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Rüdiger Bubner

Ästhetische Erfahrung

Ästhetische Etfnhrung wird im vorliegenden Band betrachtet als ein


Thema mit Variationen. Von der Sache her verbietet sich eine geschlos­
sene Untersuchung, die über die offene Seite jenes lebendigen Kontakts,
in dem allein wir Kunst tatsäeblich begegnen, souverän hinweggeht und
aus theoreti schen Erwägungen verfügt, was Kun st sei.
Diese Form der Ästhetik vermag angesichts der Moderne nicht zu über­
zeugen, deren über alle Ava ntgard en weiterwirkende Kraft doch darin
besteht, ständig auf Neues aufmerksam zu machen. Diesem erstaunli­
chen Phänomen wird nur eine Analyse ästhetischer Etfahrung gerecht.
Da wir heute nicht wis sen, was wir morgen unter dem Nomen der Kunst
v orfin den werden, genügt demjenigen, der verstehen will, nicht das
Dekret des P rod uzenten.
Aus demselben Grunde bietet auch das objektivierende Vertrau en auf
Werke, das der nachfolgenden Klassifikation in Literarur- und Kunstge­
schichte eigentümlich ist, keine wirklich tra gfäh i ge Grundlage. Aufgabe
der Ästhetik ist es also, nicht bloß hinzunehmen, was als Kunst unmittel­
bar auftritt oder was als Werk ex p ost klassifiziert 'vi rd , sondern zu be­
greifen, was in der ästhet.ischen Etfahrung geschieht. Suhrkamp
Inhalt

Vorwon
7
Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik
9
Zur Analyse ästhetischer Erfahrung
52

Kann Theorie ästhetisch werden�


Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos
70

Moderne Ersatz.funktionen des Ästhetischen


99
Mutmaßliche Umstellungen im
Verhältnis von Leben und Kunst
121

Ästhetisierung der Lebenswelt


1 43

edition suhrkamp 1 s64


Neue Folge Band 564
Erst e Auflage 1989
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1989
Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondcr·e das der Über
setzung'
des öffentlichcr1 Vonrags
..
sowr. e der Uber rragung durch Rundfunk und
Fernsehen'.
auch einzelner Teile. ·
Satz.: IBV Satz- und Date
ntechnik GmbH. Berlin
Druck: Nomos Verlagsges
ellsduft, Boden-Baden
Umschlogcmwurf: Willy
Fleckhaus
l'rinted in Germany

3456-94
Vorwort

Ästhetische Erfahrung wird in den folgenden Aufsätzen betrachtet


als ein Thema mit Variationen. Von der Sache her verbietet sich eine
geschlossene Untersuchung, die über die offene Seite jenes lebendi­
gen Kontakts, in dem allein wir Kunst tatsächlich begegnen, souve­
rän hinweggeht und aus :heorecischen Erwägungen verfügt, was
Kunst sei. Diese Fonn der Ästhetik vennag angesichtS der Moderne
nicht zu i.ibeneugen, deren über alle Avantgarden hinweg weiter­
wirkende Kraftdoch darin besteht, uns ständig aufNeues aufmerk­
sam zu machen. Erfolgreich ist die moderne Kunstbewegung ge­
worden, insofern sich der Erfahrungshunger des Unerwarteten in
das allgemeine Lebensgefühl eingesenkt har. Wurzeln de ss en rei­
chen zurück bis in die Frühromantik, und inzwischen hat es die Mo­
derne paradoxerweise auf eine Tradition von über einem Jahrhun­
den gebracht. Dem erstaunlichen Phänomen eines permanent um­
gestaltenden und darin gerade Kontinuitätstiftenden Einflusses der
Kunst auf die Wirklichkeit wird nur eine Analyse ästhetischer Er ­
fahrung gerecht, während systematische Äschetiken des klassischen
Typs dem historischen Prozeß gegenüber notwendig ins Hinter­
treffen geraten und deshalb ihren Gegenstand verfehlen.
Einfacher haben es die Künstler, die sich auf eine Bemerkung aus
dem Tagebuch von Roben Musil zurückziehen können: "Die wis­
senschaftliche Ästhetik suche nach dem Universalziegel, aus dem
sich das Gebäude der Kunst errichten ließe. Für uns aber ist Kunst
das, was wir unter diesem Namen vorfinden.« Da wir heute nicht
wissen, was wir morgen unter dem Namen der Kunst vorfi nde n
werden, genügt demjenigen, der verstehen will, nicht das Dekret
. des Produzenten. Aus demselben Grunde bietet auch das objekti­
vierende Vertrauen auf Werke, das der nachfolgenden Klassifika­
tion in Literatur- und Kunstgeschichte eigentümlich ist, keine
wirklich tragfähige Grundlage. Die Einteilung in Schulen, For­
men, Typen, denen man die Produkte subsumiert, schafft nützli­
che Überblicke, aber hat die eigentliche Erfahrung immer schon im
Rücken. Aufgabe der Ästhetik ist es also, nicht bloß hinzunehmen,
was als Kunst unmittelbar auftritt, oder was als Werk ex post klas­
sifiziert wird, sondern zu begreifen, was in der ästhetischen Erfah­
rung geschieht.

7
Dazu enthalten vor allem die zwei ersten Aufsätze Vorschläge. Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik
Sie schließen frei an Kams Kritik der Urteilskraft an, wo zum er­
stcnmal der Versuch unternommen wird, ohne Ausgriff auf inad­
äquate Mittel reiner Theorie dennoch Klarheit über die sinnlich Les philosophes, qui n om pas su trauver ce qu'il y a de
'

reel er d indc!pendan t de toure science dans l'an, sonr obli­


'
angeregten Reflexionsprozesse der ästhetischen Erfahrung zu ge­
ges de s'imaginer !'an comme des sciences.
winnen. Es folgen Auseinandersetzungen mit wichtigen Positio­
nen der gegenwärtigen Ästhetikdebatte. Den Abschluß bilden Marcel Proust, Concre Sainre-Beu.ve
wiederum zwei Studien zum Übertrier der Ästhetik in die Pragma­
tik des Alltags, wo herkömmliche Grenzen, die zwischen dem Gegenwärtig besteht kein Anlaß zu der Klage, mit der am Begion
Kunstreich und dem Ernst der Realitätsbewältigung bestanden, des 19. Jahrhundensjean Paul seine Vorschule der Ästhetik eröff­
planvoll und lustbetont eingeebnet werden. Hier zeigt sich am nete: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästheti­
deutlichsten der durchaus ambivalente Sieg der Moderne. kern.« Seit den Tagen des deutschen Idealismus hat es von seiten
der Philosophie keine Em,vürfe zur Ästhetik mehr gegeben, die
den klassischen Vorbildern von Kant bis Hege! ebenbürtig wären.
Das Verstummen der Philosophie vor der Kunst hängt offenbar
zusammen mit dem längst geschwundenen Vertrauen in die Kraft
des systematischen Gedankens, der sich neben anderen Sachgebie­
ten auch auf die Kunst richtet, um sie in die Disziplin des Begriffs
zu nelunen. Über den allgemeinen Zweifel an einer systematischen
Leistungsfähigkeit der Philosophie hinaus trägt aber für den Nie­
dergang der philosophischen Asthetik ein historischer Umstand
die Verantwortung, der ziemlich genau mit dem Ende der klassi­
schen Konzeption zusammenfällt. Von der Mitte des vorigen Jahr­
hunderts an datiert nämlich die a.utonome Entwicklrmg der Kün­
ste, die man seither als die Moderne zu bezeichnen pflegt, ohne daß
ein Ende jener Entwicklung abzusehen wäre. Die radikale Selbst­
befreiung der künstlerischen Produktion aus dem herkömmlichen
ontologischen Gehege und die planmäßige Überwindung eines je­
den Kanons hat die Möglichkeiten der Theorie hoffnungslos hinter
sich gelassen.
Das Publikum hat sich so sehr daran gewöhnt, daß die Philoso­
phie zu dem, was in denKlinsten aktuell vor sich geht, nichts mehr
zu sagen weiß, daß die Verwirrung und das rätselnde Staunen be­
reits zu einer festen Erwartungshaltung geronnen sind. Man ist der
Schocks in einem solchen Maße gew;inig, daß aus ihnen der frucht­
bare Anstoß zu theoretischer Bewältigung nachgerade verschwun­
den scheint. Sofern man überhaupt noch Aufklärung erhofft, hält
man sich an die Protagonisten jener faszinierenden Bewegung und
nicht an verspätete Theoretiker. Dies hat zut· Neubewertung der
Künstle,·ästhetik geführt, die freilich stets an einer spezifischen

9
Einschränkung leidet. Die Schwäche erwächst aus der Nötigung, Kunst als Ort der Wahrheit
etwas, das man tut, auch vollgültig und in einem allgemeinen Rah­
men zu erklären. Betrachtet man die wenigen Äußerungen, in denen die Philosophie
Der unvermeidliche Subjektivismus und die Theorieschwäche sich gegenwärtig überhaupt auf Kunst bezieht, so iiberrascht ein
der Künstlerästhetik hat andererseits die Karriere von Surrogatfo�·­ gemeinsames Merkmal. Die Kunst ist nicht so sehr ein Gegen­
men der Ästhetik befördert, die allesamt eine Aufgabe, zu der die stand, an dem eine selbstbewußte Philosophie. die Kräfte der be­
philosophische Theorie nicht mehr tauglich scheint, mit reduzier­ grifflichen Bewältigung mißt, vielmehr dient die Kunst als ein Me­
tem Instrumentarium zu lösen versuchen. Angesichts des desola­ dium, in dem die Philosophie Vergewisserung über ihren eige.nen
ten Zustands der Ästhetik ist die Verführung groß, etwa die Mittel theoretischen Status sucht. Die Philosophie sagt nicht, was die
der Informationstheorie oder auch textanalytische Kategorien wie Kunsr ist, eher soll die Kunst zeigen, was die Philosophie ist. Das
die der Struktur oder der formalen Verfremdung zu einem univer­ Geschäft der Ästhetik beginnt zu schillern zwischen einer begriff­
salen Schlüssel für alle ästhetischen Fragen hochzustilisieren. So­ lichen Definition des Wesens von Kunst und einer Selbstverständi­
sehr sich jene Instrumente in der Einz.elintcrpreta�ion bewähren, gung der Philosophie über sich.
sowenig ersetzt ihre pauschale Generalisierung eine ästhetische In dieser Auffassung von Ästhetik sind sich zwei Schulen ganz
Theorie. Nun liegt der Einwand nahe, die Kritik an Surrogatfor­ einig, die im übrigen in programmatischer Opposition zueinander
men von Ästhetik erfolge allein im Namen einer großen, aber ver­ stehen.' Die Hermeneutik, die im Gefolge von Heidegger und Ga­
gangeneo Tradition, und solange die Philosophie sich auf die Be­ damer das Verstehen von Wahrheit jenseits eingefahrener Er­
schwörung von Vorbildern beschränke, ohne ihre Ansprüche kennmismetboden lehrt, und die kritische Auslegungskunst, die
sachlich substantiieren zu können, sei nicht viel gewonnen. In der nach dem Vorbild Benjamins und Adornos hinter allen ideologi­
Tat werden sich auch die folgenden Überlegungen vor diesem be­ schen Schein dringen will, konvergieren unzweifelhaft in der
rechtigten Einwand zu verantworten haben. ästhetischen Problematik. Beiden nämlich gilt die Kunst als Ort ei­
Versuche zu einer gegenwärtigen Ästhetik dürfen nicht ver­ ner Wahrheit, die gerade für Philosophie eine paradigmatische Be­
deckte Philosophiegeschichte betreiben, sondern müssen sich an deutung gewinnt. Die Wahrheit, die doch v o n altersher die Sache
den Phänommen der Kunst orientieren, wie sie sich in der Mo­ der Philosophie heißt, wird der philosophischen Reflexion nicht
deme entwickelt hat und weiter entwickeln. Wenn solche Versu­ mehr als vollgültiger Besitz zugetraut, sondern erscheint primär in
che aber gleichzeitig Maßstäbe im Auge behalten, die von der gro­ Kunst, um von dort der Philosophie ihre genuine Aufgabenzustel­
ßen Ästhetik der Vergangenheit bereitgestellt werden, so gewin­ lung zuzuspiegeln.
nen sie dadurch eine Breite des Problembewußtseins, die der
selbstzufriedenen Borniertheit der Surrogate allemal überlegen ist. Hermeneutik
Es kann sein, daß die tradierten Modelle systematischer Ästhetik
insofern irreführen, als sie einen Anspruch gedanklicher Durch­ Die hermeneutische Ontologie Heideggers fragt nach der Wahr­
dringung von Kunst suggerieren, dem i.n Wahrheit gar nicht ge­ heit des Seins, die in der Geschichte der Metaphysik verdrängt
nügt werden kann. Diese These läßt sie�. aber erfolgreich nur auf worden ist, obwohl sie die Dimension des klassischen Philoso­
dem Reflexionsniveau philosophischer Asthetik und in dem von phierens erst eröffnet hat. Es kommt demnach darauf an, daß Phi­
ihr abgesteckten Rahmen des Problembewußtseins demonstrie­ losophie ihren eigenen Grund begrelfen lernt. Die Schwierigkeit
ren. Dann stellt ein mögliches Abstandnehmen von einer systema­ dieser Bemühung liegt darin, daß der Grund der Philosophie beim

tisch ausgearbeiteten Ästhetik einen Beitrag zum philosophisc en Philosophieren stets schon in Anspruch genommen werden rriuß
Begreifen der Kunst dar, der weder das faktische Versagen der As­ und also nicht einfaches Reflexionsthema werden kann, ebensowe­
thetik vor der Moderne bloß rechtfertigt, noch der Rückflucht in nig wie er in seiner Funktion als Grund der Philosophie außerhalb
philosophiehistorisch bessere Zeiten verdächtigt werden kann. der Philosophie. zugänglich wird. Die Aufgabe scheint unlösbar,

ro Il
die philosophische Reflexion in ein Verhältnis z u dem zu bringen, ästhetischen Einstellung des Bewußtseins, dem die Kunst sich auf
was sie ermöglicht, ohne daß dies Verhältnis wieder eines der Re­ den »schönen Schein• reduziert. Die Reduktion aufden Schein­
fleJCion wäre und also gerade nicht aufdeckt, was Grund der Re­ begriff verfehlt die ontologische Bestimmung des Ästhetischen,
flexion ist und daher nie ein Gegenstand derReflexion unrer ande­ die vielmehr erst dann gelingen könne, wenn man das Kunstwerk
ren werden darf. Angesichts der unlösbar scheinenden Aufgabe, auf ein ursprüngliches Präsentmachen und Wirkenlassen von
die Heidegger sich seit Sein und Zeit (1927) ste llte, verspricht nur Wahrheit hin auslegt.
die Kunst einen Ausweg, wenn man in ihr die •ins Werk gesetzte Mit dieser Auslegung aber verlägt Gadamcr den Bereich der
Wahrheit, erkennt.' Das Kunstwerk wächSt über die Schranken Ästhetik im Interesse des systematischen Aufbaus einer Herme­
einer bloß ästhetischen Betrachtung und Bewertung hinaus, denn neutik, die am Kunstwerk exemplarisch einen Zugang ZltT Wahr­
es rückt jene Wahrheit anschaulich vor Augen, die sich dem Zu­ heitsfrage gewinnt, um diese dann auf das Verstehen in den Gei­
griff der Reflexion entzog und also das Problem kennzeichnete, steswissenschaften »aus:wweiten•.6 Wiederum erscheint Kunst
das die Philosophie mir sich selbst hat. primär in einer von Philosophie bestimmten Perspektive, indem
Die Lösung der Wahrheitsfrage, die Heidegger in seiner Lehre eine nicht ursprünglich in der Kunst beheimatete Frage auf Kunst
vom Kunstwerk versucht, weist eine klare Parallele auf zu Schel­ projiziert wird, um dort eine Horizonterweiterung zu erfahren,
lings Bestimmung der Kunst als »Organon der Philosophie•) Das die sich erfolgreich wieder auf eine philosophische Aufgabenstel­
·System des transzendentalen Idealismus«, worin Schelling alle lun g zurück beziehen läßt.
philosophische Erkenntnis aus einem obersten Prinzip der Einheit
des Subjektiven und Objektiven, aus der absoluten Indifferenz des ldeologiekritik
Bewuß ten und Bewußtlosen ableiten will, vermag sich erst zu voll­
enden, wenn jenes Identitätsprinzip selber nochmals zu objektiver I n der hermeneutischen Ästhetik belehn Philosophie sich mittels
Anschauung kommt. Die Leistung einer Veranschaulichung des der Kunst über positive Aufgaben und Möglichkeiten. Auf d er Ge­
Prinzips übernimmt in authentischer Weise die Kunst, denn das genseite steht dieästhetische Kritik Benjamins und Adornos, die an­
Kunstprodukt vereinigt gerade harmonisch das Subjektive und hand der Kunst die Philosophie über ihre Grenzen aufklärt und im
Objektive.4 Die Philosophie greift mithin in der Kunst auf ein Me­ ästhetischen Schein eine negative Instanz gegen ideologische Un­
dium zurück, das in gewisser Weise die spezifischen Möglichkei­ wahrheit namhaft macht. Soweitdie K unst wesendich auf Wahrheit
ten bewußter Reflexion übersteigt und eine Wahrheit präsent bez.ogen wird, argumentieren die hermeneutische Verstehensichre
macht, die zu denken das Denken an seine Grenzen stoßen läßt. und die radikale Kritik in der gleichen Richnmg, obzwar mit umge­
Die Philosophie deutet Kunst von vornherein im Lichte ihrer eig­ kehrtem Ergebnis. Die Erfahrung der Kunst gilt der Hermeneutik
nen Problematik und stellt sie entschlossen in den Dienst an deren als Versprechen einer Sinnfülle des Wahren, die die Schranken des
Lösung. methodisch geregelten Erkennens souverän hinter s ieb läßt. Die
Die Linie einer »Organisierung« der Kunst imRahmen und zum gleiche Erfahrung muß im Sinne der Kritik aber die Skepsis gegen
Nurzen der Philosophie, womit Heidegger an SeheHing anknüpft, jede theoretische Präremion auf Wahrheit verriefen und das Zu­
setzt die Hermeneutik Gadamers deutlich fort, insofern die alles trauen in eine mögliche Durchstoßung des umfassenden Verblen­
Verstehen leitende Wahrheitsfrage an der Erfassung der Kunst dungszusammenhangs der Illusion überführen. Die KunstgibtRät­
überhaupt ,.freigelegt« wird.s Die Kunsterfahrung läßt sich in den sel auf, in deren Dunkelheit die Kritik sich zu versenken hat, anstatt
Augen der Hermeneutik angemessen nur als Verwicklung in ein sie durch Übertragung ins helle Licht der Theorie zu zerstören.
.
Wa hrheitsgeschehen beschreiben, worin die Subjektivität des Be­ Dank jener gleichsam kabbalistischen Versenkung wird der Kricik
trachters und die Objektivität seines Gegenstands überstiegen auf dem Grunde des ästhetischen· Rätsels eine Ahnung von der
sind. Die Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Wahrheit als einer transzendenten Idee zuteil. Diese Idee erhält sich
Kunst bedeutet die Überwi ndung der Abstraktion einer bloß nur zum Preise des Verzichts auf ihre Erfassung.
12 lJ
Im übrigen gleichen hermeneutische und kritische Ästhetik ein­ des Problems« bereits in philosophischer Begrifflichkeit benannt
ander auch darin, daß die an Kunsterfahrung konkretisierte Struk­ worden war. Das Bild wechselseitiger Erhellung täuscht, denn in
tur einer Überwindung von Schranken in Richtung auf Wahrheit der zugrundeliegenden Wahrheitsfrage dominiert insgeheim die
am Ende historisch gedacht werden muß und also auf wiederum Philosophie.''
gegenläufige Geschichtskonzeptionen hin treibt. Die Hermeneutik Adorno hat Benjamins Kritikbegriff in seine eigenen Überle­
erlaßt das WahrheitSgeschehen der Werke einheitlich als eine Wir­ gungen zur Dialektik der Ar4kliimng" eingegliedert; denn der
kungsgeschichte, in der die unerschöpfliche Sinnfülle immer neue Zug negativer Theologie in aesthcticis kam der Katastrophenvision
Auslegungsversuche in Gang setzt, die mireinander ihre Verläufig­ der Geschichte entgegen. Die Formel von der Dialektik der Auf­
keit teilen, obwohl sie alle gleichermaßen auf die eine, vollkom� klärung besagt, daß aufklärerische Prozesse in ihr Gegenteil umzu­
mene Wahrheit aus sind. Die kabbalistische Kritik erkennt, gemes­ schlagen drohen tmd als<;> historisch einem Schicksal unterliegen,
sen an der transzendenten Idee des Wahren, in der Geschichte das allen Erwartungen vernünftigen Foreschritts Hohn spricht.
nichts als die Kontinuität des Unwahren, eine zunehmende Ver­ Die Beobachtung der fakt.ischen Parallelemwicklung von Faschis­
bergung des Sinns gegenüber einer immer weiter ins Utopische mus und Stalinismus hat diese Einsicht motiviert. In der Sache be­
entrückten Offenbarung.' deutet sie eine Radikalisierung der Marxschen T hese vom ideologi­
Benjamin hat seine Konzeption zunächst auf den romantischen schen Charakter jeder Theorie, die nun konsequent auch auf die
Begriff der Kunstkritik abgebildet, dem das eigentliche Werk ein marxistische Position angewandt wird. 'l Wenn keine Theorie ge­
absoluter Fluchtpunkt hinter den kritisierten Erscheinungen wird. gen ideologischen Verfall gefeit ist, wenn an der Ideologiekritik
Dazu war mit Recht Friedrich Schlegel als Kronzeuge aufgerufen.s selber sich der dialektische Umschlag aufklärerischer Intentionen
Benjamin hat mit gleicher Absicht im Trauerspielbuch' die plato­ vollzieht, so entSteht folgendes theoretische Dilemma. Der kriti­
nische Lehre von der idealen Wahrheit in der Schönheit zitiert und sche Impuls zielt im gleichen Maße auf Wahrheit, wie er die allseits
sich nach seiner marxistischen Konversion subtil auf die Dialektik herrschende Unwahrheit aufzudecken und den fetischistischen
des Warenfetischismus einstdien können.•• Bann zu brechen sucht. Dennoch d�rf er keine Hoffnung hegen,
Die Grundüberzeugung hinsichtlich des Verhältnisses von jener Wahrheit hinter dem ideologischen Schleier habhaft zu wer­
Kunst und Philosophie, das vom Wahrheitsbegriff abhängt, den, weil jeder venneindiche Wahrheitsbesitz ideologiegefährdet
spricht Benjamin am klarsten mit einem Bilde in seinem Essay ist. Nicht nur der naive, sondern ver�tärkt noch der reflektiert-kri­
über Goethes Wahlverwandtschaften aus. So wie ein schöner und tische Standpunkt der Theorie kann seines ionersten Anspruchs
anziehender, aber verschlossener Mensch ein Geheimnis birgt, in auf Wahrheit nie sicher sein. Die kritische Reflexion muß daher um
das direkt einzudringen unstatthaft wäre, das aber durch Erkun­ ihrer selbst willen die schärfste Skepsis gegen sich richten. Aus
digung über seine Geschwister eine mögliche Auflösung erlaubt, solch einer selbstzerstörerischen Unruhe findet die Reflexion ei­
ebenso ist das rätSelhafte Wesen der Kunstwerke legitim nur auf nen Ausweg allein unter Aufgabe des autonomen Theoriestatus
dem Wege über deren VerwandtSchaft mir der Philosophie zu er­ überhaupt. Die Theorie erreicht ihre Wahrheit als Ästhetische
forschen. Kunst und Philosophie erweisen ihre Verwandtschaft Theorie'4: ·Ästhetik ist keine angewandte Philosophie, sondern
im »Ideal des Problems«. Die Einheit der Philosophie sei umfas­ philosophisch in sich.«'!
sender als die Summe ihrer lösbaren Probleme und diese die Phi­ Die Ideologiekritik geht folgerichtig in Kunstkritik über. Die
losophie betreffende Problematik soll im Ideal des Problems ge­ Kunst ist im allgemeinen Verblendungszusammenhang die einzige
faßt werden, wofür die Kunstwerke ursprüngliche Veranschauli­ Bastion, die sich dem Geschäft der Täuschung nicht fi.igt. An ihr
chung liefern. Die Aufklärung des Wesens der Kunst auf dem zerbricht der Schein, weil sie selber Schein ist. Ocr bewußte Schein
Wege über ihre Verwandtschaft mit der Philosophie vermittelt der ästhetischen Phänomene kann allein dem falschen BewußtSein
also letztlich eine Erhellung der Problematik der Philosophie, der verdinglichten Abstraktion Widerstand bieten, denn der ästhe­
weil jene Verwandtschaftsbeziehung unter dem Titel eines •Ideals tische Schein ist seinem Wesen nach nicht hinwcgzuleugnen. Er
zeigt, was er ist, und läßt sich daher nicht wie der Schein des Feti­ der Gegenwart scheuen sich also vor einer Konsequenz, der sie
schismus als falsche Substantialität hinnehmen. Adorno hat auf­ dem Ansatz entsprechend doch nicht einfach ausweichen können.
grund dieser These der Kunst die einzig gültige Funktion der Kri­ Damit erscheint die Stellungnahme gegenüber dieser vom Gedan­
tik an gesellschafeliehen Ideologien übertragen, nachdem die kengang selber aufgen ötigten Konsequenz, mitsamt den Gründen
Theorie wegen· ihrer gefährdeten Autonomie jene Funktion nicht für die jeweilige Stellungnahme geeignet, eine kritische Entschei­
verläßlich auszuüben vermag. In einer Welt der Unwahrheit dung über die Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik anhand
schwebt die versagte, aber zukünftige Wahrheit r ichtig er gesell­ der entwickelten Modelle vorzubereiten. Es geht nicht darum, alle
schaftlicher Verhältnisse im Modus der Irrealität zumindest ästhe­ Nachhegelianer'7 schlechtweg auf Hegels System zu verpflichten.
tisch vor, indem die Kunstwerke eine ungezwungene immanente Vielmehr wird die Konsequenz des Hegeische n Systems nur hypo­
Sinneinheit darstellen, die dank ihrer Entrückung aus der Sphäre thetisch ins �piel gebracht und dient als Prüfstein, wie weit Philo­
unmittelbar gesellschaftlicher Praxis eine durch soziale Zwänge sophie und Astherik ineinander überfühn werden können, ohne
nicht verzerrte Extrapolation auf Gesellschaft erla uben. '6 eine Grenzziehung zwischen beiden zu ermögliche n. Die vorge­
schlagene Prüfung wird allerdings angeregt durch einen grund­
Die Systemkonseqt1enz einer Wahrheit in Kunst: Hegel sätzlichen Zweifel, ob man Kunst adäquat versteht, wenn man sie
philosophisch präjudiziert, und ob man Philosophie besser be­
Den eigentlichen Bezugspunkt aller Versuche, Kunst aus dem Be­ greift, wenn man ihre Grenzen zur Kunst offen hält.
griff der Wahrheit zu bestimmen, gibt ohne Zweifel die Ästhetik Die Kumt steht Hege! zufolge mit der Religion und der Philoso­
Hegels ab. Hatte doch die Hegeische Spekulation das Schöne als phie auf einem gemeinsamen Boden. Sie gilt als die unmittelbare
sinnliches Scheinen der Idee identifiziert und damit als eine Vorge­ Erscheinungsform des absoluren Geistes und ihr eigentlicher Inhalt
stalt der Philoso phie im Modus nicht begrifflicher Unmittelbarkeit kann unter dem Titel des Schönen auch nur in bezug auf die Idee
.
eingestuft. Die Asthetik gerät in größte Nähe zur vollendeten phi­ als deren sinnlicher Schein erfaßt und benannt werden. Wenn das
losophischen Theorie und empfängt von dort eine ri efgreifende sy­ WeseJJ der Kunst von derselben Art ist wie das Wesen der begriffli­
stemarische Strukturierung. Zugleich aber stellt der Akt, mir dem chen Philosophie, so muß der Unterschied zwischen Kunst und
philosophische Theorie die Ästhetik an sich heranzieht, die Mög­ Philosophie sich allein im Modus des Auftretens jenes geistigen
lichkeit frei, Ästhetik aufs Bestimmteste von Philosophie im ei­ Wesens finden lassen. Die Kunst ist es, »welche die Wahrheit in
gentlichen Sinne zu unterscheiden. Je größer die Theorienähe und Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewußtsein hinsrellt... •• Die
die Affinität zur Philosophie, desto sicherer gelingt es, den Tren­ sinnliche Darstellungsweise oder die Erscheinungsform der Un­
nungsstrich zu ziehen. mittelbarkeit erweist sich dem dargestellten geistigen Wesen aber
Die bisher betrachteten Entwürfe zeitgenössischer Ästherik ste­ dann nicht mehr als angemessen, sobald der Geist im Begriff zu
hen gewollt oder ungewollt in der Nach folge Hegels, sofern sie mit sich selbst gekommen ist. Diese eigentliche und dem Wesen des
Hilfe des Wahrheitsbegriffs Ästhetik in die engste Verwandtschaft Geistes angemessene Daseinsform ist die Philosophie und von ihr
zur Philosophie bringen. Sie versagen aber dem Hegeischen Sy­ her läßt sich der sinnlich e Erscheinungsmodus der Wahrheit in der
stem einmütig die Gefolgschaft, wo es gilt, Ästhetik und Philoso­ Kunst als Vorform bestimmen und abtun. Die Philosophie kann
phie in bestimmter Weise voneinander zu unterscheiden. Im Ge­ sagen: »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in
genteil ist es ihr Interesse, durch absichtlich schwimmend gehal­ welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.«'9
tene Grenzen zwischen Ästhetik und Philosophie das philosophi­ Der Geist, der als Philosophie ganz bei sich ist, eröffnet die
sche Selbstverständnis zu befördern. Nun hatte jedoch eben jene Möglichkeit einer systematischen Behandlung der Kunst, insoweit
Konsequenz der systematischen A11lagc und enzyklopädischen In­ er sich in ästhetischen Phänomenen als unmittelbare Erschei­
tegration der Ästhetik dem Hegeischen Konzept seine innere Lo­ nungsform oder als si nnliche Gestalt seiner selbst erkennt. 1m glei­
gik verliehen. Die offen oder latent begelianisierenden Ästbetiken chen Atem fällt die Philosophie aber auch ein Verdikt, das in der

!6
berühmten These Hegels vom Ve,·gangenheitscharakter der Kunst Kunst auszeichnet und aus dem Kreis aller übrigen Objekte der
ausgesprochen ist. Die philosophische Behandlung von Kunst ko­ Erkenntnis hervorhebt. Im Werk realisiert sich Wahrheit für sinn­
indiziert mit der Überwindung des unmittelbaren Anspruchs der liche Anschauung, sei es, daß dadurch positiv immer neue herme­
Kunst auf Wahrheit.zo Die Ästhetik verdamn;�t sich selber im Akt neutische Auslegung angeregt wird, sei es, daß darin ein verborge­
ihres Entstehens zur Retrospektive.11 We�n Kunst schon auf nes Rätsel sich negativ durch alle Kritik hindurch erhält. Die Kate­
Wahrheit hin angesehen werden darf, so treibt dieser geistige Ge­ gorie des Werkes bedeutet den ontologischen Träger für eine we­
halt von sich aus zu begrifflicher Erfassung, die dem sinnlichen sentlich mir dem WahrheitSbegriff operierende Kunstdefinition,
Scheinen überlegen ist." Was in der Kunst unmittelbar auftrat, denn der ideale Gehalt muß »in Fonn äußeren Daseins dargestellt..
muß rechtens der absoluten Vermittlung im Denken vindiziert werden.''
werden. Philosophie löst Kunst ab'> und verweist sie dadurch in Nicht umsonst findet für Hege! die Idee der Schönheit ihre voll­
eine vergangene Phase der Entwicklungsgeschichte des Geistes. kommenste Verkörperung in der klassischen Skulptur, während
Die systematische Anlage der Hegeischen Ästhetik stellt die modernere Kunstformen. unter dem Signum des »romantischen
konsequenteste Durchführung einer Auslegung von Kunst auf Ideals" eine Sprengung der ·Werkeinheit zeigen. Reflexion dringt
Wahrheit dar. Eine Philosophie, die Kunst derart auf sich bezieht, in die Werke immer stärker ein bis hin zur Auf1ösung auch der ro­
daß sie im ästhetischen Bereich ihr eignes Wesen wiedererkennt, mantischen Kunstform, die freilich mit dem Ende der eigenständi­
muß auch die Grenze zwischen der sinnlichen Erscheinungsform gen Kunstentwicklung überhaupt wsammenfäl!t, weil sie die
und dem Selbstsein des Geistes ziehen. Die Grenzziehung kann Selbstgewinnung der Reflexion als Philosophie ankündigt. Im
nur dadurch erfolgen, daß die Kunst als eine Vorform oder unei­ Zuge des zu sich kommenden Denkens verschwindet die ontologi­
genrliche Gestalt in ein bestimmtes Verhältnis zur Philosophie ge­ sche Trägerrolle des Werkes.
bracht wird und sich kraft deren Autonomie als überW\mden und An di��er Stelle tritt nun eine Schwierigkeit auf, die für gegen­
depotenziert erweist. Alle auf Hegels System folgenden Versuche, wärtige Asthetik fatal sein muß. Je nachdrücklicher Kunst auf das
Kunst durch den Wahrheitsbegriff zu definieren, sind bestrebt, Präsentmachen 1•on Wahrheit verpflichtet wird, desto unerläßl.i­
jene Schlußfolge gerade zu vermeiden, da ihnen die Autonomie cher ist die Werkkategorie etabliert. Andererseits stehen aber die
philosophischer T heorie derart fraglich erscheint, daß sie sich eher modernen Kunstäußerungen dem klassischen Werkideal der sinn­
mit Hilfe der Kunst eine Aufklärung über das Wesen der Philoso­ haft geschlossenen Gestalt und organischen Vermittlung aller Teile
phie versprechen. Dadurch gerät aber das ganze Verhältnis in die zum Ganzen deudich und geradezu programmatisch entgegen.
Schwebe. Die Bestimmung der Kunst setzt einen Wahrheitsbegriff Die Auflösung der traditionellen Werkeinheit läßt sich ganz for­
voraus, der unabhängig von Kunst gar nicht zur Verfügung steht, mal als gemeinsamer Zug der Moderne nachweisen. Kohärenz und
indem er etwa die autonome Philosophie charakterisierte. Die Selbständigkeit des Werkes werden bewußt in Frage gestellt oder
Aufgabenstellung der Philosophie läßt sich umgekehrt nur unter gar planmäßig zerstört. In der Erfindung immer neuer, die Werk­
Rückgriff auf eine Kunstauffassung formulieren, die ihrerseits gar gesirmung irritierender Formen oder Verfahren der Autlösung
nicht genuin aus den Artefakten gewonnen werden kann. bzw. Dementierung der sinnhaften Einheit des Werks überbieten
Die vorliegende Paradoxie ist nicht ohne weiteres beim Namen sich die unterscheidbaren Epochen der Moderne gegenseitig. Auf
zu nennen, da siesich in eine Kategorie zurückgezogen hat, die für diese Weise antworten sie sogar aufeinander, ohne daß die Bewe­
die ambivalente Wechselbestimmung von Kunst und Philosophie gung als ein Prozeß zu einem die Kunst übersteigenden Telos hin
zentral ist, aber auf den ersten Blick ganz unverfänglich aussieht. interpretiert werden dürfte. Wollte sich daher die Beschreibung
Die zentrale Kategorie ist die des �Verkes, worin objektive Gege­ moderner Phänomene an einem herkömmlichen Paradigma orien­
benheit und überempirischer Bedeutungsgehalt vermittlungslos tieren, so hätte sie sich am ehesten an Hegels Analyse der romanti­
zusammengedacht sind. Unter dem Werk wird die eigenständige schen Kunstform und deren Auflösung zu halten. Gleichwohlsähe
sinnliche Erscheinungsform der Wahrheit verstanden, die die sie keinen Grund, wie Hege!, die Auflösung des Werks als E in-

!8
dringen einer Reflexion zu interpretieren, die von sich a;JS zu m Be­ bung der Schwierigkeit zwei Gesichtspunkte bei - wenngleich
griff hinleitet und das sinnliche Scheinen in das geistige Beisichsein nicht in Form strenger Argumentation -, die beide letztlich aus
der Philosophie überführt. Eher scheint im Gegenteil die Emanzi­ dem Fundus idealistischer A n schauungen s tammen.
pation der ästhetischen Phänomene von der Werkkategorie auf Einmal wird Kunst nicht unmittelbar an Produktionsverhält­
dem Wege der Verletzung und Täuschung einer seit altersher daran nisse gebunden, sondern im Falle der griechischen Kunst au[ die
gebundenen Erwartungshaltung die Autonomie »reine r«. Kunst Mythologie als ihren »Boden« gestellt. »Die g riechi sche Kunst
vorzubereiten. setzt die griechische Mythologie vo rau s, d. h. die Natur u nd die
Die Krise des Werkbeg riffs läßt sich nicht positiv als Ankündi­ gesellschaftlichen Formen selbst schon in einerunbewußt künstle­
gung der Epoche des von Sinnlichkeit freien Denkens auslegen. rischen Weise verarbeitet durch die Volksphanrasie. Das ist ihr
Daher stellt die Krise des Werkbegriffs eine fundamentale Schwie­ Material.• Marx nimmt hier einen idealistischen Gedanken auf,
rigkeit für jede Ästhetik dar, die kraft ihres Wahrheitsanspruchs den Scbellings und Hegels Ästhetik verrreten hatten, und der be­
auf einen intakten Werkbegriff angewiesen ist!1 Wir kommen auf sagt, daß die materiellen Voraussetz un gen künstlerischer Gestal­
dieses Dilemma, das über die Möglichkeiten einer gege nwärtigen tung von anderer Art sein müssen als der Stoff, den jede Produk­
Ästhetik entscheidet, später zurück. Für den Augenblick muß tion sonst verarbeitet. Das Mare rial der Kunst ist schon begeistet
noch ein Strang der zeitgenössischen D iskussio n über Ästhetik ins und ideal vorgeformt, wenngleich nicht voll zur Idee herausgebil­
Auge gefaßt werden, der das Hegeische Erbe einer in Kunst darge­ det, sondern unbewußt und in der Anschauungsfülle der Phantasie
stellten Wahrheit zu übernehmen versucht, aber dem falschen verloren. Als das klassische Exempel der künstlerischen Überfor­
Idealismus einer letztendlichen Aufhebung des Ästhetischen in mung eines auf Kunst angelegten Materials gilt die griechische
den Begriff mit materialistischen Mitteln begegnen will. Dieser Kunst und Mythologie. Indem Marx sieb dieses Gedankens be­
Versuch fiihrr jedoch seinerseits in ei ne Aporie. dient und mit der Mythologie eine Vermittlungsgestalt zwischen
die materiellen Bedingungen u n d die Kunstbildung legt, hat er die
Die Aporie einer materialistischen Ästhetik einfache Struktur des Ideologiebegriffs verlassen, demgemäß
Kunst als ein Phänomen des Überbaus direkt au f die materielle Ba­
Die Aporie, die sich vor dem Projekt einer materialistischen Äs­ sis der gesellschaftliehen Bedingungen zurückbezogen werden
thetik auftut, hat Marx selber b ereits deutlich beim Namen ge­ müßte. >7 Die Mythologie wird sogar wie eine Vorgestalt der Ideo­
nannt. Er konnte sie freilich nicht überwinden, und daran hat bis logie beschrieben als unbewußtc Bewältigung der natürlichen und
heute alle Bemühung um eine marxistische Kunsttheorie nichts ge­ gesellschaftlichen Wirklichkeit. Darauf bezieht sich Kunst bereits,
ändert. Das Fortdauern der Ap orie beruht nämlich auf Gründen, um da s gegebene und präformierte Material künstlerisch zu gestal­
die sich an ge be n lassen . ten.
Am Ende der Skizze einer Einleit ung zur Kritik der Politischen Zum ander n erklärt Marx das unleugbare Weiterwirken verg an ­
Ökonomie, die nie vollendet wurde, notiert Marx unter dem Stich­ geocr Werke, den »Kunstgenuß« über historische Distanz und die
wort »Das unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Ausprägung »unerreichbarer Muster« mit Hilfe eines ganz unma­
Produktion, z. B. zur künstlerischen• das Folgende: •Hört das terialisrischen, hegelianischen Bildes. So wie der reife Mann nicht
Singen und Sagen und die Muse mitdem Preßbengel nicht notwen­ wieder zum Kinde werden darf, weil er bei Strafe des Verfalls den
dig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epi­ erreichten Bildungsstand nicht himerschreiten darf, aber dennoch
schen Poesie?- Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verste­ sich der Naivität des Kindes freuen kann und .. auf eine r höheren
hen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren«, so verhält es sich
Entwicklungsformen geknü pft sind. Die Schwi erigkeit ist, daß sie mit dem "ewigen Reiz« der griechischen Kunst auf spätere Zeiten.
für uns noch Kunstgenuß gewäh ren und in gewisser Beziehung als »Der Reiz ihr er Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der
Norm und unerreichbare Muster gelten.«'6 Marx bringt zur Behe- unentwickelten Gesellschaftsstufc, worauf sie wuchs. Ist vielmehr

20 21
ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, begriff für die Kunstauffassung notwendig liegen. Genau genom­
daß die unreifen gesellschafeliehen Bedingungen, umer denen sie men müßten jene beiden Hilfsannahmen als unverträglich mit den
entstand und allein entstehen konnte, nie wiederkehren können.« erklärten Prämissen bezeichnet werden. Sie sind aber erforderlich,
Das sichere Wissen um die Abhängigkeit der Kunst von gesell­ weil anders Kunst aufgrund jener Prämissen gar nicht zu begreifen
schaftlichen Bedingungen, unter denen sie allein entstehen konnte wäre. Das ist die Aporie jeder marxistischen Ästhetik: entweder
und die nie wiederkehren, steht in keinem Widerspruch zur künst­ r�iht sich Kunst neben Religion, Philosophie, Recht etc. unter die
lerischen Wirkung. Denn hier kommt eine normative \Yiahrheit Oberbauphänomene ein, die ideologisch als falsches Bewußtsein n i
wieder zur Gehung'8, die im Zusammenhang eines organisch ge­ einer bes1immren sozialen Lage gründen u n d solange gründen
gliederten, sinnvoll fortschreitenden Entwicklungsprozesses ihren müssen, wie sie ihre ideologische Verwurzdung nicht durch­
genauen Ort hat, der metaphorisch als ,.geschichtliche Kindheit schauen. Oder eine Theorie der Kunst entwickelt einen spezifischen
der Menschheit« umschrieben wird, und deshalb über die Relativi­ Begriff von ihrem Gegenstand, der dann qualitativ von anderen
tät einzelner historischer Epochen hinaus Bedeutung behält. Die Erscheinungsformen der Ideologie unterschieden werden muß. Im
Kindheit war bei den Griechen »aJn schönsten« entfaltet, sie waren ersten Falle läßt sich über Kunst nicht anders reden als über die an­
nämlich im Gegensatz zu den »ungezogenen und altklugen Kin­ deren Gestalten von Ideologie und man erfährt nur, daß in Kunst
dern«, die man uoter den alten Völkern auch findet, •>normale Kin­ s.ich gleichermaßen ein gesellschaftlich bedingtes, falsches Be­
der«. Diese unbedingte Auszeichnung im Sinne der Wahrheit, wußtsein inkarniert. Beansprucht die marxistische Ästhetik aber,
Schönheit und Norm, die der an sich historisch bedingten Kunst wie der Titel sagt, eine spezifische Themacisierung ästhetischer
der Griechen :wgesprochcn wird, enthebe sie der vollendeten so­ Phänomene, so bedarf es eines Unterscheidungsmerkmals, das
zioökonomischen Dependenz aller Überbauphänomene im nicht auf der Ebene des Ideologiebegriffs liegen kann, da es gerade
Schema materialistischer Geschichcserklärung. Differenzierung zwischen verschiedenen Gestalten der Ideologie
Die Erinnerung einer nicht überholten, weil in die immanente leisten soll. Ungelöst bleibe die Frage, ob ein solches Unterschei­
Logik einer Entwicklung eingebetteten Wahrheit weist auch noch dungsmerkmal, wie immer es im einzelnen aussehen mag, mit den
hinaus über die bloß unegalc Phasenverschiebung, die als Modifi­ Grundannahmen des historischen Materialismus vereinbar ist.
katio':l in die Grundvorstellung der Parallelentwicklung von Basis �ine leere Rede von dialektischer Vermittlung zwischen Basis und
_
und Uberbau eingebaut wird. Nicht nur die Ungleichzeicigkeit ei­ Überbau nützt gar nichts, da sie die grundsätzliche Frage nur auf
nes Hinüberragens abgelebter, ideologischer Reststücke in objek­ Konkretion verweist, wo sie gleichwohl entSchieden werden muß.
tiv bereits gewandelte Verhältnisse ist gemeint, wenn Marx den un­ Die historische Konkretion darf nicht im Unklaren lassen, ob die
gemindcrten Reiz vergangeocr Kunst erklärt. Vielmehr muß er Y,orordnung der materiellen Basis gilt oder ob die Dependenz des
dem Kunstgenuß zumuten, eine Art von Einsicht in die f.ntwick­ "Yberbaus in dialektischer Vermitdung relativiert wird. Eine
lung als ganze zu vermittel n, wenn er ihn doch unzenrennlieh an Aschetik, die sich materialistisch verstehe, muß aber ao der Vor­
den Umstand knüpfe, daß jene konstitutiven Bedingungen nie wie­ ordnung festhalten und darf die Dependenz der Ideologie nicht
derkehren können. Die Einmaligkeit der Bedingungen und ihre preisgeben.
bestimmte Stelle im Entwicklungsgang sind also ein Moment, das
im Kunstgenuß mit bewußt wird. Exkurs iiber die Folgen'8•
Die Einführung der Mythologie als Material der Kunst und die
Aufdeckung eines normativ gültigen und der Erinnerung würdi­ Es ist das Verdienst von Max Raphael, diese Frage innerhalb des
gen Charakters von Wahrheit in Kunstäußerungen, die vergange­ Marxismus eindeutig und ohne Beschönigung gestellt zu haben.19
nen Epochen und Gesellschaftsformationen angehören, helfen der Die angebotene Lösung hingegen krankt an demselben Fehler, den
ästhetischen Reflexion über die Hürde hinweg, die in den streng Raphael dem Marxschen Versuch vorhälrl•: sie verläßt den streng
materialistischen Prämissen und einem entsprechenden Ideologic- materialistischen Boden und benutzt weiter gehende Zusacz.hypo-

22 23
thesen über die Spontaneität des Bewußtseins, worin sich das We­ dient den Namen nicht. Es handelt sich vielmehr um eine dialekti­
sen des Menschen gegenüber ökonomischen Determinanten als re­ sche Titel bloß prätendierende, wohlfeile Veranstaltung, bei der
lativ frei erweise. aufgrund eines nicht weiter hinterfragbaren Vorwissens über den
Dem Marxisten Georg Lukacs muß man im Gegensatz zu Ra­ Primat der einen Seite schon immer entschieden ist, so daß man ein
phael den Vorwurf machen, daß er das von Marx bezeichnete Pro­ folgenloses und beliebiges Spiel äußerer Relationen an diesen Fix­
blem nicht gesehen oder bewußt abgeblendet hat. Besonders deut­ punkt knüpfen kann, weil man nie befürchten muß, daß daraus
lich zeigt sich dieser Sachverhalt an der Insistenz, mit der Lukäcs Konsequen�en auf die dogmatische Vorordnung zurückschlagen.
aus Anlaß der Stalinschen T hesen über Marxismus und Spracbwis­ Die Vorordnung der ökonomischen Bedingungen rückt Kunst in
senschaftl' an der Definition von •Literatur und Kunst als Über­ den Status einer • \Viderspiegelung• der Wirklichkeit. An dieser
bau« festhältP. In jenen Thesen war nämlich die Sprache aus dem Definition bat der mate rialistisch gesonnene Lukacs unbeirrt fest­
Bereich des Überbaus ausgegliedert und in eine Mittelstellung ge­ gehalten, bis er sie im Spätwerk seiner großen Ästhetik (1963) auf
wiesen worden, die in gewisser Weise als unabhängig von den Ver ­ breiter Basis sogar ganz an den traditionellen Mimesisbegriff an­
änderungen innerhalb der gesellschaftlichen Basis angesehen wer­ schließt. Nun ist künstlerische Nachahmung sicher noch etwas an­
den muß, weil sie ihr vor aller verzerrenden Spiegelung in Ideolo­ deres als anonyme Widerspiegelung gegebener Verhältnisse. Aber
gie genuin angehört. Unabhängigkeit von der jeweiligen Basis indem Lukacs die Widerspiegelungsrelation zwischen Basis und
kommt der Sprache zu, insofern sie klassenunspezifisch den Überbau als eine dialektische deklariert, glaubt er sowohl der
menschlieben Verkehr innerhalb der Gesamtgesellschaft vermit­ Frage nach dem allgemeinen Wesensmerkmal der Kunst gerecht z.u
telt und durch alle historischen Epochen gleichennaßen diesen werden als auch ästhetischen Einwänden gegen die Kunstform äu­
Dienst versehen har. Sprache muß daher in enger Verflechtung mit ßerer Abschilderung begegnen zu können. Wer wissen will, was
der ursprünglichen Praxis aufgesucht werden und ist aus eben dem denn das spezifisch Künstlerische an jenem Stück Ideologie sei, das
Grunde der Sphäre verzerrter ideologischer Reflexe von vornher­ Kunst heißt, wird mit dem Hinweis beschieden, daß sie das Wesen
ein entzogen. der bestehenden Verhältnisse stan ihrer bloß erscheinenden Ober­
Die differenzierte Auffassung der Sprache hätte nun leicht als fläche aufdeckt. Die gleiche Antwort gilt der Frage, was Kunst
Analogon zur Kategorie der Mythologie in dem herangezogenen denn tun müsse, wenn sie mimetisch die Wirklichkeit wiedergeben
Text von Marx gedeutet werden können. In beiden Fällen ließe soll: sie muß das Wesen in seiner Totalität fassen und nicht an par­
sich doch sagen, die Kunst fände ihr eigentliches Material in jenem tikulären, sich vordrängenden Erscheinungen haften bleiben. Da­
Bereich, der formal als Zwischenstellung zwischen Basis und her gilt für Lukacs als repräsentative Kunstform der klassische
Überbau bezeichnet worden ist, und schere folglich aus der Reihe Realismus, für den Goethe und Balzac sowie in diesem Jahrhun­
materiell eindeutig depcndcnter ideologischer Phänomene aus. dert Thomas Mann einstehen. Ihrem theoretischen Gehalt nach
Den Schluß macht Lukacs aber nicht mit, er tut sogar alles, ent­ kreiste die sogenannte Expressionismusdebatte im Exil der drcißi­
sprechende Überlegungen als unzulässig für eine materialistische ger Jahre um die angemessene Bestimmung dieses Realismusbe­
Geschichtsbetrachrung abzuwehren. grif{s.33 Gibt expressionistische Zerrissenheit das Wesen oder bloß
Andererseits zieht er gegen vulgärmarxistische Vorstellungen die Oberfläche der Wirklichkeit in einem gewissen Stadium des
einer schlichten Kausalwirkung von der Basis auf den Überbau mit Kapitalismus wieder? Darüber zu befinden, genügt offenhlndig
der Versicherung zu Felde, so pbtt sei nicht zu denken, vielmehr weder ein schlichter Blick auf die Verhältnisse, da man nicht weiß,
müsse dialektische Wechselwirkung zwischen beiden Seiten unter­ ob man Oberfläche oder Wesen wahrnimmt, noch geben die
stellt werden, wobei jedoch »in letzter Instanz« der ökonomischen Kunstformen selber gegründete Auskunft, da man erst zwischen
Seite der Primat gebühre. Was heißt das? Eine Dialektik, in der »richtigem« und »falschem« Realismus unterscheiden müßte.
nicht zwei Standpunkte, die je für sich genommen eine Abstrak­ Die Wechselbeziehung zwischen Wirklichkeit und Widerspic­
tion darstellen, wechselweise aufeinander Korrektur ausüben, ver- gelung, die dialektisch genannt wird, weil sie mit der Doppel ung

2.5
von Wesen und Erscheinung arbeitet, geht in Wahrheit in der schwer hält, beweist die konträre Diagnose der gesellschaftlichen
schlechten Unendlichkeit immer neu und gleich folgenlos ab­ Lage bei übereinstimmender Berufung auf marxistische Prinzi­
tausch\nrer Behauptungen unter, die ein vermeintes \X'esen künst­ pien. Wenn die materialistische Gesellschaftstheorie nicht zu ein­
lerisch als Schein dementieren oder scheinbare Wesenserfassung in deutig schlüssigen Ergebnissen gelangt, muß eine auf ihr fußende
Kunst unter Verweis auf die wahre Wirklichkeit entkräften. Die Ästhetik erst recht unsicher bleiben.
Wechselbeziehung gründet also gar nicht dialektisch in sich, son­ Ein weiteres Problem der Konsüruierung einer Ästhetik auf sol­
dern greift auf ein Vorwissen zurück, das in die Wechselbeziehung chem Boden stellt sich, wenn man das unerläßliche Vorwissen nun
mitnichten einbezogen ist und folglich als ein Drittes ungerührt ein wirklich in K1mstproduktion münden lassen will, statt es etwa zu
quasi-dialektisches Spiel zwischen beiden Relaten inszenieren einer umfassenden Gesellschaftslehre auszubauen. Lukacs erkennt
kann. Man muß vor aller Kunst wissen, was die wesentlichen und das Problem durchaus und gibt eine bemerkenswerte Antwort, die
umfassenden Züge der Wirklichkeit sind, um sie in Kunst gespie­ sich v.riederum einige dialektische Kategorien Hegels angeeignet
gelt wiederzufinden. Erst unter dieser Voraussetzung läßt sich im hat, um sie undialektisch zu instrumentieren. •Jeder bedeutende
Streit um Realismus und Antirealismus oder um wahre und falsche Realist bearbeitet, auch mit den Mitteln der Abstraktion, seinen
Widerspiegelung ein Urteil fällen. Erlebnissroff, um zu den Gesetzmäßigketten der objektiven Wirk­
Der Streit, bei dem vor allem Ernst Bloch im Namen des Expres­ lichkeit. . . zu gelangen. Da diese Zusammenhänge nicht unmittel­
sionismus dem barmonistischen Realismus widersprach, den Lu­ bar an der Oberfläche liegen, da diese Geserzmäßigkeiten sich ver­
kacs etablieren wollte, hat in den fünfzigerJahren eine Neuauflage schlungen, ungleichmäßig, bloß tendenzartig durchsetzen, ent­
erfahren, als Adorno gegen eine Kunstform Front machte, die un­ steht für den hedeuteriden Realisten eine ungeheure, eine doppelte
ter aller Berufung auf den klassischen Realismus in der Gegenwart künstlerische wie weltanschauliche Arbeit: nämlich erstens das ge­
insbesondere die offiziöse Sowjetkunst zu legitimieren geeignet dankliche Aufdecken und künstlerische Gestalten dieser Zusam­
war.H Adorno bezichtigt Lukacs einer undialektischen Voreinge­ menhänge; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstle­
nommenheit, aber er bedient sich ebenso wie dieser eines unabhän­ rische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusanm1enhänge -
gigen Vorwissens, wenn er im Abtausch der Reflexionskategorien die Aufhebung der Abstraktion. Es entsteht durch diese doppelte
:;. Erscheinung-Wesen sich bloß auf die andere Seite stellt. Hatte Lu­ Arbeit eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, eine gestal­
kies ein Wissen vom gesellschaftlichen Wesen der Wirklichkeit in tete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das
Anspruch genommen, um Kunst, die die Oberfläche schlicht ab­ Wesen klar durchscheinen läßt (was in der Unmittelbarkeit des Le­
photographiert, von der Kunst zu schejden, die das Wesen erfaßt, bens selbst nicht der Fall ist) doch als Unmittelbarkeit, als Oberflä­
so bemüht Adorno dasselbe Verfahren mit umgekehrtem Ergeb­ che des Lebens erscheint. Und zwar als die ganze Oberfläche des
nis. Lebens in allen ihren wesentlichen Bestimmungen und nicht nur
Ein bestimmtes Vorwis$en um den wahren Stand der Gesell­ ein subjektiv wahrgenommenes und abstrahierend übersteigertes
schaft berechtigt ihn, den Realismus als falsche Widerspiegelung und isoliertes Mome.nt aus dem Komplex dieses Gesamtzusam­
zu verwerfen und strikt antirealistische Kunstformen dem Wesen menhangs.«l5
der \'V'irklichkeit für angemessener zu halten. Kraft einer verschie­ Lukacs übernimmt an dieser Stelle eindeutig Hegels Begriff von
den akzentuierten, außerästhetischen Gesellschaftsdiagnose er­ Kunst als dem sinnlichen Scheinen der idealen Wahrheit, den er auf
klärt Lukäcs die Zerrissenheit für Oberfläche, um dem Realismus die formalen Kategorien der Unmittelbarkeit und Vermittlung be­
die Erfassung des Wesens zuzusprechen, während Adorno stim­ zieht. Das, was in der unmittelbaren Realität des Lebens bloß er­
migen Realismus zur Fassade rechnet und die wesentlichen Züge in scheint, ist nicht die Wahrheit, die das Wesen begreift. Um die geht
der Entzweiung sucht. Dieser Streit mag hier unentschieden blei­ es aber der Kunst, wenngleich sie die Wahrheit nicht in deren ei­
ben, denn um ihn zu entscheiden, müßte Gewißheit über das au­ gentlichem Medium des philosophischen Begriffs repräsentiert,
ßerästherisch leitende Vorwissen gewonnen werden. Daß dies sondern wieder als Schein, der nun aber das ganze Wesen enthälc.
Bei solcher Anlehnung an Hege! kann es Lukacs nicht mehr gelin­ Kunstäußerungen in die technische Sphäre beschwört die Gefahr
gen, dem Zug zur Selbstentfaltung der Theorie überzeugend ent­ völliger Assimilation an die von Technik bestimmte Welt herauf,
gegenzuwirken. Wenn Kunst das wahre Wesen der gesellschaftli­ innerhalb deren die Werke dann ideologisch affirmative Funktio­
chen Wirklichkeit erst erkennen muß, um es dann wieder im sinn­ nen übernehmen. Benjamin sieht die Gefahr und stellt dem per­
lichen Schein zu verstecken, wieso geht Kunst dann nicht konse­ spekti,renlosen •Routinier«, der den bestehenden »Produktions­
quent in Gesellschaftstheorie über und hebt sich selbst auf. Es apparat beliefen, ohne ihn zu verändern« das von Brecht über­
bliebe ihr keine eigene ästhetische Bedeutung mehr, sie hätte höch­ nommene Prinzip der »Umfunktionierung« entgegen.J9 Soll die
stens noch eine volkspädagogische Aufgabe der eingängigen Ver­ richtige, auf revolutionäre Veränderung verpflichtete Gesinnung
anschaulichung an sich erkannter Wahrheit. Wird Widerspiege­ nicht leer neben einer Technik einherlaufen, deren neutrale Logik
lung derart an ein zu erkennendes Wesen gebunden, so verliert man produzierend in jedem Falle befolgt, so muß die progressive
Kunst abermals das Spezifikum, auf das Ästhetik gerade blicken Perspektive sich in technischen Neuerungen der schriftstelleri­
muß. Schon gar nicht ist zu sehen, wie die hegelianisierendeJ6 Wc­ schen Produktion selbst dokumentieren und durch Veränderung
senswiderspiegelung im Kunstschein noch materialistisch soll ge­ des Apparats folgenreiche Wirkungen zeitigen . "für den Autor als
deutet werden. Produzenten (ist) der technische Fortschritt die Grundlage seines
Der einzige Versuch, das Problem materialistischer Grundle­ politischen.«
gung der Ästhetik auf einem Niveau zu behandeln, das über papie­ Freilich hat Bejamin auch erkannt, daß technische Neuerungen
rene Deklarationen hinausgeht, ist von Benjamin unternommen sich von der Perspektive der Veränderung isolieren lassen und als
worden.J7 Doch auch der Versuch vermag die Schwierigkeit einer Überraschungseffekte in den Verwertungszusammenhang hinter­
Spezifikation des Ästhetischen i n der Basis ebensowenig zu lösen, rücks wieder eingliedern, dessen Bestand sie gerade in Frage stellen
wie Lukacs dies. !m Überbau gelang. Benjamin geht völlig zu Recht sollten. Das Schicksal des Surrealismus, der in der Reklame endet,
von folgender Uberlegung aus. .Bevor man gemäß der Ideologie­ ist dafür ein Beispiel. Gegen diese Tendenz technischer Neuerun­
konzeption fragt: »wie steht eine Dichtung zu den Produktions­ gen, nicht verändernd, sondern bestärkend zu wirken, weiH sich
verhältnissen der Epoche?<•, sei zu fragen: »wie steht sie in ihnen? Benjamin indes keine andere Ausflucht als den Glauben an eine
Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk in­ immanent zwingende Vernünftigkeit des geschichtlichen Fort­
nerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit gangs. »Wir dürfen uns darauf verlassen: die Überlegung (ihrer
hat. Sie zielt mit anderen Worten unmittelbar auf die schriftstelle­ Stellung im Produktionsprozeß) führt bei den SchrifrsteiJern, auf
rische Technik der Werke. Mit dem Begriff der Technik habe ich die es ankommt, das heißt bei den besten Technikern ihres Fachs
denjenigen Begriff genannt, der die literarische Produktion einer früher oder später auf Feststellungen, die ihre Solidarität mit dem
unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialistischen Proletariat auf die nüchternste Art begründen.«1o Da die Parrei­
Analyse zugänglich macht.«>8 nahme letztlich doch die von Subjekten bleibt und sich technisch
Die Betrachtung der Werke unter dem Blickwinkel ihres techni­ nicht hinreichend bestimmen kann, um gegen Zweckentfremdung
schen Gemachtseins befreit die Ästhetik von allen Spekulationen gefeit zu sein, bleibt sie ihrer Intention zum Trotz folgenlos, wie
über Wesenswiderspiegelung und löst sich vom starren, für die das Beispiel derjenigen Surrealisten lehrt, die nebenbei auch Mit­
Kunsttheorie offenbar hinderlichen ÜberbaumodelL Allerdings glieder der kommunistischen Partei wurden.
folgt aus der Fundierung der ästhetischen Analyse im allgemeinen Zur Berufung auf einen Geschichtsglaubcn �'ird man genötigt,
Produktionsprozeß nicht, daß die Ambivalenz überwunden sei, wenn man Kunst restlos im Produktionsprozeß ansiedelt und
die bei Lukacs im Begriffspaar Wesen und Erscheinung thematisch doch von aller sonst ablaufenden Produktion so abheben will, daß
wird. Denn der Produktionsaspekt allein gestattet keine Unter­ in ihr die wahren gegen die falschen Tendenzen zum Durchbruch

l
scheidung zwischen »richtiger« und "falscher« Vermitdung mit kommen und Veränderung sich in technischer Konkretion voll­
den herrschenden Produktionsverhältnissen. Das Einrauchen der zieht. Die Ästherik findet an der Basis ebensowenig ihr eignes
Prinzip wie im Überbau. Die Konsequenzen aus der Position Ben­ demselben Grunde präzise von Philosophie unterschieden war. In
jamins hat Adorno gezogen, indem er die Parallelisierung von Kunst tritt der Geist als unmittelbare Ersche.inung auf, s o daß die­
technisch progressiven Werken mit solchen, die eine progressive, ses Stadium als vergangen abgelegt werden kann, nachdem der
d. h. richtige Ansicht der Gesellschaft bieten, subtiler begründete. Geist zu seinem vollen begrifflichen Wesen als Philosophie gelangt
Technische Progressivität wird hier von vornherein im artifiziellen ist. Zu einer derart radikalen Grenzziehung zwischen Kunst und
Rahmen auf dem Hintergrund ästhetischer Kennerschaft verstan­ Philosophie sehen sich weder die hermeneutischen noch die ideo­
den und nicht länger i n eine äußerliche Nähe zu materiellen Pro­ logiekritischen Entwürfe einer Ästhetik imstande. Da sie keinen
duktionsprozessen gerückt, die für die Selbstproduktion der Gat­ systematischen Begriff von Philosophie entwickeln, bzw. einen
tung verantwortlich sind. Gesellschaftliche Progressivität im Sinne solchen Begriff für unmöglich halten, lassen sie die Grenzen zwi­
der »richtigen« Ansicht der Wirklichkeit wird definiert unter An­ schen Philosophie und Kunst bewußt durchlässig. Die materiali­
setzung eines allemhalben herrschenden Verblendungszusam­ stische Ästhetik schließlich folgt Hege! insoweit, als sie Kunst ne­
menhangs. Was gegen den gängigen Fetischismus aufsteht, klassi­ ben Philosophie unter die Gestalten des Geistes einreiht. Sie wen­
fiziert sich damit sogleich als Wahrheit gegen den Schein. Auf­ det sich je.doch kritisch gegen Hegels Idealismus, indem sie allen
grund der ihrerseits dogmatischen Annahme eines lückenlosen fe­ Geist nur als Überbau einer materiellen Basis begreift. Damit gerät
tischistischen Banns, unter dem die Wirklichkeit liegt, wird es sie in die Aporie, Kunst nicht mehr spezifisch von sonstigen Er­
Ad orno dann leicht, die bisher stets fragliche Spezifikation des · scheinungen der Ideologie unterscheiden zu können und ihr ande­
Künstlerischen an Kunst zu verbinden mit der Benennung derjeni­ rerseits doch ein über ideologische Verblendung hinausweisendes,
gen Kunstform, die der marxistischen Einsicht in die Struktur der normatives Moment der Schönheit und Wahrheit zuzutrauen, ja
Gesellschaft angemessen ist. Kunst überhaupt fällt mit »Wahrer« sogar Aufklärung über das Wesen der dem Überbau zugrundelie­
Kunst auf die Weise zusammen, daß die Wahrheit über die gesell­ genden, gesellschaftlichen Praxis gerade von Kunst zu erwarten.
schaftliche Wirklichkeit als das Durchstoßen des Scheins im So bekommt Ästhetik auch im materialistischen Rahmen eine Er­
Grund nirgend anders denn in Kunst zu haben ist. Diese These im­ ken ntnisfunktio n.
pliziert jedoch den Verzicht auf alle übrigen Mittel der Ge sell­ Einer nüchternen Betrachtung muß die durchgängige Bezug­
schaftsdiagnose, insbesondere auf das Basis-Überbau-Schema, das nahme der Ästhetik auf den Wahrheitsbegriff und damit auf Philo­
einer marxistischen Ästhetik grundsätzlich im Wege steht. Daher sophie als eine Majorisierung der Theorie der Kunst durch p hilo­
kann die ästhetische Theorie Adornos auch nicht im strengen sophische Begrifflichkeit erscheinen. Ich möchte daher alle bisher
Sinne materialistisch heißen Y betrachteten Ästhetiken als heteronom bezeichnen. E s ist für sie
typisch, daß sie die Theorie der Kunst nicht autonom aufbauen,
Die Krise des Werkbegrif
fs sondern von Anfang an einer Fremdbestimmung durch einen Vor­
begriff von Philosophie, von deren Aufgabenstellung und Termi­
Die eingangs betrachteten Entwürfe einer philosophischen Ästhe­ nologie unterwerfen. Zugleich sei hier angedeutet, daß ich nur eine
tik trugen das gemeinsame Merkmal, mindestens so sehr einer phi­ Möglichkeit einer nicht heteronomen Ästhetik s ehe, die durch den
losophischen Selbstverständigung zu dienen, wie sie das Wesen Modellfall der kantischen »Kritik der Urteilskraft<< repräsentiert
von Kunst bestimmten. Kunst wurde in unterschiedlicher Weise wird. Bevor diese These im einzelnen durchgeführt wird, muß je­
auf \1\'ahrheit bezogen und stand daher von vornherein unter der do ch noch gezeigt werden, wieso die heteronomen Ästhetiken sich
Erwartung, eine Antwort auf eine genuin philosophische Frage zu angesichts gegenwärtiger Probleme der Ästhetik als besonders un­
liefern. Die Konsequenz einer letztlich auf den philosophis chen geeignet erweisen. Dies kann geschehen mit Hilfe einer Untersu­
Wahrheitsbegriff hin angelegten Ästhetik ließ sich vollends am Sy­ chung des Werkbegriffs.
stem Hegels studieren, wo Kunst ausdrücklich mit Philosophie im Es hatte sich bereits gezeigt, daß die auf Wahrheit in Kunst set­
Namen des absoluten Geistes auf eine Stufe gestellt wurde und aus zenden Ästhetiken notwendig einen Werkbegriff annehmen müs-

30
sen, der den on tologischen On des Au ftrerens von Wahrheit au­ WahrheitSbegriffen arbeitenden Äsrhetiken dar, die ihr jeweil ige s
ßerhalb eines theoretischen Gedankenzusammenhangs bezeich­ Programm erst in der Hyposrasierung entsprechender W erke zu
net. Als Werk erscheint eine objektive Gege be nheit, der ein eigen­ erfüllen vermögen. Nun gehört a ber die Kategorie des Werkes si­
ständiges Sein jenseits von Theorie und Reflexion zukommt und cher zu den traditionellen Bestimmungen der Ästhetik, die durch
die doch mehr ist als ein bloßes Stück Natur, wenn anders in ihr ge­ die Emanzipationsbewegung der modernen Kunst am gründEch­
rade Wahrheit präsent sein solL Werk wird �eit Aristoteles begrif­ sten in Frage gestellt wird. Seit den Konstruktionen des K u bismus
fen als ein technisch Herges telltes, eine zweite Wirklichkeit, in der und Futurismus, seit den Read y mades und den Materialbildern
-

die Natur nachgeahmt istY Diese ontol ogis che Vorentsch eidung aller Art zielt eine der wesentlichen Tendenzen moderner Produk­
steht am Beginn der ari stotelischen Poetik und beherrscht von da tion auf Überwindung oder Sprengung der herkömmlichen Werk­
an die europäische Tradition der Ästherik. An die Vorstellung ei­ einheit. Sei es, daß Best ände aus der Umwelt des Kunstwerks in es
ner gemachten Wirklichkeit vermag die christliche Sc höp fungs­ einbezogen werden, sei es, daß das Werk selber wie ein Ding unter
rheologie anzuschließen, derschon in der Patristik die Auffassung anderen zu erscheinen sich bemüht, in jedem Falle geht die lnten­
von Gon aJs oberstem artifex geläufig war. Die Umkehrung in der tion auf Nivellierung oder Auflösung der Sonderstellung des
Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen erwa seit Augu­ Werks. Die d�daisrische n Vexierbilder und die surrealistischen
srin schafft dann die Voraussetzung eines neuen Kunsrverständnis­ Schocks haben den Akt der Zersprengung der Werkeinheit selber
ses. Das Werk des Künstlers ist nicht mehr bloß nachgea hmte Na­ zum Thema der Kunst erhoben und damit eiu weiterwirkendes
tur, sondern stellt eine Welt schöp fung im kleinen dar. In dem Motiv der neucren Kunstäußerung eingeführt. Den Verrat an der
Sinneist der vorbildlos schöpferische Geist des löffelschnitzenden Idee des Werks betreiben schließlich mir voller Absicht jene aktio­
Laien bei Nikolaus CusanusH ein unmittelbarer Vorläufer des •al­ nisrischen Praktiken, die wie das Happening Kunst in einen Vor­
ter detts.-, zu dem Jul. Caes. Scaliger den Dichter erhebt.•• Hier gang übersetzen wollen oder wie gewisse Schöpfungen der neusten
sprich t sich ein Topos aus, der Gemeingut der Renaissancepoetik Musik nichrs als eine Kette wechselnder Vollzüge inaugurieren
(Philip Sidney) ist und bis ins r8. J ahrhundert (Bodmer, Breitin­ oder auch mittels mechanischer Vorkehrungen statt des •Werks<•
gcr) w eiterwirkt. Der Geniebegriff ist sein Erbe. nur einen permanenten Prozeß in Gang brin gen . Alle jene ästheti­
Die kurze histori sche Erinnerung4l soll die ontologische Vor­ schen Phänomene, die nicht auf der festen Gren zziehung zwischen
entscheid ung verdeutlichen, die der se lbs tverstä ndlichen Benut­ Werk als zweiter Wirklichkeit und der gegebenen Realität auf­
zung des Werkbegriffs im Rücken liegt. Die Werke sind als beson­ b auen , sondern mit der Einebnung der Grenzen spielen und ilue
ders sinnträchtige Gebilde ausgezeichnet, und sie werden für die Effekte aus der Zweideutig kei t verschwimmender Definitionen
Ästhetik unentbehrlich als Träger anschaulicher Wahrheit. In den ziehen, nehmen die Skepsis gegenüber der Geschlossenheit des
Augen der Henneneutik ermöglichen die Werke das Wahrheitsge­ Werks in ihr Zentrum auf. Die Bestrebu ngen in Ri chtung auf einen
schehen, indem aus ihnen eine den historischen Abstand überdau­ fließenden Übergang von »Kunst« und »Leben« experimentieren
ernde Sinnfülle spricht. Damit schließen sich die so ausgezeichne­ bereits in einem Felde, wo die Sonderstellung eines Werkes gar kei­
ten Werke zu einem klassischen, unvermindert gültigen Kanon zu­ nen Platz mehr findet.
sammen. Für die ideologiekritische Auslegungskunst sind die Die angedeuteten Tendenzen dienen in unserem Zusammen­
Werke die dunklen Spiegel einer das Denken verwirrenden und der hang d er Veranschaulichung der These, daß die Krise des Werk­
Reflexion nur aJs Rätsel zugänglichen Wahrheit, die sich überhi­ begriffs ei11 wesentliches Signum der modernen Epoche ist. Zu­
StOrisch zu verbergen weiß. Daraus entsteht der anti-klassische rnind esr stürzen die Beispiele aher d ic Behauptung daß eine Ästhe ­
,

Kanon der noch uners ch lo ssenen zukünftigen oder »avancierten«


, rik, die von den Erscheinungen einer system atisch be tri ebe nen
Werke. A uflösung der Werkein heit nicht Ken n tnis nimmt, sich gegen ei­
Die zwangsläufi ge und untereinander kontroverse Kanonbil­ nen wesentlichen Zug der Moderne blind macht. Dagegen verfängt
dung stellt das Resu Itat der mit unterschiedlich akzentuierten auch nicht der Einwand, man müsse den Werkbegriff nur weit ge-

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nug fassen, dann ließen die geschilderten Phänomene sich ihm sehr als gegeben unterstellen, was die zuvor erörterte Werkkategorie
wohl noch subsumieren. Die Kategorie des Werks droht nämlich gerade tut. Aber damit wäre die Methode transzendentaler Aufhel­
jeden Sinn zu verlieren, wenn sie widerstandslos umfassen soll, lung der Erfahrung prinzipiell ,·crletzt.47
was gerade ihrer Aufhebung und Zerserzung dient. Jedenfalls aber Die genannte Restriktion vor einem Begriff des Schönen schafft
ist die Verteidigung einer Kategorie in methodischer Hinsicht ab­ zugleich die Möglichkeit, ästhetische Wirkungen, die nicht vom
wegig, wenn die Kategorie dem Charakteristikum des zu erfassen­ Werke im eigeneliehen Sinne ausgehen, zu erfassen und in ihrer
den Gegenstands nicht gerecht wird. ästhetischen Bedeutsamkeir zu wiirdigen. In diesem Sinne jeden­
Offenbar sind also ästhetische Konzeptionen, die die überlie­ falls möchte ich Kanrs Theorie des Naturschönen aufgreifeo4E, die
ferte Werkkategorie unverändert unterstellen müssen oder gar auf in der Kritik der Urteilskraft klar dem Kunstschönen vorgeordnet
eine emphatische Betonung des Werkbegriffs hinauslaufen, am wird und sich aus dem leitenden Interesse an einer Naturteleologie
wenigsten geeignet, gegenwärtige Kunst auf den Begriff zu brin­ ergibt. Für Kam galten die ästhetischen Einsichten der dritten Kri­
gen. Diese Beobachtung schließt nicht aus, daß die Verwendung tik überhaupt nur als Sonderform49, die aus der Bemiihung um eine
der Kategorie des Werks fallweise sinnvoll ist, sie widerspricht nur allgemeine Teleologie entsprang. Die Beachtung des inneren Zu­
der uneingeschränkten oder fundamentalen Funktionsfähigkeit sammenhangs, in dem die ästhetische Urteilskraft mit dem Pro­
des Begriffs. blem der Naturteleologie steht, entkräftet das alte Argument des
bloßen Subjektivismus der kamischen Ästhetik. Die in jenem Zu­
Die Aktualität der kantischen Asthetik sammenhang gründende Bevorzugung des Naturschöncn, d . h. ei­
ner nicht aus gemachten Werken entspringenden ästhetischen
Wenn demnach einer Ästhetik, in der die Philosophie die Kunst als Wirkung, ist alsbald kritisiert worden. Vor allem Hege! hat die
eine maskierte Gestalt ihrer selbst zu identifizieren meint, die Ge­ Priorität umgekehrt und dem Naturschönen nur noch den Ran"
fahr der Heteronomie droht und wenn weiterhin die massive eines Abglanzes des i n Wahrheit geistigen Wesens des Kunstschö �
Werkkategorie, die den ontologischen Träger einer in Kunst sinn­ nen zuerkannt. Diese Deutung bestärkt die Werkkatcgoric, die zur
lich erschauten Wahrheit abgibt, gerade im Blick auf zeitgenössi­ unerläßlichen Voraussetzung aufrückt. Demgegenüber enthä l t die
sche Phänomene kein Vertrauen verdient, so bleibt als methodi­ kantische Lehre voni Naturschönen, wenn man sie aus ihrer Ver­
scher Weg allein der Ausgang von der ästhetischen Erfahrung üb­ klamme rungmit dem systemarischen Problem der Teleologie löst,
.
i gleichbedeutend mir dem Verzicht auf die Hyposwic­
rig. Das sc cme freiere Deutung der ästhetischen Erfahrung, die nicht not­
rung sinnspendender Werke und auf die Majorisierung der Kunst wendig und ausschließlich auf der Voraussetzung des Werks be­
durch philosophische Begrifflichkeir. Die Analyse ästhetischer Er­ ruht. Eben diese größere Freiheit kommt aber unseren Beobach­
fahrung hält sich strikt an die Wirkung, die von ästhetischen Phä­ tungen dctr Moderne entgegen, die vorn substantiellen Werkbegriff
nomenen ausgeht und in der allein »Kunst« zum Bewußtsein sich distanziert, um ästhetische Wirkungen aus allerlei Material zu
kommt, und sie bleibt allen weitergehenden Annahmen gegenüber schlagen.
abstinent. Die Analyse ästhetischer Erfahrung als einer besonde­ Kam sagt mit Absicht nicht, was es sei, das ästhetische Wirkun­
ren auf das BewußtSein ergehenden Wirkung ist vorbildlich in gen hervorruft. Er analysiert allein die Wirkungen innerhalb der
Kants Kritik der Urteilskraft geleister.•6 Der Verzicht auf die Hy­ ästhetischen Erfahrung, und dabei zeigt sich die Erfahrung von
postase des Werks ist in der kritischen Restriktion Kants ausge­ solcher Art zu sein, daß gar nicht gegenständlich und für sich ange­
drückt, daß vom Schönen kein eigener gegenstands-konstitutiver geben werden kann, was die Erfahrung auslöst. Was die ästhetische
Begriff anzugeben sei. Ein solcher Begriff müßte nämlich Begriff Erfahrung erfährt, konstin1ierr sich nämlich in der Erfahrung und
eines Gegenstands als Objekts der Erfahrung sein und zugleich durch die Erfah rung, so daß unabhängig von ihr nicht objektiviert
mehr enthalten, als die verstandesmäßige Strukturierung des sinn­ werden kann, ecwa in einem Werke, was Inhalt jener Erfahrung ist.
lieben Marerials an Erkenntnis erbringt. Er müßte Vernünhigkeit Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daß die sogenannte

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ästhetische »Erfahrung<< nicht als rein passive� Hinnehmen von äu­ als das Gegebene, das zugleich mehr ist, den Prozeß der Erfassung
ßerlich auf sie Wirkendem verstanden werden darf, daß vielmehr dieses Mehr auslöst und doch stets die letztliehe Identifikation des
die Erfalu:ung, wenn in ihr der ästhetische Gehalt erst konstituiert Gesuchten mit einem Verstandesbegriff verhindert. Ein begriffli­
wird, auch als Leist1mg beschrieben werden muß. ches Altgemeines hatte sich anfangs bereits als das un passend e Mit­
Kant spricht von der reflektierenden Urteilskraft, wo er die tel intellektueller Auffassung des Gegebenen erwiesen. Anderen­
ästhetische Erfahrung meint. Die reflektierende Urteilskraft ist ein falts wäre die Suche nicht in Gang gekommen. Die letztlie he Er­
der Erkenntnistheorie entlehnter Name und steht der bestimmen­ gebnislosigkeit der Suche, das nicht gelingende Auffinden eines
den Urteilskraft gegenüber, die im norm alen Erkenntnisprozeß passenden Allgemeinen, nach dem das gegebene Besondere zu ru­
am Werk ist. Während die bestimmende Urteilskraft im Erkennt­ fen scheint, deutet keineswegs darauf hin, daß die Suche falsch war
nisurteil ein Besonderes unter ein Allgemeines subsumiert, faßt die und etwas anderes hätte erstrebt werden müssen. Es geht nicht
Urte ilskraft in ihrer reflektierenden Tätigkeit cin gegebenes Be­ darum, nach einer Phase der Verwirrung nun die bestimmende Ur­
sonderes so auf, daß verfügbare Allgemeinbegriffe auf es keine An­ teilskraft verbessert wieder in ihr Recht zu setzen. Daß die reflek­
wendung zu finden vermögen, daß vielmehr von der Eigenart des tierende Urteilskraft an kein Ziel gelangt, läßt sie erst ihrer vermit­
Besonderen die Suche nach e.inem p assenden Allgemeinen erst mo­ telnden Funktion inne werden und darin gründet die ästhetische
tiviert wird. Wenn man das Re(lektie1·en in diesem .falle so ver­ Wirkung.
steht, zeigt sich, daß die einfac he Parallelitäi:, in die Kams Termi­ Dies meint Kam mit der >>Belebung der Erkenmniskräfte« und
nologie beide Tätigkeiten versetzt, die fragliche Leistung nicht voll der Anregung des »Lebensgefühls« so, worin sich aufde r Ebene der
zu decken geeignet ist. Die Leistung besteht zunächst im Gewahr­ Empfindung, also olme Begriff, das reine Leisten der intellektu e l­
werden, daß das vorliegende Besondere sich der Subsumtion nicht len Vermittlung selber darsrellt. Das Subjekt erfährt sich in seinen
fügt und die möglicherweise beizubringenden Allgemeinbegriffe Leistungen, was nur geschehen kann, wenn keine bindende Be­
ablehnt, sodann in der darauf antwortenden Bewegung, die die Ur­ stimrmheit vorliegt. Das auslösende Objekt bleibt unbestimmt,
teilskraft auf sich selbst zu rückb ringt, und das heißt auf ihre ver­ daher spielt sich die Beziehung zu ihm im Modus de( Sinnlichkeit
mittelnde Funktio n z�rischen Besonderem und Allgemeinem. Als ab, ohne doch von sinnlichem Interesse am Haben oder G enieße n
Reflexion wird die Urteilskraft selber in ihrem Vermitteln bewußt. des Gegenstands diktiert zu sein. Das Selbstgefühl entwickelt
Die gewohnte bestimmende Tätigkeit scheitert an Kunstphänome­ ebensowenig einen definiten Begriff des Subjekts, denn es erfüllt
nen, denn diese sind ja nicht identisch mit den erfahrbaren und be­ sich nur im reinen Leisten a�s Anlaß eines sinnlichen Angerührt­
stimmbaren Gegenständen,. als die Kunstwerke auch erscheinen seins. Das Absehen von der bestimmten Gegebenheit eines Ob·
können. Nicht die Objekte in Raum und Zeit sind problematisch, jekts einerseits und der transzendentale Blick auf das reine Leisten
sonder n das Kunsthafte an ihnen. Das Urteilen wird verwirrt und andererseits, das sich mit keinem Ich identifizieren läßt, macht den
d�mit wird der Urteilskraft ihre Funktion überhaupt präsent. Sie Charakter der Allgemeingültigkeit denkbar, der in der Kunster­
bewegt sich zwischen einem unbestimmbaren Besonderen und ei­ fahrung stets beansprucht wird. Da das Leisten nicht an ein indivi­
nem nicht verfügb aren Allgemeinen hin und her, und in dieser duelles Subjekt und sein eigentümliches Verhältnis zur Objektwelt
Schwebe wird die vermittelnde Bewegung ästhetisch gerade akti­ gebunden ist, kann die ästhetische Erfahrung im Prinzip von jeder­
v iert. Dies heißt Kant reflektierende Urteilskraft, und er analysiert mann vollzogen und erwartetwerden. Die Allgemeingültigkeit ba­
damit die Struktur ästhetischer Erfahrung. siert auf der Reinheit der im Bannkreis empirischer Sinnlichkeit
Die ästhetische Erfahrung konstituiert sich erst in einer Lei­ aktivierten Leistungen. Kant drückt diesen Umstand so aus, daß
stung, die Gegebenes als nicht nur gegeben interpretiert, so daß die das Geschmacksurteil allgemeine Bestimmung erheische.
Suche nach einem Allgemeinen motiviert wird, das erforderlich Unzweifelhaft bewegt sich Kanc in der Terminologie der Er­
scheint, aber nicht greifbar ist. Jene Interpretation und diese ziel­ kenntnistheorie. Erstaunlich ist aber, wie genau er durch A usdeu­
gerichtete, nie terminierende Suche, gehören insofe rn zusammen, tung und Umkehr erkenntnistheoretisch eingeführter Konzepte

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die ästhetische Erfahrung zu erfassen und nachzukonstruieren ver­ Reflexion und Schein
mag. Hier können Versuche zu einer gegenwärtigen Ästhetik sich
noch unausgeschöpfte Einsichten zunutze machen. Die erste we­ \Vtll man dieses freie Leisten, das weder auf ein Objekt verpflich­
sentliche Einsicht Kams, die es angesiehts moderner Kunstpro­ tet, noch an ein Subjekt gebunden ist, mit einem eigenständigen
duktion zu erneuern gilt, besteht darin, ästhetische Erfahrung in Namen versehen, so bietetsich der Titel »Schein<< an. Denn Schein
der Spannung zwischen sinnlichem Angerührtsein und schöpferi­ heißt gerade jenes selbständig gewordene Unselbständige, als das
schem LeistenP zu identifizieren. Er hat die sinnlich motivierte, man die reflektierende Urteilskraft in ihrer Leistung begreifen
aber unbestimmt bleibende Belebung der Erkcnntniskräfte, die muß. Die Leistung wird als solche ja nie eigendich gefaßt, wenn
sich in Gestalt reflektierender Urteilskraft vollzieht, als »ästheti­ man sie unter Rekurs auf ein Subjekt-Objekt.Verhäl tnis interpre­
sche Idee« auf den Begriff zu bringen versuchtY Es zeichnet die tiert, das im seihen Atemzug widerrufen werden muß, weil das
ästhetische Idee aus, daß sie ,.viel zu denken veranlaßt«, ohne dies Objekt nicht bestimmt und das Subjekt nicht identifiziert werden
je zu einem Begriff zusammenzuschließen. Der Anstoß, .viel Un­ kann. Schein bezeichnet ontologisch, was das ist, was wir bisher i n
nennbares hinzuzudenken•, machte jene besondere Erfahrung Erweiterung der kamischen Terminologie über den erkenntnis­
aus, i n der sich, obzwar sinnlich bedingt, dennoch eine unbe­ theoretisch vorbelasteten Reflexionsbegriff hinaus • Leistung «
grenzte Freiheit intellektueller Betätigung zu einer Art Spiel ver­ nannten.
selbständigt, das durch keine begriffliche Bestimmtheit einge­ Die Kategorie des Scheins ist in der Ä sthetikseit jeher gebräuch­
lieh und geht auf die Dichterkritik des platonischen »Staates• zu­
�chränkt und von dessen Teil nahme kein Subjekt ausgeschlossen
ISt. rück.14 Die Radikalität, mit der Plato den Schein der Kunst aus
Die zweite wesentliche Einsicht der kamischen Ästhetik hängt dem wahren Staat verbannt, hat stets Anlaß zu Verwunderung ge­
damit unmittelbar zusammen und räumt mit der Illusion auf, in geben, obwohl dahinter eine richtige Erkenntnis vom Wesen der
Werken gleichsam der leibhaftigen Kunst gegenüberzutreten, ihr Kunst steckt. Der bloße Schein wird aus besserer Einsicht in die
objektiv habhaft zu werden. Die Kunst weist nicht in besonderen Sache verdammt, und zwar auf Grund der Tatsache, daß er diese
künstlerischen Objeken t an, sondern konstituiert sich erst aus ak­ Einsicht vermissen läßt. Kunst genießt kein Lebensrecht im idea­
tiven Leisrungen der Vermittlung, die das Gegebene immer und len Staatsgefüge, weil sie ihrer Natur nach ganz als sie selbst ge­
notwendig überschreiten. Darin liegt die Weisheit von Kams nommen werden wiU und keinen Durchblick auf die Wahrheit
grundsätzlichem Verzicht, das Wesen von Kunst im Sinne der Be­ (&Hr3wx) von Sachverhalten gestartet, die im Schein bloß schei­
stimmung entsprechender Objekte anzugeben. Die oft beklagte nen (<paivEcrllat) und ihn daher· dementieren. Kunst ist Schein i n
Lücke des unbestimmt gebliebenen schönen Gegenstands, näm­ seiner Selbständigkeit und daher unfähig, diesen als Schein zu qua­
lich dessen, was das Schöne je istn, macht es der philosophischen lifizieren. Der als Schein aber nicht erkennbare Schein gilt als Trug
Theorie erst möglich, Schönheit oder weniger traditionalistisch: ('ljJeiiÖot;) und muß fallen, sobald sich Einsicht einstellt. Durch den
Kunst zu begreifen. Es gibt Kunst offenkundig nur im Raume ei­ logischen Begt·iff des auf Wahrhe it relativen Scheins kann daher
ner durch gewisse sinnliche Objekte ausgelösten Reflexionstätig­ Kunst, die in der Selbständigkeit des ScheillS ihr Wesen hat, nie le­
keit, die in einer nicht endenden Bewegung auf allgemeine Erfas­ gitimiert werden.
sung des Geschehenen hin und daher selbstvergessen reine Lei­ In der platonischen Dichterkritik spricht sich eine Auffassung
srungen hervorbringt, die zu keiner Bestimmtheit gelangen, da sie von Kunst als Schein aus, die die Vcrselbständigung des Unselb­
auf Sinnlichkeit bezogen im Banne des Objekts verbleiben. ständigen gerade ernst nimmt. Dadurch bekommt die Kunst für
Philosophie etwas tief Befremdliches, anstatt eine ursprüngliche
Verwandtschaft zu offenbaren. Die Kunst Trug zu nennen, heißt,
sie primär auf Wahrheit zu beziehen, aber in diesem Verhältnis die
prätendierte Selbständigkeit des Scheins einzuräumen, die sich als

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Verwirrung des Denkens und Verstellung der Wahrheit äußert. ln­ wüchsige Dichte auf, an der der Gedanke abprallte, ebensowenig
sofern gib� _Plato das Wesen der Kunst präziser an als jene philoso­ aber entzieht sie sich der reflexiven Erfassung wie die in eins ge­
phischen Ascheriken des heteronomen Typs, für die Hege! das drängte Wahrheit, die zwar der Intention des Gedanken selber ent­
Vorbild liefert. Er wird dem, was Kunst ist, gerechter, weil er nicht spräche, nur über dessen endliche diskursive Mittel schlechthin er­
nur fragt, was sie in philosophischer Perspektive zu erkennen gibt. haben wäre. Weder die ,vollkommene Äußerlichkeit noch die ge­
Gerade wenn man nämlich Kunst im Verhältnis zur Wahrheit defi­ steigerte Präsenz seiner eigenen Intention macht dem Gedanken
nieren will, muß man auf das gegen Wahrheit widerständige Mo­ vor der Kunst Schwierigkeiten. Es ist vielmehr die ungreifbare,
me·m i n ihr blicken.l5 durch nichts getragene Selbständigkeit ästhetischer Phänomene,
Indem Hege! die Kunst das sinnliche Scheinen der ldee nannte, die den Gedanken zur Bewältigung einlädt und doch gänzlich im
bezog er die Kategorie des Scheins auf ein für sich Bestimmtes und Stich läßt. In Kunst scheint etwas zu sein, das verstanden werden
Angebbares, das im Schein scheine und hob damit die Paradoxie will und kann, hingegen keinem Zugriff letztlich standhält. Dabei
des auf kein dahinter liegendes Sein verweisenden Scheins auf. liegt nicht eine bloße Erwartungsenttäuschung vor, in der sich
Dasjenige, �as in Kunst zum Scheinen kommt und von der philo­ zeigt, daß das Vermutete nirgends auffindbar ist; es erweist sich
sophischen Asthecik eigens namhaft gemacht werden kann, ist die nur, von anderer Art zu sein, als die Versteheuserwartung anneh­
Idee, der genuine Gegensta!}d des philosophischen Denkens. Die men konnte.
Ästhetik führt die Kategorie des Scheins in entkräfteter Weise ein, Das intentionale Objekt, in phänomenologischer Sprache gere­
insofern sie den Schein auf ein in ihm hervorleuchtendes Sein hin det, fällt nicht aus, so daß der Gedanke über der Erkenntnis seiner
durchsichtig macht und dieses Sein von der Natur des reinen Ge­ Täuschung zur Ruhe käme. Es offenbart aberauch nicht bloß wei­
dankenreichs sein läßt. Die Ästhetik verspielt damit nicht nur die tere, zunächst nicht gesehene Seiten, so daß eine Variation der An­
wahre Pointe der logischen Scheinkategorie, die ästhetisch zu nut­ sichten schließlich in der umfassenden Einheit des eidetischen Ob­
zen wäre, sondern beraubt den Kunstschein im Durchblick auf die jekts zur Erfüllung käme. Die Fehlleitung der Versteheuserwar­
Idee sogar seiner Eigenständigkeit. Von dieser Grundposition aus tung geschieht grundsätzlich, insofern das Phänomen selber die
wird die Tendenz für philosophische Ästhetik unabweisbar, statt Struktur der Unfaßlichkeit besitzt. Daraus resultiert ein inuner
die Kunst begrifflich zu erfassen, vielmehr den Begriff in Kunst neuer Rückzug, ein Ausweichen und Wiederkehren. Die Verste­
bloß zu spiegeln. henserwartung kann gar nicht umhin, das Phänomen unvollstän­
Die philosop��che Majorisierung von Kunst aber gestattet es dig oder nicht wirklich ins Auge zu fassen. Denn es ist die spezifi­
Hege!, trotz der Ahnlichkeit der Definition von Kunst als Schein sche Strukmr dieses Phänomens, sich anders zu zeigen, als es ist,
nicht die Vertreibung der Kunst aus dem von philosophischer ohne daß es daher nun etwas von dieser Struktur Verschiedenes
Wahrheit beherrschten Reiche einer platonischen Republik zu ver­ heißen dürfte. Daß das Phänomen sich anders zeigt, als es ist,
ordnen, sondern Kunst als eine Erscheinung der Wahrheit zu eh­ macht sein ganze.s Wesen aus, nicht liegt dahinter seine eigentliche
ren und systematisch einzugliedern. Plato hat die Selbständigkeit Wahrheit versteckt. Die Struktur der Unfaßlichkeit muß also in
des Scheins der Kunst besser erkannt: die stumpfe Seite, die Kunst dem Sinne anerkannt werden, daß das Unfaßlichsein selber dasje­
der Philosophie zukehrt, indem sie ihr gerade nichts zu sagen hat. nige an dem Phänomen ist, was sich nicht fassen und bestimmen
Freilich sollte die Anerkenntnis, daß der ästhetische Schein durch äßt.
l Gerade deshalb lädt e5 ja zur Deutung ein.
seine unbegründete, haltlose Existenz für den Begriff Verwirrung Man sieht die Unfaßlichkeit nicht auf den ersten Blick. Man
stiftet, nicht die Legitimation eines willkürlichen Verbots liefern, sieht Seiten, Aspekte, mögliche Zugänge des Phänomens, in denen
das faktisch ohnehin nichts nützt, sondern Überlegungen zur nur dies eine schillert, daß seine Unfaßlichkeit nicht sogleich zu
Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik veranlassen. fassen und zu entschleiern ist. Ließe sich das Wesen des ästheti­
Die Kunst widersteht der Durchdringung mit dem Gedanken schen Phänomens, nämlich stets anders zu sein, als es sich zeigt,
auf besondere Art. Sie weist keine substantielle, gleichsam natur- unmittelbar beim Namen nennen, wäre jedes Interesse an solch
faulem Zauber mit einem Male erloschen. Derart ist das Wesen von In keinem Bild ist das schlicht zu sehen, was der Betrachter darin
Kunst aber nicht, denn es zeigt sich eben stets anders, als es ist. sieht, in keinem Gedicht definitiv zu lesen, was man darin liest,
Kein Name trifft es ins Herz. Es erscheint immer wieder, es kehrt und bei keinem Musikstück genügt genaues Zuhören, um das zu
neue Seiten hervor, es reizt zu fernerer Deutung. Der Umstand, hören, was in der ästhetischen Erfahrung sich gibt. Die paradoxe
daß die eigentliche Struktur nie zutage tritt und sich dem Verste­ Formulierung soU die Unbestimmbarkeit des äscheciseben Gegen­
hen offenbart, drückt sich äußerlich in nichts anderem als der ver­ Stands hervorheben. Die ästhetische Erfahrung sieht etwas, das sie
meinten Sinnfülle von Kunstwerken aus, in der unermüdlichen Su­ nicht festmachen kann und das deshalb immer wieder da ist.
che nach ihrem Gehalt, der Anlockung von lnterpretationsfolgen. Der nicht empirische Überschuß, der crkanm und verstanden
Die ästhetische Erfahrung fühlt sich zunächst durch ein sinnli­ sein will, weil in ihm etwas aufscheint, das, weil es nur scheint,
ches Objekt angesprochen, indem sie darin mehr zu erkennen doch nie als ein beStimmtes Sein zu identifizieren ist, macht die
meint, als was in die Erkenntnis irgendeines sinnlichen Er�ah­ ästhetische Erfahrung aus und bedingt auf Grund seines Schein­
rungsgegenstandes eingeht. Sie .�ieht beispielsweise kein _l? mg, charakters ihre Unabschließba,·keit. Das zweite Moment: die Un­
sondern ein Bild. Man hat den Uberschuß über bloß empmsche . möglichkeit endgü l tigen Zugriffs gehört demnach zur ästhetischen
Erfahrungsgehalte das »Sprechen« des Kunstwerkes genannt, ob­ Erfahrung ebenso, wie die anfängliche Ahnung des ästhetischen
wohl diese Metapher die Illusion erzeugt, als sei hier etwas vorhan­ Gegenstands, die den Verstehensake initiiert. Die These v�m spre­
den, nämlich das Werk, von dem eine vernehmliche Rede �usgeht, chenden Kunstwerk und alle ähnliche Begrifflichkeit der Asthetik
der man nur lauschen müsse, um sie klar zu verstehen. D1e Meta­ hält sich aber einseitig an das Anfangsmoment und verkennt daher,
pher gibt zwar sehr plastisch eine Mein�ng wied�r, die die ästheti­ daß eine schlüssige Kommunikation zwischen Kunstwerk und Re­
sche Erfahrung zeitweilig über das, was 1hr geschieht, selber hegen zipienten nie ins Stadium voller Realisierung eintreten kann. Die
mag, ohne daß mit der Wiedergabe �er �einung schon deren An­ Kommunikation behält die Fragilität und das Schwanken, das ei­
gemessenheit sichergestellt wäre.. D1e Memung, da� Werk spreche, ner Erfahrung eignet, die ihren Gegenstand als nicht empirischen
entsteht der ästhetischen Erfahrung dann, wenn ste besonders St­ Überschuß sieht und doch auf keine rein intellektuelle Weise zu
eher etwas zu sehen und zu vernehmen glaubt, wenn sie also ganz objektivieren vc1mag, indem sie ihn als auf Verstehen angelegten
auf jenen nicht empirischen Überschuß konzentriert ist. Da� in c�­ Sinn schlicht entgegennähme. Denn der Überschuß, aus dem der
nem Objekt etwas sei, das mehr als schlichte Gegenständlichkelt ästhetische Gegenstand besteht, bildet sich in den reinen Leistun­
ist, kann die Erfahrung sieb nur so erklären, daß dies fragliche Ob­ gen eines Reflektierens, das an der sinnlichen Empirie entlang
jekt selber, wie im Märchen, gleichsam zu sprechen anfange. Auf spielt und daher nie zu sich vordringt. Die Freiheit, >>viel Unnenn­
diese Weise wird der ästhetisch empfundene V herschuß m das Ob­ bares hinzuzudenken•, verbleibt notwendig im Raum der konkret
jekt hincinverlegt. Die Projektion will unter dem Namen des Wc�­ erfahrenden Subjekte und zielt gar nicht auf Selbsterkenntnis im
kes das Objekt selbst dasjenige sein lassen, was doch mehr als em Stile einer Reflexion der Reflexion. Die ästhetische Erfahrunglernt
Objekt isr. Denn allein der ästhetisch ausgezeichneten Erfahrung nie sieb selbst begreifen, weil das hieße, sich selbst aufgeben. Sie ist
erschien es als ein Etwas, das sich von den empirischen Gegeben­ daher als ästhetische Erfahrung dem Schein immer wieder ausge­
heiten abhob. Die Rede vom sprechenden Kunstwerk verkürzt die setzt.
Erfahrung und setzt ein Moment absolut.
Die Analyse der ästhetischen Erfahrung, von der wir ausgegan­
Macht sich die Erfahrung nämlich d.aran, den empfundenen gen sind, muß diese Struktur bewahren und aufklären. Sie muß ei­
Überschuß als das Etwas zu bestimmen, als das sie ihn zu sehen nen Schein beschreiben, der wirklich scheint. Sie muß sich hüten,
und zu vernehmen meinte, so muß der Versuch mißlingen. Der besseres philosophisches Wissen so ins Spiel zu bringen, daß alles
ästhetische Gegenstand, wie wir das Gesehene Öezeichnen wollen, Scheinen zerstört wird, denn die Auslieferung der Erfahrung an

ist gar kein benennbares Etwas oder jedenfalls n �eht as �twas, als den Kunstschein ist gerade wesentlich. Die Analyse muß den
was er zunächst gesehen wurde. Der volle Zugnff stOßt ms Leere. Schein so weit als möglich seine Wirkung üben lassen, um dennoch
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43
zu de nken , was dabei geschieht. Aus dieser Lage entspringt die ge­ zipationsbewegung heraus aus dem klassischen Kanon und dem
schilderte Schwierigkeit des Gedankens vor der Kunst. Das Mo­ Regl ement herkömmlicher Werkgesinnung beginnen die Phäno­
ment des unauflöslich Befremdlichen, das Kunst für den philoso­ mene geradezu verzweifelt, ihr Scheinhaftes n ach außen zu kehren.
phischen Gedanken behält, indiziert die Angcmessenheit jener Die Kunst setzt zunehmend ihre traditionelle Substanz daran und
Stellung des Gedanken. Es muß ungehindert möglich sein, sich in sucht das Heil gleichsam in der Flucht vor sich selbst. Sie venve i­
den Schein �u verstricken, weil man dahinter nicht gelassen auf die gert dem Gedanken ausdrücklich die Möglichkeiten der Majorisie­
Anwesenbett der Idee rechnen darf. Das bedeutet soviel wie die rung, sie bietet ihm kalkuliertes Befremden. Will de.r philosophi­
Forderung, Kunsterfahru�g zu machen und neuer Kunsterfahrung sche Gedanke die Kunst nicht g:inzlich aus dem Auge verlieren, so
offen zu sem. Erst auf dteser Basis eines intimen Kontaktes der muß er sich aufderen Eigenart einstellen. Er muß dasBefremdliche
Analyse mit der ästhetischen Erfahrung, wo die Gefahr strukturel­ und Unverständliche verstehen lernen als etwas, das nicht der
ler EntsteU�� jener Erfahrung ausgeschlossen ist, kann eine phi­ schrittweisen Bewältigung harrt und auch nicht an einem utopi­
losophische Asthetik gedeihen. schen Ende schlagartige Einsicht verspricht. Er muß ästhetisch
Insbesondere die moderne Kunst hat erkennbar �'erden lassen realisieren, was in der Sprache des Begriffs Schein heißt.
daß philosophische i\sthcrik genötigt ist, rein auf die ästhetisch�
Erfahrung selber zu rekurrieren, will sie sich nicht vollends den
Zugang zu den Manifestationen abschn eide n, in denen Kunst seit
geraumer Zeit auftritt. Wenn zu den Charakteren der moderneo
Kunst das Neue ihrer unerwarteten Vorstöße, der Eroberung un­
betretenen Terrains, der radikalen Verleugnung gewohnter For­ Anmerkungen
men, der �elbscdest�k :ion, �er Zuspitzu11g auf schockartige Ef­
. .
fekte gehort, so 1st dte aschensehe Erfahrung, in der sich das ab­ 1 Vgl. K.-0. Apel,J. Habermas, H.·G. Gadamer u. a., Hermmeutik und
spielt, die einzig Z�1vc rl äs� ige Auskunfrsqucllc. Die behauptete Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971.
. z M. Heidegger, Vom Wesen des Kunstwerks, in: Holzwege, Frank­
Aktuahtat der kannsehen Astherik liegt darin begründet, daß sie
furt/M. 1950.
�ine in der Subtilität und Eindringlichkeit unübertroffene Analyse 3 System des mmsundentalen Ideali smus (r8oo), Harnburg '957• S. 17,
Jener Erfahrung vorgelegt hat und sich keiner Heteronomie und 279ff.; ähnlich die Einleitung zur Philosophie der Kunst (1 802/4).
Strukturverzerrung schuldig macht. 4 -Das Ku nstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichtS reflektiert
. Ge�� uns�rer Interpretation d�r k nti � c hen Analyse bewegt
� i Ich schon sich getrenm
wird, jenes absolut Identische, was selbs t m
steh d1e aschensehe Erfahrung hmstcht lich 1hres Inhalts z.wischen hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseins sich
v_erstehenserwartung und Indefinitheit des zu Verstehenden; in trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das
d1cser s �annungsv�llen Schwebe gelangt die Erfahrung an kein Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt.« (System, S.
.
End�. D1� Katego ne des Sch�ms kann nur lehren, die Ambiguität 294f.).
.
der asthetlschen Erfahrung w1rkltch genau zu nehmen, ohne an ihr s Wahrheit und Methode, I. Teil. Tübingen 1960.

begrifflich zu verzweifeln und in einer Art ästbetiseher Misologie


6 Wahrheit und Methode, Il. Teil.
7 Den konstitutiven Zusammenhang von Kritikbegriff und Geschicbrs­
die Kunst als philo�ophisch �offnungsloses Thema aufzugeben,
vorstellung, in ästhetischer wie in polirischer Hinsich t, hat Habermas
das nur mehr der pnvaten Ne1gung und Kennerschaft zu überlas­ in einer Interpretati on Benjamins herausgearbeitet, die deshalb beson­
sen sei. In der Kategorie des Scheins steht ein Mittel zur Verfü­ ders reich und philosophisch erhellend ist (Bewußtmachende oder ree­
gun.g, das die Ästhetik den Veränderungen und Umschlägen in der tende Krilik, in: ZurAkt1<alität Walw· Benjamins, Frankfurt/M.·t 972) .
Brette der Phänomene angepaßt sein läßt. Viel spricht dafür, daß S Der Begriff der Kumtkritik in der de�<tschen Romantik (Diss. Bern)
die Untersuchung mit dieser Kategorie den ionersten Intentionen Berlin 1920, bcs. S. ro7f. (Neuausgabe Frankfurt 1973).
der Modeme selber auf die Spur kommt. Denn im Zuge der Eman- 9 Ursprung des de:ttschen Tmuerspiels (1928), Frankfurt/M. 1963, Er-

44 45
kenntniskritischt Vorrede. - S. inzwischen die sorgfältige Werkausgabe 1 9 A.a.O. $. IJl, vgl. S. 13f.
\VI. Benjamins im Suhrkamp Verlag. 20 Was \VI. Benjamin später unter dem kritischen Vorzeichen des marx·
1o Das Kunstwerk un Zeitalter seiner technisc-hen Reproduzierbarkeif sehen Fetischismusbegriffs als den Verlust der Aura des Kunstwerks
(1936), in: Illuminati onen, Frankfurt!tvl. 1961. •im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« beklagte, hat He­
11 .Die Kritik läßt im Kunstwerk das Ideal des Problems in Erscheinung, gel ganz illusionslos konstatiert, da sich ihm dadurch die Möglichkeit
in eine seiner Erscheinungen, treten. Denn das, was sie zuletzt in jenen •wissenschaftlicher Kunstbetrachtung• eröffnete . »Die eigentümliche
aufweist, ist die virtuelle Formulierbarkeit seines Wahrheitsgehalts .als Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürf­
höchstem philosophischen Problem; wovor sie aber aus Ehrfurcht vor nis nicht mehr aus; wir sind darüber hin�us, Werke der Kunst göttlich
dem Werke, gleich sehrjedoch aus Achtung vor der Wahrheit innehält, vereltrcn und sie anbeten zu können, der Eindruck, den siemachen, ist
das ist eben diese Formulierung selbst.« (Illuminationen, S. 1 1 8f.). besonnenerer Art. .. Der Gedanke und die Retlexion bat die schöne
11. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, DiAlektik der Aufklämng, Amster­ Kunst überflügelt. Wenn man es liebt, sich in Klagen und Tadel zu ge­
dam 1947· fallen, �o kann mandiese Erscheinung für ein Verderbnis halten ... oder
1 J Die Prämissen, Schwierigkeiten und Resultate diesesVersuchshabe ich man kann die Not der Gegenw3rt, den verwickelten Zustand des bür­
an anderer Stelle ausführlicher erörtert: Was ist kritische Theorie? in: gerlichen und politischen Lebens anklagen.• (Äsch. I, S. 14).
Hermeneutik ,.nd Jdeologiek>"itik, a.a.O. 2 t Dara11 vermag auch die geistreiche Umdeutung des hegelschcn Ve1·dikrs

14 Die nacbgelasseneÄsLimische Theorie (Frankfurt!M. 1970) nimmt da­ durch D. Henrich nichts zu ändern, der gerade aus der Überwindung
her den Rang des systematischen Hauptwerks von Adorno ein, zumal der ästhetischen Unmittelbarkeit durch gedankliche Reflexion eine im­
sie philosophisch weitaus mehr überzeugt als die von Adorno systema­ plizite Prognose Hegels über zukünftige Kunst herauslesen will (Kunst
tisch gemeinte Negative Dialektik (Frankfurr/M. 1966). - Ich fasse und Kunstphilosophie d(r Gegenwart, in: W. lser (Hg.), Poetik und
mich zurÄsthetsi chen Tbeorie kürzer und verweise aufTh. Baumeister Htmteneutik l/, München •966). llenrich stützt sich auf eine von He­
und J. Kulenkampff, Geschc i htsphilosophie und philosophische Ästhe­ gel offenkundig später eingefügte Bemerkung über •objektiven Hu­
tik, mit deren Hauptgedanken ich übe,·einstimme. (NeueHeftefiirPhi­ mor• am Ende des Kapitels •Die Auflösung der romantischen Kunst­
losopbie 5, ·1 9.73) Vgl. aber den später entStandenen, hier wieder abge­ form• (II, lJ7), worunter Hege! seine Gegenwart begreift. Indes kün­
druckten Beitrag: Kam1 Theorie ästhetisch werden? digt der objektive Humor mitnichten eine kommende Phase origineller
r 5 Ästhetische Theorie, S. 140. Vgl. S. 419: •Kunst geht auf Wahrheit, ist Kunstproduktion an, sondern bezeichnet das zukunftlosc, unbedeu·
sie nicht unmittelbar: insofern ist Wahrheit ihr Gehalt. Erkenntnis ist tend gewordene Weiterspielen vertrauter Formen. Wenn Hege! der
sie durch ihr Verhältnis zur Wahrheit; Kunst selbst erkennt sie, ind�m Kunst ein Fonleben zugestanden hat, so nur als permanentem Bieder­
sie an ihr hervortritt. Weder jedoch ist sie als Erkenntnis diskursiv, meier.
noch ihre Wahrheit die Widerspiegelung eines Objekts.• (S. a. S. t93, 22 Einer der li l testen Hegelschüler, H. F. \VI. Hinrichs, best.ätigt diese im­
412) manente Tendenz. trefflich in seinen Ästhetischen Vorlesungen iiber
16 Eine merkwürdige Vorahnung dieser Auffassung findet sich am Ende Goethes Faust als Bein ag zur Anerkennung wissenschaftlicher Kunst­
·

des Einleitungskapitels der Philosophie der Kumt von Lukacs, wo das becrachllmg (Halle 1 S25), die sich die Aufgabe stellen, ·den wahren In­
Kunstwerk als ein substantiell gewordenes ·Mißvemändnis• gedeutet halt der Tragödie in der \Veise der Geda1zken zu e.ntwicl<cln•.
wird, das sich den üblichen Verstehensintemionen sperrt. (Erstmals ab­ 23 Gegen die These vom Vergangen�eitscharakter der Kunst, die offen­
gedruckt in: Neue Hefte fiir Philosophie 5, 1973; jetzt in der Werkaus­ kundig im Umkreis Hegels diskutiert wurde, lange bevor die Vorlesun·
gabe des Luchterhand-Verlags.) In Anknüpfung an Vorstellungen sei­ gen zur Ästhetik posthum erschienen, polemisiert Chr. H. \'ileisse (Sy­
nes Freundes Leo Popper und ganz analog dem späteren Emwurf stem der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit, 1830).
Adornos denkt Lukacs an eine direkte Verschränkung der Selbständig­ Mit den Mitteln der hegelscben Dialektik entwirft er nach dem antiken ·

keit der Werktechnik und der intentionalen Unerreichbarkeileines •ir­ und dem romantischen Ideal entgegen Hegels Verdikt ein •modernes
dischen Paradieses•. Ideal• der Kunst, worin das inzwischen entwickelte Bewußtsein und
1 7 Vgl. zur Entwicklung der Ästhetik nach Hege] meine Einleittmg zur die selbständige Reflexion vollkommen bruchlos mit dem 3stbetischen
Redam-Ausgabe der l lcgelschen Vorlesungen über Ästhetik, Snmgart Gebilde vermittelt erscheint. »Insbesondere sind es jetz.t die Schüler
1971. Hegels, welche den durch den geschichtlichen Enrwicklungsgang der
18 G. W. F. Hegel, Ästhetk i (Werkausg. 1842), I, S. IJO, 141. Phjlosophie notwendig gegebenen Standpunkt ihres Meisters als einen

47
absoluten behauptend und ihn gegen alle direkten und indirekten An­ gen anscQ..loß (in: Georg Lukacs, Probleme der Ästhetik, Neuwied
griffe nicht SO'�»;ohl im mutigen und gewandten Kampf., als vielmehr mit 1969)·
zugedrückten Augen und vorgehaltenem Spieße verteidigend, das lei­ 33 Die Dokumente finden sich bei Raddatz II (a.a.O.), insbesondere der
dige Geschäft übernommen haben, dem frei und herrlich aufgehenden Aufsatz von Lukacs: Es geht um den Realismus.
und nach allen Seiten und Riebtungen hin seine Strahlen verbreitend�n 34 Vgl. Th. \XI. Adorno , Noten zur Literatur I, Frankfurt!M . 1958, S. 64:
Tage der Kunst- und Idealbildung ins Angesicht zu beweisen, daß er •
Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie
kein Tag, sondern eine Nacht sei.« (S. 304) es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er
24 Vg!. Hege!, Ästhetik I. S. 309. die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäft
2 5 Auch Lukacs siehtsieb in dem oben zitierren Text genötigt, von seinem hilft.« Adornos offene Kampfansage erfolgt anläßlich des Buches von
Ausgangspunkt der su bjektiven Unmittelbarkeit der Erlebniswirklich­ Lukacs Wider den mißve.-standenen Realismus. (E1preßte Versöhnung,
keit her einen Werkbegriff:w konstiruieren, in dem der Fluß des Erle­ Noten zur Literat11r II, 196 1.-AlleFolgen derNoterz zur Liurat"rsind
bens objektiv zum Stehen kommt. Das Werk verkörpert einmal einen inzwis�hen in einem Band der Werkausgabe Adornos versammelt.)
die Subjekcivität übersteigenden »Wert• und zeiti gt zum andern ei ne 3 5 Es geht um den Realismus, in: Raddatz II, S. 69f.
Wirkung als objektiver Inhalt, der n ie voll in unmittelbares Erleben 36 Der Rekurs auf Hege! wird, soweit ich sehe, programmatisch in derPo­

aufzulösen ist und sich als dauerndes Mißverständnis• dem vollkom­ lemik gegen einen kamianischen Marxismus, wie ihn etwa der Litera­
menen Verstehen widersetzt. turhistorikerPranz Mehrin� vertritt. So zuerst bei K. A. Wittfogel (Zur
z6 Grundrisse der Kritik derpolitischen Ökonomie (1857/8), Berlin 1953, Fra.ge einer marxistischen Asthetik, Linkskurve 1930, S. 5-1 I ; wieder
s. 29ff. in: Ästhetik u. Kommunikation 2, Frankfurr!M. 1970), wo gegen den
27 So sieht es das veröffentlichte Vorwort des Buches ZurKritik derpoliti­ Subjektivismus Kants die Inhaltlichkeit der Hegeischen Kunstauffas­
schen Ökonomie (r8;9), Berlin 1968, S. 15. sung betont und gegen die transzendental-kritische Beschränkung des
28 In diesen Zusammenhang gehört die überraschende These aus den Kunstgenusses auf Interesselosigkeit das politisch gewendete Interesse
Ök.onomisch-philosophischen Manuskripten von Marx (1844), daß der des Geistes an seinen ästhetischen Manifestationen ins Feld geführt
Mensch im Gegensatz zum Tier bei der t.�tigen Reproduktion der Gat­ wird.- Ähnlich argumentiert Luk:ics in: Tendmz oder Parteilichkeit?,
tung »auch nach den Gesetzen der Schönheit formiert« (Friihe Scln-if­ Linkskurve 1932 (Raddatz. H). S. a. die umfangreiche, spätere Mehring­
tm I, ed. Lieber, 1962, S. 568). Vgl. Hege!, Ästhetik I, S. 10. kritik in: Lukacs, Probleme d. Ästhetik.
An dem Anspruch hält noch H. Marcuse fest, der die nonnative Gel­ 37 Der Autor als Produzent (t934), in: Ve,·sucbe übe,. ß,·echt, Frank-
tung künstlerischer Wahrheil nicht an das Gegebensein der materiellen furt!M. 1966.
B edingungen einer freien Gesellschaft binden will. Er schätzt die Auto­ 38 A.a.O., S. 98.
nomie der Kunst sogar derart hoch ein, daß er ein Zusammenfallen re­ 39 s. 104 fi.
volutionärer Praxis mit Kunst für unmöglich hält (Ko11terrevolution 40 S. 114, vgl. S. 116.
u11d Revolte, Frankfun/M. 1973, Kap. 3· bes. S. 122f., r 3 ; f., 145). 4r S. bereits die Exposition des Grundgedankens allein mit Hilfe der he­
28" Im nachhinein scheint mir innerhalb des ganzen Aufsatzes, den ich für gelschen Reflexionskategorien Unmittelbarkeit/Vermittlung, i n : Phi­
unverändert gültig halte, dieser Abschnitt am meisten zeitgebunden . losophie der neue>z Mu.sik (1948), Frankfurr!M. 1974, S. zof.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Thesen sowie der Integrität des 42 Physki 194 a 21, Poetik 4, 1.-6.
Ganzen habe ich ihn aber beibehalten. 43 Idiota de meme 2.
29 Zur Kunsttheorie des dialektischen Materialismus, Pbil. He/te IIl 3/4, 44 Poetica ( r 5 6r) I 2.
1932. - Vgl. auch die Mitteilungen aus den Forschungen am Raphael­ 45 Vgl. V. Riifner, Homo secundus deus, in: Pbil.]b. 63, 1 9 5 5 ; H. Blumen­
Nachlaß bei H. D. Sander, Marxistische Ideologie •md allgemeine berg, Nachahmzmg d. Natur, in: Sued. Gen. ro, I 957 (wieder greifbar in
Kunsttheorie, Tübingen 1970, S. 193 ff. - Inzwischen sind die haupt­ einer Aufsatzsammlungdes Reclam Verlags mit kleineren Arbeiten von
sächlichen Arbeiten von Raphael wieder zugänglich geworden. Blumenberg).
30 A.a.O., $. 147f. 46 Eine bemerkenswerte Wiederaufnahme des kantischen Ansatzes ist H.
31 In: F. Raddatz, Marxi;'lnu.s und Literatur III, Harnburg 1969. R. Jauss gelungen (Negativität und Identifikation, Versuch zur Theorie
32 Der gleichnamige Aufsatz entstand 1951 im Rahmen der Diskussion, d� ästhetischen E>falmmg, in: Poetik und Herme11e1�tik VI, München
die sich an Stalins erstaunliche Stellungnahme zu theoretischen Fra- 1973). Jauss ist vor allem an der intersubjektiven Kommunikation i n-

49
Darmstadt 1962) S. 3 f.) Wohlgeme rkt spricht Solger von der Kunst sel­
tcressien, die das reflektierende Geschmacksurteil als eines das nach
ber und nicht ihrer Produktion durch den Künstler. (Wie nochmals aus

Kant jedermann anzusinne� sei, stifrer. Der ästhetisch au gebildet.e
der Bemerkung über die •Technik praktischer Künsrler« hervorgeht,
_ Kants Wird vonjauss mit der aristotelischen Lehre
»Sensus communt.S•
die kein philosophischer Gegenstand sei (5).)
von der •Katharsis« zusammengcdacht, um schließlich Perspektiven

_
_R �
auf gesellschaftliche ezept onsmusrer und daran sich knüpfende prak­ 52 K. d. U. § 49, bes. A 195.
53 Schiller hat als erster in den Kailiasbriefen (1 793) versucht, die Lücke zu
tische Verhaltenswetsen frerzugeben. Ich zweifle, ob diese letzte Aus­
schließen. Er hat dabei notgedrungen die Ästhetik in ein anderes Ge­
dehnung in p�ktische Kommunikation von einer Analyse ästhetischer
biet, nämlich das der kantischen Moralphilosophie verlagern. müssen.
Erfahrung allem getragen werden kann. Für Kamergibt sie sich erst als
Da sich aber so kein objektiver Begriff der Schönheit entwickeln läßt,
Verbindung mit der Moralphilosophie der zweiten Kritik.
der der Mora lforderung der reinen praktischen Vernunft nicht Ab­
I_n den fol genden Jahren hatJauss die Position systematisch ausgebaut:
bruch tut, hat Schiller seine Vorstellung kohärent erst im Rahmen einer
Astherische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Frankfun/M.
volkspädagogischen Erziehung des Menschen zum Menschen durch­

'982). Es g_eling_t i �
das eltene, auf der Basis meisterlicher philologi­
führen können. (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795 .)
scher StudJen eme astheusehe Kategorienlehre zu entwerfen, die sich
u_m die Trias Po�esis, Aisthesis und Katharsis dreht. In der Forderung 54 Rep. 595ff.
emes grundsatziehen Ausgangs von ästhetischer Erfaluung bin ich mit 5 5 Im Zusammenh ng mit den hier diskutierten Fragen haben inzwisch en
a
A. Wellmer (Wahrheit, Schein, Versöhtrung, in: Friedeburg/Habern.us,
l
Jauss ganz einig. Ob die Kategorienin dem von ihm gemeinten Sinne zu
�cbrauche n sind, ist mir wen�ger deutlich. Poiesis hieß ursprünglich Hg., Adomo-Konferenz, Frankfurt/M. 1983, bes. r6off) und M. See!
Jede Produktion ohne •poensche• Qualität, Aisthesis hieß bis zu (Die Kunst der Entzweiung, Frankfurt/M. 1985} versucht, am Wahr­
heirsanspruch der Kunst fcszuhahcn.
t Im Blick auf Habermas und sein
Baumgane? neutrale Wahrnehmung und kathartische Reinigung von
Affekten d1ente kaum der Kommunikation (vgl. im eillZelnen meine Diskursmodell verlagert sich die Wahrheit dabei allerdings von den
Rezension von jauss in: Merkur, Okt. 1983). Werken auf ästhetische Argumentation über dieselben. See! verteidi!;l
47 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erklärt sich am ehesten in seiner Dissertation die Rationalität des Argumentierens anband von
Kants Lehre von der freien und der anhängenden Schönheit (K. d. U. Kunst recht geschickt (z. B. S. 207ff). Mir ist jedoch nicht klar, ob der
§ 16), die stets Anstoß erregt hat. (Zuletzt Gadamer, Wahrheit und Diskurs wirklich den Erfahrungsgehalt im Streitder Argumente durch­
Metl?odc, S. 42ff.) leuchtet oder nicht vielmehr erkenntnistheoretisch belastet. Es geht um
48 Die überraschende Erneuerung des Naturschönen in Adornos Ästhet1:. das Problem eines von Wissenschaft nicht präformienen Zugangs z.ur
scher Tbeorie (S. 97ff.) hat eine andere Funktion. Das Naturschöne Weh. Damit stehen wir doch wieder vor einerneuen Form der Hetero ­
wird �ieht unmittelbar als solches geschätzt, sondern im Kontrast ge­ nomie.
C. Menke-Eggers venritt auf derselben Linie eine subtil begründete
gen dte alles umspannende Verstandeskultur. Das Naturschöne dient
Position, die der ästhetischen Erfahrung eine eigentümliche •Souverä­
Adomo als ein neuer Titel für das in der historischen DialektikderAuf­
nität« zuerkennen will (Die Souveränität der Kunst, Frankfun/M.
klärung verdrängte •Ganz Andere«, seine Rehabilitierung soU im Ge­
1988). Der Durchlauf durch die ästhetisch fiktionalisierte Wiederho­
gen:t.ug zu Hege! den Geist warnen, in allem nur den eignen Abglanz
lung unserer automatisierten Weltwahrnehmung lasse unsere außeräs­
erkennen zu wollen.
thetischen Diskurse in neuem Licht erscheinen. Dadurch wird aber
49 K. d. U., Ein!. A L.
wiederum die ästhetische Erfahrung in den Dienst einer Rationalität
50 K. d. U., A 4, JI, 36, 74·
gestellt, die sie doch gerade erweitern hilft. Offenbar verbucht Mcnke­
5 1 Solger ist in der Sache gar nicht so weit von Kant entfernt, wie es auf
Eggers die Heteronomie als Gewinn jenseits der Kontroverse z.wischen
Grund seiner ficlueanischen Ausdrucksweise den Anschein hat wenn
hermeneutischer und ncgativitätstheoretischer Ästhetik.
:
er d�c Kunst et�as überpointiert zur •praktischen Philosophie zählt.
Insgesamt scheim mir die Tendenz der genannten Arbeiten, in denen
»(D1e Kunst) bnngt etwas aus dem Gedanken hervor, das sie in die Ob­
ich auch eine Auseinandersetzung mit meinen Vorschlägen erkenne,
jekte v_er�flanzt, das aber durch diese selbst niemals gegeben ist, son­
der Sache außerordentlich förderlich.
dern eJn;>,Jg und allein aus dem Bewußrsein erzeugt wird. Indem wir
nun unsere Gedanken an äußeren Objekten darstellen, so handeln wir.
Daher gehört die Kuns.� zur praktischen Philosophie.« (K. \VI. F. Sol­
ger, Vorlesungen iiber Asthetik, Ed. Heyse, Leipzig 1829 [Nachdruck
Zur Analyse ästhetischer Erfahrung I.

Das Urteil Goethes entstammt dem Umkreis des deutschen Idea­


lismus. Hier ist das Verhältnis von Anschauung und Begriff ein­
Goethe schreibt im achten Buch von Dichtung und Wahrheit: dringlich erörtert und leidenschaftlieb umstritten gewesen. S� ­
•Auf :Gweierlei Weise kann der Geist höchlich erfreut werden, wohl die Getrenntheit wie die wechselseitige Verschmelzung bei­
durch Anschauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen würdi­ der sind gefordert worden, ja die eine Position ruft die andere her­
gen Gegenstand, der nicht immer bereit, und eine verhältnismä­
.
vor. Das Verhältnis von Anschauung und Begriff bietet daher so
ßige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt ist. Der Begriff hin­ etwas wie einen Leitfaden für die Entwicklung der Philosophie
gegen will nur Empfänglichkeit, er bringt den Inhalt mit und ist von Kants Kritizismus bis zu den ersten Höhen idealistischer Spe­
selbst Werkzeug der Bildung.• ' Die Stimulation des Geistes zu sei­ kulation.
ner gesteigerten Wirksamkeit erfolgt im Falle der Anschauung auf Kant hatte die endliche Erkenntnis auf Empirie bezogen indem
,

indirektem Wege während der Begrif


, fsich selbst direktInhalt s i t. er die Spontaneität des Begriffs mit gegebener Anschauung er­
Wer auf Anschauung setzt, muß warten, bis der passende Gegen­ füllte. Nach dem bekannten Diktum der K1i.tik der reinen Ver­
stand sich zeigt oder die entsprechende Bildung zu seiner geistigen nunft sind »Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Be­
\Xfahmehmung erreicht ist. Die Konzentration auf den bloßen Be­ griffe aber blind«.' Die tiefe Kluft zwischen den gleichermaßen
griff erleichtert dagegen dem Geiste die Erfahrung, da er auf ratio­ notw endigen Seiten bringt die eigentliche Beschränktheit jeder
nale Tätigkeit ohnehin angelegt ist. dem Menschen möglichen Erkenntnis zum Ausdruck. Da wir An­
Die Gegenüberstellung von Anschauung und Begriff mag für schauung und Begriff niemals zugleich haben, müssen wir in syn­
die Aufgaben und Möglichkeiten des Künstlers bzw. des Philoso­ thetischen Leistungen die Vereinigung beider zur objektiven Er­
phen stehen. Von dieser eingeführten Verhältnisbestimmung gehe kenntnis jeweils erst aufbauen.
ich aus, um die Frage nach der Eigentümlichkeit ästhetischer Er� Derselbe Kant hatte jedoch eine intellektt�elle Ansehaltung ange­
fahrung zu stellen. Was kann eigentlich der auf Begriffsarbeit ein­ nommen, die als solche ihren Inhalt unmittelbar produziert. Die­
geschworene Denker über die besondere Domäne des Künstleri­ ser •intuitrts originarius.-, wo Begriff und Anschauung zusammen­
schen wissen? Wie stehen Anschauung und Begriff zueinander, wo fallen, ist freilich nur Gott vorbehalten) Eine Philosophie, diesich
es um die Analyse ästhetischer Phänomene geht? Genügt hier die darauf beriefe, wäre der Weckung übertriebener Hoffnungen und
herkömmliche Bereichsabgrenzung zwischen zwei Weisen geisti­ einer aufgespreiz.ten Präremion verdächtig. In der Tat sieht Kant
ger Anregung, um z.u Klarheit zu gelangen ? Die Frage zerfällt in nach der Vollendung seines Konzeptes strenger Erkenntniskritik
mehrere Teile. Zunächst werden zwei traditionelle Auskünfte un­ am Beginn der idealistischen Epoche Anlaß, über einen »neuer­
tersucht, die eine vollkommene Einheit von Begriff und Anschau­ dings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie• Klage zu
ung behaupten (I und II). Aus dem Zweifel an dieser Lösung er­ führen (1796). In dem gleichnamigen Aufsatz heißt es:
wächst dann gerade im Blick auf Hervorbt·ingungen moderner ,.Der diskursive Verstand muß viele Arbeiten zu der Auflösung
Kunst eine Konzeption, die von der Festlegung auf Anschauung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Prinzi­
und Begriff Abstand nimmt (III), um eine zwischen den beiden pien verwenden . . . , statt dessen eine intellektuelle Anschauung
Polen hin und her spielende Reflexionstätigkeit als Kern der ästhe­ den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen
tischen Erfahrung zu erweisen (IV). würde. - Wer sich also im Besitz der letzteren z.u sein dünkt, wird
auf den ersteren mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt ist
die Gemächlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke
Verleitung, ein dergleichen Anschauungsvermögen dreist anzu­
nehmen, imgleichen eine darauf gegründete Philosophie bestens

53
zu empfehlen.« Die platonische [deenlehre habe zuerst die unmit­ im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich
telbare Vernunftschau des Absoluten eingeführt, und so sei Plato
intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtsein
..der Vater aller Schwärmerei mit der Philosophie«.1
daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwa �
Der Ausgriff auf intellektuelle Anschauung zusammen mit dem
weiß, weil ich es rue. Daß es ein solches Vermögen der intellektuel­
len Anschauung gebe, läßt sich nicht durch Begriffe demonstrie­
Rekurs auf Plato steht nun in der Tat, auch wenn die Polemik des
ren, noch, was es sei, aus Begriffen entwickeln. Jeder muß es un­
kantischen Aufsatzes historisch geringeren Opfern galtl, am Be­
minelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennenlemen.
ginn der idealistischen Spekulation. Nicht anders nämlich als
Die Forderung, man solle es ihm durch Räsonnement nachweisen
durch Verschmelzung von Begriff und Anschauung war die in der
ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Bl indge-:
Transzendentalphilosophie aufgerissene Kluft von Anschauung
boreneo sein würde, daß man ihm, ohne daß er zu sehen brauche,
und Begriff zu schließen. Genau betrachtet haue Kam Anschau­
erklären müsse, was die Farben seien,•'
ung nur negativ fassen können als Angewiesenheit der Erkenntnis
Was Sehen ist und was man im Sehen sieht, ist allein durch die
auf unverfügbares Material, das gegeben sein muß, bevor der Be­
Tat des Sehens zu demonstrieren. Ebenso wird ein ursprün<>licher
griff sein Werk tut. Die sinnliche Anschauung ist also diejeni<>e
Seite der Erkenntnis, die der Nicht-Identität von Subjekt und O ­b �
Akt der Philosophie vorausgesetzt, aus dem alles andere kr ft Be­
stimmung fließt, nämlich Selbstbewußtscin, Denken, Begriff etc.
jekt Rechnung trägt. Ihr entspricht die Annahme eines Dinges an
Da nichts jenem Akt!! vorangeht, insofern er allem zugrunde liegt,
sich als eines Grenzbegriffs, den wir setzen, um ihn nicht zu über­
kann er nicht bewiesen oder einleuchtend gemacht werden. Von
schreiten. Das erkenntnistragende Eigenrecht des Objekts kann
dem Akt läßt sich nichts sagen, bevor er vollzogen ist. Über ihn zu
dem Erkenntnisanspruch des Subjekts gegenüber nur so geltend
reden unabhängig von seinem Vollzug, heißt ihn grundlos fordern
gemacht werden, daß das Subjekt sich selber einschränkt. An­
oder faktisch ansinnen. Doch sind dies offensichtlich unangemes­
schauung wird dann zur Formel der Selbstbeschränkung des Sub­
s�ne Weisen der Be�ug�ahmc auf den Akt der Anschauung, denn
jekts. Sie ist in Wahrheit ein transzendental-philosophisches Kon­ _
Sie smd weder begnffhcher noch anschaulicher Natur. Vielmehr
strukt des kritisch auf seine Endlichkeit reflektierenden Men­
schen.6 Nichts liegt infolgedessen näher als das Gedankenexperi­

ha en sie angesichts jenes besonderen Aktes als die einzig übrig­
bletbendc Verständnismöglichkeit faute de mie1tx zu gelten. So
ment der intellektuellen Anschauung, in der diese Selbstbeschrän­
kung "l'.'ieder aufgehoben wird.7
!
ri ckt die •philosop hisch-wissenschafrliche Anschauung•, wie
Ganz konsequent faßt Fichte die intellektuelle Anschauung als
� _
F1chte sa g , an d1e Se1te der »sehr nahe verwandten Anschauung«
.
_
die Weise, wie das sich selbst beschränkende Subjekt sich als ein der Poene 0: man hat s1e oder man hat sie eben nicht!
Daß sich über die geforderte Anschauung nichts weiter ausma­
solches gegenwärtig wird. Die vom Subjekt eigenhändig vorge­
chen läßt, bildet den Preis für den Versuch, etwas Undenkbares zu
nommene Selbstbeschränkung, die die endliche Welterkenntnis
denken. »Anschauung« dient Fichte als Name für die totale Un­
erst konstituiert, muß als Tat des SubjektS noch vom Subjekt erfaßt
werden können. Das Subjekt, das sich als sich selbst beschränken­
mittelbarkeit des Bewußrseins. Während das Bewußtsein seiner
Natur nach reflexiv arbeitet und stets das Bewußtsein von etwas
des zum Gegenstand nimmt, hat es nur mit sich zu tun, obwohl es
mit dem Bewußtsein von sich vermittelt, soll in der intellektuellen
gerade so seine Ausrichtung auf ein Objekt sich erst ermöglicht.
Fichte meint die Struktur des frei handelnden Ich. Die Form, in der
� nschauung zwar Bewußtsein sein und doch jede Reflexion ausge­
loscht. Anschauend lebt demnach das Bewußrsein in letzter, un­
ein lch, das zu sich Tch sagen kann, seiner selbst gewahr wird, ist
die Anschauung. Hinter die ursprüngliche Anschauung, die intel­ überholbarcr und unhinterschreitbarer Unmittelbarkeit. Es übt
gleichsam seine Existenz. im Rücken aller begriffljchen Bestim­
lektuell und also nicht sinnlich gebunden, produktiv und also nicht
passiv hinnehmend zu denken ist, vermag keine philosophische �ung aus. Die »Magieder Anschauung«, die Schclling im Gefolge
F1chres ausdrücklich beim Namen genannt hat' ', soll die Paradoxie
Analyse des »sich selbst konstruierenden lch« z.u riickzusteigen.8
eiries vorbewußten Bewußtseins schlagartig auflösen.
»Dieses dem Philosophen angemutete Anschauen seiner selbst

55
Il. und perspektivische Gesetze gcgri.indete Wissenschaft, die dem
Maler einen Ehrenplatz unter den angesehenen Gelehrten si­
In der bisherigen Überlegung, die sich auf ein repräsentatives Ka­ chert. •+ Ähnliche Auffassungen, wenngleich noch pointierter, tre­
pitel der Philosophiegeschichte beschränkt hat, sind zwei innerlich ten in den Notizen Leonardos zutage. Die gottgleiche Wissen­
miteinander verknüpfte Bedeutungen des philosophischen Be­ schaft der Malerei gilt als eine Art philosophischer Spekulation, in
griffs der Anschauung hervorgetreten.12 Für die kritische Tran­ der alles auf die szientifisch bestimmte Leistung des AugesgeseLzt
szendentalphilosophie KantS bedeutet Anschauung soviel wie ist. Ein solches Können der unminelbaren Vergegenwärtigung al­
Sinnlichkeit. Damit ist sie negativ in bezug auf das Verstandesver­ ler Inhalte überragt klar die Sprache der rhetorischen Dichter und
mögen spontaner Begriffsbildung als dasjenige Element der Er­ diskursiven Philosophen. ' '
kenntnis definiert, das unserer Verfügung entgeht und gegeben I n einem Gespräch, das allerdings von anderer Hand schriftstel­
sein muß. Mehr als diese negative Auskunft ist nicht zu erlangen: lerisch aufbereitet worden ist, soll Michelangelo erklärt haben: "Je
Ansch:wung heißt das Nichtbegriffliche. Schon die allgemeinen länger ichdarüber nachdenke und grüble, um so mehrfinde ich un­
Anschauungsformen, Raum und Zeit, die die transzendentale Äs­ ter den Menschen nur eine ein2. ige Kunst oder Wissenschaft. Ich
thetik behandelt, sind von uns erzeugte Ordnungssrrukruren. Die meine die Malerei. Denn alle andern sind nur ein Teil von ihr . . .
zweite Bedeutung des philosophischen Begriffs der Anschauung Ein jeder, der menschliche Schöpfungen eingehend betrachtet,
geht auf die Absolutheitsforderung der Fichteschen Wissen­ wird mit Sicherheit erkennen, daß sie Malerei oder ein Teil der Ma­
schaftSlehre zurück. Anschauung gilt hier als der letzte und grund­ lerei sind. Der Maler ist fähig, das z.u erfinden, was noch nicllt ent­
legende Modus von Unmiuelbarkeit, in dem das Ich sich selbst ge­ deckt worden ist.«'6 Die Macht neuer Schöpfung beißt in platoni- ·

wahr wird, bevor es im Gegensatz. zu dem von ihm gesetzten sierender Terminologie'7 eine »Nachahmung göttlicher Vollkom­
Nicht-Ich ein Selbstbewußtsein entwickelt. menheit und Erinnerung an göttliche Malerei« . '8 Sie beruht auf je­
Es zeigt sich, daß die beiden Varianten der systemarischen Be­ ner »Freiheit des Sehens«, die den Maler auszeichnet. Wirkungen
nutzung von Anschauung abgeleitet sind. Die Erkenntnis- und Be­ der italienischen Kunsttheorie zeigen sich schließlich auch in Dii­
wußcseinsproblematik gibt die beherrschende Orientierung vor, rcrs Schriften über Proportionslehre und Malerei, die als Anlei-
so daß Anschauung nur mehr als das negative Komplementdes Be­ wng zu einer Wissenschaft auftreten. '9
..
griffs oder die radikale Aussetzung der Vermittlungsstruktur des Aus den Renaissancetraktaten spricht einheitlich die Ubcrzeu­
Bewußtseins erscheint. Auf dieser Basis ist aber die Analyse ästhe­ gung, die Malerei als Führerin der Künste sei nichtS Unwissen­
tischer Erfahrung von vornherein künstlich eingeschränkt. Um schaftliches, weder den begrifflichen Erkenntnissen untergeordnet
den Blick zu weiten, empfiehlt sich daher ein Vergleich mit einer noch ihnen erwa unvergleichbar, sondern die erhabenste Wissen­
ebenso repräsentativ ausgewählten Kunsttheorie, die ins Zentrum schaft, die den Menschen geradezu Gott gleichstelle. Ab Grund
die Anschauung setzt. Diese Kunsttheorie ist in einigen Renais­ für die Überlegenheit erscheint die •Freiheit des Sehens«, die um­
sancetraktaten über Malerei entworfen, die natürlich derbegriffli­ fassende und exakte Potenz. des Auges, das schlagend Einleuch­
chen und argumentativen Schätfe philosophischer Abhandlungen tende der produzierten Sichtbarkeit. Will man daraus in aller Ge­
ermangeln, aber die Grundthese mit erstaunlicher Einmütigkeit drängtheiteine Grundthese formulieren, so steht sie auf den ersten
und Originalität ohne vollständig rekonstruierbaren Rückgriff auf Blick konträr zu den eingangs betrachteten Positionen der ncueren
literarische oder philosophische Traditionen aufstellen.'l Philosophiegeschichte. Anschauung bildet keinen Gegensatz. zum
Die Grundthese lautet auf den Wissenschaftscharaktervon Ma­ Begriff, weder im negativen Sinne der Unbegrifflichkeit noch im
lerei und den Vorrang, der dieser auf strenge Regeln der Anschau­ Sinne· vorbegrifflicher Unmittelbarkeit. Anscha�•ung verlängert
lichkeit gegründeten Wissenschaft vor andern Wissenschafren und vielmehr konseq1tenc das begrifflich-wissenschaftliche Tun i.iber
Künsten gebührt. L. B. Albecti konzipiert in seinem Traktat De die Regelgebundenheit und Gesetzesstarre der theoretischen Re­
pictura die Malerei als eine der Mathematik ähnliche, auf optische konstruktion einer bereits e.'<istierenden Wirklichkeit hinaus bis zu

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dem Punkte freier Neuschöpfung von Wirklichkeit, worin dasGe­ auf Ideen gegründeten Ordnung der Polis verdient sie keinen
nie dem göttlichen Weltenschöpfer ebenbürtig wird. Platz, weil sie den geistigen Gehalt ganz an die vordergründige
Die Apotheose der Malerei, das hymnische Preislied auf die Sinnlichkeit verrät. Die Hegeische Ästhetik dagegen, die Kunst
Wissenschaft des Auges bedient sich freilich sachfremder Argu­ umgekehrt wegen ihres geistigen Gehalts würdigt und in ihr das
mente. Die auf Anschauung gegründete Kunst wird keineswegs »Sinnliche Scheinen der Idee« erkennt, weist die größte Schwäche
aus ihren eigenen Kräften verteidigt, sondern wie eine exakte Er­ dort auf, wo Rechenschaft über die sinnliche Anschauungsseite
kenntnis analog der Mathematik behandelt. Kunst, die als Wissen­ von Kunst zu geben wäre. Die Kategorie des Scheins entstammt
schaft soll auftreten können, befindet sich offenbar in einem Legi­ nämlich der Logik und nennt ein komplexes Verhältnis des sieb
rimationszwang. Die programmatischen Erklärungen verraten noch nicht ganz durchsichtigen Begriffs. Der logisch bestimmte
stets eine apologetische Absicht, insofern Kunst, statt autochthon Schein hat mit Sinnlichkeit so wenig zu tun, daß die vollständige
auf einem Eigemecht zu bestehen, so aussehen will wie die eta­ Eroberung begrifflicher Selbstvermittlung im Reiche der Philoso­
blierten »scientiae«, um dann gar deren Spitze zu beanspruchen. phie der sinnenabhängigen Kunst eine systematische Vorläuferpo­
Wenn Anschauung die Basis der bildnerischen Kunst ist und die sieion und damit historisch die Vergangenheit zuweist. »Der Ge­
Malerei im Streit der Künste (paragone) die Palme davonträgt, danke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.<<"
dann sagen jene wortreichen und geschmückten Äußerungen Über Besonders demlieb wird die Unverzichtbarkeir des sinnlichen
das Spezifische der Anschauung wenig. Ein eigenständiger ästheti­ Elements bei der Erfahrung von Kunstwerken jedoch, wenn man
scher Begriffsapparat entfällt, da Anschauung nicht in Absetzung deren Einzigkeit zu begreifen sucht. Jedes Kunstwerk ist ein »Sin­
vom Begriff, sondern als Vollendung des Begriffs verstanden wird. gulare tantum<<. Es gehört nicht wie ein Fall unter eine Regel oder
wie eine Instanz unter einen allgemeinen Typus. Alles kommt auf
seine ganz eigentümliche, nur in ihm verwirklichte Physiognomie
III. an. Will man es erfahren, muß man sich ihm in seiner konkreten
Einzigkeit stellen. Die Sinnlichkeit muß sich einlassen auf diese
Was hätte die theoretische Analyse der Anschauung als Medium unverwechselbare Farbgebung, die nie geahnte Lichtführung, den
ästhetischer Erfahrung denn zu leisten? Sie hätte Aufklärung zu nicht zu wiederholenden Pinselstrich, auf die singuläre Fügung der
liefern über einen Akt, der sowohl rezeptiv wie spontan in einem . Worte, die unerhörte Bearbeitung des Tonmaterials oder die ei­
ist.•0 Sie muß folglich Abschied nehmen von allem Bezug auf Be­ genwillige Komposition. Basis der ästhetischen Erfahrung bildet
grifflichkeit, sowohl dem negativen wie dem affirmativ-vollende­ daher ohne jeden Abstrich die reale sinnliche Begegnung mit dem
ten. Anschauung muß ohne Rekurs auf Begriffsstrukturen analy­ Werk, das Dabeisein bei der Aufführung, die laute oder leise Lek­
sierbar sein. Daher ist zunächst in aller Strenge festzuhalten am türe des Gedichts.
sinnlichen Element der Anschauung. Fraglos stellt dies für die Be­ Erst die Kunstwissenschaft beginnt, aus der sinnengebundenen
griffsdominanz der philosophischen Ästhetik die größte Schwie­ ästhetischen Erfahrung Allgemeinheiten herauszufiltern. Es
rigkeit dar. Wie soll denn dasjenige gedacht werden, das allem kommt dann zu den ikonelogischen oder ikonographischen Klas­
Denken am fernsten steht? Zur Erläuterung dienen zwei Hin­ sifikationen der Stile und Epochen, der typischen Motive, Por­
weise. träts, Stilleben usw. Die wissenschaftlichen Konstrukte treten an
Plato hat auf die Beobachtung der begrifflichen Unzulänglich­ die Stelle der sinnlichen Konkretion. Angesichts des 4sthetischen
keit sinnlicher Anschauung ganz richtig reagiert. Seine Mimesis­ Gegenstands ist freilich das übliche Abstraktionsverfahren aller
theorie spitzt sich in dem berüchtigten Verdikt über die bildenden Wissenschafren fehl am Platze, das sinnliche Daten zum Zwecke
Künstler mir voller Konsequenz zu. Kunst, die vom sinnlichen der Erklärbarkeir auf allgemeine Strukturen bezieht. Wo die me­
Abbild der Idee bloß ein weiteres anschauliches Abbild liefert, thodisch legitimierte Vernachlässigung des einzelnen die Tugend
steht der Wahrheit des idealen Urbilds am fernsten." In einer allein des abstrahierend-klassifikatorischen Erkennens st,
i wird die Rea-

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lität alles Ästhetischen verlassen. Ästhetische Phänomene sind nie­ ner Theorie und keinem Bericht zu ersetzen ist. Was man zu wis­
mals wie Naturerscheinungen auf zugrundeliegende Gesetze zu sen meinte, erscheint im plötzlichen Vis-a-Vis schal oder verwan­
reduzieren. Je mehr die Kunstwissenschaft daher ihrem Gegen­ delt.
stand gerecht zu werden sucht, um so weiter rückt das szientifische Der Hunger aller ästhetischen Erfahrung nach Erneuerung des
Ideal in die Ferne. Der heikle Wissenschaftsstarus, an dem die sinnlichen Anstoßes ist folglich unstillbar. Er weist nur eine ferne
Kunstgeschichte ebenso wie die Literaturdisziplinen oder die Mtr­ Verwandtschaft auf mit jener unspeztfischen Neugier der Vielwis­
sikologie'l seit eh und je laborieren, entspricht also der Natur der serei, die sich immer mehr einzuverleiben strebt. Die alexandrini­
Sache. Da dem nicht zu entgehen ist, müssen alle Bemühungen um sche Figurdes ästhetischen Polyhistor, dem nichts entgeht, weil er
Verwissenschaftlichung auch in den z.eitgenössischen Varianten für alles gleichermaßen disponiert ist, stellt eine Verfallserschei­
der Soziologie, materialistischen Geschichtsschreibung oder Se­ nung des ursprünglichen Bedürfnisses nach sinnlicher Begegnung
miotik am Ende fehlschlagen. Der Ri.ickgang auf ästhetische Er­ mit Kunst dar. Zwischen der ästhetischen Erfahrung und dem ge­
fahrung bleibt allemal der Ausweg aus diesem Dilemma. schmäcklerischen Feuilleton gilt es wohl zu unterscheiden.
Die wesenhafte Singularität des Kunstwerks erklärt zugleich die Die Angewiesenheit auf sinnliche Konkretion macht weiterhin
unendliche \Viederholbarkeit dieser Erfahrung. Hier stellt sich verständlich, wieso alle noch so perfekte Reprodztktion ein tiefes
keine Abnutzung ein, weil die auslösende Funktion eines Werkes Gefühl der Unbefriedigung zurückläßt!• Das fotografierte Bild
höchst unterschiedlich realisien werden kann. Bei anderer Be­ und die auf Platte gebannte Aufführung ermöglichen höchstens
leuchtung, in anderem Zusammenhang, durch andere Inszenie­ eine Ahnung davon, was zu erfahren wäre. Diesinnliche Unmittel­
rung bietet sich dasselbe Werk ganz neu und unausgeschöpft dar barkeit läßt sich nicht technisch vermineln. Sogar die vollkom­
wie beim ersten Mal. Dieser unbe7.weifelbaren Erfahrung muß un­ menste Wiedergabe bleibt notwendig himer dem Original zurück,
sere übliche Auffassung vom Werk erst noch Rechnung tragen. denn Originale sind per definitionem nicht zu vervielfältigen. Die
Die vertraute Rede von der Werkidentität erliegt leicht der Gefahr dazwischentretende Technik stört die Intensität des ursprünglich
falscher Vcrdinglichung. Es gibt kein beständiges, in der Welt der sinnlichen Kontaktes. Mithtn lebt unsere wohl informierte ästheti­
Objekte vorfindliches Etwas, auf das sich als substantiellen Träger sche Kultur des musee imaginaire aus zweiter Hand. Die Surrogat­
ästhetischer Qualitäten der Finger legen ließe wie auf ein Ding mit wirkung dessen, was nur aus Reproduktionen bekannt ist, enthülle
Eigenschaften. Es gibt ein Werk nur zusammen mit der Geschichte sich schlagartig bei jeder echten Konfrontation mit einem Bild und
seiner A4/assung und Interpretation. Die Identität bildet sich jedem körperlich ergreifenden Auffüluungserlebnis.
durch die Folge immer wieder realisierter ästhetischer Erfahrun­
gen hindurch, die aus der konkreten sinnlichen Gegenüberstellung
unter wechselnden Bedingungen ohne a priori festgelegte Anlei­ IV.
tung erwachsen.
Natürlich ist ein Fixpunkt in der charakteristischen Gestalt und Die Gründung ästhetischer Erfahrung auf dem Element der Sinn­
Singularität jenes Anlasses ästhetischer Erfahrung auszumachen, lichkeit ist freilich nur das erste Moment, aus dem ein zweites not­
auf den alle Kunstwirkungen zurückgehen. Wir projizieren das wendig folgt. Dieser Schritt der Analyse mag überraschen. Es
sinnliche Material nicht in freier Beliebigkeit. Aber die einmalige scheint doch, als verbiete die wesenhafte Singularität der Werke im
Besonderheit jenes »Werk« genannten Erfahrungsgehalts muß in erläuterten Sinne jede Ausweitung über den totalen Bann durch die
atl den Akten sinnlicher Gewah1·ung wieder und wieder bestätigt sinnliche Konkretion. Was gäbe es dem noch hinzuzufügen, da in
werden. Werke gehen nicht in ein für allemal gültiger Bestimmt­ der Anschauung sich ohne Rest alles enthüllt? Man wüßte nicht
heit einer objektiven Existenz auf. Ästhetische Erfahrung vermag einmal, in welcher Richtung man suchen sollte, um das Gesehene
auch bei großer Kennerschaft sich stets an ihnen aufzufrischen, oder Gehörte zu ergänzen. Also kehrt man zur ursprünglichen äs­
weil der unmittelbare Sinnenkontakt von keiner Erinnerung, kei- thetischen Erfahrung zurück, um sie ganz auszuschöpfen. Offen-

6o 6r
bar liegt alle relevante Information im Kunstwerk bereits zutage. Spannung auszuhalten, macht eigentlich erst die ästhetische Erfah­
Diese Ergänzungsunbedürftigkeit, die Freiheit vom Deutungs­ rung in ihrer Ganzheit aus.
zwang möchte ich den Totalitätscharakter von Kunstanschauung Die Spannung kann nur ausgehalten werden, indem ein Spiel der
nennen. Die objektive Wirklichkeit unserer alltäglichen und auch Reflexion in Gang kommt, das unablässig und ohne definitiven
der durch wissenschaftliche Methodik verfeinerten Erfahru ng gibt Abschluß zwischen den beiden Momenten der Sinnengebunden ­
sich nie ganz zu erkennen, ohne daß Ordnungslei st ungen der heit und des Totalitätscharakters Vermittlungen stiftet. Die Totali­
Strukrurierung, der Selektion und der Subsumtion unter höhere tät, die mit den wahrnehmbaren Details gesetzt wird, muß meh1· als
Allgemeinheiten konstitutiv beigebracht würden. Die erfahrene die von den Sinnen erfaßbaren Details sein, und doch ist sie nichts
Welt ist ebenso eine gestaltete Welt. Die Kunst scheint sich davon von den Details Abgelöstes. Aus den Details der Formen und Far­
radikal abzuheben, insofern sie keineswegs der s ynthetischen ben, der plastischen Gestaltung, der Töne und ihrer komposito ri­
Gliederung unsererseits bedarf. Nichts harrt einer kategorialen schen Verbindung baut sich der Gesamteindruck allererst auf. Er
Ordnung und sprachlichen Auslegung, um verständlich zu wer­ liegt in den Details beschlossen und ergibt sich nicht einer der De­
den. Die Ordnung ist längst erbracht, die Auslegung wird mitge­ tails vergessenen, ja sie auf das Allgemeine eines Sinnes etwa über­
li�fert. Man hat diesen Eindruck, daß Werke das Gemeinte total steigenden Vision.
o ffen legen, mit der Wendung zu umschreiben gesucht, daß Bilder Die Einheit, die aus der Vermi ttlung der sinnlichen Details mit
oder Kompositionen •sprechen«. Nichts ist dahinter oder darin dem Totalitätscharakter des Ganzen erwächst, liegt nicht als solche
verborgen, das nicht von sich aus bereits zur Äußerung gelangte, im \'V'erk bereits vor. Es mündet in mythologische Redeweise,
und was zur Äußerung kommt , ist alles, was zum Verständnis wenn man in höheren oder tieferen Schichten des Werkes die Ein­
überhaupt nötig scheint. Der Totalitätscharakter der Kunstan­ heit des Ganzen selber vermutet. Kein noch so gesteigerter Hin­
schauung verleiht ihr eine merkwürdige Autarkie, die Adorno zu blick, keine sublime Aufnahmebereitschaft erschließe jene Einheit
der utopischen Hoffnung umgemünzt hat, die Kunst zeige die mit einem Schlage. Die Einheit entsteht allein aufdem Weg der äs­
Welt im Stande der Erlösung. Die Anstrengun g des Begriffs oder thetischen Erfahmng. Die Einheit ist damit ein Prod ukt aktiver
die Herrschaft des Verstandes sollen im Kunsereich des Scheins ei­ Mitwirkung der Reflexion, die zwischen den Details und dem
ner harmonischen Ver söhnun g weichen. Ganzen hin und her spielt, um den Zusammenhang beider zu er­
Die zwei Momente der Sinnengebundenhei t und des Totalitäts­ fassen. Die Einheit des Werkes bleibt eine Aufgabe, die der ästheti­
charakters muß eine Analyse der ästhetischen Erfahrung zusam­ schen Erfahrung übertragen ist, um jeweils anband sinnJicher Ge­
menbringen. Sie muß eine Verbindung stiften �wischen dem Ver­ gebenheiten in Ausgriff auf die suggerierte Totalität durch Re­
trauen, daß alles Nötige sc hon d a ist, und der Sorge, nichts davon flexionstätigkeit hergestellt zu werden. Kant hat das Problem in
zu verfehlen. Die Abhängigkeit vom immer neuen Anstoß und die seiner Ästhetik unter dem Titel der reflektierenden Urteilskraft,
Beobachtung einer stets präsenten Fülle vertragen sich nicht ohne wie mir scheint, unvermindert gültig b ehandel t!S
weiteres miteinander. Es entstehteine Spannung, die sich zwischen Da die Einheit des Werkes dem sinnlichen Material nicht von
der sinnlichen Bedürfti gkeit un d d er begrifflichen Unbedürftigkcit Anbeginn an innewohnt und eben sowenig der hinzutretenden
bewegt. Kunst will erfahren werden und unterscheidet sich darin Ordnungsleistung von Verstandeskategorien entspringt, eignet ihr
beispielsweise vom Traum, der die frei strömende Phantasie bloß eine bleibende Instabilität. Die vielfältigen Beziehungen, die die
auslebt. Trotzdem birgt Kunst, ganz wie der Traum, ihre Logik Reflexion herstcUt, versamm el n sich nie uno aetu zu einer An­
vollkommen in sich, ohne daß man diese adäquat auszusprechen schauung. Wenn immer der Betrachter meint, das Ganze erfaßt zu
wüßte. Die Erfahrung erfährt einen Sinn und entbehrt zugleich je­ haben, vermag das freie Spiel der Reflexion wieder 7.urückzukeh­
der Möglichkeit, des Sinnes jenseits der Erfahrung an ihm selbst ren zu gewissen Einzelheiten, um sie neu oder besser zu integrieren
habhaft zu werden. Die M ögl ichkeit eines Zugriffs aufdie Totali­ und somit die vermeinte Einheit der Anschauung auch wieder zu
tät, der selber total und endgül tig wäre, bleibt verwehrt. Diese verwandeln. Oft wird ein anderer Betracluer auf Aspekte auf-
62
merksam machen, die zunächst vernachlässigt wurden. Die An­ der wohl bestimmt und endgültig sagte, was die Anschauu ng ver­
schauung bleibt mithin revisionsfähig. heißt. Flüchtete sich die Reflexion zum Begriff, so gäbe sie die Ba­
In der synchronen Dimension der ästhetischen Erfahrung unter sis der ästhetischen Erfahrung auf und rauschte das Reich der
Zeitgenossen drücke sich das darin aus, daß die Breite der subjektiv Kunst gegen die Selbstgewißheit des Denkens. Zwar tendiert die
möglichen Auffassungsweisen eines Kunstwerks nur idealiter zur Reflexion da:w, in die Form des Begriffs zu überführen, was die
Konvergenz zu bringen ist. Die Kommtmikationsform, in der wir höchst eigentümlich und unwiederholbar geprägte Anschauung
miceinander über Kunst reden, ist folgerichtig das Ansinnen, jeder des Werks an Totalität vorgaukelt. Dennoch muß jede Bemühung
andere möge dieselbe ästhetische Erfahrung machen, obwohl seine scheitern, klar und in einem Wort auszusprechen, was es in Wah r­
ungebundene Reflexion mit der eines anderen auch angesichts des­ heit ist, was die ästhetische Erfahrung erfährt. Die begriffliche
selben Objektes nicht notwendig zusammenfällt. Die ältere A ussage verfremdet die Lebendigkeit der Begegnung mit Kunst, so
Kunstkritik und ihre moderne Nachfolgerin, die Rhetorik des daß die Reflexion von der Leere des abstrakten Begriffs wieder zur
Feuilletons, haben immer beigetragen zur Schaffung eines solchen Unmittelbarkeit der Anschauung zurücksrrebr. Dort vermeinte sie
ästhetischen >>Sensus communis« unter dem gebildeten, die Re­ doch zu haben, was der Begriff nicht zu fassen imstande ist. Nichts
flexion beweglich haltenden und zur Revision seiner Urteile berei­
. hindert die Reflexion an diesem Rückgang, denn die höhere \'qahr­
ten Publikum. In der diachronen Dimension erklärt sich aus dem­ heit des Begriffs ist nur für das Denken, nicht aber für di e ästheti­
selben Wesensmerkmal der Instabilität die historische Folge der für sche Erfahrung eine ausg.emachre Sache.
eine Zeit maßgebenden, aber untereinander nicht gleichsinnigen Der Brückenschlag zwischen dem Ursprung des Sehens und
Interpretationen. Ein Werk so zu lesen, ein Musikstück so und dem Aussprechen des Gesehenen, oder zwischen Anschauung und
nicht anders aufzuflihren, mag für die eine Epoche selbstverständ­ Begriff, hält niemals lange stand. Obwohl die Reflexion sich in
lich sei n und gilt der nächsten schon als obsolet. Die Entdeckung dem Zwischenraum bewe gt, ist sie allein unfähig, die reale Vereini­
des Neuen im überlieferten Kanon und die jeweilige Avantgarde in gung von Anschauung und Begriff zu erzeugen. Daß auch keine
der aktuellen Kunstproduktion arbeiten Hand in Hand bei der der beiden Seiten ihrerseits in der Lage ist, die andere zwingend auf
Umwandlung und Erweiterung der ästhetischen Erfahrung. Ohne sich zu beziehen, hat unsere Debatte mit dem idealistischen Kon­
die genannte Instabilität entfiele in der Tat diese .historische Per­ zept einer »intellektuellen Anschauung<< un d dem kunsttheoreti­
spektive. schen Programm einer »W'issenschaft des Auges« erwiesen. Um­
Die Instabilität die mit der suuilich ausgelösten, aber frei in sich
, gekehrt bedeutet der Rückzug der beiden Seiten auf das ange­
schwebenden Reflexionstätigkeit zusammenhängt, bleibt erhalten, stammte, aber beschränkte Terrain einer begrifflosen Wahrneh­
weil alles Nachdenken über das Gesehene und Gehörte an kein mungsseligkeit oder einer kunstblinden Abst.raktionshöhe keine
Ende gelangt. Die reflektierende Herstellung eines einheitlichen Lösung des Dilemmas; denn so wäre Ästhetik überhaupt unmög­
Geflechts von Beziehungen, in denen alle wahrgenommenen De­ lich geworden.
tails bloß die Einheit des Werkes repräsentieren, findet keinen Ab­ Mithin muß Ästhetik, soll sie möglich sein, die theoretische Be­
schluß, weil die Einheit des Werkes im Prozeß der Erfahrung sel­ scheidenheit und zugleich die Kühnheit zur Balance aufbringen,
ber sich ergibt. Da die Einheit kein fester Punkt ist, auf den der die eine Analyse ästhetischer Erfahrung abverlangr. Wenn auch
Prozeß zusteuert, kann der Prozeß im Sinne der Revision des je­ der wahre Gehalt von Kunst nie auf den definitiven Begriff zu
weils Erreichten weiterlaufen. Die Totalität, die im Sinnlichen ge­ bringen ist, so regt im Falle des Kunstwerks der sinnliche Aus­
sucht wird, isr hier aufgrund der Struktur der Einzelheit und Kon­ gangspunkt zur Suche nach der Totalität im Detail an und lockt
kretion nie endgültig aufzufinden. Die pure Anschauung, die alles eine Reflexion hervor, die nie zum Abschluß gelangt und sich
enthält, ist der Schein, und dessen irrlichternde Natur setzt die Re­ gleichwohl auch nicht mit sich selbst zu befrie digen vermag. Im
flexion immer neu in Bewegung. Prozeß solcher Erfahrung konstituiert sich das, was wir Einheit
Suche nach Totalität kommt nicht in einem Begriff zur Ruhe, des Werkes nennen.
Anmerkungen sich schon seit langem durch den Spruch, daß· die Poeten geboren wer­
den und nicht gemacht: warum will man dann nicht eilen, diesen Trost­
1 VgL auch den Briefan Schiller vom 19. Februar 1802: •Die Philosophie spruch auch mit über die Philosophie auszudehnen?. (Sonnenklarer
zerstört bei mir die Poesie und das wohl deshalb, weil sie mich ins Ob­ Berid1t an das größere Pub/ileum iiber das eigentliche Wesen der neu.e­
jektive treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, son­ sten Philosophie, 18oi, II S. 390f.).
dern gleich zu jedem Satz eine Anschauung suchen muß und deshalb 1 1 System des transzendetltalen Idealismus (t8oo), Werke, Bd. 3· 438.
gleich in die Natu r hinausfliehe.c Ahnliehe Äußerungen finden sich �
12 In d�r p änomen?logischen Schule Husserfs spielt der Anschauungs­
mehrfach bei Goethe. begnffeme wtchttge Rolle. Er meint aber im Gegensatz zu der bisheri­
l Kritik der reinen Vernunft, A 5 1. gen Untersuchung eher •Evidenz• (vgl. Ideen zu einer reinen Phäno­
3 Z. B. Kn.tik de r reinen Vernrmft, B 72. menologie und phänomenologischen Pbilosophie I, l9IJ, §§ 1, 18, 67
4 Kam, \Verke, hg. von W. Wei>chedel, Bd. 3• S. 377, 387. u. ö.).
5 Gemeint war vorallemJ. G. Schlosser (Pintos Briefe iiber die syrakusa­ 13 S. E. Panofsky, Idta, Berlin 't96o; S. 15ff.
nische Staaw·evolution nebst ei11er hsi torischen Ein leitung rmd Awner­ '4 Depictura praestanti�sima et mm quam sntis laudata. a•·te/ibri tres, Basel
kung, Königsb erg 1795). 1540, z. B. Kap. 23 lf., pff.
6 ·Die Lehre von der Sinnlichkeit ist zugleich die Lehre von den Noume­ 1 5 Philosophische Tagebiicher, zusammengestellt von G. Zambroni, I lam­
nen im negativen Verstande, das ist von Dingen, die der Verstand sich burg 1958, S. 83 ff.
ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als t6 Nach den von dem portugi esisch en Maler Francisco de Hollanda 1 5 38
Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von de­ pu bhzierten Gespr�chen (in: Mi chelangel o, Briefe, Gedichte, Gesprä­
nen er aber in dieserAbsonderung zugleich begreift, daß er von seinen cbt, Frankfurt!M. 195 7), S. t8o; vgl. auch: Zum Stmt zwischen Malerei
Kategorien, i n dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen und Dichtung, S. 190 f.: •Man pflegt in der Tat manches zu m alert, was
kann.• (Kr V, B 307f.); vgl. auch Brief anJ. S. Beck vom lo.Januar 1792. man in der Welt nie sieht, und diese künstlerische Freiheit hat durchaus
7 z. B. Schclling, Vom leb als Prinzip der Philosophie, 1 79 5, § 8. Verstand und gute Gründe. Es gibt zwar eini<>e, die das nicht einsehen
8 Vgl. Zweite Enleit11ng
i in die Wissenschaftslehre (1797), Werke, Bd. 1, S. :
und die behaupten, der Lyriker Horaz hab die folgenden Verse als
4 59· scharfen Tadel an die Maler gerichtet:
9 A.a.O., S. 463. pi�toribus atque poctis/ quidlibetaudendi semper fuit aequa potestas ; 1
10 ·Durchaus absprechen kann man keinem Menschen diese Fähigkeit, l S et hanc veni am petimusque damusque vicissem.
SClllu
sich zum Bewußtsein der wissenschaftlichen Ansch3uung zu erheben, Diese Verse enthalten aber keineswegs einen Angriff gegen die Maler.
ebensowcnig, als das Vermögen, moralisch wiedergeboren oder ein Vielmehr lobt und ermuti gt Hornz sie, wenn er sagt, daß die Dichter
Poet zu werden. Aber ebensowenig kann man -eben weil diese Fähig­ und Maler die Macht hätten zu wagen, ich betone: zu wagen, was ihnen
keiten und Vermögen ein durchaus Erstes sind und in keiner ablaufen­ gefällt. Diese Freiheit des Sehens und diese Macht haben sie immer be­
den Reihe von Gründen liegen - erklären, warum sie hier sich einstel­ ses.sen. oll(
len, dort wegbleiben. So vic.l aber lehrt die eben aus Gründen nicht zu 17 Siehe dazu E. Panofsky, The Neopfatonic Movementand Micbelarzgelo,
erklärende Erfahrung, daß einige Menschen, was man auch immer mit in: Studies i11 lco11ology (1939), N. Y. 1967, bes. S. 178ff.
ihnen anfangen, und wie man sieauchleitenmöge, sich nichtdazuerhe­ 18 Michelangefo, a.a.O., S. 169.
ben. In der Jugend, wo der Mensch noch bildsam ist, erhebt er sich am '9 »Es ist uns von Natur eingegossen, daß wir gern viel wessten, dor­
Ieieinesten zur Wissenschaft, wie zur Poesie. Hat er diese Jugend ver­ durch zu bekennen ein rechte Wahrheit aller Ding. Aber unser blöd
streichen lassen, und sich durch Gedächtniswerk, Vielwisserci und Re­ Gemüt kann zu solcher Vollkommenheit aller Künst, Wahrheit und
zensieren ein halbes Leben hindurch zugrunde gerichtet, so kann man Weisheit nit kwnmcn. Doch sind wir nit gar ausgeschlossen von aller
ihm ohne große Gefahr, durch den Erfolg widerlegt zu werden, die F:<i­ Weisheit. Wöll wi r durch Lernung unser Vernunft schärpfen und uns
higkeit für Wissenschaft wie für Poesie wohl absprechen; obwohl man dorin üben, so mügen wir wol etlich Wahrheit d urch recht Weg su­
ihm seine Unfähigkeit nicht demonstrieren kann. chen, lernen erlangen, erkennen und dorzu kummen. Wir wissen, daß
Übel sollte es keiner nehmen, wenn ihm diese Gabe der Anschauu ng ihr mäncherlei Kunst erfahren und ihr Wahrheit angezeigt habt, das

l
abgesprochen wird; ebensowenig als es jemand libel nimmt, dem man uns zu Gut kommt. Dorum ist es billig, daß sich der Mensch nit ver­
das poetische Talent abspricht. In Rücksicht des letzteren tröstet man saum und zu bequemer Zeit etwas lerne . . . Auf Solchs hab ich mir für-

66
genommen, etwas zu beschreiben, das den Jungen nit unbeg,ierlich 25 S. dazu oben den ersten Aufsatz-Eine konträre Position vertritt inlwi­
würd sein zu sehen. Dannder alleredeist Sinn der Menschen ist das Ge­ schen A. Damo, der ästhetische Reaktionen ganz von der Realdefini­
sicht.c �
t on eines Objekts als Kunstwerk abhängig macht (A'sthetische Reak­
·Dann ein guter Maler ist inwendig voller Figur und obsmüglichwär, twnen undKs:mtwerke, Neue Heftefiir Philosophie t8, 1980). Vgl. A.
daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen dovan Plato C. Damo, Dze Verk/är11ng des Gewöhnlichen, Frankfurr/M. 1984.
schreibt, allweg etwas Neus durch die Werk auszugiessen. • (A. Dürers
schriftlicher Nachlaß, hg. von E. Heidrich, Berlin 1910, S. 305 f., 308;
der Text stammt von 1 512.)
20 Gadamer plädiert u. a. in Auseinandersct7.ung mit der hier vertretenen
These einer ästhetischen Erfahrung für ei11e recht verstandene •An·
schaulichkeit« als eigentlichen Charakter einer jeden Wahrheit offen­
barenden Kunst (Anschauung undAnschaulichkeit, in: Ne"e Heftefiir
Philosophie 18, t98o).-Dabei schwebt ihm wohl Husserls Konzept ei­
ner "vollen Gegebenheit• als der erfüliten fntemion eines phänomeno·
logischen Sachgehalts vor. Nun kann volle Gegebenheit einer •Sache
selbst• von geringeren Graden ursprünglicher Anschaulichkeit nur un­
terschieden werden, wenn sich ein Was-Gehalt bestimmen läßt, der in
der erfüllten Intention voll da ist. Was das in der Kunst zur Anschau­
ung gelangende Was sein soll, ist aber ger.tde das Problem. Wie weiter
unten gezeigt wird, entbehren Werke eines ein für allemal bestimmba­
ren objektiven Gehalts, der sich auf irgendeine Weise unabhängig von
der ästhetischen Erfahrung ausmachen ließe. Der Ausweg, in •der•
Kunstetwa »die• Wahrheit pauschal und über alle Konkretion erhaben
zur Erscheinung kommen zu lassen, dürfte sich wegen allzu großer

Vagheit von selbst verbieten.


21 Staa1 X.
l2 Ästhetik (Werke, X 13 f.).
23 Übrigens hat schon E. Hansliek bei seinem Versuch, die Musikästhetik
von den Belastungen einer GefühlsdaJ'Stellung und einer mimetischen
Außenbeziehung zu befreien, auf die Anschauungskategorie zurück­
greifen müssen. Die »tönend bewegte Form•, als die Hanslie k das Mu­
sikalisch-Schöne bezeichnete, verlangt nach einer dem visuellen Para·
digma nachgebildeten Auffassungsweise: der •reinen Anschauung•.
(Vom M11sikaisch-Schö,.en,
l Leipzig '1874, S. 9iff., 105)
14 Es bedarf dazu keineswegs der umständlichen Berufung auf die marx­
sche Analyse des Warenfetischismus, der bei Benjamin ein mythischer
Gegenbegriff der •Aura• die Waagehält. Oie Aura als der ursprüngli­
che Gebrauchswert eines nicht durch Austauschbarkeil nivellierten
»Hier undJetzt• bezieht sich gar nicht primärauf Kunstwerke. An de­
nen will Benjamin nur einen allgemeinen Verlust an Eigentlichkeil in
dem von der Massenkultur diktiertenUmgang mit Geschichte und Na­
tur demonstrieren. (Das Kumtwerk im Zeitalter sei ner tedmischen
Reprodttzierbarkeit, bes. Absatz Ill, in : Illuminationen, Frank.furt/M.
196!)

68
die Philosophie Adornos wie die konsequente Weigerung, den tra­
Kann Theorie ästhetisch werden? _ _
dtttonellen Erwartl4ngen an Theorie zu genügen.
Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos An der zitierten Stelle mündet di e Bestreitung der Notwendig­
keit, auf die gegebenenfalls noch auszumachenden Grundannah­
men zu rekurrieren, in ein Plädoyer für Essayistik als die angemes­
Verschwiegene Gru ndla gen sene Form philosophischer Äußerung.1 Die typische Einstellung,
unter der d1e Theone Adornos entsteht, drückt sich sp äterhin auf
•leb will nicht darüber entscheiden, ob meiner Theorie eine be­ mannigfache Weise immer wieder aus. •Kritische Theorie• be­
stimmte Auffassung vom Menschen und vom Dasein zugrunde zeichnet das gmze Unternehmen. »Negative Dialektik« formu­
liegt. Aber ich bestreite die Notwendigkeit, auf dies e Auffassung liert die leitende Intention polemisch gegen Hege!. Eln wichtiges
zu rekurrieren.« Diese Sätze finden sich am Ende einer program­ Stic hwo rt heißt "Dialektik der Aufklärung«. Die definitive Fas­
matischen Abhandlung über Die Aktualitiir der Phiwsophie, mit sung aber gewinnt Adornos Denken im Zeichen der Ästhetischen
derAdorno im Jahre 1 931 nicht nur seine akademische Karriere Theorie) Dies nachgelassene Werk erweist sich als das eigentliche
begann', sonde rn auch wesentliche Motive seines späteren Philo­ philosophische Vermächtnis des Autors. Der schillernde Titel ei­
sophierens exponierte. Die Sätze lassen eine theoretische Selbst­ ner •Ästhetischen Theorie .. meint bekanntlich nicht allein theore­
einschätzung erkennen, der der Autor im Grunde genommen über ti�che Äst�etik als Unrerab�_eilung eines umfassenden Theoriege­
die folgenden Jahrzehnte hin rreu geblieben isr. baudes. VIelmehr soll das ASthetischwerden der Theorie selber
Die Thesen der Philosophie Adcirnos entspringen, wie alle sinn­ die Konvergenz von Erkenntnis und Kunst Thema sein. »Ästheti k
vollen Aussagen und besonders die Einsichten reiner Theorie, ge­ ist keine augewandte Philosophi e, sondern philosophisch in sich.«
wissen Grundannahmen. Für die Form ihrer theoretischen Präsen­ Was heißt das aber?
tation ist hingegen die bewußte Weigerung verantwortlich, in aller Di� Achtung vor einem bedeutenden Autor gebietet, ihn philo­
Ausdrücklichkeit auf die Prämisse n zu rekurrieren. Die meisten sophisch ernst zu nehmen. Darin liegt stets, daß man ihm die Ka­
unserer Grundannahmen beim Reden und Denken gelten so pazität zutraut, Antworten auf Probleme zu ermöglichen, die en t ­
selbstverständlich, daß aufsie gar keine Aufmerksamkeit verwandt weder offen daliegen oder durch jene Philosophen erst ins rechte
wird. Die eigentümliche Aufgabe von Theorie ist es aber, über die Licht gerückt werden. Ein solches Zutrauen erlaubt Fragen. Keine
ersten Voraussetzungen so lü ckenlos und so gründlich wie mög­ Fragen braucht, wer eine Lehrmeinu ng bloß affirmiert. Diejeni­
lich Auskunft zu geben. Philosophische Theorie ist seit ihrem Be­ gen, die umstandslos oder scholastisch verschlüsselt in verba ma­
ginn mit dem Ethos der vernünftigen Begründung aufgetreten. ·
gistri schwören, sind leicht die geheimen Verächter, da sie den
Vernünftig meint hier, daß das Verhältnis zwis chen dem, was be­ Dicmt an einer Philosophie durch den Kult um eine Autorität er­
hauptet wird, und dem, was ·diesen Behau ptungen so zugrunde setzen. O�fenbar ist jedoch die Phase vorüber, wo die Philosophie
liegt, daß es sie trägt, durchsichtig und zwingend erscheint. Ador­ Adornos m der stummen Verehrung oder im Jargon der Epigonen
nos erstaunliche Formulierung, der sich viele andere zur Seite stel­ zu ersticken drohte. Man kann unbefangener die Philosophie
len ließen, leugnet nicht etwa diesen Aufbau von Theorie, sondern Adornos ernst nehmen, indem man Fragen an sie richtet.>"
benutzt die traditionelle Vorstellung, um deren Ansprüche gerade
zu bestreiten. Es geht also nicht um einen anderen Typ von Theo­
rie oder gar um den Abschied an alles Theoretisieren, das durch Geschichtsdiagnose
neue irrationale Redeweisen ersetzt würde. Die Orientierung am
philosophischen Theoriekonzept bleibt mit Nachdruck erhalten. Die Frage, die uns beschäftigt, zielt auf die Gründe, die zur letzt­
Nur so bekommt die Weigerung, im altgewohnten Sinne Gründe endlichen A ufhebung von Theorie in Ästhetik geführt haben. Die
anzugeben, überhaupt Sinn. Gleichwohl durchziehtnichts so sehr Frage aufwerfen heißt, Adomos Weigerung nicht anzuerkennen

70 7J
und auch das Verdikt in Kauf zu nehmen, derlei Räsonnement sei Sicherungen der Unüberholbarkeit in den Systemen seiner Zeitge­
unJein. Eine rein stilistische Suggestion, von der das Verbot aus­ nossen durchaus reflektierter. Der Absolutheitsanspmch, den
geht, nur nicht an die gläserne Geschlossenheit des Gespinstes zu seine Philosophie in der Tat erhob, entstand nicht aus geschichtli­
rühren, ist in der Regel eine Erscheinungsform der Sophistik und cher Blindheit und Willkürsetzung eines abstrakten Prinzips, son­
hat mit der philosophischen Substanz wenig zu tun. Der von daher dern war konsequent erarbeitet auf der Basis einer Auseinander­
stammende Einwand, Fragen Wie die genannten hätte Adorno setzung der Idee von Philosophie mit den Erfahrungen ihrer ge­
doch. abgewehrt, sie fänden keinen Ansatzpunkt in der Gestalt schichtlichen Bedingtheit. Doch steht all das gar nicht zur De­
seines Werks, ist zurückzuweisen. Das Verstummen angesichts battel, wo die einfache Klärung von rationalen Voraussetzungen
der Gründe, die zu dem Typ von Theorie führen, den Adorno ver­ für Thesen verlangt wird. .
tritt, macht als solche die Theorie noch nicht plausibel. Weder Der Verweis auf ein irreduzibles Sein, das historisch einbreche,
herrscht ein Naturzwang, der an dieser Stelle magisch den Mund enthält entweder doch eine verkappte Begründung oder ist nicht
verschließt., noch darf das Nachdenken sich durch irgendwelche mehr als eine Beschwörungsformel. Im ersten Fall ergeben sich
Verbotstafeln vor einem vermeintlichen Sakrileg schrecken las­ Schwierigkeiten, die wir alsbald betrachten werden. Im zweiten
sen. Fall wäre die ständige Polemik gegen Heidegger gegenstandslos.
In der Tat gibt Adorno durchaus Erklärungen zur Motivation Die #berraschende Parallelität der frühen Entwürfe Adornos mit
des Schweigens. Er argumentiert historisch. Die Forderung, vor­ Heidcggen Seinsphilosophie verdiente allerdings eine genauere
ausgesetzte Grundlagen des Th7orerisierens zu benennen, gehöre Untersuchung. Adorno wird seit jener frühen Zeit6 nicht müde,
der vergangenen, idealistischen Uberschätzung der Philosophie an . die »neue Ontologie« als Form unhistorischer Hypostase an den
und hänge noch der Illusion des absoluten Beginns im Denken Pranger zu stellen. Er muß die beunruhigende Nähe Heidcggers,
nach. »Philosophie aber, die die Annahme der Autonomie nicht dessen Wirkung seit der Veröffentlichung von Sen i 1md Zeit ( r927)
mehr macht, die nicht mehr die Wirklichkeitin der ratiobegründet sogleich in die Breite ging, deutlich empfunden haben. Heidcggers
glaubt, sondern stets und ste tS die Durchbrechung der autonom­ Erwartung eines Seins, das sich am Ende der Verfallsgeschichte der
rationalen Gesetzgebung durch ein Sein annimmt, das ihr nicht ad­ offiziellen Metaphysik unmittelbar enthüllt und jenseits der philo­
äquat und nicht als Totalität rational zu entwerfen ist, wird den sophischen Sphäre in der Dimension konkreter E:>tistem:. erfahren
Weg zu den rationalen Vor.tussetzungen nicht zu Ende gehen, son­ !
w rd, scheint in den Aussagen mitunter ganz ähnlich zu klingen
.
dern dort stehenbleiben, wo irreduzible Wirklichkeit einbricht. . . wte dtc Thesen Adornos. Gegen solch äußeren Anschei n unter­
Der Einbruch des Irreduziblen aber vollzieht sich konkret ge­ streicht Adorno mit EntSchiedenheit aber die Differenz der Posi­
schichtlich und darum gebietet Geschichte der Denkbewegung zu tionen.
den Voraussetzungen hin halt.«; So verfolgt seine Habilitationsschrift über Kierkegaard durch­
Zunächst einmal überzeugt es keineswegs, die Suche einer jeden aus die Nebenabsicht, dem Existentialismus den Kirchenvater des
Theorie nach Gründen als Nachklang idealistischer Verstiegenheit Protestes gegen idealistische Schulphilosophie streitig zu machen.7
zu brandmarken. Seit der sokratischen Aufforderung zum A.6yo" Die fragwürdigen und geschmacklich nicht eben sicheren Versu­
Ö�Ö6\ICXL gehört die Rechenschaft darüber, warum man sagt, was che Heideggers, nach dem Schwund der Aussagekraft herkömmli­
man sagt, zur elementaren philosophischen Pflicht. Rationalisti­ cher Philosophensprache seinerseits in dichterische Metaphorik
sche Systeme haben darüber hinaus den Nachweis der absoluten auszuweichen, sind nicht ungerügt geblieben.8 Der entscheidende
Unüberholbarkeit ihrer jeweiligen Prinzipien beansprucht. Das Beitrag zur Verdrängung Heideggers aus dem Zentrum deröffent­
gilt von Spinoza und besonders von Fichte und Schelling, die beide lichen Wirksamkeit ist Adorno allerdings erst spät gelungen. Als
nicht umsonst auf Spinoza zurückgreifen. Hegel hingegen, den mi� der zu Ende gehenden restaurativen Nachkriegsphase Hcideg·
Adorno mit Vorliebe zitiert, wenn es um die idealistische Hybris gers Ruhm verblaßte, kam die als Pamphlet gemeinte Schrift Ador­
geht, war im Blick auf die geschwind einander überholenden Ver- nos über den Jargon der Eigentlichkeit gerade zur rechten Zeit.

72 73
Seither ist statt der lakonischen· Formel »Sein« die kompliziertere Zwang zur Totalität
des >>Nichtidemischen<< in Umlauf. Gerneint ist in beiden Fällen
eine dem selbstgewissen philosophischen Begriff entgangene Bevor die Kunst jene Ersatzfunktion für Theorie im Zuge der skiz­
Wirklichkeit, ohne die sein Auftreten gleichwohl keinen Sinn hätte zierten Überlegungen antreten kann, bleiben jedoch die Schwie­
und die anzuerkennen dem Begriff erst im Ernste die Dimension rigkeiten der unterstellten Geschichtsdiagnose zu erörtern. Der
der Wahrheit eröffnet. Streit geht gar nicht um die realistische Einschätzung der politi­
Wer sich mit emphatischen Versicherungen nicht begnügt, kann schen Lage und eventuelle Korrekturen hier und da, auch nicht um
den Verweis auf bistorisehe Erfahrung, die den Rückgang auf the­ die Strategie moralisierender Einschüchterung, die den arglosen
matisierbare Denkvoraussetzungen verbietet, als uneingestandene . Zweifel mit der Anrufung von historischen Katastrophen allzu
Begründung für den gewählten Typ von Theorie interpretieren. leicht zum Schweigen bringt. Problematisch ist vielmehr die Er­
Wir kommen damit zu der zweiten der eben genannten Möglich­ starrung, in die die Diagnose sich selber versetzt, indem sie tun
keiten, Adornos Äußerung z.u verstehen. Die Begründung müßte muß, als stünde es bis auf Punkt und Komma so, wie sie es sagt.
etwa so aus"'efühit werden, daß es gerade heute, unter den gegen­ Die Ansetzung eines universellen Verblendungszusammenhangs
d
"':ärtigen Be ingungen und nachdem die Gesellschaft den jetzigen nimmt der Theorie radikal die Freiheit ihres eigenen Operiereos.
Stand erreicht hat, unmöglich geworden ist, in der alten Naivität Wie mit einem Zauberschlag erscheint unter jenem Vorzeichen
weiter zu philosophieren. Von entsprechenden Formulietungen jeglicher Inhalt ohne Ausnahme verdinglicht. Mithin erliegt die
hallt Adornos Werk auf mancher Seite wider. Wieso genügt aber Theorie vollends dem Zwang, den zu beschreiben sie ausgezogen
die Beschreibung der historischen Stunde, u� »traditionelle Theo­ war.
rie« endgültig zu verabschieden und »kritische« allein an ihre Stelle . Arbeit mit Hypothesen, argumentatives Hin und Her, Erwä­
zu setzen? Die pauschale Antwort lautet auf den lückenlosen Ver­ gen, Prüfen, Verwerfen, Fragen an andere und an sich selbst - all
blendungszusammenhang . · das entfällt, nachdem die Diagnose einmal den universalen Bann
Ideologie ist gemäß dieser These so total geworden, daß es vor beim Namen genannt hat. Danach wäre es planmäßige Selbsttäu­
ihr kein Entrinnen gibt - schon der Versuch wäre Verrat an der schung, wollte Theorie so weitermachen, als sei nichts geschehen.
wahren Sache des Ge.istes. Das einfache Aussprechen dessen, was Der Augenblick der Offenbarung historischer Wahrheit ist zu­
ist, fiele der Verblendung anheim, da es hinzuzufügen versäumte, gleich der Moment ihres definitiven Entgleitens, ein negativer Kai­
daß das, was ist, im Ganzen und im Grunde nicht sein soll. Jede ros. Denn nun weiß die Theorie, die von der unausweichlichen
Aussage, die der Wahrheit dient, müßte die von ihr getroffene Falschheit aller Erkenntnis Ahnung bekommen hat, daß keine
Feststellung im selben Atemzug revozieren. Solch paradoxe Rede Wahrheit in der Theorie mehr möglich ist, und das unterwirft ihre
läßt aber von vornherein die beschränkten Möglichkeiten der eigenen Begriffe einem ganz äußeren, heteronomen Determinis­
Theorie hinter sich. Alle Hoffnung richtet sich daher auf einen an­ mus.
deren Modus von Rede: auf die Kunst. • Unverhüllt ist das Wahre Die Erstarrung der Theorie, die vom Gegenstand auf die The­
der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Er­ matisierung zurückwirkt, widerspricht aber gmndsätzlich den er­
kenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensura­ klärten Intentionen der Kritik und Dialektik. Gerade die Totalität,
bles.<<Y die die Theorie dem Faktum des Ideologischen zuspricht, bindet
nun ganz. folgerichtig der Kritik die Hände. Angesichts der Über­
macht des Gegenüber bleibt als einzige Reaktion die strikte Nega­
tivität. Mit eben der Ausnahmslosigkeit, die den aktuellen ideolo­
gischen Zustand der Theorie zufolge kennzeichnet, ist die Theorie
zur unterschiedslosen Denunzierung des Ideologischen in allem
und jedem gezwungen. Das falsche Totalitätsideal, das die kritisch

74 75
gewordcne Theorie den traditioneUen Systemen nachsagt, sucht ßerungen Adornos jedoch mit Bedacht abgeschnitten "1\>lrd. Man
sie hinterrücks genauso heim und setzt ihre eigendich kritische Fä­ vermag nur den Spuren zu folgen, die der Prozeß des Verschwei­
higkeit außer Kraft. gens hinterläßt. Diese Spuren führen in den Bereich der Ästhetik.
Was sie muß, kann diese Theorie nämlich unbesehen des jeweili­ Keineswegs nämlich steckt hinter dem Redeverbot über die
gen Gegenstandes schon vorher wissen. Sie muß ihm kritisch be­ theoretischen Grundlagen pure Geheimniskrämerei. Im Gegemcil
gegnen, bevor seine konkrete Gestalt sie erwa verführen könnte, bekommt der Prozeß des Verschweigens in der Architektonik der
sich unvoreingenommen auf ihn einzulassen. Sie muß die Distanz verwickelten Gedankengänge eine neue Funktion z.ugewiesen. Die
zu den wechselnden Phänomenen wahren, ja immer neu setzen. Sie Tatsache, daß Theorie hier kein Thema mehr findet, muß so gedeu­
muß durch eine unablässige Folge von Reflexionsakten sich wieder tet werden, daß der Übergang von Philosophie in Ästhetik moti­
und wieder im Gegensatz zum Gegebenen definieren. Sie gehorcht viert erscheint. Um den Abbruch der theoretischen Begründungs­
damit einem inneren Zwang zur Selbstbestätigung, der nichts an­ leistung als solchen noch zum Ausdruck zu bringen, bietet sich
deres als das Gegenstück der geschmähten Selbstgewißheit des eine besondere Form an. Statt nach der wittgensrcinschen Maxime
philosophischen Begriffs darstellt. '0 Die kritische Theorie verharrt darüber zu schweigen, worüber nicht zu reden ist, transformiert
in einer ungeklärten Frontstellung zum Idealismus, insofern sie Adorno die Ästhetik zur einzig legitimen Rede vom Redeverbot
sich weigert, den Umstand noch zu reflektieren, daß der Zwang der Theorie.
zur Ganzheit, dem sie untersteht, von ihr erzeugt ist.
So histOrisch und so konkret wie die kritische Theorie ihr Auf­
treten interpretiert, ist sie also mitnichten. Vielmehr geht sie von Dialektik der Aufklärung
sehr umfassenden, apriorischen Annahmen aus. Die früh schon
leitenden Denkfiguren bleiben unvermindert auch in der Folge Längst ist beobachtet worden, daß die Dialektik der Aufkiinmg
l
geltend. Eine gelegentliche Äußerung bringt sie am Ende so zur den geeigneten Schlüssel für die Problematik der Ästhetischen
Sprache. »Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte Theorie abgibr.ll Die von Horkheimer und Adorno unter dem
hindurch, die der Verzweiflung. lst sie aber das Perennierende, Eindruck des Exils verfaßten Studien tragen Züge einer Selbstver­
dann erfährt das Denken jede Epoche, und zuvor die eigene, von ständigung, die ins allgemein Philosophische umgemünzt wird.
der es unmittelbar weiß, als die schlimmste !«" Die vorgängige Si­ Die Arbeit nimmreinen zentralen Ort im Denken der Kritiker ein,
cherheit, daß es immer schon ganz übel steht, läßt die jeweilige Ge­ weil sie kritische Reflexion nicht wie sonst stets an etwas anderem
genwart im trübsten Licht erscheinen. Die historische Diagnose ist übt, sondern auf sich selbst wendet. '> Angesichts der historischen
durch ein Vorwissen gesteuert, das sich der Diskussion entzieht. Erfahrungen des Faschismus, aber nicht minder der stalinistischen
Folglich ruht jener Theorieryp, in dem aufdie de facto tragenden Perversion der Marxschen Lehre zeigt sich eine Aufgabe als unab­
Grundlagen ausdrücklich nicht rekurriert werden soll, weil damit weislich, die seit der Begri.indung einer materialistischen Ideolo­
ein historisch obsoletes Modell fälschlich erneuert würde, seiner­ giekritik durch Marx Desiderat geblieben war.
seits auf einer ausgewachsenen Geschichtstheorie von ontologi­ \Y/o steht eigentlich diejenige Kritik, die ideologischen Schein
schem Rang. Ohne dieses theoretische Fundament könnte das durch Rückführung des Bewußtseins auf das Sein umfassend
Postulat, auf traditioneile Theorievorstellungen zugunsren aus­ durchschaut? Vom kritischen Bewußtsein muß doch dieselbe
schließlicher Ideologiekritik zu verzichten, gar nicht so massiv Seinsverwurzelung gelten, an die sie andere kritisch erinnert.
vorgebracht werden. Natürlich muß bei Strafe des direkten Ver­ Wenn es sich dabei nicht, wie die Wissenssoziologie meint'•, um
stoßes gegen jenes Postulat die in Wahrheit zugrundeliegende eine »freischwebende Intelligenz« handelt, welches ist dann das
Theorie unerörtert bleiben. Die Triftigkeit der Grundlagen ließe Sein, in dem der Kritiker so verwurzelt ist, daß ihn die ideologische
sich erst prüfen, wenn in deren Erörterung eingetreten wli r�e. Gefahr nicht ereilt> Oder wäre Ideologiekritik insgeheim ebenso
Dann wäre ein undogmatisches Abwägen möglich, das in allen Au- ideologieanfällig wie alle von ihr kritisierte Theorie? Lukacs haLLe

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sich als einer der ersten am Problem der Versteinerung der Aufklä­ kulturelle Evolution herauszuführen begann. Damit sühnt die
rung in Orthodoxie gestoßen und versucht, durch Einführung des Dialektik der Aufklärung einen Sündenfall, der vor aller Zeit die
Hegeischen Reflexionsbegriffs in das Klassenkonzept Abhilfe zu Menschen aus dem Paradies in die Geschichte entließ.
schaffen. Die anregende Rolle von Lukacs' großem Buch •Ge­ Zur Bezeichnung dieser schwer überschaubaren Verschränkung
schichte und Klassen bewußtsein« auf die kritische Theorie Frank­ führen die Autoren einen Begriff des Mythos ein, der durch jüdi­
furter Observanz darf nicht unterschätzt werden. Dennoch ver­ sche Tradition inspiriert sein mag, in jedem Fall aberquer zum üb­
mochte die Vereidigung der einzig revolutionären Klasse des Pro­ lichen Wortgebrauch steht. Man darf an Rousseaus Ambivalenzen
letariats auf das historisch richtige Bewußtsein den realpolitischen denken, um die vom vollendeten Aufklärungsniveau erst sich erge­
Verfall der ehedem hoffnungsvollen Theorie nicht zu verhindern. bende Rückprojektion eines Naturzustandes verständlich zu fin­
Rückschritt im Namen des Fortschritts - gibt es fü.r dieses Rätsel den, in dem die Hoffnungen der Aufldärung sich ferne spiegeln,
eine Erklärung? während die Schuld des Kulturprozesses wie abgewaschen er­
Die Idee einer Dialektik der Aufklärung verbeißt hier Antwort, scheint. Mythos ist nicht das Wort für einen Uranfang, aus dem die
insofern eine Dialektik konstruiert wird, die mit der Aufklärung menschliche Vernunft sich langsam und erfolgreich herausentwik­
spielt, statt eindeutig in deren Interessen zu wirken. Anders als bei ke!t hat. Vernunft steckt umgekehrt schon in den ältesten Mythen,
Marx, für den dialektische Methode und aufklärende Intentionen und das Mythische behält eine Präsenz durch den ganzen Gang der
zusammenfielen, erliegt der Aufklärungsprozeß selbst einem hin­ historischen Aufklärung hindurch. Die Kulmination der Erkennt­
ter dem Rücken vor sich gehenden, dialektischen Umschlag.'5 Die nis ist gar der Rückfall auf den frühesten Stand, womit bewiesen
Kritik, die der junge Hege! namens einer höheren Vernunft an der ist, daß allen Erwartungen der Denker zuwider nichts sich geän­
einseitigen Verstandesaufklärung übte, hat diesen Gedanken vor­ dert hat.
gebildet. Während aber für Hege! die Aufklärungskritik die Auf­ Das Wort Mythos benennt, genau betrachtet, eine Dimension,
hebung der abstrakten Einseitigkeit bedeutete und den Gang der die der historischen Dialektik entzogen ist, well sie ihr zugrunde
spekulativen Dialektik inaugurierte, endet die Dialektik der Auf­ liegt. 10 Die Bewegung der Aufklärung ebenso wie der Gegenschlag
klärung bei Horkheimer und Adorno nicht im vollendeten Begrei­ stehen zu jener Schicht in Beziehung, die die historischen Prozesse
fen. Die Abschlußgestalt des absoluten Idealismus mahnt ja gerade nach dem Gesetz von Abstoßung und Anziehung zu dirigieren
als permanentes Menetekel. Wie nutzt man aber das diale�tische scheint. Die Erfolglosigkeit und Begrenzung aller historischen
Instrument und stemmt sich gleichzeitig gegen die Konsequenzen ? Fortentwicklung offenbart sich; denn in welche Richtung Ge­
Es gilt einer automatischen Fonspinnung der dialektischen Kri­ schichte auch streben mag, sie kommt von jener Urgegebenheit
tik an einseitiger Versrandesaufklärung zu der autonomen Theorie nicht los. 17 Dem entspricht das freilich vage umschriebene Ideal ei­
im Sinne des Hegeischen Systems Einhalt zu gebieten. Dazu muß ner eschatologischen Versöhnung, in der alle Spannung beseitigt,
man der Seite, gegen die das aufklärerische Denken Befreiung ver­ aller Irrtum vermieden und alle geschichtliche Veränderung zum
spricht, den Intentionen dieses Denkens zum Trotz eine Art un­ Stillstand gekommen wäre. Kunde von einem solchen Zustand, der
auflöslichen Ursprungsrechts zuerkennen. Das Privileg jenes jenseits unseres rationalen Vermögens liegt, aber deshalb auch der
Dunkeln, immer schon Gegebenen, Vorweltlichen zeigt sich ideologischen Gefährdung des Denkens überhoben ist, haben wir
darin, daß Aufklärung bei allem Bemühen der Durchleuchtung hienieden und einstweilen nur in der Pseudorealität der Kunst.'8
scheitert. Die gutgläubige Anstrengung, die der Rationalität ver­ Es ist unleugbar, daß in diesem Konzept eine philosophische
schlossene Substanz zum Begriff zu erheben, rennt sich den Kopf Setzung steckt, die jedoch rational nicht mehr eingelöst werden
ein. Je mehr sie nämlich von sich und der Richtigkeit ihres Tuns kann, weil sie auf die ursprüngliche Einschränkung der racio zielt.
überzeugt ist, um so näher gerät sie an das Prinzip heran, das sie be­ So wird es unmöglich, nach dem formalen Schema der Relativität
kämpft, bis schließlich die Allgewalt der Vernunft genauso unver­ die Einseitigkeiteil gegeneinander zu verrechnen, um auf höherer
nünftig wird, wie die elementare Despotie der Natur, aus der die Ebene einen vermittelnden Schluß zu ziehen. Wäre dieser Schritt

79
möglich, so könnte man getrost dem Mythos so viel Recht gegen­ sprechen �·ermag, ohne sie bereits reflexiv zu zerstören, in der
über der Vernunft zusprechen, wie diese gegen jenen anmeldet. Seinsweise der Kunst zu•· Anschauung bringen. Der letzte P1.1nkt
Diegleichberechtigte Vermittlung von Mythos und Vernunft oder reflexiver Denkleistung, ihre Selbstaufgabe zugunsten einer
. schlechthin ungebrochenen Einheit, markiert zugleich die Grenze
von Unmittelbarkeit und Vermihlung, in Hegelscher Temunolo­
J:?
gie gesprochen, brächte die Theorie in Gestalt spekulativer ialek­
.
der diskursiven Philosophie des Begriffs. In der Kunst jedoch
. scheint jene Einheit zwanglos und unverzerrt Wirklichkeit zu wer­
tik zu einer letzten Bewährung. Es wäre schließheb doch d1e Ver­
nunft selber, die über ihre eigne Anfechtung triumphierte. Der den. Damit das Unternehmen, Kunst für Philosophie sprechen zu

idealistischen Lehre zufolge kann die Beschränkung der Vernunft lassen, überhaupt gelingt, ist allerdings die Verhälrnisbesrimmung
von niemandem sonst als der Vernunft auch wieder aufgehoben beider Seiten notwendig.
werden. SeheHing bezog sich auf die Vorstellung eines Organon", um
Soll nun der Selbstlauf zum idealistischen System keine Sogkraft das Verhältnis zu Begriff zu bringen, in das Philosophie sich zu der
entfalten, muß ein Hindernis errichtet werden, das nicht nur fakti­ n ächst verwandten Kunst serzt, um deren Existenz, gerade ohne
.
scher Art ist. Es muß prinzipiell als Hindernis erkennbar sein, s•e anzutasten, zur Kur der eignen Schwäche zu nutzen. Das be­
ohne daß diese Erkenntnis identisch mit seiner Niederlegung deutet einmal, Kunst in voller Autonomie zu bela,�sen und nicht an
würde. Dialektik der Aufklärung ist die begriffliche Fassung des ihre Stelle mehr oder weniger bewußt ein Konstrukt zu rücken, das
entsprechenden Sachverhalts. Diese Dialektik muß begrifflich ein­ allein den philosophischen Beweisinteressen gehorcht. Kunst darf

leuchLen und darf den Sachverhalt eben durch ihre Begriffsgestalt nicht als »ancilla philosophiae« definiert sein, weil sie sonst den
nicht auflösen. Anders gesagt: die Beschreibung kann sich von Dienst gar nicht übernehmen könnte, der ihrer autonomen Gestalt
dem Umschlag, den sie beschreibt, auf keine Weise distanzieren. von der Philosophie :wgemutet wird. Andererseits muß aber die
Jede theoretische Position außerhalb ist verwehrt. Tua res agitur Funktion, die die Kunstnamens der Philosophie übernimmt, cha­
heißt die Moral, die die Theorie aus der Dialektik der Aufklärung rakterisierbar sein. Weder durch ein schwärmerisches Identitäts­

ziehen muß. Indes, wie soll das gehen? Welcher Ort ist noch offen· gefühl, wo eines ins andere verschwebt, noch durch eine neutrale
für die Theorie von der unheilbaren Hinfälligkeit aller Theorie? Koexistenz, in der beide Seiten sich gar nichts zu sagen hätten,
Die Philosophie hält einen Begriff bereit, der als ein Vernunft­ wäre nämlich etwas gewonnen. AngesichtS des Dilemmas ist das
produkt von höchster SubLilität die dem Begriff eigene Grenze be­ !
aristo�elis erende Modell eines Organon freilich eine Notlösung.
.
grifflich markiert: den Begriff des Scheir1s. Schein ist das, was nicht So wte em Werkzeug emern Zweck untergeordnet wird, darf
Begriff ist, sofern der Begriff davon noch wis�en �
ann. Seit eh und
.
KunSt in bezug auf Philosophie um keinen Preis instrumentalisiert
je hat die Philosophie das Wesen der Kunst 10 d1esem Begnff ge­ werden; denn Kunst ist nur dank der unverwechselbaren Eben­
spiegelt.19 Schein ist einer der Termini, in denen sich das Problem bürtigkeit mit Philosophie tauglich, deren letzten Rätseln Worte
der Dialektik der Aufklärung artikuliert. Die Ortsangabe für eine zu leihen . S�helling hat infolgedessen späterhin auf das Organon­
.
diesem Problem angemessene philosophische Lehre muß daher die modell verztchtet und das fragliche Verhältnis von Philosophie
Scheidelinie zur Kunst überspielen!0 und Kunst weniger direkt gefaßt.'3
Das allgemeine Programm der Kritischen Theorie bewegt sich
innerhalb einer Spannung, deren Extreme durch Kants Lehre vom
Das Dogma vom Gegensatz Ding an sich und Kegels absoluten Begriff gekennzeichnet sind,
während das Feld der Austragung jener Spannung von Marx und
Für eine Philosophie, die ihre tiefsten Intentionen in das .Medium den Jungl�egeli �ner?. bereitet ist. Die unter diesen Bedingungen
der Kunst überführen muß, stellt Schellings Kunstphilosophie die stehende Aschet1k durfte mdcs am ehesten an SeheHing anknüpfen,
le�>itime Berufungsinstanz dar." Sehclling wollte die absolute In­
.
J:r
was • e Interpreten bislang kaum berücksichtigt haben. Folgt
.
f
di ferenz von Subjekt und Objekt, die Philosophie nicht auszu- man emmal dteser Anregung, so stellt sich deutlicher, als Adorno

So
wahrhaben will, die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses kategorien des Interpreten sich unmittelbar im Werke niederschla­
von Philosophie und Kunst. Die Konvergenz beiMr im Punkte der gen. Das Werk selbst spricht aus, wovon eigentlich nur der Deuter
Erkenntnis hat er allenthalben betOnt. Weniger leicht aber wird be­ des geschichtlichen Prozesses wissen kann. In der Tat ist ein ausge­
greiflich, wie die Konvergenz zu denken sei. zeichneter Typ von Kunst mit einem derart verinnerlichten Be­
Fürs erste impliziert nicht jede Kunst ss.:hlechthin Erkenntnis. wußtsein von der eigenen historischen Stellung aufgetreten, die
Im Unterschied zur idealistischen Naivität trennt der Ideologie­ Moderne. Die konsequente Absetzbewegung vom Kanon der Tra­
kritiker säuberlich zwischen den aufklärerischen Werken und sol­ dition, die wir als die Moderne empfinden, scheint das Paradigma
chen, die als Teil der »Kulturindustrie« an der generellen Betörung zu liefern für Adornos Konzept. Hier ist offenbar der Wider­
mitwirken. Diese Differenz fällt nicht ohne weiteres mit der quali­ spruch von immanenter Geschlossenheit des Werks und unvermit­
tativen Wertung nach rein ästhetischen Kriterien zusammen, son­ telter Brechung der erstrebten Harmonie Realität geworden. Der
dern setzt ein hochempfindliches Bewußtsein von der gegebenen Kritiker findet seine Forderung ganz in die ki.instlerische Formge­
historischen Lage voraus. Das Sensorium des Kunstkritikers bung eingebettet und sieht sich zum bloßen Rezipienten herabge­
schärft sich durch ein außerästhetisches, d. h. philosophisches und stuft, dem Kunst von sich aus schon entgegenhält, was immer er
soziologisches Wissen von den. Determinanten der Gegenwaq und verlangen �ann. Die Rolle des Kritikers würde vollends überflüs­
eventuellen Perspektiven der Zukunft. Nun betont Adorno aber sig, wenn nicht doch eine Verwicklung einträte. Mitnichten darf
stets, daß die ästhetisch gehaltvollen Werke auch die fortschrittlich jede ästhetische Hervorbringung der letzten hundert]ahre als fort­
gesonnenen seien. Künstlerische und politische Wertung begegnen schrittlich hingenommen .werden, auch wenn sie noch so »mo­
einander. Benjamins überanstrengter Versuch, den •AutOr als Pro­ dern<< aussieht. Im neueren musee imagnaire i gilt es vielmehr
duzenten« so radikal zu verstehen, daß Materialbehenschung in nochmals, die Schafe von den Böcken zu trennen. Die Funktion
der Produktion und richtige Tendenz in der Gesinnung zusam­ des Kritikers, die man schon mit der Struktur der Werke ver­
menfallen' 4, findet hier seinen Nachklang. Perfektion der 1echnik schmolzen wähnte, erneuert sich. Die notwendig anzubringende,
und Einmütigkeit mit dem Gang der Geschichte laufen auf das­ von den Kunsterscheinungen ihrerseits nicht mehr umfaßte Unter­
selbe hinaus: auf avancierte Werke.'5 scheidung zwischen guten und schlechten Werken ist die zwischen
Dieser Terminus vereinigt die kunstrichterliche Kennerschaft fortschrittlichen und restaurativen.
mit der Einschätzung des fortschrittlichen .Gehalts im Interesse der An dieser Wiederherstellung der kritischen Aufgabe auch ange­
Menschen. Mitunter gemahnt die sich dabei einstellende Rede­ sichts der Moderne zeigt sich, daß in Wahrheit das Formgesetz der
weise von der Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen an modernen Kunstproduktion bloß zitiert wird, um ein Postulat zu
klassische Poetik, an Goethes Symbolbegriff beispielsweise.'6 So­ decken, das der kritische Ästhetiker aufgerichtet hat. Die unhe­
oJeich

fällt aber der Kritiker dem Poetotogen ins \X/ort, um der Iehrte Anschauung allein enthüllt gar nicht den Sinn der Kunst.
Täuschung zu wehren, die sich einschleichen könnte, wenn d'te Man muß über geschichtsphilosophische Kategorien verfügen, um
Unwirklichkeit der Versöhnung, ihre Absenz und utopische Ferne überhaupt in die Struktur der Werke eindringen zu können. »Eine
in Vergessenheit gerät. Die Kunstwerke müssen daher zweierlei immanente Methode solcher Art setzt freilich allerorten als ihren
zugleich darstellen: das Konkrete und Besondere als eines, das Gegenpol das dem Gegenstand transzendeme philosophische
nicht unter dem abstrakten Allgemeinen ersticke, sondern sein Ei­ . Wissen voraus. Sie kann sich nicht wie Hege! auf das >reine Zuse­
genrecht in Übereinstimmung mit ihm geltend macht, und ebenso­ hen< verlassen.«"8 Das zeigt die Unterscheidung der avancierten
sehr die Irrealität solcher Versöhnung.q Der Gestalt gewordene Kunst von aller andern, die ihr nur dem Anschein nach gleich­
Widerspruch zwischen Harmonie und ihrer Enttäuschung soll den kommt. Ohne solche Kategorien wäre zum Beispiel die Kontro­
Ran" der wichtigen \XIerke ausmachen. Was sie historisch bedeu­ verse, die Adorno zwischen Schönberg tind Strawinsky anspinnt,

ten nuß in ihrem artifiziellen Aufbau seinen Ausdruck finden. nicht mehr als ein akademischer Streit zweier Kompositionsschu­
Damit ist verlangt, daß die vermeintlich äußeren Beurteilungs- len. '9 Die Philosophie bringt hinzu, was in den unschuldigen Wer-

82
ken als solchen nicht steckt., janicht stecken kann : ihre Bedeutung Dogma ursprünglich gesetzt werden, damit die Folgerungen
als Negation. des Bestehenden. schli.issig erscheinen.
..
Der Schlußstein der ästhetischen Uberlegung ist auf diese Weise Erst das nicbt weiter ableitbare Dogma aber gestattet, Kunst und
eingesetzr. Nun wird klar, warum es eines äußeren Vergleichs zwi­ Philosophie im Blick auf Erkenntnis in jene eigentümliche Bezie­
schen Werk und gesellschaftlicher Wirklichkeit bedarf, um in ge­ hung zu setzen. Die Negation, die Kunst als Widerpart der feti­
wissen Werken - beileibe nicht in Kunst überhaup t -das Moment schisierten Wirklichkeit ihrem Wesen nach übt, tendiert zum
des Widerspruchs zu entdecken. Stünde Kunst überhaupt im Ge­ Durchbrechen des Banns und kommt daher wie durch glückliche
gensatz zur Realität, so wäre die Unterscheidung ideologieträchti­ FügungeinerPhilosophie emgegen, die sich der Dialektik der Auf­
ger von avancierten Werken ohne Sinn. Stellte Kunst die gesuchte klärung zu entringen sucht. Die in Kunst realisierte Negationslei­
Leugnung der Realität irn geschlossenen Werke in Vollkommen­ stung wird als solche faßlich, wenn der kritische Betrachter seine
heit noch einmal dar, so verlöre sie ihre Spitze gegen die Außen­ Interpretation hinzubringt. Die luitische Theorie, die in der un­
welt, sie machte sich dann im Schutze des zum Bilde erstarrten endlichen Folge negierender Reflexionen dem falschen Schein auf
Protestes einer Harmonisierung zweiter Stufe schuldig. Adomo der Spur ist, erfährt Bestätigung von fremder Seite, indem die
war daher in der heftigen Abwehr aller engagierten Kunst ganz Werkgestair der Kunst objektiv vorstellt, was dem Gedanken noch
konsequentl0, denn nur die Kunst, die ganz sie selbst ist und nicht ungelöste Aufgabe war. Mit anderen Worten: Die in Kunst gele­
außerhalb ihrer eine bestimmte Wirkung sucht, hä l t der dominan" gene Erketmrnisqualitätbedarf der Aussprache diesseits der imma­
tcn Erscheinungsform der Realiüit genügend Selbständigkeit ent­ nemen Produktstrukruren, und die vom Umschlag ins eigene Ge­
gegen, um im Auge des Betrachters den Gegensatz aufureeben zu genteil unabläss ig bedrohte Aufkläwng genießt Entlastung, wo
.
lassen. Der universale Verblendungs:zusammenhang der gesell­ gelungene Befretung vom heteronomen Zwang anschaulich wahr­
schaftlichen Realität und die totale Autonomie der Kunst stehen nehmbar wird. Die Korrelation selber aber muß apriori unterstellt
radikal gegeneinander. Aber erst von einer dritten Position jenseits werden. Hier herrscht reine Theorie, ohne sich dies einzugestehen.
der alltäglichen Verdinglichung und der künstlerischen Produk­
tion erschließt sich jener Zusammenhang. Diese Position hält der
Kritiker ein für allemal besetzt. Mimesis und Werk
Bis hierher muß die Analyse vorangetrieben werden, um die
oben aufgeworfene Frage einer Beantwommg näherzubringen. -�m Die Komplikation wächst, wenn man sich der Kunsterfahrung sel­
Anschluß an die intendierte Uberführung von Philosophie in As­ ber zuwendet. Das Hinnehmen des Erschauten oder das Hören
thetik hatte sich die Frage nach der Möglichkeit einer Bestimmung der Klänge r�in für sich erschließt nicht den Wahrheitsgehalt der
des beiderseitigen Verhältnisses gestellt. Ein verworrenes Ineinan­ Werke. Die Asthetik, die der Moderne ideologiekritische Hilfs­
derspiegeln von Gedanken und Kunstwerk�n ergibt nicht die Er­ dienste abverlangt, muß zuvor dem klassischen Glauben den Ab­
kenntnis, um dererwillen Kunst in die Uberlegung eingeführt schied geben, Schönheit entsende ihre Strahlen ohn� jede Vermitt­
wird. Es zeigt sich, daß zwei korrespondierende Grundannahmen lung. Ursprüngliche Kunsterfahrung bedarf bereits der Theorie.
in ihrem Zusammenwirken die These erlauben, Kunst und Philo­ »Die Forderung der Kunstwerke, verstanden zu werden dadurch
sophie strebten beide dem Fluchtpunkt der Erkenntnis zu. Es ist daß ihr Gehalt ergriffen wird, ist gebunden an ihre spezifische Er�
auf der einen Seite die Überzeugung vom allumfassenden Jdeolo­ fahrung, aber zu erfüllen erst durch die Theorie hindurch, welche
giecharakter der Wirklichkeit und auf der anderen ein lnsisrieren die Erfahrung reflektiert.«l' Erfüllt erst die Theorie das in der Er­
auf der vollendeten Autonomie künstlerischer Technik, die in ih­ fahrung Angele�te, so hängt die kritische Aufklärungsleistung der
rer Zuspitzung erkenntnisfördernden Eklat auslösen. Die Doppe­ Kunst doch Wieder von der ungeschmälerten Autonomie der
lung von Realität und Kunst, die gleichberechtigt eignen Gesetzen künstlerischen Gestair ab, die nicht im Dienste außerästhetischer
folgen und in tmvermiuelter Opposition verharren, muß als ein Beweisinreressen verfälscht werden darf. Was die Werke ganz aus
sich zu sagen haben, eröffnet sich auf einer Folie philosophischen Marxismus, die Adornos Einspruch herausforden. Die Ästhetik
Wissens, wenn dieses Wissen lernt, von sich abzusehen . Die Philo­ des späten Lukäcs hatte unter marxistischen Prämissen einer
durch
und durch onhodoxen Abbildungstheorie der Kunst im Blick
sophie muß planmäßig vergessen, was sie zur Deurung hinzu­ auf
bringt. Andernfalls pervertierte die Kunst offensichtlich zu ei nem vorgegebene und treu z.u schildernde Realität das Wort geredet.
Demonstrationsobjekt, das dem Herrschaftstrieb des souveränen Adorno muß gegen solche Mimesis, die Erkenmnis durch Bilder
Denkens dienre, statt ein nicht subsumierbares Eigenrecht anzu­ ersetzt und Verschleierung statt Aufdeckung betreibt, mit allem
melden. Nachdruck Front machen. »Lukäcs' Position hat ihre ionerste
Aus dem selbsterzeugten Dilemma sucht die Ästhetik Adornos' �1
Schwäc e darin, daß er Kategorien, die sich aufs Verhältnis des Be­
einen Ausweg bei dem ältesten Terminus der Kunstphilosophie, �
�ußtsei �S �ur ealität beziehen, so auf die Kunst überträgt, als
der allerdings seinen Stellenwert erstaunlich wandelt. Mimesis hieß e�
hi cn Sie luer emfach das gleiche. Kunst findet sich in der Realität
h �t Ihre Funktion in ihr, ist auch in sich vielfältig zur Realität ver
in der Tradition die nachahmende Darstellung, die einer unabhän­ �
gig gegebenen und vorrangig existierenden Wirklichkeit folgt. Mi­ mmelt. Gleichwohl aber steht sie als Kunst, ihrem eignen Begriff
mesis galt als begriffsfern, weil abkünftig>', und wurde einer ele­ nach, antnheusch dem gegenüber, was der Fall ist.«J5
mentaren anthropologischen Schicht zugerechncr.Jl Die Unbe­ Der neu akzenruierte Mimesisbegriff ist vor der Übermacht der
grifflichkeit und Teilhabe am Urtümlichen wird bei Adorno zur alegewohnten ':.orstellungen nur durch ein ausgeklügeltes Räson­
Tugend, und der sekundäre Rang des Abhängigen in aller Mimesis n�ment zu schurzen. � .
1mesis als elementares Anschmiegen, da:.
erscheint nun aufgewertet. Die Rückkehr zur mimetischen Hai- . ?
d1e Starre es Begnffs hmter steh läßt, steht nicht wie ein unangera
­
tung soll philosophisch die Schäden wiedergutmachen, die die st.etes Res1duum bere1t, auf das der ermattete Begriff jederzeit zu­
Selbstherrlichkeit des Begriffs angerichtet hatte. »Nicht anders r� ckfalle� könnte. �s wäre Täuschung, glaubte die Philosophie, sie
.
vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er ver­ koimte Wie durch em •Sesam, öffne dich« archaische Schiebren der
drängte, der Mimesis, als indem er seinen eignen Verhaltensweisen anthropologischen Struktur reaktivieren. Ohne argumentative Er­
etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren. Inso­ �
lauterung esagt der � imesisbegriff gar nichts. Das zeigt sieb
fern ist das ästhetische Moment, obgleich aus ganz anderem daran, daß un Streit zwtschen Adorno und Lukacs Behauptung ge­
Grunde als bei Schelling, der Philosophie nicht akzideotell.cH gen Behauptung srehr und die regelmäßig zitierten Kronzeugen
In der Mimesis restiruiert der Geist eine quasi vorgeschichtliche Becken und Th. Mann nurz.u reden beginnen, wenn sie von der
ei­
Einstellung zu den Sachverhalten. Er schmiegt sich ihnen als sei­ nen oder anderen Position zum Reden gebracht werden.>6 So gese­
nem Andern widerstandslos an und gibt die ihm eignen Überwälti­ hen ermangelt Adornos Rekurs auf Mimesis als ei ne Art »Mi­
gungsbedürfnisse angesichtS des Konkreten auf. Das blinde Nach­ mik:y« des Geistes der Überzeugungskraft.
ahmen, das seit der Entfaltung begrifflieber Perfektion die Philo­ Eme letzte Konsequenz gilt es noch zu betrachten. Die Ästhetik
sophie flir unter ihrer Würde hielt, bietet sich als Korrektiv eines Adorn�s kann gar nicht umhin, eine uneingeschränkte Werkkate­
inzwischen leerlaufenden, der Inhalte beraubten Kategorienappa­ ?
gone w�edcr zu Ehren zu ringen, bwohl sie deren Verfall ständig

rats an. Im gleichen Grade, wie die theoretische Souveränität rück­ konstatiert. Wo soll denn Jene Versahnung des Konkreten mit dem
gängig gemacht wird, nähert Philosophie sich der vom Begriff ge­ �gemeinen, die über alle begriffliche Schematisierung erhaben
.
IS.� stattfinden, wenn mcht
ring geachteten Kunst an. Die künstlerische Mimesis gewinnt eine m emer an sich se ienden Sphäre? Was
gänzlich neue Bedeutung, nachdem das theoretische Monopol auf �
h t d�r schl�chten Realität den entlarvenden Spiegel vor,
wenn
.
die Anverwandlung des Wirklichkeitsgehalts bestritten ist. n1cht eme Objektive Instanz ? Woran klammerte sich die im Srrudel
Unvermeidlich gerät die Neubewertung der Mimesis als Theo­ der Dialekti k der Aufklärung untergehende Reflexion, wenn nicht
.
riekorrektiv indes der herkömmlichen AbbildleJJ'f'e der Ästhetik an anschauhebe Produkte des mimetischen Verhaltens? D ie funda­
ins Gehege. Vor allem ist es die Fortsetzung traditioneller Grund­ memale Rolle det· Werkkategorie für Adornos gesamtes Unter­
sätze mimetischer Kunsttheorie im Widerspiegelungsprinzip des nehmen kann gar nicht bezweifelt werden. Die Theorie nicht
min-

86
der als die materialen Schriften zur Kunstkritik belegen auf jeder haltlos heraus, was der Kunst immer schon eigentümlich gewesen
Seite den methodischen Ausgriff auf die Gegebenheit von Werken. sei. Zerbrechlichkeit wäre das Urwesen der Kunst und die gehalt­
Ebensowenig kann es aber einem Zweifel unterliegen, daß ge­ volle Substantialität dagegen ein falscher Schein. Entweder bedeu­
rade die Moderne, auf deren Phänomenen die Ästhetische Theorie tet diese Sicht der Dinge eine glarte Rückprojektion des Aktuellen
aufbaut, einen einzigen Prozeß der Auflösung der Werkkategorie auf die gesamte Vergangenheit. Dann wäre die Moderne wiederum
darstelltY Falls die Vielfalt künstlerischer Erscheinungen, die man nicht modern, sondern das Altbekannte bloß in neuer Beleuch­
grob genug als ·die Moderne• einstuft, überhaupt auf einen ge­ tung. Derart umsrandslos von der Gegenwart auf die Geschichte
meinsamen Nenner zu bringen ist, der als einheitliches Merkmal zu schließen und alle historischen Unterscheidungen einzuebnen,
die zusammenfassende Epochenbezeichnung legitimiert, so ist es dürfte aber untunliche Verkürzungen nach sich ziehen. Oder man
der Grundzug der Zerstörung der herkömmlichen Werk.kategorie. unterlegt ein teleologisches Modell, das im Sinne des manschen
Die Skala reicht von spielerischer Skepsis über ironische Brechung Diktums von der Anatomie des Menschen als Schlüssel für die
und surrealistische Schocks bis zur systematischen Zersetzung der Anatomie des Affen das heutige Entwicklungsstadium als Kulmi­
Einheit, zur radikalen Reduktion des Gestaltens und zum Vor­ nation der gesamten Geschichte der Kunst nimmt, so daß am Ende
dringen der konstitutiven Funktion des Zufalls. Moderne Werke einer vollständigen Entfaltung alle Vorstadien überschaubar wür­
verleugnen den ontologischen Status einer zweiten Wirklichkeit, den. Abgesehen von der methodisch fragwürdigen Geschichtste­
die, obzwar hergestellt, der ersten ebenbürtig wäre. Das Ergon als lcologie, die auch bei Marx trO<i. materialistischer Beispiele eine
autarker Sinnträger verschwindet. Wo die Produkte sich nicht zu­ idealistische Herkunft verrät, raubt ein solcher Fortschrittsglaube
spitzen zur planmäßigen Enrtäuschung einer Rezeprionshaltung, �.� it der zunehmenden Durchsichtigkeit der Genese wiederum der
die vollgültige Werke zu erwarten pflegt, geben sie sich mehr oder Asthetik ihre kritische Pointe. Keineswegs wächst die rationale
weniger als Anlaß für die Phantasie und eingreifende Aktivirät des Kapazität ihrem Abschluß entgegen - so lehrt gerade Adorno.
.
Betrachters. Was früher Werk war, überantwortet s1ch Jetzt emem Vielmehr sei die Kunst, die sich der Rationalisierung sperrt und
Prozeß, der jenseits der fertigen Gestalt erst schicksalhaft beginnt. wie Fausts Gang zu den Müttern Rückkehr in mimetische Grund­
Diese Einsicht ist weder neu, noch braucht sie im Blick auf schichten betreibt, der letzte Zufluchtsort für das Durchschauen
Adorno erinnert zu werden, der mit großer Einfühlsamkeit die eines ständig sich verdichtenden Trugs in der Geschichte .
Prozesse moderner Werkauflösung beschrieben hat. Zwei Argu­ An der folgenden Synthese des Unvereinbaren führt daher kein
mente sind dennoch immer wieder zu hören, die angeblich die Weg vorbei : Die Moderne hebt die traditionelle Werkgesinnung
These in Frage stellen. Häufig wird gesagt, die Auflösung traditio­ auf, und darin beruht ihre kritische Qualität-die Moderne artiku­
neller Werkformen· schaffe ganz einfach neue Werke. Wenn das liert sich aber auch nur in Werken, da außerhalb der Immanenz ar­
stimmt, hat die Bewegung der Moderne keineswegs das Revolutio­ tifizieller Strukturen für die kritische Botschaft kein Platz mehr
näre an sich das ihr Selbstbewußtsein ausdrückt. Die Moderne bleibt. Adorno geht diese Paradoxie ganz beWllßt ein. Lösen läßt
wäre nur ei�e weitere Phase in der langen Reihe des Stil�andels sie sich theoretisch auf keine Weise. Sie kann nur mehr über den
und der Epochenversehiebung, die die Kunstgeschichte ruhigen Weg in die Kasuistik zerstreut werden, wo fallweise anband von
Blicks klassifizieren könnte. Vor allem aber erwiesen sich jene Analysen der Texte oder Partituren die Spannung zwischen zer­
Analysen als hinfällig, die der ästhetischen Theorie Adornos le­ störter und aussagekräftiger Einheit zum Austrag kommt. Das er­
benswichtig sind: Gerade die entschieden innovative Protestnarur, klärt systematisch die oft bemerkte Srärke, die die ästhetische
die die Moderne auszeichnet, soll doch aufklärerisch zu deuten Theorie Adornos gerade in ihren Einzelinterpretationen beweist.
sein.>' Will man die kritische Ästhetik verteidigen, kann man das Der Vorrang der Werke entspricht nichtbloß denbesonderen Nei­
zitierte Argument, das beschwichtigt, weil es im Neuen nichts gungen und Talenten des Autors, sondern steht fest auf einem sy­
Neues siebt, kaum im Ernste vorbringen)9 stematischen Fundament. Trotzdem vermögen Beispiele für eine
Ein anderes Argument besagt•0, die Moderne arbeite nur rück- Theorie nicht die Gründe für eine TI1eorie zu ersetzen. So plausibel

88
die allgemeinen Einsichren mitunter an literarischen oder musika­ Versatilität und Detailversessenheit, mit der das zu erwartende
lischen Fällen demonstriert werden, so wenig Beweis steckt in der Echo jeweils hervorgelockt wird, als in der Freiheit und Verständ­
Anwendung. Dafür hängt eine jede Deutung viel zu sehr von den nisbreite, mit derder Interpret sich für das Unerwartete bereit hälr.
hermeneutischen Ausgangspunkten und dem rhetorischen Ge­ Die Vorbestimmtheit einer Erkenntnis in Kunst, die die tatSäch­
schick ab. Liest man dieselben Werke unter anderem Blickwinkel liche Erfahrung überflüssi.� macht, ist in meinen Augen die inner­
und mit anderer Intention, so lassen sie sich bis zu einem gewissen sec Grenze der kritischen Asthetik. Hier rächtsich unter der Hand
Grade stets auch anders verstehen. Der definitive Gesrus, mit dem die Theoriebeladenheit der ästhetischen Konzeption. Natürlich
Adornos Deutungen gern Eindruck machen, indem sie eventuelle stehen Deutungen allemal im Lichte von mehr oder weniger expli­
Alternativen von vornherein dem Verdacht des Ideologischen oder ziten Theorien. Legt man aber das gesamte theoretische Potential
Banausischen aussetzen, überspielt in Wahrheit diese Unsicher­ in die Werke selber, so bedeutet es keine Überraschung, in ihnen
heiL Die mit Absicht betriebene Verlagerung der Grundsatzfra�en genau das zu finden, was man zuvor hineingelegt hatte. Auf diese
in· Werkauslegungen täuscht illegitim über die Differenz von As­ Weise wird die Ästhetische Theorie sclbstgenügsam4' und schließt
thetischer Theorie und ästhetischer Erfahrung hinweg. sich in einer narzißtischen Spiegelung gegen Zweifel und Erschüt­
terung von außen ab. Fremdes kann ihr nicht begegnen, Neues
wird sie nicht erfahren, denn auf jede Möglichkeit hat sie sich
Ästhetische Erfahrung vorab schon ihren Reim gemacht. Demgegenüber heißt Erfahrung
aber die BereitSchaft zum Unvorhergesehenen, die sich durch
Ein besonderes Rärsel bildet im Rahmen der ästhetischen Theorie keine Theorie e;;etzen läßt.
Adornos die Rolle der ästhetischen Erfahrung. Streng genommen Der wabre Komrast zur theoretischen Selbstgewißheit, um den
läßt sich nämlich gar nicht analysieren, wie die Werke wirken, es Adornos Ästhetik wesentlich zu tun ist, stellt sich erst ein, wenn
nachdem eine bestimmte Wirkung von Anbeginn unterstellt is� die Bereitschaft zur Begegnung mit dem von Theorie nicht bereits
insofern die Theorie ihre eigenen Aussagen voll und ganz auf jene Imprägnierten eingeräumt wird. Ästhetische Erfahrung miißte Zt+r
Wirkung gründet. Die Möglichkeit der Analyse entfällt - sind Basis gemacht werden! Vor allem eine Theorie, die auf Kritik zielt,
doch die theoretischen Mittel, mit denen ästhetische Wirkung sich hätte ästhetische Erfahrung ernst zu nehmen. Der aufklärerische
analysieren ließe, nach eben dem ästhetischen Paradigma geformt, Zweifel an der vorgeblichen Authentizität der Wirklichkeit, wie
das ihr Thema wäre. Womit wollte man eine solche Untersuchung sie ist, muß doch zunächst geweckt werden, da die massive Sugge­
dann noch anstellen? Da die Werke letztlich im Dienste der Theo­ stion der allgegenwärtigen Ideologie von sich aus alle Möglichkei­
rie stehen, um diejenigen Ei"kennoUsse zu produzieren, die die ten zum Zweifel niederhält. Der erstarrte Schein löst sich aber,
Theorie von ihnen forden, ist vor der Begegnung mit dem konkre­ wenn die Freiheit existiert, dem offiziellen Gesicht der Realität Al­
ten Werk das Resultat vorenrschiedcn. Die Theorie weiß, daß ternativen zur Seite zu halten. Solche Freiheit gilt es allerer�t z.u er­
Werke kritisch eingreifen, denn sie weiß, daß die Autonomie der werben durch ein zwanglosesSpielde1· Reflexion. Das Spiel der Re­
Werke dem verblendeten Weltlauf einzig Paroli bietet. Sie weiß flexion kommt ursprünglich in jeder ästhetischen Erfahrung in
deshalb auch, was wirklich avantgardistisch vorwärts weist und Gang.
was allem modernen Anschein zum Trotz sich in falscher Rück­ In der Tat hat die Begegnung mit ästhetischen Phänomenen im
wendung verliert. Unterschied zur Alltag�erfahrung das Eigentümliche, Ordnungs­
Da die Kunst in der ganzen Fülle der Phänomene die struktu­ leistungen des Verstandes weder nötig zu machen, noch von der
relle Einsicht stets erneut dokumentiert, bedürfte es, pointiert ge­ Gegenstandseire her vonuschreiben. Auf ästhetische Weise wird
sagt, der Einzelerfahrung am Werke nicht mehr. Denn ohnehin BewußtSeinstätigkeit zwar angeregt, aber nicht eingeengt. Diese
tönt alles so zurück, wie man zuvor gerufen hatte. Der Reiz, der seltene Erfahrung erschließt dem Bewußrsein neue, bislang nicht
die konkreten Deutungen unbestreitbar begleitet, liegt eher in der realisiene Möglichkeiten. Die unvordenklichen Wege einer Lö-
sung von festgefahrenen Wahrnehmungsformen liegen allesamt den kann, wenn die jenseitige Position bereits eingenommen ist.
beschlossen im aktuellen Angerührtwerden durch Kunst. Beson­ Grenzen lassen sich nie von einer Seite aus ziehen. Die Anerken­
ders die extremen Hervorbringungen der Moderne machen Offen­ nung einer Grenze impliziert daher ihre mögliche Überwindung.
heit und Breite solcher Erfahrung nötig. In der Debatte mit Hegcl kann Adornos »Negative Dialektik� sich
Die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung im angedeuteten dem Zwang zu jener Konsequenz nicht durch sture Weigerung
Sinne erinnert mit Bedacht an Kant. Es ist an der Zeit, dessen ver­ entziehen. Die Dialektik der Grenze wird vielmehr zunächst aus­
meintlich durch SeheHing und Heget überholte Analyse der Wir­ drücklich vollzogen, um dann ihrerseits wieder aufgehoben zu
kungen ästhetischer Phänomene auf das BewußtSein wieden.uen� ­ werden.41 Gen�� dieser Schritt liegt in der Auswanderung de1·
decken.4' Der kritische Blick auf die Moderne sollte gerade von ei­ Theorie in die Asthetik vor.
nem festgelegten Werkkanon entbinden und das Spiel der Re­ Die Erkenntnis von der Eingeschränktheit der theoretischen Er­
flexion als ein durch Kunst angestoßenes, aber nicht präjudiziertes kenntnis darf kein grenzüberschreitender Beitrag zur letzten Voll­
Freisetzen von Möglichkeiten des Bewußtseins wieder zu Ehren endung der Theorie sein. Somit erscheint jene Erkenntnis verkör­
bringen. Was Kunst ist, zeigt sich dann darin, daß sie das Denken pert im Kunstwerk gemäß dem unableitbaren Satz von der Kon­
ohne Gängelband aktiviert und die Reflexion zu einer Selbständig­ vergenz künstlerischer und philosophischer Erkenntnisintention.
keit bringt, die nicht weiter auf Prinzipien zu verpflichten s i t. Die Konvergenz erlaubt eine Vermittlung nach dialektischem Mu­
Allein die Kunst, die da.s freie Spiel der Erkenntniskräfte initiiert, ster. Die Bestimmung der Ebene der Konvergenz als einer ästheti­
indem sie die fixe Bindung an eine vollkommen bestimmte Auf­ schen unterbricht dagegen die Vetmittlung wieder und verhindert
gabe ·lockert, venichtet auf eine erneute lndiensrnahme·des Den­ den Abschluß im absoluten System, worin Theorie sich durch ihre
kens. Begrenzung hindurch ihrer selbst noch vergewisserte. Nun ist aber
Die Werke hingegen, deren eigenste Wesensbestimmung nach die Bestimmung der Ebene als ästhetischer keine evidente Wahr­
Adornos Behauptung auf nichts anderes als den Namen der Kritik heit a priori, sondern entstammt ihrerseits einem Akt der Theorie,
lautet, fördern Kritik nicht. Sie setzen Erkenntnis nicht frei, son­ die sich hier die genuine Zuständigkeit abspricht. Ästhetik als
dern fesseln sie wiederum. Werke, die in radikalem Gegensatz zur Nicht-Theorie kann so nur von der Theorie definiert werden. Da­
Wirklichkeit aufgehen, sind das Kehrbild derjenigen Abbilder, die mit hat die Dialektik der Grenze jedoch erneut statt. Das ganz An­
sich in harmloser Widerspiegelung des Bestehenden erschöpfen. In dere ist in bezug auf Theorie das ganz Andere und damitihr gegen­
beiden Fällen wird das aufnehmende BewußtSein zu einer eindeu­ über so anders doch wieder nicht.

tig fe.stgelegten, nahezu mechanischen �ea rion verdammt. Die Man kann dieses Verhältnis deuten als die Umkehr der Relation,
Dimension der ästhetischen Erfahrung, d1e steh dort auftut, wo das in der bei Hegcl Kunst und Philosophie zueinander stehen. Die
positive oder negative Müssen endet, bleibt bei dem einen wie dem Unmittelbarkeit der Präsenz des absoluten Geistes, als die Hegels
anderen Werkbegriff unterschlagen. Philosophie die ihr historisch voranliegende und systematisch un­
tergeordnete Kunst auf den Begriff bringt, ruft eine Vermittlung
hervor, ohne die der Geist nicht er selbst wäre. Das Geistige her­
Dialektik der Grenze oder Philosophie und Kunst auszuarbeiten heißt notwendig das Künstlerische zerstören, die
wesentlich geistige Substanz von Kunst verlangt nach Aufhebung
Die Unterbewertung ästhetischer Erfahrung mag ein Vergleich mit ihrer äußerlichen Erscheinungsform n i der Gestalt des Schönen.
Hegels dialektischer Methode erläutern, der Adorno an strategisch Die Aufl1ebung der Unmittelbarkeit besteht im Bestimmen der
entScheidenden Stellen gern folgt. Hegels Einwand gegen die kau­ Kunst durch den philosophischen Begriff. Mit der Erhebung zum
tisehe Annahme eines �Dings an sich«, das in Adornos »Nicht­ Niveau des Begriffs endet aber jede ungebrochene Wirkung des
identischem« wiederaufersteht, arbeitet mit der Diakktik der ästhetischen Scheins, die just an der Unmittelbarkeit hängt. Der als
G1·enze. Das Argument besagt, daß etwas nur eingeschränkt wer- Schein erkannte Schein ist depotenziert und hat seinen Zauber ver-

93
Ioren. Das Auftreten der Philosophie der Kunst bezeichnet daher · Kunst zum Erfüllungsgehilfen der kritischen Absichten der Theo­
in eins das Ende der Kunstepoche. rie. Da diese erklärtermaßen nicht artikulationsfähig sind, werden
»Die Kunst ist weder dem Inhalt noch der Form nach die höch­ sie in Werke so eingesenkt, daß die Reaktionen determini�rbar
ste und absolute \XIcise, dem Geiste seine wahrhaften Interessen bleiben. Theorie herrscht also noch im Akte ihrer ästhetischen
zum Bewußtsein zu bringen. Die eigentümliche Art der Kunstpro­ Selbstverleugnung. Sie wähnt, sich der unmittelbaren Erfahrung
duktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr der Kunst anzugleichen, indem sie bereitwillig Abstriche am tradi­
aus.« ••Die W issenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch tionellen Theorieverständnis macht. Sie verstrickt sich damit i n ei­
viel mehr Bedingung als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für neu Schein, der nicht derjenige ist, von dem sie spricht. Der Ver­
sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet such, Theorie ästhetisch werden zu lassen, endet in der Verwechs­
uns zur denkenden Betrachtung eig, und zwar nicht zu dem lung eines Theoriescheins mit einem Kunstwerk.
Zweck, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was Kunst sei, wis­
senschaftlich zu erkennen.«44
Diesen Prozeß denkerischer Überwindungder Eigenständigkeit Literarisches Postskriptum
künstlerischer Gestaltung macht Adornos Ästhetik in gewisser
Weise wieder rückgängig. . Zwar entdeckt Philosophie ihre urei­ Thomas Mann hat richtig gespürt, daß es, in der Sprache seines
gensten Intentionen in Kunst, sie unterwirft die künstlerischen Doktor Faustus geredet, mit dem Teufel zugehen müsse, wo Kunst
Äußerungen jedoch nicht einem von Hause aus philosophischen sich vollends zur Erkenntnis wandelt und die Zerstörung der
Wahrheitsbegriff, denn das müßte die künstlerische Erscheinungs­ Werke das äußerste Werk gebiert. Die musiktheoretischen Passa­
form notwendig entkräften. Um Kunst vor dem Zurücksinken in gen des Romans, die bekanntlich aus der Zusammenarbeit mit
irrelevante Vorstufen des Geistes zu retten, verzichtet Philosophie Adorno entstanden sind und teilweise dessen Philosophie der
lieber auf die Reflexion, die offenbaren würde, daß Kunst als Er­ neuen Musik paraphrasierenH, sind voller Absicht dem ungenann­
kenntnis sich eben nur dem philosophischen Auge preisgibt. Die ten Widersacher und Inspirator in den Mund gelegt. Mephistophe­
Philosophie verbirgtvor sich selber, daß sie es war, deren Interpre­ lisch und nach sophistischem Lug und Trug soll es klingen, wenn
tationsleistung Kunst erst in den Rang der Gleichberechtigung er­ » En< lachend sagtl6: »Mein Lieber, die Situation ist zu kritisch, als

hob. Der Umstand, daß Philosophie sich diesen ihren konstituti­ daß die Kritiklosigkeit ihr gewachsen wäre! . . . Was ich nicht
ven Beitrag nicht eingesteht, verleiht der Kunst das Ansehen der leugne, ist eine gewisse Genugtuung, die die Lage des >Werkes<
Eigenständigkeit. Genau genommen handelt C$ sich um eine Art ganz allgemein mir gewährt. Ich bin gegen die Werke im Großen -
Ritterschlag, für den niemand die Verantwortung übernehmen Ganzen. Wie sollte ich nicht einiges Vergnügen finden an der Un­
will. Vielleicht steckt darin, allen Gesten der theoret.ischen Be­ päßlichkeit, von der die Idee des musikalischen Werkes befallen
scheidenheit zum Trotz, eine äußerste Herablassung: die des an- . ist! Die Kritik erträgt nicht länger die >Fiktion<, die Selbstherrlich­
onym bleibenden Hoheitsakts. keit der Form, die das Menschenleid z.ensuriert, in Rollen aufteilt,
Im Grunde wären all diese Komplikationen vermeidbar, wenn in Bilder überträgt. Zulässig ist allein noch der nicht fiktive, der
Philosophie von dem Traum ablassen würde, sie selbst zu sein und unverstellte und unverklärte Ausdruck des Leides in seinem realen
doch ein anderes. Die Ästhetisierung der Theorie belastet eine Augenblick . . . Darauf erfolgt die bedenkenswerte Antwort:
<<

Theorie des Ästhetischen. Obwohl der Autonomie der Kunst das »Rührend, rührend. DerTeufel wird pathetisch. Der leidige Teufel
Wort geredet wird, sind letzdich wieder die Eigeninteressen der moralisiert. Das Menschenleid liegt ihm am Herzen. Zu seinen Eh­
Theorie am Werke, die die Ästhetik einer tiefgehenden H eterono­ ren hofiert er in die Kunst hinein . . . « Die Ironie des Romanciers
mie unterwerfen. Die Gedankenfolge, die mit dem universalen rührt instinktsicher an die schwache Stelle einer Kunsttheorie, die
Verblendungszusammenhang beginnt und über das Dogma vom mit der apokalyptischen Werkdiagnose ganz andere Zwecke ver­
Gegensatz zwischen Kunst und Wirklichkeit läuft, macht endlich folgt und deren Offenlegung moralisierend verschleiert. Die Phi-

94 95
17 »Die Geschiclue des Denkens ist, soweit sie irgend sich zurückverfol­
losop hie hofiert die Kuns t um ihrer eigenen Schwierigkeiten wil­
gen läßt, Dialektik der Aufklärung• (Adomo, Negative Dialektik,
len, während sie pathetisch das Menschenleid beschwört.
Fran�furt!M. 1975. S. 124).
1 8 Vgl. Asth�tische Theorie, S. 16, 67, 114 ö.u.
19 Z. B. Plato, Staat X.
zo Dittlektik der Aufk/änmg, S. 3 vgl. Philosophie der neuen Musik
t;
Anmerkungen (1948),Berlin 1972, S. 2of., 189.
21 Dialektik der Aufklärung, a.a.O.; Ästhetische Theorie, S. 1 20, 197, 5 J 1 ;
Negative Dialektik, S . 26 f.
1 Es handelt sich um die Antrittsvorlesung, die im ersten Band der Ge­
22 System des tramzendentalen Idealismus (1800).
samm elten Schriften .tugänglich s
i t. (Frankfurt/M. 1973• 343)
ZitatS.
23 P.hüosoph1e der Kunst Dar s ad 1959, S. 8 ff.
(!Sol/4), mt t Vorlesungen
Vgl. auch die Vorrede zur Negativen Da i lektik \Frankfurt/M. 1966,
,� Metbode des akademschen
uber J i Studu1ms (18oJ), XIV. Vorlesung.
s. 9).
14 Ben,amm, Versuche über B1·echc, Frankfurt!M. 1966, S. 96 ff.
z S. a. Der Essay als Form, Noren zur Lt i eratur l 19�8, zd.
S. 25 Z. B. Adorno, Olme Leitbild, Fraokfun/M.1967, S. 1 6 ff.
; Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 140.
26 A.a.O.;Zum Klassizismus von Goethes /phigenie, in: Noten zur Litera­
;a Siehe oben S. 5 1 , Anm. 55. tudV, S. '. 6f.- Vgl. Mt!Ximen und Reflexionen,
Goethe, Nr. 751 ll. a.­
4 Seht. I, $. 343·
Dazu treffende Bem kungen bei
er Kaiser,AdomosÄ.sthetsche
G. i Tbeo·
5 Vgl. für Einzelheiten meine S ud e » t i Problemgeschichte und systemati­ rie, in: Antithesen, Frankfurt!M. 1973, S. 309 ff.
s her Sinn der ·Phänomenologie< Hegcls•
c in: Dia.kktik und Wissen­
27 !u1 .seinem Liebli�g be p cl Becken demonstriert Adorno aus •ge
s is i ­
schaft, Frankfurt/M. •973· .
sch,�hrsphllosopbiS chenGründen• lgend ,.Verlinderung des dra­
fo e
6 S. a. Die Idee der Naturgeschichte (Sehr. /).
at ischen
m Apriori:daß keinpositiver metaphysischer Sinn deran mehr
7 S. Adorno, Kierkegaard, Komtruktion des Ästhetischen, Frankfun/M. wenn anders er es je war, daß die dramatische Form ihr
substantiell ist,
1962, s. 124 ff.
Gesetz hätte an ihmund seiner Epiphanie. Das jedoch zerrüttet die
8 Parataxis, Zur späten Lyrik Hölderlins, in: Noten z. Lit. III (Schriften Form bis i,ns �prachliche Geiüge hinein. Das Drama vennag nicht ein­
II, 4pff.).
S. fach negauv Smn oder dte Absenz von ihm als Gehalt zu ergreifen, ohne
9 Ästhetische Theorie, S. 191. .
daß dabeJ alles ihm Eigentümliche bis zum Umschlag ins Gegenteil be­
10 Ich ks izzi re hier einige
e die schon früher
Analysen, vorgetragen wur­
troffen würde.• (Notctz zur Literatt<r II, S. 189)
den: W as ist kririscbe Theorie? in: al., Hermeneutik und Ideolo­
Apel et
28 Philos?phie der neuen Musik, S. 3 1 -Der Verweis auf Hege) ist durch­
gei kritik, Frankfun/M. 1971.
a�s m•ßverständlicb, denn das ·Zusehen•, das Hege) als spezifisch für
J1 Noten zu1· Litern/ur IV, Fnnkfurt!M. 1974, S. 146.
d1e Methode der •Phänomenologie des Geistes• erklärte (Phän. d. G.,
12 etwa
S. Baumeister/). Kulenkarnpff, Geschichtsphilosophie undphi­
Tb.
ed. Hoffmeister, Harnburg r9� 2, S. 72), trifft weder für seine Philoso·
losophische Ästh�tik, in: Neue Hefte fiir Philosophie 5> 1973·
phie ü rhaup zu, noch bedeutet das phän men logi h Zu$ehen
be t o o sc e
1 3 Dialektik der Aufklärung, A.msterdam •947• z. B. S. 9·
run dweg d.ieA�wesenheit systematischer Voraussetzungen (s. dazu
14 S. Horkhe m r, Ein neuer ldeologiebegriff? (•93o);
i e in: Kritische
jetzt _ en oben zmerren Aufsatz in Dü:lektik und Wissenschaft).
n�etn
Theorie v. A. Schmi ), Frankfun/M. 1968; ähnlich
(hg. dt Das
Adorno,
29 Eme so harmlose Beobachtung wie die von F. Busoni in seinem Ent­
Bewußtsein der Wissenssoz ologie
i (Prismen, Frankfurt!M. 195 5).
wurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1916 trifft das Problem
15 In dem Aufsatz über Sarnuel B ck ns E••dspicl heißt entsprechend:
e e es
»Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase iSt
keineswegs: ·Die vergänglichen Eigenschaften machen das •Moderne<
w d rspenStig dagegen, sich begreifen z.u lassen; das waren noch gute
ie eJnes Werkes aus;
. die unveränderlichen bewahren es davor, ,aJuno­
Zeiten, als eine Kritik de po liti c en
r s h Ökonomie dieserGesellschalt ge­
dJsch• zu werden. Im ·Modemen• wie im >Alten< gibt es Gutes und
schrieben werden konnte, sie ihrer eignen ratio nahm.• ( Ver­
die bei Schl echtes, Echtes und Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht ­
nur früher oder später Entstandenes, länger blühend oder schneller
such, das EndspielZt� verstehen; in: Noten z. Lit. U, Frankfurt/M. 1961,
welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes.• (Neuausgabe
s. 192.)
Frankiurt/M. 1974, S. 8)
16 S. nochden späte Adornos Zum Klassizismus von Goethes Iphi­
n Essay
gcnei , in: Noten zur Literatur IV, 3off.
a.a.O., S.
97
30 Ästhetische Theorie, S. 134 u. ö.: Engagement (in: Not. z. Lit. III). Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen
31 Ästhetische Theorie, S. 185, s. a. S. r89, 193 f., 391 u. a.
32 Plato, Staat, S . 595cff.
33 Aristoreles, Poetik, r448 b 2 ff. Lebensversöhnung durch Kunst
34 Neg<�tive Dkzlektik, S. 26; vgl. Ästhetische Theorie, S. 86f., 18of. u. ä.
35 Erpreßte Versöhnung, in: Noten z. Lit. Il, Frankfurt/M. 1961, S. 163.
In Platos Staat findet �ich der tiefsinnige Satz, daß seit alters die
36 Zur Vorgeschichte und Einordnung dieser Debatte materialistis.cher
Philosophen und die Künstler im Streit liegen. Der Streit ist onto­
Ästhetik s. o. S. 23 ff.
37 Vgl. oben S. 3off. logisch begründet, aber er wird politisch ausgefochten; denn beide
38 Nur ein Beispiel für viele: Phiwsophie der neuen ilfusik, S. 1 1 2 f. werben um die Seele des Menschen. Die Künstler tun dies, indem
'
39 Das gilt gegen P. Bürger, Theo rie der Avantgarde(Frankfurtllv1. 1974, sie eine neue Wirklichkeit schaffen, mit der man sich leicht be­
$. 76ff; zu Bürger s. u. S. 1 1 r ff.). Aus gleichen Gründen habe ich gnügt. Während die Fiktion dazu tendiert, betörend die ursprüng­
Schwierigkeiten, die Bemerkungen von L. Finscher Über den Kunst­ lichen Wirklichkeiten zu ersetzen, nähert sich die Philosophie der
werkbegriff bei Adorno (Beitrag zum Grazer Musikkolloquium 1978) Wahrheit des Seins mit Hilfe der Diagnose dieser Verwechslung.
zu verstehen.
Philos ophie beginnt keineswegs mit den dogmatischen Behaup­
40 Es findet sieb z. B. bei F. Grenz (Zur architektonischen Stellung der
tungen der Besserwisser, sondern sieht sich in der Anstrengung des
Ästhetik in der Philosophie Adomos, Sonderband Text und Kritik zu
Adorno, hg. v. H. L. Arnold, München 1977, S. 123), der im übrigen
Begriffs dadurch herausgefordert, daß man offenbar die Welt je
aber in seiner Auseinandersetzung mir meinem oben genannten Auf­ nach Belieben auslegen kann. Künstler und Sophisten sind wie
satz so viel Übereinstimmung zeigt, daß ich mich nicht widerlegt sehe. Zauberer, die mi t der gekonnten Demonstration variabler Welt­
4 1 Außenstehenden fällt djese Folge besonders auf, wie die im Ganzen sichten triumphieren. Erst wer zu bestimmen vermöchte, was
verständnisvolle DarStellung von M. Jimenez zeigt (Adorno, art, ideo­ Schein eigentlich ist, wäre aus der uuentscheidbaren Konkurrenz
logie et theorie de l'art, Paris 1973, S. 27off.). der Alternativen des So-und-auch-anders entlassen. Dazu muß
42 Vgl. oben S. 34 ff. man die Struktur jener Realität begreifen, die bloß aussieht wie die
43 Vgl. Negative Dkzlektik, S. 9f., 396ff., Philosophie der neuen Musik,
Wirklichkeit, die also etwas voraussetzt, das sie frei imitiert, um es
S. lOf., 189.
dadurch in seinem unbezweifelten Vorrang zum Verschwinden zu
44 Hege!, Ästhetik (ed. Hotho), We rke X r, r842, $. 1 3 f., 16.
bringen. Platos Lehre besagt, daß allein die begriffliche Bestim­
45 Vor allem in den Romankapiteln XXI und XXV (Ausgabe Frank­
furt/M. 1947, S. 187f., J78ff. z. B.). Vgl. Manns Brief an Adorno vom mung des Scheins dem Denken seine Autonomie eröffnet.
30. u. 1945 und Die Entstehung des Doktor Faustus (Frankfurt/M. Die Einsicht in den existentiellen Wettbewerb zwischen Schein
1966, S. 35 ff., 109ff.). und Wahrheit, wo beide nicht apriori geschiedenen Reichen zuge­
46 Doktor Faustus, a.a.O., S. 38 r f. ordnet, sondern aufs engste aneinandergekettet sind, hat nichts mit
einem metaphysischen »Platonismus« zu tun, den die Lehrbücher
längst ad acta gelegt haben. Seitdem in der Moderne das Ästheti­
sche eine Lebensmacht wurde, bildet die Grenzziehung zwischen
Schein und Wahrheit ein Dauenhema, und im Zuge dieser Ent­
wicklung verlieren gewohnte Einteilungen an Kraft. Vieles dr äng t
d ar auf, die Grenzziehung aufzuheben oder ständig zur Disposi­
tion zu stellen. Mit den Avantgardebewegungen der letzten 1 50
Jahre stoßen die Künste mehr und mehr in die angestammten Be­
zirke außerästhetischer Realität vor, während umgekehrt die pri­
vaten u nd p olitischen Lebensordnungen sich planmäßig ästhetisie­
ren. Man findet die Gebrauchsgegenstände, die technischen Pro-

99
dukte und den banalen Abfall unserer Zivilisation zunehmend in waren, lösen sie Protest aus : So sei das nicht gemeint gewesen! Die
Museen. Also begegnen wir unserer vertrauten Wirklichkeit noch Utopie gehört wieder in die Ferne gerückt; denn nur am Schmerz
einmal in der Form bedeutungsloser Wiederholung, die als solche über abwesendes Glück kann man sich delektieren, während par­
einfach goutiert wird. Parallel dazu nähern sich Alltagsbeziehun­ Tr:lUm unaufhaltsam trivialisiert. Die
tielle Verwirklichung den
gen zwischen Menschen im privaten und gesellschaftlichen Rah­ lautere Hoffnung endet leicht in den Gaukeleien der Reklame.
men mit votlem Bewußtsein einem Kunstmodell, indem eine spie­ Also möchte man das ästhetische Erlösungsversprechen von der
lerische Inszenierung die Last der Rollen erleichtert, traditionelle Prosa nüchtemer Pflichten und Zwänge nutzen, aberdie Kontrolle
Pflichten in die Schwebe bringt und Normen zum folgenlosen behalten. Man möchte dem Druck der Condicio humana in die
Ausprobieren freigibt. Sphäre des Spiels entweichen und dennoch den Boden unter den
Häufig ist beobachtet worden, daß hierdurch Verheiß uh gen der Füßen nicht verlieren. Wer aber vorher sicher sein will, wohin die
frühidealistischen Philosophie und Romantik eingelöst werden. Reise geht, so ll te sich auf das Experiment der ästhetischen Subli­
Die Vision von der allumfassenden Versöhnung wollte die Kluft mation von Lebenswirklichkeit n icht einlassen. Ungestraft kün­
zwischen Subjekt und Objekt schließen, die sowohl die Entfrem­ digt niemand der entzweienden Reflexion im Namen ihrer Über­
dung von Mensch und Natur wie die von Ich und Du z.u verant­ windung durch das Medium der Kunst auf, weil die Ambivalenz
worten hat. Eine neue Mythologie sollte die starren Institutionen alles Ästhetischen jegliches Pochen auf Eindeutigkeit sinnlos
verflüssigen, die Stände einander nähcrbringen, und über allem macht. Die schwärmerische Vision einer Versöhnung enthält keine
schien die Sonne der Kunst. Dies Blld erhielt seine erwartungsvolle Garantie gegen Fragwürdigkeitcn.
Tönung als Gegenentwurf zum herrschenden Rationalismus der
Aufklärung, wobei das erwachende Nationalbewußtsein der
Deutschen die positiven und negativen Akzente diesseits und jen­ Ambivalente Verführungen
seits des Rheins verteilte. Nicht umsonst hat der erste Aufklä­
rungskritiker Rousseau, der wußte, wovon er sprach, seine Kar­ Gerade darin besteht aber die Verführung einer G ratwanderun g
riere vor allem in Deutschland gemacht. Sie reicht über Fichte, den zwischen Leben und Ästhetik, daß es hier so aussieht, als dürfe
jüngeren Hegel, Marx und Nietzsche bis in die Gegenwart, man das eine tun, ohne das andere zu lassen. Freilich sieht es nur so
Dafür spricht auch die eifersüchtige Debatte um wahre und fal­ aus, und eben dies stellt den ästhetischen Effekt dar. Die zweite
sche Aufklärung, die in• paradoxer Umkehr der Akzente inzwi­ Wirklichkeit neben der ersten konkurriert mit ihrem Urbild, das
schen die Gemüter erhitzt. Wie es den Anschein hat, stehen da sie nicht vertreiben, sondern höchstens entmächtigen kann, genau
plötzlich echt französisch gesonnene Deutsche den leider deutsch­ in dem Maße, wie die Differenz aus dem Blick gerät. Die ver­
türneinden Pariser Imellektuellen gegenüber. Es geht um die auto­ schwimmende Differenz. und nichts sonst vermittelt Kunstgenuß.
ritative Verwaltung eines Gedankenguts der Vergangenheit, damit Im Ernste nämlich treten wir für keinen Augenblick in die fiktive
ideenpolirische Positionen für di e Gegenwart besetzt werden kön­ Gegenwelt ein. Mit Fleisch und Blut, mit Rechten und Verbind­
nen, und bereitsvorherist klar, was herauszukommen hat. Einmü­ lichkeiten, Leiden und Taten für den Übertritt geradezusteben,
tigkeit herrscht über den z.u rettenden Rationalismus und den zu wäre jeglichem Genuß zuwider. Wo dergleichen geschieht, liegt
verdammenden Irrationalismus der Tradition. Wie fein wird da der Fall des Wahns vor, der durchaus bitterer sein dürfte als die li­
gute von schlechter Romantik geschieden! terarische Koketterie mit dem H ölder li n Sch icksal
- .

Diese Scholastik entsteht, nachdem die historischen Bedingun­ Wir verlassen unsere gemeinsame Welt zugunsren der schöpferi­
gen der Ausgangslage nicht mehr existieren, die das zu überwin­ schen Imagination nur im Unernste; dessen Faszination freilich
dende Gegebene von den erhofften Erfüllungen schied. Wo dk um so tiefer reicht, je mehr er sich als Ernst drapiert. Ganz auf einer
Antizipationen Teil der Wirklichkeit geworden sind, verlieren sie Seite zu stehen, bedeutet Einschränkung - sei es die des spröden
notwendig an Glanz. Vermischt mir dem, wogegen sie aufgerufen Realisten oder die des im Wahn Befangenen. Wohl tra1mcnes

100 101
Grenzgängerturn bringt jedoch unerschöpfliche Perspektivener­ eigenständiger Kunstcharakter auf der Stirn geschrieben steht, so
weiterung mit sich, wobei die Veränderungsfähigkeit der Balance daß der Übergang zwischen beiden Seiten gleitend wird. Also muß
wie von selbst zur Befestigung einer derart am Schein orientierten die Sonderexistenz der ästhetischen Sphäre genauer bestimmt wer­
Einstellung beiträgt. den. Wie sich die Reflexionsleistungen darstellen, denen wir unsere
In der Folge vertrete ich die These, daß der ästhetische Schein zu Bekanntschaft mit dem Ästhetischen verdanken, soll zum Schluß
mancherlei gleitenden Problemverlagerungen einlädt. Er zieht of­ ein kurzer Blick auf die Analyse ästhetischer Erfahrung zeigen.
fenbar ungelöste Fragenkomplexe auf sich, die in der ursprüngl�­
chen Zuständigkeit umstritten geblieben sind. Was immer d1e
Gründe für den kontroversen Problemstand im einzelnen sein mö­ Der Künstler als der vollkommene Mensch
gen, die Eigenart des ästhetischen Scheins suggeriert einen pau­
schalen Ausweg. Angesichts ungewisser Problemlagen äußert sich Unser erstes Beispiel zielt auf das menschliche Selbstverständnis
die betörende Natur aHes Ästhetischen ganz. allgemein darin, überhaupt. Im Zusammenhang mit der Problemverlagerung ins
durch Übertragung in ein anderes Feld Befreiung vom Druck der Ästhetische hat sich die Vorstellung vom Künstler als vollkomme­
aktuellen Schwierigkeit zu bereiten. Ästhetisierung entspa1mt, nem Menschen gebildet. Es fällt nicht schwer, die Verlockung zu
nicht weil dies die jeweils angemessene sachliche Lösung der Fra­ fühlen, die davon ausgeht, daß wir alle uns dem Typ des Künstlers
gen wäre, sondern weil einfach ein flexibles Medium bereitsteht? nachempfinden dürfen. Die im Zeitalter der Wissenschaften unbe­
die Dinge i n Suspens zu nehmen. Ich will den Vorgang an drei Bei­ ancwortbar gewordene Frage nach dem einheitlichen Wesen des
spielen verdeutlichen, die das anthropologische Selbstverständnis Menschen erscheint schlagartig in einem neuen Lichte.
des Menschen, den Status der Moral und die klassische Wahrheits­ Ursprünglich geht die Vorstellung auf christliche Theologie zu­
frage betreffen. Es wird sich zeigen, daß dies keine akademischen rück, die die störende Ursache des Bösen in der von einem gütigen
Spezialitäten sind, sondern daß die gesellschaftliche Wirklichkeit Gott geschaffenen Welt auf den freien Willen des Menschen zu­
unserer Tage sich darin spiegelt. rückführt, der als konkurrierender Schöpfer im kleinen auftritt.
Wie erklärt sich ein Vorgang der Problemverlagerung, der nicht Der Gedanke hat später die Geniekonzeption inspiriert, von der
sogleich kritisch aufgespieflt wird, sondern weithin eher willkom­ ein Weg bis hin zu der zeitgemäßen Popularisierung führt, die uns
men scheint? Der Schein, dessen Wesen darin besteht, stets anders weismachen will, daß jeder, der sich unkonventionell verhält, in
auszusehen, lebt von Dissimulation. Er läßt sich widerstandslos Wahrheit seine schlummernden Talente offenbart. Nachdem es
auf alles beziehen, weil nichts an ihm eine Projektion auf fremde nur eines Entschlusses bedarf, um sich ganz natürüch in den Kreis
Materien verhindert. Strukturelle Fremdheit kennt er nicht, denn produktiver Menschen einzureihen, ist das alte Rätsel der Theodi­
das setzte eine Eigenständigkeit voraus, die dem Schein per defini­ zee zu einer letzten, unerwarteten Konsequenz ausgeweitet. \Var
tionem abgeht. Bei dem genannten Vorgang der Problemverlage­ ehedem die Frage drängend, wie das Böse in Schach zu halten sei,
nmg stehen also nicht etwa zwei unabhängige Sphären einander so befinden wir uns längst jenseits von Gut und Böse.
gegenüber, welche durch einen gewaltsamen Akt in eine Verbin­ Schon die Renaissance ging ganz unbefangen vor in der Urndeu­
dung gebracht würden, die ihnen von Haus� aus gar nicht zukäme. tung des christlichen Erbes zum künstlerischen Ruhmestitel eines
Auf eine vermeintliche Selbständigkeit des Asthetischen, die durch alter deus, der im Mikrokosmos die Weltschöpfung wiederholt.
ihr wesensfremde Aufgaben verzerrt würde, läßt sich nicht hin­ Bekanntlich nennt Pico della Mirandola i n De dignicate hominis
weisen wie auf eine ontologische Tatsache. Die ästhetische Sphäre mit einem schönen Bilde den Menschen "fictor« seiner selbst. Da­
wird vielmehr durch besondere Reflexionsleistungen aufgebaut von profitiert die i n der Neuzeit übliche Verherrlichung des Ge­
und bleibt mithin abhängig von auflerkünstlerischen Gegebenhei­ nies als eines außergewöhnlich begabten Individuums, dessen Be­
ten, auf die die Reflexion sich bezieht. Daher kommen bei der gabung allerdings in einem über alle Begriffe engen, ungebroche­
Konstitution des Ästhetischen stets Momente ins Spiel, denen kein nen Kontakt zu den wahren Baugesetzen des Kosmos besteht.

102 103
Kant hat die für seine Ästhetik notwendige Vorordnung der Na­ brennt auf der raffiniertesten Zivilisationsstufe, da als Fortschritt
turschönheit vor der Kunstschönheit nur so erläutern können, daß nur noch akzeptiert wird, was ihm künstlich Paroli bietet. Für die
die Natur selber dem Genie gleichsam die Regeln sinnhafter Pro­ im Gange befindliche, unaufhaltsame Rationalisierung besteht
duktion eingibt. Was wir theoretisch gar nicht fassen können, weil eine letzte Steigerung darin, die dunkle Kehrseite der Verbreitung
es sich unser aller Verstand entzieht, darüber verfügen einige des allgemeinen Lichts der Vernunft hervorzukehren. Der faszi­
glücklich Auserwählte, ohne zu wissen warum. Es bedarf nur noch nierende Komrast läßt sich ästhetisch ausmünzen, indem man wi­
einer Bestreitung dieser in der Tat nicht mit Gründen zu legitimie­ der alle schlechten Usancen von Herrschaft nun denen die Füh­
renden Schranke zwischen uns und jener Elite, um im Zuge der rung der öffentlichen Angelegenheiten zutraut, die das Hell-Dun­
Demokratisierung aller Verhältnisse die künstlerische Sonderstel­ kel aushalten.
lung ins Altgemein-Menschliche aufzulösen. Platos Ideal der Philosophenkönige in einem vom Kunstschein
Das Privileg des Genies wandelt sich zu einem Besitz, den jeder gereinigten Staat wird durch ein ästhetisches Führungsideal über­
in sich entdecken kann, wenn er nur die anerzogenen Differenzie­ boten. Denn sollte der einseitige Vernunftweg Europa in die Irre
rungen zwischen Normal und Außergewöhnlich beherzt vernach­ geführt haben, bietet das simple Pro und Contra von Programmen
lässigt. War schon das selbstquälerische Liebäugeln des Bürgers keine Hilfe mehr. Ersehnt wird die alles mit einem Schlage wan­
mit dem dekadenten Außenseiter nichts als ein Kunsttopos des 1 9 . delnde Einstellungsveränderung, welche Harmonie mit der Natur
j ahrhunderts, so geht die Befreiung von selbstverschuldeter Un­ stiftet und den gesellschaftlichen Beziehungen die Reibung er­
mündigkeit nun so weit, das Leben radikal zur Kunst hin zu stili­ spart. Wer brächte für dieses Muster von Politik bessere Voraus­
sieren. Gefeierte Künstler, deren herausragende Leistungen mit setzungen mit als der Künstler?
Preisen bedacht werden, \cersichern uns, daß wir alle zum Künstler
geboren sind, auch wenn uns gleicher Erfolg versagt bleiben sollte.
Verbreitet ist die in Kleidung und Gestik zur Schau getragene Der Künstler als Moralist
Deklaration, daß man sich nicht zu den Biederen zählt, obwohl die
Absage an herkömmliche. Wohlanständigkeit harmlos wird, wenn Ideologiekritik begann als die subtile Kunst des Durchschauens
alle dasselbe tun und die Insignien des Protests aus dem Kaufhaus von Unwahrheit im Selbstverständlichen. Die Schriftsteller des r 8.
beziehen. Bunte Veranstaltungen demonstrieren das Bild eines äs- · Jahrhunderts arbeiteten mit literarischen Brechungen des Eignen
thetisch zu sich selbst gekommenen Menschen. Die Rituale der im Fremden, mit Utopien und kulturellen Spiegelungen im Wilden
Gegenkultur in Sport, Musik, neuer Religiosität und alternativer oder Orientalen. Marx suchte daraus eine Wissenschaft z.u ma­
Politik sind längst Massenereignisse geworden, denen dank der all­ chen, ohne die Konsequenzen strikter Ideologiekritik für das ei­
gegenwärtigen Medien gar nicht auszuweichen ist. Wir alle neh­ gene Unternehmen gründlich genug zu bedenken. _Entweder näm­
men unablässig daran teil, ob wir wollen oder nicht. So wird dem · lich deckt die geplante »Kritik der politischen Okonomie<< die
Publikum nicht wirklich eine entgegengesetzte Auffassung vom ökonomischen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft auf und ge­
Leben präsentiert, es ist automatisch einbezogen in die neue Kom­ rät damit in den methodischen Streit der Fachleute, wo jeder nur
munität. eine Stimme hat, oder aber sie übt prinzipiell Kritik an solcher
Mit der Parole ·Die Phantasie an die Macht!« läßt sich in der Tat Wissenschaft und muß sich dann ihrerseits auf progressive Interes­
, Politik machen. Jedes Kind weiß inzwischen, daß Wissenschaft sen stützen, die sich höchstens geschichtsphilosophisch legitimie­
und Technik die Natur im einseitigen Interesse des Menschen ver­ ren lassen.
gewaltigen. Bewiesen werden die schleichenden Destruktionspro­ Daß Interessenreflexion allein aber nicht ausreicht, der Theorie
zesse mit wissenschaftlichen Mitteln, und propagiert wird die Un­ ihre Überlegenheit zu sichern, beweist die Geschichte des Marxis­
glücksbotschaft unter rückhaltloser Benutzung aller Technik. Das mus von Lukics bis zur Frankfurter Schule ganz plastisch. Konfli­
Rousseausche Dilemma kehrt wieder: Zivilisationskritik ent- gierende Interessen stehen als solche immer pari; auch die wohl-

1 04 105
Nun wird man kaum begründen können, daß ein in sein Werk
feile Behauptung, das eigene Interesse sei das Allgemeinimercsse,
versunkener Bildhauer, ein in der Klause grübelnder Romancier
läßt sich wechselseitig austauschen. Noch hinter den edelsten In­
oder ein erfolgreicher Theatermann kraft �ieser ästhetischen Kom­
t�ressen lauerr Verschleierung, so daß die immanente Ideologiege­
. petenz mehr Wissen oder klarere Begriffe besitzen in Fragen, die
fahrdung emer 1m Namen von Interesse operierenden Wissen­
von der moralischen Diskussion aufgeworfen werden. Das, was
schaft nie auszuschließen ist. Die Beobachtung hat bei Adomo
alle angeht und worin alle nicht einig sind oder sicherer sein möch­
zum enrschlossenen Rückzug der Kritischen Theorie auf Ästhetik
ten - wieso sollte das eigentlich zur legitimen Sache von Dichtern,
geführt, wo sich die beunruhigende ,.Dialektik der Aufklärung« .
B1ldhauern oder Regisseuren werden? Die allgemeine Geltung von
scillstellen läßt.
Kunstwerken, die sich über die ästhetische Wirkung verbreitet,
Mirhin ruht die Kritik am herrschenden Zustand der Welt auf
macht deren Autoren oder Vermittler nicht zu Richtern über das
den zarten Schulrem der Kunst, da die theoretischen Instrumente
wahre Gemeinwohl. Wahr ist, daß Kunst alle angeht, aber daraus
einer differenzierten und darin zugleich wertenden Analyse gesell­
folgt nicht, daß Themen, die alle angehen, ohne weiteres zur Kunst
schaftlicher Bedingungen versagen. Das Bestehende gilt durchweg
gehören. Erst muß eine effektive Unsicherheit eintreten über die
als falsch und soll nicht sein. Was sein soll, ist hingegen das, was
Abgrenzung solcher gemeinsamen Themen, die Formen ihrer kol­
nicht ist. Dafür findet sich ein willkommener Repräsentant in jener
lektiven Ver?andlung und die Kriterien für fällige Enrscheidun­
Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit, die wir Kunst nennen.
gen, bevor dte Verlagerung öffentlicher Moral ins Ästhetische un­
Kunstwerke eignen sich allein kraft ihrer Sonderexistenz des ver­
widersprochen Zustimmung findet.
dinglichten Scheins dazu, der trüben Faktizität radikalen Wider­
In traditionalen Gesellschaften galten Künstler zusammen mit
stand zu leisten. Zu dem Zweck freilich muß das Werk zu reiner
fahr�ndem V�lk und anderen Bohemiens als unzuverlässig, weil
Selbständigkeit gebracht werden, allen Kompromissen mit dem
s1e s1ch den f1xen Regeln des Umgangs entzogen. Der Geniekult
Vorfindlichen absagen und vollends die Sklavenrolle einer Beschö­
hat den Künstler dann zum unbewußten Botschafter großer Ideen
nigung der Realität verlassen. Avantgardistische Kunst, die der
und Werte erhoben, die sich durch die Schönheit oder Erhabenheit
bornierten Abbildung des Status quo de2.isionistisch nach vorn
der Produkte hindurch den dafür empfänglichen Gemütern ein­
entflieht, ist für dieses Programm der geborene Bannerträger.
prägten. Schiller hat die Bühne als moralische Anstalt entworfen
G�mäß dem Schema der Negation wendet Kunst sich gegen die
die dem Publikum im Medium des Scheins staatsfördernde Gesin�
Realuät, und der Künstler darf sich, vom klassischen Verdacht auf
nun.gen nahebringen wollte. Brechcs Theater steht erklärtermaßen
Immorali�ät reingew�schen, plötzlich als höchste Instanz des ge­
sellschaftlichen Gew1ssens verstehen. Ohne daß es weiterer Ver­
� Dienst � der Ausbr�!rung fortschrittlicher Weltanschauung.
Dies alles smd f'Orrnen, Asthetik und Moral - die nicht von vorn­
dienste als der purer Kunstproduktion bedürfte, erscheint vor al:
her�in zusammenfallen - in ein gewisses, obzwar ganz unter­
len anderen der Künstler als kritischer Spiegel der Gesellschaft. .
schJedlich�s :Verhältnis �u setzen. Kunstproduktion jedoch gera­
Das resultiert weder aus seiner vorbildlichen Lebensführung noch
�e_w�gs m1t emem morahsch ausgezeichneten Standpunkt zu iden­
aus einem moralisch geprägten Inhalt avantgardistischer Werke.
tifiZieren, geht auf eine offenkundige Kategorienverwirrung zu­
Auch gibt es keine in Kunst an sich beschlossene tiefere Einsicht in
rück.
moralische Distinktionen, die unsere praktische Orientierung weit
Daß diese Kategorienverwirmng im Zeitbewußtsein inzwischen
hinter sich ließe. Einzig und allein der Umstand, daß Kunst Kunst
einen festen Platz behauptet, zeigt sowohl eine Unklarheit iiber die
ist und als solche von der Wirklichkeit des gemeinen Alltags ver­
Struktur des Astherischen wie auch über die praxisleitende Rolle
schieden, verleiht ihr die höhere Weihe. Davon profitiert der
der Moral. Sicher ist es ein Zeichen moderner Gesellschaften daß
KLinstler im allgemeinen Ansehen, auch wenn es ihn unter Bedin­
ihre N<;>_rmen zweifelhaft oder disponibel werden. Daraus a�f die
gungen gegenwärtiger Produktion gelegentlich nur die öffentlich
fällige Astherisierung der Moral zu schließen, "tVäre aber ein Irr­
sichtbare Bekundung kostet, sich als Künstler zu verstehen, um
tum. Wie die lebhafte Normendebatte innerhalb der praktischen
weithin auch als solcher anerkannt zu werden.
I07
106
Philosophie lehrt, gibt es durchaus rationale Wege, aufden histori­ nern, darf man inzwischen wohl nüchtern auf die Konvergenz in
schen Verlust etablierter Normensicherheit zu reagieren. Die Pro­ · Sachen einer Instrumemalisierung der Kunst für die"problematisch
blemverlagerung ins Ästherische stößt vermutlich deshalb auf An­ gewordene Wahrheitsfrage verweisen.
klang, weil die dadurch entstehende Unverbindlichkeit von den Auf der einen Seite sucht Heidegger, die überlieferte und in den
Mühen moralischer Entscheidung entlastet. Begrüßt wird die Täu­ Wissenschaften geltende Wahrheitsdefinition der Übereinstim­
schung; denn zum Wortführer untadeligc1· Gesinnung kann sich mung von theoretischen Sätzen mit der Wirklichkeit in einem ur­
am Ieichtesren derjenige machen, der außerhalb der Komplexität sprünglicheren Bezug menschlicher Existenz zu ihrer Lebenswelt
der Handlungen steht, während alle übrigen sich mit der effektvol­ zu fundieren. Eine primäre Vertrautheit mit den konkreten Hori­
len Demonstration für das Gute durchaus begnügen. Mor� erfüllt zonten unserer aktuellen Praxis liegt allem objektivierenden Ver­
sich aber nicht in symbolischen Gesten, sondern in den wohl be­ halten zu Gegenständen und Tatsachen voran. Transzendental be­
stimmten Handlungen, für die der einzelne Verantwortung trägt. trachtet zeig1 diese lebensweltliche Grundlage ein Doppelgesicht:
sie ist Ermöglichung von Weltbezug überhaupt und zugleich Ver­
deckung dieser Ermöglichung in jedem faktischen W eltbezug.
Wahrheit in der Kunst? Daraus erwachsen entscheidende Folgen für die Philosophie, die
das Verhältnis reflektiert. Insofern sie im Kern die Abhängigkeit
In einem übertragenen und insoweit unanstößigen Sinne wird oft ihrer selbst von ihr nicht verfügbaren Gegebenheiten behaupten
von der Wahrheit der Kunst geredet. Hier soll es jedoch um die muß, leugnet sie den alten Primat der Metaphysik.
philosophische Redeweise gehen, die etwa seit Nietzsche der Kunst trirt in dieser Lage einer durch Theorie erzeugten Unfä­
Kunst nachdrücklich Wahrheit zuerkennt. Damit wird der Kunst higkeit der Theorie zu vollgültiger Enrfaltung und Durchsichtig­
spät zurückgegeben, was die philosophische Tradition von Plato keit als Rener auf. In Kunst setzt sich für Heidegger die unvor­
an ihr gerade genommen hatte. Im erwähnten Kampf zwischen denkliche Wal1rheit jener Dialektik von Enrbergung und Verber­
Dichtern und Philosophen gehörte den letzteren die Wahrheit, gung unmittelbar ins Werk. Damit ist der Kunstbegriff wesentlich
wenn sie die ersteren auf den Schein verpflichten konnten. Für die auf das An-sich-sein von Werken angewiesen, während dem Wet·k
europäische Kultur blieb dies Verhältnis bestimmend, bis es sich außerästhetische Aufgaben rein theoretischer Herkunft übertra­
im Zuge der fundamentalen Skepsis gegenüber Metaphysik um­ gen si nd, die sich mit Mitteln der Theorie nicht bewältigen ließen.
kehrte. Das 19.]ahrhundert intonierte die Melodie und in unserem Gadamer hat mit geschmeidiger Begrifflichkeit Heideggcrs Rekru­
Jahrhundert wurde sie gang und gäbe. Erweist sich aber der defini­ tierung der Kunst im philosophischen Auftrag fonennvickelt, ob­
tive Wahrheitsbesitz einer obersten philosophischen Wissenschaft wohl auch in seiner Hermeneutik auf der zentralen Werkkategorie
als leere Prätention, da1m ist der ehedem herabgewürdigte Schein unvermindert die Hypothek philosophischer Wahrheitsdeutung
·

unerwartet rehabilitiert. Werden die Grenzen zwischen Schein lastet.


und Wahrheit fließend, so ist jedenfalls eines sicher: Oie Kunst Andererseits hat Adornos Philosophie in der Ästhetik eine Hei­
verfährt ehrlicher in Benutzung des Scheins als die Theorie. mat gefunden, wie der bereits angedeutete Gedankengang zeige,
Dieses Erbe Nietzsches reicht weit in die Gegenwart, denn auf der aus den Spannungen eines marxistischen Theoriekonz.epts her­
seinen Bahnen wandeln die zwei für heutige Ästhetik wesentlichen ausführt. Eine Wissenschaft, die gleichzeitig Kritik wissenschaftli­
Schulen weiter. Hermeneutik und Kritische Theorie rücken im chen Scheins betreibt, befindet sich im heiklen Reßexionsprozeß
Blick auf Nietzsche enger aneinander, als die offene Zwietracht zu ständiger Selbstwiderrufung. Der Ort, an dem das problemlos er­
erkennen gibt. Die Parallelität hat nur diejenigen überraschen kön­ scheine, weil es unüberbietbar gelingt, ist die Kunst. In hervorra­
nen, die das Schweigen der Hermeneutik über die Kritiker in Bann genden Werke n schließen sich Setzung und Negation zu einer Ein­
schlug oder die gläubig die pennanente Polemik Adornos gegen heit zusammen, die für die Reflexion nur als fonlaufender Prozeß
Heidegger beim Wort nahmen. Ohne die Differenzen zu verklei- zu haben wäre. Werke bringen zur Anschauung, was die 'TI1eorie

•o8 109
rastlos anstrebt, ohne es je zu erreichen: die zur Seinsform gewor­ Exkurs über eine vermeintliche Rettung des Werkbegriffs
dene Selbstdestruktion. Allein der ästhetische Schein ist, was er ist, (Peter Bürger)
indem er erfolgreich auf seine Nicht1gkcit aufmerksam macht.
Wenngleich diese Beschreibung ins Herz der Kunstwerke zielt, Außer Zweifel dürfte stehen, daß es der Ästhetik gegenwärtig
ist die Analogie zur philosophischen Problemlage doch eine äußer­ schwergemacht wird, im herkömmlichen Sinne sich auf die Exi­
liche. Die philosophische Reflexion stiftet in ihrer Not einen Zu­ stenz von Werken zu verlassen. Sichtlich hängt aber der mir Kunst
sammenhang, indem sie das Vorbild der Kunst als Inkarnation der verbundene Wahrheitsanspruch von der Bereitstellung eines
eigenen }lroblematik auffaßt. Nun macht aber das in der Tat vor­ Werkbegriffs ab, weil die ästhetisch zur Erscheinung kommende
handene Strukturmoment konstitutiver Reflexion insbesondere Wahrheit einen unzweideutigen Ort ihres Erscheinens braucht.
moderner Kunst diese noch keineswegs zur ancüla philosophiae. Wenn schon die Theorie mit ihrer Bestimmtheit von Sätzen und
Man kann moderne Kunst durchaus verstehen, ohne in ihr die Argumentationszusammenhängen nicht länger als angemessene
Schwierigkeiten fortgeschrittener Ideologiekritik zu spiegeln. Die Darstellungsform für Wahrheit gilt, muß jedenfaUs der neue Mo­
Provokationen und Schocks, die von ihr ausgehen, sind so diffus, dus der Präsentation klar angebbar bleiben. Erwiese sich die ästhe­
daß die phantasievolle und intelligente Pluralität des Neuen als ei­ tische Erscheinung von Wahrheit ihrerseits als eine Arr Irrlicht,
nes solchen bereits anregend wirkt. das nirgends zu lokalisieren wäre, so verfiele auch das letzte Refu­
Avantgarde wird konsumierbar, ohne daß man noch dnu käme, gium der Wahrheit dem Trug. Man könnte nicht sagen, was das sei,
Widerstand gegen den Fetischismus kapitalistischer Industriege­ das da erschiene, und dann wäre w1klar, ob überhaupt etwas er­
sellschaften in ihr zu dechiffrieren. Das Neue ist längst zur eigenen schiene, sofern damit eine Unterscheidung von Erscheinung und
Traditionsbildung übergegangen und wendet sich immanent gegen Inhalt gerneint sein soll. Ist diese Differenzierung aber aufgeho­
das eigene Alte, die Pioniere von gestern, statt gegen die Welt, wie ben, regiert der Schein uneingeschränkt. Unter solchen Bedingun­
sie ist. Denn in Wahrheit steht moderne Kunst, die uns bereits an­ gen wi.irdc es schlechterdings unsinnig, die aus ihrem eigentlichen
derthalb Jahrhunderte begleitet, keineswegs mehr antithetisch der Reich vertriebene und nun ästhetisch auftretende Wahrheit noch
Wirklichkeit gegenüber. Sie hat in Design und Mode, in allgegen­ als eine solche anzusprechen.
wärtigen optischen und akustischen Signalen, in Reklame und Jar­ Die aktuelle Debatte greift in dieser Frage gern zuri.ick auf die
gon ihre Spuren hinterlassen. Da die klassische Werkidee in der Differenz z:wischen der kamischen und hegelschen Ästhetik:
Moderne planmäßig gebrochen, bestritten, zerstückt und prozes­ Kants Analyse des Geschmacksurteils kommt ohne substantielle
sual transformiert wurde, läßt sich Kunst heutzutage kaum einfach Kennzeichnungen desjenigen Gegenstands aus, dem die Urteile
als eigene Wirklichkeit identifizieren. Wo der Feuerwehrschlauch über das Schöne gelten. Aus Gründen, die der transzendentalen
vielleicht zu einer Assemblage gehört, wo der Erdhaufen künstle­ Anlage einer Untersuchung von Stellungnahmen des Bewußtseins
rische Äußerung oder Bauschutt sein kann, wo die Neonlichter, zur Außenwelt entstammen, kann eine sachlich spezifizierte Qua­
die Medienbilder und das Wortstakkato, die uns ohnehin umge­ lifikation von Kunstwerken im Unterschied zu einfachen Objek­
ben, unmittelbar als Kunstmaterial wiederkehren - da ist ein Zu­ ten nicht gelingen. Sie setzte nämlich ein Wissen über Wesensdiffe­
stand erreicht, der die eingefahrene Trennung zwischen erster und renzen der Dinge an ihnen selbst voraus, das wir nicht besitzen
zweiter Wirklichkeit einebnet. Damit schwindet notwendig die können, bevor wir in bewußte Beziehungen zu den Dingen treten.
Orientierungsmöglichkeit an der Eigenständigkeir von Werken. Wir haben keine Prinzipienkenntnis des Unterschieds zwischen
Kunsteffekte durchziehen auch das Gewöhnliche, und dieses er­ Werken und Objekten, so daß die Erwartung einer verläßlichen
scheint ästhetisch geadelt. Weichenstellung, die vorab zwischen ästhetischen Reaktionen und
üblicher Objektwahrnehmung unterschiede, ins Leere gehen muß.
Gerade dieser Ansatz Kanrs beim reflektierenden Bewußtsein, das

j die Konstitution des Ästhetischen erst vornimmt, erscheint aber

l
110 lll
besonders fruchtbar angesichrs moderner Kunstpbänomene, die neuerung des kancischen Ansatzes, der, wie gesagt, für mein Ver­
mit jedem substanliellen Werkverständnis gebrochen haben. ständnis die Aussicht eröffnet, auch modernen Phänomenen ge­
Gegen Kants ..Subjektivismus• in der Ästhetik werden Hegels wachsen zu sein. Ich habe das früher ausführlich dargelegt' und
kunstphilosophische Vorlesungen ins Feld geführt, die der tran­ möchte mich jetzt auf einige Bemerkungen zu dieser Kontroverse
szendentalen Reflexionsanalyse eine sachliche Verkürzung vorhal­ beschränken. Peter Bürger hat meine Auffassung mehrfach kriti­
ten. Hegel muß mit Werken rechnen, um die historische Typen­ sier.t.• Er verteidigt einen Wahrheitsanspruch der Kunst, der in der
folge der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst in ih­ Werkkategorie verankert ist, auf der Linie der »Hegel-Marx-Tra­
rer strukturellen Veränderung des Verhältnisses von Gehalt und dition«, wie er sagt. Diese Bezeichnung ist leider unklar. Denn wir
Gestalt gliedern zu können. Zudem muß er dem absoluten Geist, hatten gesehen, daß die Wahrheit der Kunst in Hegcls Philosophie
der durch diese Entwicklungsstufen wandert, eine eigne Dimen­ genauer zu bestimmen ist als die Unwahrheit einer unmittelbaren
sion zuerkennen, die nicht mit dem vollkommenen Selbstsein des Erscheinungsform des absoluten Geistes, die aufgrund von dessen
Geistes in eins fällt. So nennt er das Kunstreich ein •sinnliches Eigenart als universalem Vem1ittlungsprozeß zur Aufhebung ver­
Scheinen der Idee«. Damit ist freilich die vermeintliche Selbstän­ dammt ist. Die alte Frage einer marxistischen Ästhetik will ich in­
digkeit um den Preis ihrer Bestreitung eingeräumt: Kunst heißt die des nicht wiederholen (siehe da:w in diesem Band, S. 20 ff.). Es
uneigentliche Weise des Daseins des Geistes. Die h.istorische Ab­ dürfte inz·wischen klar sein, daß es weder im strengen noch im la­
folge der Kunstformen belegt, wie passager die Geistinkarnation in xen Sinne so etwas wie Marxens Ästhetik gibt, wenn auch treue
Werken gewesen ist. In der vorläufig letzten Gestalt einer Auflö­ Editoren verstreute Gelegenheitsbemerkungen in Bänden gesam­
sung der romantischen Kunstform bereitet der Geist sich eine melt haben, so daß vor Jahren manch ein Hoffnungsvoller daraus
w.�hre Existenzweise vor, die mir der theoretischen Autonomie der Systeme schmiedete.
Philosophie das ganze Reich der Kunst überwindet. Die zentralen, obgleich äußerst knappen und von Marx zurück­
Der viel diskutiene Vergangenheitscharakter der Kunst bedeu­ gehaltenen Notizen aus der »Einleitung« zu den Gnmdrissen ver­
tet weniger eine histOrische Einordnung als die Leugnung echter dienen Interesse vor allem deshalb, weil sie klarsichtig die nicht
Eigenständigkeit des Kunstscheins. Dessen Pseudo-Autonomie eindeurig zu fixierende Rolle von Kunst im Überbau historisch ge­
gilt nur solange, wie der Geist nicht wirklich zu sich selbst gekom­ wandelter sozio-ökonomischer Verhältnisse beschreiben. Der Sa­
men ist. Auf Dauer kann die ideelle Substanz. der Kunst im ästheti­ che nach konventionell entsprechen sie gerade nicht dem, was von
schen Medium keinesfalls überleben. Sie drängt aus der Hülle her­ einer spezifischen Ästhetik aus dem Geiste des Marxismus erwar­
aus und depotenziert so die Weise ihrer unmittelbaren Existenz tet würde. Insofern mußten die bedeutenden marxistischen Ästhe­
zur Unwirklichkeit des Scheins. War die Wesensbestimmung der tiker unseres Jahrhunderts wie Adorno und Lukäcs, auf die Bürger
Kunst gegen Kam aus den Kräften des Geistes erfolgt, so wird dies sich vor allem bezieht, ohne Hilfe von der Orthodoxie auskom­
nun zum Schicksal, insofern gerade das geistige Wesen der Kunst men. Gerade die Genannten hat bekanntlich eine gemeinsame
ihr die vorgeblich eigne Seinsweise raubt. Mit der Herausarbeitung Herkunft auf denkbar extreme Gegenpositionen getrieben. Einen
der Idee versinkt der ästhetischeZauber, und die unerbittliche Di­ Fachmann wie Bürger braucht man nicht an die sachlichen Grund­
stinktion von Schein und Wesen setzt sich durch. Hege! hat in vol­ lagen der Polenlik zu erinnern, die Lukäcs unter dem Stichwort
ler Konsequenz das Ende der Kunst und den Beginn der Kunst­ •Grandhotel Abgrunde führte, während Adorno darauf mit dem
theorie zusammenfallen lassen. Das Durchschauen des ästheti­ Verdacht •Erpreßter Versöhnung• replizierte.
schen Scheins bringt einen Zustand naiver Kunstgläubigkeit -z.um Wie auch immer eine marxistische Ästhetik bei dem Gründer
Abschluß, aber eröffnet zugleich die begriffliche Erforschung die­ und seinen Nachfolgern im einzelnen aussehen mag, Bürger beruft
ser Scheindomäne. So hatte Ernst Gombrich völlig recht, als er in sich darauf, weil er einer Analyse ästhetischer Erfahrung mißtraut.
der Rückschau Hege! z.um Vater der Kunstgeschichte erklärte. Ohne Grund unterstellt er ihr Reduktion auf wortlosen Re.izge­
Auf Hegels Standpunkt stellen sich meist die Kritiker einer Er- nuß, ein Vorwurf, auf den ich weiter unten noch eingehen werde.

l l .Z I l3

l.
Vor allem aber vermißt er, daß »die Auswahl aus der Traditio
n Es heißt dort von dem nicht der Philosophie entliehenen Wahr­
noch rationa l begrün dbar« sei, nachdem mit der Leugnu ng � es heitsbegriff der Kunst, daß er als •l·egtdative Idee• verwendet
steh
Werkbegriffs ein »Ürt, an dem Wahrheit über die Gesellschaft werde, »an der die einzelnen Deutungen sich orientieren müssen,
die leitende Intentio n hervor. Es geht wenn sie das Werk und zugleich die historische Siruarion der Rezi­
enthüllt«, fehle. Damit tritt
eine
nicht um irgendeine Wahrheit in Kunst, schon gar nicht um pienten treffen wollen. Die Entsprechung, auf die er abzielt, ist
philosophische Einsicht in prinzipielle Relationen, dte etwa dem k�ine, di� sich empi�isch aufweisen läßt. Ihre Erfassung unterliegt
um
Zugriff des bestimmenden Gedankens ve�ehrt wä�e. Es geht emem mcht-abschl1eßbaren Diskussionsprozeß.. Wahrheit er­
einen kritisch en Spiegel , den Kunst den soz1ale n Bedmg ungen vor- scheint nunmehr als Entsprechung zwischen zwei Seiten ganz im
hält. Sinne der alten Adäquationstheorie, wobei Werk und historische
Aus Bürgers Auseinandersetzung mit Adorno ergibt sich,da� er Situation einander gegenüberstehen. Wahr ist offenkundig das
dessen Defätismus hinsichdich begrifflid1er Erfassung der Wtrk­ Werk, das der Situation angemessen ist, unwahr eines, das solchen
die
lichkeit nicht teilt und also der Kunst schlechthin nicht die in Bezug nicht erkennen läßt. Die Deutung der Rezipienten richtet
Krise geratene Ideologiekritik aufbür den muß. So ist wohl d �r si ch auf diesen Zusammenhang, von dem sie alle selber ein Teil
nicht weiter erläuter te Hinwei s auf rational e Auswah l der Tradi­ sind. Deshalb gibt es keine neutrale Position empirischer Prüfung,
Zen­
tion zu verstehen. Falls das kein verstecktes Plädoyer für die sondern nur den Diskussionsprozeß unter den Rezipienten, der
richtige n Bewußt sein nie endet, aber ebensowenig beliebig weiterläuft. Steht er doch un­
sur von Kulturbeamten mit dem exklusiv
die Fre iheit äsd1etis cher Erfahru ng Schrank en ter einer regulativen Idee, die zwar nicht wie bei Kam totale Erfas­
darstellt, die gegen
en, muß solche Ration alität sich erweise n lassen. Es muß sung aller endlichen Erkenntnisbedingungen und daher reine Ver­
erricht
über
Kriterien jenseits der ästhetischen Erfahrungselber geben, die nunft bedeutet, aber zumindest als gemeinsamer Fluchtpunkt di­
künstle rischem Sinne zu entsche iden erlaube n, vergierender Deutungen angestrebt wird.
wahr und falsch in
Kunst nicht unterde rband doch instrum entalisi ert werden Wenn dies schon eine Melange ist, so hat sie mit Hegels Kunst­
wenn
gerät
soll für externe Zwecke. Bei der Angabe solcher Kriterien philosophie des absoluten Geistes nicht das mindeste zu tun. Im
Bürger nun in unüber windli che Schwie rigkeit en. Kern handelt es sich um eine wenig präzise Beschrei bung des allge­
»Der Wahrheitsgehalt eines Werks ist nicht unabhängig von
de­ meinen hermeneutischen Grundproblems. Auslegungen von Wer­
n.« Der Umgan g mit ei- ken stehen immer in Konkurrenz untereinander, weil in wechseln­
nen z.u denken, die mit dem Werk umgehe
. vielfält ig sein und ist deshalb in sich den Situationen unterschiedlich ausgelegt wird, ohne daß es einen
nem Werk kann aber höchst
e
noch kein e."<plizites RationalitätsmerkmaL ..Nicht der einzeln gültigen RichtSpruch über treffende und abwegige Deutungen
schon deshalb aus­ gäbe, der nicht seinerseits deutete. Der Gegenstand pluraler Deu­
Rezipient produziert seine Bedeutung (das ist
rä­
geschlossen, weil er mit den zeitgenössischen Rezipienten die � tungen ist eben nicht von der Art, solche Entscheidung objektiv
der Deutun g teilt, die den Prozeß der Bedeut ungs­ begründet zuzulassen und daher dem Widerspruch zu entziehen,
suppositionen
b:z.w.
konstitution leiten), sondern was der einzelne als Bedeutung ja gar mit Zustimmungszwang namens allgemeinverbindlicher Ra­
i t auf Verallgc mciner barkeit hin angeleg t. Der tionalität zu versehen.
Gehalt ausmacht, s
Wahrheitsgehal t wird nicht substan tialistisc h im Werk vorgefu n­ Trotzdem ist richtig, daß alle Deutungen auf einen Gegenstand
den (auch nicht in dessen technisch-formalen Strukturen) , sonder? zielen - andernfalls entstünde überha upt kein Streit. Dieser Ge­
bildet den Fluchtpunkt, an dem die Deutungsversuche der genstand fungiert daher als gemeinsamer Fluchtpunkt der Deu­
Rezi­
Zeitgen ossensc haft sich orientie ren.« Wer darin noch tungsbemühungen, die allesamt zutreffend oder angemessen sein
pienten einer .
meer­
nicht den Kantianismus eines objektiv unbegründbaren, nur wollen. Keine emsthafte Deutung gibt von vornherein den An­
subjektiv im Rahmen des Sensus communis »anzusinnenden«
Ge­ spruch auf, ihrem Gegenstand gerecht zu werden - was deutete sie
schmacksurteil s wiedere rkennt, der wird über die anschlie ßende dann noch? Doch liegt die Angemessenheit in der Deurung selber
Folgerung stolpern. und nicht in dem adäquat z.u erfassenden Verhältnis zwischen

1 14
Werken und jenen Auslegungssiruationen, unter denen alle Deu­ weisen sind. Heteronomieverdachtsetzt Autonomienachweis vor­
tungen stehen. Das wäre legitimes Thema der· Kunstsoziologie, aus.

aber nicht von Deutung. Die Verwechslung mag unter dem Ein­ Autonom ist die Kunst nie als eine Wirklichkeit sui generis. \'1/e­
druck des Marxismus naheliegen, muß aber vermieden werden. der ontologisch noch soziologisch läßt sie sieb ohne Rückgriff auf
Immer erfolgt die Deutung eines Werkes in einer gegebenen Situa­ andere Bestände verstehen als etwas, das an und fürsich das ist was
tion, aber sie gilt nicht dieser, sondern dem ästhetischen Gegen­ es ist. Die Kunst wird vielmehr kons�ituiert durch Bewußtseit�slei­
stand. Sie wird auch hinsichtlich ihrer Aufgabe nicht treffender stungen, die neben der ersten Wirklichkeit eine zweite setzen. Der
oder angemessener dadurch, daß sie, statt im Lichte der je wei ligen ästhetische Schein leiht sein Sein von einem anderen, und diese
Situation sich dem Gegensand t :w widmen, auf die Situation mit­ Vorordnung ist nicht umkehrbar. Auch jene Formen der Entwirk­
reflektiert. Denn die Bedingungen, unter denen ein Tun steht, und lichung der Wirklichkeit, die die Antike doxa nannte und die Marx
das Tun sind einfach zweierlei: die Deutung deutet nicht ihre Be­ im Terminus des Fetischismus faßte, arbeiten mit eindeutigem Pri­
dingungen. mat. Der Schein heißt Schein, weil er eben nicht ist, was er vorgau­
In der Perspektive des Historikers kann später und von außen kelt. Das wahre Sein hinter der Fassade wiederzuentdecken bedeu­
wiederum die Relation zwischen gewissen Bedingungen und ge­ tet, die unbedachten Bewußtseinsakte offenzulegen, die der Kon­
wissen Deutungen Thema von Deutungen werden, aber die Erfor­ stitution des Schei�s dienen, und ihre Erstarnmg rückgängig zu
schung von Shakespeare-Rezeptionen oder Goethe-Bildern im so­ machen, aus der sem Zauber rührt.
zialen Kontext legt Harnlet nicht aus und üefen keine \Verther-In­ Auszugehen ist bei der Analyse von der vertrauten Umwelt, in
.
terpretation. In der Außenperspektive erscheint als Verhältnis, d�r Wlr u�s Probl��los bewegen. Unsere gemeinsame Alltags­
_ fretltch .
wtrkltchkett tst
was in der Binnenperspektive des Auslegenden oder Rezipieren­ mchts Gegebenes, das wir als solches vor­
den überhaupt nicht so erscheinen kann. Erst derspätere Betrach­ finden, sie erwächst aus Investitionen des ordnenden Verstandes
ter vermag nämlich Bedingungen zu objektivieren, die der aktuel­ der kategorial zum Verstehen güedert, was von Natur aus keines�
len Auslcgesintarion jeweils im Rücken liegen, zu denen sie also wegs auf unser Verstehen angelegt ist. Der Aufbau einer Lebens­
kein neutrales Verhältnis gewinnen kann. Die Erkenntnisstruktur welt, in der wir uns auskennen, muß zur Selbstverständlichkeit e­
<>
macht es unmöglich, Bedingungen eines Tuns in diesem Tun direkt diehen sein, bevor wir Erfahrungen mit Kunst machen. Ästh ti­ :
zu erfassen. sebe Erfahrung setzt nämlich dort an, wo unsere generelle Welt­
auffassung unterbrochen und zurückgespiegelt wird.
Nicht jede Unterbrechung existentieller Sicherheit wirkt ästhe­
Authentischer Ausweg tisch, obwohl sie zum Nachdenken über Selbstverständlichkeiten
einlädt. Nur ein solches Aussetzen unseres gewohnten Kontakts
Mancher wird einwenden, keine Kunstdeutung verfahre abgelöst mit der Wirklichkeit empfinden wir als künstlerisch, in dem uns
von einem vorgegebenen Rahmen und io der Geschichte stünde unerwartet die Mühe der üblichen Weltkonstitution abgenommen
jegliche Deutung im Vergleich mit Konkurrenten. Die Antwort wird. Sinn scheint hier ursprünglich gestiftet, so daß wir ihn nicht
auf den Einwand lautet: genau dies hat die Analyse ästhetischer Er­ eigens beibringen müssen, und Ordnung liegt vor, ohne daß unser
fahrung zu untersuchen. Nachdem wir eine Reihe von Ersatzfunk­ Verstand aktiv geworden wäre. Vom Zwang befreit, das regel­
tionen des Ästhetischen durchmustert haben, bleibt schließlich die rechte, für den Lebensvollzug und die soziale Kommunikation un­
Frage übrig, welches die authentische Weise sei, der Kunst zu be­ crläßliche Verhältnis zu den Dingen aufrechtzuerhalten, wird das
gegnen. Die unbemerkte Verlagerung anthropologischer, moraü­ Bewußtsein angeregt zu ungebundenen Reflexionen, die in ästheti­
scher oder epistemologischer Probleme in den Bereich der Ästhe­ schen Mo� us generelle Strukturen der Wirklichkeitsauffassung
� bnngen.
vor steh
tik darf man erst monieren, falls sich z.eigen läßt, wie Kunst ur­ Kunst verstehen heißt immer mitzuverstehen,
sprünglich aufzufassen ist, so daß zusätzliche Erwartungen abzu- was Verstehen eigentlich heißt.

1[6 I I7
0-
Di : in der klassischen sthetik dem Werkbegriff übertragene
Üblichkeiten stets mitwirkt und den Fond abgibt, vor dem Kunst­
Vermmlu�g des Allg�memen und Besonderen findet geoauge­
phänomene sich abzeichnen. Wäre das nicht so, dann gäbe es keine
nommen m Bewußtsemsprozessen statt, welche ein einzelnes in
wechselnden Deutungen, sondern bloß einen dauerhaft gültigen
Horizonte versetzen, die keine Einzelheit als solche repräsentieren
Kanon.
kann. Erwas muß zwar gegeben sein, an dem die Reflexion sich
Ohnehin tritt jede neue Deutung mir der Geste erklärter Abset­
entzündet, aber es ist die bewegliche Reflexion, die am geformten
zung von Ve�gangenem auf: die Väter hatten nicht wirklich ver­
Matenal Züge entdeckt, denen allgemeine Bedcutun" zukommt.
Deshalb s rf
i t es ein Mißverständnis, die ästhetische E ahrung mit
standen, das Uberholte wird abgelegt. Jede Generation meint, bes­
ser zu sehen, weil sie die Bedingungen überschaut unter denen
dummer Sinnenlust gleichz.usetzen. Der Vorwurf der Werkapolo­
g�ten, �aß der Gehalt sich in bewußtlosen Reizen verflüchtige,
B
frühere Auslegungen standen. Die unvermeidliche lindheit den
ei?enen Bcdingungen gegenüber wirdsich wiederum Späteren ent­
tnfft mcht zu, wenn wir darauf achten, daß der Intellekt durch . .
Kunst ins Spielen gerät. Wir pflegen das so auszudrücken, daß wir
hull :n. Schon d1e fundamentale Bindung jeder neuen Auslegung
an dte Absetzung vom Vorgänger enthält Determinanten, die kein
behaupten, das Kunstwerk spr�che zu uns. Was wir damit meinen,
i$t, daß es uns etwas zu denken gibt, was in keine enge Verstandes­
� andidat abschüneln kann. Ist datm keine Deutung gültig, weil
jede unbedachte Voraussetzungen mitbringt?
kategorie fällt.
Alle Deutungen verdienen Anwärterschaft darauf, für ihre Zeit
Stumme Objekte unseres alltäglichen Umgangs sagen uns nichts
Kunst auszulegen, aber die Sorge um die Überzeugungskraft jeder
anderes, als was wir zunächst an Zwecksetzung im Rahmen einer
Deutung muß der Asthetiker den Zeitgenossen überlassen zumal
Weltordnung in sie gelegt haben. Kunst nennen wir Objekte, die
mehr sind als Objekte, und zwar in dem typischen Sinne, daß sie
zu keine� Zeüpunkt alle möglichen und in der Vergan enhcir
.

etw� reahs I�rte� Deu�ngen gleichermaßen präsent sind. Die hi­
eine Dimension öffnen, die grundsätzlich über Objektivität hin­ .
stonsche Saruanon brmgt cme natürliche Auswahl dessen, was
�usweist: Die Differenz ist den Objekten nicht eingeprägt, weil sie dem Publikum einleuchtet gegenüber dem, was als obsolet gilt
1m Schntt über Objektwahrnehmung hinaus besreht. Diesen . .
oder ve�gessen .'St. Innerhalb daeser Panialitär liegt allerdings die
�chritt tut das Bewußtsein daher mitnichten im Registrieren vor­
hegender Qualitäten, sondern in der Umkehr eingeschliffener .

E�tscbea ung �ber angemessene oder schiefe Deutungen in den
Handen asthenscher Er fal"Lrung. Dagegen verfängt kein .Einspruch
Welterfahrung. Hierzu tragen gestaltere Werke bei ebenso wie Na­ .
des Theoretikers, SoziOlogen oder gar des kommentierenden
turschönheit und das Erhabene, außerdem unoeplante
"' Phänomen­
Künstlers selber. In ästhetischen Fragen gibt es die Überleoenheit
konstellationen, reine Darstellungen in Tanz und Kultus, Ereig­
msarrangements, Klangaleatorik usw. Entscheidend im Blick auf
des geschulten Blicks und reichere Kennmisse, aber nie als ein�
Monopol für rechte Rezeption.
die Erscheinungen der Moderne sind die fließenden Übergänge
. . Folglich muß auch das Beladen der Kunst mit heterogenen Pro­
zwtschen substantiellen Werken, unabgcschlosscnen Produktio­
blemen der Moral, Anthropologie oder Erkenntnistheorie an der
nen, prozessualer Logik und kontingentem Geschehen.
letzten Instanz ästhetischer Erfahrung scheitern. Was in Kunst
Nimmt man all dies zusammen, so ist klar, daß ästhetische Er­
nicht liegt, wird keine Erfahrung vermitteln, und was die Erfah­
fahrung keineswegs abgelöst im Leeren für sich existiert, wie gele­
?
gen ich vermutet wird. Asthetische Erfahrung gründet unabding­
.
rung ni�ht vermittelt, geht offenkundig auf das Konto parasitärer
Rhetonk. Im Kern demonstriert diese außergewöhnliche Erfah­
bar m unserer lebensweltltchen Ausgangslage und enthält daher all
rung unfehlbar, daß der Kunstschein eine Wirklichkeit neben der
die· Komponenten, die für diese wesentlich sind. Ohne den kon­
Wirklichkeit ist, die sich breitmacht auf Kosten dessen, was sie nie
kreten Hintergrund wären wir zu der außergewöhnlichen Erfah­
zu ersetzen vermag. Vertrautheit mit einer Lebenswelt in der wir
rung unfähig. Mithin bedarf es keiner externen Hinweise, um uns
zu verdeutlichen, daß wir in historischen Situationen ästhetisch
E
zu Hause sind, ist so sehr das Reservoir ästhetischer ffekte daß

empfinden, weil die Siruation als Sedimencierung herrschender



ihr Verlus� zugleich den Verlust ästhetischer Möglichkeite be­
deutete. Entlastung, Verfremdung, neue Spiegelung, volle Be-
118
I T 19
i
l.
leucbtung, reinen Gehalt erfahren wir nur im Kontrast zum All­ Mutmaßliche Umstellungen
tagsgesicht der Dinge. Verschwindet dies, weil das künstlerische im Verhältnis von Leben und Kunst
Phänomen sich an die Stelle setzt, beginru: die Fiktion zu verstei­
nern. Sie nimmt seriöse Züge an, verpflichtet auf das unerbittliche
I. Mimesis
So-und-nicht-anders, und weil nichts mehr zu genießen ist,
herrscht Zwang.
Die Kunst hat ihre Bedeutung für das europäische Denken bekom­
Die belebende Freiheit der Reflexion, die YOn Kunst motiviert
men, als man in ihr einen Spiegel des Lebens entdeckte. Von den ar·
wird, statt von ihr gegängelt zu werden, bildet folglich den verläß­
chaischen Ursprüngen wissen wir nicht genug, um über retrospek­
lichsten Gradmesser fii1·s Ä sthetische. Solange wir wissen, daß die .
tive Hypothesen hmauszugelangen. Da uns der tatsächliche so­
Dichter lügen, wie Plaro sagte, bestehr nicht die Gefahr, daß sie uns
ziale Kontext unbekannt ist, i n dem so unterschiedliche Phäno­
als Tugendrichter, Vorbilder und Propheten illegitime Vorscllrif­
mene wie Höhlenzeichnungen, kykladische Weiblichkeitsidole
ten machen, zu denen sie nicht allein deshalb befähigt werden, weil
oder urförmige Tiergestalten entstanden, greifen wir unbesehen
dieneuere Rationalitätgemeinhin am Selbstzweifel leidet. Lebens­
zurück auf den Fundus des Kunstverständnisses historischer Zei­
fragen sind unter Verzicht auf praktische Vernunft nicht zu lösen,
ten, von denen wir Zeugnisse besitzen. Ob sich in jenen prähistori­
und die populäre Einübung in selbstgenügsame Kontemplation
schen Dokumenten ein elementarer anthropologischer Spieltrieb
bedeutet ein gefährliches Surrogat. Wahrheitsfragen stellt die
äußert ode� eine allumfassende religiöse Haltung oder eine magi­
Theorie und mitnichten etwa in eigener Verantwortung die Kunst,
wenngleich die Theorie sich atlf ästhetische Analogien herausre­
sche �elts1cht vor der Trennung von Bild und Wirklichkeit, läßt
det, wo es mit dem Begriff hapert. Solange die Dichter lügen, hat
Steh rn1t unseren Mitteln nicht ausmachen. Ohne eine minimale

die Vernunft eine Chance, die sie freilich dann aus der Hand gibt,
Differenzierung der Lebensbereiche kann Kunst als Kunst eben
nicht bestimmt werden.
wenn sie die Grenze zum Schein bewußt niederlegt.
Der aufklärerische Utopist Louis-Sebastien Mercier verkündete
\Y/o das Denken aber den nötigen Grad an Differenzierung er­
reicht hat, tritt sogleich die Bestimmung der Kunst als Spiegel des
1771 für Dasjahr 2440 kurz und bündig: »Nun war es den Kün- ,
Lebens auf. Das Leben, die Wirklichkeit, die an sich seiende Welt
sten verboten zu lügen.« Er meinte es gut. Aber es lebt sich, wie die
ist das eine und die Kunst das dazu andere. Der Begriff, in dem dies
Geschichte i11zwischen gezeigt hat, ungut in einer solchen Welt der
Verhältnis gefaßt werden kann, heißt Mimesis. Kunst ist »nachah­
verordneten Vereinigung von Vernunft und Schein.
mende Darstellung•, sofern ihr Leben geborgt, ihre Existenz ab­
hängig und ihre Formleistung nicht amark ist, sondern nach dem
Muster dessen erfolgt, was allein aus sich ist, was es ist.
Die Kategorie der Mimesis muß zunächst von allen Vorem­
scheid�ngen des modernen •Realismus• freigehalten werden,
Anmerkungen
denn sae bedeutet keinen ästhetischen Beurteilungsmaßstab, son­
dern eine ontologische Einordnung. Es geht nicht um das Gesetz
1 Siehe den ersten der hier abgedruckten Auisätze.
2 Zuletzt in Peter Bürger, Z11r Kritik der idealistischen Ästbtti
k, Frank­ treuer Abbildung eines Vorgefundenen im Unterschied zur größe­
furt!M. 1,983, $. 77 f. ren Freihe.it der Phamasie oder gar einer abstrakten Produktion
!
d e sich an gar nichts außer reinen Formen und Farben hält. Es geh �
v�elmehr um den R�ng eines Seins, das in der Weise auf ein vorgän­
gages Sem bezogen tst, daß dieses zwar ohne jenes sein kann, jenes
aber nicht ohne dieses. Das Sein der Mimesis läßt sich durchaus be­
stimmen, es ist nicht njchts. Sonst müßte man von bloßer Sinnes-

121
täuschung reden oder Lug und Trug annehmen, um überhaupt zu So wie man d ie Blendung des direkten Blicks in die Sonne vermei­
erklären, wieso das, was doch gar nichts ist, für etwas hat gehalten den muß und sich der Abbilder bedient, um übe rhaupt etwas zu er­
werden können. Das Sein der Mimesis ist ein Sein der Beziehung, kennen, bedient sich der Erkennende des Logos. Damit treten die
wo etwas Zweites sich in Relation auf ein Erstes zeigt und zwar »logischen« Regeln in den Blick, die das Untersuchen und Argu­
derart, daß es ihm ähnlich siebt. mentieren anders als im sophistischen Redezauber korrekt anleiten
Die äußerliche Relation reiner Andersheit, die das Andere nicht und so ein geordnetes Bild der Wirklichkeit ermöglichen {99 dff.).
weiter qualifiziert gegenüber demjenigen, wozu es das Andere ist, Für die eigentlich ästhetische Kategorienbildung folgenreich
genügt nicht. In diese Relation können alle Dinge zueinander ge­ wurde das abschließende Buch des Platonischen Staats, wo die Mi­
setzt werden, weil man von jeglichem in irgendeiner Hinsicht sa­ mesis in Kunst und Rede eine theologisch zentrierte Herleitung er­
gen kann, dies sei anders als das. Auch die pure Verdoppelung fährt. Dort taucht erstmals die Spiegelmetapher auf, die bis in die
reicht nicht zur Bestimmung von Mimesis, denn wo eines noch Debatte unseres Jahrhunderts um Widerspiegelung weiterwirkt.
einmal erscheint, kann die Vervielfältigung auch weitergehen, so »Atn schnellsten wirst du, wenn du nur einen Spiege l nehmen und
daß man schließlich, wie bei typischer Massenherstellung, eine den überall herumtragen willst, bald die Sonne machen und wa.� am
Anzahl von gleichen Exemplaren derselben Sache erhält. Der be­ Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen le­
sondere Bezug der Mimesis besteht darin, daß das Zweite dem Er­ bendigen Wesen und Geräte und Gewächse. - Ja scheinbar, sagte
sten ähnlich genannt werden kann, während deshalb nicht das Er­ er, jedoch nicht in Wahrheit seiend.« (596 die)
ste dem Zweiten ähnlich wird. Die Ähnlichkeit bestehe einseitig, Platos Spätdialog Sophistes schließlich veranstaltet eine durch
und erst die Verwechslung von Urbild und Darstellung, die den Begriffseinteilungen verlaufende »Jagd« nach dem sophistischen
ontologischen Rangunterschied verkennt, bringt beide auf die glei­ Scheinkünstler, dem die trickreiche Hervorbringung sekundärer
che Stufe. \Xlirklichkeiten zugeschrieben wird, welche die Vertauschung mit
Zwar kann Mimesis nicht statthaben, ohne daß die von ihr be­ dem eigentlichen Paradigma der Wirklichkeit na helegen. Da auch
nutzte Wirklichkeit vorgängig existiert. Aber vielleicht kann man der Philosoph die Wirklichkeit im Logos zu betrachten sucht,
die Wirklichkeit nicht voUständig oder in der für ihr An-sich-sein wächst ibm eine bedrohliche Konkurrenz heran. Um zu diagnosti­
e1forderlichen Distanz verstehen, ohne auf Mimesis zu rekurrie­ zieren, was den Sophisten in seiner irritierenden Rolle als Doppel­
ren. Dem ontologischen Primat der Wirklichkeit korrespondiert gänger des Philosophen ausmacht, ist es nötig, das Wesen des Bil­
dann eine Erkenntnisbedeutung der Mimesis, insofern das Abhän­ des zu begreifen. Statt sich von kunstvollen Nachahmungen der
gige das Unabhängige begreifen hilft. Bis z.u diesem Punkte dringt Wirklichkeit bloß betören zu lassen, muß der Status einer zweiten
bereits die platonische Spekulation über den Status des Bildes vor. Wirklichkeit neben der wahren begreifbar werden. Das Bild, heißt
Herausgefordert durch die Auseinandersetzung mit den Sophisten es, sei ein »dem Wahren ähnlich gemachtes anderes solches•
sucht Plato geeignete Mittel zur Analyse einer paradoxen Wirk­ (240 a). Dank der festgestellten Ähnlichkeitsbeziehung tritt das
lichkeit, die eigentlich gar keine ist, aber so aussieht, als wäre sie Bild nicht fälschlich an die Stelle des Wahren wie in der trügeri­
eine. schen Rhetorik. Es erscheint ebensowenig als gleichberechtigte
Belege dafür finden sich im Phaidon, wo die bekannte •Flucht in Verdoppelung des Wahren im Sinne reproduktiver Vervie!fälti­
die Logoi« empfohlen wird angesichtsder vorsokratischen Natur­ gung. Vielmehr gibt es den Blick aufdas Wahre frei, das ihm in dem
philosophie. Die alten Philosophen dachten, der Welt auf unmit­ Maße vorangeht, wie das Bild sich ihm anähnelt. Allein die kor­
telbare Weise habhaft zu werden, und erklärten sie aus allerlei ma­ rekte Vor- und Nachordnung beläßt dem Bild seine Erkenntnisbe­
terialen Prinzipien, ohne sich darüber einig werden zu können, deutung.
weil sie das Ordnungsproblem nicht :w lösen vermochten. Dem­ Mimesis heißt auch der Zentralbegriff der Aristotelischen Poe­
gegenüber wird die •zweitbeste Fahrt« (ÖEiltEQO� n:A.oiic;) ge­ tik, deren Bestimmungen aus einer ethisch inspirierten Auseinan­
wählt, die das Sein derWelt in der Brechung der Sprache erforscht. dersetzung mit Plato hervorgehen. Man stelle alle Besonderheiten

12.2 llJ

L
dieser Produktionsanweisung für Literaturwerke aus der Lehrtä­ Indoktrination und wird dem zuteil, der sich auf gespielte Hand­
tigkeit des Plaroschülers beiseite, insbesondere die Frage, was in lungen einläßt. Davon zehrt die unstillbare Lust der Menschheit
den uns nicht erhaltenen Teilen gestanden haben mag: im Grund­ am Theater, die auch der exzentrischSte Regisseur durch seine Pri­
satz der Mimesis zeigt sich eine riefreichende Kontinuität. Wesent­ vatphantasien nicht zu verdrängen vermag.
lich stelle Kunst menschliches Handeln dar, wie besonders die Allgemein besagt die Mimesislehre, daß jedes Bild der Welt uns
»poetischen« Künste verdeutlichen. Hier mache nicht die For.m die Welt zeigt, wie sie in der Fülle ihrer Möglichkeiten ist. Jede Er­
das Künstlerische aus, denn in Versen schrieben auch die frühen zählung macht vertraut mit Taten und Schicksalen, deren Ver­
Naturphilosophen wie Empedokles, ohne deshalb Kunsrwerke zu wicklung auch uns widerfahren könnte, so entlegen die histori­
produzieren. Das entScheidende Merkmal ist Mimesis, der gemäß schen Rahmenbedingungen ausfallen mögen.Jedes Gemälde bietet
die zweite Wirklichkeit der Kunst auf die erste des Lebens ver­ Wirklichkeit.saspekte, die wir verstehen können, auch wenn uns
weist. die gezeigten Details nicht vertraut sind wie im Falle vergangeuer
Exemplarisch steht dafür das Drama, das auf der Bühne die Epochen und exotischer Kulturen. Bei der gehörigen Abkehr von
»Praxis« der Zuschauer spiegelt, und zwar von den edleren ·Cha­ realistischen Vorbildern gilt die Kennzeichnung auch für die soge­
raJ<teren der Tragödie bis zu den lächerlichen der Komödie. Die nannte »abstrakte« Kunst: Hier wird uns Wirklichkeit auf neue
Verstehbarkeit der Fabel mitSamt den berühmten Einheitsregeln, Weise gezeigt, indem das Eigenrecht des optischen Materials her­
um deren Berechtigung späterhin ein Streit entstand, als die ästhe­ ausgestellt wird. Sogar der schwierige Grenzfall der Musik mag
tische Produktion sich autonom setzte, ergibt sich ursprünglich analog interpretiert werden; denn jede Komposition aus Tönen
aus dem Effekt der Wiedererkennung. Um der Logik eines drama­ oder Geräuschen eröffnet uns Ordnungen, die wir hörend noch
tischen Ablaufs überhaupt folgen zu können, muß auf ein vordra­ anerkennen müssen. So absolut ist nämlich keine Musik, daß sie
matisches Handlungswissen zurückgegriffen werden, das uns sagt, aus reinen Setzungen bestünde, die schlechterdings unerhört sind.
wie es im Leben zugeht, was Leute in gewissen Situationen zu tun Diese ließen keinen noch so minimalen Bezug mehr auf Wirklich­
pflegen, wie sie auf Aktionen anderer reagieren usw. Sogar die von keiten subtiler Art zu, die im Klang zur Vorführung gelangen, aber
Aristoteles beschriebene kathartische Wirkung der Affektentla­ nicht etwa erstmals erschaffen werden. Wo immer Musik Gesetze
stung läuft über die Rückkopplung mit realen Lebenserfahrungen. realisiert- seien es auch solche des Zufalls-, bindet sie sich an tö­
Durch Bühnendistanz. erscheint Anteilnahme vermittelt, allzu in­ nend Dargetanes.
tensiven Schrecken mildert die Einsicht in den fiktiven Charakter
des Grauenvollen und Widerwärtigen. Insgesamt hilft die dramati­
sche Darstellung typischer Handlungskonflikte zu aufklärender II. Wendung zur Moderne
Verarbeitung des konkreten Lebens, in dem wir ohnehin befangen
sind. Die im Kern ontol ogische Bestimmung der Mimesis bat der
Daher bedeutet Mimesis keineswegs eine zwanghafte Abschil­ Frage auf­
Kunsttheorie ein sicheres Fundament geboten, bis die
derung gegebener Verhältnisse, sondern eine in der Bildhaftigkeit kam, was es denn sei, das ihr die besondere \Y/irkung auf da.s Sub­
freie Darstellung von etwas, das nicht das Bild ist. Lebenspraxis im jekt verleiht. Daw muß fürs erste die Erkenntnisbedeutung der
weitesten Sinne dient als Vorlage einer Repräsentation, die durch­ Kunst radikal in Zweifel gezogen werden. Das geschieht im Zeital­
aus eigenen Normen gehorcht, wenn sie als abhängige Wirklich­ ter der Wissenschaft, wo sich ein autoritativer Zugang zur Wirk­
keit erscheint und eingestuft wird. Mimetische Kunst verschafft Lichkeit ausprägt, neben dem Alternativen theologischer oder äs­
uns eine \Y/iederbegegnung mit dem, was wir eigentlich schon ken­ thetischer Observanz ihr Recht verlieren. Konkurrierende Er­
nen, aber so nie sahen. Im Drange der Geschäfte und in der Verfol­ kenntnisansprüche sind auf den Spuren triumphierender Wissen­
gung echter Interessen fehlt der Praxis ein Überblick, den erst das schaft zum Aussterben verdammt. Weiterhin wandelt sich irn Zuge
Bild erzeugt. Kunstdarstellung erlaubt ethische Belehrung ohne dessen der Charakter jener Wirklichkeit, auf die Kunst sich bezie-
hen könnte. Das Vordringen quantifi zierender Methoden bringt Hier wird erstmals zu Ende gedacht, was es bedeutet, daß Kunst
eine Aufspaltung der Realität in kontingente Empirie und Geset­ ohne ontologisches Fundament auskommen muß. Kant macht aus
zeshypothesen wissenschaftlicher Erklärung mit sich, wonach die der Not eine Tugend, indem er der Kunst eine Selbstbegegnung
Mannigfaltigkeit neutralisierter Daten den abstrakten Wenn­ des Subjekts mit sich überträgt. Von der theoretischen Objektbin­
Dann-Schemata der Kausalität unterliegt. Dies läßt keinen Raum dung frei, aber auch ethischen Verpflichtungen zur Praxis nicht
für einen eigenen ·Sinn« der Welt, der ästhetisch zum Vorschein unterworfen, erschließt sich das Su bj ekt ein sp ielerisches Zwi­
kommen dürfte. schenreich. Hier ist der Weltbezug in Suspens genommen und
Treffend 'ist beschrie ben worden, wie in der Neuzeit das Welt­ höchstens im Modus des Als-ob imaginiert, während gleichzeitig
bild dem Druck wissenschaftlicher Eroberungen nachgibt. Die und in Verbi ndung damit ein rein symbolischer Verweis auf Sitt­
Reduktion allen Verstehens realer Phänomene auf Verhälmisse lichkeit eintritt. Kunst offenbart uns Welt nicht, wie sie ist - das
von Ursache und Wirkung vertreibt die Teleologie aus ihrem ange­ wäre Aufgabe der Erkennmis, und cbensowenig, wie sie sein soll ­
stam mten Platz in der Gesamtdeu tung aller Dinge. Neben den das wäre praktische Verwirklichung des In telligiblen . Kunst zeigt
durch Gesetzesformulierung allein faßbare n causae efficientes lö­ Welt, wie sie wäre, wenn sie in si ch und d. h. ohne unser Zutun
sen sich die causaefinales in Imagiuation auf. Das ruftÄsthetik auf sinnvoll strukturiert wäre. Da wir darüber jedoch nichts Sicheres
den Plan. Schließlich entsteht die kantische Analyse der Urteils­ wissen können, bleibt ein solches Zutrauen schwebend . Es akual i­
kraft ganz folgerichtig aus dem Restproblem einer erkenntnistheo­ sierc sich nur fallweise im Modus ästhetischer Erfah rung.
retsch
i heimatlos gewordenen Teleologe. i Eine Welt, die gestaltet wäre nach dem Muster in sich sinnvoller
Seit die Welt durch wissenschaftliche Zurichtung umgeformt ist, Strukturen, böte freilich einen Rahmen, in dem wir selber uns an­
bleiben Objekte der Fo rschu ng übrig, die aus methodischen Ab­ ders verstehen könnten al s angesichts der kategorial geregelten
straktionen vor dem Himergrund der vertrauten Lebenswelt her­ Objekterfahrung b zw. unter einer strikt rationalen Handlungsan ­
vorgehen. Deshalb melden sich nun umgekehrt auf der Su bjekt­ weisung. Die Konfrontation mit resistenten Gegenständen der
seite Bedürfnisse ei ne r Vermittlung mit der Objektwelt, die von Wissenschaft oder das einschränkungslose Sollen des [mpe rativs
wissenschaftlichen Konzepten gar nicht zu befriedigen sind. Die zerreißen das Subjekt in eine theoretische und eine praktische
Welt als Ganzheit, die Welt als Raum unverkür:z.ter menschlicher Seite, ohne ihm die Einheit zu gewähren, die der Vernunftbegriff
Erfahrungen, als Feld sinnvollen Handelns und schicksalhaften ursprünglich verheißt. Theoretisch wird Vernunft aufVerstand re­
Erlebens wird nur noch in der Kunst erschlossen. Deren Produkte duziert, der einzig den legitimen Objektbezug garantiert. Prak­
haben nun jedoch den on tologischen Anker verloren, der die artifi­ tisch wird Vernunft als Aufforderung wahrgenommen, unter Zu­
zieUen Hervorbringungen einer grundsänlichen Übereinstim­ rückstellung aller Partikularinteressen das Gute schlechthin zu be­
mung mit den originären Strukturen der Wirklichkeit versicherte. fördern. Wo aber bleibt der Mensch, der als rationales Wesen ein
In das Vakuum tritt �egen Ende des 1 8 . Jahrhunderts die neu er­ konsistentes Leben muß führen können? Sol ange er einerseits em­
wachte Theorie der Asthetik, die sich vom Mimesiskonzept nach pi rische Relationen zur Welt der Phänomene aufrechterhält, wie
und nach im Namen freier Einbildungskraft emanzipiert. Die andererseits 1eilhabe an einem noumenalen Reich der Zwecke prä­
Selbständigkeit des Subjekts beginnr sich ästhetisch zu entfalten tendiert, ist jene Frage nicht zu lösen.
auf eine Weise, die der Schranken theoretischer und praktischer Die Ästhetik bietet ihrerseits keine Lösung, die mit der Span­
Vernunft spottet. In der kurzen Phase eines genialen Aufbruchs nung zwischen Theorie und Praxis fertig würde, indem sie die Ver­
hat die Frühromantik d�zu Motive entw ickelt, die für die gesamte bindung beider Reiche herstellte. Dazu ist dies ystematische Kapa­
Moderne bestimmend werden sollten. Sie reichen bis mitten hinein zität der Ästheti k viel zu schwach. Aber sie bietet einen Ausweg
in die zeitgenössische Lage der Kunstproduktion und Kunstkritik. aus d em Dilemma, indem sie eine Ve rh altensweise auftut, wori11
Die Theorie hingegen, die auf die geänderte Situation am deutlich­ die empirisch e und die transzendentale Seite des Menschen harmo­
sten amworret, ist die Ästhetk i Kants. nieren. Zwar kostet die Harmonie ihren Preis, denn die Versöh-

127
nung findet nur im ästhetischen Spiel der Unei gen tlichkeil statt. nerst verminelt. So gibt die Welt ein Stück weit ihre Eigenart wi­
Dafür erweist sie sich indes als fl exib el genug, um allen wechseln­ derständiger, noch zu ordnender Objektivität auf, um ein der Sub ­
den Lagen angepaßt zu wcrdt:n. Der Übertritt in die ästhetische jekti vi tät passendes Antlitz zu präsentieren. Warum das geschieht,
Verhaltensweise st eht jedermann jederzeit offen. Die normale weiß man nicht. Man darf den Zustand fragiler Balance genießen
Au sstattung eines Subjekts mitsamt seiner jewei ligen Befindlich­ als Selbstbegegnung der Subjektivität im Objekt, wobei die Ur­
keit reicht aus, um jenen einfachen Schritt zu vollziehen. Kant hat teilskraft, erlöst von ih rer eigentlichen Aufgabe, sich dem freien
dies unter dem Ti tel eines •Sensus Communis« gefaßt und da­ Spiel ihrer Funktionen überläßt.
durch, vielleicht ohne die Folgen .l?anz zu überschauen, hsto rsche
i i In der Mimesis machte der Mensch die Welt nach seinen Maßen
und soziale Horizonte in seine Asthetik eingebaut. nach. In der ästhetischen Erfahrung fügt sich die Welt selber den
Der systematische Schl\issel für diese Fähi gkei t der Ästhetik Maßen des Menschen. Kams Modell reflektierender Urteilskraft
liegt im Reflexionsbegriff. Die Urteilskraft bewegt sich, ohne bei e�laubt, einen Zustand zu denken, wo die Welt mit ein em Sch lage
ihrer Arbeit an feste Regeln gebunden zu sein, zwischen den bei­ steh uns als menschhebe enthüllt. Eine der nachgelassenen Re­
den Polen des Allgemeinen und des Besonderen. Innerhalb der flexionen aus der Phase vorbereitender Überlegungen drückt dies
zweis eitigen Vermittlungsarbeit der Urtei lskraft ist d ie Umkehr pointiert wie folgt aus: ·Die schönen Dinge zeigen an, daß der
der Richtu ng stets möglich. Während die bestimmende Urteils­ Mensch in die Welt passe.« (Refl. 1820 a) Die Selbstbegegnu ng der
kraft ein gegebenes Besonderes pa ssend unter das ebenfalls gege­ Subjektivität in Form ästhetischer Erfahrung resultiert aus dem
bene Al lgeme ü1e subsumiert, begibt sich die reflektierende Ur­ unvordenklichen Überholtwerden des Erkenntniswillens durch
teilskraft anläßtich eines gegebenen Besonderen auf die Suche nach die Struktur der Wirklichkeit. Damit rückt die alte Rangordnun g
einem nicht ohne weiteres greifbaren Allgemeinen. Jener Bestim ­ der Mi mesisbez iehung, die ein e ontologische Vorzugsstellung ge­
mun gsakt vollendet die Erkenntnis, indem ein Phänomen als Fall genüber jeder Nachahmung festgelegt harte, ins zweite G lied.
einer Kategorie erscheint. Die Richtungs umkehr der Reflexion Kants Betonung des Naturschönen als Vorbild des Kunstschö­
hingegen set:Gt dieses Verhältnis voraus, um sich innerhalb seiner nen zeigt das. Zwar l ie gt a,lles daran, daß es die selbständige Natur
Dimension gleichsam zwanglos zu bewegen. Denn um die Um­ ist, die au s ei genen Kräften uns ästhetisch entgegenkom mt, und
kehr des normalen B estim mungsakte s überhaupt auszulösen, muß nicht ein men schliches Gemäch te, das gerade um des Effektes wil­
das Gegebene nicht einfach als bestimmungsbedürftig erscheinen, len Rez i erlebnisse produziert. Kant beschreibt sehr pl astisch die
sondernso, als sei die Bes timmung bereits geleistet. Hier wird eine schale Enttäuschung, die imitiertes Vogelgezwitscher bei der Auf­
Bestimmtheit mitgebracht, die sonst die Urteilskraft dem Gegebe­ deckun g einer solchen Inszenierung bereitet. Gleichwohl ist die
nen verleihen müßte. Diese ungewohnte Lage motiviert nun die schöne Natur ni cht einfach die an-sich-seiende, etwa teleologisch
Suche nach einem solchen All gemei nen, das bereits im Gegenstand organisierte Wirklichkeit, der die K unstproduktion rnimetisch
vorhanden ist und nicht aus dem kategorialen Reservoir der erken­ folgt. Schönheit ist ein Zug der Natur, den wir nur dank unserer
nenden Subjektivität hervorgeholt werden muß. primären Erkenntnisintention wahrnehmen, so daß wir auf para­
Natürlich stellt eine solche Erfahrung keine Erkenntnis im ge­ doxe Beschreibungen zurückgreifen müssen, die der Natur zu­
nuinen Sinne dar, höchstens eine Quasi-Erkenntnis angesichts ei­ sprechen, was eigendich dem Subjekt angehört. Die bekannten
ner schon erkenn tnismäßig eingerichteten Wirklichkeit, die unse­ vier Momente des GeschmackmrteiLs besagen somit: Schönheit ist
ren Intentio nen überraschend entgegenk ommt und daher die Ur­ das, was ohne Begriff d em Begreifen entgegenkommt ; deshalb ver­
telskraft von ihrem ArbeiLSd ruck entlastet. Da derdem Phänomen
i mag es zu gefallen, ohne komingeme Interessen zu b edienen; es
inhärierende Charakter nicht auf ein ausdrückliches Tun zurück­ weckt eine vage S innerwartung, die keiner realen Zweckstruktur
geht, sondern sich dem eigentümlichen Dasein selbst verdankt, entstammt; und dennoch kann jedermann dies jederzei t grundlos
kommt di e Urteilskraft hier stets zu spät. Als ob schon beurteilt erfahren.
worden sei, zeigt sich. das Allgemei ne mit dem Beso nderen zuin- Di e ästhetische Erfahrung ist folglich hinzunehmen. Man muß

128
sich für sie offenhalten und kann sie dabei noch in ihrem Aufbau kenntnismöglichkeiten eine Weltverfassung denkt, in der die Äs­
analysieren. Aber jede theoretische Ergründung prinzipieller Art thetik nicht Ausnahme, sondern Normalfall wäre. Unverständlich
muß scheitern, weil diese außerordentliche Erfahrung vor dem wird nämlich die Entlastung der Urteilskraft, falls man sie perma­
Hintergrund erkennmisfähiger Erfahrung auftritt, freilich ohne nent setzt. Wenn nichts mehr vorliegt, von dem Entlastung zu be­
Erkenntnis zu liefern . Es wird eine Analogiebildung im Sinne der freien hätte, schwindet eben jene Erfahrung, um die es geht. Eine
Reflexionsumkehr funktionjerender Urteilskraft angeregt, und Welt, in derdie ästhetische Selbstbegegnung des Subjekts zum All­
deshalb stellt die transzendentale Erkenntnisanalyse die Mitte!' be­ tag gehört, wäre eine, in der wir uns nicht mehr auskennen wür­
reit, um zu durchleuchten, was in der ästhetischen Erfahrung, in den, weil zur dauerhaften Verfassung verwandelt wäre, was als au­
der echte Erkenntnis aussetzt, eigentlich vor sich geht. Mithin ist ßergewöhnliches Angebot nur seinen Wert behält.
der korrekt etabLierte Weltbezug die Voraussetzung dafür, daß so
etwas wie eben dieser Weltbezug im ästhetischen Sonderfall als ge­
schenktes Faktum angesehen wird. Eine ästhetische Erfahrung in III. Resultate von Aufkläru ng und Avantgarde
Isolation von normaler Erkenntnis oder als totales Substitut der­
selben verwischt die Konturen. Man verstünde nicht mehr, was in Fern jeglicher Metaphysik zeichnet sich neuerdings eine gesell­
der Erfahrung tatsä.chlich vor sich geht. Oie philosophische Unter­ schaftliche Befindlichkeit ab, die man ähnlich deuten darf wie die
suchung bleibt also prinzipiell angewiesen auf jene Orientierung, Welt, in der der Mensch realiter und nicht nur in ästhetischer Bre­
die in Kants Terminologie die Urteilskraft vorgibt. Allerdings chung vollends zu Hause wäre. Mimesis galt als künstlicher Spiegel
kann deren vermittelnde Tätigkeit unterschiedlich ausgerichtet des Lebens, in dem wir den Charakter von Wirklichkeit erfassen.
werden·, ohne daß damit der gemeinsame Boden verlassen würde. Die ästhetische Erfahrung nimmt für einen Augenblick und vor
Eine weiterführende Frage, die in diesem Rahmen transzenden­ dem Fond ernsthafter Auseinandersetzung die Welt so wahr, als
taler Untersuchung gar nicht beantwortbar scheint, zielt auf eine käme sie uns entgegen und ersparte die Auseinandersetzung. \'Qas
ontologische Fundierung desjenigen Zustands, in dem wir ästheti­ vollzieht sich aber, wenn die exzeptionelle Begegnung mit Kunst
sche Erfahrungen machen. Kant hat tiefsinnige Spekulationen zum die Formen des realen Lebens zunehmend prägt? Die gewohnten
Thema eines .. übersinnlichen Substrats« angestellt, das wir Abhängigkeiten zwischen Kunst und Leben verschieben sich, und
schließlich anzunehmen hätten, um zu erklären, wieso es dazu aus der Ausnahme wird schließlich die Regel. Anfänglich meldet
kommt, daß wir uns auf die besondere Weise in der Welt finden, sich die Tendenz, den Alltag ästhetisch umzugestalten, eher un­
die uns ästhetische Erfahrungen ermöglicht (Kritik der Urteils­ merklich. 1st sie indes erfolgreich, so intensiviert sie sich, bis mehr
kraft, § 57). Auf diesem Wege möchte ich ihm nicht folgen ; denn und mehr Teilb��eiche des Lebens ihrem Sog nachgeben. Ich be­
einmal sind die vorgetragenen Vermutungen reichlich dunkel. haupte, daß die Asthetisierung derLebenswelt ein Kennzeichen der
Zum anderen ist die Notwendigkeit eines Übergangs in Metaphy­ gegenwärtigen Epoche ist. Diese Behauptung bedarf der Begrün­
sik aus Anlaß der Ästhetik schwerlich möglich, nachdem die zu­ dung.
ständige ErkenntniStheorie in radikale Metaphysikkritik geführt Zunächst geht es darum, Indizien zu sammeln und kohärent so
haue und alle Berechtigung einer Erkenntnis unbedingter Gründe zu interpretieren. Es wird sich eine Be.trachtungsweise ergeben, die
bestrin. nicht mit den Ansichten übereinstimmt, die die Epoche ohnehin
Kants Ausflug in die Metaphysik eines übersinnlichen Substrats von sich selber verbreitet. Ansichten der Epoche gibt es viele, weil
ist insbesondere aber deshalb nicht zu folgen, weil der ästhetische der zeitgenössische Pluralismus den Entwurf je nach Interessen­
Schwebezunand, der parasitär unserem üblichen W eltbezug auf­ lage befördert, wie schon Nietzsche vorausgesehen hat. Man wird
sitzt, einer solchen Erklärung gar nicht bedarf. Man vermag durch­ sieb jedenfalls auf das Minimum verständigen können, daß die Prä­
aus einzusehen, was in der ästhetischen Erfahrung geschieht, ohne �
ge raft dominan�cr gesellschaftlicher Kräfte nachläßt. Beispiels­
auf eine Erläuterung zu rekurrieren, die jenseits all unserer Er- .
weise bieten NatiOn, Rasse oder Klasse nur mehr schwache Eini-

IJO I)l
gungsmuster. Dafür gewährt die offizielle Toleranz einen großen Im einzelnen ist die Diagnose geläufig. Klagen über den Verl ust
Spielraum der Rollen. Wir realisieren eine auf Einheitlichkeit zu­ an Gehalt, der mit der Rationalisierung in der Moderne einhergeht,
strebende Weltgesellschaft, die alles mit allem in Beziehung bringt. füllen viele Seiren in Leitartikeln, kulturkritischen Essays und so­
Wachsende Mobilität und allgegenwärtige Medien erzeugen Ko­ ziologischen Studien. Kaum beachtet hingegen scheint mir die Äs­
präscnz des Entferntesten. Die Internationalisierungder Metropo­ thetisienmgsfolge, die aus der geschilderten Lage wie von selbst
len ist längst eine Tatsache, während die stetigen Ströme kleiner hervorgeht. FortSchreitende Rationalisierung hinterläßt ein im
Völkerwanderungen aufgrund unterschiedlicher Wünsche und Prinzip vereinzeltes Subjekt, das der Stützung durch gängige Mei­
Nöte politische Systeme durchlässiger machen. Der allgemeine nungen, durch Usancen und Traditionen beraubt zum totalen
Prozeß der Aufklärung baut nicht legitimierbare Traditionsreste Durchschauen komplexer Wirklichkeit aufgerufen ist. Vereinfa­
nachhaltig ab, wodurch eine bisher nie oder nur selten beobachtete ch ungen, wie sie anonyme Doxa und unbezweifelres Ethos an die
SituationdesAusgleichs und Abschleifcns der Differenzen en tsteht. Hand geben, tragen nicht mehr wirklich; denn alles läßt sich von
Kaum einer wüßte, woran er sich halten könnte, wenn er auf eine Grund auf problematisieren, alles Problematische verdient eine
ganz bestimmte Weise sein will und nicht auf die Weise, die jeder­ theoretische Bewältigung und aUeTheorien müssen von irgend je­
mann mitihm im G run degenommen teilt. Umerschiedereduzieren mandem nachvollzogen werden. Für das individ uell e Subjekt ist
sich zu Oberfl ächenfärbungen, die, weil sie austauschbar werden , diese Aufgabe schlechterdings unlösbar, und dennoch tritt eine
allesamtein einheitliches Bild reflektieren. Darin bestehtdas Resul­ entSprechende Aufforderung ständig heran. Rationalisierung be­
tat des Pluralismus, daß jede Einstellung so gut wie jede andere ge­ deutet den Gewinn immer weiter reichender Durchsichtigkeit aller
worden i st und daher alle in der Substanz einander ähneln. Keines­ Bestände der Realität, aller Gegebenheiten und Vorgänge. Nichts
wegs endet die konsequente Nivellierung in Grau in Grau. Viel­ muß einfach hingenommen, bedenkenlos geglaubt, den Üblichkei­
mehr werden die Differenzen dadurch depotenziert, daß sie im Me­ ten anvertraut oder aus dem Herkommen empfangen werden. Wer

dium der Beliebigkeit erhalten bleiben. Das erzeugt eine Buntheit, wollte sich dem schlagenden Illuminierungserlebnis entziehen und
die auf den ersten Blick Reichtumverspricht, bei genauerem Hinse­ mit welchem Recht?
hen aber Monotonie au sstrahlt. Im Zeichen unaufhaltsamer Rationalisierung scheinen Theorie
So vermag sieb jeder leicht vielerlei Fremdes anzueignen und und Praxis zu konvergieren. Darauf lautet jedenfalls das Aufklä­
kann wechselnde Sphären wie ein Voyeur durchwandern. Informa­ rungsprogramm, das den Weg der westlichen Zivilisation in den
tionen stehen im Übermaß zur Verfügung und berauben sich durch letzten Jahrhunderten bestimmt hat und heute eine globale Er­
kriterienlose Vermehrung selber der Durchschlagskraft. Der ambi­ scheinung geworden ist. Was jedoch mehr und mehr zutage tritt,
valente Sieg alles erobernder Wissenschaft hat weithin eine Situa­ ist die tiefe Illusion, als sei da.s Subjekt kraft seiner vernünftigen
tion des modernen Alexandrinismus geschaffen, wo potentielle Autonomie in der Tat fähig und bereit, den allgemeinen Prozeß des
Viclwisserei die Handlungsfähigkeit lahmlegt. Während der Politi­ kritischen Durchleuchtens der Realität mitzutragen. Die Rationa­
ker sich auf den Experten beruft, wartet schon der Konkurrent mit lisierung fördert also eine Illusion, die dem Programm zuwider­
dem alternativen Gutachten. Der Massentourismus mischt freizü­ läuft. An diesem Punkte beginnt die Ästhetisierung, die einen neu­
gig Sitten und versagt gerade dadurch die Chance zu wirklicher Be­ tralen Standpunkt gegenüber dem Dilemma eröffnet.
kanntschaft. Gleichsam auf Knopfdruck steht die Gesamtheit einer _Das Illusionäre am Vorhaben totaler Ration ali si erung läßt sich

Wirklichkeit bereit, die die Mühsal eindringender Studien, aber letehr an solchen Momenten ablesen, die dem theoretischen Pro­
auch die Härte verbindlichen EngagementS erspart. All unsere zeß im Rücken liegen. So enthält gerade die vollkommene Verwis­
Kennmisseverschaffen uns offenbar niemals die fundamentale Ver­ senschaftlichung wiederum verblüffende Züge des Aberglaubens,
trau theitder wenigen Dinge, deren man gewißsein muß, um sichauf der bedenkenlos baut auf die Kräfte, für die man sich einmal ent­
eine Praxis diesseits bloß verbaler Gesinnungsdeklarationen einzu­ schieden hat. Der Kult des Experten, der zu allem und jedem ge­
lassen. hört wird, aber auch bloß Meinungen und Einschätzungen äußern

1)2 1 33
kann, erinnert gelegentlich an einen Tanz ums goldene Kalb. Uni­ dernswerte und nie mehr zu verlierende Errungenschaft der Neu­
versal wird die Bereitschaft zur Kritik gefördert, die allerdings den zeit darstellen. Sie entspringen dem Bemühen, normative Prinzi­
blinden Fleck aufweist, zur Selbstkritik an dieser Einstellung pien letzter Art verbindlich zu setzen. Das macht sie aber nicht un­
schlechthin unfähig zu werden. mittelbar tauglich zu Maximen klugen Handelns.
Die öffentliche Politikdebatte verlangt zunehmend wissen­ Dem Wert der Menschenrechte tut es gar keinen Abbruch, wenn
schaftliche Beratung und huldigt oft nur zum Zwecke der Pro­ man bezweifelt, ob sie die Richtschnur konkreter Praxis ersetzen.
blemerleichterung der Magie von Erhebungen und Daten. Denn Es scheint wenig sinnvoll, die Taren und Unterlassungen jedes ein­
die Delegation qualitativer Entscheidungen in die vermeintliche zelnen letztlich an Metakriterien zu messen, die der Legitimations­
Planungssicherheit vermag kaum das echte Risiko der Zukunft prüfung von Rechtsordnungen insgesamt dienen. Auf diesem
zu mindern, steigert jedoch die Akzeptanz des Publikums durch obersten Niveau der Abstraktion sieht es möglicherweise nur so
den Bann der Exaktheit. Was schließlich den wissenschaftlichen aus, als sei das Subjekt nicht allein für seinen Umkreis der Lebens­
Fortschritt selber angeht, so kommt auch der nicht aus ohne führung, für Familie, Beruf, Nachbarschaft und Bürgerrolle ver­
partielle Traditionsbildung, bei der man sich rückwärts dessen antwortlich, sondern zugleich und übergangslos für die Konflikte
v�rsichert, was nicht als problematisch gilt und einfach unter­ der Weltpolitik, für kulturelles Ungleichgewicht, für die erfolgrei­
stellt wird. Kuhns Paradigmenlehre bat eindrucksvoll bestätigt, che Modernisation der Lebensformen in Ländern, die er nur vom
wie sehr die »normal science« in ihrer Breite ein Routinegeschäft Hörensagen oder medialen Abziehbildern her kennt. Folgerichtig
betreibt. muß sich das Engagement, so ernst es gemeint ist, der Sache nach in
Die Beispiele sollen zeigen, daß der verselbsrändigte Rationali­ symbolischen Akten erschöpfen. Da niemand handeln kann, wo er
sierungsvorgang sich noch auf etwas anderes stützt, das ihm voran­ nicht lebt und sich auskennt, schaffen öffentliche Gcsinnungsbe­
geht. Diese Voraussetzung muß notwendig im Dunkeln bleiben, kundungen, Solidaritätsappelle und rituelle Veranstaltungen Er­
sofern alle Aufmerksamkeit der Erfüllung des Programms dient. satz. Damit kündigt sich auch hier der Übergang ins Ästhetische
Rationalisierung gelingt stets weniger lückenlos, als sie selbst an .
meint. Das Überwuchern der durch und durch problematisierten Ich wiederhole: Dem theorelischen Aufruf, alle Bereiche der
Wirklichkeit mit einem gleich großen Netz eng geknüpfter theore­ Wirklichkeit gründlich zu verstehen, kann das Einzelsubjekt von
tischer Erkennmisse ist ein glänzender Schein, der mit unserer Le­ Hause aus nicht wirklich nachkommen. Ursprünglich war dies
benswirklichkeit nicht übereinstimmt.- Dieser Schein trägt ästheti­ auch keineswegs vorgesehen; die Einzelsubjekte schlossen sich im
sche Züge. Aufklärungsprozeß zur Einheit aller Vernünftigen, zur Mensch­
Die Diskrepanz zwischen Verheißung und Einlösung im Be­ heit, zum objektiven Geist oder zur Forschergemeinschaft zu­
reich der Theorie zeigt sich unter praktischem Aspekt noch deutli­ sammen. Rationale Institutionen sollten leisten, was der einzelne
cher. Zeitgenossenrum verlangt vom einzelnen, entschlossen hin­ nicht vermag. Nun ist es ein unerwartetes Resultat des modernen
auszugehen über die lokalen, regionalen oder nationalen Begren­ Prozesses selber, diese Institutionen noch einmal kritisch zur Dis­
zungen, in denen wir herkömmlicherweise unsere Geschicke in die position zu stellen. Psychologie, Sozialwissenschaften, Mentali­
Hand nehmen oder zu verwalten meinen. Genaugenammen wäre tätsforschung usw. haben sich der Perspektive früher Selbstver­
hic et nunc jedermann für alles, was auf dem Globus und eventuell ständigung der Aufklärung bemächtigt, um jene ideologischen
im Weltall sich ereignet, in irgendeiner Weise mitverantwortlich. Annahmen über Geist und Vernunftkollektive mittels wissen­
Mangelnde Zuständigkeit erschiene als Verweigerung, sich den schaftlicher Analysen aufzulösen. Mithin bleibt nur die Pluralität
universalen Normen der sozialen Gerechtigkeit, der Humanität, derer .übrig, die die Reflexionsarbeit leisten oder leisten sollen.
der schlechthinnigen Partizipation usw. z.u stellen. Als letzte In­ Hinter den imaginären Einheiten treten d ie Einzelsubjekte hervor,
stanz für die ins Unbegrenzte erweiterten Ansprüche werden die an deren Adresse der Appell ergeht. Diese Adressaten aber erwei­
Menschenrechte ins Spiel gebracht, die in der Tat eine bewun- sen sich als überfordert. Sie reagieren ästhetisch und schaffen sich

134 135
für das, was sie in seiner ungeheuren Verwicklung nicht mehr ver­ zeitliche Europa genommen hat, verkennt jedenfalls die Ausweg­
stehen, einen Ersatz im Bild. losigkeit des Problems, weil man so tut, als hätten andere Optio­
Auf der Seite der Praxis vollzieht sich ähnliches. Die Verpflich­ nen offengestanden. Man hat die Segnungen des Fortschritts ge­
tung zur Universalität ergeht zwar an de� Akteur, erfolgt aber im nossen und will fürdie Folgen nicht aufkommen. Zwar hat sich hi­
Namen der gesamten Menschheit. Kanttsch gesprochen soll tch storisch noch nicht erweisen lassen, ob die Vorstellung überhaupt
meine konkreten Maximen zu einer allumfassenden Gesetzgebung realistisch ist, aber die bekannten aufklärerischen Kampfparolen
umwandeln. Dies liefert einen Test reiner Vernünftigkeit im Sinne klingen längst wie entleerte Propaganda. Wir befinden uns in der
des Eliminierens aller kontingcnten Bestimmungen, die aus histo­ fortdauernden Zwischenphase, wo der angefangene Prozeß sich
rischen und sozialen Orientierungen auf Praxis einfließen. Schon automatisch verlängert und eine Unausweichlichkelt angenom­
Hege! hat aber bestrirten, daß daraus brau�hbare Handluogs�n­ men hat, die keineswegs durch ein erreichtes Telos legitimiert ist.
weisungen im Rahmen der fürs Tun unverzichtbaren Konkrenon Einerseits richten die Menschen unvermindert hoffnungsvoll die
erwachsen. Denn der universalistisch aogesonoene Sprung aus Blicke nach vorn auf eine bessere W elt. Der große Modemisie­
dem besonderen Horizont aller konkreten Praxis ins schlechter­ rungsschub heißt unvollendet und Widerstände werden den finste­
dings Allgemeine läßt die gesamte Breite der Anknüpfun�srnö?­ ren Mächten des Beharrens angelastet, die es mit letzter Anstren­
Lichkeiten für wirkliches Tun hinter sich. Nimmt man an, Jewelis gung :z.u überwinden gilt. Andererseits sind die ambivalenten Ef­
vor Ort für die Menschheit überhaupt tätig zu sein, schiebt man fekte nicht von der Hand zu weisen, welche seit Rousseau die
nur die schwer überschaubaren Vermittlungsprobleme beiseite, scharfsichtigen Zivilisationskritiker immer wieder herausgefor­
die sich unweigerlich einstellen und an denen der Erweis hängen dert haben, an der Richtigkeit des ganzen Unterfangens zu zwei­
würde. feln.
Kailt hat vor diesem Problem kapituliert, indem er ein intelligi­ Der den Globus ergreifende Prozeß ist nur um den Preis massi­
bles Reich der Zwecke entwarf, das nicht von dieser Welt ist, und ver ltegression, deren Folgen niemand überblickt, aufzuhalten.
wo dank der Eingangsbedingungen bereits die hiesigen Konflikte Gleichzeitig kann nur ein Verblendeter leugnen, daß die Verluste
mitsamt dem empirischen Charakter der Akteure v�rschwunden und Gefährdungen den Erfolg ernsthaft aufs Spiel setzen; denn die
.

sind. Hegels eigener Versuch, Im Staat ei�e ne�e Stt�hc kelt zu moderne Gesellschaft lädt sich wie unter Zwang Bürden auf, mit
denken, die die Moralansprüche an das SubJekt mit msmutionellen denen sie kaum fertig wird. In dem Zusammenhang haben Gehlen
Formen der Vermittlung verbindet, hat die historische Realität und andere die in der Neuzeit entstandene Ästhetik als ein Ventil
nicht in der vorgesehenen Weise vcränder�. Auch die sozialistische beschrieben. Zwar ist Ästhetik durchaus nicht zu dem Zwecke er­
Projektion einer solchen in Lebenswelt emgesenkten praktischen funden, für eine durchgreifende Lösung der Unentschiedenheits­
Vernunft auf die Zukunft hat uns dem Ziel offenbar nicht näher ge­ probleme aufzukommen. Unentschiedenbeiren können nur durch
bracht. Insoweit sind die Akten für praktische Philosophie noch Lösungen beseitigt werden; dazu taugt die gelegentliche Substitu­
nicht geschlossen. Im ästhetischen 'Y!edi�m sieh� das freilich ganz tion von Ernst durch raffiniertes Spiel durchaus nicht. Aber die
anders aus. Auf einen Schlag erschemt dte Vermmlung des Al�ge­ Ästhetik mindert den Problemdruck, indem sie eine Einstellungs­
rneinen mit dem Besonderen als immer schon voll:wgen und be­ änderung eröffnet, in die man ohne besonderen Aufwand überge­
schert so den guten Absichten das gute Gewissen. Zwar wird in der hen kann, wobei die Anspannung wie von selbst nachläßt. Man be­
Tat wenig bewegt, aber es schwebt eine W eltverfassung vor, in der gibt sich einfach in eine Position, in der die Auseinandersetzung
die erstrebten Werte der Humanität verwirklicht sind. Diese Täu­ mit der anstrengenden Wirklichkeit überflüssig wird, weil die Welt
schung ist praktisch nicht weiter auffällig, sofern sie ästhetisch ab- so aussieht, als käme sie uns entgegen. Läßt sich das auf Dauer stel­
gefangen wird. len, wird eine Ventilfunktion überflüssig.
. .
Wenn diese Beschreibung einen Zug der Epoche mfft, dann tst Dazu muß die Welt freilich uminterpretiert werden und zwar
guter Rat teuer. Die verbale Schmähung des Weges, den das neu- nicht kraft purer Willkür, sondern in günstiger Annäherung von
IJ6
137
Leben und Kunst. Anlaß dazu bietet die ohnehin hoch artiiizielle
� �
v_or dem .Bil e ist. iesseits der endlosen Zerlegung in int erpreta­
tlOnsbedurfttge Ans1chten sucht man nach dauerhaftem und greif­
Gestalt, die die zivilisatorisch durchformte Wirklichkeit am Ende
barem Gehalt vergebens. Mithin kündigt ein Zustand sich an' der
der Neuzeit angenommen hat. Nachgerade sind die meisten
Bild und Wirklichkeit zueinander in derartiger Balance hält, daß
Dinge, denen wir begegnen, ebensosehr gemacht, wie sie von Na­
tur aus sind, was sie sind. In unbefangener Betrachtung bereits ver­
� erwechslung überhaupt nicht statt hat. Eine Verwechslung stellte

schwinden die Unterschiede. Dem arbeitet die avantgardistische


� �
eme unbemer te Täuschun� ar, die durch Wiederberstellung der
genauen Relauonen zu korng1eren wäre. Wie soll man indes Rela­
Kunstproduktion in die Hand, indem sie die Objekte der Umwelt
tionen wiederherstellen, nachdem die historische Tendenz auf
ebenso entschlossen ins Museum integriert, wie sie Kunst hinaus
Einebnung drängt?
auf die Straße treibt. Zufall, Ereignis, Performanz bieten ihr immer
In de: Tat stehen keine ausr:ichenden Mirtel zur Verfügung,
neu variierte Mittel der Vermischung zwischen den Sphären des _
Wahrheit als Wahrheit und Schem als Schein zu bezeichnen ohne
Schönen und des Trivialen. Entkunstung der Kunst oder Verkun­
das Ris��o, si �h in die Vermischung zu verwickeln. An der geschil­
stung der Wirklichkeit bilden z.wei gegenläufige Ansichten ein und .
derten Asthettsterung der Lebenswelt werden erkenntniskritische
desselben Vorgangs.
Kategorien wie diejenigen der Täuschung zuschanden. Deshalb
·Der wechselseitige Austausch wird flüssiger. Etwa seit dem Sur­
greift auch die Ideologiekritik zu kurz, mit deren Hilfe Horkhei­
realismus gehen ästhetische Innovationen alsbald in Werbung, De­
mer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung die Kulturin­
sign und mediale Aufbereitung der kruden Realit.,t über, während
d �strie zu denunzieren suchten. So einfach liegen die Verhältnisse
Dada, Pop Art und ähnliche Bewegungen sich erfinderisch aus
rucht, daß man zu ihrem Kern vorstoßen könnte, indem man die
dem real Vorfindlichen rekrutieren. Je mehr die Gesellschaft sich
Profiteure beim Namen nennt. Schon Marx wußte, daß auch die
nach Formen der Freizeit oder Subkultur modelliert, wird der
graue Alltag zum permanenten Fest. Politik und Religion schlie­

Profiteure �u d�n Getäusc ten zählen. Wir haben inzwischen ge­
l�rm, daß d1e Tauschung mehr verschwindet, wenn diejenigen So­
ßen sich der Zeitströmung an und suchen, mit den Masseninsze­
Zialstrukturen aufgedeckt werden, die der modernen Entwicklung
nierungen von Sport und Musik z u konkurrieren. Sogar das pri­
zugrunde liegen.
vate Verhalten nähert sich der Schaustellung, wo Idole imitiert,
Das setzte nämlich die Verläßlichkeit wissenschafticher
l Durch­
Modellkonflikte durchlebt und eine Identität aus zweiter Hand
dringung voraus, die hinter der ideologischen Oberfläche reale
angezielt wird. Mimesis ist das Primäre, nicht das Sekundäre, weil
Enr icklu�gsgesetze erkennt. Der längst erfolgte Abbruch der
eine von Mimesis freie Wirklichkeit an und für sich, die vor der �
zwe1felsfre1en Verläßlichkeit des wissenschaftlichen Weltbildes
Unterwanderung durch Bilder sicher wäre, uns immer weniger ge­
verstärkt jedoch die Ästhetisierung. Die Moderne hatausdrücklich
boten wird.
demonstriert, was Nietzsehe voraussah, wie weit nämlich das, was
wir für wirklich hielten, aus Bildern besteht, die wir uns davon ma­
VI. Ausblick �
c en. Der wissenschaftliche Fortschritt widerlegt unabsichtlich
_ .
d1e na1ve Auss1cht auf Endgültigkeit, die ihn begleitet. Neue For­
schung produziert neue Ansichren und die unaufhaltsame Ver­
Freilich befördert die Durchmischung von Wirklichkeit mit Bil­
mehrung der Disziplinen erzwingt neue Syntheseversuche.
dern derselben keineswegs das allgemeine Begreifen. Die Verhält­
Schließlich stellen die von Kuhn beschriebenen Revolutionen alles
nisse werden damit nicht durchsichtiger. Wenn tatsächlich in der
einmal Akzeptierte auf den Kopf, um den Wechsel der Paradigmen
Ästhetisierung terminiert, was alsAufklärung begann, so wird man
zu prolongieren.
das nicht die Krönung eines logischen Prozesses nennen. Vielmehr
handelt es sich um eine Ablenkung der rationalen Intention ins

Wenn sc <?n Erkenntniskritik nicht durchschlägt, so bietet sich
.
eme mo1·alwerende Attitüde an, für die wiederum Rousseau das
Unbestimmte. Da die feste Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und
Vorbild abgibt. Der Klage über den Mißstand folgen Schuldvor-
Bild verschwimmt, verhilft kein Bild zur Erkennmis dessen, was
1 39
würfe an die Adresse der Epoche, die im pauschalen Aufruf zum nene N�vität einzubringen. Aber diese zweite Chance bietet sich
Gesinnungswandel enden. Aber auch diese Haltung bleibt dem mchc. D1e ursprüngliche Chance des Aufbruchs erschien unbela­
Sachverhalt gegenüber hilflos. Denn eine Epoche kann man nicht s�et, w��l nieman_� aus �em Stand d_ie Rich��mg eines Weges, den er
zur Rechenschaft ziehen. Moralische Vorhaltungen sind wesens­ emschlagt, ganz uberbhckc. Stellt s1ch der Uberblick jedoch ein, ist
mäßig nur an einzelne zu richten, die handeln, anders handeln es fu � den absoluten Neubeginn zu spät. Mithin bleibt das Subjekt
.
könnten und deshalb für ihr Tun zur Verantwortung zu ziehen auf eme �e1se, die rue re�tlos zu ko?trollieren oder durch perfekte
�uconomte z.u er�etzen 1st, abhängig. Merkwürdigerweise ist dies
sind. Hingegen vollzieht sich ein historischer Prozeß von der Prä­ _
gekrafr und Intensität der Moderne über den Köpfen der einzel­ eme A_bhang1gke1t on s1ch selbst, denn es sind die eigenen Mög­
_ _v
nen, auch wenn er, wie in diesem Falle, das Einzelsubjekt privile­ hch�elten, d1e e �grifE.e � werden �nd ni�ht fremder Verfügung un­
giert. Deshalb erscheint es als äußerst fraglich, o b die einzelnen an­ t�rliegen. A�er un ta�1gen Ergre1fen semcr Möglichkeiten bindet
SICh das SubJekt unw1d�rruflich ans S:tbjektivitätsp,·inzip, so daß
ders handeln könnten. Zwar rückt der Prozeß den einzelnen ins
Zentrum, erhebt ihn aber insoweitnoch lange nicht zum tatsächli­ d1e erstrebte Selbstverwirklichung nun nicht wieder zu einer blo­
ßen Möglichkeit unter anderen rückentwickelt werden kann. In
chen Meister seiner Geschicke. Diese vorgebliche Kompetenz bil­
det eben den Schein, um den es geht. Also verfehlt die moralisie­ der Entscheidung für Subjektivität besteht die Größe der Mo­
rende Attitüde das strittige Problem. Sie entSpringt einer verständ­ deme, in dieser EntScheidung liegt zugleich die Grenze, die nicht
nut denselben Mitteln zu überwinden ist.
lichen Reaktion des Unbehagens an den Verwirrungen, in die die
Moderne sich als Konsequenz ihres Ansatzes hineinmanövriert Die Philosophie reflektiert diesen Umstand unter dem Titel
hat. Dennoch stemmt sich das Subjekt mit dem Stoßseufzer des der Geschichclichkeic. Es gilt einzusehen, daß das fortwirkende
Bedauerns vergeblich gegen die Entsubstantialisierung, an deren Abhängigsein von den eigenen Grundentscheidun<>en eine un­
·
beherrschbare Limitierung durch Freiheit darstellt� Wenn auch
Perfektion es zugleich arbeitet.
Geschichtlichkeir aus in�ellektueller Anstrengung nicht einfach
Die Geschichte, die das Subjekt bisher vorangebracht hat, läßt
abzuschaffen ISt,_ so kann 1hr durch Begreifen doch angemessen be­
sich im Handstreich kaum abschütteln. Zunächst gelang dem Sub­
jekt eine stückweise Emanzipation durch Abarbeitung substantiel­ gegnet werden. Begreifen hilft unter anderem dazu, falsche Ein­
ler Bindungen, und jetzt will es auftreten, als könnte es sich von al­ stell�ngen abzubauen, aus denen wir nicht herausfinden, solange
len historischen Kontexten frei'machen, auch noch von dem seiner Wir tn gre�zenloser Hoffnung_oder ohnmächtigem Protest Opfer
der Geschichte smd. Auch die Asthetisierung der Lebenswelt zählt
Emanzipationsgeschichte. Der Weg, auf dem das neuzeitliche Sub­
jekt sich entwickelt hat, muß aber von ehendiesem Subjekt weiter­ zu den unbegrif��nen Reaktionen auf die geschichtliche Lage, die
gegangen werden, ohne daß es sich dem Traum hingeben darf, an uns n ur um so machnger an die Jllusion ketten, wir hätten letztlich
.
alles m der Hand. Verfehlen wir nämlich die Herrenrolle die wir
einem bestimmten Punkte werde die Richtung einfach eine Sache
neuzeitlichen S�bjekt� uns selber im Geschichtsverlauf z�gespro­
unbelasteter Entscheidung. Befreiung führt nie zu jener vollkom­
men unvorgreiflichen Freiheit, die so frei wäre, auch noch ''OD ih­ chen .haben, ne1gen w1r zum ästhetischen Eskapismus.
ren eigenen Entstehungsbedingungen Abstand nehmen zu kön­ PhJ!o �op_hiscbem Nachdenken, das Hege! zufolge seine Zeit
nen. Wohl gibt es Modifikationen und Revisionen, nicht zuletzt produknv _u� Gedanken faßt, scehr entgegen verbreitetem Ansin­
durch Einsicht in die Logik des Prozesses, die erst nach Zurlickle­ nen �as effiziente Machtwort nicht zu Gebote, welches das Falsche
gung einer guten Strecke des einmal betretenen Weges erkennbar verhmderte und das Richtige in Kraft setzte. Eine der wesentlichen
wird. Was es in der Geschichte ebensowenig wie in der privaten Lehren, ?ie sich a�s der modernen Entwicklung ziehen läßt, be­
Biographie gibt, ist die Lizenz des u-nvermittelten Neuanfangs. steht dann, den Tnumph des SubjektS über die Geschichte als eine
Wenn einem in der Haut nicht länger wohl ist, möchte man gern Ers�hcinungsform der Geschichte :w erkennen und in dem Sinne
alles neu beginnen und besser machen. Denn nun ist man klüger radikal zu relativie�en. Die Ästhetisierungshaltung scheut vor die­
und vermeint, die Reife sei ohne Abstriche in eine wiedergewon- ser Konsequenz zurtick: sie möchte sich in der historisch geworde-
nen Lebenswelt ahistorisch einrichten. Sie möchte gleichsam Ästhetisierung der Lebenswelt
Früchte ernten, von deren Aussaat sie sich distanziert. Zwar ver­
mag der philosophische Begriff dem Gang der Dinge kei�e voll­
kommen neue Richtung zu geben, er kann aber erfolgre1ch ·der
Zweideutigkeit widersprechen, die sich aufgrund der fas�inieren­ Feste sind die außergewöhnlichen Momente in unserem Leben, in
den Umstellung im Verhältnis von Kunst und Leben bre1t macht. denen dieses selbst, ästhetisch verwandelt, vor uns tritt. Zu dem
Daraus erwächst immerhin ein Beitrag zu vernünftiger Lebensfüh­ Umwandlungsprozeß von alltäglichen Lebenswirklichkeiten in
·

rung unter dem Vorzeichen der Moderne. ästhetisch entlastete und bereicherte Darstellungsformen gibt es
zwei klassische Deutungen, deren Motive in der einen oder ande­
ren Modifikation sich durchgehalten haben. Die insgesamt spärli­
che Literatur der Gegenwart zum Begriff des Festes lebt weitge­
hend noch von ihnen.
Beide Deutungen suchen i11 größeren Zusammenhängen zu er­
klären, welche Kräfte am Werk sind, wo sich das Leben der Men­
schen selber fesdich vergegenwärtigt. Da die Deutungen aus einem
größeren Zusammenhang heraus operieren, müssen sie über die
Dimension des bloßen Lebensvollzugs hinausgehen. Ich werde
beide Deutungen kurz skizzieren, ohne sie freilich ins Zentrum zu
stellen, denn meine eigentliche These schließt sich daran erst an.
Die These von der Ästhetisierung der Lebenswelt bekommt vor
dem Hintergrund der beiden klassischen Deutungen des Festes
Kontur. Die These lautet vorweg formuliert: die klassischen Auf­
fassungen von der Rolle des Festes verschwinden, wo die größeren
Deutungszusammenhänge, die ihm seine Funktion für das Leben
zuwiesen, ihrerseits abgebaut werden. An die Stelle tritt die tY­
pisch moderne Tendenz, die. Lebenswelt selbst in der Unmittelb;r­
keit ihrer Vollzüge ästhetisch zu genießen.

I.

Die erste der genannten Auffassungen deutet das Fest theologisch.


Präsenz und Wirksamkeit der Götter sind innerhalb des mensch­
lichen Lebens zur Geltung zu bringen. Das geschieht in herausge­
hobenen und wiederkehrenden Momenten, an denen die üblichen
Ge��häfte aussetzen. Merkwürdigerweise ist die früheste und klar­
ste Außerung in diesem Sinne wenig bekannt. Sie findet sich in Pla­
tos Gesetzen anläßlich von Bildungsüberlegungen.' Das schwie­
rige platonische Spätwerk greift die Frage der »Politeia« nach der
richtigen Staatsordnung wieder auf, um die Lösung allerdings dem

14 3
Philosophenkönig aus der Hand zu nehmen und gottgegebenen resultiert aus der Säkularisierung des theologischen Vorgängers,
Gesetzen zu übertragen. Die Absicht geht in beiden Fällen auf die insofern nicht die Götter das menschliche Leben ästhetisch ins Lot
Einheit des Staates, die im Gegensatz zum unzuträglichen Zwist bringen, sondern nunmehr das autonome Menschengeschlecht
kollektives Handeln überhaupt erst ermöglicht. In derPoliteia war sich selbst feiert. Ich begnüge mich wieder mir einer einzigen, be­
dafür letztlich die dialektische Kunst des Philosophen zuständig, sonders sprechenden Darlegung innerhalb eines großen Textes.
die im Blick auf die universalgeltende Idee des Guten die politi­ Am Ende von Hegels Phänomenologie des Geistes wird der Über­
schen Fehlhaltungen der Vielen und ihrer Schmeichler, der Sophi­ gang der Religion in die Kunst analysien und dabei vollzieht sich
sten, korrigierte. Inzwischen ist die kritische Philosophentätigkeit ein befreiender Schritt vom Kultus zum Fest. Um das zu verstehen,
in einem System der aller Kritik entzogenen>, weil gongewollten muß in aller Kürze ein Blick auf den Plan der Phänomenologie ge­
Einriebtungen erstarrt, die das Leben der Menschen bis in die kon­ worfen werden.
kreten Aspekte, von der Tapferkeit bis zum Weingenuß, steuern. Der Übergang von Religion in Kunst läßt sieb aus der Logik des
I n der Betrachtung bekommt Bildung einen politischen Rang, Geistes konstruieren, weil beide Gestalten als historische Konfigu­
der über die rein berufsorientienen Fertigkeiten der Banausen hin­ rationen des Absoluten auf eine Ebene mir der Philosophie gehö­
ausgeht' und durch eine Erziehung vorbereitet wird, die den rich­ ren. Allerdings überführt die Philosophie den Geist aus dem Reich
tigen Umgang mit den Affekten, mit Lust und Furche, mit Liebe seiner geschichdichen Erscheinungen, in denen er noch nicht ganz
und Haß einübt. Das gewöhnliche Leben der Menschen neigt er selbst ist, in eine Form des Selbstseins, in der er sich vollendet, so
dazu, den wahren Sinn von Bildung und Erziehung zu vernachläs­ daß er nun aus dem Zwang äußerer Bedingungen heraustritt und
sigen oder zu zerstören. Um dem abzuhelfen, haben die Götter aus einer systemarischen Explikation fähig wird. Die Fähigkeit er­
Mitleid mit dem geplagten Menschengeschlecht die Feste angeord­ wächst aus der eigensren Vermittlungsnatur des dialektisch arbei­
net. So heißt es an der entscheidenden Stelle, Feste seien Erho­ tenden Geistes, der die allen historischen Erscheinungsformen an­
lungspausen von der Miihe des Alltags, in denen die Menschen in haftenden Einschränkungen selbsttätig aufhebt, bis er in uneinge­
Verkeh r mit Göttern träten. Unter Anführung von Apoll und Dio­ schränkter und freier Weise wirklich geworden ist. Bis zu diesem
nysos wirken die Musen als Fesrgenossen, um die menschliche Le­ Endpunkt des »absoluten Wissens« sind Übergänge zwischen Ge­
bensweise in Ordnung z.u bringen. stalten nötig, denen es gcm.cin ist, daß jeweils ein konstitutives Mo­
Damit ist der Grundgedanke der theologischen Auffassung vom ment noch aussteht, das mit dem historisch erreichten Stande des
Feste ausgesprochen, der bis heute wiederholt wird: erstens eröff­ Wissens zu vermitteln wäre. Erst die letzte Gestalt, in der der Geist
net das Fest als Aussetzen der üblichen Belastung einen Wechsel­ ganz bei sich ist, weil kein historisch gegebenes Moment auf Ver­
verkehr (Uf.lOLßy) mit den Göttern, der von diesen selbst angesetZt mittlung wartet, ist dem Geiste vollkommen angemessen. Im Sinne
wird; zweitens vermitteln die ästhetischen Begleiterscheinungen in der methodischen Erfüllung aller strukturell möglichen Vermitt­
Gestalt der Musen bloß diesen Verkehr mit den höheren Mächten, lungsprozesse kann hier vom »Absoluten« geredet werden.•
der bei dem Fest das Wesentliche ist; drittens geht die leitende Ab­ Zwar sind Religion und Kunst Formen, in denen bereits die
sicht derer, die das Fest verordnen, darauf, den vom AJirag geplag­ Fülle des Geisees vorhanden ist. Sie erfassen das Absolute aber in
ten und abgelenkten Menschen die Lebensweise so zurechtzurük­ einer nicht absolttten Weise, nämlich vorstellend und sinnlich.
ken, daß die tragenden Orientierungen in Erinnerunggerufen wer­ Deshalb rührt sich in ihnen der Drang zur Durchstoßung dieser
den. Verhiillungen. Ein Schrin auf dem Wege innerer Selbstklärung
Ohne eine transzendente Dimension ist die theologische Auf­ führt vom Kultus zrtm Fest. »Im Kultus gibt sich das Selbst das Be­
fassung nicht zu formulieren, wenn der Sinn des Festes im ordnen­ wußtsein des Herabsceigens des göttlichen Wesens aus seinerJen­
den und dirigierenden Einfluß auf die profane Schicht der Lebens­ seirigkeit zu ihm und dieses, das vorher das unwirkliche und nur
vollzüge gesehen wird. Tm Unterschied dazu könnte man die gegenstindliche ist, erhält dadurch die eigentliche \V!rklichkeit des
zweite der klassischen Auffassungen diehumanstische
i nennen. Sie Selbstbewußtseins.«s Der aus der theologischen Auffassung ver-

J44 14 5
traute Verkehr mit den Göttern zum Zwecke der Richtigstellung Sittlichkeit der Zukunft, die der junge Hegel schwärmerisch be­
des menschlichen Lebens wird nun als Beitrag zur Herausbildung schrieb, hat der Berliner Hege[ dann i n der RechtSphilosophie
des Selbstbewußtseins verbucht, das dank der ihm zugänglichen konsequent ausgeführt. Dabei ist von der mit Schönheit verschwi­
Kommunikation mit dem Absoluten seine frühere Abhängigkeit st�rten Polis nur noch ein Institutionenzusammenhang übrigge­
hinter sich läßt und autonom wird. bheben, der den Erwarrungen praktischer Verwirklichung der
Weiter führt die Überlegung, daß der Kultus sich als Handlung Vernunft den verläßlichen Rahmen liefert.
vollzieht und daher über ein bloßes Objekt religiös vorstellender DenKern der humanistischen A14[fassung.vom Fest kann man so
Andacht hinausweist. Hier herrscht eigene Lebendigkeit, während beschreiben, daß die richtige Lebensform keiner Korrektur von
etwa eine Bildsäule im Namen eines damit nicht identischen Höhe­ oben mehr bedarf, weil die höheren Instanzen in ein ungebroche­
ren verehrt wird. Der Handlungscharak�er hebt die für die Ausbil­ nes Selbstgefühl integriert sind. Dies äußert sich in Festen, die der
dung von SelbstbewußtSein hinderliche Subjekt-Objekt-Fixierung �
Mensc sich als Mitglied einer sittlichen Gemeinschafe zur eignen
auf, um sich als Fest zu vollenden. Was im religiösen Kultus ange­ Ehre g1bt. Während der größere Deutungsrahmen der theologi­
legt war, kommt i n der Ästhetik des Festes eines selbstbewußten �
schen uffassung Feste unter die Regie der Götter gerückt hatte,
und sich als selbstbewußt genießenden Kollektivs erst ganz zum erschemcn s1e nu� als Manifestationen des historischen Volksgei­
Ausdruck. »Die Wohnungen und Hallen des Gottes sind für den. stes, wenn man d1esen von 1-Iegel aus Montcsquieu herausgelese­
Gebrauch des Menschen; die Schät_ze, die in jenen aufbewahrt nen Terminus für solche politischen Formationen gelten läßt, die
sind, im Notfalle die seinigen; die Ehre, die jener in seinem aus dem Bewußtsein ihrer Identität existieren und handeln.
Schmucke genießt, ist die Ehre des kunstreichen und großmütigen V�r dem ges�hilderte� Hintergrund möchte ich i m folgenden
Volkes . . . Es hat i n der Ehrenbezeugung und Darbringung der Ga­ zummdest Ansatze zu emer Theorie entwickeln, die sieb auf das
ben unmittelbar den Genuß seines eigenen Reichtums und Put­ moderne Nachfolgephänomen des Festes richtet. Nach meiner
zes.«' Hege! bezeichnet das Fest als »lebendiges Kunstwerk«, das Kenntnis ist das Phänomen, das ich die Ästhetisierung der Lebens­
der Ehre des Menschen dient. ? welt nenne, bisher nicht als solches erfaßt und auch keiner theore­
Schon·der junge Hegel hatte im Zeitalter der französischen Re­ tischen Betrachtung umerzogen worden. Damit bin ich beim
volutionsfeiern, die die Anerkennung der neuen Ordnung durch Hauptteil meiner Überlegungen angelangt.
künstliche Inszenierungen bekräftigen sollten, auf das öffentliche
· Leben Griechenlands zurückgeblickt. Die sogenannten Theologi­
schen Jugendschriften beschwören sehnsüchtig eine Schönheit in I I.
der politischen Einheit, die sich in Festen bekundete, wo alle kraft
freier Mitwirkung sich die Substanz ihrer Gemeinschaft ästhetisch Feste gemäß der traditionellen Auffassungen erweisen ihre Vicali­
vor Augen führen. Freilich ist jene Sittlichkeit, die dazu fähig war, t�t, solange die entsprechenden Rahmenbedingungen in Krair
ein für allemal vergangen. Zeitgenössische Beobachtung zeigt, daß smd. Gesellschafren begehen die zeremoniellen Akte des ästhe­
die revolutionäre Ordnung jenseits des Rheins, die die Gemüter tisch organisierten Verkehrs mit den Göttern, mit höheren Mäch­
bewegt, unter der Vernunftparole unerwartet in neuem Zwang en­ ten, mit dem einen Gott des christlichen Glaubens, solange die
dete, während die zerrissene Landschaft des alten deutschen profanen Lebensvollzüge daraufhin orientiert bleiben. Man begeht
Reichs gar k eine Hoffnung mehr versprach. die Feiern politischer Selbstdarstellung, solange Schmuck und In­
Indes erscheint eine Wiederbelebung des griechischen Ideals mir szenierung der Vergegenwärtigung jener autonom gedachten Po­
Mitteln aussichtsreich, die aus der Philosophie stammten. Der tenzen dienen, die nach allgemeinem Verständnis das kollektive
Aufschwung des Ideal ismus würde Kräfte freisetzen, di�. die er­ Geschick sinnhaft leiten. ln dem Zeitalter jedoch, wo die Götter
starrten Lebensformen so verwandelten, daß Politik und Asthetik abgeschafft sind und der alte Glaube gestorben, führen die aus
wieder in ein harmonisches Verhältnis treten könnten. Die neue theologischem Deutungsrahmen imerpretierbaren Feste ein Küm-
merdasein, wie der im Kampf mit Kommerz und Freizeit unterle­ die zu besonderem Anlaß hervorgeholten Geräte, Kleider usw. ge­
gene christliche Kalender uns Jahr für Jahr demonstriert. Eb�nso ben ihre Würde an beliebige Gegenstände des ästhetischen Genus­
verlieren die dem humanistischen Ideal gewidmeten Säkularfe1ern, ses ab. Auf dem Vormarsch ist die generelle Freizeitgcsinnung, die
die in der Macht politischer Überzeugungen gründeten, an wirk­ im Jargon, in Attitüden, im persönlichen Erscheiungsbild jedem
licher Zustimmung, wie Verfassungstage, Erinnerungen an Einheit erlaubt, sich selbst zu feiern, wie er geht und steht.
und Widerstand etc. besonders uns Deutschen bewußt machen. Die Gründe für den Prozeß der Ästhetisierung der Lebenswelt
Aufgrund schmerzlicher historischer Erfahrunge � sind wir illu� sind schwer zu bestimmen. Soll man anthropologische Konstanten
.
sionsloser als beispielsweise Franzosen oder Amenkaner, d1e 1hre nach dem Modell des Homo ludens verantwortlich machen, die
aus dem r8. Jahrhundert stammenden Gedenktage so begehen, als auch unter Bedingungen äußerster Säkularisierung noch durch­
lebten sie noch im Zeitalter der Revolutionen. schlagen? Oder soll man nach ethnologischen bzw. psychoanalyti­
In das Vakuum, das nach dem Abbau des Deutungsrahmens ein­ schen Mustern darin den Schatten archaischer Dispositionen wie.­
getreten ist, drängt ein neues Phänomen, das man als Nachfolger dererkennen, die bei aller Sublimierung das uralte Ventil des Ex­
der skierotisierten Feste herkömmlichen Typs mterpreueren darf. zesses im rituellen Übertrete.n von Verboten aufrechterhalten? Ich
Freilich handelt es sich dabei nicht um ein weiteres Begängnis ge­ vermag das nicht zu entscheiden, es scheint mir aber weit herge­
mäß derselben Struktur, wobei nur der Deutungsrahmen ausge­ holt. Vor allem werden auch hier wieder größere Deurungsrah­
tauscht ist wie beim Wechsel der beiden ersten Typen. Es handelt men, die dem historischen Wandel entzogen sind, in Anschlag ge­
sich überhaupt um die Aufhebung ästhetischer Vergegenwärti­ bracht, während das moderne Phänomen gerade darin seine Zu­
gung des Lebens in Ausnahmestuationen.
i An die Stelle tritt nach spitzung zeigt, daß es systematische Erklärungen erübrigt.
'
und nach eine Ästhetisierung der unmittelbaren Alltagsvollzüge Leichter dürfte es jedenfalls sein, Veranschaulichung für das ge­
selber. Nichts, das den Alltag sinnstiftend übersteigt, ist nämlich nannte Phänomen zu finden. Stückweise zumindest ist vor aller
übriggeblieben, um im Modus zyklischer Erinnerung in ihn einzu­ Augen der Traum der Avantgarde von der direkten Verschmel­
greifen und ihm die grundsätzliche Richtung z,u weisen. Solche Po­ zung des Lebens mit der K1mst in Erfüllung gegangen, ein Traum
tenzen hat der von den Soziologen zwischen Weber und Habermas übrigens, der auf die kühnen Visionen der Frühromantiker zu­
analysierte Rationalisierungsprozeß der Moderne langsam aber er­ rückgebt. Was die avantgardistischen Manifeste der zwanziger
folgreich abgeschliffen. Eines der vielen ambivalenten Resultate Jahre unseres Jahrhunderrs forderten, kehrt inzwischen als echter
dieses Prozesses besteht darin, Feste als Mythenrelikte jeder höhe­ Teil unserer Umwelt wieder. Die urbanistischen Konzepte unserer
ren Bedeutung zu entkleiden. So schrumpfen sie auf den harmlo­ Städte werden nach und nach davon geprägt und die ausgebreitete
sen Rest materieller Belustigung und Verköstigung, gleichsam auf Herrschaft des Designs bezieht daraus ihre Legitimation. Die Mu­
Jahrmarkt, Wurst und W�_in. seumspädagogik hat davon gelernt, indem sie die Werke aus den
.
Ersatzweise greift jene Asthetisiemng der Lebenswelt Platz, dre KunSttempeln herausholt, während die Künstler selber die trivia­
unter Verzicht auf umfassende Deutungsrahmen den Alltag als sol­ len Bestandstücke der Zivilisation in ihre Produktionen hereinho­
chen geradewegs ästhetisch verwandelt. Wo es nichts von der übli­ len. Wo die gewohnten Dinge des Gebrauchs, ja die Überreste des
chen Pragmatik Abgehobenes zu feiern gibt verschön� man w�s Verbrauchs unrransformiert aufs Podest gehoben werden, wie es
� .:
man hat, so gut es geht. Da das Tun und Trerben, das s1ch stand1g die Pop Art auf den Spuren Duchamps' betrieben hat, sieht sich der
fortzeugt, keine Unterbrechung zuläßt, entfällt die für Feste cha­ Betrachter planmäßig verwirrenden Kontexten ausgesetzt. Ähnli­
rakteristische Gliederung des neutralen Zeitablaufs, dem Akzente ches geschieht bei den surrealistischen Schocks, die sich in Hap­
aufgesetzt werden, damit er in außergewöhnlichen und wieder­ penings, allerlei Performationen auf Plätzen, Verpackung von Ge­
kehrenden Augenblicken selbst zu Bewußtsein gelange. In der bäuden, Verwandlung von Landschaften in Kulissen usw. fortset­
Moderne, wo jeder Tag bunt und keiner grau sein soll, schwindet zen.
das ehemalige Kompensationsverhältnis. Die Festtagsrequisiten, Weithin drängt das Theater auf die Straße ebenso wie, seit Piran-
dello, die Straße im Stück mitspielt. Die gesellschaftlichen. . Ver­ Druck gewachsen, sich gleichzeitig als Bürger, Zeitgenosse, Fami­
kehrsformen sind von der steten Bemühung um fließende Uber­ lienvater, Benafsciitiger, Vereinsmitglied, Kulturträger usw. zu­
gänge zwischen Poesie und Prosa erfaßt, wo�u schon Schlegels rechtzufinden. Die histOrisch gewachsenen Lebensformen erwei­
»Lucinde« die Stichwort e lieferte. Fixe soziale Rollen werden ins sen sich höchstens in lokaler oder regionaler Beschrän kung noch
raffinierte Spiel aufge löst, die Beziehungen zwischen den Ge­ als tragfähig, nicht aber auf der G esamtebene globaler Verflech­
schlechtern, gan�e Biographien werden so gestaltet, als seien sie ein tung, die uns permanent augesonnen wird. Gleichzeitig hat d ie
Roman oder Film. Von den Niederungen der allgegenwärtigen Aufklärung, d ie diesen Zustand im Verlauf der letzten zwei Jahr­
Reklame, deren optische Signale jed e Fläche bedecken, über die hunderte mit unausweichlicher Konsequenz hervorgebracht hat,
wöchentlich stattfindenden Masseninszenierungen der Subkultur nicht auch dafür Sorge getragen, daß die Menschen in dieser durch­
in Sport und Musik, bis bin zur offensichtlichen Vermischung von funktionalisierten Welt handeln und atmen können . Das Leben ist
Politik und Religion mit Schaustellung haben sich Front en ver­ sich selbst entfremdet.
wischt, die einmal bestanden zwischen dem Normalen und dem Die Auslegung aller Sektoren der Realität auf Fu n kti onen ver­
Erbaulichen. Im Medienzeitalter triumphiert die Neigung, jegli­ spricht nämlich eine Durchsichtigkeit, die nu r hinsichdich der
che11 lnhalt in Bilder vor großem Publikum zu verwandeln und das jeweils in Anschlag gebrachten Zusammenhänge gilt. Funktions­
Publikum seinerseits zum Mitakteur zu rekrutieren. Gesellschaft­ zusammenhänge lassen sich jedoch belieb ig konstruieren und
liches Handeln wird vorgeführtes Handeln, Subjekte stilisieren vermehren. Die Folge isr eine unübersehbar wachsende Komple­
ihre Wünsche und Interessen zu Posen. Die Wirklichkeit gibt ihre xität, zu deren Bewältigung kein Gesamtrezept mehr angeboten
ontologische Dignität zugunsren des allgemein beklatSchten wird. Alleingela ssen mit der Pluralität funktionaler Partikular­
Scheins auf. ordnungen, deren Verselbständigung ihm die Welt zubaut, sucht
der Mensch nach Entl<zstung, wie Gehlen treffend formuliert
hat. Entlastung wird in Gestalt eines durch Funktionalisierung
III. nicht korrumpierbaren Residuums zuteil, wo alles so ist, wie es
an ihm selbst ist, weil es gar nicht in den Dienst eines andern
Wenn diese Diagnose einen Grundzug der Gegenwart t!ifft, so treten ka nn.
stellt sich die Frage, ob das unmittelbare Eindringen des Astheri­ Ich spreche von der ästhetischen Erfahmng8, die vor dem Hin­
schen in profane Lebensvollzüge die Sonderrolle fesrlid1er Verge­ tergrund komplexer Alltagsfunktionen in der Eröffnung des au­
genwärtigung gesellschaftlicher Ordnung wirklich abzulösen be­ ßergewöhnlichen und unerwarteten Bereichs völLiger Funktions­

gin nt, wie ich behauptet habe. Der verwickelte organg, in dem losigkeit besteht.9 Natürlich läßt sich die Kunst in der Außen­
gleichzeitig die hehre Kunst geleugnet und ästheusehe Erfahru ng perspekt ive des Historikers, Soziologen o der Kritikers auf den
an Alltagsbegegnungen exerziert wird, übernimmt eine ges ell­ Bildungs- oder Marktwert, auf propagandis ti sche und politische
schaftliche Funktion. Am Leitfaden des Funktionsbegriffs möchte Aufgaben, auf die Rolle der Erbauung, Unterhaltung oder ideolo­
ich der Frage genauer nachgehen. gischer Verschleierung hin untersuchen . Das sind zweifellos
Wir Leben in einer Welt der Funktionen. Alles ist um eines an­ Funktionen, die die Kunst in bestimmten Zusammenhängen über­
dem willen da und deshalb liegt der Sinn der meisten Dinge jenseits nimmt. Aber diese Funktionen stellen nicht den eigentlichen Ge­
ihrer selbst. Bevor man das einzelne wahrnimmt, muß man in halt der ästhetischen Erfahrung selber dar. In der Innen perspektive
komplexe Bedingungsnet�e des sozialen Systems, der RechtSinsti­ dessen, der diese Erfahrung macht, dürfen sie getrost vernachläs­
tutionen, des wissenschaftlichen Informationsniveaus, der techni­ sigt werden. Wenn uns ein Roman bewegt oder ein Theaterstück
schen Verfahren, der B ildung und Tradition eingearbeitet sein. erschüttert, wenn wir ein Konzert genießen oder ein Bild aufre·
Diesen v ielfältigen Anforderungen vermag man nur mühsam und gend finden, so erfüllt uns nicht das Bewußtsei n, daß der Verleger
niemals vollkommen gerecht zu werden. Kein Sub jekt ist dem verdient, der Regisseur kulturpol itische Pläne v erfolgt , die Stadt-
qo 15'
väter sich schmücken wollen oder der Kunstgenuß von Problemen serer gewöhnlichen Erfahrung. Könnten wir die letztere beseiti­
der ,.Dritten Weite ablenkt. gen, müßten wir auf die erstere verzichten. \Vtr würden uns in ei­
Vielmehr begegnen wir dem erlösenden Aussetzen jeglicher nem Zwischenstadium aufhalten, das gar nicht zu definieren. wäre.
Funktion, das die Frage nach dem Wozu sinnlos macht, weil hier Momentane Entlastung setzt die stete Gewöhnung der Belastung
die Worte, Töne, Farben und Formen sich selbst genügen. Die äs­ voraus. Außerhalb der Mühe zweckverpflichteter Weltbewälti­
thetische Erfahrung hat es mit einem Zustand zu tun, wo die Dinge gung �ären wir gar nicht aufnahmefähig für jene seltenen Mo­
ganz aus sich sprechen und daher auch von nichts anderem reden. mente, m denen wir mit Si_nn beschenkt werden, ohne vorher gege­
Nach der vorsichtigen Formulierung Kams reagiert diese Erfah­ ben zu haben. Daß asthettsche Erfahrung sich nicht zum Normal­
_
rung auf die besondere Stwktur einer Zweckmäßigkeit ohne fall e1gnet, ze�gt der bekannte :'organg der Übersättigung. Wer
Zweck. Wir können keinen vom Phänomen noch unterscheidba­ p�usenl�s optischen oder akustischen Provokationen ausgeset-l-t
ren Zweck angeben, müssen aber, um dem Phänomen gerecht zu Wird hort und steht am Ende überhaupt nichts mehr.
_, Avantgardebewegungen unseres Jahrhunderts haben einen
Dte
werden, so etwas wie Sinnstruktur unterstellen. Diese theoretisch
nicht vollends einzulösende Unterstellung eines Selbstzwecks ha.t solchen Abnutzungsprozeß wider Willen vorgeführt. Es galt als si­
den Effekt, uns vom Funkrionsdenken zu befreien. c�er, daß schockanige Konfrontationen mit dem Ungewohnten
_
Nun ist es verführerisch, diesen Ausnal1mezustand einfach auf d1e abgestumpften Smne neu öffnen könnten. Gelernt haben wir
Dauer zu stellen, indem alle Lebensvollzüge, von denen er sich ge­ nachgerade, daß die schockierenden Auftritte des Neuen ebenso
rade abhebt, ihm gemäß stilisiert werden. Meines Erachtens ver­ :z.ur Gewohnheit werden, wenn man sich darauf verlassen kann
birgt sich in der modernen Tendenz zur Ästhetisierung der Le­ den letzten Schrei schon morgen bei der Nachhut zu finden. Dari �
benswelt der paradoxe Versuch, den Alltag zum pe1·manenten Fest lie � �iner der Gründe, warum moderne Kunst entgegen ihrer
7.u machen. Aus der ästhetischen Erfahrung wird die Möglichkeit P.nnztptell vers.törenden Attitüde schon lange keine Angelegenheit
einer Übereinstimmung mit der Welt entliehen, die weder Ver­ aschenscher Einen oder kleiner Zirkel fortschrittlicher Geister ist
zicht noch Schweiß kostet, und daraus wächst das gleichsam spie­ sondern e�n breiter Publikumserfolg. Man pilgert zur »Doku�
lerische Projekt hervor, sich immer so zu verhalten. m�ma« wte zu p�pulären Historienausstellungen. Das bedeutet
Paradox daran ist nicht etwa, daß nach dem Kodex bürgerlichen kemeswegs, daß steh etn adäquates Verständnis in der wünschba­
_
Erwachsenseins solche Frivolität suspekt wäre. Der fällige Ein­ ren �reite ?urchgesetzt hätte, sondern höchstens, daß jedermann
wand stammt auch nicht aus Kierkegaards berühmter Verurteilung �uf Jed_erlet Herausforderung gefaßt ist. Die Avantgarde hat dank
der ästhetischen Einstellung zugunsren der ethischen ; denn dallin­ ihrer e1genen Aktivitäten überJahrzehnte den Schrecken verloren.
ter steht das Problem einer Ontologie der Zeit, deren Flüchtigkeit
durch existentiellen Entschluß überwunden werden solL Schließ­
lich ist es ebensowenig der Vorwurf der Unrealisierbarkeit, der �e­ IV.
genüber jeder Utopie erhoben werden könnte. Paradox an der As­
thetisierung der Lebenswelt ist vielmehr die logische Unmöglich­ Eine letzte Beobachtung möge zeigen, wie wenig der projizierte
_
Veremtgungszustand von Kunst und Leben sich zu stabilisieren
keit., die Aufhebung eines Gegensatzes zu betreiben, ohne die ge­
gensätzlichen Seiten festzuhaltcn. Die Vereinigung von Kunst und vermag. Wir hatten den Versuch der Vereinigung zweier ur­
_
Leben ist nur solange ans Ende der uns bekam1ten Geschichte zu sprunghch getrennter Sphären, ohne ihre Trennung aufrechtzuer­
projizieren, wie es etwas zu vereinen gibt, das in den Gesellschaf­ halten, paradox genannt, weil sich dieser Zustand nur umer Rück­
ten, in denen wir leben, unvereint gegeneinander steht. Würde die �-riff auf das Getrenme überhaupt definieren läßt. DerTendenz :z.ur
Fiktion restlos Normalität, stünden alsbald neue Fiktionen auf, die Asthetisierung der Lebenswelt entspricht nun eine andere Bewe­
dem verblichenen Ideal von einst wieder rosige Farben verliehen. gung, die ebenso erstaunlich ist. Sie zielt offenbar darauf, die ern­
Daher ist und bleibt die ästhetische Erfahrung ein Sonderfall uo- sten Fragen des Lebens mi Medium des ä>thetischen Scheins zu ver-

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handeln, indem den Repräsentanten desselben Pflichten übertra­ den ästhetischen Schwebezustand, der auf Dauer gestellt als neue
gen werden, für die sie von Hause aus gar nicht berufen scheinen. Existenzweise ersehnt wird.
Menschheitsfragen, die der Kunst zunächst ganz fern liegen, wie Deshalb gehört die Erwartung, gerade von Künstlern Auf­
Krieg und Frieden, lebenswerte Zukunft, politische Moral, natio­ sch lüsse über vorästhetische Allragssorgen zu bekommen, in einen
_
nale Identität usw., fordern Künstler vornehmlich zu Stellungnah­ we1r gefaßren Zusammenhang mit dem Absterben der Feste. Die
men heraus, weil diese Gruppen im öffentlichen Bewußtsein be­ allgemein verbindende Darstellung des gesellschaftlichen Selbst­
sonderes Gehör finden. verständnisses kann nicht mehr auf die Sicherheit einer Grund­
Dabei geht es durchaus nicht um die fiktive Gestaltung typischer �
?rientierun? bauen. o der Geist aus den Institutionen gewichen
_
Konflikte und Probleme, die seit eh und je etwa den Stoff für tst, lassen dxe�e stch mehr l�nger unbefangen feiern. Der gesteiger­
. .
Drama und Roman bot. Die Vermittlung i.iber Fiktionen nimmt ten Ko�1plex1rat tn den Pfhclnen der Lebensführung genügen zum
_ _
den aktuellen Bedrängnissen die Spitze und wirkt gerade dadurch Ausgletch kemc festheben Ausnahmesituationen. Es sind diesel­
lösend, wie Aristoteles schon in der •Poetik« richtig sieht. Es geht �en Zwänge und Entfremdungen des funktionalen Systems, ange­
um reale Kontroversen des politischen Meinungskampfes, um Stchrs derer der Künstler wie ein Symbol des wahren Menschen
Femwirkungcn des Tagesgeschäfts. Wo man hierbei den Politi­ und sein Tun wie die letzte Zuflucht von Freiheit und Moral er­
kern, Amtsträgern oder Fachleuten Lösungen nicht mehr zutraut, scheint.
treten plötzlich Schriftsteller, Regisseure, Schauspieler auf, um Rat Die vermißte Totalität des Sinns soll weniostens
° in Form des
zu geben. Den Produzenten des Scheins wächst eine neue Verant­ Scheins präsent bleiben und deshalb wird den Künstlern Lebens­
wortlichkeit zu, die ihre eigentliche Kompetenz weit übersteigt. So hilfe aufgebürdet. Womit die Menschen auf der konkreten Hand­
wirkt der nackte Ernst des Lebens diesseits ästhetischer Verklä­ lungsebene nicht fertig werden, verliert im ästhetischen Medium
rung auf den angeblichen Vereinigungszustand direkt zurück. Ele­ alle Widerstände. Umgekehn leiht es den ehedem-unter üblem po­
_ _ _
mentare Orientierungsbedürfnisse, die von der pragmatischen huschen Leumund letdenden Künstlern eine überraschende
Klugheit, von Traditionen und Institutionen im Stich gelassen Wü �de, wenn sie auf eine Weise ernst genommen werden, die das
sind, verlangen Befriedigung von anderer Seite. F.1kttve ausschließt. Die Kooperation zwischen einem nach Orien­
Erstaunlich ist die neue Aufgabenveneilung, wenn man sieht, tic�ung �uche�det Publikum und auskunftswilligen Künstlern be­

wie wenig sie dem herkömmlichen Bild entspricht. Künstler gal­ �ctst, Wte wen bctde Seiten sich auf das Experiment einer Ästheri­
ten gemeinhin als unseriös und polirisch unzuverlässig, wofür Sterung der Lebenswelt bereits eingelassen haben.
Platos Dichterkritik das älteste Dokument ist. Schillers Diktum
»Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« besiegelt noch zur
Zeit der deutschen Klassik die übliche Bereichsabgrenzung des
pragmatischen vom entlasteten Verhalten. Die unerwartete Zu­
ständigkeit der Künstler für das, wofür sie nie zuständig waren,
nämlich gültige politische Berawng zu liefern, entstammt dem Anmerkungen
verbreiteten Zweifel an den vorhandenen Ordnungsformen.
rLegg. 653 d
Denn weder ist Künstlern ein besser begründetes Urteil in öf­
2 Ygl. 634 d/e
fentlichen Angelegenheiten zuzutrauen als anderen aufgeweck­
3 643 e if.
ten Mitgliedern der Gesellschaft. Noch befähigen herausragende 4 Diese I�terpre;ation habe ich ausgeführt in Problemgeschicbte und ry­
künstlerische Leistungen für sich genommen zu erhöhter Sach­ sumamher c Smn der Phänomenologze Hegels (Dialektik und Wissen­
kenntnis auch in außerästhetischen Dingen. Die Vertreter des schaft, Frankfurt/ M. 1973)
Ästhetischen ri.icken auf zum Orakel für Grundsatzfragen allein Phänomenologie des Geistes (Hg. Hoffmeisrer), Hamburg
I952,
im Zeichen der unmittelbaren Verwandlung der Lebenswelt in s . 498f.

155
6 L. c. 501 f.
. . . Drucknachweise
7 Die humanistische Auffassung der Rolle des Fes� w�rkt bet �ar:o­
srisch becinflußten Theoretikern weiter. So schreibt etwa Bachun, 1m
Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in : Neue Hefte für Phi­
Fest verwirkliche sich ein •materielles Prinzip«, das vom Volk reprä­
losophie 5· 1973
sentiert werde, Rabelais und seine Welt, Frankfurt /M. 1987.
S. oben den ersten Aufsatz
Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, in : W. Odmüller (Hg.), Kolloquu1m
#Ktmst und Philosophie•, Bd. I, Aschetische Erfahrung, Paderborn 1981
9 Es erscheint mir irreführend, hier wiederum von ästhetischer Funktion
Kann Theorie ästhetisch werden? - Zum Hauptmotiv der Phiwsoph e i
zu reden, wie es die Strukturalisten getan haben. Die Terminologie geht
Adornos, n
i : B. Lindncr/W. M. Lüdke (Hg.), Materialien 2ur ästheti­
auf die Lehre der russischen Formalisten ''Om verfremdenden Kunst­
schen Theorie Adornos, Frankfurt/M . 1980
griff zurück mit dem der Produzent beim Publikum ästhetische Wir­

k\mg im Ge enzug zu gewohnten Wahrnehmu.ngsweise erzeugt Mit
� :
Moderne Ersatzfunkc.ion.tm des Ästhetischen, in: Merkur, Februar 1986
Mutmaßliche Umstellu.ngen im Verhältnis von Leben und Kunst (unveröf­
Grenzfällen wie dem Kult und dem Naturschonen, d1e fur . asthemche
fentlicht)
Erfahrung gerade wichtig sind, kommt diese Theorie eingestandener­
Äschetisierung der Lebemwelt (Beitrag zum XIV. Kolloquium Poetik und
maßen schwer zurecht (vgl. J. Mukarovsky, Kapitel aus der Asthetik,
Hermeneutik: Das rest, hg. V. \"(/, Haug/R. Warning, München 1989)
Frankfurt!M. 1970, S. 27). Daß die .ästhetische Funktion« eigendie� in
der Funktionslosigkeit gegenüber praktischen und theorenschen Ern­
stellungen beruht, macht zuletzt K. Chvatik deudich (Mensch smd
Struktur, Frankfurt!M. 1987, S. 49).
AESTHETICA
in der cdicion suhrkamp

Ästhetik und Rhetonk. Lektüren von Paul dc Man. Herausgegeben von


Kad Hcinz Bohrer. es 1681

Dcleuze, Gilles
Die Logik des Sinns. Aus dem Französischen von Bemhard Dieck­
mann. es 1707

Genette, Gcrard
Palimpseste. Die Lirerarur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen
von Wolfram Bayer und Dietcr Horn.ig. Herausgegeben von Karl Hcinz
Bohrer. es 1683

I<risteva, Jul.ia
Mächte des Grauens. Ein \l:rsuch über den Abscheu. Aus dem FranzöSI­
schen von Xen.ia Rajewski. es 1684

Lacoue-Labarthe, Philip�
Die Nachahmung der Modemen. Aus dem Französischen von Thomas
Schestag. es 1708

Lejeune, Philippe
Der autobiographische Pakt. Aus dem französischen von Wolfram Bay­
er und Dieter Hornig. es 1896

de Man, Paul
Die Ideologie des Asthcrischen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen
BJ.sius. Herausgegeben von Christoph Mmke. es 1682

Übersrttung und Dekonnruktion. Her>usgegeb<!n von Alfred Hirsch.


es 1897

318/1 /9.93

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