mäßiger Stress verlängert die normale Lebensspanne von beide zur Unterdrückung eines jeweils anderen Hemmstoffs
Hefen um ungefähr 30 Prozent durch verstärkte Aktivierung von Sir2 führen. Das überaktivierte Enzym verhindert wiede-
des Enzyms Sir2. Stressfaktoren können diesen Effekt über rum eine Form von Genom-Instabilität, die sonst nach rund 20
zwei Wege in der Zelle erzielen (obere Hälfte der Grafik), die Teilungen zum Tod der Mutterzelle beitragen würde.

stark eingeschränkte Kalorienzufuhr Atmung


andere Stressfaktoren

Aktivierung
Nahrungsmangel und weitere Stressfak- Die Kalorienrestriktion bewirkt auch, dass
des Gens PNC1 toren wie Stickstoffmangel, zu hohe Salz- Hefezellen zur Energiegewinnung von
konzentration oder Hitze aktivieren das Gärung auf Zellatmung umschalten. In
Gen PNC1. Sein Protein baut in der Zelle den Zellkraftwerken, den Mitochondrien,
Nicotinamid ab, einen Hemmstoff von wird über die so genannte Atmungskette
Sir2. das Elektronenträgermolekül NADH zu
NAD umgewandelt. NADH hemmt Sir2,
Protein pnc1 NAD aktiviert das Enzym. Mito-
chondrium
(Zellkraft-
Sir2-Enzym werk)

Entfernen von Aktivierung des Sir2-Enzyms Aktivierung des Sir2-Enzyms


Nicotinamid NAD NADH

Acetylgruppe
Histon-
komplex
TAMI TOLPA

enger
gewundene
DNA
Sir2 entfernt Acetylguppen von Histonen, sodass diese Verpackungs-
proteine die DNA zu einem dichteren Paket zusammenschnüren. Mutterzelle nach
Das Enzym deacetyliert einen bestimmten DNA-Abschnitt, der einigen Teilungen
dazu neigt, ringförmige Stücke genetischen Materials »abzu-
Mutterzelle nach
einigen Teilungen schnüren«, wenn die Zelle ihr Genom vor ihrer Teilung kopiert.

ohne Sir2-Aktivierung mit überaktiviertem Sir2


Tochterzelle
nach 15 bis
20 Teilungen
nach 15 bis
20 Teilungen

Bei Zellen der Bäckerhefe schnürt sich von der Verstärkte Sir2-Aktivität schützt He-
großen Mutterzelle eine kleinere Tochterzelle fezellen vor der Bildung extrachro-
ab. Nach mehreren solcher Teilungen begin- mosomaler DNA-Ringe, weil die
nen sich in der Mutter gewöhnlich DNA-Ringe verwundbare Genomregion enger
außerhalb ihrer Chromosomen anzuhäufen. zusammengepackt wird. Dadurch
Mutterzelle bleibt
Mutterzelle Nach etwa 20 Teilungen leidet die Zelle darun- bleiben die Zellen länger jung und vital und teilt sich noch
stirbt ter so sehr, dass sie schließlich abstirbt. setzen ihre Zellteilung länger fort. etliche Male weiter

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 37
MOLEKULARBIOLOGIE

mordprogramms, der Apoptose.


z
r bei der Aktivierung des zellulären Selbst- oder zu salzhaltiger Umgebung. Beide
Bedingungen verlängern bekannterma-
ge verlängerte sich die Lebensspanne bei
Nahrungsmangel nur, wenn das zugehö-
Um herauszufinden, welchen Part ßen ebenfalls die reproduktive Lebens- rige Gen vorhanden war. Und weil eine
das Sir 2-Enzym dabei spielen könnte, spanne von Hefen. erwachsene Taufliege aus zahlreichen Ge-
konzentrierten wir uns zunächst auf ein- r zum anderen durch Anregung der weben und Organen besteht, die denen
fach aufgebaute Organismen. Wie wir Zellatmung. Bei dieser Form der Ener- von Säugetieren analog sind, vermuten
feststellten, beeinflusst Nahrungsknapp- gieproduktion entsteht nebenbei NAD wir, dass wahrscheinlich auch bei ihnen
heit bei der Hefe die enzymatische Akti- (die oxidierte Form) unter Verbrauch das entsprechende Gen erforderlich ist,
vität von Sir 2 auf zwei Wegen: von NADH (der reduzierten Form von damit Schmalkost diesen Effekt erzielt.
r zum einen durch Anschalten eines NAD). Während NAD Sir 2 aktiviert, Für Menschen freilich wäre eine sol-
Gens mit der Bezeichnung PNC1. Das hemmt NADH das Enzym. Verschiebt che Radikaldiät keine vernünftige Opti-
von ihm codierte Enzym baut in den sich das Verhältnis der beiden in der Zel- on, um die Vorteile begrenzter Kalorien-
Zellen Nicotinamid ab – dieses dem Vi- le, so wirkt sich dies somit grundlegend zufuhr zu nutzen. Erforderlich sind
tamin B3 ähnelnde Molekül hemmt das auf die Aktivität von Sir 2 aus. Wirkstoffe, welche die Aktivität von Sir-
Sir 2-Protein. Im Einklang mit der Vor- Doch ist das Protein für den lebens- tuinen – so lautet der Sammelbegriff für
stellung, eine Kalorienreduktion wirke verlängernden Effekt auch wirklich not- Sir 2-artige Enzyme – in der gewünsch-
als so genannter Stressor, der in den Zel- wendig? Eindeutig ja, wie beispielsweise ten Weise modulieren (die Silbe »tu«
len eine Überlebensantwort aktiviert, ein künstliches Ausschalten seines Gens steht für das gesprochene two, englisch
springt das PNC1-Gen auch bei anderen zeigte. Denn bei immerhin schon so zwei). Als besonders viel versprechende
milden Stressfaktoren an wie zu warmer komplexen Organismen wie der Tauflie- sirtuinaktivierende Substanz – abgekürzt

Wege zur Lebensverlängerung


Inzwischen ist ein ganzes Sortiment an Genen identifiziert, die bei in die Signalwege von Insulin und IGF-1 ein und verlängert die
verschiedenen Organismen die Lebensdauer positiv oder nega- Lebensspanne um immerhin 100 Prozent. Die Unterdrückung
tiv beeinflussen können. Einige davon – darunter das Gen SIR2 mehrerer anderer dieser Gene, die mit Wachstum zusammen-
und seine Verwandten – fördern die Langlebigkeit, wenn sie in hängen, oder ein Eingriff in die Signalkaskade, die sie in Gang
mehreren Kopien vorhanden sind oder wenn die Aktivität des setzen, fördert ebenfalls Langlebigkeit.
Proteins, für das sie codieren, verstärkt wird. Viele andere Gene
des Sortiments und ihre Proteine haben dagegen einen nega- Einige der unten aufgelisteten Gene und ihre Proteine regulieren
tiven Effekt auf die Lebensdauer, sodass hier eine Drosselung bei begrenzter Kalorienzufuhr Enzyme der Sir2-Familie (Sirtuine)
ihrer Aktivität günstig wirkt. Ein Beispiel bietet das Gen für Zell- oder werden umgekehrt von diesen gesteuert. Sie könnten da-
rezeptoren, an die Insulin und der insulinähnliche Wachstums- her zu einem übergeordneten regulatorischen Netzwerk für das
faktor 1 (IGF-1) andocken. Es trägt bei Würmern die Bezeichnung Altern gehören. Die Autoren halten das SIR2-Gen und seine Ver-
daf-2. Seine Unterdrückung in ausgewachsenen Würmern greift wandten für die möglichen Dirigenten dieses Netzwerks.

Gen oder Signalweg (Ent- Spezies und erreichte ist mehr oder hauptsächlich beeinflusste mögliche Nebenwirkungen
sprechung beim Menschen) Lebensverlängerung weniger günstiger? Prozesse einer Manipulation
Sir2 (Sirt1) Hefe, Wurm, Fliege / mehr Überleben von Zellen, Meta- unbekannt
30 Prozent bolismus und Stressantworten
TOR (TOR) Hefe, Wurm, Fliege / weniger Zellwachstum vermehrte Infektionen und
30 bis 250 Prozent und Nährstofferfassung Krebs
Daf-/FoxO-Proteine Wurm, Fliege, Maus / weniger Wachstum Zwergwuchs, Unfruchtbar-
(Insulin, IGF-1) 100 Prozent und Glucosestoffwechsel keit, kognitive Einbußen,
Gewebedegeneration
Clock-Gene (CoQ-Gene) Wurm / 30 Prozent weniger Synthese von Co-Enzym Q unbekannt
Amp-1 (AMPK) Wurm / 10 Prozent mehr Stoffwechsel unbekannt
und Stressantworten
Wachstumshormon Maus, Ratte / 7 bis weniger Regulation der Körpergröße Zwergwuchs
(Wachstumshormon) 150 Prozent
p66Shc (p66Shc) Maus / 27 Prozent weniger Produktion freier Radikale unbekannt
Katalase-Gen (CAT) Maus / 15 Prozent mehr Entgiftung unbekannt
von Wasserstoffperoxid
Prop1, pit1 (Pou1F1) Maus / 42 Prozent weniger Aktivität der Hypophyse Zwergwuchs, Sterilität,
Hypothyroidismus
Klotho (Klotho) Maus / 18 bis 31 mehr Insulin, IGF-1 und Insulinresistenz
Prozent Regulation von Vitamin D
Methuselah (CD97) Fliege / 35 Prozent weniger Stressresistenz und Kommuni- unbekannt
kation von Nervenzellen

38 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Kalorienmangel und
anderer biologischer Stress

l
Bei Säugetieren scheint das Enzym
Sirt1 – es entspricht Sir2 in der Hefe
– für den gesundheitsfördernden und le-
GRAFIK: LUCY READING-IKKANDA

bessere Sirt 1 koordinierte bensverlängernden Effekt einer begrenz-


DNA-Stabilität Stressantwort ten Kalorienzufuhr verantwortlich zu sein.
SIRT 1: TAMI TOLPA;

Nahrungsmangel und andere biologische


erhöhte Reparatur gesteigerte Produktion und Stressfaktoren steigern seine Aktivität,
und Abwehr Verwertung von Energie
was wiederum Veränderungen in den Zel-
len bewirkt. Über eine vermehrte Produk-
tion bestimmter Signalmoleküle, wie etwa
längeres Überleben
von Zellen Insulin, koordiniert Sirt1 möglicherweise
die Stressantwort im ganzen Körper.

STAC, nach dem englischen Begriff tifizierten Zielproteine steuern wichtige Sirt 1-Protein aktiviert. Mit STACs wie
dafür – hat sich Resveratrol erwiesen. Prozesse, darunter Apoptose, Zellabwehr Resveratrol ließ sich, wie das Team dann
Dieses kleine Molekül wird von vielen und Stoffwechsel (siehe Kasten auf S. feststellte, ein ganz ähnlicher Schutz bei
Pflanzen unter Stressbedingungen herge- 40). Die SIR 2-Genfamilie hat also an- Neuronen normaler Mäuse erzielen.
stellt und ist auch in Rotwein enthalten. scheinend auch bei Säugetieren ihre Rol- Wie eine noch jüngere Studie von
Pflanzen erzeugen nach derzeitigem le als möglicher Lebensverlängerer bei- Christian Néri vom französischen Natio-
Stand noch mindestens 18 weitere Subs- behalten. Doch wie es bei größeren und nalinstitut für Gesundheit und Medizi-
tanzen mit einer solchen Eigenschaft – komplexer aufgebauten Organismen nische Forschung in Paris ergab, beugen
möglicherweise regulieren sie damit ihre nicht überrascht, sind dort die Signal- Resveratrol und Fisetin (ein weiteres
eigenen Sir 2-Enzyme. wege, über die Sirtuine ihre Wirkung STAC) sogar dem Absterben von Ner-
entfalten, erheblich verwickelter. venzellen genmanipulierter Würmer und
Längeres Leben Bei Mäusen und Ratten lässt mehr Mäuse vor, die als Modellorganismen für
dank Rotweinsubstanz Sirt 1 beispielsweise manche Zellen noch die menschliche Huntington-Krankheit
Wird Resveratrol der Nahrung von He- Stress überleben, bei dem sie sonst schon dienen. Wieder funktionierte der Schutz
fen, Würmern oder Fliegen zugesetzt, so ihr Selbstmordprogramm eingeleitet hät- nur in Gegenwart funktionsfähiger Sir-
verlängert sich ihre Lebensspanne wie ten. Das Enzym reguliert unter anderem tuin-Gene.
bei Schmalkost um etwa ein Drittel, aber die Aktivität weiterer Schlüsselproteine,
wiederum nur, wenn diese Organismen darunter p53, FoxO und Ku70, die ent- Fett und Fasten
ein funktionsfähiges SIR 2-Gen besitzen. weder die Selbstmordschwelle beeinflus- Doch zurück zur Kalorienrestriktion und
Umgekehrt lässt sich bei veränderten sen oder die Zellreparatur anstoßen (sie- ihren günstigen Auswirkungen: Wenn
Taufliegen, die auf Grund einer Über- he Kasten S. 40). Dadurch erkauft es Sirtuine und ihre Gene wirklich die Ver-
produktion des Proteins bereits langle- mehr Zeit für eine zugleich wirksamere mittlerrolle spielen – wie kann dann die
biger sind, die Grenze weder durch Res- Behebung der Schäden. Ernährung nicht nur deren Aktivität in
veratrol noch durch Kalorienrestriktion Über die gesamte Lebensdauer gese- der Zelle, sondern damit zugleich die Al-
weiter hinausschieben. Die einfachste hen könnte Zellverlust durch Apoptose terungsprozesse im ganzen Tier steuern?
Erklärung dafür ist, dass jede Maßnah- ein bedeutender Faktor des Alterns sein, Wie Pere Puigserver von der Johns-
me für sich lebensverlängernd wirkt, in- insbesondere von nicht erneuerbaren Ge- Hopkins-Universität in Baltimore (Mary-
dem sie das Enzym bei Fliegen aktiviert. weben wie in Herz und Gehirn. Ein Ver- land) mit seinen Kollegen feststellte, er-
Erhalten normale Fliegen Resvera- langsamen des Schwunds mag einer der höht sich beim Fasten der NAD-Gehalt
trol, können sie fressen, so viel sie wol- Wege sein, wie Sirtuine ihre positive Wir- in Leberzellen, was erwartungsgemäß das
len, und leben trotzdem länger als sonst. kung auf Gesundheit und Lebensspanne Enzym Sirt 1 stärker aktiviert. Zu den
Zudem leiden sie nicht an verminderter entfalten. Ein eindrucksvolles Beispiel bei Proteinen, die es von Acetylgruppen be-
Fruchtbarkeit, die oft Folge der Extrem- Säugetieren bietet die Wallersche Maus- freit, gehört auch PGC-1α. Über diesen
diät ist. Das sind gute Neuigkeiten für mutante. Bei diesen Tieren sind durch wichtigen Regulator (einem Co-Aktiva-
jene Forscher, die Medikamente, die an Verdopplung eines einzigen Gens die tor für die Transkription, das Abschrei-
Sirtuinen ansetzen, gegen menschliche Nervenzellen hochresistent gegen Stress, ben von Genen) werden schließlich Än-
Krankheiten entwickeln möchten. Doch sodass sie bei Schlaganfällen, Chemothe- derungen im zellulären Glucosestoff-
zunächst gilt es, die Funktion dieser En- rapien und neurodegenerativen Erkran- wechsel herbeigeführt. Sirt 1 fungiert so-
zyme bei Säugetieren besser zu verstehen. kungen nicht so leicht absterben. mit als Sensor, der auf die Verfügbarkeit
Dem SIR 2-Gen der Hefe entspricht Im Jahr 2004 zeigte Jeff Milbrandt von Nährstoffen reagiert und zugleich
bei Säugetieren das Gen SIRT 1, fachlich von der Washington-Universität in St. die Reaktion der Leber darauf regelt.
ausgedrückt: Es ist ihm homolog. Sein Louis mit seinen Kollegen, dass infolge Ähnliche Befunde sprechen für ein
Protein – Sirt 1 – entfernt ebenfalls Ace- der Wallerschen Genmutation die Akti- Modell, wonach das Enzym als ein zent-
tylgruppen, allerdings von einer größeren vität eines Enzyms steigt, das an der Syn- raler Stoffwechselregulator in Leber- wie
Bandbreite von Proteinen, und das nicht these von NAD beteiligt ist. Offensicht- auch in Muskel- und Fettzellen dient, in-
nur im Zellkern, sondern auch außerhalb lich schützt das überschüssige NAD dem es hier Schwankungen der Nähr-
im Zellplasma. Mehrere der bislang iden- Neuronen, indem es seinerseits das stoffzufuhr über das veränderte NAD/ r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 39
MOLEKULARBIOLOGIE z
r NADH-Verhältnis erfasst und das Mus-
ter der Genaktivität in diesen Geweben
auch die Fettspeicherung regelt. Tatsäch-
lich wird das Enzym in Fettzellen bei
Prozess: Entzündungen. Sie spielen un-
ter anderem bei Krebs, Arthritis, Asth-
weithin beeinflusst. Dieses Modell würde eingeschränkter Nahrungszufuhr aktiver, ma, Herzleiden und neurodegenerativen
auch erklären, wie Sirt 1 viele der Gene worauf Brennstoff aus den Depots in Erkrankungen eine Rolle. Nach neueren
und Signalwege einbeziehen könnte, die den Blutstrom übertritt, damit andere Untersuchungen von Wissenschaftlern
sich auf die Langlebigkeit auswirken (be- Gewebe daraus Energie gewinnen kön- um Martin Mayo an der Universität
schrieben im Kasten S. 38). nen. Sirt 1 registriert die Ernährungssitu- von Virginia in Charlottesville hemmt
Seine körperweiten Aktivitäten ver- ation – so nun unsere Annahme – und Sirt 1 den entzündungsfördernden Pro-
mittelt das Enzym jedoch möglicherweise legt dann fest, wie viel Fett in den Zellen teinkomplex NF-κB. Der Sirt 1-Akti-
über mehrere Mechanismen. So geht eine gespeichert, und damit auch, welches vator Resveratrol erzielt den gleichen
andere bestechende Hypothese davon Hormonmuster von ihnen erzeugt wird. Effekt. Dies ist in zweierlei Hinsicht er-
aus, dass Säugetiere über die im Körper- Dieser Effekt würde wiederum bestim- mutigend: Denn zum einen ist die Su-
fett gespeicherten Energievorräte regis- men, wie schnell ein Organismus altert – che nach NF-κB-Inhibitoren ein sehr
trieren, wie gut sie mit Nahrung versorgt und damit Sirt 1 zu einem Schlüsselregu- aktives Gebiet der Pharmaforschung,
sind. Abhängig von den Reserven an die- lator für die durch Kalorienrestriktion zum anderen ist bereits wohlbekannt,
sem Hauptbrennstoff senden Fettzellen herbeigeführte Langlebigkeit bei Säuge- dass eine beschränkte Kalorienzufuhr ex-
unterschiedliche hormonelle Signale an tieren machen. zessive Entzündungsreaktionen unter-
Zellen anderer Gewebe. Da Schmalkost Dadurch ergäbe sich auch ein enger drückt.
Depots abbaut, sorgt sie möglicherweise Zusammenhang zwischen Altern und Wenn das SIR 2-Gen in seinen Ver-
für ein hormonelles Muster, das Knapp- durch Übergewicht geförderten Stoff- sionen wirklich das übergeordnete Steu-
heit signalisiert, was wiederum Abwehr- wechselerkrankungen wie Typ2-Diabe- erungselement eines stressaktivierten re-
mechanismen der Zellen aktiviert. Ge- tes. Gelänge es, pharmakologisch in die gulatorischen Systems für das Altern ist,
stützt wird diese Idee durch bestimmte Sirt 1-Signalkaskade von Fettzellen ein- so zieht es die Fäden möglicherweise als
gentechnisch veränderte Mäuse, die ex- zugreifen, ließe sich möglicherweise Dirigent eines Orchesters, das sich aus
trem mager bleiben, egal wie viel sie fres- nicht nur der Alterungsprozess verlangsa- hormonellen Netzwerken, intrazellu-
sen: Auch sie leben gewöhnlich länger. men, sondern auch bestimmten Krank- lären regulatorischen Proteinen und ver-
Angesichts dieser Hypothese fragten heiten vorbeugen. Das Enzym beein- schiedenen Genen zusammensetzt, die
wir uns, ob Sirt 1 vielleicht im Gegenzug flusst überdies einen weiteren kritischen mit Langlebigkeit assoziiert sind. So war

Sirtuine in der Zelle


Sirt 4
Das Sirt 1-Enzym ist das bestuntersuchte,
Zellkern Sirt 5
aber nicht das einzige Sirtuin von Säuge-
tieren. Es entfernt Acetylgruppen von an-
Sirt 6 Sirt 3
deren Proteinen im Zellkern wie auch im
Zellplasma und verändert dadurch ihr Ver- Sirt 1
halten. Viele seiner Zielmoleküle sind ent- Mitochondrien

TAMI TOLPA
weder so genannte Transkriptionsfaktoren, Sirt 7
die Gene direkt aktivieren, oder regula- Zellplasma
torische Proteine, die diese Faktoren be-
Sirt 2
einflussen (siehe Beispiele rechts unten).
Auf diese Weise kann Sirt 1 eine große
Bandbreite wichtiger Zellfunktionen kon- Sirt 1
trollieren.
Ob seine Verwandten, die in unter-
schiedlichen Bereichen der Zellen vor-
kommen, ebenfalls die Lebensdauer be- Einige Zielproteine von Sirt 1
einflussen, wird ebenso wie ihre genaue
Rolle noch untersucht. Sirt 2 beispielswei- FoxO1, FoxO3 und FoxO4: Transkriptionsfaktoren für Funktionieren anderer Regulatoren, etwa des
Gene, die am Zellschutz und Glucosestoffwech- Proteins PGC-1α
se modifiziert Tubulin, einen Bestandteil
sel beteiligt sind NF-κ B: Transkriptionsfaktor, der Entzündungen,
des Zellgerüsts, und beeinflusst mögli- Histone H3, H4 und H1: kontrollieren die Packungs- das Überleben von Zellen und das Zellwachstum
cherweise die Zellteilung. Sirt 3 ist in den dichte der DNA in den Chromosomen steuert
Kraftwerken der Zelle, den Mitochon- Ku70: Transkriptionsfaktor, der die DNA-Reparatur P300: Regulator, der für das Anheften von Acetyl-
und das Überleben der Zelle fördert gruppen an Histone sorgt
drien, aktiv und scheint auch an der Regu- p 53: Transkriptionsfaktor, der den programmier-
MyoD: Transkriptionsfaktor, der Muskelentwick-
lation der Körpertemperatur beteiligt zu lung und Gewebsreparatur fördert ten Tod geschädigter Zellen einleitet
sein. Mutationen im Gen, das für Sirt 6 co- NcoR: Regulator, der zahlreiche Gene beeinflusst, PGC-1 α : Regulator, der die Zellatmung kontrolliert
diert, werden mit vorzeitiger Alterung in darunter solche, die am Fettstoffwechsel und an und anscheinend eine zentrale Rolle bei der Mus-
Entzündungsprozessen beteiligt sind sowie am kelentwicklung spielt
Verbindung gebracht.

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
hindern. Wie wird aber eine Gesellschaft
aussehen, in der sich die Menschen bis
weit in ihre Neunziger jugendlich fühlen
und relativ frei von heute üblichen
Krankheiten sind? Einige Besorgte mö-
gen sich fragen, ob es überhaupt gut ist,
an unserer Lebensspanne herumzu-
schrauben. Doch zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts betrug die Lebenserwartung
eines Neugeborenen nur etwa 45 Jahre.
Seitdem ist sie auf ungefähr 75 gestiegen,
hauptsächlich dank dem Aufkommen
von Antibiotika und Fortschritten im
Gesundheitswesen, wodurch früher oft
tödliche Infektionen behandelt oder ver-
mieden werden können.
Dem dramatischen Anstieg der Le-
eine der bemerkenswerten Entdeckun- Wir wissen auch, dass die SIR 2- benserwartung hat sich die Gesellschaft
gen der letzten Jahre, dass das Sirt 1- Genfamilie evolutionär sehr alt ist. Denn angepasst. Sicher sehnen sich nur wenige
Enzym auch die Bildung von Insulin deren Vertreter und ihre Proteine finden nach einem Leben ohne diese medizi-
und dem insulinähnlichen Wachstums- sich heute bei so verschiedenen Organis- nischen Errungenschaften zurück. Be-
faktor 1 (IGF-1) reguliert und dass diese men wie Bäckerhefe, Leishmania-Para- stimmt werden künftige Generationen,
beiden wichtigen Signalmoleküle wie- siten, Fadenwürmern, Fliegen und Men- die einmal gewohnt sind, älter als 100
derum innerhalb einer komplexen schen. Sirtuine bestimmen bei allen die Jahre zu werden, auch unsere gegenwär-
Rückkopplungsschleife die Produktion Länge des Lebens – nur beim Menschen tigen Bemühungen um bessere Gesund-
von Sirt 1 zu regeln scheinen. Mit dieser ist das bisher noch nicht untersucht. Al- heit als primitive Ansätze einer vergan-
faszinierenden Beziehung ließe sich er- lein schon auf Grund dieser evolutio- genen Ära werten. l
klären, wie die Sirt 1-Aktivität eines Ge- nären Basis sind wir zuversichtlich, dass
webes anderen Zellen im Körper über- in menschlichen Sirtuin-Genen wohl
David A. Sinclair kam 1995
mittelt werden könnte. Außerdem be- auch der Schlüssel für unsere Gesund- als Postdoc zu Leonard P. Gu-
stimmt der Gehalt an diesen beiden heit und Lebensdauer liegt. arente am Massachusetts Ins-
Substanzen im Blut bekanntermaßen Unsere beiden Arbeitsgruppen füh- titute of Technology in Cam-
die Lebensspanne von Würmern, Flie- ren gerade sorgfältig kontrollierte Expe- bridge. Er ist inzwischen Direktor
der Paul-F.-Glenn-Laboratorien
gen und Mäusen – möglicherweise auch rimente an Mäusen durch, die uns schon zur Aufklärung der biologischen
die von uns Menschen. bald erste Antworten liefern werden, ob Mechanismen des Alterns an
das Sirt 1-Gen bei Säugern diese Funk- der Harvard Medical School so-

A U T O R E N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
Zu früh geboren tion erfüllt. Bis wir allerdings wissen, ob wie Beigeordneter des Broad-
Seit jeher ist es ein Traum der Mensch- und wie Sirtuin-Gene die Lebensspanne Instituts für Systembiologie in
Cambridge. Guarente, Novartis-
heit, das Altern zu verlangsamen. Für von Menschen festlegen, werden wir uns Professor für Biologie, gehört seit 25 Jahren der
manche unter uns scheint daher kaum sicher noch Jahrzehnte gedulden müs- Fakultät des M.I.T. an. Beide Wissenschaftler ha-
vorstellbar, dass dies durch »Herum- sen. Wer hofft, eine Pille zu schlucken ben jeweils eine eigene Biotechnologiefirma ge-
schrauben« an einer Hand voll Gene ge- und 130 zu werden, ist möglicherweise gründet, um sirtuinaktivierende Moleküle für den
lingen könnte. Doch nachweislich lässt ein Jahrhundert zu früh geboren. Aber pharmazeutischen Einsatz zu entwickeln.
sich das Altern von anderen Säugetieren immerhin kann er vielleicht noch zu Das Wunder der über 120-Jährigen. Von Shino
durch eine einfache Umstellung der Er- Lebzeiten einmal von Medikamenten Nemeto und Toren Finkel in: SdW, November
2004, S. 70
nährung hinauszögern – auf eine strikt profitieren, welche die Aktivität von
kalorienbegrenzte Kost. Und wie wir ge- Sirtuin-Enzymen modulieren, um be- Toward a unified theory of caloric restriction and
zeigt haben, kontrollieren Sirtuin-Gene stimmte Leiden wie Alzheimer, Krebs, longevity regulation. Von David A. Sinclair in: Me-
chanisms of Aging and Development, Bd. 126, Nr.
viele derselben molekularen Signalketten, Diabetes und Herzerkrankungen zu be-
9, S. 987, September 2005
die von der Umstellung beeinflusst wer- handeln. Für mehrere Wirkstoffe, die zur
den. Ohne genau die mutmaßlich unzäh- Therapie von Diabetes, Herpes und neu- Caloric restriction, Sirt1 and metabolism: under-
standing longevity. Von Laura Bordone und Leo-
ligen Ursachen des Alterns mit seinen rodegenerativen Krankheiten bestimmt nard Guarante in: Nature Reviews Molecular and
Gebrechen zu kennen, haben wir ferner sind, hat zumindest bereits die klinische Cell Biology, Bd. 6, S. 298, April 2005
bereits bei verschiedenen Lebewesen Erprobung begonnen.
The secrets of aging. Von Sophie L. Rovner in:
nachgewiesen, dass es sich auch ohne Langfristig hoffen wir, dass die Ent- Chemical & Engineering News, Bd. 82, Nr. 34, S.
Dauerfasten hinauszögern lässt. Wir brau- schlüsselung der Geheimnisse von Lang- 30, 2004
chen nur ein paar Regulatoren zu mani- lebigkeitsgenen mehr erlauben wird, als
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
pulieren – und sie verhelfen diesen Orga- altersbedingte Erkrankungen bloß zu be- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
nismen von selbst zu besserer Gesundheit. handeln. Denn besser wäre, sie zu ver-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 41
W I SS E N S C H A F T IM AL LTA G
WISSENSCHAFT IM ALLTAG

L ATTE MACC HIATO

Hydrodynamik im Kaffeeglas
Genießern mit Hang zur Physik empfiehlt der Küchenchef heute:
Latte macchiato auf hydrodynamische Art.

Von Florian Beißner

M ilch aufschäumen und in ein großes Glas geben, dann


vorsichtig frisch gebrühten Espresso eingießen. Auch op-
tisch ist das Trendgetränk Latte macchiato ein Genuss, sofern
Auf den ersten Blick ist nicht verständlich, warum der nach
dem Eingießen vorliegende Zustand in Bewegung gerät. Sofern
der Barista sauber gearbeitet hat, ist der Espresso etwas wärmer
der »Barista« hinter dem Thresen sein Handwerk versteht. Die als die etwa siebzig Grad Celsius heiße Milch. Da bei diesen
wörtliche Übersetzung des Namens als »befleckte Milch« wird Temperaturverhältnissen Letztere dichter ist als der darüberlie-
dem Latte macchiato kaum gerecht. Zumal er auch ein intellek- gende Kaffee, sollte der Zustand stabil sein. Dass dem nicht so
tuelles Vergnügen bereiten kann, denn was da im Glas ge- ist, beruht auf der Temperaturdifferenz zwischen der Flüssigkeit
schieht, ist pure Physik. Da Espresso eine geringere Dichte als im Glas und der Luft des umgebenden Raums. Sowohl Espres-
Milch besitzt, sammelt er sich zunächst im oberen Bereich des so als auch Milch kühlen an der Glaswand ab und sinken nach
Glases. Doch in der Grenzschicht vermischen sich die beiden unten. Damit kommt eine Kreisbewegung, eine so genannte
Flüssigkeiten. Wer genau hinschaut, kann hier sogar Wirbel be- Konvektion, in Gang: Von der Mitte des Glases strömt warme
obachten. Flüssigkeit zum Rand, die sich abkühlt, nach unten sinkt und
So einfach dieses Geschehen wirkt, genau versteht man so weiter. Der zusätzliche Einfluss der Konzentration auf die
diese Vorgänge bislang nicht. Dabei wurde die nach den Physi- Dichte sorgt dafür, dass die Flüssigkeit nicht bis zum Boden des
kern Claude Louis Marie Henri Navier (1785 – 1836) und Sir Glases absinkt, sondern dass sich eine vertikale Abfolge von
George Gabriel Stokes (1819 – 1903) benannte Navier-Stokes- Konvektionszonen ausbildet. Deren genaue Anzahl ist von den
Gleichung, eine der Grundgleichungen hydrodynamischer Pro- physikalischen Eigenschaften der Flüssigkeit abhängig. Die
zesse, bereits vor über 150 Jahren aufgestellt. Doch sie ist von so Konzentration von Espresso in den Schichten nimmt dabei von
komplexer Struktur, dass bis heute keine mathematisch exakte oben nach unten ab. Dadurch ergibt sich, von der Seite betrach-
Lösung der Gleichung bekannt ist. Das Interesse daran ist so tet, das charakteristische Bild. Da die Bewegung von zwei Fak-
groß, dass das Clay Mathematics Institute in Cambridge (Mas- toren, nämlich Temperatur- und Konzentrationsgefälle, ange-
sachusetts) eine Million Dollar für die Entdeckung einer sol- trieben wird, spricht man auch von Doppeldiffusion oder dop-
chen Lösung ausgelobt hat. Natürlich geht es den Forschern da- peldiffusiver Konvektion.
bei nicht um den Latte macchiato. Die Hydrodynamik spielt in Interessanterweise tritt derselbe Effekt auch im Ozean in
vielen Naturwissenschaften eine wichtige Rolle. Ihre Gesetze der Nähe von Eisbergen auf. Durch das Schmelzen des Eises,
beschreiben so unterschiedliche Phänomene wie die Explosion das aus Süßwasser besteht, bildet sich in der Umgebung ein
massereicher Sterne, die Dynamik von Lavaflüssen oder die Gefälle in der Salzkonzentration aus: Wasser mit niedrigem
Strömungen in den Ozeanen. Salzgehalt ist über solches mit höherem geschichtet. Da das um-
Aber eben auch die Vorgänge im Übergangsbereich zwi- gebende Wasser wärmer ist als der Eisberg, kühlt es sich an der
schen Espresso und Milch im Latte macchiato. Denn dort kann Eiswand ab und sinkt nach unten. Es kommt zum gleichen
man bereits kurz nach dem Eingießen beobachten, wie eine Ab- Effekt wie beim Latte macchiato – was sich allerdings im
folge von mehreren Schichten entsteht, die sich deutlich von- Kaffeeglas leichter beobachten lässt. Zumindest ein Weilchen.
einander abheben. Dieser Effekt wird in der Hydrodynamik Am Ende aller Konvektion und Doppeldiffusion bleibt ein phy-
Layering genannt. Er tritt dann auf, wenn neben einem Tempe- sikalisch eher uninteressanter Milchkaffee, der zweifelsohne
raturunterschied auch ein Konzentrationsgefälle eines oder aber noch geschmacklich seine Reize hat. l
mehrerer gelöster Inhaltsstoffe existiert. Denn Temperatur und
Konzentration bestimmen die Dichte der Flüssigkeit. Florian Beißner ist Physiker und arbeitet in Berlin.

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
WUSSTEN SIE SCHON?
r Ursprünglich stammt Kaffee vermutlich aus dem Hochland fee veredelt. Bei Letzterem entscheidet vor allem die Stärke
des heutigen Äthiopiens. Verlässliche historische Quellen der Röstung über die spätere Verwendung als Espresso (dun-
existieren jedoch erst ab dem frühen 16. Jahrhundert, als das kle Röstung) oder Filterkaffee (helle Röstung).
Getränk in der arabischen Welt schon weit verbreitet war. r Zur Frage nach den gesundheitlichen Auswirkungen des Kaf-
Durch die Expansion des Osmanischen Reichs gelangte es feekonsums haben verschiedene wissenschaftliche Studien
nach Kleinasien, Syrien, Ägypten und schließlich auch nach in den vergangenen Jahren den Ruf des Getränks weit ge-
Südeuropa. Dort öffnete das erste Kaffeehaus 1645 am Mar- hend rehabilitiert. Während ältere Untersuchungen vor allem
kusplatz in Venedig seine Pforten. 1673 hatte Bremen als ers- die Auswirkungen einzelner Inhaltsstoffe, zum Beispiel des
te deutsche Stadt ein Café. anregenden Koffeins, ins Auge fassten, kann dem Kaffee als
r Pro Jahr trinkt der Deutsche im Durchschnitt 144 Liter Kaf- Ganzem bei maßvollem Verbrauch keine gesundheitsschäd-
fee, Das entspricht einem Verbrauch von 6,1 Kilogramm Kaf- liche Wirkung mehr nachgewiesen werden. Er gilt sogar als
feepulver. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr in deut- Quelle für Antioxidantien, die unter anderem Krebserkran-
schen Röstereien 502 930 Tonnen rohe Kaffeebohnen zu kungen vorbeugen können. Insbesondere bei Magen- oder
16 500 Tonnen löslichem Kaffee und 386 500 Tonnen Röstkaf- Herzproblemen sollte man dennoch Vorsicht walten lassen.

l
Die Schichtung eines gut gemach-
ten Latte macchiato entsteht durch
Konvektionszellen an der Glaswand.
FOTO: FLORIAN BEISSNER; ILLUSTRATION: SIGANIM / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

GERINGE3TRÚMUNGSGESCHWINDIGKEIT

STARKE3TRÚMUNGSGESCHWINDIGKEIT

'LASWAND

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 43
ASTRONOMIE z

Beim Anflug auf Saturn nahm die


NASA / JPL / SSI

Raumsonde Cassini 2004 dieses Bild


von Phoebe auf, dem ersten bekannten
irregulären Mond des Ringplaneten.

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
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Die seltsamsten Monde


des Sonnensystems
Objekte einer kürzlich entdeckten Klasse umlaufen die Riesenplaneten
Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun auf lang gestreckten und verwi-
ckelten Bahnen, oftmals gegen die sonst übliche Richtung. Astronomen
lernen daraus Neues über die Frühzeit des Sonnensystems.

Von David Jewitt, förmigen Bahnen in seiner Äquator- Die entgegengesetzte Bewegungs-
Scott S. Sheppard und Jan Kleyna ebene umlaufen. richtung der irregulären Monde deutet
Streng genommen müssten wir in auf andere Geburtsstätten hin. Ver-

V
or fünf Jahren vertrieben beiden Fällen von Satelliten sprechen, mutlich wurden diese kleinen Objekte
sich zwei von uns im Lauf da der Name Mond für den Erdbeglei- in der Frühzeit des Sonnensystems von
einer bewölkten Nacht im ter reserviert ist. Doch selbst Astro- der Schwerkraft der soeben entstande-
Observatorium auf dem nomen reden so oft von Monden, dass nen Planeten aus ihren ursprünglichen
Mauna Kea (Hawaii) mit einer Wette wir diesen Begriff hier ruhig beibehal- Bahnen gerissen. Diese Objekte zu un-
die Zeit: Wie viele Monde warten im ten können. tersuchen, könnte neues Licht auf die
Sonnensystem noch auf ihre Ent- Kannten wir vor fünf Jahren im Frühzeit des Sonnensystems werfen.
deckung? Jewitt setzte 100 Dollar da- Sonnensystem erst elf irreguläre Mon- Der erste bekannte irreguläre
rauf, dass selbst ein Teleskop, das auf de, so waren es bei Redaktionsschluss Mond, Neptuns Triton, wurde bereits
deren Suche spezialisiert wäre, höchs- dieser Ausgabe bereits hundert. Zwar 1846 entdeckt. Über mehr als andert-
tens zehn neue Monde finden würde. werden sie durch die Form und Ori- halb Jahrhunderte entgingen die meis-
Schließlich hatten Astronomen im entierung ihrer Umlaufbahnen defi- ten seiner Artgenossen den Astro-
gesamten 20. Jahrhundert nur etwa niert, doch fallen sie auch durch die nomen, weil sie zumeist kleiner sind
zwei Dutzend neuer Monde ent- Richtungen auf, in denen sie ziehen. und deshalb lichtschwächer erscheinen
deckt – die Entdeckungen der Voya- Viele von ihnen bewegen sich retro- als ihre regulären Gegenstücke. Außer-
ger-Raumsonden inbegriffen. Sheppard grad um ihre Planeten, also entgegen dem bevölkern sie eine erheblich grö-
war optimistischer. Angesichts der deren Rotationsrichtung. Reguläre ßere Region des Weltraums.
wachsenden Empfindlichkeit astrono- Monde wie unser Erdbegleiter bewe-
mischer Geräte tippte er auf die dop- gen sich dagegen immer prograd: Bahnen am Rand der Hill-Sphäre
pelte Anzahl. Von einem Punkt weit über dem Während Kallisto, der äußerste regu-
Inzwischen ist Sheppard um 100 Nordpol aus betrachtet, bewegt sich läre Jupitermond, in knapp 17 Tagen
Dollar reicher, denn seit jener Nacht der Mond auf seiner Bahn gegen den den Riesenplaneten im Abstand von
hat allein unser Team 63 neue Monde Uhrzeigersinn, und auf dieselbe Weise 1,9 Millionen Kilometern umläuft, be-
aufgespürt. Die meisten davon umlau- dreht sich die Erde und umläuft die nötigt der noch namenlose irreguläre
fen ihre Planeten auf lang gestreckten Sonne. Mond S/2003 J2 dafür etwa 982 Tage
Ellipsen, deren Bahnebenen oft erheb- Vermutlich spiegelt dieses Muster und entfernt sich bis auf 28,5 Millio-
lich gegen die Äquatorebene ihrer Pla- die Drehrichtung der Gas- und Staub- nen Kilometer. Das ist beinahe der Ra-
neten geneigt sind. Diese Eigen- scheibe wider, aus der vor 4,5 Milli- dius der so genannten Hill-Sphäre Ju-
schaften kennzeichnen sie als »irregu- arden Jahren die Sonne und unser Pla- piters, definiert als der Bereich, den
läre Monde« und unterscheiden sie netensystem entstanden. Dass reguläre dieser Planet mit seiner Schwerkraft
von den regulären Monden, wie den Monde dieser Bewegungsrichtung fol- beherrscht. Außerhalb der Hill-Sphäre
bereits 1610 von Galileo Galilei ent- gen, lässt Astronomen vermuten, sie überwiegt der Schwerkrafteinfluss der
deckten vier Begleitern Jupiters, die seien in den Scheiben um junge Pla- Sonne. Von der Erde aus gesehen hat
diesen Riesenplaneten auf nahezu kreis- neten entstanden. die Hill-Sphäre Jupiters am Himmel ei- r

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ASTRONOMIE z
r nen Durchmesser von knapp acht Grad.
Das ist das Fünfzehnfache des Voll-
zerrt an ihnen sowohl die Schwerkraft
des Planeten als auch die der Sonne. Monde auf schiefer Bahn
monddurchmessers – und damit viel Daraus ergibt sich eine Drehung der
größer als das Gesichtsfeld der meisten Ellipsenbahn (Apsidendrehung), sodass
Teleskope. sich die Bahnen nicht als geschlossene
Wer eine solche Region nach neuen Kurven darstellen lassen – sie ähneln
Monden absuchen will, benötigt neueste vielmehr den mit einem Spirografen auf-
elektronische Detektoren und muss pro gezeichneten, verwickelten Kurven.
Nacht bis zu 100 Gigabyte Daten ana- Wirken verschiedene Einflüsse gleich-
lysieren (siehe Kasten auf S. 52). Unsere zeitig auf einen Mond ein, wird die Situ-
eigene Durchmusterung, der »Hawaii ation noch komplizierter. Stimmt etwa
Moon Survey«, war zunächst vorrangig die Periode der Apsidendrehung mit der
Jupiter gewidmet. Dies ist der uns nächst- Umlaufzeit des Planeten überein, so ge-
gelegene Riesenplanet, und so können langt der Mond in eine Resonanz. Die
wir in seiner Nähe kleine Monde aufspü- Schwerkraft der Sonne zerrt stets am
ren, die in größerem Abstand nicht zu gleichen Punkt auf der Umlaufbahn an JUPITER
regulär: 8; irregulär: 55
erkennen wären. dem Mond, wodurch sich ihr Einfluss
Andere Forscherteams unter der Lei- im Lauf der Zeit aufsummiert. Das
tung von Brett Gladman von der Uni- kann die Bahnellipse immer länger stre-
versität von British Columbia (Kanada), cken, bis der Mond mit dem Planeten
Matthew Holman vom Harvard-Smith- beziehungsweise einem seiner regulären
sonian Center for Astrophysics sowie J. J. Monde kollidiert oder die Hill-Sphäre
Kavelaars vom Herzberg-Institut für As- verlässt und in eine heliozentrische Um-
trophysik in Victoria (Kanada) nahmen laufbahn gerät. Dieser Prozess erklärt,
parallel die Suche nach irregulären Mon- warum kein bekannter irregulärer Mond URANUS
den von Saturn, Uranus und Neptun Jupiter näher als sechs Millionen Kilo- regulär: 18; irregulär: 9
auf. Das überraschende Ergebnis: Diese meter kommt.
vier Riesenplaneten besitzen trotz unter- Sind die Neigung und die Form der
schiedlicher Massen vergleichbare Syste- Umlaufbahn miteinander gekoppelt, so
me irregulärer Monde, die jeweils bis zu sprechen Astronomen von einer Kozai-
hundert Objekte mit Größen von mehr Resonanz. Monde, die in eine stark ge-
als einem Kilometer umfassen könnten. neigte Umlaufbahn gezogen werden, lan-
Irreguläre Monde weisen unter- den schließlich in lang gestreckten Ellip-
schiedliche Größen auf, doch insgesamt sen, was zu ihrer Zerstörung führen oder
sind die kleinen viel häufiger als die sie aus der Hill-Sphäre verdrängen kann.
großen. Bei denen Jupiters reicht das Das ist ein möglicher Grund dafür, dass NEPTUN
DON DIXON

Spektrum von der 180 Kilometer gro- wir keine Monde mit Bahnneigungen regulär: 6; irregulär: 7
ßen Himalia bis zu Winzlingen mit zwischen 50 und 130 Grad finden. Heu-
Durchmessern von nur ein bis zwei Ki- te existierende irreguläre Monde haben
lometern. vermutlich äußere Schwerkrafteinflüsse ihren Ursprung, sondern auch das Auf-
Nur wenige andere Objekte im Son- überstanden, die viele ihrer Geschwister treten der Monde in Gruppen oder Fa-
nensystem haben so komplizierte Um- verschwinden ließen. milien, deren Mitglieder sich in mancher
laufbahnen wie diese Monde. Da sie sich Nicht nur die Bahnverläufe einzelner Weise ähneln. Die einfachste Erklärung
so weit von ihren Planeten entfernen, irregulärer Monde liefern Hinweise auf für ihre Existenz wäre, dass es sich dabei
um die Bruchstücke eines größeren
Monds handelt, der einer Kollision zum
IN KÜRZE Opfer fiel. Jupiters Gruppen enthalten
jeweils bis zu 17 Mitglieder.
r Bis vor wenigen Jahren vermuteten Astronomen, die meisten Monde seien Umfangreiche Computersimulatio-
in Scheiben um ihre Planeten entstanden, denn sie kreisen in deren Äquatorebene nen von David Nesvorny vom South-
und bewegen sich in derselben Richtung, in der sich ihr Planet um sich selbst west Research Institute in Boulder (Co-
dreht. Monde, die nicht in dieses Bild passen, gelten als irregulär. lorado) zeigen, dass die Zahl der Zusam-
r Neuen Beobachtungen zufolge bilden irreguläre Monde jedoch die Mehrheit der menstöße zwischen Kometen, Monden
Monde im Sonnensystem. Ihre lang gestreckten, verwickelten und gegen die und anderen interplanetaren Kleinkör-
Bahnebene der Planeten geneigten Umlaufbahnen deuten darauf hin, dass sie pern in den letzten drei bis vier Milliar-
nicht im Umfeld ihres Planeten, sondern anderswo entstanden. den Jahren drastisch abgenommen hat.
r Vermutlich waren es Kometen und Asteroiden aus dem Kuiper-Gürtel jenseits Sind die irregulären Monde durch diesen
des Neptuns oder aus dem Innern des Sonnensystems, die durch Kollisionen oder Prozess entstanden, dann muss es bereits
andere Wechselwirkungen eingefangen wurden. kurz nach der Entstehung des Sonnen-
systems zu diesen Ereignissen gekommen

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Bis vor wenigen Jahren war die Ausdehnung des Mondsys- und andere noch namenlose Trabanten sind weiter von dem
tems von Saturn unbekannt. Reguläre Monde (blau) wie Ti- Planeten entfernt und beschreiben komplizierte Umlauf-
tan und Japetus ziehen ihre Bahn relativ nahe um den Pla- bahnen. Manche von ihnen bewegen sich entsprechend der
neten und umlaufen ihn ungefähr in seiner Äquatorebe- Drehrichtung des Planeten (rot), andere jedoch entgegen-
ne in gleicher Drehrichtung. Irreguläre Monde wie Phoebe gesetzt (grün).

Titan

reguläre
Umlaufbahn
Phoebe

irreguläre
Umlaufbahnen

SATURN
regulär: 21; irregulär: 35

sein, als noch mehr Kollisionspartner Phoebe vorbeiflog, sandte sie atemberau- völlig eisfrei. Vermutlich liegt das an
vorhanden waren. bend hoch aufgelöste Bilder zur Erde, ihrer relativen Nähe zur Sonne, in der
Dass die meisten irregulären Monde die eine kraterübersäte Oberfläche zeig- Eis verdampfen würde. Die irregulären
so lichtschwach sind, machte es bislang ten. Im Spektrum des von der Oberflä- Monde Jupiters erinnern deshalb an tote
unmöglich, ihre chemische Zusammen- che reflektierten Sonnenlichts fanden Kometen, die ihre flüchtigen Bestand-
setzung aus Spektren zu bestimmen. Ein- sich Linien, die auf gefrorenes Wasser teile im Lauf der Zeit verloren haben.
facher ist es, die Farben ihrer Oberflä- und Kohlendioxid hinwiesen. Dieser Vergleich zwischen irregulären
chen zu messen. Beobachtungen von Monden und Kometen scheint berech-
Tommy Grav von der Harvard-Universi- Rätselhafter Einfang tigt, denn in beiden Fällen handelt es
tät und seinen Mitarbeitern zufolge äh- Fünfzehn Jahre zuvor, im August 1989, sich vermutlich um Überreste aus der
neln sich diese bei den Mitgliedern einer war die Raumsonde Voyager 2 an Nep- Frühzeit des Sonnensystems, die irgend-
Gruppe stark. Das weist auf deren ähn- tun vorbeigeflogen und hatte Bilder und wie von den Planeten eingefangen wur-
liche chemische Zusammensetzung hin Spektren von dessen Monden Nereid den. Wie dies genau geschah, bleibt rät-
und spricht für den Verdacht, dass die und Triton aufgenommen, die beide als selhaft.
Mitglieder einer Gruppe Fragmente ein irregulär bekannt waren. Auch ihre Dass die Schwerkraft von Sonne und
und desselben Ursprungskörpers sind. Oberflächen wiesen deutliche Eisspuren Planeten Asteroiden und Kometen in
Zumindest von drei irregulären auf, was den Verdacht aufkommen lässt, kurzlebige Umlaufbahnen um die Rie-
Monden wissen wir Genaueres über die dass sie wie Kometen in recht großem senplaneten zieht, gehört zum Alltag im
Oberfläche. Als die Raumsonde Cassini Abstand zur Sonne entstanden. Sonnensystem. Ein zeitweiliger Einfang
am 11. Juni 2004 auf ihrem Weg zum Dagegen sind Jupiters irreguläre ähnelt kleinen Laubwirbeln an einem
Ringplaneten Saturn an dessen Begleiter Monde pechschwarz und anscheinend Herbsttag: Die Blätter wirbeln vielleicht r

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ASTRONOMIE z
r ein Dutzend Mal im Kreis herum, doch
dann stieben sie auf unvorhersehbare Art Wie man einen Mond einfängt
und Weise auseinander.
Ein Beispiel ist der Komet Shoe-
maker-Levy 9, der irgendwann im 20.
Jahrhundert in eine Bahn um den Jupiter
einschwenkte und schließlich 1994 mit
dem Planeten kollidierte. Hätte es nicht
dieses dramatische Ende gegeben, dann
wäre der Komet vermutlich nach weni-
gen hundert Jahren zurück in eine helio-
zentrische Umlaufbahn geschleudert wor-
den. Inzwischen kennen Astronomen
mehrere Objekte, die einen temporären Planetesimal
Einfang durch Jupiter überstanden haben
und nun wieder die Sonne umkreisen.
Um dauerhaft von einer heliozent-
rischen Bahn in eine gebundene, stabile
Bahn um einen Planeten zu gelangen,
muss ein Himmelskörper einen Teil
seiner ursprünglichen Energie abgeben.
Im heutigen Sonnensystem gibt es dafür
keinen wirksamen Mechanismus, und so
wurden die Monde vermutlich in der
Frühzeit des Sonnensystems eingefan-
gen, als andere Bedingungen herrschten.
Bereits in den 1970er Jahren schlugen Protoplanet
Theoretiker drei Mechanismen vor, die
damals am Werk gewesen sein könnten.

Problematische Gasreibung
James B. Pollack und Joseph A. Burns
vom Ames-Forschungszentrum der Nasa
sowie Michael E. Tauber von der Cor- Die seltsamen Umlaufbahnen der irregulären Monde wecken den Verdacht, dass
nell-Universität untersuchten den Ener- sie nicht in der Umgebung ihrer Planeten entstanden, sondern von diesen ein-
gieverlust, der einem Mond durch Rei- gefangen wurden. Astronomen diskutieren über drei mögliche Szenarien für
bung in den ausgedehnten Atmosphären diesen Vorgang, an dessen Anfang jeweils die Bildung von Planetesimalen
der jungen Gasplaneten widerfährt. Im steht, Körpern von der Größe heutiger Asteroiden. Diese ballten sich entweder
Gegensatz zur Erde und den anderen ter- zu den Gesteinskernen heutiger Riesenplaneten zusammen oder sie blieben
DON DIXON

restrischen Planeten bestehen Jupiter und übrig und konnten später eingefangen werden.
Saturn hauptsächlich aus Wasserstoff und
Helium. Wahrscheinlich bildete sich bei
diesen Planeten zunächst jeweils ein rund bremst die Reibung den Himmelskörper In der Zwischenzeit hatte sich die
zehn Erdmassen großer Kern aus Gestein jedoch gerade so ab, dass er eingefangen Gasscheibe um die Sonne jedoch schon
und Eis, der große Mengen von Gas aus wird. Das ist gewissermaßen eine natür- weit gehend verflüchtigt. Uranus und
der Scheibe um die junge Sonne an sich liche Version des »Aerobraking«, das Neptun besaßen niemals ausgedehnte
zog. Bevor die Planeten ihre heutige, viele Raumsonden nutzen, um in eine Atmosphären, welche passierende Astero-
kompakte Form erreichten, durchliefen Umlaufbahn um ihren Zielplaneten ein- iden oder Kometen durch Reibung hät-
sie vermutlich eine Phase, während der zuschwenken. ten abbremsen und einfangen können.
ihre Atmosphäre auf das Vielfache ihres Die Gasreibung erklärt jedoch nicht Auch im zweiten Szenario findet der
heutigen Durchmessers anwuchs. die Existenz der irregulären Monde um Einfang während der Wachstumsphase
Was mit einem Kometen oder Aste- die Eisriesen Uranus und Neptun, die der Planeten statt. Die Akkretion von
roiden passiert, der an einem solchen vor allem aus Gestein und Eis sowie Spu- Gas auf die Kerne der späteren Riesen-
Gasriesen vorüberzieht, hängt von seiner ren von Wasserstoff und Helium beste- planeten lässt die Masse rasch anwachsen
Größe ab. Massearme Kleinkörper ver- hen und die Sonne in größerem Abstand und damit weiten sich auch die Hill-
glühen in der ausgedehnten Atmosphä- umlaufen. Dort war die Dichte der zir- Sphären um die Planeten aus. Asteroiden
re. Massereiche werden von der Atmo- kumsolaren Scheibe zunächst geringer und andere Objekte, die sich während
sphäre hingegen kaum beeinflusst; sie und es dauerte länger, bis die Planeten- dieses schnell ablaufenden Prozesses in
umkreisen die Sonne weit gehend unge- kerne Gas aus der Umgebung anziehen der Nähe aufhielten, fanden sich plötz-
stört. In einem mittleren Größenbereich konnten. lich im Einflussbereich des planetaren

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Proto-
atmosphäre

irregulärer
Mond

Atmosphärenbremsung
Der Planetenembryo zieht Gas aus seiner Umgebung an, wächst dadurch und bildet eine aufgeblähte Atmosphäre aus.
Beim Streifen dieser Gashülle verlieren Planetesimale durch Reibung Energie und können eingefangen werden.

Hill-Sphäre

Einzugseinfang
Der junge Planet zieht Gas an, wächst schnell zu einem massereichen Objekt mit stärkerem Gravitationsfeld heran
und kann Planetesimale aus seinem gewachsenen Einflussbereich an sich binden.

Drei-Körper-Einfang
Nachdem der Planet seine endgültige Größe und Masse erreicht hat, kommt es in
seiner Nähe zum Beinahezusammenstoß zweier Planetesimale. Dabei verliert einer von ihnen Energie und wird
in einer Umlaufbahn um den Planeten gefangen (weiß), während der andere Energie gewinnt und entkommt (rot).

Schwerkraftfelds wieder. Vorgeschlagen hunderten abgelaufen sein, um den Ein- Diesem zufolge könnte bei der Kollision
wurde dieser Prozess im Jahr 1976 von fang zu ermöglichen, und das erscheint zweier kleiner Himmelskörper in der
Thomas A. Heppenheimer und Carolyn vielen Experten unrealistisch kurz. Alan Hill-Sphäre eines großen Planeten so viel
Porco am California Institute of Tec- Boss von der Carnegie Institution of Energie freigesetzt werden, dass einer der
nology, die ihn Einzugseinfang (Pull- Washington schlug als Alternative vor, beiden kleinen Körper eingefangen wird.
down capture) tauften. Uranus und Neptun seien ursprünglich Über mehr als drei Jahrzehnte stieß die-
genauso massereich gewesen wie Jupi- ser »Drei-Körper-Einfang« auf geringes
Schicksalsreiche Zusammenstöße ter und Saturn, hätten jedoch anschlie- Interesse, weil derartige Kollisionen im
Auch für diesen Mechanismus erweisen ßend auf Grund der Strahlung naher heutigen Sonnensystem sehr selten sind.
sich Uranus und Neptun als Problemfäl- Sterne im Lauf der Zeit einen Teil ihrer Neuere Arbeiten zeigen jedoch, dass
le, denn vermutlich sind sie langsam an- Masse verloren. Die Existenz irregulä- gar kein Zusammenstoß nötig ist: Der
gewachsen. Den Modellen zufolge er- rer Monde in ihrer Nähe verblüfft, denn Prozess funktioniert auch dann, wenn
reichten sie durch die Aufnahme von As- ein schrumpfender Planet würde eher drei Körper über ihre Schwerkraft auf-
teroiden und Kometen allmählich ihre Monde verlieren als einfangen. einander wirken und dabei Energie aus-
heutigen Massen, was bis zu einhundert Bereits 1971 schlugen Bepi Colom- tauschen. Im Mai dieses Jahres schlugen
Millionen Jahren gedauert haben kann. bo und Fred Franklin vom Harvard- Craig Agnor von der Universität von Ka-
Doch selbst bei Jupiter und Saturn Smithsonian Center for Astrophysics ein lifornien in Santa Cruz und Doug Ha-
müsste der Prozess innerhalb von Jahr- drittes, völlig unabhängiges Szenario vor. milton von der Universität von Mary- r

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ASTRONOMIE z
r land eine Variante des Drei-Körper-Ein-
fangs vor, bei dem die Schwerkraft eines r
Triton, ein Begleiter Neptuns, ist
mit einem Durchmesser von 2700
großen Planeten ein kleineres Doppel- Kilometern der größte bekannte irregu-
Objekt auseinanderreißt, wobei eines der läre Mond im Sonnensystem. Als erster
beiden Objekte weiterfliegt, während das Vertreter dieser Art wurde er bereits 1846
andere eingefangen wird. von dem englischen Amateurastronomen
Inzwischen ist der Drei-Körper-Ein- William Lassell entdeckt. Erst beim Vor-
fang für Astronomen besonders interes- beiflug der Raumsonde Voyager 2 gelang
sant, weil er sowohl bei Gas- als auch bei es Mitte 1989, Bilder seiner eisbedeckten
Eisriesen wirksam ist und daher die Exis- Oberfläche aufzunehmen, die für einen
tenz irregulärer Monde bei Uranus und sonnenfernen Entstehungsort sprechen.

NASA / JPL
Neptun erklären kann. Voraussetzung
ist, dass genug Kollisionen oder sehr
nahe Vorübergänge in der Nähe des Pla-
neten stattfanden. Am ehesten war das zwar masseärmer als Jupiter und Saturn, chen Region entstanden sind wie der
wohl am Ende der Planetenbildung der dafür aber weiter von der Sonne ent- Planet, der sie später einfing. Die meis-
Fall, als die Hill-Sphäre bereits ihre jet- fernt, und da sich diese Effekte gegensei- ten der vor 4,5 Milliarden Jahren vor-
zige Größe erreicht hatte und noch viele tig kompensieren, ähneln sich die Grö- handenen Kleinkörper wären dann mit
Überreste der Planetenentstehung vor- ßen ihrer Hill-Sphären. den entstehenden Planeten zusammen-
handen waren. Doch auch wenn der Drei-Körper- gestoßen oder aus dem Sonnensystem
Vielleicht kann der Drei-Körper-Ein- Einfang am ehesten die heutigen Auf- herausgeschleudert worden – allein die
fang sogar auf elegante Weise erklären, enthaltsorte der irregulären Monde zu irregulären Monde hätten ihre Umlauf-
warum alle vier Riesenplaneten ungefähr erklären vermag, bleibt deren Ursprung bahn behalten.
die gleiche Anzahl von irregulären Mon- weiter ungewiss. Vielleicht sind es Aste- Neuere Modelle ergeben ein weiteres
den besitzen: Uranus und Neptun sind roiden oder Kometen, die in der glei- Szenario. Dem zufolge war das Sonnen-

Hill-Sphären im Visier
Weit entfernt, klein und lichtschwach: Ir- Wir haben viele unserer Entdeckun-
reguläre Monde zählen zu den schwie- gen mit dem Canada-France-Hawaii-Te-
rigsten Beobachtungsobjekten im Son- lescope (CFHT) auf dem Mauna Kea in
nensystem. Wie Nadeln im Heuhaufen Hawaii gemacht. Der Hauptspiegel des
sind sie über einen großen Himmelsaus- Fernrohrs ist mit einem Durchmesser
schnitt um ihre Planeten verteilt. Um sie von 3,6 Metern nach heutigen Maß-
aufzufinden, sind deshalb die moderns- stäben zwar eher bescheiden, doch
ten Weitwinkelkameras erforderlich. dafür ist dieses Gerät mit einem der
größten existierenden elektronischen
Detektoren ausgestattet: der Mega-

u
Um große Himmelsfelder zu durch- Cam, die mit ihren 268 Millionen Pixeln D. JEWITT, S. SHEPPARD UND J. KLEYNA

mustern, eignet sich diese im Pri- ein Quadratgrad des Himmels erfasst.
märfokus des japanischen 8-Meter-Teles- Angesichts der zahlreichen Objekte
kops Subaru installierte Kamera. im Bildfeld dieser Kamera ist es eine
SUBARU TELESCOPE, NATIONAL ASTRONOMICAL OBSERVATORY OF JAPAN
Herausforderung, zwischen Objekten
im Sonnensystem und zahlreichen,
weiter entfernten Sternen und Galaxien
zu unterscheiden. Wir verwenden dafür
zwei Methoden. Die erste beruht auf
einer Entfernungsbestimmung, für die
wir drei zu unterschiedlichen Zeitpunk-
ten aufgenommene Bilder derselben

o
Himmelsregion vergleichen. In diesem Diese im Abstand von 39 Minuten
Zeitraum hat sich die Erde auf ihrer aufgenommenen Bilder führten am
Bahn um die Sonne weiterbewegt, was 26. Februar 2003 zur Entdeckung von
unseren Blickwinkel verändert hat. Weit S/2003 J14, einem irregulären Mond Ju-
entfernte Objekte sehen wir in nahe- piters (rot), der sich auffällig vor den Ster-
zu unveränderter Konstellation, doch nen und Galaxien im Hintergrund be-
nahe Objekte wie die irregulären Monde wegte. Vermutlich ist der Mond etwa zwei
erscheinen vor diesem Hintergrund Kilometer groß.

52 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


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system bis etwa 700 Millionen Jah- Sobald es gelingt, Spektren des von
re nach der Bildung der Planeten mit
Überresten der Entstehungsphase über-
den irregulären Monden reflektierten
Lichts aufzunehmen und daraus auf
WICHTIGE
sät. Dann wirkten Jupiter und Saturn
durch ihre Schwerkraft derart aufeinan-
deren chemische Zusammensetzung zu
schließen, wird es möglich sein, diese
ONLINE-
der ein, dass die resultierenden Schwin-
gungen das gesamte System erschüt-
Szenarien zu überprüfen. Sind die irre-
gulären Monde verschiedener Planeten ADRESSEN
terten. Milliarden von Asteroiden und chemisch unterschiedlich zusammenge-
Kometen wurden aus ihren Bahnen ge- setzt, so spräche dies für die erste Hy-
rissen, während die großen Planeten ihre pothese, bei der sie im Umfeld ihrer
heutigen, stabileren Bahnen einnahmen. Planeten entstanden sind. Ähneln sich  Dipl.-Ing. Runald Meyer VDI
Ein kleiner Teil dieser umherirrenden ihre chemischen Zusammensetzungen Entwicklung, Konstruktion,
Asteroiden und Kometen wurde in die- jedoch, so spräche dies für das zweite Technische Berechnung
ser Phase von den Riesenplaneten einge- Szenario, in dem sich alle irregulären Strömungsmechanik
fangen. Monde in der gleichen Region bildeten www.etastern.de
In diesem Modell, das Kleomenides und erst später zerstreut wurden.
Tsiganis von der Sternwarte der Côte Aus Beobachtungen der irregulären
 DOK –
d’Azur in Nizza und Kollegen von der Monde könnten wir dann lernen, ob
Düsseldorfer Optik-Kontor
Universität Rio de Janeiro sowie dem das Sonnensystem einst eine turbulen- Kontaktlinsen online bestellen
South-West Research Institute in Boul- te Neuordnung der Planetenbahnen www.dok.de
der (Colorado) vorschlugen, entstanden durchgemacht hat. Wie Bremsspuren
die meisten kleinen Himmelskörper im auf einer Straße nach einem Autounfall
so genannten Kuiper-Gürtel jenseits der verraten sie uns etwas über eine Ge-  Kernmechanik –
Neptunbahn (siehe Spektrum der Wis- schichte, die wir selbst nicht miterleben Optimiertes Modell:
senschaft 7/1996, S. 56). konnten. l Kernspin + Dipolmomente
www.kernmechanik.de

 Quantenphysik 17.-19.11.06
Seminar für physikalisch und philosphisch
verschoben – und zwar umso stär- Interessierte, geistige Anregung und
ker, je näher sie uns sind. körperliche Erholung in schönem Ambiente
Die zweite Methode nutzt www.fem-institut.de
David Jewitt, Scott S. Sheppard und Jan
Geschwindigkeitsmessungen. Zu- Kleyna (v. l. n. r.) gehören zu den weltweit
nächst nehmen wir in relativ kurzem erfolgreichsten Entdeckern neuer Monde.  Top-quality, in detail-consulting
Abstand mehrere Dutzend Bilder ei- Jewitt begann im Alter von sieben Jahren, aus Industrie & Hochschule
ner Himmelsregion auf. Anschlie- sich für Astronomie zu interessieren, als er
A U T O R E N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

Energiespeicher, Superisolationen,
ßend überlagern wir diese Bilder, in London einen spektakulären Meteorschau- Oberflächen, Modeling, EU-Anträge
er sah. Er ist jetzt Professor für Astronomie
verschieben sie jedoch leicht gegen- www.haraldreiss.de
an der Universität von Hawaii. Sheppard be-
einander, und zwar entsprechend gann seine wissenschaftliche Laufbahn als
der zu erwartenden Bahngeschwin- Student von Jewitt und ist gegenwärtig
Postdoktorand an der Carnegie Institution of  Zahn-Implantate preiswert
digkeit der von uns gesuchten ir-
Washington. Kleyna ist Postdoc an der Uni- Sparen Sie bis zu € 2000 für ein
regulären Monde. Auf der Überla- Titanimplantat plus Zirkonoxid-Krone
versität von Hawaii.
gerung erscheinen die Hintergrund- www.dentaprime.info
sterne als Striche und die irregulären A survey for »normal« irregular satellites
around Neptune: Limits to completeness.
Monde als helle Punkte. Da diese
Von Scott S. Sheppard, David Jewitt und
Methode mehr Aufnahmen einer Jan Kleyna in: Astronomical Journal, Bd.
Himmelsregion nutzt, ist sie zum 132, S. 171, 2006
Auffinden lichtschwacher Objekte
Cassini imaging science: Initial results on
geeigneter als die erste. Dafür dau- Phoebe and Iapetus. Von Carolyn Porco et al.
ert die Durchführung einer komplet- in: Science, Bd. 307, S. 1237, 2005
ten Durchmusterung länger. Irregular satellites in the context of planet Hier können Sie den Leserinnen und Lesern von Spek-
Um sicherzugehen, dass wir tat- formation. Von David Jewitt und Scott trum der Wissenschaft Ihre WWW-Adresse mitteilen.
sächlich Monde gefunden haben Sheppard in: Space Science Reviews, Bd. Für € 83,00 pro Monat (zzgl. MwSt.) erhalten Sie
und nicht etwa Asteroiden oder Ko- 114, S. 407, 2004 einen maximal fünfzeiligen Eintrag, der zusätzlich auf
meten, überwachen wir sie mehrere The discovery of faint irregular satellites of der Internetseite von Spektrum der Wissenschaft er-
Monate lang und überprüfen so, ob Uranus. Von J. J. Kavelaars et al. in: Icarus, scheint. Mehr Informationen dazu von
sie wirklich um ihren jeweiligen Pla- Bd. 169, S. 474, 2004
GWP media-marketing
neten kreisen. Weblinks zum Thema finden Sie bei www. Mareike Grigo
spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«. Telefon 0211 61 88-579
E-Mail: m.grigo@vhb.de

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 53
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOBATTERIEN z
Schwerpunkt

Winziges Nanotechnologie
r
r
Nanobatterien ...........................
Rastersondenmikroskope ..........
r Funktionstextilien ......................
S. 54
S. 57
S. 58

Energiepaket r Die Chemie von Nanowasser ....


r Gefährliche Nanopartikel? ........
r Atomgenaues Positionieren ......
S. 62
S. 64
S. 66

Im Vergleich zu Mikrochips wirken Batterien wie klobige Relikte aus


den Urzeiten der Elektronik. Nanotechnik soll dem bald abhelfen.

Von Charles Q. Choi

S
eit der Erfindung des Transistors
sind fast sechzig Jahre vergangen. chips, sondern an Systeme, die auf ein Si-
Doch vergleicht man den etwa 2,5 gnal hin erwachen und rasch Energie frei-
Zentimeter breiten Stammvater setzen. Netzwerke von Sensoren zur erspannung wird über eine Elektrode hin-
mit seinen Millionen Nachfahren auf Überwachung von Atomanlagen oder ter dem Substrat appliziert, das seinerseits
einem heutigen Computerchip, scheinen Mülldeponien wären eine mögliche An- aus einem Isolator besteht.
Äonen vergangen. Für Batterien, die mo- wendung, auch massenhaft gefertigte Sen- Krupenkin überlegte nun, auf diese
bile elektronische Geräte mit Strom und soren für Giftgase, die von Flugzeugen Weise auch winzige chemische Reaktoren
Spannung versorgen, fällt dieser Vergleich über Kampfgebieten abgeworfen würden. zu bauen. Er ersann eine Anordnung dicht
weit weniger schmeichelhaft aus. Denn Sobald der Alarmfall eintritt, soll ein sol- stehender Reihen nur wenige Nanometer
während Transistoren auf ein Hundert- cher Messfühler ein Signal senden. Dazu hoher »Säulen«, deren Oberfläche von su-
tausendstel ihrer Größe schrumpften, wer- benötigt er eine Stromversorgung, die lan- perhydrophob auf hydrophil zu schalten
den die Abmessungen der Ladungsspei- ge auf ihren Einsatz warten kann – min- sein sollte. Solange sie sich im ersteren Zu-
cher noch in Zentimetern gemessen. destens 15 Jahre sollen die neuen Nano- stand befinden, würden flüssige Reagen-
Das Konzept des Transistors wurde in batterien ruhen können, ohne an Ladung zien winzige Tropfen bilden, die in den
den Bell Laboratories geboren. Inzwi- zu verlieren. Lücken zwischen den Säulen verharren.
schen bilden die »Bell Labs« die Ideen- Schaltet man ihre Oberflächen auf hydro-
schmiede des Netzwerkgiganten Lucent Kontaktscheue Linsen phil, müssten Kapillarkräfte die Tröpfchen
Technologies und sind längst nicht mehr Die entscheidende Idee hatte Tom Kru- zwischen den Säulen auf den Boden zie-
auf den Firmensitz in Murray Hill (New penkin, der bei Bell Labs über flüssige Mi- hen – wo diese mit dort wartenden Subs-
Jersey) beschränkt. Obwohl elektrische krolinsen forschte, wie sie inzwischen in tanzen in Kontakt kämen. Krupenkin er-
Energiespeicher eigentlich nicht das Ge- vielen Fotohandys zu finden sind. Diese kannte das Potenzial, auf diese Weise erst-
schäft dieses Unternehmens sind, hat Bell Linsen verändern ihre Form und damit mals eine Nanobatterie zu realisieren.
Labs nun beschlossen, die Batterie neu zu ihre Brennweite, wenn sich die Benetzbar- Eine typische Einwegbatterie besteht
erfinden. Abmessungen im Nanometerbe- keit ihrer Kontaktfläche ändert: Ist sie aus Anode und Kathode, eingetaucht in
reich und eine Massenfertigung mit den »hydrophil«, breitet sich die Flüssigkeit einen Elektrolyten. Der vermittelt eine
Verfahren der Halbleiterindustrie, so lau- darauf aus, ist sie aber »superhydrophob«, chemische Reaktion zwischen den beiden
ten die ehrgeizigen Ziele. Dann nämlich versucht die Linse sozusagen, den Kontakt Elektroden, dabei werden Elektronen aus-
lassen sich die Speicher in die Schaltungen zu vermeiden und ballt sich zur Kugel. getauscht – es fließt Strom. Solange kein
integrieren, also gemeinsam mit den Tran- Der jeweilige Zustand lässt sich elektrisch Verbraucher angeschlossen ist, sollte die
sistoren fertigen. Allerdings denken die umschalten, ein Effekt, den man electro- elektrochemische Reaktion unterbleiben.
Wissenschaftler dabei nicht an eine per- wetting nennt. Freilich muss die Flüssig- Tatsächlich verliert eine Batterie pro Jahr
manente Stromversorgung von Mikro- keit dazu Strom leiten können. Die Steu- etwa sieben bis zehn Prozent der gespei-

54 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
S

o
LM

Wenige Nanometer große Säulen


FI
IM
SL

aus Silizium bildeten das Aus-


gangsdesign für ein völlig neuartiges Bat- fertigte vor allem Komponenten für den
teriekonzept, bei dem der Elektrolyt von Breitband- und Video-DSL-Markt für
der Kathode ferngehalten wird, bis die Privatkunden, suchte aber nach Möglich- den: eine Kathode aus Mangandioxid (so
jeweilige Anwendung Energie benötigt. keiten, in der Nanotechnologie Fuß zu genannter Braunstein) und eine Anode
fassen. Dabei war allerdings klar, dass jeg- aus Zink. Beide bildeten den Deckel be-
liche Aktivität drei Kriterien genügen ziehungsweise den Boden des Sandwichs.
müsste: keine lange Entwicklungszeit, Dazwischen sollten 350 Nanometer brei-
cherten elektrischen Energie. Dies kön- mögliche militärische Anwendungen, ge- te, sieben Mikrometer hohe und im Ab-
nen Barrieren zwischen Elektroden und ringe Kosten in der Anlaufphase. stand von etwa zwei Mikrometern plat-
Elektrolyten zwar verhindern. Doch das Die Nanobatterien erfüllten offenbar zierte Siliziumsäulen eine Zinkchlorid-
macht solche Ladungsspeicher voluminös, alle diese Anforderungen und im Februar Lösung zwischen den Elektroden auf
sie werden deshalb nur als Notfallreserve 2004 unterzeichneten die beiden Un- Widerruf separieren. Dazu wurden die
etwa auf Intensivstationen oder in militä- ternehmen einen Kooperationsvertrag. Spitzen der Säulen mit Fluorkohlen-
rischen Systemen eingesetzt. mPhase begann sogleich, die Erwartungen stoff überzogen, dessen Benetzbarkeit
Krupenkins Konzept bot dazu eine potenzieller Kunden zu eruieren. Lucent sich durch eine Steuerspannung einstel-
echte Alternative. »Lucent Technologies stellte Lizenzen, einen 450 Millionen Dol- len lässt. Der Rest der Säulen wurde mit
ist eigentlich in diesem Marktsegment lar teuren Reinraum sowie Kontakte zu Siliziumdioxid elektrisch isoliert.
nicht tätig, wir würden aber dennoch gern Halbleiterexperten zur Verfügung.
die Batterietechnik revolutionieren«, er- Im September darauf präsentierten Problematischer Bodendecker
klärte David Bishop, stellvertretender Lei- die Forscher bereits einen funktionsfä- Doch auf dem Boden Zink abzuscheiden,
ter der Nanoforschung bei Bell Labs. Ge- higen Prototyp in Sandwichbauweise. erwies sich als schwierig. Das Standardver-
eignete Partner fand er bei einer Präsenta- Zur Stromerzeugung nutzten sie Verbin- fahren zur Metallisierung von Oberflä-
tion vor drei Jahren. Das ebenfalls in New dungen, wie sie in den weit verbreiteten chen ist das Galvanisieren: Das zu be-
Jersey ansässige Unternehmen mPhase Alkali-Mangan-Batterien verwendet wer- schichtende Objekt wird an den Minuspol r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 55
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOBATTERIEN

Design einer Nanobatterie


z
Eine Wabenmembran aus Silizium separiert im aktuellen bleibt jegliche chemische Reaktion, bis eine Steuer-
Prototyp den Elektrolyten von den nebeneinander an- spannung die Membran durchlässig macht und die
geordneten Elektroden (links). Auf diese Weise unter- Batterie Strom liefert (rechts).

Elektrolyt

Kathode Anode Wabenmembran Stromfluss


SLIM FILMS

r einer Spannungsquelle angeschlossen, eine te, unerwünschte chemische Reaktionen So könnten weitere Chemikalien den
Metallanode löst sich im Elektrolyten und seien da nicht auszuschließen. Inzwischen Elektrolyten nach Gebrauch wieder neu-
schlägt sich am fraglichen Ort nieder. bildet er die oberste Lage eines neuen tralisieren. Gerade bei Netzen von Um-
Dazu musste der Boden freilich elektrisch Sandwichs – eine wabenartige Nanostruk- weltsensoren wäre das eine wichtige An-
leiten können. Doch bei der Fertigung bil- tur trennt ihn von den inzwischen neben- forderung. Statt Silizium ließe sich viel-
dete sich auch dort Siliziumdioxid. Es ge- einander auf dem Boden angeordneten leicht auch ein Kunststoff verwenden,
lang den mPhase-Entwicklern, diese Oxid- Elektroden (siehe Bild oben). um die Nanobatterien zudem flexibel
schicht so dünn zu machen, dass ionisier- Dementsprechend haben sich die Ent- zu machen. mPhase und BellLabs haben
tes Gas es wegätzen konnte, während die wickler auch von der Säulenstruktur ver- zudem ein mikromechanisches Magne-
Säulen noch ausreichend bedeckt blieben. abschiedet. Sie bietet zwar ein Maximum tometer entwickelt, das in mehr als zehn
an Reaktionsoberfläche bei einem Mini- Meter Entfernung eine Eisenstange auf-
Alles auf Anfang! mum an Platzbedarf. Doch ihre Fertigung spüren kann, dabei kommt auch die
Im nächsten Schritt wurde in einem nass- erwies sich ohnehin als sehr diffizil. Die Nanobatterie zum Einsatz. Dieses Sys-
chemischen Verfahren Nickel oder Titan Poren der Siliziumwaben sind zwanzig tem könnte die Sicherheit im zivilen
auf dem Boden abgeschieden. Erst darauf Mikrometer weit, die Wände 0,6 Mikro- Luftverkehr erhöhen, wird aber wohl
konnte dann die Zinkschicht aufwach- meter dick. Sie werden aus einem Wafer zunächst vor allem militärische Anwen-
sen. Das sollte natürlich so gleichmäßig geätzt, danach wächst Siliziumdioxid in dungen finden. Die Firma mPhase rech-
wie möglich erfolgen. Es durfte sich also einem 1000 Grad Celsius heißen, von net damit, in zwei bis drei Jahren Mus-
weder lokal Zink anhäufen noch an an- Sauerstoff durchströmten Ofen auf. Ab- ter an potenzielle Kunden versenden zu
derer Stelle fehlen. In vielen Testreihen schließend wird die gesamte Wabe mit können. l
entdeckten die Forscher die optimale Fluorkohlenstoff beschichtet.
Kombination von Temperaturen, Kon- Die ersten Prototypen gelangen im
Der Journalist Charles Q. Choi
zentrationen und Stromstärken. »Rück- Oktober 2005. Ein großer Vorteil der
A U T O R U N D L I T E R AT U R

ist Mitarbeiter von United Press


wirkend betrachtet wundert es mich, dass neuen Struktur: Um neue Anoden-Ka- International und Experte in Sa-
wir dafür nur ein Jahr gebraucht haben«, thoden-Kombinationen zu testen, muss chen Nanotechnologie.
bekundet Steve Simon, stellvertretender nicht erst aufwändig ermittelt werden, From rolling ball to complete wet-
Forschungsleiter bei mPhase. wie sich die Anodenschicht zwischen Na- ting: the dynamic tuning of liquids
Doch als die Forscher ihren Prototyp nosäulen abscheiden lässt. Bell Labs und on nanostructured surfaces. Von T. N. Krupenkin,
potenziellen Kunden präsentierten, be- mPhase arbeiten zurzeit gemeinsam mit J. A. Taylor, T. M. Schneider und S. Yang in: Lang-
gann die Arbeit von vorn. Denn insbeson- der Rutgers University, der Staatsuniver- muir, Bd. 20, S. 3824, 11. Mai 2004
dere Angehörige des Militärs äußerten sität von New Jersey, daran, lithiumbasier- A novel battery architecture based on superhydro-
phobic nanostructured materials. Von A. Lifton und
sich kritisch über das Sandwichdesign. Es te Nanobatterien für Digitalkameras und S. Simon. Im Internet unter: www.mphasetech.com/
störte sie, dass der Elektrolyt permanent Handys zu entwickeln. Es gibt viele nanobattery-architecture.pdf
Kontakt zur oben liegenden Kathode hat- Ideen, wie diese Technik zu nutzen sei.

56 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
KOMMENTAR
Wiener Schnitzel aus der Atomfabrik?
Diesseits utopischer Prophezeiungen mausern sich Rastersondenmikroskope zu wichtigen Werkzeugen.
Von Bernd Müller
Es ist gut zehn Jahre her: Auf der vierten Foresight Conference Auflösung nur einige Nanometer beträgt – zu grob, um auch die
über molekulare Nanotechnologie in Palo Alto präsentierte ein einzelnen Atome zu sehen. Doch innerhalb der nächsten Jahre
Physiker namens Eric Drexler winzige Maschinen aus wenigen dürfte dieses Problem gelöst sein: Varianten des Verfahrens ar-
hundert oder tausend Atomen, die Atome transportierten, zu- beiten ohne Oberflächenkontakt, indem sie die schwachen Kräf-
sammensetzten und Kopien von sich selbst schufen. Eines Ta- te zwischen Spitze und Oberfläche messen.
ges würden diese so genannten Assembler beliebige Gegen- In Don Eiglers Fußstapfen trat Seizo Morita von der Univer-
stände – vom Auto bis zum Wiener Schnitzel – wie aus sität Osaka. Er nutzt Rasterkraftmikroskope, um Atome auf
Legosteinen aufbauen, versprach Drexler. Das Publikum ver- Oberflächen zu manipulieren. Doch nicht nur auf metallischen
ehrte ihn wie einen Messias. Der Haken an der Sache: Die Mo- Oberflächen wie der IBM-Forscher, sondern auch auf Halblei-
lekülmaschinen waren eine Computeranimation und sind auch tern. Damit eröffnet sich ein riesiges Anwendungspotenzial.
heute noch nicht mehr als ein Hirngespinst. Automatisierte Mikroroboter, die auf der Nanoskala Computer-
Dabei klang Drexlers Argumentation plausibel: Auch die Natur chips zusammensetzen, scheinen auf jeden Fall möglich.
arbeitet mit molekularen Maschinen. Und Anfang der 1990er
Jahre war es Don Eigler vom IBM-Forschungslabor in Almaden Bevor Produkte auf den Markt kommen, die mittels Rasterkraft-
gelungen, mit der Nadelspitze eines Rastertunnelmikroskops mikroskopen hergestellt wurden, werden diese selbst Teil von
einzelne Atome auf Oberflächen zu bewegen und so Bilder und Konsumartikeln sein. Beispiel Computerfestplatten: Ihre Spei-
Buchstaben zu kreieren – Nanotechnik schien zum Greifen nahe. cherdichte steigt rasant und damit schrumpfen die magne-
Doch schaut man heute auf die Internetseiten von Drexler und tischen Inseln, die einzelne Bits repräsentieren. Heute sind sie
Eigler, stehen dort dieselben Bilder wie vor zehn Jahren. Nichts noch zweihundert Nanometer breit und zwanzig Nanometer
Neues also bei Rastersondenmikroskopen und Assemblern? lang; über kurz oder lang müssen wenige Atome für das Spei-
Der Schein trügt: »Die Rastersondenmikroskopie hat in den chern genügen. Dann benötigt man aber andere Schreib-Lese-
letzten Jahren große Durchbrüche erlebt«, erklärt Roland Wie- Köpfe als bisher. An der Universität Hamburg werden bereits
sendanger von der Universität Hamburg, der diesem For- neuartige Magnetkraftmikroskope mit speziellen Spitzen be-
schungsgebiet wichtige Impulse gegeben hat. Allerdings habe trieben, die magnetische Eigenschaften eines Materials bis zur
die Öffentlichkeit das nach der anfänglichen Euphorie kaum Auflösung einzelner Atome messen können (siehe Bild).
wahrgenommen. Tatsächlich sind beispielsweise Rasterkraft- Die Japaner haben in den 1990er Jahren enorme Summen
mikroskope näher an der Anwendung als damals, nur eben an- in die Nanoforschung investiert. Der Erfolg gibt ihnen Recht.
ders als Drexler dachte, zum Beispiel als Analysewerkzeuge in Deutschland und die Europäische Union scheinen das Ver-
der Molekularbiologie. säumte nun nachholen zu wollen und stecken inzwischen Mil-
liarden in dieses Gebiet. Doch Insider sind enttäuscht: Das
Vor allem Atomkraftmikroskope haben sich gemausert. Sie beste- Geld fließt hier zu Lande großteils in traditionelle Technologien
hen aus einer 50 bis 500 Mikrometer langen Blattfeder, die wie die Mikrochipfertigung und die Materialforschung, die sich
eine wenige Mikrometer kurze Spitze trägt; ein an der Feder die Vorsilbe »Nano« zu Nutze machen, um leichter an Förder-
reflektierter Laserstrahl misst noch so winzige Auslenkungen. gelder zu kommen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft
Fährt man damit über eine Oberfläche, ergibt sich eine Art ato- und der Wissenschaftsrat scheinen das erkannt zu haben: In
mare Landkarte, bewegt sich die Nadel in Querrichtung, ver- der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern haben es nur drei
dreht sich die Feder auf Grund der Reibung. Eine Variante des »echte« Nanoforschungsverbünde in die zweite Runde des
Prinzips versetzt die Nadel in Schwingung, das Gerät misst Exzellenzcluster-Wettbewerbs geschafft.
dann die Elastizität der Oberfläche.
Der Journalist Bernd Müller hat schon alle »Großen« der Rastersonden-
Führend in der Rasterkraftmikroskopie sind nicht mehr die
szene wie Don Eigler oder den Nobelpreisträger Gerd Binnig interviewt.
USA oder Europa, sondern Japan. Dort gelangen die beiden auf-
HANSENANOTEC, GRUPPE R. WIESENDANGER, UNIV. HAMBURG

sehenerregendsten Entwicklungen der letzten Zeit. Toshio Ando


von der Universität Kanazawa filmte die Dynamik einzelner Mo-
leküle in einer Lösung, jedes Einzelbild wurde in jeweils zwanzig
Millisekunden mit einer Sonde aufgenommen. Die Nadelspitze
deformiert allerdings die Moleküloberfläche etwas, sodass die

r
Mit neuartigen spinpolarisierten Rastertunnelmikrosko-
pen lassen sich nanoskalige magnetische Eiseninseln
auf einer antiferromagnetischen Atomlage sichtbar machen.
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOTEXTILIEN z
Lotuseffekt am
seidenen Faden
Damit Kleidung länger sauber bleibt und dennoch
strapazierfähig, setzen Schweizer Forscher die Fasern
einem Plasma aus.

Von Dirk Hegemann die Schichten untereinander zu vernetzen


und so mechanisch zu stabilisieren.

W
enn Materialwissenschaft- Zum Glück muss nicht jede Textilver-
ler von neuen Verfahren edlung die Waschmaschine überstehen.
zur Veredlung von Fasern Manager schätzen es, wenn sie nach einem
schwärmen, lautet die ers- Geschäftsessen den Soßenfleck mit einer
te Frage von Textilherstellern: »Und wie Serviette wegsaugen oder unter einem
sieht es mit der Waschbeständigkeit aus?« Wasserhahn einfach abspülen können.
Was nutzt eine schmutzabweisende Ober- Hier stellt sich eher das Problem, dass
fläche, wenn sie schon nach wenigen eine Schutzschicht die Glanzeffekte und
Waschgängen im Spülwasser verschwin- den typischen Seidengriff nicht beein-
det? Dabei sind weniger die Attacken der trächtigen darf. Das erfordert Schichtdi-
Waschmittel das Problem, sondern vor cken der Veredlung von weniger als zwei-
allem die Reibung der Kleidungsstücke hundert Nanometern. Mit Fluorkohlen-
aneinander. stoff lässt sich das bereits erreichen. Doch
Der Schutz gegen Schmutz ist eine edle Seidenkrawatten sind eher die Aus-
Frage der Benetzbarkeit: Die meisten Ver- nahme, es wäre wünschenswert, die feinen Strukturen im Mikro- und Nano-
unreinigungen kommen in mehr oder we- schmutzabweisende Ausstattung von All- meterbereich brechen leicht ab. Die Na-
niger flüssiger Form auf die Fasern wie Öl, tagskleidung mit einer Waschbeständig- tur löst das Problem einfach: Die Nop-
Salatsoße, Ketschup oder Rotwein. Je en- keit verbinden zu können. pen wachsen nach. Für künstliche Ober-
ger sie mit der Oberfläche in Kontakt tre- flächen aber müssen andere Lösungen
ten und sie benetzen, desto tiefer kann die Kresse und Kohl gefunden werden.
Verschmutzung ins Textil eindringen. Flu- Die Natur macht es vor: Auch das Blatt Mitunter sollen sich Fasern jedoch
orkohlenstoffe sind schlecht benetzbar der Lotusblume, der Kapuzinerkresse gerade gut benetzen lassen, zum Beispiel
und werden daher zur Veredlung textiler oder des Kohls ist schwer benetzbar. In um Stoffe zu bedrucken. Auch hier ist es
Fasern eingesetzt. Je mehr Fluor in die Be- den Zwischenräumen der noppenartigen, um die Beständigkeit der Beschichtung
schichtung eingebaut werden kann, desto wächsernen Oberflächenstruktur ist Luft nicht gut bestellt, da entsprechende che-
geringer wird somit die Benetzbarkeit und eingeschlossen, sodass wässrige Flüssig- mische Funktionsgruppen aus den Ober-
desto besser wird Schmutz abgewiesen. keiten nicht eindringen können und sich flächen herausragen und deshalb mecha-
Andererseits mindert ein hoher Fluoran- zu Tropfen ballen, die dann abrollen und nisch wie chemisch angreifbar sind. Eine
teil die Fähigkeit der Kohlenstoffatome, Schmutzpartikel mitreißen. Doch diese mögliche Lösung wären wieder Nano-

58 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
EMPA, ST. GALLEN

o
Ästhetik im Labor: Das Niederdruck- Eine elegante Methode, dergleichen überdies den Vorteil, dass auf Grund des
plasma leuchtet in der Versuchs- herzustellen, bietet die so genannte Nie- niedrigen Drucks, also der sehr geringen
kammer, Experimentator ist der Autor. derdruckplasma-Technologie, die zuneh- Zahl von Atomen und Molekülen im
mend nasschemische Prozessschritte um- Plasma, vergleichsweise viel Zeit vergeht,
weltfreundlich ersetzt. Dabei werden in bis eines der Teilchen mit einem anderen
einer elektrischen Gasentladung, dem so kollidiert.
strukturen, nur dass sie nicht aus Nop- genannten kalten Plasma, Elektronen,
pen, sondern aus Vertiefungen bestehen Ionen, angeregte Teilchen und Radikale Mut zur Lücke
müssten. Eine solche nanoporöse Ober- sowie energiereiche UV-Strahlung er- Radikale und andere Partikel sind also
fläche wäre auch sehr viel größer und zeugt und dann zur Modifikation von sehr langlebig. Sie lassen sich deshalb bes-
böte damit den Farbstoffen mehr Kon- Materialoberflächen genutzt. Aus gasför- ser zum Design homogener, funktionaler
taktfläche. Zudem lässt sie sich als hoch- migen Ausgangsverbindungen (Mono- Beschichtungen bei niedrigen Tempera-
vernetzte und damit sehr stabile Matrix meren) können somit Schichten sehr ge- turen nutzen. Dies spielt gerade bei kom-
realisieren, in deren Poren funktionelle nau Atomlage für Atomlage abgeschie- plexen, dreidimensionalen Oberflächen,
Gruppen eingebracht werden können. den werden. Niederdruckplasmen haben wie Textilien sie aufweisen, eine große r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 59
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOTEXTILIEN z Man kann noch einen Schritt weiter-
gehen und die Abscheidung von Plasma-
schichten aus der Gasphase mit dem
Sputtern verbinden. Dabei werden Sil-
ber-Nanopartikel, die von einem Sil-
500 bertarget abgetragen werden, in einem
400
Prozessschritt in die Plasmaschicht einge-
bunden, die aus einer hoch vernetzten
ter)

Kolenwasserstoffmatrix besteht. Die


me

300
ano

große Oberfläche der Nanopartikel, die


homogen verteilt an der Oberfläche vor-
Y (N

200
liegen, sorgt trotz des geringen Metallein-
satzes für einen recht guten antibakteri-
100

)
3 ellen Effekt. Die Plasmaschicht kann zu-

ter
me
2 dem weitere funktionelle Gruppen in

ano
1 ihren Poren tragen, wodurch sie »multi-

Z (N
0 0 funktional« wird.
0 50 100 150 200 250 300 350 400 450
EMPA, ST. GALLEN

X (Nanometer) Und was kostet das?


So lautet die zweite Frage der Textilindus-
trie. Die Veredlung mit dem Nieder-
druckplasma erfordert geeignete Reak-

o
r Rolle, um auch eine Beschichtung der in- Das Rasterkraftmikroskop enthüllt: toren. Neben Laborsystemen zur Prozess-
nen liegenden Fasern zu erhalten. Die Faser wurde mit einem Polymer optimierung entwickelten wir deshalb
Wir haben ein Verfahren entwickelt, beschichtet, das Nanoporen aufweist. eine Demonstrationsanlage für Fasern
um nanoporöse Beschichtungen auf tex- und eine für textile Flächen, beide für
tilen Werkstoffen herzustellen. Dazu ver- eine industrielle Umsetzung. Beim Me-
wenden wir Kohlenwasserstoff-Monome- tallisieren von Fasern erwies sich das neue
re und mischen sie mit ätzenden, sauer- von Farbstoffen einfärben. Und noch ein Verfahren als wirtschaftlicher gegenüber
stoff- oder stickstoffhaltigen Gasen. Auf Vorteil: Die Farbstoffe werden chemisch der Nasschemie, die nur dickere Schich-
den Fasern vernetzen die Kohlenwasser- gebunden, sind abriebfest und bleiben ten zu Wege bringt. Vor allem aber blei-
stoffe zu einer stabilen Matrix. Weil beim Waschen erhalten. ben die Eigenschaften der Textilien dank
gleichzeitig zur Schichtabscheidung auch Damit öffnen sich weitere Anwen- der geringen Abmessungen der Beschich-
Ätzprozesse stattfinden, bilden sich aber dungsfelder. Mit Fluorkohlenstoffen er- tung erhalten. Ein weiterer Vorteil: Es
Lücken. Dort werden sauerstoff- oder gäbe sich eine waschbeständige, schmutz- entsteht kein Abwasser.
stickstoffhaltige funktionelle Gruppen abweisende Beschichtung. Bringt man In der Fertigung von Verpackungsfo-
gebunden. Dank dieser Nanoporen ver- polare chemische Gruppen in die Poren lien und Glasscheiben hat sich die Plas-
größert sich die gesamte Oberfläche ein, wird die gesamte Oberfläche gut be- matechnologie längst durchgesetzt. Die
enorm: Während normale Textilien auf netzbar und transportiert Feuchtigkeit Textilindustrie schrecken noch die hohen
Grund ihrer Fasern lediglich eine Ober- von der Haut nach außen. Investitionskosten, doch dürfte mittel-
fläche von etwa 0,1 Quadratmeter pro Eine Variante der Plasmatechnologie fristig kein Weg an dieser Technik vorbei-
Gramm aufweisen, Mikrofasern immer- metallisiert textile Fasern, etwa um die führen. Ansonsten würde Europa weitere
hin das Zehnfache, erreichen wir mit den elektrostatische Aufladung zu reduzieren. Marktanteile an günstiger produzierende
neuen Schichten das Tausendfache. Bei diesem Verfahren werden die Schich- Länder verlieren. l
ten nicht aus der Gasphase, sondern
Fasern versilbern durch »Sputtern« erzeugt: Hochenerge-
Um die erzeugten Strukturen überhaupt tische Plasmateilchen schlagen Cluster Dirk Hegemann leitet die
Gruppe »Plasmamodifizierte
A U T O R U N D L I T E R AT U R

nachzuweisen, verwenden wir wenige von Metallatomen aus einem so genann-


Oberflächen« am Schweizer
Nanometer große Farbstoffmoleküle, die ten Target; diese scheiden sich auf den
Materialwissenschaftlichen
sich an die funktionellen Gruppen bin- Textilien ab und wachsen zu einer nano- Institut Empa in St.Gallen.
den. Auf diese Weise lässt sich zeigen, meterdicken Metallschicht auf. Wird Sil-
dass die Nanoporen miteinander verbun- ber als Metall verwendet, entsteht zudem Hydrophilierung von Geweben
den sind und im gesamten Schichtvolu- ein antibakterieller Effekt: Silberionen, mittels Plasmatechnologie. Von Dirk Hegemann,
men funktionelle Gruppen tragen – die zum Beispiel durch Schweiß aus der Me- Armin Fischer und Dawn Balazs in: Textilvered-
lung, Heft 3/4, S. 14, 2005
Farbintensität steigt linear mit der tallschicht gelöst, stören den Stoffwechsel
Schichtdicke. Und schon sind wir mitten von Bakterien. Weil man dabei im Nano- Plasmafunktionalisierung von Textilien und Fa-
sern. Von Dirk Hegemann und Armin Fischer in:
in der Anwendung: Polyester- oder Poly- bereich arbeitet, ist die Belastung des Vakuum in Forschung und Praxis, Heft 16, S. 240,
propylen-Gewebe lassen sich ohne solche menschlichen Körpers durch das Schwer- 2004
Plasmaschichten nicht mit dieser Klasse metall vernachlässigbar.

60 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOTRÖPFCHEN z
Nanowasser –
ein guter Tropfen Diesen Artikel können
Sie als Audiodatei beziehen,
siehe: www.spektrum.de/audio

Wie verhält sich Wasser, wenn es zu Nanotröpfchen


aus wenigen Molekülen schrumpft?

Von Martin K. Beyer le Anordnung entwickelt, mit der wir sol- külensemble auf 150 bis 200 Kelvin ab,
che Tröpfchen und sogar noch kleinere er- die Umgebung hat aber Zimmertempera-

M
an sollte meinen, das Oxid des zeugen können. Dazu pusten wir für fünf- tur, also 300 Kelvin. Die Tröpfchen erwär-
Wasserstoffs habe nicht mehr zig Mikrosekunden Helium und Wasser in men sich, bis sich ein einzelnes H2O-Mo-
allzu viele Überraschungen zu ein Hochvakuum; das Gemisch expan- lekül herauslöst, wodurch sie noch weiter
bieten. Etwa 71 Prozent der diert rasch und kühlt sich dabei stark ab. abkühlen. Dieses Wechselspiel kann so
Erdoberfläche sind mit H2O bedeckt, Tröpfchen kondensieren, so genannte weit gehen, dass nur noch drei oder vier
Pflanzen enthalten bis zu 95 Prozent da- Wassercluster aus bis zu hundert H2O- Moleküle übrig sind. Dann steckt bei
von, höhere Tiere wie der Mensch bis zu Molekülen. Exakt darauf abgestimmt wird Zimmertemperatur nicht mehr genug
75 Prozent. Bei null Grad Celsius gefriert mit einem Laserpuls hochreines Metall Wärme im Cluster, um Wasserstoffbrü-
Wasser, bei einem Umgebungsdruck von verdampft. Dabei entstehen Ionen und ckenbindungen aufzubrechen.
einer Atmosphäre und hundert Grad Cel- Elektronen, die sich in den Clustern lösen. Dass sich der Aufwand lohnt, zeigen
sius beginnt es zu sieden. Weil die Elektro- Nunmehr elektrisch geladen, lassen sich beispielsweise Experimente mit Vanadium
nendichte des Moleküls nicht gleichmäßig die Tröpfchen mittels elektrischer Felder in (V). Die meisten Chemiker kennen zwei-
verteilt ist, hat H2O ein Dipolmoment. ein Ultrahochvakuum überführen und und dreifach positiv geladenes Vanadium,
Das wiederum sorgt dafür, dass Salze in dort in einer Penningfalle, einer Kombina- nicht aber das einfach positive V +. Denn
wässriger Lösung in positiv und negativ tion aus elektrischen und magnetischen in einer makroskopischen Lösung »dis-
geladene Ionen zerfallen. Das alles ist gut Feldern, für einige Sekunden einsperren. proportionieren« zwei solche Ionen zu V
erforscht und seit Langem bekannt. Der Restgasdruck dort ist mit 10–10 Milli- und V ++. In Nanotröpfchen ist aber nur
Doch was geschieht, wenn ein Trop- bar so niedrig, dass von den etwa eine Mil- ein Ion gelöst und das V + bleibt zunächst
fen Wasser nur noch einen Nanometer lion gespeicherten Tröpfchen während des stabil. Und doch entstehen die mehrfach
misst, wenn er statt aus Millionen Mole- Experiments nur rund zehntausend von geladenen Varianten, denn die Wassermo-
külen nur aus einigen wenigen besteht? einem anderen Molekül oder Atom getrof- leküle fungieren auf dieser Größenskala
Tatsächlich erweisen sich physikalische fen werden. nicht nur als Lösungsmittel, sondern auch
Kennwerte wie der Gefrierpunkt nun als als Partner für Redoxreaktionen. Dabei
ungeeignet, denn sie beschreiben das Ver- Seltene Ionen werden Elektronen ausgetauscht. Der ab-
halten im Makrokosmos. Dass es auf der Um die Tröpfchen zu beobachten, ver- gebende Partner, in diesem Fall das Vana-
Nanoskala interessant wird, zeigt die Che- wenden wir eine spezielle Form der Mas- dium, wird oxidiert, der aufnehmende,
mie des Lebens: Wenn Enzyme in den senspektrometrie. Sie nutzt aus, dass gela- hier der Wasserstoff, reduziert. Bei neun
Zellen ihre Arbeit verrichten, benötigen dene Teilchen in einem Magnetfeld mit bis elf H2O-Molekülen entstehen bevor-
manche von ihnen offenbar in ihrem ak- massenabhängiger Winkelgeschwindig- zugt zweifach geladene Metallionen sowie
tiven Zentrum einige wenige Wassermole- keit kreisen. Werden die Ionen auf eine atomarer Wasserstoff H. Ab zwölf Clus-
küle; deren Aufgabe ist allerdings noch Kreisbahn mit einem Durchmesser von termolekülen dominiert das dreifach gela-
unklar. Werden dabei besondere Eigen- einigen Zentimetern beschleunigt, indu- dene Vanadium und molekularer Wasser-
schaften von »Nanowasser« genutzt? Falls zieren sie in Empfängern ein Hochfre- stoff H2. Die bei der Reaktion jeweils frei-
ja, stellt sich sogleich die Frage: Wären quenzsignal, aus dem die Masse mathe- werdende Energie sorgt dafür, dass weitere
technische Anwendungen denkbar? matisch durch Fourieranalyse zu ermitteln Wassermoleküle verdampfen.
Bei fünfzig Molekülen haben Wasser- ist. Sollen die Nanotröpfchen weiter Dieser eigentümliche Effekt ist keines-
tröpfchen Durchmesser von etwa einem schrumpfen, müssen wir nur abwarten. wegs nur von akademischem Interesse.
Nanometer. Wir haben eine experimentel- Denn der gesamte Prozess kühlt das Mole- Würde man ihn verstehen, wären neuar-

62 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
l
+
Ein Transfer von Protonen H mit
einer Umlagerung von O-H-Bin-
MARTIN BEYER, MIT FRDL. GEN. VON WILEY-VCH 2006; AUS: ANGEWANDTE CHEMIE, BD. 118, NR. 24,

dungen ist ein Merkmal von flüssigem


Wasser im Makroskopischen. Doch findet

fer
dieser Prozess auch in Nanotröpfchen
Z. SUN, M. BEYER ET AL., PROTONENTRANSFER IN IONISCHEN WASSERCLUSTERN

ns
statt? Zum Nachweis gab der Autor D2O

ra
T
hinzu, also schweres Wasser, in dem das
Proton Isotop Deuterium (grün) den leichteren
Wasserstoff (weiß) ersetzt. Ein Massen-
HDO
spektrum belegte, dass durchaus HDO
entstand, also ein Austausch von Deuteri-
um gegen ein Proton erfolgte. Die Grafik
zeigt die dazu nötigen Umlagerungen in
+
einem Cluster H(H2O)n , in dem die betei-
ligten Wassermoleküle eingebettet sind.
Sauerstoff ist rot dargestellt.

tige Nanomaterialien denkbar. In ihren pischem Wasser nach 400 Mikrosekunden meters lassen sich nicht einfach auf die
Poren sollten sie genau diejenige Anzahl von einem Proton aufgenommen wird, makroskopische Sphäre übertragen. Dort
Wassermoleküle ansammeln, die eine er- blieb das geladene Teilchen im Nanotröpf- werden chemische Reaktionen durch Wär-
wünschte Reaktion bevorzugt ablaufen chen erstaunlich stabil. Das eröffnet eben- me aktiviert, wegen der Verdampfungs-
lässt. Eine mögliche Anwendung wären falls Anwendungsmöglichkeiten: Reagiert kühlung haben unsere Nanotröpfchen
die Elektroden in Brennstoffzellen, an de- das Elektron mit einem Kohlenwasserstoff, aber einen sehr geringen Wärmeinhalt.
nen die Umkehrreaktion abläuft: Elemen- kann sich ein negativ geladenes, chemisch Ein Anwendungspotenzial wäre durch-
tarer Wasserstoff wird oxidiert und gibt sehr reaktionsfreudiges Ion bilden. aus vorhanden. So wird die so genannte
sein Elektron an die Elektrode ab. An der Birch-Reduktion bei der Herstellung von
zweiten Elektrode nimmt Sauerstoff das Tröpfchen als Testlabor Steroiden eingesetzt, ein wesentlicher
Elektron auf und wird reduziert, am Ende Entreißt es einem Wassermolekül ein Pro- Schritt in dieser Reaktionskette ist der
bildet sich Wasser. ton, resultiert ein elektrisch neutrales Koh- Transfer eines einzelnen Elektrons zu
Ein sehr interessantes Phänomen in lenwasserstoffradikal. Dieses Schema ken- einem aromatischen Kohlenwasserstoff.
makroskopischem Wasser ist die so ge- nen Biochemiker gut, denn Enzyme kata- Normalerweise wird dies in flüssigem Am-
nannte Autoprotolyse – selbst hochreines lysieren häufig auf diese Weise eine Hyd- moniak realisiert – eine elektrochemische
Wasser dissoziiert in geringem Maß in Pro- rierung, also das Anlagern von Wasserstoff Route über Elektronen, die in Nanotröpf-
tonen H+ und Hydroxidionen OH . Das

an einen Kohlenwasserstoff. Nanotröpf- chen stabilisiert sind, könnte diesen wirt-
bewirkt einen beständigen Austausch von chen eignen sich demnach als In-vitro-Sys- schaftlich bedeutsamen Prozess revolutio-
Protonen zwischen benachbarten Wasser- teme, um Lebensprozesse in einer ideali- nieren. Auch zur Lösung grundlegender
molekülen. Gibt es dergleichen auch in sierten Umgebung besser zu verstehen. Fragen zur geplanten Wasserstoffwirt-
Nanotröpfchen? Um dies zu klären, brach- Unsere bisherigen Experimente offen- schaft könnten Nanotröpfchen dienen –
ten wir D2O-Moleküle in die Penningfalle, baren also Erstaunliches über das Nano- weil sie uns helfen, die Chemie des Was-
also Verbindungen aus dem schweren Was- wasser: Der Verlauf einer Redoxreaktion serstoffs in Wasser besser zu verstehen. l
serstoffisotop Deuterium und Sauerstoff. hängt von der Größe des Tröpfchens ab;
Wie erwartet, wurden die Nanotröpfchen gelöste Elektronen sind darin stabil; für Martin K. Beyer hat sich in Phy-
entsprechend schwerer. Werden bei der den Protonentransfer genügt ein überzäh- sikalischer Chemie habilitiert. Er
Verdampfungskühlung nur H2O oder liges Proton; Disproportionierung einfach erforscht an der Technischen Uni-
A U T O R U N D L I T E R AT U R

D2O frei, verringert sich die Tröpfchen- geladener Metallionen ist nicht möglich, versität Berlin die Gasphasen-
masse jeweils um 18 oder 20 atomare Mas- wenn nur ein einzelnes Ion gelöst ist (was ionenchemie von Clustern. Seine
Arbeiten an Nanotröpfchen wur-
seneinheiten. Würde ein Protonenaus- den Chemikern neue Möglichkeiten bie- den 2003 mit dem Heinz-Maier-
tausch stattfinden, müssten sich dabei tet, mit einfach geladenen Übergangsme- Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemein-
HDO-Moleküle bilden und die Tröpfchen tallen zu arbeiten). Ob sich letztlich auch schaft und des Bundesministeriums für Bildung und
würden um 19 Einheiten leichter. eine technische Anwendung finden wird, Forschung ausgezeichnet.
Das Experiment bestätigte, dass Proto- können wir zu diesem Zeitpunkt noch Protonentransfer in ionischen Wasserclustern. Von
nentransfer tatsächlich stattfindet, wenn nicht sagen. Denn die mit unserem Ver- Zheng Sun et al. in: Angewandte Chemie, Bd. 118,
wir ein einziges H+ als Ladungsträger ein- fahren herstellbaren Mengen wären bis- S. 4133, 2006
bauen. Überraschend war, dass kein Proto- lang einfach zu gering, andere Methoden How many molecules make a solution? Von Vladi-
nentransfer stattfand, wenn der Ladungs- müssten gefunden werden. Doch Vorsicht: mir E. Bondybey und Martin K. Beyer in: Interna-
tional Reviews in Physical Chemistry, Bd. 21, S.
träger stattdessen ein einzelnes Elektron Die Temperatur- und Druckverhältnisse 277, 2002
ist. Während ein Elektron in makrosko- in der Nanowelt unseres Massenspektro-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 63
r
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOTOXIKOLOGIE

INTERVIEW Klein und giftig?


z
»Trotz vieler aussichtsreicher Ansätze
noch kein Durchbruch«
Winzige Teilchen sind Hoffnungsträger für die Industrie, denn im Nanometermaß-
stab zeigen Werkstoffe neue Eigenschaften. So dienen Titandioxid-Partikel (TiO2)
von mehr als fünf Mikrometer Durchmesser schon seit Jahrzehnten als weißes
Farbpigment, neuerdings aber werden sie auch Sonnencremes zugesetzt – bei nur
50 bis 100 Nanometer Durchmesser absorbieren sie ultraviolettes Licht. Doch wo
Licht ist, ist auch Schatten. Der Biologe und Chemiker Harald F. Krug vom For-
schungszentrum Karlsruhe (FZK) untersucht die Gefahren, die von einer massen-
haften Verwendung der Nanopartikel ausgehen.

o
Zurzeit wird rege über Feinstäube diskutiert. hunderttausend. Da wirken sich Defekte Harald F. Krug leitet die Abteilung
Inwiefern berührt das Ihr Forschungsfeld im Kristallgitter viel stärker aus. Ein Fremd- »Molekulare und Umwelttoxikolo-
der Nanopartikel? atom oder eine Fehlstelle ändert die Elek- gie« am Institut für Toxikologie und Ge-
Auch Nanotoxikologen untersuchen Wir- tronenverteilung viel drastischer, und dies netik des FZK.
kungen und Wirkmechanismen winziger erhöht die chemische Reaktivität.
Teilchen, doch während Feinstäube als Ab- Zudem ist bei gleicher Masse die
fallprodukte bei Verbrennungsprozessen Zahl der Teilchen viel höher als im Mikro-
entstehen, werden Nanopartikel gezielt maßstab und damit die Gesamtoberflä- türlichen Nanopartikeln ausgesetzt sind.
synthetisch hergestellt. Und zwar nicht che um ein Vielfaches größer. Nachdem wir etwa zwanzig verschiedene
nur aus Kohlenstoff, sondern auch aus Me- Materialien getestet haben, Metalle, Me-
tallen oder Metalloxiden. Als noch junge Was geschieht nun, wenn wir solche Parti- talloxide, Fullerene und Kohlenstoff-Na-
Wissenschaft profitieren wir aber natürlich kel einatmen? noröhrchen, können wir klar sagen: Bis
von dreißig Jahren Feinstaubforschung. Durch Elektronenübergang auf Sauer- auf Ausnahmen benötigt man unrealis-
stoff entstehen an der Teilchenoberflä- tisch hohe Partikelkonzentrationen, damit
Welche Gemeinsamkeiten gibt es da? che Radikale, die ihrerseits das Gewebe das aus dem Ruder läuft und toxisch wird.
Partikel mit Durchmessern unter 200 Na- angreifen. Daraufhin läuft eine Entzün- Die Dosis macht das Gift.
nometer trotzen der Schwerkraft. Sie dungsreaktion an. Makrophagen neh- Als mein amerikanischer Kollege Da-
sinken nicht zu Boden, sondern diffun- men die Fremdkörper auf und senden vid Warheit vom DuPont-Haskell-Labor
dieren wie Moleküle durch ein Medium chemische Signale aus, die andere Zel- vor zwei Jahren über die tödlichen Fol-
und schweben. len des Immunsystems herbeirufen. gen von Carbonanotubes in Rattenexpe-
Atmen wir sie ein, gelangen sie bis in Auch die Epithelzellen des Gewebes rea- rimenten berichtete, war die Aufregung
die Lungenbläschen und setzen dort ent- gieren und produzieren Botenstoffe. groß. Doch wenn Sie die Mengen, die
zündliche Prozesse in Gang, die bei ho- Eine zweite Antwort auf die Eindring- er den Tieren direkt in die Lungen gab,
her oder dauerhafter Belastung chro- linge ist die Produktion von Enzymen auf einen Menschen umrechnen, dann
nisch werden können. Auch Krebs ist dieser Zellen, um die Sauerstoffradikale müsste der mehrere Teelöffel davon auf
eine mögliche Folge. für sie selbst unschädlich zu machen. In einmal einatmen. Oder sich acht Stun-
einer dritten Antwort setzen die Makro- den lang in einer Umgebung aufhalten,
Wie können so kleine Objekte so schäd- phagen und die herbeigerufenen Granu- die den Grenzwert für Feinstaubimmis-
lich sein? lozyten Stoffe wie die Prostaglandine frei sionen um das 14 000-Fache übersteigt.
Die Oberfläche von Nanopartikeln ist che- und veranlassen damit zum Beispiel die Wenn ich einen Liter Wasser inhalierte,
misch sehr reaktiv. Wenn Sie mit einem Bronchien, sich zum Schutz zusammen- wäre das auch tödlich.
geeigneten Mikroskop den Umfang eines, zuziehen.
sagen wir fünf Mikrometer durchmes- Sie sprachen von Ausnahmen?
senden, Pigmentpartikels abtasten, kön- Und das geschieht immer, sobald Nanopar- Die nicht weiter überraschen. Zum Bei-
nen Sie rund eine Milliarde Titandioxid- tikel in die Lunge gelangen? spiel wird Vanadiumtrioxid auf Grund sei-
Moleküle erkennen. Beim hundertmal klei- Das geschieht sogar andauernd, denn die- ner Reaktionsfreudigkeit in Nanogröße
neren TiO2-Sonnencreme-Teilchen von se Mechanismen existieren ja, weil wir schnell in Pentoxid oxidiert und das ist
fünfzig Nanometer sind es aber nur etwa permanent aus unserer Umwelt auch na- nun einmal bekanntermaßen giftig.

64 SPEKTRUM
SPEKTRUM
DER
DER
WISSENSCHAFT
Q Q
WISSENSCHAFTSEPTEMBER
OKTOBER 2003
2006
Sie haben ein Zellmodell entwickelt, das den Gibt es außer der Erzeugung von Sauerstoff- auch über andere Organe wie die Haut oder
Verhältnissen der Lunge näher kommen soll radikalen noch andere Mechanismen der den Verdauungstrakt in unseren Körper ein-
als andere In-vitro-Tests. Inwiefern? Schädigung? dringen?
Meist züchtet man eine einzige Schicht Da wird viel spekuliert. Es gibt Hinweise, Alle Experimente des seit drei Jahren lau-
Epithel- oder Fresszellen auf einem Nähr- dass Nanopartikel von Mitochondrien auf- fenden Verbundprojekts Nanoderm zei-
medium und tropft Nanopartikel in einer genommen werden, den Energiefabriken gen, dass die Haut eine sehr effiziente
Lösung auf. In Wirklichkeit haben die Lun- der Zellen. Dort könnten sie die Atmungs- Barriere ist. Wer einen Sonnenschutz mit
genbläschen aber einen mehrschichtigen kette unterbrechen, die ATP produziert, Titandioxid-Teilchen aufträgt, muss sich
Aufbau aus verschiedenen Zelllagen, die den Treibstoff der Zelle. Das hätte deren wohl keine Sorgen machen.
miteinander durch chemische Signale Tod zur Folge, außerdem entstünden wie- In diese Richtung deuten auch die mir
kommunizieren. So eine Interaktion fehlt der Sauerstoffradikale. bekannten Studien zum Magen-Darm-
in Monolayern aus nur einem Zelltyp. Trakt. Sicher, wenn ein Nanopartikel in der
Ein ganz falsches Bild vermittelt auch Könnte davon auch der Zellkern direkt be- Lunge von einem Makrophagen aufge-
das Lösungsmittel. Bis Nanopartikel dort troffen sein? nommen wird, befördert ihn der Schleim
hindurch zum Zielort diffundiert sind, ver- Einige Toxikologen berichten, dass Parti- in den Magen. Aber unser Verdauungs-
geht zu viel Zeit. Auf den Lungenbläschen kel dort eingedrungen seien. Theoretisch system besteht aus hochspezialisierten
befindet sich zwar wirklich eine Flüssig- ist das gut möglich, denn die Poren der Zellen, die sehr genau unterscheiden,
keitsschicht. Ihre Aufgabe ist es, durch Zellkernmembran sind immerhin 35 bis welche Stoffe ins Blut dürfen. Es gibt Aus-
ihre Oberflächenspannung zu verhindern, 39 Nanometer groß. Im Zytoplasma ver- nahmen wie Teilchen aus Thallium, Arsen
dass die Lunge kollabiert. Aber sie ist nur teilen sich die Partikel sehr gleichmäßig, oder organische Verbindungen von Queck-
zehn bis fünfzig Nanometer dick, da sind also könnten sie durch Diffusion in den silber, Blei und Zinn, die aus chemischen
die Teilchen schnell durch. Kern gelangen. Doch wir stellen immer Gründen darmgängig sind. Wenn Sie sich
wieder fest: Dies geschieht nicht. Ich ver- einmal anschauen, welche Klimmzüge
Und wie bringen Sie Partikel zu den Zellen? mute, es gibt einen noch unbekannten Pharmakologen anstellen, um Nanoparti-
Durch ein Aerosol, also eine Art Suspensi- Schutzmechanismus des Zellkerns und kel aus fettlöslichen Molekülen zu bauen,
on der Teilchen in Luft. Wir sind weltweit anders lautende Berichte beruhen auf me- die Wirkstoffe durch Haut oder Darm-
die Einzigen, die diesen hohen appara- thodischen Fehlern. Das ist derzeit ein wand befördern, dann bin ich ganz beru-
tiven Aufwand treiben. Nach solchen In- spannendes Thema. higt, was diese Gewebe angeht.
vitro-Tests gehen unsere Kooperations-
partner im Projekt NanoCare gezielt Sie nannten die Lunge als möglichen Ort ei- Alles in allem geht von Nanopartikeln also
Fragen in Tierversuchen nach. ner Schädigung. Könnten die Teilchen nicht keine Gefahr aus? r

Lungenbläschen bestehen aus mehre- Alveolus (Lungenbläschen)


ren Zellschichten, ein realistisches In-
vitro-Modell sollte das berücksichtigen.

Makrophage

Nanopartikel

Zellkern

Surfactant Signalmoleküle Nanopartikel

Epithelschicht
SIGANIM / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Basalmembran
Endothelschicht
Adhäsionsmolekül

Blutbahn

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 65
SCHWERPUNKT: NANOTECHNOLOGIE NANOTOXIKOLOGIE

INTERVIEW Der Piezo-Hundertfüssler


z
r Von Ausnahmen abgesehen und mit Karlsruher Physiker entwickeln einen neuartigen Antrieb für Fertigungsstraßen,
Blick auf den Endverbraucher zunächst der Gegensätze vereint.
nicht. Eine toxische Dosis kann bei der
Produktion und Weiterverarbeitung der Hochgenaue Nanopositionierung ist in der zeugt, also auch keine Kühlung benötigt.
Teilchen erreicht werden. Die entspre- Industrie und im Labor gefragt. So be- Darüber hinaus sind die Piezokeramiken
chenden Maschinen müssen deshalb sitzen die Schaltkreise moderner PC-Pro- vakuum- und reinraumtauglich und kön-
luftdicht geschlossen sein und in zessoren derzeit 93 Nanometer breite nen auch bei extrem tiefen Temperaturen
Reinsträumen stehen. Aber das ist bei Strukturen, hergestellt durch die Projek- nahe null Kelvin sowie in starken Mag-
deutschen Herstellern meiner Kennt- tion von Schaltungslayouts, den so ge- netfeldern betrieben werden.
nis nach schon jetzt der Fall. Die große nannten Masken, als Schattenwurf auf Allerdings sind die möglichen Stell-
Frage lautet nun: Was geschieht mit die Siliziumoberfläche künftiger Chips. wege gering, nicht mehr als etwa ein
Nanopartikeln, wenn die Produkte, in Masken und optische Linsen müssen Tausendstel der Keramiklänge. So wür-
denen sie verwendet wurden, altern, aber genauer als ein Nanometer zuei- de für eine Verschiebung eines Objekts
verwittern oder entsorgt werden? nander ausgerichtet werden. Auch Ras- um einen Millimeter bereits eine ein Me-
terkraftmikroskope erfordern eine derart ter lange Keramik benötigt. In der Praxis
Können Sie ein Beispiel nennen? präzise Ansteuerung. wird diese winzige Bewegung daher
Über kurz oder lang werden Kohlen- Klassische Antriebe wie Elektromotor über Hebel verstärkt. Das geht jedoch zu
stoffnanoröhrchen die Karbonfasern in mit Getriebe und Gewindestange sind Lasten der Steifigkeit des Systems. Es
Verbundwerkstoffen ersetzen, denn dafür nicht mehr geeignet. Reibung und kann bei schnellen Richtungswechseln
sie sind strapazierbar, leicht und auch mechanische Toleranzen erlauben bes- in Schwingung geraten. Das wiederum
sehr hitzestabil. Wenn also das Handy- tenfalls eine Genauigkeit von 0,1 Mikro- verschlechtert die Reaktionsfähigkeit
gehäuse oder der Tennisschläger in die metern. Eine Alternative bietet der piezo- und die Genauigkeit, die aber immer
Müllverbrennungsanlage kommt, wer- elektrische Effekt spezieller Keramiken. noch im Bereich unter einem Nanometer
den dann Nanoröhrchen freigesetzt In diesen Werkstoffen sind positive und liegt. Mit sehr präzisen Hebeln in Form
und gelangen in die Abluft? Oder hat negative Ladungen auf atomarer Ebene von dünnen Metallbrücken lassen sich
die Einbindung in den Kunststoff ihre leicht gegeneinander verschoben, sie Stellwege bis zu einem Millimeter reali-
Oberfläche so modifiziert, dass sie ver- sind elektrisch polarisiert. Bei Anlegen ei- sieren. Die Systeme werden etwa in
brennen? ner elektrischen Spannung ändert eine Rasterkraftmikroskopen eingesetzt.
Piezokeramik deshalb die Form, sie dehnt Für die Halbleiterfertigung reicht das
Ließe sich eine Freisetzung in die Umwelt sich beispielsweise aus – je höher die freilich noch nicht. Für diesen Bereich ha-
überhaupt messen? Spannung, desto größer die Auswirkung. ben wir einen Piezo-Linearantrieb entwi-
Das wird bei manchen mitunter sicher In der Praxis begrenzen allein statis- ckelt, der eine Stange, den Läufer, vor-
schwer, denn viele Stoffe kommen in tische Schwankungen der elektrischen und zurückschiebt. Der Trick ist: Indem
der Natur auch vor. Nehmen Sie die Ei- Spannung die Genauigkeit eines Piezoan- wir die Steuerspannung im unteren Be-
senoxid-Nanopartikel. Das sind hervor- triebs auf 0,01 Nanometer, das entspricht reich der »Piezobeine« quer zur Polari-
ragende Katalysatoren für den Abbau einem Zehntel des Durchmessers eines sationsrichtung anlegen, werden diese
von Kohlenwasserstoffen und deshalb Wasserstoffatoms. Weitere Vorteile: Pie- Stellglieder seitlich ausgelenkt. Die obe-
Hoffnungsträger für die Abwasserauf- zokeramiken reagieren innerhalb von Mi- ren Beinchen hingegen werden abwech-
bereitung. Wenn sie aus der Kläranla- krosekunden auf das Steuersignal und selnd angehoben und abgesetzt. Insge-
ge in die Flüsse geraten sollten, wird erzeugen hohe Kräfte, die selbst tonnen- samt ergeben diese Schrittfolge und die
sich das kaum nachweisen lassen, schwere Lasten bewegen können. Müs- Scherbewegung Stellwege bis zu eini-
denn Eisen ist das vierthäufigste Ele- sen die Antriebe eine bestimmte Position gen Zentimetern mit einer Auflösung
ment der Erdkruste. halten, bleibt die Spannung konstant und weit unter einem Nanometer.
Ähnliches gilt für Siliziumdioxid, es fließen keine elektrischen Ströme. Holger Hoffmann
das häufigste Mineral auf der Erd- Der Energieverbrauch ist dadurch sehr Der Autor ist Marketingmanager beim Karls-
oberfläche. In diesem Fall würde ich gering und es wird keine Abwärme er- ruher Unternehmen Physik Instrumente (PI).
vermuten, dass sich die Partikel mit
PHYSIK INSTRUMENTE (PI), KARLSRUHE
ihresgleichen oder anderen Stoffen

r
verbinden und damit völlig harmlos Das neue Antriebsprinzip: Jedes
werden. Aber das muss untersucht Piezobein schiebt mit der unteren
werden, und zwar für alle neuen Werk- Hälfte der Keramik (dunkelgelb) und hebt
stoffe. l oder senkt sich mit der oberen. Damit die
losgelösten Beine nach dem Wieder-
Die Fragen stellte Klaus-Dieter Linsmeier. aufsetzen gleich den vollen Schub auf-
bringen können, sind sie bereits in die
entgegengesetzte Richtung ausgelenkt.

r HINWEIS: AUF DEN NÄCHSTEN


24 SEITEN FOLGT EIN SONDERTEIL DER DFG !
WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK
Verbesserung trat durch die Bei frischen Hafer-

WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK
Einführung der Haftschalen flocken sprudelt die
ein, die dem linsenlosen Auge Katalase-Lösung
heftig.
wieder zur Sehkraft verhelfen
können. … Schreck setzt eine
Kunststofflinse in die vordere
Augenkammer vor die Pupille
Die Ersatz-Linse ein, und zwar eine mit dün-
»Verletzungen und Alterser- nen Haltestegen oben und
krankungen der menschlichen unten. Obwohl diese vor der
Linse können zu einer Linsen- Regenbogenhaut sitzt, ist sie
trübung führen … Nach der von außen nicht zu erkennen
operativen Entfernung der und verursacht dem Träger kei-
Linse ist das Tragen von ›Star- ne Beschwerden.« (Umschau, 56.
brillen‹ erforderlich. … Eine Jg., Heft 19, S. 589, Oktober 1956)

Textile Wärmeisolation Frischkosttest


»Perlon wird jetzt mit einer Aluminium-Auflage hergestellt. Ver- »Getreideflocken und -schrote werden von manchen Herstel-
suche zeigten, dass eine Speziallegierung, die auf das Gewebe ge- lern … konserviert. Ein einfacher Versuch gestattet es … zu un-
strichen wird, reflektierende Eigenschaften hat. Auf der Innensei- tersuchen, ob bei der Herstellung eine Hitzebehandlung erfolgt
te von Kleidungsstücken wird die Wärme gehalten, auf der Aus- ist oder nicht. Das Verfahren beruht auf dem Nachweis der Ka-
senseite abgestrahlt. Es ist so möglich, im Winter einen Wärme-, talase, eines thermolabilen Fermentes, das in allen lebenden
im Sommer einen Kühlungseffekt zu erzielen. Beim Metallisieren Zellen vorkommt. Man übergießt in einem Glasgefäß 15 g
von Textilgeweben werden im Hochvakuum Metalle oder andere Schrot oder Flocken mit 50 g Wasser und setzt dann 30 ccm …
Substanzen auf das Material aufgedampft. Das … wurde erst Wasserstoffsuperoxyd zu. Ist das Getreide frischwertig, so be-
möglich, nachdem die Industrie neue Diffusionspumpen entwi- ginnt sofort eine sehr lebhafte Gasbildung, da die Katalase Sau-
ckelt hatte.« (Neuheiten und Erfindungen, 23. Jg., Nr. 263, S. 184/185, 1956) erstoff freisetzt …« (Umschau, Heft 19, S. 603, Oktober 1956)

Kraftwerk wandelt Wellen in Energie um Weinalterung mit Ozon


»Ein neuer Wellenmotor be- Gebälk trägt eine Plattform, »In neuerer Zeit wird … ein
zweckt, außer den vertikalen auf welcher die Zylinder einer Verfahren bekannt gegeben, …
auch die horizontalen Wellen- größeren Anzahl von Pumpen durch welches die Erzeugung
bewegungen in nutzbare En- ruhen. … An dem innersten des Ozons innerhalb der Flüs-
ergie zu verwandeln. Ein … Rahmen sitzt starr ein langer sigkeiten … hervorgebracht seine Atome mit größter Akti-
Hebel, an dessen unterem wird. … Nachdem Sauerstoff vität einwirkt, während sich zu
Ende ein großer Schwimm- … in das mit der Flüssigkeit gleicher Zeit durch die sta-
körper sich befindet. Letzterer gefüllte Gefäß … geleitet … tischen Entladungen moleku-
hat das spezifische Gewicht ist, werden durch Elektroden lare Veränderungen vollziehen;
des Wassers und nimmt an al- einer Influenzmaschine Entla- das Zusammenwirken dieser
len horizontalen Wellenbewe- dungen hervorgerufen. Bei die- Momente bewirkt den ge-
gungen teil. … Die runde sem Vorgang verwandelt sich wünschten Effekt.« (Zeitschrift für
Stange, an welcher der große der gelöste Sauerstoff in Ozon die gesammte Kohlensäure-Industrie, 12.
Schwimmkörper sitzt, trägt (O3), welches beim Zerfallen in Jg., Nr. 20, S. 630/631, Oktober 1906)
noch einen zweiten, senkrecht
verschiebbaren Schwimmkör- Linkshändigkeit trainiert
per, der jedoch leichter ist als
Wasser und an der hebenden »In Amerika hat unlängst Professor Tadd systematisch versucht,
Bewegung der Wellen teil- die linke Hand seiner Schüler im Zeichnen auszubilden und
nimmt. Dieser Schwimmer damit gute Erfolge erzielt. Aehnliche Versuche sollen nun auch
ist … direkt mit einer An- in Königsberg gemacht werden. Die Versuchskurse werden in
zahl von Kolben verbunden.« zwei Knaben- und zwei Mädchenschulen abgehalten werden,
(Illustriertes Jahrbuch der Erfindungen, sie sollen sich auf Schreiben und Knabenhandarbeit und Zeich-
6. Jg, S. 198, 1906) nen erstrecken. … Als Teilnehmer sollen nur solche Schüler zu-
gelassen werden, die fleißig, begabt, ordentlich und körperlich
kräftig sind. Sie … dürfen, um Ueberbürdung zu vermeiden,
l Die zwei Schwimmer lassen die nur am Unterricht in einem Fach teilnehmen.« (Beilage zur Allge-
Pumpen tanzen. meinen Zeitung, Nr. 242, S. 128, Oktober 1906)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 67
HIRNFORSCHUNG z
Blick in
ein Supergedächtnis
Das Erinnerungsvermögen des Amerikaners Kim Peek ist un-
heimlich. Wer menschliche Geistestätigkeit verstehen möchte,
muss auch dieses außergewöhnliche Gehirn begreifen.

Von Darold A. Treffert phänomenale Begabung richtet sich auf


und Daniel D. Christensen mindestens fünfzehn Interessengebiete,
darunter Geschichte, Sport, Filme,

S
eine Freunde nennen ihn »Kim- Geografie, Raumfahrt, Schauspieler,
puter«. Kim Peek ist heute Mit- Bibel, Kirchengeschichte, Literatur,
te fünfzig. Dicke Bücher liest er Shakespeare und klassische Musik.
in ein, zwei Stunden durch, mit Außerdem kennt er alle Postleitzahlen
kaum zehn Sekunden pro Seite – und und Vorwahlnummern der USA und
stellt sie dann kopfüber ins Regal. weiß, wo welche Fernsehsender emp-
Denn nun hat er alles, was darin steht, fangen werden können. Er hat die Kar-
exakt parat: die Namen der handeln- ten und Stadtpläne von den vorderen
den Personen, die Texte im Wortlaut, Seiten der amerikanischen Telefonbü-
selbst die Seitenzahlen der Textpassa- cher im Kopf. Ohne Zögern bezeichnet
gen weiß er noch nach Jahren. er in und zwischen allen größeren Städ-
Medizinisch gesehen ist Peek ein ten Fahrtrouten und -richtungen – und
»Inselbegabter«, ein »Savant« (nach das alles schnell wie eine Internetsuch-
dem französischen Wort für »Gelehr- maschine. Peek erkennt auch hunderte
ter«). Typisch dafür sind unter ande- Werke der klassischen Musik beim Hö-
rem herausragende punktuelle Ge- ren wieder. Für jedes vermag er anzuge-
dächtnisleistungen bei oft mehr oder ben, von wem, wann und wo es kom-
weniger starken geistigen Defiziten im poniert und uraufgeführt wurde, er
Allgemeinen. Der Londoner Arzt J. nennt viele weitere biografische Details
Langdon Down beschrieb das Syn- zum Werk und seinem Komponisten
drom 1887. Bei vielen Savants richtet und äußert sich zu Aufbau und Art der
sich die Inselbegabung auf ein be- Stücke. Besonders erstaunlich: Seit ein
stimmtes Gebiet. Auffallend oft ist das paar Jahren lernt er jetzt auch Klavier-
Musik, bildende Kunst oder Mathe- spielen und die Stücke, die er kennt, er-
matik. Down erwähnte damals unter klingen zu lassen.
anderem einen Jungen, der das klas- Bemerkenswert ist das vor allem in
sische sechsbändige Werk »Geschichte Anbetracht seiner massiven mentalen
des Verfalls und Untergangs des Rö- Defizite und seiner Hilflosigkeit in der
mischen Reiches« des britischen Histo- Bewältigung des Alltags. Er geht zum
rikers Edward Gibbon (1737 – 1794) Beispiel schräg seitwärts und kann
hersagen konnte. nicht einmal seine Kleider selbst zu-
Kim Peek sticht durch sein enormes knöpfen. Auch Abstrahieren fällt ihm
Fakten- und Detailgedächtnis hervor. ausgesprochen schwer. Hirnforscher
Schon mit eineinhalb Jahren behielt er versuchen nun mit seiner Hilfe heraus-
genauestens, was man ihm vorlas. Heu- zufinden, wieso die Leistungen von Sa-
te kennt er rund 9000 Bücher komplett vants in einzelnen kognitiven Berei-
auswendig. Aber nicht nur das: Seine chen so stark auseinanderklaffen. r

68 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Der Amerikaner Kim
Peek lebt mit einem
ungewöhnlich großen,
ETHAN HILL

in manchen Struktu-
ren abnormen Gehirn.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 69
HIRNFORSCHUNG z
r Merkwürdig an dem Syndrom ist zum
Beispiel, dass diese Menschen vielfach
gänzen. Das Baby hatte einen viel zu
großen Kopf und am Hinterkopf einen
beide Hirnhälften nun in gewisser Hin-
sicht wie eine einzige Riesenhemisphäre
Talente der gleichen Art besitzen. Nicht baseballgroßen Hirndurchbruch, eine so arbeiten. Normalerweise eher getrennte
wenige jener Inselbegabten, die sich genannte Enzephalozele. Zwar bildete Funktionen wären gewissermaßen unter
durch ein riesiges Gedächtnis auszeich- sich diese »Blase« von selbst zurück, aber demselben Dach vereint. Sofern das bei
nen, können blitzschnell beliebige Ka- Hirnaufnahmen zeigten später weitere Peek zuträfe, könnte er einige seiner Ta-
lenderdaten zuordnen. Peek schüttelt zu Fehlbildungen des Gehirns. Die ersten lente tatsächlich der Tatsache verdanken,
jedem Datum sofort den Wochentag aus dieser Hirnbilder machte 1988 einer von dass er kein Corpus callosum hat. Aller-
dem Ärmel, wie kürzlich zum Geburts- uns (Christensen). Seitdem beobachtet er dings ist den Hirnforschern inzwischen
datum eines Interviewers. Keine Sekun- Peeks Entwicklung. der Zweck des Balkens weniger klar, als
de muss er überlegen, dass der 31. März sie früher annahmen. Noch können sie
1956 ein Ostersamstag war. Was ge- Wenn das halbe Vorderhirn nicht wirklich erklären, wieso manche
schieht da im Gehirn? Wieso können ei- überbordet Menschen ohne diese Struktur keine of-
nige wenige Menschen Dinge, die der Unter anderem ist Peeks Kleinhirn miss- fensichtlichen Behinderungen aufweisen,
Mehrzahl völlig unmöglich sind? gestaltet und abnorm klein. Das könnte einige aber Savant-Fähigkeiten entwi-
Peeks Gehirn sieht nicht so aus wie für seine Bewegungs- und Koordinati- ckeln. Manche Neurologen spötteln, si-
das anderer Menschen. So viel zeigen onsschwierigkeiten verantwortlich sein. cher sei nur, dass das Corpus callosum das
medizinische Aufnahmen (siehe Kasten Noch markanter ist aber das Fehlen des Gehirn zusammenhalte und dass es
rechts). Aber wie die Abweichungen mit so genannten Balkens, des Corpus callo- Krampfanfälle weiterleite.
seinen Sonderbegabungen zusammen- sum, jener prägnanten Struktur aus Ner- In anderer Hinsicht ist die Theorie
hängen könnten, lässt sich hiervon bis- venfasern, die beide Großhirnhemisphä- weiter gediehen und könnte auf eine
her für keine seiner Fähigkeiten direkt ren miteinander verbindet. Was dieser Spur führen: Bei Kim Peek fallen Fehlbil-
herleiten. Einiges beginnen die Forscher Defekt in Peeks Fall bewirkt, können wir dungen in der linken Hemisphäre auf,
allerdings schon zu ahnen. Sie möchten bisher nicht sagen. Denn nicht immer etwas, das bei vielen Menschen mit Sa-
moderne bildgebende Verfahren heran- zieht die seltene Fehlbildung Funktions- vant-Syndrom vorkommt. Das Phäno-
ziehen, um zu sehen, wie das Gehirn störungen nach sich. Manchen Men- men ist insofern bemerkenswert, als es
dieses Mannes arbeitet – welche Bereiche schen, die von Geburt an keinen Balken sich dann meistens um Männer handelt
bei bestimmten Tätigkeiten aktiv sind. haben, merkt man nichts davon an. – so wie auch Legasthenie, Stottern,
Auch hiervon abgesehen lohnt es un- Wird das Corpus callosum jedoch bei spätes Sprechenlernen oder Autismus
seres Erachtens, Peeks besondere Fähig- einem Erwachsenen durchtrennt – wie Jungen viel öfter heimsuchen als Mäd-
keiten und seinen Werdegang für die zu- es manchmal erfolgte, damit ein Epilep- chen. Die Geschlechtslastigkeit wird mit
künftige Hirnforschung zu dokumentie- sieherd nicht auf die andere Hirnseite linksseitigen Hirnfunktionsstörungen in
ren. Das Phänomen der Inselbegabung übergriff –, dann tritt das charakteristi- Verbindung gebracht, die vielleicht auf
bietet ein einzigartiges Fenster zu unserer sche »Split-Brain«-Syndrom auf: Die bei- zu viel Testosteron in der vorgeburtlichen
Geistestätigkeit, doch Menschen wie ihn den Hemisphären arbeiten nun weit ge- Entwicklung zurückgehen. Jungen erzeu-
findet man ausgesprochen selten. Solan- hend selbstständig, ohne sich zu koordi- gen im Mutterleib mehr Testosteron als
ge man nicht auch das Savant-Gehirn nieren. Mädchen. Im Übermaß aber kann das
begreift, wird man sich nicht anmaßen Es scheint, als bildeten sich bei eini- Hormon junges Hirngewebe schädigen.
dürfen zu meinen, man hätte die Funk- gen ohne Balken geborenen Menschen Da zudem die linke Hemisphäre etwas
tionsweise des menschlichen Gehirns zum Ausgleich andere Verbindungen, langsamer reift als die rechte, wäre sie der
verstanden. also andere Kommunikationskanäle zwi- Gefahr länger ausgesetzt. In dem Zusam-
Peek wurde am 11. November 1951 schen den beiden Hirnhälften aus. Und menhang erscheint auch das gar nicht so
geboren – an einem Sonntag, würde er er- vielleicht kann es dann geschehen, dass seltene »erworbene Savant-Syndrom«
markant. Manchmal nämlich entwickeln
IN KÜRZE ältere Kinder und Erwachsene nach
Schädigung der linken Hemisphäre
r Eine Inselbegabung – ein Savant-Syndrom – geht immer mit einer phänome- plötzlich neue Talente ähnlicher Art wie
nalen Gedächtnisstärke einher. Bei dem Amerikaner Kim Peek ist die besondere bei einer Inselbegabung.
Begabung eine extreme Merkfähigkeit per se. Was mögen diese Beobachtungen be-
r Sein Gehirn weist mehrere Anomalien auf. So fehlt der Balken, das Corpus cal- sagen? Grundsätzlich sind die beiden fol-
losum, die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhemisphären. Entsteht ein genden Erklärungen denkbar: Entweder
Savant-Talent, weil das Gehirn Fehlendes zu kompensieren versucht? Oder kom- könnte die rechte Hemisphäre normaler-
men normalerweise ruhende, weil durch andere Hirngebiete unterdrückte Fähig- weise mit anderen Aufgaben befasstes
keiten zum Vorschein? Hirngewebe benutzen, um die linkssei-
r Früher speicherte Peek alles nur im Gedächtnis ab. Später begann er Fakten tigen Defekte zu »kompensieren«. Sie
zu verknüpfen. Seine gedanklichen Assoziationen beweisen durchaus einige Krea- würde also Fähigkeiten anstrengen, wel-
tivität. Seit er Anerkennung findet, wagt er sich auch in die Welt. Sein Beispiel che ihr gewöhnlich nicht zu eigen sind.
zeigt, dass es sich für die soziale und intellektuelle Entwicklung Betroffener lohnt, Oder, so spekulieren Forscher, die rechte
wenn man ihr Spezialtalent fördert. Hemisphäre ist nun vom Joch der linken
Hirnseite befreit, die in der Regel als do-

70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
minant gilt und in manchem über die te befanden sich im Abschnitt geistiger rung«. Anzeichen für einen Autismus
rechte Seite bestimmt. Deswegen vermag Behinderung. Die Psychologen kamen fanden sich nicht. Ganz anders als Autis-
die rechte Hemisphäre nun einige ihr in- folglich zu dem Schluss, die übliche IQ- ten geht Peek unter Menschen und ist
newohnende Fähigkeiten hervorzubrin- Wertung würde den geistigen Fähig- recht umgänglich. Das Savant-Syndrom
gen, die sonst schlummern. keiten des Mannes nicht gerecht. Das kann, muss aber nicht mit Autismus ein-
Im Jahr 1988 unterzog sich Peek psy- berührt den alten Streit, ob ein Mensch hergehen: Zwar treten Inselbegabungen
chologischen Tests. Der ermittelte Ge- eine Gesamtintelligenz besitzt oder eine bei Autismus häufiger auf als bei jeder
samtintelligenzquotient war 87. Aller- Vielzahl von Intelligenzen. Mit Kim anderen einzelnen geistigen Entwick-
dings lagen die Werte für verschiedene Peek vor Augen plädieren wir für die lungsstörung, doch nur etwa jeder zwei-
Gebiete weit auseinander. Manche reich- Existenz getrennter Intelligenzen. te Inselbegabte ist zugleich autistisch.
ten in den oberen Bereich der Skala, Die Tests ergaben bei ihm eine »an- Voraussetzung dafür, dass sich ein Sa-
dem von hoher Intelligenz. Andere Wer- sonsten unspezifische Entwicklungsstö- vant-Talent voll ausbildet, scheint aller- r

Das Gehirn eines Savants


Im riesigen Gehirn von Kim Peek gibt es weder einen Balken, die sur, welche ebenfalls verbindende Fasern zwischen beiden He-
normalerweise mächtigste Verbindung zwischen den beiden misphären enthalten. Das Kleinhirn, unter anderem wichtig für
Großhirnhemisphären noch eine vordere oder hintere Kommis- die Bewegungskoordination, wirkt deformiert und geschrumpft.

normales Gehirn Blick in ein normales Gehirn


Blick auf die Mittelebene des Gehirns Eine breite Faserstruktur unter der Oberfläche
mittels Magnetresonanztomografie verbindet die beiden Hemisphären

vorn hinten

Balken
(Corpus callosum)

Balken vordere Kleinhirn


Kommissur hintere
Kommissur

Gehirn von Kim Peek


MRI-SCANS: PRATIK MUKHERJEE UND DONNA R. ROBERTS, UCSF;
GRAFIK RECHTS: SARA CHEN

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 71
HIRNFORSCHUNG z
r dings ein stark ausgeprägtes Spezial-
interesse zu sein.
Peeks Neigungen äußerten sich zu-
nächst alle in peniblem, quasi automa-
tischem sofortigem Auswendiglernen,
doch erweiterten sie sich später. Zu abs-
trahieren oder konzeptionell zu denken,
gelingt ihm nur eingeschränkt. Gängige
Sprichwörter etwa vermag er meist nicht
zu erklären. Aber vieles von dem, was er
seinem Gedächtnis einverleibt hat, ver-
steht er durchaus. Für ein Savant-Syn-
drom ist dieser Grad von Begreifen un-
gewöhnlich. Der Londoner Arzt Down
meinte einst dazu, Betroffene würden so-
zusagen »an den Worten kleben«, ohne
ihnen Sinn zuzuordnen. Ein anderes ein-
gängiges Bild fand die Psychologin Sarah
Parker von der Universität von Pennsyl-
vania in Philadelphia: »Wenn man einen
Brennofen voller Ziegel hat, ist man
noch längst kein Maurer.«
Aber Peek besitzt nicht nur einen au-
ßerordentlich großen Brennofen voller
Ziegel, er ist heute auf seinen Gebieten
auch ein gewandter, kreativer Wortmau-
rer. Einerseits reagiert er mitunter auf
ETHAN HILL

Fragen oder Anweisungen verblüffend


wörtlich. Als ihn sein Vater einmal im
Restaurant bat, die Stimme zu senken, Assoziationen mitunter so schnell gar scheiden vermag, zeigt sich, wenn er
rutschte er einfach tiefer in den Stuhl, nicht zu folgen vermag. neue Stücke hört und mutmaßt, von
brachte somit den Kehlkopf tiefer. Ande- Seit Kurzem zeigt sich eine neue Di- welchem Komponisten sie sein könnten.
rerseits kann er durchaus geistreich sein. mension seines Savant-Talents, die über- Körperlich ist Kim Peek immer noch
Bei einem der Gespächsauftritte, die er rascht. Im Jahre 2002 lernte Peek die höchst linkisch und unbeholfen. Seine
seit Längerem zu geben pflegt, fragte je- Musikprofessorin April Greenan kennen. manuelle Geschicklichkeit aber nimmt
mand nach Abraham Lincolns »Gettys- Unter ihrer Anleitung begann er Klavier zu. Sitzt er am Klavier und möchte über
burg Address« (wobei address unter an- zu spielen und in Gesprächen über Mu- ein Stück sprechen, dann spielt er die be-
derem »Ansprache« bedeutet; Präsident sikstücke Passagen daraus auf den Tasten treffende Passage, oder er singt sie, oder
Lincoln hatte dort, am Ort einer ent- zu zitieren. Viele von den Werken, die er er beschreibt sie mit Worten, wobei er
scheidenden Schlacht des Amerikani- ohnehin im Kopf hat, bringt er so zu nahtlos hin- und herwechselt. Auch den
schen Bürgerkriegs, 1863 seine berühm- Gehör. Rhythmus beachtet er: Den Takt klopft
teste, eine ganz kurze Rede gehalten). er sich mit der rechten Hand leicht auf
Peek aber antwortete: »Will’s House, 227 Anklänge die Brust oder tippt beim Klavierspielen
North West Front Street. Dort schlief er an Mozarts Genie? mit dem rechten Fuß auf den Boden.
aber nur eine Nacht – am nächsten Tag Peek verfügt über ein bemerkenswertes Seine Lehrerin ist Mozart-Kennerin.
hielt er die Rede.« Er wollte keinen Gedächtnis für Tonhöhen. Zu jeder Sie sagt über ihren Schüler: »Kims Mu-
Scherz machen. Als der Frager lachte, er- Komposition weiß er die Originallage. sikkenntnisse sind beachtlich. Erstaun-
kannte er aber den Witz und benutzt ihn Auch kennt er sämtliche Instrumente lich, wie er sich an jede Einzelheit der
seitdem, um sein Publikum zu erheitern, eines klassischen Sinfonieorchesters und Stücke erinnert. Viele hat er nur einmal
was ihm auch gelingt. kann für einzelne Abschnitte der Stücke gehört, teils vor über 40 Jahren. Wie er
Andererseits besitzt Peek für situa- angeben, wie sich der Gesamtklang zu- alles verkettet und Fäden verwebt, ob
tionsbezogene Gedankenspiele zweifellos sammensetzt. Den Anfang der »Moldau« durch ein Musikwerk oder zwischen ver-
ein Talent. Oft verblüfft er mit seinen von Smetana spielte er so: Flöte und Kla- schiedenen Kompositionen, wie er Ver-
Schöpfungen, etwa wenn er ein Shake- rinette markierte er mit einem Arpeggio bindungen zum Leben der Komponisten
speare-Zitat passend abwandelt. Das er- mit der linken Hand. Oboe und Fagott, herstellt, zu geschichtlichen Ereignissen,
innert durchaus an das Improvisieren erklärte er, würden mit dem Thema ein- zu Filmmusiken und zu tausenderlei
eines Musikers. Die Einfälle kommen setzen. Das Thema spielte er rechts, erst Fakten aus seiner ›Datenbank‹, zeugt von
Peek ganz rasch, oft ist er seinen Zuhö- in Einzeltönen, dann in Terzen, während einer riesigen intellektuellen Kapazität.«
rern anscheinend mehrere Denkschritte er links weiter das übrige Orchester an- Die Musikerin vergleicht Peek sogar mit
voraus, sodass man den verschlungenen deutete. Dass er Musikstile zu unter- Mozart. Der habe auch einen ziemlich

72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Der Fischer
Weltalmanach 2007.
l
Seit ein paar Jahren lernt Kim Peek norme Begabung einem Publikum vor-
Klavierspielen und macht dabei be- zuführen. Die beiden wurden dabei zu
achtliche Fortschritte (rechts sein Vater,
hinten seine Lehrerin April Greenan).
engagierten Botschaftern für Behinderte.
Im Lauf der Jahre sind sie vor über 2,6 Für alle, die es
Millionen Menschen aufgetreten.
Die Verwandlung Peeks sollte uns zu
schon immer besser
großen Kopf besessen, ein Faible für
denken geben, aus wissenschaftlicher
Sicht wie für den praktischen Umgang
wissen wollten.
Zahlen gehabt und sei im sozialen Be- mit Menschen wie ihm. Zum einen:
reich eher schwierig gewesen. Sie könnte Vieles von dem, was wir über Gesund-
sich sogar vorstellen, dass Kim noch heit wissen, rührt von der Erforschung
komponieren lernt. pathologischer Zustände her. Ähnlich
Wundert es da, dass die Aufmerk- dürften ungewöhnliche Erinnerungsfä- Wer regiert in Tuvalu?
samkeit des Drehbuchautors Barry Mor- higkeiten dazu beitragen, das normale Was will die ECOWAS?
row geweckt war, als er den Mann mit Gedächtnis besser zu begreifen. Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in China?
dem ungeheuren Gedächtnis 1984 zufäl- Zum anderen aber kann das Leben Wann hat Angela Merkel Geburtstag?
lig kennen lernte? So entstand der be- dieses Mannes Vorbild sein, wie man Wer wurde Torschützenkönig der WM?
kannte Film »Rain Man«. Die Hauptfi- ähnlich veranlagte behinderte Menschen
gur Raymond Babbitt, gespielt von Dus- am besten fördert. Wir empfehlen, dass Die passenden Antworten hat sofort parat:
tin Hoffman, ist allerdings anders als Bezugspersonen und Sorgeberechtigte Der Fischer Weltalmanach.
Kim Peek ein autistischer Savant. Die die Sonderbegabungen nicht ignorieren Seit über 40 Jahren liefert das Jahrbuch
Geschichte ist auch sonst völlig fiktiv. oder gar unterdrücken, vielmehr ein Sa-
die wichtigsten Zahlen, Daten, Fakten
Nicht einmal in groben Zügen erzählt vant-Talent noch fördern und unterstüt-
und Hintergrundinformationen zu allen
sie Peeks Lebensweg. Doch in einer Sze- zen. Womöglich lassen sich über das spe-
ne rechnet Raymond immerfort im Kopf zielle Können besser Kontakte zu Men- 194 Staaten der Erde.
Quadratwurzeln aus. Da murmelt sein schen knüpfen, so wie ein gezieltes Jährlich auf den neuesten Stand gebracht.
Filmbruder Charlie: »Er müsste für die Training der Spezialbegabung helfen
Nasa arbeiten oder sowas.« Peek könnte könnte, die Einschränkungen des Betrof- Großes Gewinnspiel unter
das tatsächlich erleben. fenen zu mildern. Das ist alles andere als www.weltalmanach.de
Denn die Nasa möchte von seinem leicht. Immer bedeutet es viel Hingabe,
Gehirn und dessen Arbeitsweise ein prä- äußerste Geduld und harte Arbeit – wie
zises dreidimensionales anatomisches es Peeks Vater so eindrucksvoll vorführt.
Modell erstellen. Laut Richard Boyle, Von Kim Peek können wir nicht nur als
dem Direktor des Biovis-Technologie- Forscher, sondern auch als Menschen
zentrums der Nasa, geschähe das im viel lernen. l
Rahmen eines Unterfangens, bei dem
möglichst viele und unterschiedlichste
Darold A. Treffert (oben)
Gehirne im Detail aufgenommen wer- und Daniel D. Christensen
den sollen. Die Daten würden dann so erforschen das Savant-Syn-
zusammengeführt, dass Strukturen und drom seit Jahrzehnten. Der
Funktionen aufeinander bezogen wer- Mediziner und Psychiater
A U T O R E N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

den können. Hieran möchten die For- Treffert war an verschiede-


nen Orten des US-Bundes-
scher festmachen, welche Verände- staats Wisconsin in maß-
rungen an welchen Stellen im Gehirn geblichen Positionen tätig
Denken und Verhalten begleiten. Mit und fungierte beim Film
Hilfe eines solchen detaillierten Modells »Rain Man« als Berater.
sollen einmal Ärzte von der Erde aus die Christensen hat Professuren
für Psychiatrie, Neurologie und Pharmakolo-
nicht sonderlich genauen Ultraschall- gie an der Universität von Utah in Salt Lake
Hirnaufnahmen von Raumfahrern bes- City. Kim Peek kennt er seit über 20 Jahren.
ser interpretieren können, denn bisher
Geistes-Giganten. Von Karin Steinberger
kann man nur Ultraschallgeräte ins All in: SZ-Wissen, Heft 10, Juli/August 2006,
transportieren. S. 82
»Rain Man« brachte für Peek die
Inselbegabungen. Von D. A. Treffert und G. L.
Wende. Vorher hatte er sich vor Men- Wallace in: Spektrum der Wissenschaft,
schen zurückgezogen und sich, wenn Be- 9/2002, S. 44
such kam, in seinem Zimmer verkro- The real Rain Man. Von Fran Peek. Harkness
chen. Die Kontakte mit den Filmleuten Publishing Consultants, 1996
erhöhten sein Selbstvertrauen. Als ihn
Weblinks zum Thema finden Sie bei www.
der Film dann berühmt machte, ent- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
schlossen sich er und sein Vater, die ab-
3-596-72007-9
€ 14,95 (D) sFr 26,90
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Q OKTOBER 2006
832 Seiten
73
METAMATERIALIEN z

BOEING PHANTOM WORKS, MINAS H. TANIELIAN

Dieses würfelförmige Metamaterial besteht


aus einer dreidimensionalen Matrix von
Kupferdrähten und Spaltringen. Mikrowel-
len mit Frequenzen um 10 Gigahertz (Milliar-
den Hertz) verhalten sich in dem Würfel
höchst ungewöhnlich: Für sie hat das Ma-
terial einen negativen Brechungsindex. Der
Gitterabstand beträgt 2,68 Millimeter.

74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Die Superlinse
Aufwändig produzierte Strukturen – so genannte Metamaterialien –
zeigen bizarre optische Eigenschaften, unter anderem einen
negativen Brechungsindex. Eine Superlinse aus solchem Material
vermag Bilder zu erzeugen, deren Details noch feiner sind als
die verwendete Wellenlänge.

Von John B. Pendry und David R. Smith schaften könnten vielmehr aus winzigen solche Welle – beispielsweise ein Licht-
Mikrostrukturen resultieren, die ge- strahl – eine Substanz durchquert, er-

V
or fast vierzig Jahren erdach- meinsam völlig exotisch anmutende Ef- fahren die Hüllenelektronen der Atome
te der russische Wissen- fekte erzeugen. oder Moleküle dieses Materials eine
schaftler Victor Veselago ein Das Marconi-Team fabrizierte sol- Kraft und bewegen sich entsprechend.
Material, das die Gesetze che »Metamaterialien« und bewies, Diese Bewegung zehrt die Energie der
der Optik auf den Kopf zu stellen ver- dass sie elektromagnetische Wellen an- Welle teilweise auf und beeinflusst die
sprach. Lichtwellen würden darin ein ders streuen als jede bekannte Subs- Eigenschaften und die Bewegungsrich-
völlig überraschendes Verhalten zeigen tanz. Im Jahr 2000 entdeckte einer von tung der Welle. Deshalb sieht ein halb
und sich beispielsweise rückwärts aus- uns (Smith) mit seinen Kollegen an in Wasser getauchter Bleistift geknickt
breiten. Eine Linse aus diesem Mate- der Universität von Kalifornien in San aus. Indem Wissenschaftler die che-
rial hätte fast magische Eigenschaften Diego eine Kombination von Metama- mische Zusammensetzung eines Mate-
und könnte Unglaubliches leisten. Das terialien, die tatsächlich einen nega- rials verändern, können sie seine op-
Problem war nur: Das Material müsste tiven Brechungsindex aufweist. tischen Eigenschaften an eine spezielle
einen negativen Brechungsindex ha- Anwendung anpassen.
ben. Diese Zahl gibt an, wie eine Wel- Veselagos Traum Doch wie die Metamaterialien zei-
le ihre Richtung ändert, wenn sie in In Materialien mit negativer Brechzahl gen, ist Chemie nicht der einzige Zu-
das Material eintritt oder es verlässt; benimmt sich Licht derart seltsam, dass gang zu Substanzen mit interessantem
bei allen bislang bekannten Substanzen die Theoretiker die Lehrbücher über elektromagnetischem Verhalten. Wir
ist ihr Wert positiv. Trotz jahrelanger Elektromagnetismus umschreiben müs- können auch die winzige, aber immer
Suche fand Veselago nichts, das die ge- sen – und gelegentlich sogar noch da- noch makroskopische Struktur des Ma-
wünschten elektromagnetischen Ei- rüber streiten, ob solche Materialien terials manipulieren. Auch dies verän-
genschaften aufwies, und seine Idee überhaupt existieren. Unterdessen ar- dert das optische Verhalten, weil die
verschwand in der Versenkung. beiten die Experimentalphysiker bereits Wellenlänge eines typischen Licht-
Erst kürzlich erweckte eine unerwar- an praktischen Anwendungen für Me- strahls um ein Vielfaches größer ist als
tete Entdeckung Veselagos Gedanken zu tamaterialien. Zum Beispiel verspricht die Atome oder Moleküle des Materials.
neuem Leben. Bei den meisten Materi- eine Superlinse das Abbilden von De- Die Welle nimmt gleichsam nicht einzel-
alien ergibt sich das elektromagnetische tails, die feiner sind als die Wellenlänge ne Moleküle wahr, sondern die gemein-
Verhalten unmittelbar aus den charakte- des verwendeten Lichts; damit ließe same Reaktion von Millionen Molekülen.
ristischen Eigenschaften ihrer kleinsten sich die optische Lithografie miniaturi- Wie der Name sagt, enthalten elektro-
Bausteine, der Atome und Moleküle. sierter Schaltkreise bis in die Größen- magnetische Wellen ein elektrisches und
Da die Vielfalt dieser elementaren Cha- ordnung von Nanometern (millionstel ein magnetisches Feld. Jede der beiden
rakteristika begrenzt ist, verfügen die Millimetern) vorantreiben, und auf op- Komponenten verursacht eine charakte-
Millionen der uns bekannten Werkstof- tischen Speicherscheiben hätten viel ristische Bewegung der Elektronen im
fe nur über eine begrenzte Palette elek- mehr Daten Platz. Noch sind solche Material – vorwärts und rückwärts als Re-
tromagnetischer Eigenschaften. Doch Visionen ein gutes Stück von der Reali- aktion auf das elektrische Feld, im Kreis
Mitte der 1990er Jahre erkannte einer tät entfernt, aber seit Veselagos Traum herum infolge des magnetischen Felds.
von uns (Pendry) zusammen mit For- verwirklicht wurde, schreitet die Ent- Dementsprechend geben zwei Parameter
schern der Firma Marconi Materials wicklung rapide voran. an, wie stark das Material reagiert: die
Technology in Großbritannien, dass ein Um zu verstehen, wie negative Bre- elektrische Permittivität (oder Dielektrizi-
optisches Material nicht aus einer ein- chung entstehen kann, muss man wis- tätskonstante) ε und die magnetische Per-
zigen, homogenen Substanz bestehen sen, wie ein Material elektromagne- meabilität µ. Bei den meisten Materialien
muss. Seine elektromagnetischen Eigen- tische Wellen beeinflusst. Wenn eine sind beide Größen positiv. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 75
r
METAMATERIALIEN z
Ein weiterer wichtiger Indikator für
das optische Verhalten einer Substanz ist
Der Schlüssel zu dieser negativen Re-
aktion ist Resonanz – die Tendenz, mit
Wellenlänge, verwendete die Gruppe
Mikrowellen. Deren Wellenlänge beträgt
der Brechungsindex n. Er hängt mit ε einer bestimmten Frequenz zu schwin- mehrere Zentimeter; also konnten die
und µ zusammen nach der einfachen gen. Diese Eigenschaft wird einem Meta- Elemente mehrere Millimeter groß sein –
Formel: n = ±√εµ. Für jedes bekannte material künstlich verliehen, indem win- ein recht praktisches Ausmaß.
Material muss für die Quadratwurzel der zige Stromkreise das magnetische oder Das Team konstruierte ein Metama-
positive Wert eingesetzt werden; darum elektrische Verhalten eines Materials imi- terial, das abwechselnd aus Drähten und
ist der Brechungsindex positiv. Doch wie tieren. In einem Spaltringresonator zum Spaltringresonatoren bestand, und gab
Veselago 1968 zeigte, muss n negatives Beispiel induziert ein magnetischer Fluss ihm die Form eines Prismas. Die Drähte
Vorzeichen annehmen, wenn sowohl ε beim Durchqueren der Metallringe rotie- lieferten negatives ε, die Ringe negatives
als auch µ negativ sind. Das heißt, ein rende Ströme, analog zum Magnetismus µ, darum sollten beide zusammen einen
Material mit negativem ε und µ hat ei- in üblichen Materialien (siehe Kasten auf negativen Brechungsindex ergeben. Zum
nen negativen Brechungsindex. S. 78). In einem Gitter aus geraden Me- Vergleich stellten die Forscher auch ein
Ein negatives ε oder µ bedeutet, dass talldrähten verursacht ein elektrisches gleich geformtes Prisma aus Teflon her;
die Elektronen im Material sich entge- Feld hingegen vor- und zurücklaufende diese Substanz hat eine positive Brech-
gengesetzt zu der Kraft bewegen, die das Ströme. zahl mit n = 1,4. Nun richteten sie einen
elektrische oder magnetische Feld aus- Mikrowellenstrahl auf das Prisma und
übt. Dieses Verhalten erscheint nur auf Winzige elektromagnetische maßen die austretenden Mikrowellen
den ersten Blick paradox; eigentlich las- Schaukeln unter verschiedenen Winkeln. Wie er-
sen sich Elektronen ganz einfach dazu Wenn man die Elektronen sich selbst wartet wurde der Strahl im Teflonprisma
bringen, dem »Stoß« der angelegten elek- überlässt, schwingen sie in diesen Strom- positiv gebrochen, im Metamaterial hin-
trischen und magnetischen Felder zu wi- kreisen einfach hin und her, und zwar gegen negativ. Damit war Veselagos Spe-
derstehen. mit der durch Struktur und Größe der kulation Wirklichkeit geworden: End-
Stellen wir uns eine Schaukel vor: Stromkreise festgelegten Resonanzfre- lich gab es ein Material mit negativem
Wenn wir sie langsam und stetig ansto- quenz. Wird ein Wechselfeld unterhalb Brechungsindex. – Wirklich?
ßen, bewegt sich die Schaukel gehorsam dieser Frequenz angelegt, so reagiert das Die Experimente in San Diego und
in Richtung des Stoßes; sie schwingt al- System normal, das heißt positiv. Knapp die spektakulären Hoffnungen, die sie
lerdings nicht sehr weit. Einmal in Be- oberhalb der Resonanzfrequenz jedoch weckten, riefen andere Forscher auf den
wegung gesetzt, tendiert die Schaukel zu ist die Reaktion negativ – wie bei der Plan. Skeptiker meinten, negativ bre-
einer charakteristischen Eigenschwin- Schaukel, die zurückstößt, wenn man sie chende Materialien müssten die physika-
gung mit der so genannten Resonanzfre- schneller als mit ihrer Eigenfrequenz an- lischen Grundgesetze verletzen. Wenn sie
quenz. stößt. Somit können Drähte in einem damit Recht hatten, lief das ganze For-
Wird die Schaukel periodisch im gewissen Frequenzbereich eine elek- schungsprogramm in die Irre.
richtigen Takt angestoßen, schwingt sie trische Reaktion mit negativem ε liefern, Eine besonders heftige Debatte kon-
immer weiter und höher. Nun versuchen während Spaltringe im selben Frequenz- zentrierte sich auf unsere Auffassung der
wir, in kürzeren Abständen zu stoßen – band eine magnetische Reaktion mit ne- Wellengeschwindigkeit in einem kompli-
und der Stoß gerät aus dem Takt mit der gativem µ erzeugen können. Diese Dräh- zierten Material. Im Vakuum ist die
Schaukelschwingung. Gelegentlich sind te und Spaltringe sind genau die Baustei- Lichtgeschwindigkeit c mit 300 000 Kilo-
die Arme schon ausgestreckt, wenn die ne, aus denen sich ein breites Sortiment meter pro Sekunde am größten. In einem
Schaukel ankommt. Die Schaukel könn- von interessanten Metamaterialien fabri- optischen Medium sinkt sie um einen
te von früheren Stößen sogar genug zieren lässt – darunter auch Veselagos Faktor, der dem Brechungsindex ent-
Schwung haben, uns umzuwerfen – sie lange gesuchtes Material. spricht, das heißt, für die Geschwindig-
stößt zurück. Genauso geraten die Elek- Der erste experimentelle Hinweis auf keit gilt v = c /n. Aber was wird aus dieser
tronen in einem Material mit negativem eine negativ brechende Substanz kam Formel, wenn n negativ ist? Gemäß der
Brechungsindex außer Phase und wider- 2000 von der Gruppe in San Diego. Da einfachsten Interpretation pflanzt das
setzen sich dem »Stoß« des elektromag- die Elemente eines Metamaterials unbe- Licht sich dann rückwärts fort.
netischen Felds. dingt viel kleiner sein müssen als die Eine genauere Antwort berücksich-
tigt, dass eine Welle zwei Geschwindig-
IN KÜRZE keiten hat, die Phasen- und die Grup-
pengeschwindigkeit. Stellen wir uns ei-
r Metamaterialien werden aus sorgfältig geformten mikroskopischen Strukturen nen Lichtpuls vor, der durch ein Medium
aufgebaut. Sie bekommen dadurch elektromagnetische Eigenschaften, die keine wandert. Er sieht etwa so aus wie die
natürlich vorkommende Substanz aufweist – insbesondere können sie Licht auf Zeichnung ganz unten im Kasten auf
völlig neuartige Weise brechen. S. 77). Die Amplitude der Wellenberge
r Eine Superlinse ist eine Schicht aus Material mit negativem Brechungsindex. und -täler wächst bis zur Pulsmitte auf
Sie kann im Prinzip feinere Details abbilden als jede herkömmliche Linse mit po- ein Maximum und nimmt dann wieder
sitivem Brechungsindex. bis auf null ab. Die Phasengeschwindig-
r Experimentell werden Metamaterialien derzeit meist mit Mikrowellen erforscht, keit ist die Geschwindigkeit der einzel-
doch das Ziel sind noch feinere Superlinsen für infrarotes und sichtbares Licht. nen Berge und Täler. Die Gruppenge-
schwindigkeit gibt an, wie schnell sich r

76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Kuriose Eigenschaften eines negativ brechenden Mediums

In einem Metamaterial mit negativem Brechungsindex verhalten sich Licht und andere elektromag-
netische Wellen in mehrfacher Hinsicht völlig anders als gewohnt.

Medium mit positiver Brechzahl Medium mit negativer Brechzahl

Ein halb in Wasser ge- In einem negativ brechen-


tauchter Bleistift erscheint den Medium wird der
geknickt, weil der Bleistift scheinbar komplett
Brechungsindex von Wasser aus dem Medium heraus
höher ist als der von Luft. geknickt.

Wenn Licht von einem


Wenn Licht von einem Me- n = 1,0 n = 1,0 Medium mit positivem
dium mit niedrigem Bre- Brechungsindex in eines
chungsindex n in eines mit mit negativem Index
höherem Index übergeht, übergeht, wird es komplett
n = 1,3 n = –1,3
wird es zur Normalen (gestri- zurück zu derselben Seite
chelte Linie) hin gebrochen. der Normalen gebrochen.

Ein Objekt, das sich in ei-


nem Medium mit positivem In einem Medium mit ne-
Index vom Beobachter gativem Index erscheint ein
entfernt, erscheint infolge sich entfernendes Objekt
des Doppler-Effekts röter. blauer.

Ein geladenes Objekt (rot),


das sich in einem positiv bre-
chenden Medium schneller
als die darin geltende Licht-
geschwindigkeit bewegt,
erzeugt einen Kegel aus In einem negativ bre-
Cerenkov-Strahlung (gelb) in chenden Medium weist
Vorwärtsrichtung. der Kegel rückwärts.

In einem Medium mit posi-


tivem Index wandern die
Berge und Täler eines elek- In einem negativ brechen-
tromagnetischen Pulses den Medium wandern die
(violett) in dieselbe Richtung Einzelschwingungen ent-
wie der gesamte Puls (grün) gegengesetzt zum Gesamt-
MELISSA THOMAS

und die Energie (blau). puls und zur Energie.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 77
METAMATERIALIEN z
Ein künstliches Medium unter der Lupe
r der gesamte Puls fortpflanzt. Diese
beiden Größen müssen nicht gleich sein.
Wie Veselago entdeckt hatte, weisen
Ein Metamaterial reagiert höchst »unnatürlich« auf elektrische und magnetische Gruppen- und Phasengeschwindigkeit in
Felder, weil es aus speziell konstruierten Mikrostrukturen aufgebaut ist.
einem Material mit negativer Brechzahl
in entgegengesetzte Richtungen. Überra-
schenderweise wandern die einzelnen
In einem gewöhnlichen Material Pulsschwingungen rückwärts, obwohl
der gesamte Puls vorwärtsstrebt. Diese
Tatsache hat auch für einen kontinuier-
lichen Lichtstrahl erstaunliche Konse-
quenzen – etwa für eine Taschenlampe,
die völlig von negativ brechendem Mate-
rial umgeben ist. Könnte man die einzel-
nen Berge und Täler der Lichtwelle be-
obachten, so würden sie vom Zielpunkt
des Strahls ausgehen, den Strahl entlang
Ein elektrisches Feld (grün) er- Ein Magnetfeld (violette Pfeile) induziert rückwärtslaufen und schließlich in der
zeugt eine geradlinige Bewe- eine kreisförmige Bewegung der Elek- Lampe verschwinden, als würde man ei-
gung der Elektronen (rot). tronen. nen verkehrt abgespielten Film betrach-
ten. Dennoch wandert die Energie des
Lichtstrahls wie üblich vorwärts, von der
In einem Metamaterial Lampe weg. Das ist die eigentliche Aus-
breitungsrichtung des Strahls, ungeachtet
der erstaunlichen Rückwärtsbewegung
der Berge und Täler.

Verwirrende Wellenmuster
In der Praxis ist es nicht leicht, die ein-
zelnen Schwingungen einer Lichtwelle
zu untersuchen, und die Details eines
Pulses können recht kompliziert sein.
Darum benutzen die Physiker oft einen
Trick, um den Unterschied zwischen
Geradlinige Ströme (rote Pfeile) Kreisförmige Ströme fließen in Spalt- Phasen- und Gruppengeschwindigkeit
fließen in parallel angeordneten ringresonatoren; diese können auch zu veranschaulichen. Wenn wir zwei
Drähten. quadratisch sein. Wellen gleicher Richtung, aber etwas un-
terschiedlicher Wellenlänge addieren, in-
Struktur eines Metamaterials terferieren sie und erzeugen ein Schwe-
bungsmuster, das heißt eine regelmäßige
Folge von größeren und kleineren Amp-
lituden. Diese Schwebungen bewegen
sich mit der Gruppengeschwindigkeit.
Als Prashant M. Valanju und seine
Mitarbeiter an der Universität von Texas
in Austin dieses Prinzip 2002 auf das
Brechungsexperiment von San Diego an-
wandten, beobachteten sie etwas Selt-
sames. Wenn zwei Wellen unterschied-
licher Wellenlänge die Grenzfläche zwi-
schen einem negativ und einem positiv
brechenden Material passieren, werden
sie unter etwas unterschiedlichen Win-
Ein Metamaterial besteht aus abwechselnd angeordneten Drähten und keln gebrochen. Das resultierende
Spaltringresonatoren, die kleiner sein müssen als die Wellenlänge der ver- Schwebungsmuster folgt aber nicht den
wendeten elektromagnetischen Strahlung. Um in drei Dimensionen zu funk- negativ gebrochenen Strahlen, sondern
tionieren, muss das Metamaterial aus Drähten und Spaltringen in drei zuei- scheint positive Brechung aufzuweisen.
MELISSA THOMAS

nander senkrechten Richtungen zusammengesetzt sein. Das hier skizzierte Die Forscher aus Texas setzten dieses
Metamaterial ist zweidimensional: Die Drähte und Spaltringe wechseln einan- Schwebungsmuster mit der Gruppenge-
der nur in zwei Richtungen ab. schwindigkeit gleich und schlossen da-

78 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
1,2

normierte Amplitude 1,0 negativ brechendes


Material Teflon
0,8 Detektor

0,6

0,4

0,2 Linse Prisma

0,0
-60 -40 -20 0 20 40 60 80 100
Brechungswinkel in Grad

Ein Experiment der Firma Boeing Phantom Works in Seat- Schwenkarm

tle bewies das Phänomen der negativen Brechung. Wäh-


Mikrowellen-
rend ein herkömmliches, positiv brechendes Prisma aus Sender
Teflon die Mikrowellen um einen positiven Winkel ablenkte
(blaue Kurve), brach das Metamaterial den Mikrowellen-
strahl in negativem Winkel (rote Kurve). BEIDE: MELISSA THOMAS; LINKS NACH: BOEING PHANTOM WORKS, MINAS H. TANIELIAN

raus, dass jede physikalisch realisierbare schwach absorbierenden Prisma aus Me- David Schurig von der Duke-Univer-
Welle positiv gebrochen wird. Obwohl tamaterial. Das Boeing-Team platzierte sität in Durham (North Carolina) zeigte
ein Material mit negativem Brechungs- den Detektor außerdem viel weiter vom mittels Strahlverfolgung, dass Kinder, die
index existieren könnte, wäre negative Prisma entfernt; dadurch konnte Ab- in einem Becken mit negativem Index
Brechung unmöglich. sorption im Metamaterial als Ursache schwimmen, über dem Wasserspiegel zu
Angenommen, die Texas-Physiker des negativ gebrochenen Strahls ausge- treiben scheinen. Auch der gesamte In-
hatten Recht, wie ließen sich dann die schlossen werden. Die hohe Qualität der halt des Beckens – und die Beckenwän-
Resultate der San-Diego-Experimente Boeing-Daten und weiterer Experimente de – erscheinen über der Oberfläche.
erklären? Valanju und viele andere For- machte schließlich dem Zweifel an der Veselago kam mit Hilfe der Strahlver-
scher schrieben die anscheinend negative Existenz negativer Brechung ein Ende. folgung zu dem Schluss, eine Scheibe aus
Brechung einer Vielfalt anderer Phäno- Nun konnten wir das Prinzip ungehin- negativ brechendem Material mit Index
mene zu. Absorbierte die Probe vielleicht dert weiter erforschen – allerdings er- n = –1 müsse als Linse mit nie dagewe-
in Wirklichkeit so viel Energie, dass Wel- nüchtert durch die Tücken der neuen senen Eigenschaften wirken. Wir alle
len nur aus der Schmalseite des Prismas Materialien. sind mit positiv brechenden Linsen ver-
austreten konnten und dadurch den traut – in Lupen, Kameras, Mikroskopen
falschen Eindruck erweckten, sie seien Der Streit legt sich, und Ferngläsern. Sie haben eine charak-
negativ gebrochene Wellen? Immerhin die Probleme werden deutlicher teristische Brennweite, und wo ein Bild
wirkte die San-Diego-Probe stark absor- Nachdem der Streit sich gelegt hatte, er- entsteht, hängt ab von der Brennweite
bierend, und die Messungen waren nicht kannten wir allmählich, dass Veselagos sowie vom Abstand zwischen Objekt und
sehr weit vom Prisma entfernt vorge- Geschichte über das Verhalten von Licht Linse. Die Bilder sind meist größer oder
nommen worden; darum wirkte diese in negativ brechenden Strukturen nicht kleiner als das Objekt, und die Linsen lie-
Absorptionstheorie plausibel. das letzte Wort sein konnte. Sein Haupt- fern die besten Bilder, wenn das Objekt
Die Einwände gaben Anlass zu gro- werkzeug war die Strahlverfolgung (ray auf der Linsenachse liegt. Veselagos Linse
ßer Sorge, denn sie stellten nicht nur die tracing). Dabei zeichnet man mit Gera- funktioniert ganz anders (siehe Bild S.
San-Diego-Experimente in Frage, son- denstücken den Weg eines idealisierten 80). Sie wirkt nur auf nahe Objekte und
dern auch alle Phänomene, die Veselago Lichtstrahls nach. Damit lassen sich Re- überträgt das gesamte optische Feld von
vorhergesagt hatte. Doch nach einigem flexion und Brechung an der Grenzflä- einer Seite der Linse auf die andere.
Nachdenken erkannten wir, dass es che verschiedener Materialien darstellen. Die Veselago-Linse ist so ungewöhn-
falsch war, das Schwebungsmuster als In- Die Strahlverfolgung ist eine vielseitige lich, dass Pendry sich fragen musste, wie
dikator der Gruppengeschwindigkeit zu Technik; sie erklärt etwa, warum Objekte gut sie überhaupt zu funktionieren ver-
deuten. Bei zwei Wellen mit unterschied- in einem Schwimmbecken weniger tief mag. Wie fein würde insbesondere ihre
licher Ausbreitungsrichtung verliert das unter der Oberfläche zu liegen scheinen Auflösung sein? Optische Elemente mit
resultierende Interferenzmuster seinen als in Wirklichkeit oder warum ein halb positivem Brechungsindex werden durch
Bezug zur Gruppengeschwindigkeit. eingetauchter Bleistift geknickt erscheint. die so genannte Beugungsgrenze einge-
Während die Argumente der Kritiker Lichtstrahlen werden an der Grenzfläche schränkt: Sie können bestenfalls Details
allmählich in sich zusammenfielen, gab zwischen Luft und Wasser gebrochen, weil auflösen, die mindestens so groß sind
es weitere experimentelle Indizien für ne- der Brechungsindex von Wasser mit n = wie die Wellenlänge des vom Objekt re-
gative Brechung. Die Gruppe um Minas 1,3 größer ist als der von Luft, welcher flektierten Lichts. Die Beugung setzt al-
Tanielian bei der Firma Boeing Phantom nur knapp über 1 liegt. Der Brechungs- len Abbildungssystemen eine unüber-
Works in Seattle wiederholte die San- index ist ungefähr gleich dem Verhältnis steigbare Grenze; sie definiert das kleins-
Diego-Experimente mit einem sehr der wirklichen zur scheinbaren Tiefe. te Objekt, das durch ein Mikroskop r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 79
XIANG ZHANG, UNIVERSITY OF CALIFORNIA, BERKELEY

o
r beobachtet werden kann, oder den ein grobes Abbild des Objekts, da die Auf sehr kurze Distanz wirkt eine
kleinsten Abstand zweier Sterne, den ein Beugung nur eine Auflösung bis zur dünne Silberschicht als Superlinse.
Fernrohr aufzulösen vermag. Auch die Größe der Wellenlänge zulässt. Hinge- Hier wird das Wort »NANO« mit einem fo-
kleinste Struktur, die einem Mikrochip gen birgt das Nahfeld zwar sämtliche kussierten Ionenstrahl abgebildet (links),
durch optische Lithografie eingeprägt feinsten Details des Objekts, doch seine mit einer gewöhnlichen optischen Linse
werden kann, wird durch Beugungsphä- Intensität nimmt mit der Entfernung ra- (Mitte) sowie optisch mit einer 35 Nano-
nomene bestimmt. Ebenso begrenzt die pide ab. Positiv brechende Linsen, die in meter dicken Silberschicht (rechts). Der
Beugung die Datenmenge, die sich auf einigem Abstand vom Objekt funktio- Maßstab ist jeweils 2000 Nanometer
einer DVD optisch speichern oder von nieren, haben keine Chance, das extrem lang. Die Auflösung der Superlinse ist fei-
ihr ablesen lässt. Ein Überwinden dieser schwache Nahfeld einzufangen und auf ner als die Wellenlänge des verwendeten
Grenze könnte die technische Optik re- das Bild zu übertragen. Doch für negativ Lichts mit 365 Nanometern.
volutionieren: Die optische Lithografie brechende Linsen gilt das nicht.
könnte in den Nanometerbereich vorsto- Im Jahr 2000 untersuchte Pendry
ßen und am Ende die Kapazität op- eingehend, wie Nah- und Fernfeld einer
tischer Datenspeicher verhundertfachen. Quelle auf die Veselago-Linse einwirken. der Universität Toronto 2004 experimen-
Wie er zur allgemeinen Überraschung tell zeigten, kann ein Metamaterial, auf
Über die Beugungsgrenze hinaus herausfand, vermag die Linse im Prinzip das bei Radiofrequenzen sowohl ε = –1
Um festzustellen, ob eine Optik mit ne- beide Feldtypen zu fokussieren. Wenn als auch µ = –1 zutrifft, tatsächlich Ob-
gativem Index wirklich die Grenzen her- diese erstaunliche Vorhersage zutrifft, ist jekte bis zu einer Größenordnung auflö-
kömmlicher Geräte zu überwinden ver- die Veselago-Linse nicht an die Beu- sen, die kleiner ist als die Beugungsgren-
mag, reicht die Strahlverfolgung nicht gungsgrenze der üblichen Optik gebun- ze. Damit war zwar prinzipiell bewiesen,
aus. Dies vernachlässigt die Beugung den. Die ebene Scheibe mit negativem dass eine Superlinse fabriziert werden
und kann darum die Auflösung negativ Index wurde darum auf den Namen Su- kann – aber nur für Radiowellen.
brechender Linien nicht vorhersagen. perlinse getauft. Wer Metamaterialien für noch kleinere
Genau betrachtet erzeugen alle Quel- In weiteren Analysen entdeckten wir optische Wellenlängen zwischen 400 und
len elektromagnetischer Wellen – ein an- und andere, dass die Auflösung der Su- 700 Nanometern herzustellen versucht,
geregtes Atom, eine Radioantenne oder perlinse durch die Qualität ihres nega- steht vor zwei schwierigen Aufgaben. Ers-
ein durch eine kleine Öffnung austre- tiv brechenden Materials eingeschränkt tens müssen die metallischen Bauele-
tender Lichtstrahl – zwei unterschied- wird. Für optimale Wirkung ist nicht nur mente, welche die winzigen Stromkreise
liche Felder: das Fernfeld und das Nah- ein Brechungsindex n = –1 nötig, son- des Metamaterials bilden – insbesondere
feld. Wie sein Name sagt, ist das Fern- dern zugleich ε = –1 und µ = –1. Eine Drähte und Spaltringresonatoren –, bis in
feld derjenige Teil, der in großer Linse, die diesem Ideal nicht entspricht, den Nanometerbereich miniaturisiert wer-
Entfernung von einem Objekt abge- liefert drastisch verschlechterte Auflö- den, damit sie ein gutes Stück kleiner sind
strahlt wird; er kann durch eine Linse sung. Diese Bedingungen gleichzeitig zu als die Wellenlänge sichtbaren Lichts.
eingefangen werden, um ein Bild zu er- erfüllen ist schwierig. Doch wie Anthony Zweitens bedeuten die kurzen Wellenlän-
zeugen. Leider enthält das Fernfeld nur Grbic und George V. Eleftheriades von gen höhere Frequenzen; bei diesen Fre-
quenzen verhalten sich Metalle als schlech-
te Leiter und dämpfen die Resonanzen,
Wie die Superlinse funktioniert auf denen Metamaterialien beruhen. Im
Jahr 2005 konnten Costas Soukoulis von
Eine rechteckige Platte aus Material mit negativem Brechungsindex wirkt als Su- der Staatsuniversität Iowa und Martin
perlinse. Das von dem Objekt (links) ausgehende Licht (gelbe Linien) wird an Wegener von der Universität Karlsruhe
der Oberfläche der Linse gebrochen und vereinigt sich innerhalb der Platte zu Spaltringresonatoren vorführen, die im-
einem spiegelverkehrten Bild. Beim Austritt aus der Platte wird das Licht erneut merhin bei Wellenlängen von nur 1,5
gebrochen und erzeugt ein zweites Bild (rechts). Bei einigen Metamaterialien Mikrometern (tausendstel Millimetern)
enthält das Bild sogar Details, die kleiner sind als die verwendete Wellenlänge. funktionieren. Obwohl die magnetische
Resonanz bei diesen kurzen Wellenlängen
recht schwach wird, lassen sich damit
noch passable Metamaterialien bilden.
Doch bislang können wir noch kein
Material fabrizieren, das bei sichtbaren
Wellenlängen µ = –1 liefert. Zum Glück
gibt es einen Ausweg. Wenn der Abstand
MELISSA THOMAS

zwischen Objekt und Bild viel kleiner ist


als die Wellenlänge, müssen wir nur die
Bedingung ε = –1 erfüllen; um µ brau-

80 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
www.rororo.de

chen wir uns dann nicht zu kümmern.


Ende 2005 nutzten Richard Blaikie von
der Universität Canterbury in Neusee-
land sowie Xiang Zhang von der Univer-
sität von Kalifornien in Berkeley diesen
Trick und demonstrierten Superauflö-
sung in einem optischen System. Bei op-
tischen Wellenlängen können die natür-
lichen Resonanzen in einem Metall zu
negativer Permittivität ε führen. Darum
vermag eine sehr dünne Metallschicht
bei einer Wellenlänge, für die ε = –1 er-
füllt ist, als Superlinse zu wirken. Beide
Teams verwendeten eine rund 40 Nano-
meter dicke Silberschicht; das Licht trat
aus speziellen Öffnungen aus, die kleiner
waren als die verwendete Wellenlänge
von 365 Nanometern. Zwar ist eine © Angela Jakob
Silberschicht noch lange keine ideale
Linse, aber schon die primitive Silber-
Superlinse verbesserte die Bildauflösung
erheblich und bewies, dass das Prinzip
funktioniert. Angesichts solcher Effekte Stück für Stück die Welt erobern!
müssen die Physiker den Elektromag-
netismus – insbesondere Brechung und Spannendes aus der Reihe rororo science –
Beugungsgrenze – neu überdenken. alle Bücher unter www.rororo.de/science
Kürzlich haben wir (zusammen mit
David Schurig) gezeigt, dass man mit
Metamaterialien die elektromagnetischen
Felder um ein Objekt sogar derart ver-
zerren kann, dass es bei bestimmten Wel-
lenlängen unsichtbar wird. Zwischen sol-
chen Überlegungen und einer anwend-
baren Technik türmen sich freilich noch
vielerlei Hindernisse. Erst einmal muss
die Konstruktion von Metamaterialien
zugleich perfektioniert und verbilligt
werden. l

John B. Pendry
(links) und David
R. Smith entwi-
A U T O R E N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

ckeln seit 2000


Metamaterialien,
wobei Pendry sich auf die Theorie speziali-
siert und Smith auf die Experimente. 2005
gewann ihr Team den Descartes-Forschungs-
preis der Europäischen Union. Pendry ist Phy-
sikprofessor am Imperial College in London,
Smith Professor für Elektro- und Computer-
technik an der Duke-Universität in Durham
(US-Bundesstaat North Carolina).
Controlling electromagnetic fields. Von John
B. Pendry, David Schurig und David R. Smith
in: Science, Bd. 312, S. 1780, 2006
Negative-refraction metamaterials: funda-
mental principles and applications. Von G. V.
Eleftheriades und K. Balmain. Wiley-IEEE
Press, 2005
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei
www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«. € 8,90 (D) / sFr. 16,50 € 12,90 (D) / sFr. 23,50 € 8,90 (D) / sFr. 16,50
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r HINWEIS: AUF DEN NÄCHSTEN 2 SEITEN


FOLGT EIN SONDERTEIL DER DAB-BANK !
NATURGESCHICHTE z

Die schwere Geburt


des Amazonas
Nach neuesten Erkenntnissen dauerte es mehrere Millionen
Jahre, bis der mächtigste Fluss der Erde sich seinen Weg
quer durch Südamerika gebahnt hatte. Die wechselvolle Vergan-
genheit des Amazonasbeckens erklärt auch die Vielfalt
seinerFlora und Fauna, zu der sogar Delfine und Stachelrochen
gehören.

Wie das Inselmeer der Anavilhanas im


CORBIS, RICARDO AZOURY

Rio Negro bei Manaus dürfte das riesige


Feuchtgebiet ausgesehen haben, das
nach neuen Befunden vor 16 bis 10 Millio-
nen Jahren große Teile von Amazonien
einnahm.

84 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Von Carina Hoorn ständigeres Bild von der Geschichte war klar, dass Ähnliches auch in Süd-
des Amazonas gewinnen. Demnach amerika geschehen sein musste. Doch

D
er Blick aus dem Flugzeug scheint der Fluss eine langwierige Ge- wie und wann, blieb ein Rätsel.
macht es deutlich: Auch burt gehabt zu haben, die sich über Als ich mich 1988 diesen Fragen
abseits des Amazonas prä- Jahrmillionen hinzog. In dieser Früh- zuwandte, vermutete ich die brauch-
gen seine Wassermassen die zeit übte er einen starken Einfluss auf barsten Hinweise auf die früheren Um-
Landschaft. Der mächtigste Fluss der die Evolution der Pflanzen- und Tier- weltbedingungen Amazoniens in den
Erde, der nicht weit von der Pazifikküs- welt in der Region aus. Nach heutigem mächtigen Sedimentschichten am Bo-
te im Hochland Perus entspringt und Verständnis speiste er anfänglich ein den des breiten Betts, durch das der
nach etwa 6500 Kilometern im Nordos- Labyrinth miteinander verbundener Amazonas sich heute Richtung Atlantik
ten Brasiliens in den Atlantik mündet, Seen im Zentrum des Kontinents, be- wälzt. Allerdings war es schwierig, an
tritt regelmäßig während der Regen- vor er sich einen direkten Weg zum diese Ablagerungen heranzukommen.
zeiten über die Ufer und überschwemmt Atlantik bahnte. Ein Dschungel, der groß genug ist, um
riesige Waldgebiete. In den zahllosen In diesem riesigen Feuchtgebiet, neun Länder zu überspannen, gibt sei-
Seen, von denen die umliegende Auen- das ideale Bedingungen für Lebens- ne Geheimnisse eben nicht so einfach
landschaft wimmelt, bleibt sein Wasser formen im Wasser wie an Land bot, preis. Vor allem treten die Gesteine, zu
ganzjährig stehen. Der vielfältigste und konnte sich die Flora und Fauna des denen sich die ursprünglichen Ablage-
größte geschlossene Regenwald der Regenwalds viel früher entwickeln als rungen von Schlamm, Sand und Pflan-
Erde, der mit 2,5 Millionen Quadratki- bisher angenommen. Jetzt wird auch zenresten inzwischen verfestigt haben,
lometern eine Fläche von der Größe klar, warum Tiere wie Delfine oder nur an wenigen Stellen im Amazonas-
Mitteleuropas bedeckt, hängt so gleich- Rochen, die normalerweise im Ozean becken offen zu Tage. Diese Stellen aber
sam am Tropf des Amazonas. zu Hause sind, in den Binnenseen liegen meist an fast unzugänglichen Ne-
Wie lange die enge Beziehung zwi- Amazoniens vorkommen. benflüssen und sind von dichter Vege-
schen beiden schon besteht, war bis tation überwuchert.
vor Kurzem noch völlig unklar. Da die Aussagekräftige Sedimente Gemeinsam mit einem Geländeas-
heute Amazonien genannte Region Bis zum Beginn der 1990er Jahre wuss- sistenten erforschte ich Wasserwege von
nur schwer zugänglich ist, gab es zwar ten die Geologen nur, dass Verschie- insgesamt mehreren hundert Kilome-
Theorien über die Frühzeit des Flusses bungen riesiger Blöcke der Erdkruste tern Länge in Kolumbien, Peru und
und des Regenwalds. Doch ließen sie vor etwa 24 bis 5 Millionen Jahren die Brasilien. Auf dieser langen Strecke
sich kaum überprüfen und blieben so- südamerikanischen Anden aufgetürmt fanden wir nur einige Dutzend größere
mit zwangsläufig spekulativ. haben. In dieser Epoche, dem Miozän, Stellen, wo Sedimentgestein aufge-
In den letzten 15 Jahren eröffneten entstanden auch der Himalaya und die schlossen war. Häufig mussten wir eine
sich neue Möglichkeiten, die Gesteine Alpen. Dabei bildeten sich in Europa Machete schwingen, um den Pflanzen-
und Fossilien vor Ort zu untersuchen. und Asien neue Flüsse, während ande- bewuchs zu entfernen, wobei wir ein-
Dadurch ließ sich endlich ein voll- re ihren Lauf änderten. Den Experten mal eine riesige grüne Anakonda über- r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 85
l
Nur selten findet man im Amazo- zonas endlich exakt angeben: Sie schlug
nas-Regenwald Stellen wie diese vor 16 Millionen Jahren.
gelb-braunen Klippen am Caquitá-Fluss Wie bald deutlich wurde, erreichte
in Kolumbien, wo tiefere Erdschichten der Fluss allerdings erst viel später seine
freiliegen und Hinweise auf die Frühzeit heutigen imposanten Ausmaße. 1997
der Region geben. entdeckten David Dobson von der Uni-
versität von Michigan in Ann Arbor und
seine Kollegen, dass sich Sandkörner aus

MIT FRDL. GEN. VON CARINA HOORN


nun eine interessante Wechsellagerung den Anden, wie ich sie in Amazonien ge-
aus türkisblauen, grauen und grünen To- funden hatte, an der brasilianischen Küs-
nen sowie braunem Sandstein und fossi- te erst vor etwa 10 Millionen Jahren ab-
lisiertem Pflanzenmaterial (Lignit). zulagern begannen. Der Strom benötigte
Die dunklen Schlamm- und Sand- also mindestens sechs Millionen Jahre,
partikel konnten schwerlich von hellfar- um sich zu dem komplett vernetzten,
benem Granit stammen. Charakteristi- transkontinentalen Entwässerungssystem
r raschten und ein anderes Mal Fußspuren sche Schichtungsmuster in den verfestig- zu entwickeln, das er jetzt darstellt. Ana-
eines Jaguars freilegten. Selbst wenn wir ten Sedimenten deuteten außerdem lysen der geologischen Veränderungen in
uns auf diese Weise Zugang zu einer Ge- darauf hin, dass das Wasser damals nicht dieser Übergangsperiode haben entschei-
steinsformation verschafft hatten, konn- mehr nach Norden, sondern nach Osten dend dazu beigetragen, die Ursprünge
ten wir nur an die obersten Schichten ge- strömte. Offenbar hatte – so der nahe der teils rätselhaften heutigen Tierwelt in
langen. Teilweise sind solche Formationen liegende Schluss – das sich hebende Ge- der Region aufzuklären.
insgesamt bis zu einen Kilometer dick. birge im Nordwesten das Drainagemus-
Nach Abschluss der Geländearbeiten ter so verändert, dass die Flüsse nun in Flachmeer oder Seenlabyrinth?
stand für mich fest, dass der Amazonas den Atlantik entwässerten. Jahrzehntelang herrschte die Lehrmei-
in seiner heutigen Form frühestens vor Eine spätere Analyse der Ablage- nung, fast im gesamten Miozän hätte ein
16 Millionen Jahren entstanden sein rungen durch Forscher an der Universität Flachmeer große Teile Amazoniens be-
kann – also zu Beginn jener Epoche, die Wageningen (Niederlande) bestätigte die- deckt. Auf den ersten Blick scheint die
Geologen als Mittleres Miozän bezeich- se Vermutung. Demnach waren viele der neue Erkenntnis, wonach der Amazonas
nen. Alle älteren Gesteine, die wir gefun- braunen Sandkörner tatsächlich Bruch- Jahrmillionen benötigte, sich zum Strom
den hatten, bestanden aus rötlichem Ton stücke der dunklen Schiefer und anderer der Ströme auszuwachsen, durchaus ver-
und weißem Quarzsand – Erosionspro- Gesteine, die im Verlauf der Hebung des einbar. Schließlich könnte gut sein, dass
dukten von Granit und anderen hellen jungen Andengebirges abgetragen wur- ihm das vermutete Flachmeer zunächst
Gesteinen, die nur in der Mitte des Kon- den. Außerdem stammten einige der Pol- den Weg zum Atlantik versperrte. Eine
tinents vorkommen. Die früheren Was- lenkörner und Sporen, die ich in den To- längere Verbindung Amazoniens mit
serläufe mussten demnach im Zentrum nen und Ligniten gefunden hatte, von dem Ozean würde auch erklären, wie
von Amazonien entsprungen sein. Of- Nadelbäumen und Baumfarnen, wie sie Delfine, Seekühe, Rochen und andere
fenbar strömten die Flüsse im Unteren nur in den höheren Lagen eines Gebirges Meeresbewohner ins Zentrum des Kon-
Miozän von niedrigen Gebirgen im In- wachsen. Dagegen gehörten die Pollen in tinents gelangen konnten. Als sich das
nern des Kontinents in Richtung Nord- den Sedimenten des Unteren Miozäns zu Meer dann zurückzog, hätten sie sich an
westen und mündeten teilweise in die Pflanzen, die ausschließlich im Tiefland das Süßwasser im Regenwald angepasst.
Karibik. Andere Forscher haben diese im Zentrum des Kontinents vorkommen. Außerdem konnten Forscher überzeu-
Schlussfolgerung inzwischen bestätigt. Zu guter Letzt untermauerte auch ein gend belegen, dass im Landesinneren Ar-
Doch dann änderte sich die Land- Gesteinsaufschluss in Brasilien, der als gentiniens – also weiter südlich – im Mi-
schaft Amazoniens radikal. Die Ursache einziger den Übergang von den rötlichen ozän wirklich ein Flachmeer existierte.
war eine Phase heftiger tektonischer Ak- Tonen zu den blauen und braunen Sedi- All das scheint die Geschichte vom
tivität, mit der die Auffaltung der nord- menten lückenlos dokumentierte, die von Seeweg zu stützen. Doch meine Kollegen
östlichen Anden begann. An die Stelle mir gezogenen Schlüsse. Damit ließ sich und ich haben verschiedene Indizien da-
der roten und weißen Sedimente trat die Geburtsstunde des angehenden Ama- für gefunden, dass eine Verbindung zum
Ozean nicht über längere Zeiträume hin-
IN KÜRZE weg existieren konnte. Unserer Ansicht
nach stammen die von mir entnommenen
r Lange herrschte die Lehrmeinung, dass Amazonien während eines Großteils Gesteinsproben, die zum Mittleren Mio-
seiner Existenz von einem Flachmeer bedeckt war und seinen heutigen Artenreich- zän gehören und den Zeitraum zwischen
tum erst in allerjüngster Zeit erwarb. ungefähr 16 und 10 Millionen Jahren vor
r Nach neuen Forschungsergebnissen existierte jedoch schon ein Regenwald, heute abdecken, aus einer im Wesent-
als vor 16 Millionen Jahren der Amazonas entstand. lichen von Süßwasser geprägten Umwelt.
r Nun scheint es, dass die Entwicklung der Region eng mit der langwierigen, Eines der auffälligsten Merkmale der
dramatischen Geburt dieses Stroms verbunden ist, der erst seit etwa 10 Millionen geologischen Formationen aus dem Mitt-
Jahren quer durch Südamerika bis zum Atlantik fließt. leren Miozän ist ihre Periodizität. Von
Anfang an sah ich darin ein Zeichen da-

86 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
für, dass in trockenen und feuchten Jah-
reszeiten abwechselnd verschiedenartige
Sedimente abgelagert worden waren – ein
typisches Merkmal von Feuchtgebieten,
die durch kleine Flüsse gespeist werden.
Im Verlauf der Trockenphase setzten sich,
so meine Deutung, Bodenpartikel und
pflanzliches Material langsam am Boden
der flachen Seen und Sümpfe ab, wo sie
sich schließlich in die blauen Tone und
Lignit verwandelten. In der Regenzeit da-
gegen führten die angeschwollenen Flüs-
se, die aus dem Bergland im Westen ka-
men – darunter vielleicht der noch junge
Amazonas – die braunen Sande mit. Be-
zeichnenderweise treten die für die Hoch-
lagen der Anden typischen Minerale nur
in den Sandsteinschichten auf.
Doch nicht alle Forscher stimmen trächtlich verlagert. Die auflaufende Flut rischen Museum in Leiden (Niederlan-
meiner Interpretation zu. Nach Meinung brachte, so die Theorie von Räsänen und de) tätig ist, begleitete mich 1991 nach
von Matti Räsänen und seinen Kollegen Kollegen, die Sande mit. Der Schlamm Kolumbien und fand in den dortigen
an der Universität Turku in Finnland und das pflanzliche Material setzten sich Gesteinen des Mittleren Miozäns eine
sollen die abwechselnden Sedimenttypen ab, wenn sich das Meer bei Ebbe zurück- vielfältige Population fossiler Weichtiere.
vielmehr das Ansteigen und Absinken zog. Dazu ist allerdings anzumerken, An diesen und anderen Mollusken, die
des Meeresspiegels im Rhythmus der dass sich Gezeitenströme auch in großen etwa sieben Millionen Jahre Erdge-
Gezeiten widerspiegeln. Demnach hät- Binnenseen bilden können. schichte repräsentierten und aus Dut-
ten sich in dem flachen Meer oder Mee- Die klarsten Hinweise auf ein Süß- zenden von Aufschlüssen aus ganz Ama-
resarm, der Amazonien damals angeblich wasserregime lieferten Fossilien. Frank P. zonien stammten, führte er detaillierte
bedeckte, die Küstenlinien jeweils be- Wesselingh, der heute am Naturhisto- taxonomische Analysen durch. Dabei r

Ein Seeweg durch Südamerika?


vergrößerter Im Regenwald Amazoniens leben typische
Ausschnitt
Meeresbewohner wie Delfine und Ro-
ROCHEN: PHOTO RESEARCHERS INC., DANTE FENOLIO; KARTEN: RON MILLER

chen in schlammigen Süßwassertümpeln


(Fotos). Ihre Herkunft gibt Rätsel auf.
Nach herkömmlicher Sicht soll vor 25 bis
10 Millionen Jahren ein Flachmeer Süd-
amerika von Nord nach Süd durchzogen
haben (Karte unten). Die atypischen Süß-
DELFIN: MINDEN PICTURES, FLIP NICKLIN;

wasserbewohner würden demnach von


Vorfahren abstammen, die im Ozean zu
Hause waren und durch diese Seestraße Amazonasdelfin (Inia geoffrensis)
Südamerika heute in die Region einwanderten. Als sich das
Meer dann zurückzog, hätten sie sich an
das Süßwasser angepasst.

postulierte See-
straße im Miozän
Süßwasser-Stachelrochen (Potamotry-
gon falkneri)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 87
NATURGESCHICHTE z
Amazonien im Wandel der Zeiten
Das riesige Binnenland im Norden Südamerikas, das heute unter lich kurzeitig von Meerwasser bedeckt war. Demnach strömten
dem Namen Amazonien bekannt ist, hat in den letzten 25 Milli- von den sich hebenden Anden schon viel früher als bisher ge-
onen Jahren sein geografisches Erscheinungsbild mindestens dacht Flüsse Richtung Osten. Der junge Amazonas speiste so
dreimal entscheidend verändert (Karten). Langsam setzt sich Jahrmillionen lang eines der weltweit größten Labyrinthe mit-
die Erkenntnis durch, dass die Region während dieses Zeit- einander verbundener Seen, bevor er sich schließlich einen
raums – im Gegensatz zur traditionellen Ansicht – nur gelegent- Weg zum fast 6500 Kilometer entfernten Atlantik bahnte.

Karibik

vor 25 Millionen Jahren


Zu Beginn des Abschnitts der Erdge-
schichte, der Miozän genannt wird, exis-
tierten der Amazonas und die nordöstli-
chen Anden noch nicht. Die wichtigsten
Wasserläufe Amazoniens flossen von
niedrigen Bergen im Zentrum des Konti-
nents Richtung Nordwesten, wo sie gro-
niedriges Bergland ßenteils in die Karibik mündeten.

vor 15 Millionen Jahren


Die nordöstlichen Anden hatten sich zu
etwa einem Viertel ihrer gegenwärtigen
Höhe aufgefaltet und so den nach Nord-
westen strömenden Flüssen den Weg
frühe nordöstliche Anden
abgeschnitten. An den Ostflanken des
neuen Gebirgszugs regneten feuchte Pas-
satwinde ab und speisten neue Wasser-
läufe, die nach Osten abflossen. Zu ihnen
junger Amazonas zählte der Amazonas. Zusammen mit an-
deren Flüssen ergoss er sich in ein rie-
siges Feuchtgebiet, das sich allmählich
Richtung Osten ausbreitete.

heute
Vor etwa 10 Millionen Jahren brach der
Amazonas, vielleicht bedingt durch die
submariner Schuttfächer weitere tektonische Hebung der Anden,
zum Atlantik durch und erreichte seine jet-
zige Länge. Da der Fluss nun in den Oze-
heutige nordöstliche Anden
an entwässerte, fielen viele von den Seen
trocken, die lange das Landschaftsbild
Amazoniens bestimmt hatten. Der Ama-
heutiger Amazonas zonas begann Sedimente vor der Küste
Brasiliens abzulagern und schuf so einen
der größten submarinen Sedimentfächer
der Welt.
RON MILLER

88 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
r konnte er sich auf frühere Untersu- Tatsächlich bestätigen Tier- und 10 Millionen Jahren, als das riesige
chungen von Patrick Nutall stützen, der Pflanzenfossilien, dass vorübergehend Feuchtgebiet existierte, mindestens zwei-
damals am Britischen Museum in Lon- eine Verbindung zum Ozean bestand. So mal überflutet wurde. Die Meeresein-
don arbeitete. Wie sich zeigte, waren die fanden sich in meinen Gesteinsproben brüche dauerten nach unseren Schät-
meisten Weichtiere an Süßwasser ange- auch marine Mikroorganismen und die zungen jeweils nur wenige Jahrtausende.
passt. Nur ganz wenige Arten hätten in Pollen von Mangroven – Bäumen, die in In dieser relativ kurzen Zeit erreich-
einem vollständig marinen Milieu über- Salzwasser gedeihen –, allerdings nur sel- ten die Seen niemals einen so hohen
leben können. Das spricht klar gegen die ten und über kurze Zeitspannen hinweg. Salzgehalt wie der Ozean. Dennoch hät-
Hypothese von Räsänen, dass über län- Insgesamt geht aus den fossilen Zeugnis- ten Meeresbewohner die Chance gehabt,
gere Zeiträume hinweg eine Verbindung sen hervor, dass Amazonien vor 16 bis ins Zentrum Amazoniens vorzudringen. r
zum Meer existierte. In diesem Fall wä-
ren alle Süßwasserarten ausgestorben.
Im Jahr 1998 zogen Hubert B. Von- Abenteuer im Dienst der Wissenschaft
hof von der Freien Universität Amster-
dam und Wesselingh zusammen mit an- In Amazonien zu forschen ist wahrlich kein
deren Forschern aus der atomaren Zu- Zuckerschlecken. Das bekam ich sehr

SALOMON B. KROONENBERG
sammensetzung der Weichtierfossilien bald zu spüren, als ich dort 1988 mit mei-
denselben Schluss. Muscheln vergrößern nen wissenschaftlichen Untersuchungen
ihre Schalen Jahr für Jahr. Dabei bauen begann. Ich wollte mittels Sediment-
sie in die neue Kalkschicht Kohlenstoff, gestein, das unter der Vegetation und
Sauerstoff, Kalzium und andere im Was- der dicken Schicht aus verwittertem Bo-
ser gelöste Elemente ein – darunter auch den verborgen liegt, die Entwicklungsge- Carina Hoorn (rechts) und ihr Assistent
Strontium, von dem verschiedene Isotope schichte der Region rekonstruieren. Aníbal Matapi
(Atomsorten mit unterschiedlicher Neu- Wie sich zeigte, tritt der Felsunter-
tronenzahl) existieren. Deren Mengenver- grund in Amazonien nur an wenigen,
hältnis variiert jedoch zwischen Salz- und Hunderte von Kilometern voneinander sen, den Außenbordmotor schultern und
Süßwasser. Misst man es in den Wachs- entfernten Stellen zu Tage. So kam es, zu Fuß über die Berge durch den Urwald
tumsringen einer Muschelschale, erhält dass ich oft wochenlang die unzähli- marschieren mussten.
man daher Auskunft über den Salzgehalt gen Nebenflüsse des Amazonas durch- Nachdem wir so am folgenden Tag
des Wassers zu Lebzeiten des Weichtiers. streifte, um die Ränder der von ihnen zum Apaporis gelangt waren, liehen wir
eingeschnittenen Täler abzusuchen. uns von den dort ansässigen Indianern
Einwanderung von Meerestieren Als Basislager diente mir ein ehema- ein kleineres Boot. Eine weitere India-
Die Strontium-Isotopenverhältnisse in liges Gefängnis in der kolumbianischen nergruppe gab uns Obdach für die nächs-
den untersuchten Schalen sprachen klar Stadt Araracuara. Es war dort errichtet ten Tage, während wir nach den heiß
für Süßwasser. Außerdem erwiesen sie worden, weil man an diesem entle- ersehnten Gesteinsaufschlüssen such-
sich als erstaunlich einheitlich, obwohl genen Ort – inzwischen hat er allerdings ten. Zunächst waren unsere Gastgeber
die Fossilien einen langen Zeitraum und einen Flughafen – entflohenen Häftlin- freundlich, doch plötzlich schienen sie
eine große Fläche abdeckten. Die Weich- gen keine Überlebenschance gab. In über unsere Anwesenheit nicht mehr
tiere hatten also wahrscheinlich in einem den Urwäldern der Umgebung wäre ich sonderlich erfreut zu sein.
riesigen zusammenhängenden Wasser- ohne meinen indianischen Geländeas-
körper gelebt, der nach neuesten Schät- sistenten Aníbal Matapi jedenfalls auch Bald wurde klar, warum. Ein weiterer
zungen etwa 1,1 Millionen Quadratkilo- verloren gewesen. Nichtindianer war eingetroffen – mut-
meter umfasste und damit rund doppelt So erinnere ich mich lebhaft an einen maßlich, um sich zu verstecken. Mitglie-
so groß war wie die Großen Seen in Tag, als Aníbal und ich stundenlang mit der der kolumbianischen Guerilla trieben
Nordamerika. Zweifellos handelte es sich dem Boot auf dem Caquetá in Kolumbien sich damals in der Region herum, und er
um eines der ausgedehntesten und dau- entlangtuckerten. Für mich sah jede Fluss- dürfte zu ihnen gehört haben. Wir waren
erhaftesten Seensysteme, die je auf un- biegung wie die vorherige aus, doch mein erleichtert, endlich abreisen zu können,
serem Planeten existierten. Begleiter, der sein ganzes Leben in die- nachdem wir unser Ziel erreicht und kilo-
Immer mehr Befunde belegen also, sem Teil des Dschungels verbracht hatte, weise schwarzen Ton sowie andere alte
dass Amazonien im Miozän keine länger wusste immer genau, wo wir waren. Sedimente eingesammelt hatten.
anhaltende Verbindung zum Meer be- Schließlich kamen wir so zu einem ver- Von allen meinen Reisen war die zum
saß. Gleichwohl zeigte die Strontium- lassenen Haus, wo wir unsere Hänge- Apaporis die abenteuerlichste. Doch
Signatur der Muschelschalen auch eine matten für die Nacht an der Decke befes- während wir bei Tag verbissen anste-
gelegentliche Zunahme des Salzgehalts tigten. Am nächsten Tag würden wir nach hendes Gestein auskundschafteten und
in dem riesigen Seensystem. Bekanntlich Sedimentaufschlüssen an einem ande- abends ermattet in unsere Hängemat-
lag der Meeresspiegel im Miozän höher ren Fluss namens Apaporis suchen – in ten sanken, schien es, als sei hier die
als heute. Das ansteigende Karibische einem Gebiet, das vom Caquetá durch Zeit stehen geblieben – und als gehöre
Meer könnte somit entlang einer schma- gefährliche Stromschnellen getrennt ist. die hochtechnisierte Welt zu einem Pa-
len Inlandspassage Richtung Süden vor- Das hieß, dass wir unser Boot zurücklas- ralleluniversum.
gedrungen sein.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 89
NATURGESCHICHTE

Süß oder salzig?


z
Proben von 16 bis 10 Millionen Jahre altem Sedimentgestein aus darauf, dass in dieser Region damals nur selten für kurze Zeit
dem Amazonas-Tiefland enthalten – sowohl in ihrer Schichtung salzige Bedingungen herrschten und im allgemeinen Süßwasser
als auch in den eingeschlossenen Fossilien – deutliche Hinweise dominierte.

Die meisten Pollenkörner in den Sedimenten stammen von


Blütenpflanzen wie Johannisbrotgewächsen (Caesalpiniaceae,
links) und Wollbaumgewächsen (Bombacaceae, rechts), die nach
heutigem Wissensstand fast ausschließlich an tropischen Fluss-
ufern wuchsen. Seltene Vorkommen von Mangrovenpollen und

POLLENKÖRNER: MARTIN KONERT, FREIE UNIV. AMSTERDAM UND CARINA HOORN; MUSCHELN: FRANK P. WESSELINGH, NATURALIS LEIDEN;
marinen Mikroorganismen in denselben Sedimenten lassen er-

GRAFIK: JEN CHRISTIANSEN, NACH: RON J.G. KAANDORP, FREIE UNIV. AMSTERDAM; SEDIMENT: MIT FRDL. GEN. VON CARINA HOORN
kennen, dass die Region gelegentlich von Salzwasser überflutet
war – aber jeweils nur vorübergehend.

Süßwassermuscheln wie Pachydon (links) und Sioliella (rechts)


überwogen in der Molluskenfauna Amazoniens vor 16 bis 10 Mil-
lionen Jahren. Sie wurden an Dutzenden von weit verstreuten
Stellen entdeckt. Nur wenige der gefundenen fossilen Arten hät-
ten in Salzwasser überleben können.

angereichert Das Sauerstoff-Isotopenverhältnis in 16 Millionen Jahre alten Scha-


len von Muscheln der Gattung Diplodon (rote Kurve) macht deut-
Sauerstoff-18-Konzentration

lich, dass die Tiere in einem flachen See innerhalb eines tropischen
Überschwemmungsgebiets lebten. Die Wachstumsringe dieser
zu Meerwasser
im Verhältnis

Schalen bestehen aus Elementen, welche die Mollusken aus dem


umgebenden Wasser aufgenommen haben. Das alternierende
Muster von Anreicherung und Verarmung an dem seltenen Isotop
Sauerstoff-18 gleicht dabei dem, das Muscheln der Gattung Triplo-
don im heutigen Amazonien zeigen. Demnach waren die Tiere
einem Wechsel von feuchten und trockenen Jahreszeiten ausge-
Triplodon (heute)
setzt, wie er typisch für tropische Regenwälder ist. Hätten sie in
Diplodon (Miozän)
verarmt einem Meeresarm gelebt, sähen die Kurven viel flacher aus.
Schalenwachstum im Verlauf der Zeit

r Genaue Untersuchungen des Werde- delfinart, die im frühen Miozän sehr ver- lässt auch die Geschichte des dortigen
gangs bestimmter Arten ergaben aller- breitet war, aber bald danach ausstarb. Regenwalds in neuem Licht erscheinen.
dings, dass die Einwanderung vermutlich Diese Säuger dürften also ebenfalls schon Nach einer gängigen Theorie hat sich die
schon früher stattfand und die letzte vor mehr als 16 Millionen Jahren einge- Artenvielfalt Amazoniens durch den
große Verbindung zum offenen Meer wandert sein. Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten
wahrscheinlich bereits vor dem Mittleren im Lauf der vergangenen Jahrmillion he-
Miozän abriss – also noch vor der Geburt Ursprung der Artenvielfalt rausgebildet. Während der Kälteperioden
des Amazonas oder allenfalls kurz danach. Eulalia Banguera-Hinestroza von der war es im Norden Südamerikas relativ tro-
Dafür sprechen zum Beispiel Molekular- Universidad del Valle in Cali (Kolum- cken. Ein zunächst vorhandener zusam-
untersuchungen durch Nathan R. Love- bien) zeigte kürzlich, dass sich zwei menhängender Regenwald könnte sich da-
joy, der inzwischen an der Universität Gruppen von Delfinen der Gattung Inia, durch in einzelne, nicht miteinander ver-
Toronto arbeitet. Demnach wanderten von denen die eine im Amazonas und bundene Waldinseln aufgelöst haben.
die Süßwasser-Stachelrochen Amazoniens, die andere in Bolivien vorkommt, gene- Nach Meinung vieler Evolutionsbio-
die eng mit Arten in der heutigen Karibik tisch deutlich unterscheiden. Demnach logen ist eine solche räumliche Trennung
verwandt sind, schon vor mehr als 16 müssen sie schon eine beträchtliche Zeit die Voraussetzung für das Entstehen bio-
Millionen Jahren landeinwärts. voneinander getrennt leben. Eine solche logischer Vielfalt. Wenn kleine Teilbe-
Ähnliches gilt für andere ehemalige räumliche Isolation hätte es nicht gege- reiche eines einst größeren Lebensraums
Meerestiere. So identifizierten Insa Cas- ben, solange ein gemeinsamer Meeres- voneinander abgeschnitten sind, so die
sens und ihre Kollegen an der Freien arm die beiden Regionen noch verband. Theorie, hören benachbarte Populationen
Universität Brüssel im Jahr 2000 die Die Erkenntnis, dass das Amazonasbe- derselben Spezies auf, sich untereinander
rosafarbenen Flussdelfine im heutigen cken im Miozän von einem riesigen See fortzupflanzen. Dadurch entfernen sie
Amazonien als Nachfahren einer Meeres- statt einem Meer eingenommen wurde, sich genetisch voneinander und bilden

90 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
charakteristisch für Flussufer im Regen- äußerst vielgestaltige und individuen-
wald sind, und zeigen eine ähnliche Viel- reiche Molluskenfauna.
falt wie ihre heutigen Nachfahren. Bei Ideale Bedingungen herrschten auch
einer Überflutung der Region mit Salz- für die Muschelkrebse (Ostracoda). Nach
wasser hätten diese Landpflanzen erst Untersuchungen von Fernando Muñoz-
sehr viel später so zahlreich auftreten Torres von Ecopetrol, einer kolumbia-
können. Auch das spricht gegen die Hy- nischen Erdölfirma, fächerten sich diese
pothese, Amazonien sei einst für längere kleine Krustentiere im selben Zeitraum
Zeit im Meer versunken. wie die Mollusken explosionsartig in neue
Spezies auf. Dass die flachen Seen und
Explosive Evolution Flussbetten immer wieder zeitweilig von-
Nicht nur die Pollen bezeugen, dass unter einander abgeschnitten wurden, dürfte
den Klimaverhältnissen im Miozän ein diese rasche Speziation begünstigt haben.
artenreicher Regenwald existieren konnte. Als dann das Seen-Labyrinth dem
Bestätigung kommt auch von einer neu- voll entwickelten Amazonas wich, star-
en Untersuchung der Wachstumsringe in ben viele der Mollusken und Muschel-
etwa 16 Millionen Jahre alten Muschel- krebse aus, weil sie auf stehende Gewäs-
schalen. Ron J. G. Kaandorp von der Frei- ser angewiesen waren. Dafür eröffnete
en Universität Amsterdam interessierte die sich wandelnde Landschaft reiche
sich für die Isotopenverhältnisse von Sau- Entwicklungschancen für eine breite Pa-
erstoff, die Rückschlüsse auf die Nieder- lette von Landpflanzen und -tieren.
Die periodische Schichtung der Sedi- schlagshäufigkeit erlauben. Dabei fand er An den neuen Befunden erstaunt vor
mente, die sich inzwischen zu Gestein ein alternierendes Muster, das demjenigen allem, wie unverwüstlich Flora und Fau-
verfestigt haben, ist typisch für Ablage- in den Wachstumsringen moderner Mol- na des Amazonasgebiets zu sein schei-
rungen in flachen, stehenden Gewäs- lusken aus Amazonien ähnelt. Bei diesen nen. Es gibt den Regenwald schon seit
sern, die sich aus kleineren Flüssen spiegelt es den Wechsel zwischen feuch- 22 Millionen Jahren. In dieser Zeit hat
speisen. In regenreichen Jahreszeiten ten und trockenen Jahreszeiten wider, der sich das Landschaftsbild gewaltig verän-
werden von den nun angeschwollenen typisch für den Amazonas-Regenwald ist. dert. Die Anden hoben sich, der Amazo-
Strömen mengenweise Sandkörner in Zwar war es auf der Erde im Miozän wär- nas entstand und Meerwasser drang zeit-
die Seen geschwemmt, wo sie sich mer als heute. Dennoch deutet das Auf- weise ein. Dem Regenwald machte das
am Boden ablagern (dünne, hellbraune treten fast identischer Sauerstoff-Isoto- nichts: Er wuchs und gedieh. Das ist
Schichten). In trockeneren Phasen penmuster in den fossilen Muscheln da- eine tröstliche Erkenntnis – gibt sie doch
überwiegen dagegen Schlammparti- rauf hin, dass schon damals klimatische Grund zu der Hoffnung, dass Amazo-
kel, die sich langsam absetzen und da- Verhältnisse herrschten, die einem Regen- nien vielleicht auch die heutigen Ein-
bei Tonsedimente (blaue Schichten) wald-Ökosystem entsprachen. griffe des Menschen überstehen wird. l
über dem Sand bilden. Im Licht der neuen Hinweise er-
scheint das miozäne Feuchtgebiet in
Carina Hoorn ist Geologin und
Amazonien als Brutstätte neuer Arten, in Pollenexpertin am Institut für Bio-
schließlich eigene, neue Arten, die selbst der die Evolution geradezu explosionsar- diversität und Ökosystemdynamik
dann noch bestehen bleiben, wenn sich tig verlief. Ursache war die Hebung der der Universität Amsterdam, wo
ihre Lebensräume wieder überlappen – Anden; denn sie blockierten den alten sie 1994 promovierte. 2004 folgte

A U T O R I N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
etwa weil die Waldinseln in Warmzeiten Abfluss in die Karibik und bildeten zu- ein Mastergrad in Wissenschaft-
licher Kommunikation am Imperial College in Lon-
erneut zusammenwachsen. gleich ein neues Quellgebiet für Ströme don. Flüsse erforscht sie, um den Einfluss dieser
Doch auch hier erzählen die neuen wie den Amazonas, die sich nun notge- durch Sedimentation geprägten Lebensräume auf
Befunde etwas anderes. Dieselben fossilen drungen einen Weg nach Osten bahnen die örtliche Vegetation zu ergründen. Außerdem
Zeugnisse, die auf die Existenz des Seen- mussten. Dabei schufen und speisten sie erstellt Hoorn Gutachten für die Firma Shell in
Ökosystems hinweisen, belegen zugleich, jenes riesige Labyrinth aus miteinander Rijswijk (Niederlande) über neue Prospektions-
und Fördermethoden für Erdöl und Erdgas.
dass viele der heutigen Pflanzen und Tiere verbundenen Seen, das Amazonien fast
in Amazonien schon vor Jahrmillionen sieben Millionen Jahre lang bedeckte. New contributions on neogene geography and
dort lebten. So dokumentiert das Spek- Mehrfach gab es, wie erwähnt, kurz- depositional environments in Amazonia. Von C.
Hoorn und H. B. Vonhof (Hg.). Journal of South
trum der Pollen, die meine Assistenten aus fristige Verbindungen mit dem Ozean, American Earth Science, Bd. 21, Nr. 1-2, 2006
den miozänen Gesteinen isolierten, eine durch die Meeresbewohner in das
Seasonal Amazonian rainfall variation in the Mi-
erstaunlich vielfältige Vegetation. Insge- Feuchtgebiet einwanderten. Diese adap-
ocene climate optimum. Von Ron J. G. Kaandorp
samt konnte ich 214 Arten identifizieren. tierten sich schnell an den neuen Lebens- et al. in: Palaeogeography, Palaeoclimatology, Pa-
Und es wären weit mehr als doppelt so raum, der mit seiner verästelten Seen- laeoecology, Bd. 221, Nr. 1-2, S. 1, 2005
viele gewesen, hätte ich nicht all diejeni- landschaft eine Fülle für sie günstiger Origin and evolution of tropical rain forests. Von
gen von der Zählung ausgeschlossen, die ökologischer Nischen bot. Unter ande- Robert J. Morley. John Wiley & Sons, 2000
nur in einer einzigen Probe vorkamen. rem entwickelte sich so innerhalb eines
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
Die häufigeren fossilen Pollen stam- verblüffend kurzen Zeitraums von viel- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
men großenteils von Blütenpflanzen, die leicht nur wenigen Jahrtausenden eine

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 91
JUNGE WISSENSCHAFT

Wollen Sie Ihren Schülern einen An-


reiz zu intensiver Beschäftigung mit
der Wissenschaft geben? »Wissen-

Ideenschmiede für das Jahr 2020 schaft in die Schulen!« bietet teilneh-
menden Klassen einen Klassensatz
»Spektrum der Wissenschaft« oder
Im bundesweiten Projekt »Jugend denkt Zukunft« spielen Jugendli- »Sterne und Weltraum« kostenlos
für ein Jahr, dazu didaktisches Mate-
che in Unternehmen Produktentwickler und Marketingstrategen – wie
rial und weitere Anregungen.
kürzlich bei der BASF im Bereich Papier und Verpackung. www.wissenschaft-schulen.de

Von Stefanie Reinberger schmiegsamer machen. Sie werben sogar der BASF AG in Ludwigshafen mit
für Medikamentenschachteln, denen man Schülern der Leistungskurse Chemie

V erpackungsmaterialien – für Schüler


ein ödes Thema? Die jungen Men-
schen, die auf der »Zukunftsmesse 2020«
sogleich ansieht, ob der Inhalt alt gewor-
den ist: Mit Erreichen des Mindesthalt-
barkeitsdatums schlägt die Farbe um.
und Sozialkunde statt. Und sie war nicht
die erste ihrer Art. Das Chemieunter-
nehmen trug probeweise schon im Früh-
einem staunenden Publikum neueste Pro- Vor einer Woche waren die hier vor- jahr 2004 erste Planspiele dieser Art aus.
dukte und Trends in Sachen Karton und tragenden 28 Businessmänner und -frau- Im September 2004 startete das Projekt
Papier präsentieren, wirken gar nicht ge- en noch ganz normale Zwölftklässler am »Jugend denkt Zukunft« in der Rhein-
langweilt, sondern höchst engagiert, ja Werner-Heisenberg-Gymnasium in Bad Neckar-Region offiziell. Mittlerweile
begeistert von ihren eigenen Ideen. Sie re- Dürkheim. Seit fünf Tagen aber verset- läuft es bundesweit (siehe Kasten S. 98).
den von Lotuseffekten, die Wasser und zen sie sich in die Rolle von Managern, Jugendliche sollen bei diesen Strategie-
Schmutz abweisende Oberflächen schaf- Industrieforschern und Verkaufsspezia- spielen einen Eindruck davon gewinnen,
fen. Sie preisen neuartige Polymere an, listen – und ins Jahr 2020. Als sie am wie im Wirtschaftsalltag der Weg von
die Verpackungen zugleich haltbarer und letzten Tag dieses Ausflugs in die Zu- der Idee bis zu deren Verwirklichung
kunft leitenden Mitarbeitern des gast- und der Vermarktung des neuen Pro-
gebenden Unternehmens ihre visionären dukts verläuft. Es kann in der kurzen
Produkte für den Verbraucher von mor- Zeit nicht um handfeste Erfindungen,

u
Praktische Erfahrungen mit der Pa- gen recht selbstsicher vorstellen, erhebt um »große« Wissenschaft, um fertige
pierherstellung kamen nicht zu sich unter den fachkundigen Zuhörern Konzepte für neue Dienstleistungen ge-
kurz: Wer etwas Besseres produzieren so manches Mal ein Raunen. hen. Im Vordergrund steht vielmehr die
möchte als eine Art Löschpapier, benötigt Die im mehrfachen Sinn packende Erfahrung, was alles erforderlich ist, um
eine Menge chemische Kenntnisse. Veranstaltung fand vom 3. bis 7. Juli bei eine Vision umzusetzen. »Eine gute Er-
ALLE FOTOS DES ARTIKELS: BASF AG LUDWIGSHAFEN

96 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
o
findung kann nur zur echten Innovation und Überlegungen es bedarf, um eine Schüler des Werner-Heisenberg-
werden, wenn sie auch zum Erfolg Neuheit auf den Markt zu bringen. Gymnasiums in Bad Dürkheim durf-
führt«, sagt Eckard Hilgemann, Leiter Ganz in diesem Sinn begann die Pro- ten fünf Tage lang im Zusammenspiel mit
der BASF-Geschäftseinheit Paper In- jektwoche bei der BASF damit, gesell- der Industrie Zukunftsvisionen entwi-
dustry Europe. schaftliche Megatrends auszuarbeiten. Es ckeln und im Markt positionieren.
Ein erklärtes Ziel solcher Planspiele galt, die Entwicklung der Bevölkerungs-
ist aber auch, den Erfindergeist zu för- strukturen zu beobachten und Effekte
dern und das Interesse an Technologie, der Globalisierung zu bewerten. So tas-
wissenschaftlichen und wirtschaftlichen teten sich die Jugendlichen an den The- eines Produkts verändern. »Ich hätte nie
Innovationen zu wecken. Zugleich sollen menkreis heran, wie der Käufer der gedacht, dass im Papier so viel Wissen
die Jugendlichen Betriebsluft schnup- Zukunft aussehen könnte und welche und Chemie steckt«, gibt die 18-jährige
pern, Branchen kennen lernen und vor Ansprüche an Papierverpackungen er in Sarah Guth zu und nennt ein Beispiel:
Ort im Austausch mit Angestellten des zehn oder zwanzig Jahren vermutlich »Ohne Leimungsmittel haben wir regel-
Unternehmens erfahren, welcher Schritte stellen wird. rechtes Löschpapier erhalten, da kann
Neben all der Theorie kam auch das ja kein Mensch drauf schreiben.« Den
praktische Arbeiten nicht zu kurz: Der Praxistag rundete eine Liveschaltung
dritte Tag stand ganz im Zeichen der Pa- zur westfälischen Kartonfabrik Cascades

u
Am Ende war eine professionelle pier- und Kartonfertigung. Beim Experi- Arnsberg GmbH ab, von deren Mitar-
Präsentation gefordert. Um den mentieren im hauseigenen Xplore-Schü- beitern sich die jungen Leute Auskunft
profimäßigen Auftritt zu unterstreichen, lerlabor machten die Teilnehmer eigene holen durften. »Interessanterweise waren
schmückte sich mancher Schüler mit Erfahrungen damit, wie verschiedene Po- die Schüler zu diesem Zeitpunkt schon
einem Professoren- oder Doktortitel. lymere und Leimungsmittel die Qualität derart in ihrem neuen Element aufge- r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 97
JUNGE WISSENSCHAFT

r gangen, dass sie ganz gezielte Fragen zu


Produktions- und Entwicklungsabläufen
sowie zu Kooperationspartnern und Zu-
lieferfirmen stellten«, erinnert sich Hil-
gemann anerkennend.
Mit dem so erarbeiteten Wissenshin-
tergrund folgte der zweite Teil des Plan-
spiels. Die Jugendlichen verteilten sich
auf mehrere Mannschaften. Teils vertra-
ten sie fiktive Firmen, die Verpackungs-
materialien herstellen, teils deren Zu-
lieferer, teils ein Marketingunternehmen.
Es kam jetzt auf Managementqualitäten
an: darauf, zum einen innovative Ideen
zu kreieren, zum anderen Strategien zu
ersinnen, wie die Neuheiten am besten
im Markt zu platzieren seien – und nicht
zuletzt darauf, diese Strategien gegenüber
den verschiedenen betrieblichen und
gesellschaftlichen Interessen überzeu-
gend zu vertreten. Wie im echten Leben
erschien nun die Presse, und eine Bür-
gerinitiative mischte sich ein, die Um- und verschieden – so verschieden eben nen, in den Dimensionen der Unterneh-
weltverträglichkeit, Verbrauchernutzen, wie die teilnehmenden Schülergruppen mer zu denken und in ihre neuen Rollen
Transparenz und dergleichen mehr ein- und die Firmen, bei denen das Spiel zu schlüpfen.«
forderte. Wie an den ersten Arbeitstagen stattfindet.« Längst haben sich zum Vor- »Die Woche bei der BASF hat mir
schon gaben BASF-Mitarbeiter in dieser reiter BASF bundesweit rund 200 wei- viel mehr gebracht als der normale Schul-
Phase immer wieder Rückmeldungen tere Paten gesellt: Firmen und andere unterricht«, meint Maximilian Wagner.
und machten auch Verbesserungsvor- Anbieter, die das Projekt oft, aber nicht »Da sieht man einfach mal, wie die ver-
schläge. Das Ganze mündete in die »Zu- zwangsweise, in ihren Räumlichkeiten schiedenen Bereiche ineinandergreifen
kunftsmesse 2020«, die Präsentations- durchführen. Nicht immer geht es um und wozu alles gut ist.« Und Andreas
veranstaltung am letzten Tag. Ganz im Themen aus Naturwissenschaft und Graf, der zusammen mit Maximilian zur
Vokabular der Profis skizzierten die Technik. Je nach Branche des Gastgebers Marketinggruppe gehörte, ergänzt: »Vor
»Jungmanager« ihre Projekte und Ziele. spielen die Schüler hier eine Produktent- allem was die Präsentation betrifft, habe
wicklung in Wissenschaft und Technik ich viel dazugelernt.«
Unternehmensluft schnuppern durch, dort fuchsen sie sich ins Bank- Auch die Chemielehrerin Andrea
»Der grundsätzliche Ablauf der Plan- und Finanzwesen ein, woanders arbeiten Wagner zeigte sich mit der Projektwoche
spiele ist immer gleich«, sagt Anette sie bei einer Zeitung oder sie gestalten äußerst zufrieden. »Außerhalb des nor-
Henrich, die als Mitarbeiterin der Ge- sogar die Schule der Zukunft. »Und am malen Unterrichts arbeiten die Jugend-
schäftsstelle »Jugend denkt Zukunft« die Ende«, so Henrich, »bin ich jedes Mal lichen ganz anders und es treten völlig
Schülergruppe begleitete. »Und doch ist aufs Neue erstaunt darüber, wie die Ju- neue Talente hervor«, resümiert sie und
jede Projektwoche immer wieder neu gendlichen nach nur fünf Tagen begin- bedauert: »Diese Mischung aus Freiheit,
praktischem Arbeiten und fächerüber-
Innovationsspiele mit Jugendlichen greifendem Denken können wir im nor-
malen Unterricht leider nicht bieten.«
Das bundesweite Projekt »Jugend denkt morgen neue Produkte und Dienstleis- Gerade das interdisziplinäre Arbeiten sei
Zukunft« will bei jungen Menschen den tungen entstehen. Seit August 2006 ist enorm wichtig. Daher ist die Lehrerin
Sinn für Innovation, Forschung und stra- das Innovationsspiel offizielles Projekt auch angetan von der Idee, das Projekt
tegisches Planen wecken. Das Konzept der UN-Dekade »Bildung für nachhaltige gleichzeitig mit Schülern aus den Che-
entwickelte das Institut für Organisa- Entwicklung«. mie- und Sozialkunde-Leistungskursen
tionskommunikation (Ifok) in Bensheim Interessierten Schulen und Unterneh- durchzuführen – was auf eine Anregung
auf Initiative der Wirtschaft. Betriebe men vermittelt Ifok Kontakte. Das Insti- der BASF-Mitarbeiter zurückging.
sind Paten für Schulen vor Ort – von tut organisiert auch den Ablauf der Plan- Letztlich profitieren von der Projekt-
Hauptschulen bis zu Gymnasien. Ge- spiele und stellt einen Moderator. Träger woche nicht nur die Schüler, sondern
meinsam mit Schülern der oberen Klas- ist jeweils das durchführende Unterneh- auch die Firmen. »Die Jugendlichen sind
sen finden über fünf Tage fiktive Plan- men. Weitere Informationen unter www. in ihrer Denkweise viel offener als wir
spiele statt, bei denen für die Welt von jugend-denkt-zukunft.de. und haben daher manchmal Ideen, auf
die wir nicht gekommen wären«, verrät

98 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
l
Im firmeneigenen Schülerlabor er-
probten die Jungforscher Eigen-
schaften von Verpackungsmaterialien.

Hilgemann. Manches Planspiel hat be-


reits Früchte getragen. So eröffnete die
Volksbank Rhein-Neckar eG im Februar
dieses Jahres ihre erste Jugendfiliale – ge-
staltet in Zusammenarbeit mit Neunt-
klässlern einer Mannheimer Realschule.
Und der »Bergsträßer Anzeiger« wurde
als Ergebnis einer Projektwoche um eine
Jugendredaktion mit eigener Seite be-
reichert.
»Es ist toll, wenn die Jugendlichen
sehen, dass ihr Input gefragt ist und dass
es sich lohnt, sich Gedanken zu ma-
chen«, merkt Lehrerin Wagner begeistert
an. Sie freut sich, dass die Arbeit ihrer
Schüler in dem Betrieb nicht einfach ver-
pufft. »Einige der Ideen habe ich mir
bereits notiert«, verrät Hilgemann und
klopft mit dem Kugelschreiber auf sein
Notizbuch. »Die Idee mit dem Indi-
katorfarbstoff für Medikamentenverpa- ANZEIGE
ckungen ist absolut genial, darüber müs-
sen wir unbedingt mal genauer nachden-
ken.« Damit nicht genug. In seiner Rede
zum Abschluss des Projekts zieht er für
die 28 Jungen und Mädchen noch eine
echte Überraschung aus dem Ärmel:
Zehn von ihnen werden in diesem
Herbst am Workshop »pack.it.2006« teil-
nehmen. Bei dieser Veranstaltung suchen
Mitarbeiter aus verschiedenen Firmen-
bereichen der BASF, die Werkstoffe für
die Verpackungsindustrie herstellen, den
Dialog mit Kunden, und gemeinsam
macht man sich Gedanken über Trends
und Möglichkeiten der Branche. »Wir
planen, 80 Jugendliche zu einem Krea-
tivworkshop einzuladen, und wünschen
uns, dass ihr auch dabei seid und eure
Ideen einbringt«, verkündet Hilgemann.
Und dass die Bad Dürkheimer Visionen
strategisch geschickt entwickeln und pro-
fessionell präsentieren können, haben sie
ja bereits unter Beweis gestellt. l
AUTORIN

Stefanie Reinberger ist


promovierte Biologin und
freie Wissenschaftsjour-
nalistin in Heidelberg.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 99
REZENSIONEN
noch widerlegbar ist. Dieser »Gödel’sche
REZENSIONEN

MATHEMATISCHE LOGIK
Unvollständigkeitssatz« bedeutet, dass
Rebecca Goldstein die Mathematik kein bloßes Anhängsel
Kurt Gödel der Logik ist und prinzipiell nicht auf
Jahrhundertmathematiker und großer Entdecker ein noch so komplexes Computerpro-
Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. gramm reduziert werden kann; sie bleibt
Piper, München 2006. 312 Seiten, € 19,90 ein offenes, auch in fernster Zukunft nie
abgeschlossenes Unternehmen.

Z u Beginn des 20. Jahrhunderts


glaubten die meisten Mathematiker,
ihre Wissenschaft lasse sich im Prinzip
den man oben eine zu prüfende Formel
einwirft und unten nach einigem Rat-
tern und Surren die Auskunft »richtig«
Mit seiner überraschenden Entde-
ckung gebührt Gödel ein Platz unter den
größten Geistern der Moderne. Dass er
auf wenige logische Axiome und Ablei- oder »falsch« erhält. weniger populär wurde als Einstein, mit
tungsregeln zurückführen. Wenn diese Vor hundert Jahren wurde in der da- dem er in späteren Jahren recht eng be-
Grundlegung der Mathematik erst ein- maligen österreichisch-ungarischen Mon- freundet war, liegt an der Unzugänglich-
mal geschaffen sei – woran kaum jemand archie ein mathematisches Genie gebo- keit seiner Resultate, aber auch seiner
zweifelte –, würde man ein wider- ren, das diese Hoffnung gründlich zerstö- Person. Erst der Bestseller »Gödel,
spruchsfreies und vollständiges formales ren sollte. Wie 1931 der junge Kurt Gö- Escher, Bach« von Douglas R. Hofstad-
System zur Hand haben, das jeden belie- del (1906 – 1978) bewies, enthält jedes ter machte zumindest den Namen und
bigen mathematischen Satz in endlich formale System, das zumindest eine The- das damit verbundene Problem einer
vielen Ableitungsschritten beweisen oder orie der natürlichen Zahlen umfasst, eine breiteren Öffentlichkeit bekannt: For-
widerlegen könnte. Die Mathematik unentscheidbare Formel, das heißt eine, male Systeme tragen unweigerlich den
wäre dann eine Art Beweisautomat, in die in diesem System weder beweisbar Wurm der Selbstbezüglichkeit in sich.

GÖDEL-JUBILÄUM

Karl Sigmund, John Dawson und Kurt Mühlberger


Kurt Gödel – Das Album
Mit einem Geleitwort von Hans Magnus Enzensberger.
Vieweg, Wiesbaden 2006. 225 Seiten, € 29,90

I m Rahmen einer prominent besetz-


ten internationalen Tagung zu Kurt
Gödels hundertstem Geburtstag, die
geistigen Geschichte des 20. Jahrhun-
derts. Gödels Lebensweg von Brünn
über Wien nach Princeton berührte
im Frühjahr an der Universität Wien wichtige politische und intellektuelle
stattfand, wurde eine Ausstellung mit Brennpunkte, und durch die extrem
Dokumenten zum Leben des großen eigenbrötlerische Haltung des einsa-
Logikers eröffnet. Der vorliegende Bild- men Genies erscheinen Zwischen-
band entstand als Katalog zu dieser lie- kriegszeit, Weltkrieg und Kalter Krieg
bevoll zusammengestellten Schau, die unter seltsam verfremdetem Blickwin-
ab der zweiten Jahreshälfte 2006 durch kel. Über die spätere Lebensphase in
mehrere europäische Universitätsstädte Princeton, als Gödel aus paranoischer
touren wird. Vergiftungsangst langsam verhungerte
Nicht nur Gödel-Fans finden hier (links ein Bild aus dieser Zeit), geben
Interessantes und Einmaliges aus der vor allem Tagebucheinträge des Ökono-
men und Spieltheoretikers Oskar Mor-
genstern erschütternd Auskunft.
Viele erstmals gezeigte Faksimiles
dokumentieren, wie breit Gödels phy- in der »Vaterländischen Front« (Bild
sikalische, politische und philoso- oben), einer von oben verordneten
phisch-theologische Interessen streu- Einheitspartei in Österreich, bis zur
ten – mit nicht immer genialen, nie abgeschickten Antwort vom 23.
manchmal skurrilen, in jedem Fall aber April 1957 auf die Bitte des Dichters
originellen Resultaten. Vom Brünner Enzensberger um ein Gespräch: Die
Schulheft mit den ersten Versuchen Dokumente wirken rührend und be-
des Kindes, die Zahlen 1 und 2 zu unruhigend wie leise Rufe aus großer
schreiben, über die Bescheinigung der Ferne.
widerwillig erworbenen Mitgliedschaft Michael Springer

100 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
Der Satz »Dieser Satz ist falsch« sprengt
den Rahmen einer automatischen Be-
weisführung; in solchen »selbstbezüg-
lichen Schleifen« sieht Hofstadter den
Grund, warum die Künstliche Intelli-
genz bisher auf keinen grünen Zweig
gekommen ist.
Nun ist pünktlich zu Gödels hun-
dertstem Geburtstag eine Biografie dieses
in vieler Hinsicht rätselhaften Mannes
erschienen. Rebecca Goldstein liefert
eine glänzend geschriebene und souverän
organisierte Arbeit. Sie beschreibt Gö-
dels kulturelles Umfeld, stellt seine intel-
lektuelle Leistung sachgerecht dar und
schildert aus eigener Anschauung die
Stimmung der Gelehrtenhochburg Prince-
ton, in der Gödel seine letzten Lebens-
jahre verbrachte. Der Versuch, auf knap-
pem Raum Gödels berühmtes Theorem
herzuleiten, ist freilich nicht wirklich ge-
lungen. Auch einige unkritisch über-
nommene Klischees über Wien nach der
Jahrhundertwende trüben ein wenig die
ansonsten ganz eigenständige Leistung.
Als studierte Philosophin zeichnet
Goldstein ein differenziertes Bild des
Wiener Kreises, in dem Gödel so unter-
schiedliche Charaktere wie den logischen
Positivisten Rudolf Carnap und den
mystischen Denker Ludwig Wittgenstein ANZEIGE
kennen lernte. Sie betont Gödels Eigen-
ständigkeit in diesem Kreis: Sein Plato-
nismus – der Glaube an die reale Exis-
tenz mathematischer Ideen – stand im
Widerspruch zum herrschenden forma-
listischen Standpunkt, wonach die Ma-
thematik eher einem Spiel nach frei ge-
wählten Regeln gleicht.
Rebecca Goldstein schreibt übrigens
auch Romane, die im Wissenschaftlermi-
lieu spielen – auf Deutsch erschienen sind
»Die Eigenschaften des Lichts. Ein Ro-
man um Liebe, Verrat und Quantenphy-
sik« (2003) und »Die Liebe im logischen
Raum« (2002). Das kommt dem Stil ih-
rer Biografie zugute. Ihr Buch findet da-
mit einen eigenen Platz neben der älteren
Gödel-Biografie von John W. Dawson jr.,
die sich mehr an Fachleute wendet. Wer
sich, durch Goldsteins breit ausgreifende
Lebensschilderung angeregt, für alle De-
tails von Gödels Leben und Werk interes-
siert, wird bei Dawson fündig. Wem die
fesselnde Darstellung des Genies und sei-
ner Zeit genügt, dem schenkt Rebecca
Goldstein ein Leseerlebnis.
Michael Springer
Der Rezensent ist Physiker und ständiger Mitar-
beiter von Spektrum der Wissenschaft.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 101
ÖKOLOGIE ten mehr Arten als in ihrem Umland,
REZENSIONEN

Josef H. Reichholf weil sie eine größere Vielfalt an Struktu-


Die Zukunft der Arten ren zu bieten haben. Manche Tiere fin-
Neue ökologische Überraschungen den sich dabei an unvermuteten Orten
C.H.Beck, München 2005. 240 Seiten, € 19,90 ein. Wer hätte gedacht, dass die Feldler-
che auf den kurz geschorenen Wiesen
von Flughäfen, der Bienenfresser in den

D er Naturschutz ist in Erklärungs-


not. Trotz intensiver Schutzbemü-
hungen in den letzten drei Jahrzehnten
Der Hauptschuldige für den allge-
meinen Artenrückgang sei jedoch die
moderne Landwirtschaft, so Reichholf.
Lehmwänden von Baugruben brütet?
Die zahlreichen Anekdoten machen
deutlich, wie vielfältig die Ansprüche an
wurden die Roten Listen der gefährdeten Die Vereinheitlichung von Strukturen den Lebensraum sind.
Arten immer länger. Nach den aktuellen sowie die Überdüngung hätten vielen Reichholf, Leiter der Abteilung Wir-
Ausgaben für Bayern ist etwa die Hälfte Organismen den Lebensraum genom- beltiere der Zoologischen Staatssamm-
aller erfassten Pflanzen- und Tierarten men. Wo Hecken und Raine fehlen, sind lung, Professor an beiden Münchner
bedroht – mehr als je zuvor. Josef H. Feldhase, Fasan und all die anderen Flur- Universitäten und Mitglied im Stiftungs-
Reichholf geht in seinem jüngsten Buch bewohner verschwunden. rat des World Wildlife Fund (WWF),
den Ursachen des Artenschwunds auf Reichholf gibt sich nicht mit ein- gilt als einer der führenden Experten
den Grund und kommt dabei zu überra- fachen Wahrheiten zufrieden. In detekti- Deutschlands in Sachen Naturschutz.
schenden, oft provokanten Schlussfolge- vischer Kleinarbeit geht er den Dingen Dass er verständlich und lebendig zu
rungen. nach. Stimmt es wirklich, dass der Kli- schreiben versteht, stellt er auch in sei-
Vielfach habe der Naturschutz die mawandel Vögel früher aus ihren Win- nem jüngsten Buch unter Beweis.
Abnahme von Artenvielfalt selbst zu ver- terquartieren lockt? Für den Kuckuck ist Gleichwohl trägt dessen Aufmachung
antworten: durch gut gemeinte Maßnah- die Antwort eindeutig »Nein«, zumin- die akademische Handschrift des Autors.
men, die ihrem Ziel zuwiderliefen. So dest was die durch Daten gut dokumen- So könnten die meisten der 46 Abbil-
das Verbot, Kies-, Sand- und Lehmgru- tierten letzten fünfzig Jahre anbelangt. dungen direkt den im Anhang zitierten
ben wild auszuheben, wie es früher zur Bleibt noch zu klären, warum die Männ- Originalveröffentlichungen entnommen
Gewinnung von Baumaterial gang und chen an der Isar etwa drei Wochen spä- sein – wogegen nichts einzuwenden ist,
gäbe war. Die ständig neu entstehenden ter zur Balz rufen als am unteren Inn. denn die schlichten Schwarz-Weiß-Gra-
Kleingewässer und ihr trocken-warmer Klimatische Unterschiede scheiden aus. fiken sind eingängig und stützen die
Uferbereich waren Refugium für eine Vielmehr liegt der Grund in der zeit- Aussagen des Texts.
Vielzahl von Arten, darunter Eidechsen, lichen Abstimmung auf den jeweiligen Störend ist hingegen das Fehlen eines
Schlangen, Lurche und Insekten. Wirtsvogel: Am unteren Inn sind es Stichwortverzeichnisses. Wer Orientie-
Oder das strikte Verbot des Kahl- Rohrsänger, an der Isar hingegen Rot- rung sucht, muss sich mit den Über-
schlags. In den selten gewordenen Wald- kehlchen, denen das Kuckucksweibchen schriften der zwölf Kapitel begnügen,
lichtungen entfaltete sich einst ein bun- seine Eier untermogelt. von denen sich jedes gesondert lesen
tes Leben. Hier krabbelten zahlreiche Eine unvermutete Erklärung liefert lässt. Dass sich dadurch Aussagen im
Ameisenarten und flatterten Auerhüh- der Autor auch für die Wiederansiedlung Buch wiederholen, ist angesichts der
ner, für deren Küken die proteinreichen des Gänsesägers an Isar und Lech in den Informationsmenge dem Verständnis
Insekten ein wichtiges Kraftfutter sind. späten 1960er Jahren. Dies sei nicht dem durchaus dienlich.
Schutz vor Verfolgung, sondern dem Das einzige echte Manko liegt im
Bau von Stauseen zu verdanken. Indem Überfluss. Zweifellos lässt sich die Viel-
sie Schwebstoffe im Oberlauf der beiden falt der heimischen Natur nicht als
Flüsse abfangen, sorgen sie für klare »gradlinige Einbahnstraße erschließen«.
Sicht und schaffen somit die Vorausset- Aber Reichholf kann es nicht lassen, die
zung für eine erfolgreiche Fischjagd. Da- überwältigende Fülle seines Wissens vor
gegen verschmähen die Vögel die um- dem Leser auszubreiten, und verstrickt
fangreichen, eigens für sie eingerichteten sich häufig in einen Dschungel von Ein-
Schutzgebiete am unteren Inn, da der zelheiten. Das macht das Lesen unnötig
Fluss zu ihrer Brutzeit von alpiner Glet- schwer. Das Buch ist bestimmt nicht
schermilch getrübt ist. dazu geeignet, der Natur entfremdete
Anhand zahlreicher Einzelbeispiele Menschen für den Naturschutz zu ge-
erhält der Leser Einblick in die bunte winnen. Ökologisch Interessierten liefert

o
Das Drüsige Springkraut breitete Welt der Pflanzen und Tiere wie auch in es aber einen unerschöpflichen Schatz an
sich am unteren Inn zunächst rasch komplexe ökologische Zusammenhänge. Informationen und Denkanstößen. Und
aus und nahm dann fast ebenso rasch Die Landschaft Mitteleuropas ist in den in der Szene Engagierten sei wärms-
wieder ab, weil es die Nährstoffvorräte höchstem Maße von menschlichem tens empfohlen, sich mit Reichholfs Ar-
am Standort verbraucht hatte. Schwarze Handeln geprägt und hat sich mit ihm gumenten auseinanderzusetzen.
Balken und punktierte Linie: Anzahl der ständig verändert. Das geht, auch heute Achim G. Schneider
Fundorte. Kästchenbalken und durchge- noch, im Einzelfall zu Gunsten der Ar- Der Rezensent ist promovierter Biologe und frei-
zogene Linie: Anzahl der Exemplare tenvielfalt aus. So tummeln sich in Städ- er Wissenschaftsjournalist bei Freiburg.

102 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
ANZEIGE
BILDBAND und Amsterdam bieten auch in Rossis
REZENSIONEN

Guido Alberto Rossi (Fotos), Gabriele Zanetto (Text) Wiedergabe nur den gewohnten An-
Wasser von oben blick. Die schönsten und überraschends-
ten Wasserlandschaften hat er auf der
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler und Edmund Jacoby.
Gerstenberg, Hildesheim 2006. 312 Seiten, € 39,90 philippinischen Insel Luzon gefunden.
Und seinem Handwerk getreu gewinnt
er auch dem eigentlich Hässlichen und

W asser ist so eng mit dem mensch-


lichen Leben verknüpft, dass es
jede Menge Geschichten darüber zu er-
r durch das Übermaß solcher Aktivitä-
ten eine Umweltkatastrophe herbeizufüh-
ren droht oder dies schon getan hat.
Erschreckenden noch etwas Ästhetisches
ab: der Riesenflamme über der Ölbohr-
plattform, dem ins Wasser abgestürzten
zählen gibt. Nicht nur die biblische von An dieser Geschichte als Leitfaden Drogenkurierflugzeug,derüberschwemm-
der Sintflut und deren unzählige Paral- haben die Autoren eine Sammlung ten Stadt New Orleans.
lelen aus anderen Kulturen; viele Götter prachtvoller Luftbilder aufgeknüpft. Und Irgendwie hat das auch der Texter ge-
wurden und werden mit dem Wasser weil die Geschichte zwar irgendwie zu- merkt und erzählt uns, dass menschen-
identifiziert; Philologen äußern kluge trifft, aber für die aktuelle Diskussion zu gemachte Formen sich den natürlichen
Gedanken über unsere materielle und wenig konkret ist, haben sie die Hand- angleichen. Dafür findet man in den
geistige Beziehung zu dem Stoff, der im- lungsgrundsätze des Stockholmer Wasser- sorgfältig ausgewählten Bildern in der
merhin den größten Teil unseres Körper- symposiums 1998 – 2002 mit abgedruckt. Tat Belege; na ja.
gewichts ausmacht. In ihnen geben zahlreiche fachkundige In seinen besten Bildern widerspricht
Und es gibt die immer wieder neu Organisationen den Regierungen der der Fotograf der Rahmenerzählung. Der
erzählte Geschichte von Welt Hausaufgaben auf. rostrote neben dem blauen See (S. 15)
r der unschuldigen Natur, Das ist ebenfalls sicher richtig und al- sieht aus wie ein besonders krasses Bei-
r dem Menschen der Vergangenheit im ler Ehren wert. Aber es hat mit den Bil- spiel von Umweltverschmutzung – ist
paradiesischen Einklang mit derselben, dern nicht viel zu tun. Ganz offensicht- aber natürlich. Der Text geißelt die mas-
r dem Menschen der Gegenwart, der lich hatte der Fotograf nicht die Absicht, senhafte Errichtung von Staudämmen
sich die Natur und insbesondere das das Gewissen der Menschen wachzurüt- als massiven Eingriff des Menschen in
Wasser dienstbar macht und teln, sondern gute Bilder zu machen – die Natur. Aber der künstliche Lake
was ihm gelungen ist. Powell mitten in der Wüste von Arizona
Die Gletscherzunge, der Himalaya- (S. 292 – 293) sieht richtig gut aus.
gipfel mit Bergsee, eine Flussschleife des Christoph Pöppe

u
Salinen im Nildelta: Das Salz wird Po in Norditalien oder die wasserum- Der Rezensent ist Redakteur bei Spektrum der
durch Verdunstung gewonnen. schlungenen Städte New York, Venedig Wissenschaft.

104 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
BIOLOGIE denn es fehlen ein roter Faden und ein
Christian Göldenboog klares Schlusswort. Göldenboog hätte
Wozu Sex? seinen Lesern zuliebe auch gegenüber
Koryphäen wie Maynard Smith oder Ca-
Von der Evolution der zwei Geschlechter
valli-Sforza häufiger Stellung beziehen
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 239 Seiten, € 19,90
sollen, statt sich hinter den meist seiten-
langen Abschriften der Interviews zu ver-

B irds – do it; bees – do it; even educa-


ted fleas – do it« – und Cole Porter
hätte seine Liste endlos fortsetzen kön-
setzen. Viele Erklärungen klingen durch
und durch plausibel, aber sie funktionie-
ren nur, wenn wichtige Parameter wie
bergen.
Eine eindeutige Antwort auf die Ti-
telfrage »Wozu Sex?« gibt es zwar immer
nen: »Falling in love« oder, weniger ro- die Mutationsrate bestimmte Werte an- noch nicht – die Empirie hinkt der The-
mantisch ausgedrückt, Sex ist ein nahezu nehmen; und Plausibilität ist kein Ersatz orie noch weit hinterher –, aber viele
universelles Phänomen bei mehrzelligen für noch ausstehende experimentelle Be- vergleichende und experimentelle Studi-
Organismen. stätigungen. George Williams, einer der en versprechen neue Einsichten. So er-
Gerade diese Universalität bereitet bedeutendsten Evolutionsbiologen des laubt es die Genomik, in vielen Organis-
Evolutionsbiologen enormes Kopfzerbre- 20. Jahrhunderts, scheiterte ebenfalls mit men die Anhäufung schädlicher Mutati-
chen. Denn Sex ist ein teures Geschäft. seinem Erklärungsversuch – und be- onen zuverlässiger als je zuvor zu messen;
Was die Fortpflanzung betrifft, werden merkte 1975, sein Misserfolg bringe ihn nur wenn die Werte in ein enges Inter-
männliche Wesen nur benötigt, um die wenigstens in gute Gesellschaft. vall fallen, kann Sex zur »Reinigung« des
Eier der Weibchen zu befruchten, und Christian Göldenboogs neuester Genoms dienen. Und viele Wissen-
ein paar wenige würden für diese Auf- Ausflug in die Evolutionsbiologie fasst schaftler versuchen verstärkt, im Freiland
gabe genügen. Nun ist aber in den meis-
ten Fällen ein Geschlechterverhältnis von
1 : 1 evolutionär stabil und damit nahezu Sex dient der Reinigung des Genoms – jedenfalls nach einer der
die Hälfte des Fortpflanzungsaufwands
zahlreichen Theorien
verschenkt.
Weibchen, die sich ungeschlechtlich
fortpflanzen und entsprechend nur die wissenschaftliche Debatte um die die Vorteile der sexuellen Fortpflanzung
Weibchen zur Welt bringen, hätten da- Evolution der Sexualität in unterhalt- abzuschätzen. Göldenboogs Buch gibt
gegen eine doppelt so hohe Vermeh- samer und gut lesbarer Form zusammen. einen nur ungenügenden Einblick in
rungsrate und könnten somit ohne Wei- Einige Mitglieder der von Williams iden- diese Entwicklungen und verharrt the-
teres ihre sich dem Sex hingebenden und tifizierten guten Gesellschaft lernt der matisch zu sehr im Dunstkreis seiner il-
Männchen produzierenden Konkurren- Leser samt ihren Denkweisen genauer lustren Gesprächspartner.
tinnen verdrängen. Trotz dieses enormen kennen. Glücklicherweise enthält sich der
Kostennachteils hat sich die sexuelle Der 2004 verstorbene John Maynard Autor leichtfertiger Analogisierungen tie-
Fortpflanzung evolutionär in den meis- Smith, dessen 1978 erschienenes Buch rischen und menschlichen Sexualverhal-
ten Gruppen des Pflanzen- und Tier- »The Evolution of Sex« ein Meilenstein tens, doch gelingt es ihm nicht, das sen-
reichs durchgesetzt. Kaum eine Orga- der Debatte ist, stellt zu Beginn des sitive Thema ohne Rückgriff auf Kli-
nismengruppe kommt völlig ohne Sex Buchs im Gespräch mit dem Autor die schees darzustellen. Göldenboog beruft
aus; selbst viele normalerweise asexuelle wichtigsten Thesen und Theorien zur sich ausschließlich auf männliche Auto-
Lebewesen pflanzen sich unter bestimm- Entstehung und Beibehaltung von Sex ritäten, und an zu vielen Stellen herrscht
ten Umweltbedingungen geschlechtlich vor. Von Maynard Smith erfahren wir der Ton eines akademischen Männer-
fort. Und dann gibt es auch noch so et- dann unter anderem mehr über die The- stammtischs. Wie kaum ein anderes The-
was wie die Rädertierchen der Klasse orie der Damenwahl, von Wolf Reik aus ma ist die Untersuchung von Sexualität
Bdelloidea, die sich seit zig Millionen Cambridge (England) über die so ge- auch in den Naturwissenschaften von
Jahren munter ausschließlich jungfräu- nannte Prägung des Genoms im Verlauf tief sitzenden kulturellen Klischees und
lich fortpflanzen und sogar 370 Arten der Fortpflanzung, von Kim Nasmyth Vorurteilen geprägt. Daher ist es bedau-
ausgebildet haben. aus Oxford über die molekularen ernswert, dass Wissenschaftlerinnen wie
In den vergangenen Jahrzehnten Grundlagen von Eiern und Spermien, Lynn Margulis oder Joan Roughgarden
brachten die großen und kleinen Lichter und der Populationsgenetiker Luigi Ca- mit ihren umstrittenen, aber diskussi-
der Evolutionsbiologie mehr als zwanzig valli-Sforza belehrt uns über den Nutzen onswürdigen Theorien zur Evolution der
Hypothesen in Umlauf, um zu erklären, der durch Sex geförderten genetischen Sexualität oder zur sexuellen Auslese
welche Vorteile die Kosten der ge- Vielfalt und die wissenschaftlich unhalt- nicht selbst zu Wort kommen. Wissen-
schlechtlichen Fortpflanzung aufwiegen baren Illusionen des Rassismus (Spek- schaftliche und kulturelle Deutungs-
können. Reinigt Sexualität das Genom trum der Wissenschaft 4/2000, S. 105). macht befinden sich eben immer noch
von schädlichen Mutationen? Oder er- Göldenboog schreibt durchweg kom- fest in männlicher Hand.
laubt Sex die schnelle genetische Anpas- petent und spannend und lockert die Thomas P. Weber
sung an eine sich ständig ändernde Um- Kapitel mit interessanten historischen Der Rezensent ist wissenschaftlicher Assistent
welt? Keine einzige Vermutung konnte Exkursen auf. Leider schließt man das am Institut für Tierökologie der Universität Lund
sich bisher als eindeutiger Favorit durch- Buch dann doch etwas unzufrieden, (Schweden) und Buchautor.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 105
MATHEMATISCHE PHYSIK ursachenden Schiffs. Die klassische Phy-
REZENSIONEN

Klaus Mainzer sik scheitert erst an der Tatsache, dass die


Symmetry and Complexity Geschwindigkeit des Lichts auch von der
des Beobachters unabhängig ist.
The Spirit and Beauty of Nonlinear Science
Mainzer behauptet obendrein, die
World Scientific, Singapore 2005. 437 Seiten, £ 51,–
Eichsymmetrie der Elektrodynamik gelte
auch für lokale Veränderungen des elek-

V ieles in dem Buch verstehe ich nicht.


Einiges davon sollte ich aber verste-
hen, weil es meine Spezialgebiete betrifft:
nach der (verallgemeinerten) Geschwin-
digkeit nicht definiert hat. Oder es
kommt die schlicht falsche Behauptung
trischen Felds. Eben nicht! Die lokalen
Symmetrietransformationen der Elektro-
dynamik ändern die Potenziale – aber nur
Symmetrie und Symmetriebrechung in zu Stande, dass durch einen Ferromag- so, dass dabei die elektrischen und ma-
der Physik, Quantenmechanik, Spezielle neten zur Aufrechterhaltung seiner Ord- gnetischen Felder unverändert bleiben.
Relativitätstheorie und die Theorie der nung stets Energie und Materie hin- Ja, es fällt mir schwer, von Proble-
Elementarteilchen. Um zu entscheiden, durchströmen müsse. men im Detail abzusehen, vor allem
ob es sich lohnt, durch ein Buch mühe- Die eigenwillige Terminologie ist ein wenn sie den intensiven Eindruck erwe-
voll in unbekannte Gefilde vorzudringen, zusätzliches Verständnishindernis. Ein cken, der Autor stelle das Thema seines
habe ich es mir zur Regel gemacht, zu- krasses Beispiel: Man kann zwar mit et- Buchs nicht adäquat dar – zumindest
nächst nachzusehen, ob das, was ich be- was Mühe erschließen, was gemeint ist, was die Physik angeht.
urteilen kann, richtig und verständlich wenn Mainzer auf S. 119 die Einheiten Versuchen wir es trotzdem. Das Buch
dargestellt ist. Je nachdem bin ich bereit von Raum und Zeit als »commutative« liefert in acht Kapiteln einen umfas-
zum Weiterlesen – oder auch nicht. bezeichnet. Aber warum missbraucht er senden Überblick über die Bedeutung
Hier nun ist mein Test durch und ein Wort, das in der Physik eine festge- von Symmetrie, Symmetriebrechung
durch entmutigend ausgefallen. Den har- legte, völlig andere Bedeutung hat? und Komplexität für das naturwissen-
monischen Oszillator (S. 84) versteht Wichtiger als diese Details sind kon- schaftliche Weltbild, welcher auch die
Klaus Mainzer, Professor für Philosophie zeptionelle Missverständnisse, die beim Resultate menschlicher Aktivitäten wie
in Augsburg, so, dass Physiker ihr Stan- besten Willen nicht auf triviale Druck- Kunst und Gesellschaft einbezieht. »The
dardsystem nur schwer wiedererkennen fehler, Auslassungen oder Abweichungen message of this book«, heißt es am An-
können. Die Achtlosigkeit, mit der er mit der Terminologie zurückzuführen sind. fang des achten Kapitels, »is easy to un-
Gleichungen umgeht, ist erstaunlich: Ein Nur zwei von vielen Beispielen: Die derstand: cosmic evolution leads from
kleines Anhängsel an einem F (S. 114) Konstanz der Lichtgeschwindigkeit – so symmetry to complexity by symmetry
oder ein Punkt mehr oder weniger über x muss man Mainzers »constancy of light« breaking and phase transitions.« Von
und y (S. 117) machen einen riesigen Un- verstehen – ist ohne Zweifel ein Eckstein diesem hohen Gipfel der Erkenntnis aus
terschied, und entsprechende Druckfeh- der Speziellen Relativitätstheorie; aber gesehen, müssen die Mühen der Ebene
ler dürften manchen Leser ratlos lassen. im Gegensatz zu Mainzers Darstellung und des Anstiegs unbedeutend und trivi-
Beim Zusammenfügen oder Überar- ist es nicht bemerkenswert, dass die al erscheinen.
beiten des Textes sind entscheidende Lichtgeschwindigkeit nicht von der Ge- Henning Genz
Dinge unter den Tisch gefallen. So bleibt schwindigkeit der Lichtquelle abhängt. Der Rezensent ist pensionierter Professor für
der Absatz über Erhaltungssätze mys- Auch die Geschwindigkeit einer Bugwel- theoretische Physik an der Universität Karlsruhe.
tisch, weil Mainzer den Impuls p als parti- le im Wasser ist im Wesentlichen unab- Sein Arbeitsgebiet ist die Theorie der Elementar-
elle Ableitung der Lagrange-Funktion L hängig von der Geschwindigkeit des ver- teilchen.

PHILOSOPHIE Murmann widmet neben der indischen


Anton Grabner-Haider auch der buddhistischen Philosophie ein
Philosophie der Weltkulturen Kapitel. Allein Anton Grabner-Haider,
Die Weltdeutungen und die Theorien der Wahrheit
Religionsphilosoph aus Graz, sprengt
den Rahmen. Er schreibt über interkul-
Marix, Wiesbaden 2006. 472 Seiten, € 14,95
turelle, chinesische, japanische, jüdische,
europäische und nordamerikanische Phi-

D er Wortbedeutung nach meint Phi-


losophie die Liebe zur Weisheit
ohne jegliche Einschränkung auf be-
für die Wissenschaften des Geistes
höchste Zeit, die tradierte Fokussierung
über Bord zu werfen.
losophie.
Alle Kapitel offenbaren, wie sehr sich
die Fragen, aber auch die Antworten in
stimmte Koryphäen, Schulen oder Kul- Dieses Ziel verfolgen die sieben Au- verschiedenen Kulturen gleichen. Ein
turen. Doch hegt die Zunft nach wie vor toren des vorliegenden Buchs, sämtlich gutes Beispiel ist Michael-Murmanns
eine eurozentristische Sicht, womit sie Fachspezialisten, die jedoch ein breites Text über Indien. So verfasste Jaimini
leichtfertig die immensen Chancen eines Publikum ansprechen wollen. Jeder Au- bereits um 300 bis 200 v. Chr. den »Leit-
interkulturellen Dialogs verspielt. Einst tor referiert über sein Spezialgebiet wie faden der Erörterung (des Werkdiens-
korrigierten die Naturwissenschaften das Afrika, Lateinamerika oder den Islam. tes)«, das Karma-Mīmāmsā-sūtra, das
stolze geozentrische Weltbild, heute ist es Die Mainzer Indologin Heike Michael- jahrhundertelange Nachwirkungen hat- r

106 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 107
r te. Sein größtes Verdienst ist eine
NACHGEHAKT
REZENSIONEN

Methodik des wissenschaftlichen Dis-


kurses. Zu Beginn einer Erörterung wird
Mathematiker sind eigentlich ganz normal. der thematisierte Gegenstand vorgestellt,
als nächster Schritt wird ein Zweifel for-
Auch Perelman muliert und im Anschluss eine konträre
Ansicht aufgestellt. Auf diese wird in
Der Internationale Mathematikerkongress, aller Welt hätten sich überboten, ihm einem vierten Schritt eine Antwort ge-
der im August in Madrid stattfand, war die Arbeitsbedingungen seiner Wahl geben und das so gewonnene Ergebnis
ein beispielloser PR-Erfolg, aus zwei zu verschaffen. Nicht nur den nobel- im Kontext weiterer Textstellen interpre-
Gründen: Erstens gibt sich der spa- preisähnlichen Ruhm der Fields-Medail- tiert. Das Schema weist sowohl Paral-
nische König die Ehre, mit dem Effekt, le hat er verschmäht, sondern auch den lelen zum aristotelischen Syllogismus als
dass seine ständigen Begleiter, die zugehörigen fünfstelligen Geldbetrag, auch zur Dialektik Hegels auf. Der
Fernsehkameras, auch etwas Mathe- ganz zu schweigen von der Million, die Autorin gelingt ein klar strukturierter
matik in die Öffentlichkeit tragen. Und das Clay-Institut für den Bezwinger der Überblick von den Wurzeln der Philo-
zweitens spricht alle Welt darüber, Poincaré-Vermutung bereithält (siehe sophie in der vedischen Zeit (um
dass Perelman die Annahme der den Spektrum-Plus-Artikel »Wer wird 1200 – 600 v. Chr.) über die sechs klas-
Fields-Medaille verweigert! Millionär?« vom November 2003). sischen Systeme bis hin zur Moderne
Es ist eine Geschichte wie aus dem Indiens.
Bilderbuch: Genial und verrückt ist fast John Ball, der Generalsekretär der Inter- Diese klare Struktur fehlt leider in
dasselbe. Georg Cantor entwickelte national Mathematical Union, hat Perel- anderen Kapiteln. So verliert sich die
die Mengenlehre mitsamt den Parado- man besucht, um ihn zur Annahme der Darstellung der chinesischen und japa-
xien, die ihn selbst ebenso verstörten Fields-Medaille zu bewegen – vergeb- nischen Philosophie durch Grabner-Hai-
wie uns heute; kein Wunder, dass er in lich. Perelman fühle sich der Gemein- der in zu vielen Zitaten und Details –
seinem späteren Leben unter schwers- schaft der Mathematiker nicht zugehö- Schwächen, die sich durch alle Kapitel
ten Depressionen litt. Kurt Gödel, der rig und wolle von ihr nicht vereinnahmt des Autors ziehen, aber durch die inhalt-
bewies, dass unser Begriff von Wahr- werden. Über die Hintergründe zu liche Stärke aufgewogen werden. Nur bei
heit viel problematischer ist, als die sprechen fühlt sich John Ball nicht be- seiner Darstellung der europäischen Phi-
mathematischen Fundamentalisten fugt. Nein, die Gemeinschaft der losophie fallen Lücken auf: Grabner-
sich das träumen ließen! Der konnte Mathematiker habe ihn nicht zurückge- Haider streift nur kurz die Ideenlehre
doch gar nicht anders, als ein krank- wiesen. Ob um seine geistige Gesund- Platons, der aristotelische Syllogismus
haftes Misstrauen zu entwickeln, an heit zu fürchten sei? Mit Sicherheit bleibt ebenso ungenannt wie die durch-
dessen Folgen er jämmerlich zu Grun- nein. Perelman habe ein anderes Wer- aus problematischen Implikationen des
de ging (siehe S. 100). tesystem, als wir es gewohnt sind; Utilitarismus. Stattdessen betont er stets
»but that keeps life interesting«. die Stellung der einzelnen Philosophen
Und dann dieser Waldschrat namens Gri- Nichts gegen erhöhtes Interesse an zum Thema Religion und Gott. Nietz-
gori Perelman, der die 100 Jahre alte der Mathematik. Aber die geläufige sche verkürzt er auf einen Vordenker der
Poincaré’sche Vermutung endgültig er- Verbandelung von Genie und Wahn- Diktatur.
ledigt hat (Spektrum der Wissenschaft sinn ist einfach Unfug. Die anderen Umso gelungener beschreibt Rein-
9/2004, S. 86). Das ist eine allgemeine drei Fields-Preisträger dieses Jahres, hard Esterbauer, Professor für Philoso-
Aussage über dreidimensionale Man- Andrei Okunkow, Terence Tao und phie an der Universität Graz, das Chris-
nigfaltigkeiten. So etwas können wir Wendelin Werner, sind nicht durch eine tentum. Frei von Dogmatismus disku-
uns nicht wirklich vorstellen, auch wenn derart klischeegetreue Geschichte auf- tiert er die Wirkung von Aristoteles oder
wir selbst in einer solchen leben. gefallen; aber ihre ebenfalls grandio- die Relevanz der wichtigsten Gottesbe-
Wer sich den ganzen Tag in derart sen Leistungen gehen fast unter in weise. Anhand des Beispiels Augustinus
abstrakten Räumen herumtreibt, muss dem Rummel um Perelman. Carl Fried- von Hippo skizziert er den Einfluss der
doch in unserer alltäglichen Welt Orien- rich Gauß (1777 – 1855) und David Hil- christlichen Weltanschauung auf ein
tierungsschwierigkeiten haben. Perel- bert (1862 – 1943), die Großmeister der neues, lineares Verständnis von Ge-
man sieht aus wie ein verspäteter Hip- Mathematik, sind bei klarem Verstand schichte und Philosophie. Esterbauers
pie, pflegt sich die Fingernägel nicht zu alt geworden. Der lange Zeit älteste Kollege Karl Prenner aus der katholisch-
schneiden, wird kolportiert (Hand aufs Einwohner Österreichs, Leopold Vieto- theologischen Fakultät zeigt, wie stark
Herz: Wollten Sie das wirklich wissen?); ris (1891 – 2002), war Mathematiker frühe islamische Denker wie al-Farabi,
seine Stelle am Steklow-Institut für Ma- und hat seine letzte wissenschaftliche Ibn Sina oder Ibn Ruschd von der helle-
thematik in St. Petersburg hat er aufge- Arbeit mit 104 Jahren veröffentlicht. nistischen Kultur beeinflusst waren. So
geben; wo er sich aufhält, womit er sei- Man muss nicht verrückt sein, um debattierten und tradierten sie stoische,
ne Zeit zubringt und womit er sein Geld sich für eine Fields-Medaille zu quali- kynische, platonische und neuplato-
verdient, ist nicht bekannt. fizieren. Genialität reicht völlig aus. nische Ansätze.
Dabei würde die mathematische Christoph Pöppe Chibueze Udeani, der an der Univer-
Welt ihm zu Füßen liegen. Institute in Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft sität Salzburg Interkulturelle Theologie
lehrt, plädiert in seinem Kapitel für eine r

108 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 109
r philosophia perennis, eine ewige Philoso- kenntnisse der Maya und Inka, um dann und afrikanischen Philosophie. Dennoch
REZENSIONEN

phie, als Basis einer interkulturellen auf die »verpflanzte Philosophie« der bietet das Buch eine gelungene und un-
Kommunikation. Er skizziert die Debat- Kolonialmacht einzugehen. Im Wesent- terhaltsame Übersicht und erweitert den
te um eine oder mehrere afrikanische lichen beschränken sie sich auf die Be- Horizont.
Philosophien. Während einige Autoren schreibung der Genese einer lateinameri- Stefan Keilmann
die Ermangelung einer schriftlichen Sys- kanischen politischen Philosophie. Der Rezensent hat Germanistik und Philosophie
tematik beklagen, wendet sich zum Bei- Den strukturellen Mängeln zum studiert und lebt als freier Wissenschaftsjourna-
spiel der kenianische Philosoph Oruko Trotz birgt das Buch einige Schätze. Um list in Ludwigshafen.
gegen eine solche Klassifizierung. Bedau- diese zu heben, braucht es aber stellen-
erlich ist, dass die Debatte auf gerade weise ein gehöriges Maß an Vorwissen. Alle rezensierten Bücher können Sie in
einmal elf Seiten nur angerissen wird, Zudem hat der Herausgeber mit der Ge- unserem Science-Shop bestellen
von der afrikanischen Philosophie selbst wichtung der Inhalte den gleichen Feh- direkt bei: www.science-shop.de
ganz zu schweigen. Auch Lateinamerika ler begangen, den er beklagt: 380 Seiten per E-Mail: shop@wissenschaft-online.de
bekommt nur dreißig Seiten eingeräumt. widmen sich der europäischen und asia- telefonisch: 06221 9126-841
per Fax: 06221 9126-869
Die beiden Autoren streifen kurz die Er- tischen, lediglich 70 der amerikanischen

PREISRÄTSEL
Wer zuletzt lacht ... Lösung zu »Geburtsdatum« (August 2006)
Finale im Zweikampf der Glücksspieler Der Astronom ist am 13. Februar 1699 ge- durch 400 ohne Rest teilbar sind. (Beim
Hans und Franz in der Disziplin Münz- boren, und zwar in einem Land, in dem bis 1582 gültigen julianischen Kalender
wurf. Hans wettet auf »Wappen«, Franz damals bereits der gregorianische Ka- gab es keine solchen Ausnahmen.)
auf »Zahl«. Beide starten mit dem glei- lender gültig war. Der fünfte Geburtstag des Astro-
chen Kapital, einem ganzzahligen Euro- Zunächst scheidet ein Schaltjahr als nomen muss also in einem der Jahre
betrag. Gespielt wird nach folgender Geburtsjahr aus: In einem Schaltjahr 1704, 1804 oder 1904 liegen. In wel-
Regel: kann zwar dreimal »Freitag, der 13.« chem dieser Jahre war nun der 13. Feb-
Der Verlierer eines Wurfs gibt die auftreten (und zwar im Januar, April und ruar ein Mittwoch?
Hälfte seines Kapitals an den Gewinner Juli), aber in einem solchen Jahr gibt es Wir rechnen zurück: Im Jahr 2004 fiel
ab. Das Spiel endet, wenn der nächste neben dem 13. Mai keinen zweiten der 13. Februar auf einen Freitag. Von
Verlust nicht mehr in ganzen Cent be- Sonntag, der auf den 13. Tag eines Mo- den vorhergehenden 100 Jahren waren
zahlt werden könnte. nats fällt. Folglich ist der Astronom im 25 Schaltjahre (auch das Jahr 2000 war
1. Wurf, 2. Wurf, … gebannt starren Februar eines Gemeinjahres geboren. eines), also ergibt sich eine Verschie-
beide auf die tanzende Münze. Die Zeit Im selben Jahr fielen der 13. März und bung um sechs Wochentage, denn 125
vergeht, die Spannung steigt, jeder hat der 13. November ebenfalls auf einen lässt bei Division durch 7 den Rest 6.
schon mehrere Würfe gewonnen. Atem- Freitag, außerdem der 13. September Somit war der 13. Februar 1904 ein
lose Stille, denn jetzt, der wichtigste, und 13. Dezember auf einen Sonntag. Samstag.
der letzte Wurf und … Hans gewinnt Rechnen wir nun weitere 100 Jahre
ihn! Meister im Münzwurf, und um Ein festes Datum verschiebt sich von zurück, so ergibt sich eine Verschiebung
72,25 Euro reicher als zu Spielbeginn. einem Jahr zum nächsten um einen um nur fünf Wochentage, denn in die-
Welches waren die Würfe, die Hans Wochentag, wenn kein Schalttag (29. sem Zeitraum lagen nur 24 Schaltjahre.
schon vor dem letzten Wurf gewann? Februar) dazwischen liegt, ansonsten Im Jahr 1804 war der 13. Februar also
um zwei Wochentage. Wenn sich also ein Montag und im Jahr 1704 schließ-
Schicken Sie Ihre Lösung in einem fran- der Geburtstag von Freitag (im Geburts- lich ein Mittwoch. Somit ergibt sich als
kierten Brief oder auf einer Postkarte an jahr) auf Mittwoch (im nächsten Schalt- Geburtsjahr das Jahr 1699.
Spektrum der Wissenschaft, Leserser- jahr) verschiebt, liegt das Geburtsjahr Dabei haben wir angenommen, dass
vice, Postfach 10 48 40, D- 69038 Hei- fünf Jahre vor dem nächsten Schaltjahr, während der ersten Lebensjahre des
delberg. denn das Geburtsjahr selbst war ja kein Astronomen keine Kalenderreform
Unter den Einsendern der richtigen Schaltjahr. durchgeführt wurde.
Lösung verlosen wir fünf Bildbände In der Regel ist jedes vierte Jahr ein
»Wunder des Weltalls«. Der Rechtsweg Schaltjahr. Ausnahmen gibt es gemäß Die Gewinner der drei Einstein-Figuren
ist ausgeschlossen. Es werden alle Lö- dem gregorianischen Kalender in Jah- sind Sarah Riepenhausen, Münster; Al-
sungen berücksichtigt, die bis Dienstag, ren wie 1700, 1800 und 1900, deren fred Sieglhofer, Vilsbiburg; und Ingo
den 17. 10. 2006, eingehen. Jahreszahlen zwar durch 100, aber nicht Schiermeyer, Herzogenrath.

Lust auf noch mehr Rätsel? Unsere Online-Wissenschaftszeitung (www.spektrumdirekt.de) bietet Ihnen
unter dem Stichwort »Knobelei« jeden Monat eine neue mathematische Knobelei.

110 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
r philosophia perennis, eine ewige Philoso- kenntnisse der Maya und Inka, um dann und afrikanischen Philosophie. Dennoch
REZENSIONEN

phie, als Basis einer interkulturellen auf die »verpflanzte Philosophie« der bietet das Buch eine gelungene und un-
Kommunikation. Er skizziert die Debat- Kolonialmacht einzugehen. Im Wesent- terhaltsame Übersicht und erweitert den
te um eine oder mehrere afrikanische lichen beschränken sie sich auf die Be- Horizont.
Philosophien. Während einige Autoren schreibung der Genese einer lateinameri- Stefan Keilmann
die Ermangelung einer schriftlichen Sys- kanischen politischen Philosophie. Der Rezensent hat Germanistik und Philosophie
tematik beklagen, wendet sich zum Bei- Den strukturellen Mängeln zum studiert und lebt als freier Wissenschaftsjourna-
spiel der kenianische Philosoph Oruko Trotz birgt das Buch einige Schätze. Um list in Ludwigshafen.
gegen eine solche Klassifizierung. Bedau- diese zu heben, braucht es aber stellen-
erlich ist, dass die Debatte auf gerade weise ein gehöriges Maß an Vorwissen. Alle rezensierten Bücher können Sie in
einmal elf Seiten nur angerissen wird, Zudem hat der Herausgeber mit der Ge- unserem Science-Shop bestellen
von der afrikanischen Philosophie selbst wichtung der Inhalte den gleichen Feh- direkt bei: www.science-shop.de
ganz zu schweigen. Auch Lateinamerika ler begangen, den er beklagt: 380 Seiten per E-Mail: shop@wissenschaft-online.de
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Hans und Franz in der Disziplin Münz- boren, und zwar in einem Land, in dem bis 1582 gültigen julianischen Kalender
wurf. Hans wettet auf »Wappen«, Franz damals bereits der gregorianische Ka- gab es keine solchen Ausnahmen.)
auf »Zahl«. Beide starten mit dem glei- lender gültig war. Der fünfte Geburtstag des Astro-
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betrag. Gespielt wird nach folgender Geburtsjahr aus: In einem Schaltjahr 1704, 1804 oder 1904 liegen. In wel-
Regel: kann zwar dreimal »Freitag, der 13.« chem dieser Jahre war nun der 13. Feb-
Der Verlierer eines Wurfs gibt die auftreten (und zwar im Januar, April und ruar ein Mittwoch?
Hälfte seines Kapitals an den Gewinner Juli), aber in einem solchen Jahr gibt es Wir rechnen zurück: Im Jahr 2004 fiel
ab. Das Spiel endet, wenn der nächste neben dem 13. Mai keinen zweiten der 13. Februar auf einen Freitag. Von
Verlust nicht mehr in ganzen Cent be- Sonntag, der auf den 13. Tag eines Mo- den vorhergehenden 100 Jahren waren
zahlt werden könnte. nats fällt. Folglich ist der Astronom im 25 Schaltjahre (auch das Jahr 2000 war
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beide auf die tanzende Münze. Die Zeit Im selben Jahr fielen der 13. März und bung um sechs Wochentage, denn 125
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schon mehrere Würfe gewonnen. Atem- Freitag, außerdem der 13. September Somit war der 13. Februar 1904 ein
lose Stille, denn jetzt, der wichtigste, und 13. Dezember auf einen Sonntag. Samstag.
der letzte Wurf und … Hans gewinnt Rechnen wir nun weitere 100 Jahre
ihn! Meister im Münzwurf, und um Ein festes Datum verschiebt sich von zurück, so ergibt sich eine Verschiebung
72,25 Euro reicher als zu Spielbeginn. einem Jahr zum nächsten um einen um nur fünf Wochentage, denn in die-
Welches waren die Würfe, die Hans Wochentag, wenn kein Schalttag (29. sem Zeitraum lagen nur 24 Schaltjahre.
schon vor dem letzten Wurf gewann? Februar) dazwischen liegt, ansonsten Im Jahr 1804 war der 13. Februar also
um zwei Wochentage. Wenn sich also ein Montag und im Jahr 1704 schließ-
Schicken Sie Ihre Lösung in einem fran- der Geburtstag von Freitag (im Geburts- lich ein Mittwoch. Somit ergibt sich als
kierten Brief oder auf einer Postkarte an jahr) auf Mittwoch (im nächsten Schalt- Geburtsjahr das Jahr 1699.
Spektrum der Wissenschaft, Leserser- jahr) verschiebt, liegt das Geburtsjahr Dabei haben wir angenommen, dass
vice, Postfach 10 48 40, D- 69038 Hei- fünf Jahre vor dem nächsten Schaltjahr, während der ersten Lebensjahre des
delberg. denn das Geburtsjahr selbst war ja kein Astronomen keine Kalenderreform
Unter den Einsendern der richtigen Schaltjahr. durchgeführt wurde.
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»Wunder des Weltalls«. Der Rechtsweg Schaltjahr. Ausnahmen gibt es gemäß Die Gewinner der drei Einstein-Figuren
ist ausgeschlossen. Es werden alle Lö- dem gregorianischen Kalender in Jah- sind Sarah Riepenhausen, Münster; Al-
sungen berücksichtigt, die bis Dienstag, ren wie 1700, 1800 und 1900, deren fred Sieglhofer, Vilsbiburg; und Ingo
den 17. 10. 2006, eingehen. Jahreszahlen zwar durch 100, aber nicht Schiermeyer, Herzogenrath.

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110 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

ANDREAS RZADKOWSKI / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


dritten Körper hört die Idylle auf, und
Trojaner am Himmel Chaos droht auszubrechen.
Wenn die dritte Masse sehr klein ge-
gen die beiden anderen ist, kann man
Große Planeten bieten auf ihrer Umlaufbahn komfortable Plätze für ihre Bewegungen noch näherungsweise
kleine Begleiter. Derartige »Mitläufer« von Jupiter werden nach Strei- berechnen. Das ist Carl Friedrich Gauß
(1777 – 1855) mit dem Kleinplaneten
tern aus dem Trojanischen Krieg benannt.
Ceres gelungen. Kaum dass dieser am 1.
Tag des 19. Jahrhunderts von Giuseppe
Von Norbert Treitz lers Bahnen, und Isaac Newton hat nicht Piazzi entdeckt war, verschwand er noch
nur das Gravitationsgesetz gefunden, im selben Jahr (also 1801) hinter der

A uf den ersten Blick macht ein Pla-


netensystem einen sehr geordneten
Eindruck: Planet und Sonne umrunden
sondern auch nachgewiesen, dass daraus
die elliptische Form der Bahnen folgt –
zumindest wenn zwei Objekte ganz allein
Sonne und war erst einmal nicht mehr
aufzufinden. Gauß konnte zur Freude al-
ler Astronomen rechnerisch vorhersagen,
den gemeinsamen Schwerpunkt auf Kep- auf der Welt sind. Aber bereits mit einem wo der Planet wieder zu finden sein wür-
de. Das mathematische Instrument da-
für ist als Störungsrechnung bekannt ge-
Schwerkraft und Zweikörperproblem worden.
Darüber hinaus gibt es Inseln des ex-
Die Schwerkraft zwischen zwei Punkt- samen Schwerpunkt, so verhalten sich akt Berechenbaren im Meer des Chaos.
massen m und M im Abstand r ist deren Bahnradien r und R umgekehrt Schon 1772 hatte Joseph Louis Lagrange
Fg = m M G / r 2, mit der universellen proportional, also wie M : m. Für die (1736 – 1813, in Turin geboren als Giu-
Konstanten G. Für eine Kreisbahn mit Winkelgeschwindigkeit folgt (r + R) 3 ω2 seppe Luigi Lagrangia) exakt lösbare
Radius r und Winkelgeschwindigkeit ω = G (M + m). Im Grenzfall m klein ge- Sonderfälle für das so widerspenstige
braucht ein Objekt einer Masse m in gen M, also auch r klein gegen R ist Dreikörperproblem gefunden. Wenn
einem Inertialsystem die Zentripetal- dies das von Kepler 1619 beschriebene zwei schwere Punktmassen (zum Beispiel
kraft Fzp = m r ω2, die also bei festem ω (»dritte«) Gesetz. Das ist für Kreis- ein großer Planet M2 und sein Stern M1)
proportional zu r ist. bahnen leicht zu zeigen, gilt aber auch auf Kreisen um ihren gemeinsamen
Laufen zwei Objekte mit Massen m für Ellipsen mit ihren großen Halbach- Schwerpunkt laufen, gibt es fünf Punkte
und M auf Kreisen um ihren gemein- sen an Stelle der Bahnradien. in der gemeinsamen Bahnebene, auf de-
nen ein leichtes Objekt, das heißt eines,

112 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
l
Trojanischer Krieg am Himmel: M1 M2 L1 L2 L4 L5
Jupiter trennt die verfeindeten Tro-
Sonne Erde SOHO, Wilkinson Micro- (Staubwolken)
janer (links oben) und Griechen (rechts ACE wave Anisotropy
unten). Nur Patroklos verschläft das Probe (WMAP)
Wesentliche, und der hektische Hektor Mars – – 1999 UJ7 Eureka und andere
stürmt der schönen Helena hinterher. Jupiter – – über 900 griech. über 600
(Anti-) Trojaner (echte) Trojaner
und Hektor und Patroclus

r
Die Objekte in den Lagrange-Punk- Neptun – – vier namenlose –
ten L1 bis L 5 umkreisen die Masse Erde Mond – – Kordylewski-Wolken
M1 und laufen im Zeitmittel synchron zur Saturn Dione – – Helene Polydeuces
Masse M2. Natürliche Objekte in den
Thetys – – Telesto Calypso
Punkten L1 und L2 sind nicht bekannt.
QUELLE: EN.WIKIPEDIA.ORG/WIKI/LIST_OF_OBJECTS_AT_LAGRANGIAN_POINTS

dessen Anziehungskraft auf die beiden widerlegen, denn sie wäre von der Erde nicht allzu starken – Eigenantrieb entge-
großen vernachlässigbar ist, mit der glei- aus nicht zu sehen. genwirken. Sonden in der Nähe von L 1
chen Winkelgeschwindigkeit mitlaufen Die Punkte L 1 und L 2 dieses Systems haben eine konstante Sicht zur Sonne
kann: die Lagrange-Punkte L 1 bis L 5 (sie- sind dagegen astronautisch sehr interes- und eine direkte Funkverbindung zur
he Kasten unten). Drei davon (L 1 bis L 3) sant: Man kann dort Satelliten »parken«, Erde. Dort sind das Solar and Heliosphe-
liegen auf der Geraden, die durch die die dann – jedenfalls im Zeitmittel – ric Observatory (SOHO) und der Satellit
beiden schweren Punktmassen hindurch- synchron zur Erde um die Sonne laufen. ACE stationiert. L 2 bleibt dagegen von
geht, die zwei anderen (L 4 und L 5 ) span- Da die Gleichgewichte bei L 1 bis L 3 der Sonne im wahrsten Sinn des Wortes
nen mit ihnen jeweils ein gleichseitiges nicht stabil sind, ein Objekt aus ihnen unbehelligt, er läuft nämlich dauernd im
Dreieck auf. also durch geringste externe Einflüsse Erdschatten. Die Wilkinson Microwave
Fantasievolle Autoren denken sich in herausgetrieben würde, muss man die Anisotropy Probe (WMAP) misst von hier
L 3 des Systems Sonne-Erde eine Gegen- Satelliten »ausbalancieren«, das heißt aus die Anisotropie der kosmischen Hin-
erde. Deren Existenz ist nicht leicht zu Störungen ihrer Bahn durch einen – tergrundstrahlung. r

Lagrange-Punkte
Von den fünf Lagrange-Punkten, die zu den Massen M1 und M2
gehören (im Bild ist das Massenverhältnis M1 : M2 = 4 : 1), lie- Ortsraum, um
gen L1 bis L 3 auf der Geraden, die durch M1 und M2 und de- L4 S rotierend

ren Schwerpunkt S hindurchgeht.


Ihre Lage kann grafisch bestimmt werden (unten im Bild).
Die grüne Kurve gibt die Stärke des von M1 erzeugten Gravi-
Verbindungs-
tationsfelds Egrav = M1 G/r 2 an. m Egrav ist die Kraft, die M1 auf L3 S L1 M2 linie
eine Probemasse der Größe m im Abstand r ausüben würde; M1
L2
desgleichen die violette Kurve für M2. Die blaue Kurve ist die
durch Addition resultierende Gesamtfeldstärke. In den hier
betrachteten Fällen wirken alle Kräfte entlang der waagerecht
gezeichneten Verbindungslinie; wir können sie also einfach
wie Skalare mit Vorzeichen behandeln und nach oben und un- L5
ten auftragen.
Die orangefarbene Gerade gibt die Stärke ω2 r an, die das
Kraft nach rechts

SIGANIM / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: NORBERT TREITZ

Feld haben muss, um ein Objekt im Abstand r und mit der


gleichen Winkelgeschwindigkeit ω wie M1 und M2 auf einer
Kreisbahn um S zu halten. (»Um der Zentrifugalkraft die Waa-
Ortskoordinate
ge zu halten«, schreiben manche Lehrbücher und begeben auf der Ver-
sich damit auf eine mühsame und entbehrliche Wanderschaft L1 L2 bindungslinie
durch verschiedene beschleunigte Bezugssysteme. Zu Schein- L3 M1 S M2
Kraft nach links

kräften siehe auch »Dammis Abenteuer mit Scheinkräften«,


Spektrum der Wissenschaft 7/2005, S. 106).
Die Schnittpunkte der orangefarbenen Geraden mit der
blauen Kurve geben die drei ersten Lagrange-Punkte an. In
manchen Büchern findet man auch eine andere Nummerie-
rung dieser Punkte, mit L2 in der Mitte.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 113
Eine feste Dreiecksbeziehung
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

Befinden sich drei Massen auf den Ecken A, B und C eines die ganze Anordnung entlang jeder der drei Geraden »auf
gleichseitigen Dreiecks, so können sie mit gemeinsamer Messers Schneide« balancieren. Insbesondere ist ihr ge-
Winkelgeschwindigkeit auf Kreisbahnen um ihren gemein- meinsamer Schnittpunkt der Schwerpunkt aller drei Massen.
samen Schwerpunkt S laufen.
Um dies anschaulich zu zeigen, teilen wir die Seiten jeweils Auf MC wirken nach dem Gravitationsgesetz in Richtung A und B
im Verhältnis der Massen in die Abschnitte a, b und c, und Beschleunigungen proportional zu MA beziehungsweise MB,
zwar so, dass jedes Teilstück der zugehörigen Masse gegen- also auch proportional zu den angrenzenden Teilstrecken a
über liegt. Dann verbinden wir die Teilungspunkte und be- beziehungsweise b. Entsprechendes gilt für die anderen
kommen drei Parallelen zu den Seiten des Dreiecks. Von der Massen. Wir können den Maßstab, mit dem wir Beschleuni-
so gefundenen Geraden parallel zu MAMB beispielsweise ha- gungen durch Pfeile mit ihren Längen darstellen, so wählen,
ben die Massen MA und MB den Abstand c √3 /2 und MC den dass sie so lang sind wie unsere Teilstrecken a, b und c. So
Abstand (a + b ) √3 /2. sehen wir, dass die auf ein Objekt wirkende Gesamtbeschleu-
Stellen wir uns die drei Massen an den Ecken einer starren, nigung seiner Entfernung vom Schwerpunkt proportional ist
masselosen Dreiecksscheibe befestigt vor. Dann könnte man (Diagonale im Kräfteparallelogramm). Alle drei Objekte kön-
MC nen also – bei geeigneten Startbedingungen – mit gemein-
samer Winkelgeschwindigkeit konzentrisch um ihn kreisen,
b allein unter dem Einfluss dieser Schwerebeschleunigungen,
denn die Zentripetalbeschleunigung ist – ganz allgemein – bei
fester Winkelgeschwindigkeit proportional zum Radius.
a
SIGANIM / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: NORBERT TREITZ

Dabei müssen wir voraussetzen, dass keine Störungen


vom Rest der Welt kommen und dass die Parameter des Sys-
a
tems vollkommen exakt sind, denn diese Konstellation ist im
aC
Allgemeinen nicht stabil. Gegenüber den Dreiecken aus Son-
ne, Planet und einem Trojaner ist der hier erklärte Fall allge-
b
S meiner, denn die Massen dürfen beliebig sein: im Extremfall
E
D auch gleich oder völlig verschieden. Im Lagrange-Fall müssen
aA aB
c
dagegen die Massen stark abgestuft sein (»größer als 25« zu
c »1« bis »nahezu null«). Dafür muss aber – sozusagen zum
Ausgleich – das leichteste Objekt nicht genau in der Ecke sit-
b c a
MA zen, sondern kann im mitrotierenden Koordinatensystem um
MB sie herum pendeln.

r Die Umgebungen der Lagrange- Massenverhältnisse völlig fallen lassen, Kriegs benannt. Sinnigerweise hat man
Punkte L 4 und L 5 sind dagegen für hin- wenn diese drei Objekte allein auf der die beiden Lagrange-Punkte den beiden
reichend große Massenverhältnisse von Welt sind und »von Anfang an« wie ein Kriegsparteien zugeordnet, und zwar den
M1 und M2 (größer als etwa 25) stabil in starres gleichseitiges Dreieck um ihren vorauslaufenden Punkt L 4 dem Lager der
folgendem Sinn: Ein ganz leichtes Ob- gemeinsamen Schwerpunkt laufen. Die Griechen oder Danaer und den verfol-
jekt kann um sie herumlaufen, mal etwas Schwerkräfte sind dann nämlich genau genden Punkt L 5 den Trojanern. Da die-
weiter außen und schneller, mal etwas die zu den Bahnen passenden Zentripe- se Zuordnung jedoch nicht von Anfang
weiter innen und langsamer, insgesamt talkräfte (Kasten oben), und das Dreieck an üblich war, finden sich zwei so pro-
auf einer Bahn, die in einem mit- dreht sich starr weiter, wenn es nicht ge- minente Kriegsteilnehmer wie der Grie-
rotierenden Koordinatensystem wie der stört wird. che Patroklos, den die Astronomen mit
Umriss eines lang gezogenen Nieren- seinem lateinischen Namen Patroclus
tischs, einer Bohne oder einer Banane Trojanischer Friede (Nummer 61) bezeichnen, und sogar der
aussieht. Auf solchen Bahnen können Vor 100 Jahren, also 1906, entdeckte trojanische Prinz Hektor (624) auf pla-
passive Objekte wie Kleinplaneten oder Max Wolf einen Kleinplaneten, der im netarer Ebene unverhofft unter ihren
Satelliten laufen und wandern auch bei Mittel synchron zu Jupiter läuft, und Gegnern wieder.
kleinen Störungen nicht auf Nimmer- zwar 60 Grad voraus, das heißt um den Als Überbegriff wird die Bezeich-
wiedersehen davon. Im einfachsten Fall L 4 des Sonne-Jupiter-Systems. Er hat nung »Trojaner« nicht nur auf die zahl-
kann ein Kleinplanet auch genau auf L 4 den Namen Achilles und die Kleinpla- reichen Kleinplaneten vor und hinter Ju-
oder auf L 5 laufen, er bildet dann mit neten-Nummer 588. piter angewandt, sondern auf alle Ob-
der Sonne M1 und einem Großplaneten Seitdem sind über 1500 Kleinplane- jekte, die einem L 4- oder L 5-Punkt eines
M2 (zum Beispiel Jupiter) ein starr rotie- ten bei L 4 und L 5 von Sonne und Jupiter Paares aus einem Stern und einem Pla-
rendes gleichseitiges Dreieck. gefunden worden. Sie sind allesamt – so- neten oder aus einem Planeten und
Erstaunlicherweise kann man die fern sie nicht nur Nummern haben – einem seiner Satelliten zuzuordnen sind
einschränkenden Bedingungen für die nach Teilnehmern des Trojanischen (Tabelle S. 113).

114 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
L5

r
Auch Mars hat ein Anhängsel, das Die mittlere Position von Cruithne
den schönen Namen »Eureka« (»ich hab’s läuft von der Erde aus gesehen auf
gefunden«) trägt und die Kleinplaneten- einer hufeisenförmigen Bahn um die Son-
Nummer 5261 hat. ne. An den Enden des Hufeisens, in der Erde
Nicht nur jeder Planet hat gemein- Nähe der Lagrange-Punkte L 4 und L 5, L1 L3
L2
sam mit der Sonne seine fünf Lagrange- gleicht die Bahnform einer Niere, ähnelt
Sonne
Punkte, sondern auch jeder Mond mit also der Bewegung der Begleiter Jupi-
seinem Heimatplaneten. So sind je zwei ters. Der Punkt L3 wird lediglich passiert. Cruithne (gegenwärtige
kleine Saturn-Satelliten Trojaner von je- mittlere Position)
weils einem großen (Tabelle S. 113). Ka-
zimierz Kordylewski (1903 – 1981) fand L4

JOSÉ FRENDELVEL
1956 im vierten und fünften Punkt von
Mond und Erde – also von beiden unge-
fähr gleich weit entfernt – Staubwolken
etwa von der Größe unseres Planeten.
Diese sind jedoch extrem schwer zu se- gegenüber und ist damit weiter von ihr kleinen Nennern – führen meistens
hen und möglicherweise auch nur zeit- entfernt als Merkur und Venus. dazu, dass die kleineren Partner aus
weise wirklich vorhanden. Noch verwickelter verhält sich ein solchen Bahnen hinausgekegelt werden.
Vom System Sonne-Erde sind bisher mit rund fünf Kilometer Durchmesser In einigen Fällen sind sie auch stabilisie-
außer ähnlichen Wolken keine echten deutlich größerer, 1986 entdeckter Klein- rend, wie bei den Trojanern und den bei-
Trojaner bekannt. Man kennt aber seit planet mit der Nummer 3753 und dem den genannten Begleitern der Erde, aber
wenigen Jahren zwei erdnahe Kleinpla- Namen Cruithne (nach einem sagen- auch mit anderen rationalen Zahlen bei
neten, die mit großer Genauigkeit die haften König vom keltischen Stamm der dem Kleinplaneten Thule und denen der
gleiche Umlaufzeit haben wie wir und Pikten). Er hat eine so exzentrische Bahn, Hilda-Gruppe. Mehr darüber an dieser
uns gerade deswegen nicht gefährlich dass er der Sonne näher kommt als Venus Stelle in einem Monat. l
werden können. Der kleinere hat nur und sich weiter von ihr entfernt als Mars.
den vorläufigen Namen 2002 AA29 Allerdings kreuzt er deren Bahnen wegen
Norbert Treitz ist apl.
(2002 bezeichnet das Entdeckungsjahr). der Neigung seiner Bahnachse nicht
Professor für Didaktik der
Er ist nur rund 100 Meter groß, und sei- wirklich. In dem mit der Erde rotie- Physik an der Universität
ne Bahn um die Sonne ist noch etwas renden Koordinatensystem ist seine Bahn Duisburg-Essen. Seine
genauer kreisrund als unsere. In einem der Umriss einer sehr großen Bohne, die Vorliebe für erstaunliche
mit der Erde um die Sonne mitrotie- ihrerseits sehr langsam wandert und de- und möglichst freihändi-

AUTOR
ge Versuche und Baste-
renden Koordinatensystem steht er aber ren Mitte in etwa 395 Jahren eine Huf- leien sowie für an-
nicht etwa still. Vielmehr durchläuft er – eisenbahn durchläuft (Bild oben). Trotz schauliche Erklärungen dazu nutzt er nicht
vereinfacht gesagt – in 190 Jahren eine der komplizierten Bahn haben die Um- nur für die Ausbildung von Physiklehrkräften,
Bahn, die wie der Umriss eines Hufei- laufzeiten von Cruithne und Erde ebenso sondern auch zur Förderung hoch begabter
sens aussieht und die Lagrange-Punkte wie die der Trojaner und Jupiters eine Re- Kinder und Jugendlicher.
L 3 bis L 5 umschließt. Dabei kreist er zeit- sonanz von 1 : 1.
Weblinks zum Thema finden Sie bei www.
weise als Quasi-Satellit nahe um die Solche Resonanzen – allgemein: rati- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
Erde; zu anderen Zeiten steht er ihr fast onale Verhältnisse der Umlaufzeiten mit

Die neue Rolle der Wissenschaft als Innovationsmotor:


Erfahren Sie neue Modelle der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kommunen.
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Mit: Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident Sachsen-Anhalt


Arend Oetker, Präsident Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft

Europäischer Kongress der Wissenschaftsstädte


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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 115
z
SPEKTRUM-ESSAY REPRODUKTIONSMEDIZIN z
Kein Verbot
von Wunschkindern!
Leihmutterschaft, Eizellspende, Geschlechtswahl – nach
welchem Prinzip sollte der Gesetzgeber entscheiden,
welche reproduktionsmedizinischen Verfahren zugelassen
oder verboten werden sollten?

Von Edgar Dahl heute nicht nur wünschenswerter, sondern


auch unumgänglicher als je zuvor.

M
ädchen zur Rettung seines Bru- Westliche Gesellschaften sind pluralisti-
ders gezeugt«, »66-Jährige wird sche Gesellschaften. Sie bestehen aus Men-
Mutter«, »Gehörloses Paar will schen mit unterschiedlichen Weltanschau-
taubstummes Kind«. Derartige ungen und unterschiedlichen Moralvorstel-
Schlagzeilen sind nicht nur ein beredtes Zeug- lungen. Dementsprechend wird es unter
nis für das atemberaubende Tempo, mit dem ihnen stets Uneinigkeit darüber geben, was
sich die Fortpflanzungsmedizin entwickelt. moralisch richtig und was falsch ist. Wenn
Sie werfen auch die Frage auf, ob es irgendein ein Staat seinen Bürgern eine ganz bestimmte
konsensfähiges Prinzip gibt, mit dessen Hilfe Form der Moral aufzudrängen versuchte, wä-
der Gesetzgeber entscheiden könnte, welche ren soziale Konflikte unvermeidlich. Um dem
reproduktionsmedizinischen Technologien zu- vorzubeugen, muss die Politik pluralistischer
gelassen oder verboten werden sollten. Gesellschaften auf weltanschaulicher Neutra-
Das einzige Prinzip, das mir mit den lität, gegenseitiger Toleranz und größtmög-
Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates licher Freiheit beruhen: Jeder Bürger sollte

u
Bei einer repräsentativen wie der Bundesrepublik Deutschland verein- das Recht haben, sein Leben so zu leben, wie
Umfrage Ende 2003 in bar zu sein scheint, ist in dubio pro libertate, er es für richtig hält – solange er anderen kei-
Deutschland wurde eine Eizell- im Zweifel für die Freiheit. Es geht auf zwei nen Schaden zufügt. Der Staat sollte sich in
spende zumindest aus medizi- der Väter des Liberalismus, auf Wilhelm von die persönlichen Belange des Einzelnen daher
nischen Gründen mehrheitlich Humboldt (1767 – 1835) und John Stuart nur einmischen, um seine Bürger vor Scha-
befürwortet, etwa 13 Prozent Mill (1806 – 1873), zurück und hat nichts den durch andere zu bewahren.
stimmten für eine generelle von seinen Vorzügen verloren. Ganz im Ge- Das dem Liberalismus verpflichtete Scha-
Freigabe. genteil, seine konsequente Anwendung ist densprinzip hat fünf wichtige Implikationen:
r Die Beweislast hat stets derjenige zu tra-
gen, der sich für ein strafrechtliches Verbot ei-
Eizellspende ner bestimmten Handlungsweise ausspricht.
MIT FRDL. GEN. VON: Y. STÖBEL - RICHTER, S. GOLDSCHMIDT

Es ist an ihm zu zeigen, dass die zur Debatte


generelle Zulassung stehende Handlung tatsächlich eine Schädi-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK;

Zulassung aus
medizinischen Gründen gung anderer beinhaltet.
12,9
UND E. BRÄHLER, UNIVERSITÄT LEIPZIG

weiß nicht 35,9 r Die Argumente dafür, dass eine Hand-


16,8
2,0
lungsweise anderen schadet, müssen einsichtig
32,4 und überzeugend sein. Sie dürfen nicht auf
Zulassung aus vollkommen spekulativen soziologischen oder
Altersgründen psychologischen Annahmen beruhen.
sollte verboten bleiben
r Handlungsweisen, die ausschließlich dem
alle Angaben in Prozent
Handelnden selbst schaden, dürfen nicht un-

116 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
u
Mit welchem Recht darf
der Staat einer Frau
verbieten, ihrer unfruchtbaren
Freundin eine Eizelle (unten)
für eine künstliche Befruch-
tung zu spenden?

AG. FOCUS / SPL, YORGOS NIKAS


ter Strafe gestellt werden. Der Staat soll seine
Bürger nicht vor sich selbst, sondern nur vor
Übergriffen anderer schützen.
r Dass eine Handlungsweise anderen scha-
det, ist eine notwendige, aber keine hinrei-
chende Bedingung dafür, sie strafrechtlich zu
verbieten. Wenn die Kriminalisierung eines
Verhaltens mehr Schaden verursacht als ver-
hindert, widerspricht sie dem Sinn des Scha-
densprinzips und muss aufgehoben werden.
r Die bloße Tatsache, dass eine Handlung
den moralischen Überzeugungen anderer wi-
derspricht, reicht für ein strafrechtliches Ver-
bot nicht aus. In einer pluralistischen Gesell-
schaft kann die Aufgabe des Staates nicht in
der Durchsetzung einer bestimmten Moral
bestehen, sondern ausschließlich in der Ver-
hinderung einer Schädigung Dritter.

Moralistische und paternalistische


Gesetzgebung Aus urheberrechtlichen Gründen
Orientiert man sich am Prinzip in dubio pro können wir Ihnen die Bilder leider
libertate, dann sind das von der Bundesregie- nicht online zeigen.
rung erlassene Embryonenschutzgesetz und
die von der Bundesärztekammer erlassenen
standesrechtlichen Richtlinien zur Durchfüh-
rung der assistierten Reproduktion viel zu re-
striktiv. In einem freiheitlichen Rechtsstaat
kann es keine Rechtfertigung dafür geben,
unverheirateten Paaren, alleinstehenden Frau-
en oder lesbischen Paaren den Zugang zur
fortpflanzungsmedizinischen Behandlung zu
verweigern und international etablierte Ver-
fahren wie die Eizellspende, die Leihmutter-
schaft oder die Geschlechtswahl strafrechtlich
zu verbieten (siehe Kasten S. 119). Mit wel-
chem Recht maßen wir es uns beispielsweise
an, einen Arzt, der den Eltern dreier Söhne zu
der lange ersehnten Tochter verhilft, mit einer
Gefängnisstrafe von einem Jahr zu bedrohen?
Während das strafrechtliche Verbot der
Geschlechtswahl Ausdruck einer moralisti-
schen Gesetzgebung ist, sind die strafrecht-
lichen Verbote der Eizellspende und der Leih-
mutterschaft Ausdruck einer paternalistischen
Gesetzgebung. Mit welchem Recht, so muss
man wieder fragen, darf der Staat es einer
Frau untersagen, ihrer Freundin eine Eizelle
zu spenden oder ihrer Schwester ein Kind r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 117
MIT FRDL. GEN. VON: Y. STÖBEL - RICHTER, S. GOLDSCHMIDT
SPEKTRUM-ESSAY

Leihmutterschaft
z maßen alles andere als optimal für ein Kind
sein, wenn es von einer 55-jährigen Frau ge-
boren oder mit dem Sperma eines bereits ver-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK;

generelle Zulassung Zulassung aus


storbenen Ehemannes gezeugt wird. Doch es
medizinischen Gründen
UND E. BRÄHLER, UNIVERSITÄT LEIPZIG

weiß nicht 10,4


wäre einfach grotesk, wenn man behaupten
28,5
12,7 wollte, dass es besser für diese Kinder wäre, sie
4,8 hätten nie das Licht der Welt erblickt.
43,6 Zulassung aus
persönlichen Gründen Wem dieser Einwand zu »philosophisch«
erscheint, sei an die juristische Debatte um die
sollte verboten bleiben so genannten Wrongful-Life-Klagen erinnert.
alle Angaben in Prozent Als der französische Revisionsgerichtshof im
Jahr 2000 einem gelähmten, tauben, blinden

o
Eine Leihmutterschaft r auszutragen? Sicher, sowohl die Eizellspen- und geistig behinderten Kind eine Entschädi-
lehnten viele der Be- de als auch die Leihmutterschaft sind mit gung dafür zusprach, »geboren worden zu
fragten ab; ein insgesamt et- einem gewissen medizinischen Risiko verbun- sein«, gab es einen derartigen Aufschrei des
wa gleich hoher Prozentsatz den. Doch in einem freiheitlichen Rechtsstaat Entsetzens, dass sich die französische National-
befürwortete sie aber bei be- kann die Entscheidung darüber, ob eine Frau versammlung genötigt sah, sogleich einen neu-
stimmten Gründen oder ge- die mit diesen Eingriffen verbundenen Ri- en Gesetzentwurf zu verfassen, in dem es ex-
nerell. siken in Kauf nehmen sollte, nicht beim Ge- plizit hieß, »dass niemandem durch seine Ge-
setzgeber, sondern allein bei der Betroffenen burt geschadet werden kann«. Wie aber passt
liegen. Es ist schwer einzusehen, dass eine die Behauptung, es schade einem Kind, von
Frau zwar den Ärmelkanal durchschwimmen einem lesbischen Paar großgezogen zu werden,
oder den Mount Everest erklimmen, nicht zu der Behauptung, dass man keinem Kind
aber eine Eizelle spenden oder ein Kind für durch seine Geburt schaden könne? Ist unter
eine andere austragen darf. zwei Müttern aufzuwachsen tatsächlich ein
schrecklicheres Schicksal, als gelähmt, taub,
Diskriminierung von Paaren blind und geistig behindert zu sein?
ohne Trauschein Die standesrechtlichen Regelungen zum
Befürworter des Status quo werden vermut- Schutz des Wohlergehens des Kindes beruhen
lich erwidern, dass die einschlägigen Gesetze aber nicht nur auf einem philosophischen Pa-
ja nicht nur die Frauen vor einer möglichen radoxon, sie führen auch zu einer vollkom-
Ausbeutung ihres Körpers bewahren sollen, men ungerechtfertigten Diskriminierung un-
sondern vor allem auch dem Schutz des Kin- fruchtbarer Paare. Indem beispielsweise Paare
des dienen. Doch wie entwicklungspsycholo- ohne gültigen Trauschein erst den Segen der
gische Untersuchungen aus Großbritannien zuständigen Ethikkommission einholen müs-
gerade gezeigt haben, erfreuen sich die mit sen, bevor man sie zur reproduktionsmedizi-
Hilfe von Eizellspende und Leihmutterschaft nischen Behandlung zulässt, werden sie gewis-
gezeugten Kinder derselben physischen und sermaßen doppelt bestraft: Als wäre es nicht
psychischen Gesundheit wie die auf natür- schon Strafe genug, unfruchtbar zu sein und
lichem Wege gezeugten Kinder. sich den Kosten und Mühen einer künstli-
Zudem beruhen alle Gesetze, die wir im chen Befruchtung unterziehen zu müssen,
Namen des Wohlergehens des Kindes erlas- werden sie zudem noch einem »Eignungstest«
sen, auf einem offenkundigen Paradoxon: In- unterworfen, den sich jedes Paar, das auf na-
sofern sie nämlich zur Folge haben, dass dieje- türlichem Wege Kinder bekommen kann, mit
nigen, die durch sie geschützt werden sollen, Recht verbitten würde. Zudem ist es ange-
gar nicht erst zur Welt kommen, implizieren sichts der wachsenden Zahl allein erziehender
sie, dass es besser für die Kinder wäre, nie ge- Mütter und der gesetzlichen Anerkennung
boren zu werden. Kaum jemand wird bezwei- homosexueller Partnerschaften schlichtweg
feln, dass es besser für ein Kind ist, wenn es anachronistisch, wenn man alleinstehenden
von seinen biologischen Eltern aufgezogen Frauen und lesbischen Paaren länger die Hilfe
wird – doch wer wollte allen Ernstes behaup- zur Mutterschaft vorenthalten wollte.
ten, ohne einen Vater aufwachsen zu müssen Dass es keine Rechtfertigung dafür gibt,
oder von zwei Müttern großgezogen zu wer- alleinstehende Frauen oder lesbische Paare
den, sei ein derart unzumutbares Schicksal, von der reproduktionsmedizinischen Behand-
dass es besser für diese Kinder wäre, nie gebo- lung auszuschließen, bedeutet selbstverständ-
ren zu werden? lich nicht, dass jeder Arzt dazu verpflichtet
Von diesem Paradoxon sind selbstver- sein sollte, sie zu behandeln. Wer es nicht mit
ständlich auch die standesrechtlichen Verbote seinem Gewissen vereinbaren kann, einem les-
der postmenopausalen und der posthumen bischen Paar zu einem Kind zu verhelfen, dem
Reproduktion betroffen. Es mag zugegebener- sollte es selbstverständlich freistehen, ihm sei-

118 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
ne Hilfe zu verweigern. Wer aber bereit ist, zung berauben. Mit anderen Worten: Selbst
solchen Paaren zu helfen, sollte weder mit wenn 99,9 Prozent unserer Bevölkerung ge-
strafrechtlichen noch mit standesrechtlichen gen eine Behandlung gleichgeschlechtlicher
Sanktionen bedroht werden. Paare wäre, könnte das keine Rechtfertigung
Freiheit hat bekanntlich ihren Preis. Das dafür sein, lesbischen Frauen den Zugang zur
ist bei der Fortpflanzungsfreiheit nicht anders. Reproduktionsmedizin zu verwehren.
Eine unerlässliche Bedingung, die an den un- Sollten vielleicht Ethikkommissionen über
gehinderten Zugang zur reproduktionsmedi- die gesetzliche Zulässigkeit reproduktions-
zinischen Behandlung geknüpft sein sollte, medizinischer Technologien entscheiden? Be-
lautet: Für die Kosten muss jeder selbst auf- dauerlicherweise beschäftigen sich solche Gre-
kommen. So wie es nicht angeht, dass Chris- mien zumeist mit der falschen Frage. In aller r
ten, die sich dem Prinzip der Heiligkeit des
menschlichen Lebens verpflichtet fühlen, mit
ihren Steuergeldern Abtreibungen finanzieren, Reproduktionsmedizinische Verfahren
so sollten jene, die eine Geschlechtswahl als
Gottspielen betrachten, auch nicht dafür zah- r Die In-vitro-Fertilisation (IVF) kommt für Paare in Frage, die auf natürlichem
len, dass sich andere ihren Traum von einer Wege keine eigenen Kinder bekommen können. Bei der IVF werden der Frau
Tochter erfüllen. mehrere Eizellen entnommen und in einem Petrischälchen mit den Samenzel-
len des Mannes befruchtet. Die auf diese Weise entstehenden Embryonen
Schutz vor werden dann in die Gebärmutter der Frau übertragen.
Tyrannei der Mehrheit r Die Eizellspende kommt für Frauen in Frage, die nach einer Eierstockopera-
Wie diese Bemerkungen zum Arztvorbehalt tion keine eigenen Eizellen mehr produzieren können. Dank gespendeter Ei-
und zur Finanzierung vielleicht deutlich ge- zellen, die im Rahmen einer IVF mit den Spermien des Ehemannes befruchtet
macht haben, ist eine moralische und recht- werden, können solche Frauen ein Kind bekommen, das dann zumindest mit
liche Verankerung des Prinzips in dubio pro li- dem Partner genetisch verwandt ist.
bertate tatsächlich in unser aller Interesse, ganz r Die Leihmutterschaft kommt für Frauen in Frage, die mehrere Fehlgeburten
gleich, ob wir uns nun als konservativ oder erlitten haben und offenbar keine Kinder austragen können. Die im Rahmen
progressiv betrachten. Es gibt uns die Freiheit, der IVF gezeugten Embryonen werden hierzu auf eine andere Frau übertragen,
unser Leben so zu leben, wie wir es für richtig die sie austrägt. Nach der Geburt werden die Kinder dann der genetischen
halten, solange wir anderen keinen Schaden Mutter übergeben.
zufügen. Und der einzige Preis, den wir hier- r Die Präimplantationsdiagnostik (PID) kommt für Paare in Frage, die Träger einer
für entrichten müssen, besteht darin, es tole- schweren Erbkrankheit sind und gerne sicherstellen möchten, dass sie ihre Er-
rieren zu müssen, dass andere ihr Leben in ei- krankung nicht an ihre Kinder weitergeben. Hierzu werden den im Rahmen der
ner Weise leben mögen, die wir für falsch, un- IVF erzeugten Embryonen ein oder zwei Zellen entnommen und genetisch un-
sittlich oder gar gottlos halten, ohne deshalb tersucht. Anschließend werden der Frau nur diejenigen Embryonen in die Gebär-
jedes Mal gleich nach der Polizei rufen zu mutter übertragen, die frei von der Erkrankung sind.
können. Ich denke, dies ist ein Handel, den r Die Geschlechtswahl kommt für Paare in Frage, die bereits zwei oder drei
niemand ausschlagen kann. Kinder desselben Geschlechts haben und sich noch ein Kind des jeweils ande-
Die Vorzüge des Prinzips werden noch au- ren Geschlechts wünschen. Hierzu werden die Embryonen mit Hilfe der PID
genfälliger, wenn man die möglichen Alterna- auf ihre Geschlechtschromosomen untersucht. Anschließend werden der Frau,
tiven betrachtet. Da wir in einer Demokratie je nach Wunsch, ausschließlich männliche oder ausschließlich weibliche Em-
leben, so meinen viele, sollte das Majoritäts- bryonen übertragen. Seit einiger Zeit kann man die Geschlechtswahl auch
prinzip darüber entscheiden, was gesetzlich ohne eine vorherige IVF und PID durchführen. Bei diesem neuen Verfahren
zugelassen oder verboten wird. Stimmt eine werden die Spermien, die ein X-Chromosom tragen, von den Spermien, die
Mehrheit beispielsweise für die Präimplantati- ein Y- Chromosom tragen, mit Hilfe eines zellsortierenden Geräts getrennt.
onsdiagnostik, dann sollte sie erlaubt sein – Frauen, die einen Sohn haben möchten, können sich dann mit den Y-Spermien
wenn nicht, sollte sie besser verboten bleiben. befruchten lassen – und Frauen, die sich eine Tochter wünschen, mit den X-
Doch so kann nur jemand reden, der nicht Spermien.
weiß, wo er lebt. Wir leben nämlich in einer
Demokratie, in der dem Majoritätsprinzip
durch die in der Verfassung garantierten
Was ist wo erlaubt?
Rechte deutliche Grenzen gezogen sind. Al-
lein die Anerkennung individueller und Eizellspende Leihmutter- Geschlechts- Klonen
schaft wahl
grundgesetzlich geschützter Rechte bewahrt
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT,

uns sowohl vor einer Diktatur der Re- USA ✓ ✓ ✓


gierenden als auch vor einer Tyrannei der Großbritannien ✓ ✓
NACH: EDGAR DAHL

Mehrheit. Und so wie eine noch so große ✓


Schweden
Mehrheit eine Minderheit nicht einfach ihres
Rechts auf Leben berauben kann, so kann sie Deutschland
diese auch nicht ihres Rechts auf Fortpflan-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006 119
E. DAHL, M. BEUTEL, K.-D. HINSCH, B. BROSIG, IN: REPRO-
DUCTIVE BIOMEDICINE ONLINE 2004, BD. 9, HEFT 6, S. 600
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH:
SPEKTRUM-ESSAY

Geschlechtswahl
z nem Nachwuchs zu verhelfen, solange auf
dieser Welt Millionen hungernder Kinder le-
ben, die adoptiert werden könnten. Wenn die
strikt verboten
weiß nicht Briten dennoch ein für deutsche Verhältnisse
3,0 32,0 überaus liberales Gesetz verabschiedet haben,
auch aus
11,0 kann dies wohl nur darauf beruhen, dass sie
sozialen Gründen
bereit waren, die individuellen Rechte ihrer
54,0
Bürger zu respektieren und deren Fortpflan-
Zulassung aus zungsfreiheit nur insoweit zu beschneiden, als
medizinischen Gründen es zur Verhinderung einer Schädigung Dritter
alle Angaben in Prozent unbedingt erforderlich ist.
Das Select Committee on Science and

o
Bei einer Umfrage zur r Regel versuchen sie zu entscheiden, ob Technology des britischen Unterhauses hat
möglichen Geschlechts- ein bestimmtes Verfahren moralisch zulässig sich unlängst denn auch klar zu seinem li-
wahl vor einer künstlichen Be- oder unzulässig ist. Angesichts der Tatsache, beralen Ansatz bekannt. In seinem am 24.
fruchtung stimmten 54 Prozent dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft März 2005 vorgelegten Bericht »Human Re-
für eine Zulassung aus medizi- leben, in der die Menschen unterschiedliche productive Technologies and the Law« erklär-
nischen Gründen, 11 Prozent Moralvorstellungen haben, wird sich über die- te es, dass es keine Rechtfertigung dafür ge-
für eine generelle Freigabe. se Frage jedoch nie Einigkeit erzielen lassen. be, den Zugang zur reproduktionsmedizini-
Die Frage, die solche Kommissionen tatsäch- schen Behandlung auf heterosexuelle Ehepaa-
lich prüfen sollten, lautet daher vielmehr: re zu beschränken. Entsprechend forderte es,
Würde die Zulassung eines bestimmten repro- alleinstehende Frauen und lesbische Paare
duktionsmedizinischen Verfahrens nachweis- mit Kinderwunsch gleichfalls zu behandeln.
lich eine Schädigung Dritter beinhalten und Darüber hinaus schlug es vor, neben der be-
somit überhaupt die unerlässliche Vorausset- reits seit vielen Jahren praktizierten Eizell-
zung für eine strafrechtliche Sanktionierung spende und Leihmutterschaft auch die vorge-
erfüllen? burtliche Geschlechtswahl zuzulassen (siehe
In Kanada meinte die Royal Commission Kasten S. 119).
on New Reproductive Technologies, die Ge- In einer freien Gesellschaft müssen wir da-
setze eines demokratischen Staates sollten die mit leben, dass Menschen vieles tun, mit dem
Werte seiner Bürger widerspiegeln. Das ist ge- wir nicht einverstanden sind. Wir mögen ihre
Dr. Edgar Dahl wiss schön formuliert, setzt aber voraus, dass Entscheidungen missbilligen und – vorausge-
ist Wissenschaft- ein Staat tatsächlich auf gemeinsamen Werten setzt, sie sind bereit zuzuhören – mit ihnen
licher Mitarbeiter beruht. Pluralistische Gesellschaften sind je- darüber reden; doch solange sie mit dem, was
am Zentrum für
Gynäkologie der
doch – per Definition – Gesellschaften mit sie tun, anderen keinen Schaden zufügen, ha-
Justus-Liebig-Uni- unterschiedlichen Werten. Daher läuft das Be- ben wir kein Recht, sie mit Gewalt daran zu
versität Gießen. Er mühen, Gesetze auf gemeinsame Werte grün- hindern, und zwar selbst dann nicht, wenn
hat gerade ein vom Bundesmini- den zu wollen, in aller Regel wieder nur da- dies zum Wohle der Gesellschaft oder gar zu
sterium für Bildung und Forschung rauf hinaus, dass der Staat es einer Mehrheit ihrem eigenen Besten wäre. Heiße ich es gut,
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

gefördertes Projekt mit dem Titel


»ReproGenEthics: Fortpflanzungs-
gestattet, einer Minderheit ihre Werte aufzu- dass einige Paare von der Reproduktionsmedi-
medizin in einer pluralistischen Ge- zwingen. zin Gebrauch machen, um das Geschlecht ih-
sellschaft« abgeschlossen. Neben rer Kinder auszuwählen? Nein! Doch dies
Fragen der Bioethik beschäftigen Verbrechen ohne Opfer gibt mir nicht das Recht, einen Arzt, der be-
ihn Probleme der Moralphilosophie, In Großbritannien beschloss das Committee reit ist, ihnen zu helfen, ins Gefängnis werfen
Rechtsphilosophie und Religions-
philosophie. of Inquiry into Human Fertilisation and zu lassen.
Embryology, dass reproduktionsmedizinische Im Vergleich mit muslimischen Ländern,
Bioethik zwischen Natur und Inte- Verfahren nur dann zugelassen werden soll- in denen beispielsweise Ehebruch noch be-
resse. Von Dieter Birnbacher. Suhr-
kamp, Frankfurt 2006 ten, wenn sie »notwendig und wünschens- straft wird, halten wir uns viel darauf zugute,
wert« sind. Doch wie genau soll man diese dass hier zu Lande ähnlich »überholte« Para-
Ethik des Embryonenschutzes. Von
hoffnungslos dehnbaren Begriffe verstehen? grafen längst aus dem Strafgesetzbuch gestri-
Norbert Hoerster. Reclam, Stuttgart
2002 Darüber, was »wünschenswert« ist, werden chen wurden. Promiskuität, Prostitution, Por-
Anglikaner, Agnostiker, Atheisten, Hinduisten nografie und Homosexualität gelten heute,
Forschungsobjekt Embryo. Von
Reinhard Merkel. dtv, München
und Muslime mit an Sicherheit grenzender sofern sie einvernehmlich und unter Volljäh-
2002 Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Ansicht rigen erfolgen, als »Verbrechen ohne Opfer«.
gewesen sein. Selbst bei dem weitaus unzwei- Doch was sind die Eizellspende, die Leih-
Eine Frage des Lebens. Von Anton
Leist. Campus, Frankfurt 1990
deutigeren Begriff »notwendig« dürfte eine mutterschaft und die Geschlechtswahl ande-
nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen res als opferlose Verbrechen? Es ist daher an
Weblinks zum Thema finden Sie bei nach wie vor der Ansicht sein, es sei schlicht der Zeit, dass das Embryonenschutzgesetz
www.spektrum.de unter »Inhalts-
verzeichnis«.
und einfach nicht notwendig, unfruchtbaren endlich einem neuen, liberalen Fortpflan-
Paaren mit kostspieligen Methoden zu eige- zungsmedizingesetz weicht. l

120 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q OKTOBER 2006
I M N O V E MBER - HEFT 2006 AB 2 4 . OKTOBER AM K I O S K
V O VR OSR SC C HH AAU U

Die Quark-Ursuppe kocht

JEAN-FRANÇOIS PODEVIN
In gigantischen Teilchenbeschleunigern wiederholen
Physiker den Urzustand der Materie. Dieses Quark-Gluon-
Medium verhält sich ganz anders als gedacht

WEITERE THEMEN IM NOVEMBER Mutterschaft –


Gewinn fürs Gehirn
Ölpreis und Demokratie Zumindest bei Tieren bringen
Ein Demokratiedefizit in den Ölförder- Schwanger- und Mutterschaft einen
ländern des Nahen Ostens ist ursäch- Zugewinn an intellektuellen Leistun-
lich dafür, dass Erdöl jahrzehntelang gen. Auch das menschliche Gehirn
unrealistisch billig war. Der Übergang scheint sich unter den Hormonein-
zu einem funktionierenden Ölmarkt ist flüssen zu verändern
von Instabilität bedroht

Zum Verlieben schön


JUSTINE COOPER

Verhaltensbiologen ergründen
die Geheimnisse der menschlichen
Attraktivität
PAT RAWLINGS / SAIC

Aus urheberrechtlichen Gründen


können wir Ihnen die Bilder leider
Schutzschilde für Raumfahrer
nicht online zeigen. Wird der bemannte Flug zum Mars scheitern, weil
die kosmische Strahlung das Leben der Raumfahrer
bedroht? Existierende Schutzmaßnahmen reichen
jedenfalls kaum aus
AKG BERLIN

120

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