24 CHORPRAXIS
Foto: Martin Gemeinhardt
Über allen Wipfeln ist Schütz
Porträt des Heinrich-Schütz-Ensembles aus Vornbach im Bayerischen Wald
„Wo, bitteschön, liegt Vorn-
bach?“ Nicht nur die Teilneh-
mer des Internationalen
Chorwettbewerbs im irischen
Cork Anfang Mai brauchten
Geographie-Nachhilfeunter-
richt, um die Heimat des dies-
jährigen 1. Preisträgers zu lo-
kalisieren. Auch die meisten
deutschen Chorbegeisterten
hierzulande sind da wohl
überfordert. Also: Das Hein-
rich-Schütz-Ensemble Vorn-
bach gründete sich im Jahr
1993 in jenem niederbayeri-
schen Grenzort Vornbach, der
zur Gemeinde Neuhaus am
Inn zählt und 1977 Bundes-
sieger im Wettbewerb „Unser
Dorf soll schöner werden“
wurde. Zum Landkreis Passau
gehörig, liegt dieser Ort direkt
an der österreichischen Gren-
ze. Kultureller Schauplatz ist
Martin Steidler ist Gründer und
Dirigent des Heinrich-Schütz-
Ensembles
er seit alters her, vor allem
durch das dortige Benedikti-
nerkloster und den Besitz ei-
ner wunderbaren Barockorgel
aus der Passauer Orgelbau-
schule.
So abgelegen der Ort Vorn-
bach ist, so überraschend kam
auch der Erfolg dieses Chores
beim Wettbewerb in Irland,
wie Pressesprecherin Veroni-
ka Ott erzählt: „Das war abso-
lut unglaublich. Wir hatten
damit nie gerechnet.“ Vor al-
lem die letzten Tage und Wo-
chen vor dem Wettbewerb
hat sie als intensive Erfahrung
erlebt: „Was sich da noch alles
getan hat, was sich gesteigert
hat, was an Qualität heraus-
kam, an Gruppendynamik,
wie man sich zusammenge-
rauft hat – das ist eine Erfah-
rung, die ich kaum beschrei-
ben kann.“ Dass es nicht nur
zum ersten Preis reichte, son-
dern auch zum Gewinn des
Sonderpreises für die beste
beim Wettbewerb dargebote-
ne Interpretation eines Wer-
kes von Heinrich Schütz („Die
mit Tränen säen“), erfüllt
wohl auch Chorgründer Mar-
tin Steidler mit besonderem
Stolz, der vor 17 Jahren den
Chor nach diesem großen
Komponisten des Barock und
der protestantischen Kirchen-
musik benannte: „Heinrich
Schütz war mein persönliches
Steckenpferd. Das war der
SEPTEMBER 2010 NEUE CHORZEIT
Komponist, der mich am
meisten beschäftigt hat, über
den ich am meisten selber ge-
forscht und gearbeitet habe
und zu dem ich auch die
stärkste Affinität gespürt ha-
be, weil ich eben in dieser Mu-
sik eine ganz starke Wurzel
für die spätere europäische
Chormusik gesehen habe“.
Nach wie vor leitet Martin
Steidler das Heinrich-Schütz-
Ensemble Vornbach, das in
kleiner Besetzung begann und
sich zunächst ausschließlich
auf die Alte Musik konzentrier-
te. Fruchtbare „Umwege“ ste-
hen dabei am Beginn der
Chorgründung des Heinrich-
Schütz-Ensembles Vornbach.
Martin Steidler hatte zunächst
nach seiner Passauer Schulzeit
in Wien nicht etwa Chorlei-
tung, sondern Klavier studiert,
aber auch Erfahrungen als
Sänger im Arnold-Schönberg-
Chor gemacht und dort wich-
tige Dirigenten kennengelernt,
unter anderem Nikolaus Har-
noncourt. Nach dem Studium
kam er in die Nähe von Passau
zurück, um an einer Musik-
schule auf dem Land zunächst
Klavier zu unterrichten. An ei-
nem musischen Gymnasium
in Passau setzte er seinen be-
ruflichen Weg dann fort. Ein
Spezialstudium im Fach Chor-
leitung holte er dann erst be-
rufsbegleitend an der Hoch-
schule für Katholische Kirchen-
musik und Musikpädagogik in
Regensburg nach, nachdem er
schon 10 Jahre im Beruf stand
und vielfältig als Chorleiter ge-
arbeitet hatte.
Von 12 auf 200
in 15 Jahren
In seinem Wohnort Vornbach
verfolgte Martin Steidler mu-
sikalisch zunächst etwas ganz
Persönliches: „Am Anfang
hatte ich eigentlich gar kei-
nen Chor im Sinn, sondern
wollte selbst ein neues Pro-
jekt als Sänger machen.“
Nach einem Jahr bereits hatte
sich im Wohnort Vornbach
ein Kreis passionierter Sänge-
rinnen und Sänger gebildet.
Ehemalige Schulfreunde aus
Passau kamen hinzu: „Wir fin-
gen dann tatsächlich mit
zwölf Leuten an.“ Das war im
Februar 1993. Erster Proben-
ort war das private Architek-
turbüro von Erwin Wenzl, ei-
nem der Gründungsmitglie-
der. „Da fingen wir dann an,
Alte Musik zu singen mit Wer-
ken von Schütz und Byrd.“
Schnell fanden erste Konzer-
te bereits Beachtung in der
Region, besonders in Passau,
dessen reichhaltiges Kulturle-
ben bis heute besonderer Be-
zugspunkt für den Chor ist –
man denke nur an die „Fest-
spiele Europäische Wochen
Passau“.
NEUE CHORZEIT SEPTEMBER 2010
Das Heinrich-Schütz-Ensemble
Vornbach trifft sich zu Proben-
phasen an den Wochenenden –
oder auf Chorwettbewerben,
wie auf diesem Bild in Spittal/
Österreich 2007, wo erstmals ein
internationaler 1. Preis gefeiert
werden konnte.
Innerhalb von drei Jahren
entwickelte sich der Chor ge-
radezu explosionsartig. Der
Wirkungsraum erstreckte sich
sehr schnell auf das ganze
Dreiländereck (Deutschland,
Tschechien, Österreich) mit
Passau als Zentrum: „Trotz-
dem“, so Martin Steidler, „ist
Vornbach natürlich immer ein
fester Standpunkt geblieben
und wir haben uns dort sehr
engagiert, eine Kulturszene
aufzubauen. Ich war damals
aktiv bei der Gründung des
Kulturfördervereins der Ge-
meinde Neuhaus dabei, zu
der Vornbach gehört.“ Es gibt
also das treue Publikum aus
der engeren Region, das man
sich auch ein wenig „erzogen“
hat. Lebendige Kulturarbeit
auf dem Land, in der Provinz,
ist also möglich, gerade durch
chormusikalisches Wirken.
Wer heute Chöre leitet, so
Martin Steidler, müsse auch
Unternehmer sein, gerade bei
großen oratorischen Projek-
ten. Veronika Ott betont zu-
dem, dass das ganze nur funk-
tioniere, weil im
Chor viele Sängerinnen und
Sänger organisatorische Auf-
gaben übernehmen: „Eine Be-
sonderheit des Chores ist un-
ser großes Netzwerk, nicht
nur an Sängern, sondern auch
an Leuten, die bereit sind, sich
wirklich zu engagieren, bis ins
kleinste Detail. Der eine küm-
mert sich um die Finanzen,
der nächste um die Öffent-
lichkeitsarbeit, der dritte um
Sponsorengelder oder einen
Kirchenraum für Konzerte.“
Von 18 bis 65 Jahren sind
alle Altersgruppen im Chor
vertreten, auch alle Berufs-
stände sind hier zu finden.
Viele Chorsängerinnen und
-sänger wurden besonders zu
Beginn von der Uni Passau re-
krutiert. Um diese auch nach
Ende ihres Studiums halten zu
können, ist der Chor seit 2006
auf projektbezogenes Proben
an Wochenenden umgestie-
gen. Die Proben selbst finden
nun in Passau statt. Immerhin
reisen die Sängerinnen und
Sänger mittlerweile sogar aus
Prag oder München zur Probe
an. Für Martin Steidler ist die-
ser Probenmodus einer der
entscheidenden Momente da-
für, die künstlerische Qualität
des Chores steigern zu kön-
nen: „Eben dadurch“, so Steid-
ler, „dass wir auf dieses Weise
die Möglichkeit anbieten kön-
nen, dass auch auswärtige
Leute mitsin-
gen kön-
nen und
dass wir diese lange im Chor
halten können. Auch die viel
intensivere Arbeit eines sol-
chen Wochenendes hat sich
absolut bewährt.“ Mittlerwei-
le gibt es einen „Pool“ von fast
200 Sängerinnen und Sän-
gern, aus dem heraus die ein-
zelnen Projekte besetzt wer-
den. A-cappella-Programme
und oratorische Projekte lau-
fen zeitlich parallel, ohne sich
gegenseitig auszuschließen.
Zurück zu den
Ursprüngen mit
Chormusik a cappella
Nach der A-cappella-Grün-
dungsphase und einer Periode
mit chorsinfonischen Werken
(2. Sinfonie von Gustav Mah-
ler) hat seit 2003/2004 eine
Rückbesinnung auf Chormu-
sik a cappella stattgefunden
– mit spürbarer Qualitätsstei-
gerung. Seit dieser Zeit
nimmt das Heinrich-Schütz-
Ensemble an Wettbewerben
teil und pflegt intensive Ko-
operationen mit Chören wie
Juvenis (Diersbach), Laetitia
(Prag) oder Balsis (Riga). Einen
weiteren Sprung nach vorn
machte der Chorklang, nach-
dem vor drei Jahren die
Stimmbildung zur festen Ein-
richtung wurde. „Ein-
zel- und
Gruppen-
stimm-
bildung
sowie
CHORPRAXIS 25
Stimmproben haben den
Chor deutlich nach vorne ge-
bracht“, stellt Steidler fest. Die
sängerische Kompetenz des
Einzelnen sei ganz klar der
Schlüssel zum Erfolg. „Jeder
Sänger muss einfach lernen,
mit seiner Stimme umzuge-
hen. Die Färbung von Vokalen
und andere Grundlagen der
Artikulation spielen eine ganz
große Rolle.“ Diese sängeri-
schen Fähigkeiten müssen
und sollen dann ganz be-
wusst eingesetzt werden, vor
allem im Sinne der Homoge-
nität des Chorklanges.
Das traditionelle Reper-
toire mit Schütz, Bach,
Brahms, Mendelssohn und
Bruckner liegt Martin Steidler
besonders am Herzen. In der
Neuen Musik hat der Chor da-
gegen noch Nachholbedarf.
Ein besonderer Meilenstein
war zuletzt Arnold Schön-
bergs „Friede auf Erden“, ein
Werk des Umbruchs hin zur
klassischen Moderne. Aktuell
setzt sich der Chor außerdem
mit Thomas Jennefelts „Ge-
sängen am ersten Abend des
Krieges“ (2003) auseinander,
das nur auf Vokalisen auf-
baut. Für Martin Steidler gilt
im Bereich der neuen Chor-
musik folgende Maxime: „Ich
bin immer auf der Suche nach
Kompositionen mit mehreren
Ebenen, mit einer Konstrukti-
on, die einerseits klangliche
Schönheit, andererseits aber
auch ein tiefer gehendes
System hat.“
Tim Koeritz
Foto: Veronika Ott