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Roanp Borcarps Affenmenschen/Menschenaffen Kreuzungsversuche bei Rousseau und Bretonne Das Folgende argumentiert in drei Schritten. Zunachst geht es um ein Wissenschafilich anmutendes Kreuzungsexperiment bei Jean-Jacques Rousseau, Sodann wird dem ein literarisch wirkendes Kreuzungsexperi- ment bei Restif de la Bretonne gegeniiber gestellt. Und schlieflich soll sich zeigen, wie Rousseau und Bretonne, die das Kreuzungsexperiment auf inhaltlicher Ebene in unterschiedliche Richtungen ausgestalten, in fotmaler Hinsicht dennoch am gleichen Projekt arbeiten: am literari- schen Experiment mit Texten, I In der zehnten Anmerkung zu seinem Diskurs iiber die Ungleichheit* aus dem Jahr 1755 fragt Jean-Jacques Rousseau nach dem zoologisch-taxono- mischen Status derjenigen Wesen, die man seinerzeit in einer nicht ganz subilen Nomenkdatur als Orang-Utan, Pongo, Enjoko oder Mandrill be- reichnete* In den zoologischen Debatten des 18. Jahthunderts finden Sich zu dieser Frage drei magliche Positionen. r be titiere den Text mit Seitenangabe in Klammern unter dem Sigle R nach Jean hea eer Diskurs tiber die Ungleichheit. Discours sur linégalité, Kriti- Marerc en des integralen Textes. Mic simlichen Fragmenten und erginzenden scot ad ey tach den Originalausgaben und den Handschriften neu edier,tiber- born a oeumentiere von Heinrich Meier, Drie, duchgesehene Auflage, Pader- 2 te Hann Aen in der Wissenschaft und der Literatur des 18. Jahrhunderts 2.B. ome, Rn Lhomme sauvage, Homo Ferus et Homo Sylveseris de Vanimal & Forster in 226% 894295 Tanja von Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg 2004, $6.74, Vann saet Physischen Anthropologie des x, Jahthunderts, Tubingen visthen Men B® Richter: Blurred copies of himself. Der Affe als Grenafigur in: Harte Bok srt in de europaischen Literatur seit der Frihen Neuzeit, transnationales Fon oe: Topographien der Literatur, Deutsche Literatur im Teufel, edle Maney Stutrgart, Weimar 2005, 603-624; Peter Martin: Schwarze inthe Middle Ag ‘a, jamburg 1993, 203-214; H. W, Janson: Apes and Ape Lore Bert Theunissen (Hos the Renaissance, London 1952, 327-3543 Raymond Corbey,, 1995; Londa Schiebin” : Ape, Man, Apeman. Changing Views since 1600, Leiden of sex an he inet: The gendered Ape, in Lynne Talock (Hag): The graph German text. Gendered culture in early modern Germany 1500- 2 3 8 3 x a 2 ® 3 a & a £ x £ ‘5 5 5 = 5 5 E 5 2 = 2 & 2 5 a 0 8 3S « 5 £ o & S a 5 £ £ § g 3 & © s £ a 3 E 3 a z = o 2 £ & © z & = o 5 2 a 2 3 8 oo S & o und Literatur 1580-1790. Gottingen 20 294 ROLAND BORGARDS Erste Position: Der Orang-Utan ist ein Affe; er ist ein Tier. Rousseau stellt diese Position mit einem methodologischen Hinweis in Frage: »Alle diese Beobachtungen [...] lassen mich zweifeln, ob verschiedene den Menschen ahnliche Lebewesen, die von den Reisenden ohne lange Pri fung fiir Tiere gehalten wurden« (R 325), tatstichlich Tiere sind. Metho- disch reklamiert Rousseau also die Voreingenommenheit der Beobachter, die »ohne lange Priifungs, »sans beaucoup d’examene (R 324) ein Wissen Produzieren, dem es an Sachgebundenheit fehlt und dessen Wahrheit ohne empirische Verifizierung auszukommen scheint. Dagegen setzt Rousseau einen Zentralbegriff der Empiriker: die Beobachtung (vobser- vations«, R 324). Zweite Position: Der Orang-Utan ist eine Mischung aus Affe und Mensch; er ist ein Monster. So bezeichnet etwa die von Rousseau zitierte Histoire des Voyages den Orang-Utan als neine Art Mittelding zwischen der menschlichen Art und den Pavianen« (R327). Dieses Méxtum ent- steht ~ folgr man dem Wissen der Zeit — stets nach dem gleichen ge- schlechtsspezifischen Muster, es stammt »von einer Frau und einem AF fens (R 329), also von einem »Tier« (R331), das »den Frauen und den Madchen Gewale antute (R331): »Cette Béte [...] pouvoit étre sortie dune femme et dun singe: chimére que les Négres mémes tejettent.« (R 328) Die Charakterisierung dieses Wesens als »Chimaree riickt es nicht nur in einen mythologischen Horizont, sondern zugleich auch in den Raum der zeitgendssischen Wissenschaft, in der zoologische Mischlinge unter dem Begriff des Monsters verhandelt werden, So gelten Pongo und Enjoko als »deux sortes de Monstres« (R 326) bzw. bilden jeweils eine cigene »espéce de monstre« (R 328). Auch diese 2weite Position untet- ticht Rousseau einer methodisch orientierten Kritik, die genau an der Page des Monsters ~ adieser vorgeblichen Monstrene (R333s Hervor- cbung R.B.), wie Rousseau betont — einsetzt. Auch hier seklamier Rousseau den Mangel an empitischer Beobachtung und die daraus ent stehende Vorurteilsstruktur des Wissens. Denn es sei deutlich, »wie oo diese Tiere beobachtet worden sind, und mit welchen Voruttel- a oa ee a hat, Zum Beispiel werden sie als Monstren bezeich- i “dumt man ein, da sie sich fortpflanzen.« (R 333) Mons- ther dh etdam 1994, 415-442; Ulich Kronauer: Zuri au den Affen ode ins Hone phe Gite des Menschen, Rousseaus Kuleuskritik und die Folge 1998, 79-10 pel Helmut Scheuer (Hrsg.): Georg-Forster-Studien. Bd. 2, Berlin and Agia! Robert Savage: Menschen/Affen, On a figure in Goethe, Herdet Sondeshef jeer, No#bett Otto Eke, Eva Geulen (Hrsg): Texte, Tiere, Spue- et Zeitschrift Fi Deutsche Philologie 126 (0007), 0-15. KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 295 ter sind nach der zeitgenéssischen Theoriebildung nicht zeugungsfahig; Orang-Utans sind es; also sind sie keine Monster, also keine Mischwesen aus Mensch und Tier. Dritte Position: Die Orang-Utans sind »hommes Sauvages« (R 326); sie sind Menschen. Diese Position vertritt Rousseau selbst. Kriterium des Mensch-Seins ist dabei fiir Rousseau nicht die Sprache, sondern die Per- fektibilitét. An ihr scheidet sich der Mensch vom Tier, mic ihr entschei- det sich die Zuordnung des Orang-Utans. Von Interesse ist nun nicht nur, wie Rousseau seine Position inhalelich begriindet, sondern auch, wie er sie ~ nach der scharfen methodologischen Kritik an den schlechten Beobachtern — seinerseits selbst methodologisch absichert. Genau in die- sem Zusammenhang fiihrt Rousseau das Experiment ein, genauer: den Begriff »expérience«, Dieser bedeutet im Franzésischen sowohl Versuch: als auch Erfahrungy, eine Doppeldeutigkeit, die Rousseau fiir sein Argu- ment aktiviert: [lest bien démontré que le Singe n'est pas une variété de ’'homme, ton seulement parcequ'il est privé de la Faculté de parler, mais surtout Parcequ’on est sur que son espéce n’a point celle de se perfectionner quiest le caractére spécifique de l’espéce humaine. Experiences qui ne Paroissent pas avoir été faites sur le Pongos et ’Orang-Outang avec assés de soin pour en pouvoir titer la méme conclusion. Il y auroit Pourtant un moyen, par lequel, si ’Orang-Outang ou d’autres étoint de lespéce humaine, les observateurs le plus grossiers pourroient s’en assurer méme avec demonstration; mais outre qu'une seule géneration ne suffiroit pas pour cette expérience, elle doit passer pour impractica- ble, parcequ’il faudroit que ce qui n'est qu'une supposition fir dé- Montré vrai, avant que I’épreuve qui devroit constater le fait, pit étre tentée innocemment, (R 334/336)3 In der deutschen Uberse Vat des Meche ung MLE ist gue nachgewiesen, da der Affe keine » niche nur, weil er der Fahigkeic 2u sprechen beraubt ist, Sa i allem, weil man sicher ist, daf seine eae diel Fahigkeit hat, sich ist. Bape nmtet die das spezifische Charakteristikum der menschlichen Art serine, die in bezug auf den Pongo und den Orang-Utan nicht mie San ‘orgfalt gemacht worden zu sein scheinen, um fiir sie den gleichen Uanhenas kkénnen, Es gabe jedoch ein Mittel, durch das sich, falls der Orang- ad eines Ste det menschlichen Art zugehirten, die krudesten Beobachter sogar cee sugenfiligen Nachweises hieriiber Gewifheit verschaffen kénnten; ia aie avon, da eine einzige Generation flir dieses Experiment niche reiiaparsta als undurchfihrbar angesehen werden, weil das, was nur eine beste waht achgewiesen sein miiBte, bevor der Versuch, der die Tat- “gen sollte, frei von Schuld gewage werden kénnte.« (R 335/334). 296 ROLAND BORGARDS Was fiir die »Pongos« (die wir heute als »Menschenaffen« bezeichnen Witrden) strittig ist it Fir die »Affenc (d.h. von heute aus gesehen: alle Nicht-Menschenaffen) also klar: Sie sind keine Menschen, denn ihnen mangelt es an Perfektibilitit. Woher dieses Wissen kommt, wird bei Rousseau, der wenig von den Affen redet, nicht deutlich; die Form dieses ‘Wissens wird indes eigens vermerkt: Es handele sich dabei um vexpétien- cest. Mit Blick auf die Affen ware dies wohl noch eher mit »Exfahrungen« 2u iibersetzen, geht es doch um ein aus Beobachtungen abgeleiteres Wis- sen, das obne einen aktiv experimentelien Eingriff in die Natur gewonnen wurde, Nun ist dieses vexpérience«-Wissen, das hinsichtlich der Affen vothanden ist, sin beaug auf den Pongo und den Orang-Utan« offenbar Hoch niche gesichert gegeben, und genau mit dieser Unsicherheit beginnt as franaésische vexpériencee zwischen »Exfahrungw und »Versuche 2 schwanken. Binerseits geht es auch mit Blick auf die Pongos noch um ein nicht-experimentelles Erfabrungswissen — Rousseau hatte sich ja gerade aber die unculingliche Beobachtung der Pongos beschwert, damit aber wiBlich konzediert, dass diese Wesen fiberhaupt Gegenstinde einer Be- . fone sind. Andererseits verweist die Wendung rfaire une experience ae ea Experiment (im Gegensatz 2u avoir une experience cree nah die Esfahrung zielt). Damit verindere das Wort nexpéti- Cungrchweseen bein im Verauf des Sates seinen Bede iell zum »Versuche, as sich zunachst als »Erfahrung« liest, wird tenden- oy = ae érience« hier in einer negativen Form ins Spiel ge- decane nicht als eine, die vorhanden ist und so das Wissen best ie ae seine fehlende, das Wissen verunsichernde. Und nur weil angel, nighe Sten daribes, dass es den Pongos an Perfelaibilcit cuzuordaen, Gee eet tbethaup die Méglchkeis, sie dem Menschen Zuordnung selec et Michie einer solchen Zuordnung nun de tibilititsprefung 4 mete lige es nahe, ein Experiment zur Perfek- Rousseau ‘nde ey Tewerfen und durchzufithren, Genau dies macht cheopoogied nich® Stattdesen wendet er sich tbertaschend vorn a zu. Ein gro paras ab und einer zoologischen Versuchsanordnung Krouzungsexperimece 2 a liber mehrere Generationen erstreckendes Rousseau atgumentiere hie = ne Fragen mit gréSter Evidenz dasen. dividuen dann var ei i ier mit Buffons Arebegriff, demzufolge zwei In- ZeugungsPihige) Nene en Art gehdren, wenn sie miteinander (ihrerseits ence gars etc teommen zeugen kéanen.* Hier nun hei8e »expét- cutig »Versuche: Wenn im kontrollierten Rahmen einer 4 Vel. hie 8 Bierzu den Kommentar von Heinrich Meier (R 336 £, Anm, 407). KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 297 Experimentalanordnung die Kreuzung von Mensch und Pongo gelinge, wire nachgewiesen, dass der Pongo selbst ein Mensch ist. Theoretisch ist dieses Experiment durchfithrbar; praktisch jedoch wird es von einer Aporie blockiert, denn man kann mit ihm erst beginnen, wenn es schon erfolgreich beendet worden ist — eben »weil das, was nur eine Annahme ist, als wahr nachgewiesen sein miifte, bevor der Versuch, der die Tatsache bestiitigen sollte, frei von Schuld gewagt werden kénnte.« (R 337) Man muss sich das Erstaunliche, Irritierende und Verwunderliche die- set Wendung in aller Schiirfe vor Augen fithren. Warum, so muss man fragen, warum propagiert Rousseau kein Perfektibilititsexperiment (dem keine praktisch-ethischen Hindernisse entgegenstiinden und das zudem mit der Zentralkategorie des gesamten Discours arbeiten kénnte, eben mit der Kategorie der Perfektibilitat, der Fahigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen), und warum verweist er stattdessen auf ein Kreuzungs- experiment (das aus praktisch-ethischen Griinden undurchfiihrbar ist und das zudem mit einer fiir den Discours ansonsten wenig bestimmen- den Kategorie arbeiten miisste, eben mit der biologischen Kategorie des Monsters, des zeugungsunfahigen Mischwesens)? Man kann antworten: Weil fiir die methodologischen Uberlegungen der zehnten Anmerkung des Discoursin der Undurchfithrbarkeit des Kreuzungsexperiments nicht sin methodisches Problem, sondern dessen Lésung liegt. Dies gilt in mehtfacher Hinsiche, Erstens setzt Rousseau mit dem undurchfiihrbaren Versuch gegen die falschen Gewissheiten derer, die den Orang-Utan fiir ein Tier oder fiir cin Monster halten, eine konturierte Unsicherheit. Rousseau stirkt die &pistemologische Zuverlassigkeit seiner Position gerade dadurch, dass er deren Geltungsanspruch schwicht. Methodisch vertretbarer als die »vor- Ge Ureeile« (R 337), die aus den Pongos Tiere oder — in alten Zeiten — Vielen machen, ist ein absichtlich zdgemdes »Peut-étre« (R 336): ‘elleiche wird man nach exakteren Untersuchungen finden, da es Weder Tiere noch Gétter, sondern Menschen sind.« (R 337/339, Hervor- sung R. B.) So sichert Rousseau seine eigene Position gegen die me- tho is Fels i i . ae : odologischen Misslichkeiten, die er an den beiden anderen Positionen isiert, batts? Blues dieser Versuch gerade deshalb, well et undurchfthe aot einen fiktionalen Raum, entwirft damit aber keine literarische jedem Pee ett Wissenschaftichen Fakccualitit, sondern expliziert nur eine Lone iment eigentiimliche Serulcur. In Szene gesetzt wird die wenn die ivistische Dynamik, die spatestens dann zum Tragen kommt, abergehe Tactschalliche vexpétiencee von der Erfahrung zum Versuch Denn ein Versuch bringt das epistemische Ding, von dem es 298 ROLAND BORGARDS handelt, immer selbst hervor/ In Rousseaus imaginarem Kreuzungsexpe- tment wird damit auf einer thematischen Ebene fassbat, wovon ein jedes Experiment formal durchzogen ist. Wissenschaftstheoretisch lisst sich so das ethisch-praktische Verbot auf eine epistemologische Strukcur zustick- rechnen, die sich ihrerseits mit poetologischen Basiskategorien berihrt: mit der poiesis und der ars fagendi, der Kunst des Fingierens.§ Drittens wird das Wissen um den Beriihrungspunkt zwischen Mensch und Affe durch den Hinweis auf die fingierenden Anteile in ihm nicht disqualifiziert, sondern schlicht qualifiziert. Die Grenze zwischen Affe und Mensch ist nicht exakt bestimmbar; es lasst sich lediglich der Raum umschreiben, innerhalb dessen sie vielleicht verlaufen kénnte. Wann immer dieser Raum gefiille wird, geschieht dies mit fiktional-imagini- rer Energie, Daraus folgt zum einen, dass schon in der Wissenschaft eine experimentelle Fiktionslogik am Werk ist. Und daraus folgt zum anderen, dass alle literarischen Affengeschichten, die den Grenzraum zwischen Mensch und Tier umspielen, nicht erst auf einer inhaltlichen, oan schon auf einer formalen Ebene der Wissenschaft entsprungen sind, I 1781 publiziert Restif de la Bretonne als Anhang zu seiner Découverte Aus- wale Par un Homme-volant die Lettre d'un singe? Nachdem ich in einem Sisten Schuite gezeigt habe, wie sich in Rousseaus Kreuzungsexperiment dank dessen pragmatischer Blockade ein imagindrer Raum ofinet, machte ich nun in einem 2weiten Schritt zeigen, wie Bretonne in seinem Brief Vel. hierzu die einschlagigen Studien von Rheinberger, z.B, Hans-Jérg Rheinber- get: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Mar- burg/Lahn 1992. »Fingieren« in dem Sinn, wie es Woll formen, darstellen, bauen, e a igang Iser einfiihre: »von lat. Fingers biden ict ersinnen, erdichten, vorgeben« (Wolfgang Iser: a uund das Imaginite, Perspektiven literarischer lace steae Frankfurt Dichte Bes ne hierzu auch den Begriff der Fiktion bei Clifford Geer deve: Diche mee Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kuleus, Fare aM ge scbreibung, Beitsige 2um Verstehen kultureller Systeme. Frank- Tio 7-43 235 sowie James Clifford: Halbe Wahtheiten, in: Gabriele Rippl (Hisg,): Unbeschreiblich weibl Wah Ef Frankfurt a.M. 1993, ies A wetblich, ‘Texte zur feministischen Anthropologie. Ich zitiere de i ' 7 nach Nicolae Bde eben und Seitenangabe in Klammern uncer dem Sigle B Bretonne: Lettre d'un Si ‘Animaux de son sted Fdela B ettre d'un Singe, aux Anim: ; Gendve/Parts a rates, in: dets.: La découverte Australe (r781). Reprint x KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 299 eines Affen genau diesen Experimentalraum literarisch ausarbeitet. In einer recht simplen Weise besteht diese Ausarbeitung zunachst in der Fiktion eines affengeschriebenen Briefes, also schlicht darin, dass ein Affe aux Animaux de son Espéce ma schreiben vermag. Das klingt nach einer Fabel, in det ~ ganz konventionell — einem Tier eine unbequeme Wahrheit in den Mund gelegt wird, hier: die Wahrheit eines kritisch aufgeklarten Blickes auf eine iiberzivilisierte Gesellschaft. Fir den Zusammenhang von Literatur und Experiment interessant wird es aber erst, wenn man die Rahmung dieses Briefes durch die einleitende Vorrede und die nach- bereitenden Anmerkungen mit bedenke. Vor dem Affen-Brief findet sich zundchst eine fiinfseitige »Avis de "Editeur N.-E. D.-I-B.«, (B III, 13) mit der sich Bretonne selbse als Her- ausgeber des folgenden Briefes ausgibt. Diese Vorrede beginnt mit einer Authentifizierungspeste: »Honorable Lecteur: Je vous fais part de cette étrange Lettre, qui vient d’étre réellement écrite par un Singe-Babouin.« (BILL 13) Die narrative Strategie dieser Vorrede ist - wie die argumenta- tive des Briefes selbst — recht konventionell. Es geht darum, aus einer Rahmenerzahlung heraus den Ereignissen einer Binnenerzahlung doku- mentatische Dignitét zuzusprechen. Der Brief mag »étrange« wirken, also fremdartig und merlewiirdig, aber dennoch ist er »réellement écrite Par un Singe-Babouins, wirklich von einem Pavian geschrieben worden. ‘un wei Bretonne, dass dies zuniichst nur eine bloSe Behauptung (vas- Settion«, B IIL, 13) ist, die zudem jeder Vernunft widerspricht. Deshalb ‘muss die Wirklichkeitsbehauptung um einen Wirklichkeitsnachweis er- Sanzt werden. Dem dient der Gang der Vorrede, die in einem wissen- schaftlichen, Dulcus beginnt, dann eine auRerst erzihlerische Wendung nimmt, um schlielich zur wissenschaftlichen Haltung zuriickzukehren, Der Wirklichkeitsnachweis beginnt also wissenschaftlich, er beginnt a ae zoologischen Wissen, das als gesichertes prisentiert wird: »On alae a en Guinée, & méme en Asie, des Singes capables de faire (BM wy Beene 8 om a fréquemment des exemples en affique.« ea eee verweilt ein wenig bei diesem Wissen, dass Affen de a S sind, Frauen Gewalt anzutun, wobei er im Besonderen gende Wend ge Stirke einiger Affenarten hervorhebt. Die nun fol- pias are ins Erzahlerische wird von einem adversiven »Aber«, ae markiert, an dem zugleich zwei kategoriale Verschiebun- an ee ila zum einem vom Wissen zum Interessanten, viduellen hee ” Affen im Allgemeinen zu einem konkreten, indi- native, Maisle im Besonderen: »Les Singes ont de méme toute la vigeur est un Méxg Point intéressant, Cest que le Singe dont il est ici question, » petitfils d'une Femme de Malaca, & d’un Babouin, dont 300 ROLAND BORGARDS elle avait été surprise.« (B Il, 14, Hervorhebung R. B.)® Dieser Ubergang vom Wissen zum Erzihlen lasst sich nach zwei Richtungen hin deuten. In der Abfolge der Argumente dient das Wissen ganz offensichtlich dazu, die nachfolgende Geschichte aufzuwerten und abzusichern. In der Rhe- torik der Formulierungen wird diese Aufwertung jedoch gleichzeitig iro- nisch relativiert: Es gibt ein Wissen von den Affen, sicher, aber hier geht es um Interessantes, nicht um Gewisses; und es geht um einen bestimm- ten Affen, nicht um die Affen im Allgemeinen. i Aus der gewaltsamen Vereinigung entsteht, so erzahit Bretonne weiter, ein Affenmensch, »un Singe-homme« (B III, 14), der auch sofort als nmonstre« (B Ill, 14) bezeichnet wird. Hier wird zwar von einer Kreu- zung erzihlt, aber noch nicht von einem Kreuzungsexperiment. Ein de- tidiert experimenteller Rahmen wird (in der Vorrede) erst eine Genera- Ton spater etabliert. Ein hollindischer Kaufmann nimmt den monstrdsen Affenmenschen mit nach China, und dies mit dem Ziel, ihn dort auf seine Zeugungsfihigkeit hin zu priifen. Zu diesem Zweck bringt der Hollinder den Affenmenschen mit einer jungen chinesischen Sklavin zusammen, die dank ihrer Hasslichkeit einem Affen hinreichend ahnlich sicht: »son dessein avait écé dele faire copuler, lorsqu’il serait en age, avec une jeune Esclave chinoise fort-laide, 8 qui ressemblait assés 4 un Guenon: il les avait élévés & accoutumés & jouer ensemble« (B III, 15). ‘Wie vorgeschen, befteunden sich die beiden; mehr aber passiert, zum Bedauern des Holliinders, nicht. Erst als er den beiden Versuchspersonen oe Menschenaffenweibchen zugesellt, komme das Experiment in cOwung: »le Singe-homme, frappé de cette nouvelle figure, sétant co- pulé avec elle dans la nouveauté« (B IIL, 15). Der mannliche Affenmensch kopulier also, von der Neuigkeit iiberwaltigt, mit dem Menschenaffen- bu chen; gezeuge wird dabei der Affe, der denn spiter den Brief schrei- ; ae Bei dessen Geburt ist der Vater von seinem »Fils dégénéré« ‘id ae degenerierten Sohn, allerdings derart entsetzt, dass ef vas me Sofort tten machte (was der Hollander verhindert). saa ale sich der Affenmensch wie vom Holkinder vorgeschen an die hinesin und zeugt mit dieser zwei weitere Kinder. ei is Ht nen pragmatischen und einen methodischen. 8 Mei ae Tae natn: Die Aen verftigen tiber all ihre urspriingliche Stirke, Aber nkt ist, dass der Affe, von dem hier die Rede ist, ein Mischling ist, der Enkel ei warde.e ¢iner malacanischen Brau und eines Pavians, von dem sie tiberrascht KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 301 Der pragmatische Weg besteht darin, dass man nicht selbst ein Ex- periment initiiert, sondern die Natur als grofes Laboratorium betrachtet, als waste laboratoires,? deren Experimente man nur zu beobachten braucht. Dass es sich bei dieser Strategie nicht einfach um die abseitige Idee eines Literaten handelt, zeigt ein Blick auf Cornelius Pauws Philoso- Phische Untersuchungen iiber die Amerikaner aus dem Jaht 1769, der in seinem Kapitel iiber den Orang-Utan auf die Vermutung zu sprechen kommt, »da8 der Albino wohl ein Mestize seyn kénnte, der von einem Pongo, und einer geilen, aber mit Gewalt geschwangerten Negerinn ge- bohren sey.«? Wenn es das Tier ist, dem sich die Gewale zuschreiben lisse, dann fallt Rousseaus moralischer Finwand aus, denn jedwedes Handeln kana nur aus dem Raum der Kultur heraus, nicht aber aus dem der Natur heraus nach ethischen Mastiben beurteilt werden. Die erste Méglichkeit, Rousseaus Blockade zu umgehen, besteht also darin, das amoralische Experiment in einen extramoralischen Raum zu iiberfithren. Schade nur, so sinniert Pauw, »da dieser Reisende, welcher bekennt, die Orangen hitten diese Afrikanerinn genossen, nicht weiter nachgeforscht hat, um zu erfahren, ob sie Folgen von ihrer Ueppigkeit gefiihlt habe.«" ‘Was bei Pauw unbeobachtet bleibr, das nimmt bei Bretonne als »Singe- hommes, als Affen-Mensch, Gestalt an. Damit ware, folgt man der Versuchsanordnung von Rousseau, zwar der Nachweis ; rbracht, dass ein Pavian und ein Mensch miteinander einen Nachkommen zeugen kénnen. Noch nicht erwiesen ist damit in- des, ob Pavian und Mensch nur zwei Vatietiten einer Art sind, denn es ist, mit Rousseau formuliert, »eine einzige Generation fiir dieses Experi- aa aussagekraftig, Der Anfang des Experiments lasst sich noch 1 auflermoralischen Raum der Natur abschieben; der Fortgang des oe hingegen bedarf — schon allein aus Wahrscheinlichkeits- E erst ; ines gezielten Eingriffes. Hier nun komme in Bretonnes a pi : — mégliche Reaktion auf Rousseaus ethischen Ein- imagine Suir ce tunesversuch 2um Tragen. Denn nun erst wid der Binéte Spieltaum absolut gesetzr, der auf thematischer Ebene durch 9 S02B, mic Blick a Shimique, ou veri Rouvel ordre, ‘omnelius Pa uf die Atmosphate Antoine Frangois de Fourcroy: Philosophie ités fondamentales de la chimie moderne, Disposées dans un Patis 1792, 14. Wichtige Reyarny, ilosophische Untersuchungen iiber die Amerikaner, oder ‘sischen dee eo, oeschichte des menschlichen Geschlechts. Aus dem Fran- les Herr von P*™* [Cornelius Pauw]. Zweyter Band, Berlin, 1769. [frz. Ersea Eh ee 1768/1769), 37 £. To 302 ROLAND BORGARDS die moralische Blockade erdffnet worden und der strulcturell in jedem Experiment als ars fingendi witksam ist. Der Punkt, an dem die ars fingendi aus einem konstitutiven Moment des Experiments zum allgemeingiiltigen Medium der Erzihlung avan- ciert, lsst sich bei Bretonne sehr prizise bestimmen, In der ersten Zeu- Sungsgeneration weicht Bretonne zunichst in keiner Weise von dem ab, was in der Histoire des Voyages zu lesen war: Pavian und Mensch produ- zeren zusammen ein »Mittelding« zwischen Mensch und Affe, das so- Wohl in der Histoire als auch bei Bretonne als »Monster« bezeichnet wird. In der Histoire indes behile dieses Monster seinen Platz in der zoologi- schen Ordnung, und zwar unter den Namen Orang-Utan oder Pongo. Bei Bretonne hingegen fallt das Monster als »Singe-hommec« aus der 200- logischen Ordnung heraus, Fiir dieses Wesen ist kein taxonomischer Ort mehr vorgeschen; es ist ausgestellter Maen ganz und gar fingiert. Und erst dieses fingierte Wesen wird nun in das Kreuzungsexperiment der zweiten Generation eingefiihrt. Ab nun ist alles Fiktion, Unterstrichen wird diese fiktionale Drift in der zweiten Zeugungs- generation dadurch, dass der briefschreibende César nicht das Produkt des Expetimentes, sonderm dessen Abfallprodukt darstelle, Denn eigent- lich will der hollindische Kaufmann den Affenmenschen mit einem Menschen kreuzen; und erst, als dies nicht so recht gelingen will, wird cin Affenweibchen ins Spiel gebracht. César ist also ein typisches Spin-off wissenschaftlicher Experimentierpraxis, Bretonnes Erzihlung unterstreicht den Unterschied zwischen cigentlichem Produlct und ungeplantem Spin- off insofern die beiden Kinder des Affen-Menschen und der Chinesin ae Kaufmann als Biirger etabliert werden (vétablit ces Enfanse, B III, 16), Dreiviertel-Affe César hingegen als Ware weiterverkauft wird, zuniichst an einen Australier, dann weiter an Bretonne selbst, der ihn schlieBlich ciner preichen Damec iberlisst, »uine Dame riche, qui aime fort, & qui ‘ic a a Son éducation, que j'avais commencée.« (B III, x6) In €rsion von Bretonne stésst das Kreuzungsexperiment zwischen pee aha als Spin-offcine literatische Fiktion an, die — wie man aoe oo kann ~ gerade in ihrer Fiktionslogik eng an das wis- — ‘periment selbst gebunden bleibt. eat ae vethalten sich in der Vorrede zur Lettre d'un Singe Wissen- a ten a zucinander? FolgendermaRen: Die Vorrede beginnt ete ee ttbehauprung (oréellement ecrite par un Singe”)s sait que) von der Gewale der Ath a ee a sites = Kreuzung zwischen he nund einem spezifischen ‘Wissen vol henge Wen en Mensch und Pavian, verwehrt dem hier entste- 7 nun seinen zoologischen Ort und bahnt damit einer sich KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 303 absolut setzenden ars fingendi den Weg, die dann vom komplex durch- gefiihrten Kreuzungsexperiment tiber dessen Abfallprodukt bis hin 2ur anschlieBenden Bildungs- und Liebesgeschichte immer uneingeschrink- ter zu walten scheint, Narrativ in Szene gesetzt wird damit der Ubergang vom Wissen zur Fiktion. Genau in die Mitte der erzahlten Ereignisse plavziert Bretonne das Kreuzungsexperiment, in dem sich mithin nicht aur Affe und Mensch kreuzen, sondern auch Fakt und Fiktion, Wissen- schaft und Literatur. Erst nach diesem Durchgang von der Wissenschaft zur Literatur, die sich im Experiment berithren und kreuzen, greift Bretonnes Vorrede in einer Volte auf den Duktus der ersten Saitze zurtick. Angekiindigt wird am Ende der Vorrede ein Anhang mit wissenschaftlichen Anmerkungen, der zum einen die Leser mit der wunderbaren Welt der Affen bekannt und zum anderen sichtbar machen soll, dass in dem Brief des Affen »starke Wahrheitens, »les vérités fortes« (B II, 17), enthalten sind. Damit istalso nicht nur eine Vorrede gegeben, sondern eine narrative Klammer gedfinet. Das Folgende, der Brief, ist als intradiegetische Erzahlung (als Binnenerzéhlung) zu lesen, die immer auf ihre extradiegetische Rahmung, bezogen bleibt. Die Abhiingigkeit der Binnenerzihlung von der Rah- ‘mung wird noch hervorgehoben durch ein System von Anmerkungs- vahlen, die immer wieder auf den auSeren Rahmen verweisen. _Diese massive Verschr’inkung von intra- und extradiegetischem Raum “eitigt zwei einander entgegenlaufende Effekte. Zum einen geht es gewiss darum, den Inhalt der Binnenerzihlung unter die Wahrheitsbedingun- gen der Rahmenerzihlung zu stellen, und das heift: den Brief des Affen und den Affen als Autor im Sinne der wissenschaftlichen Primissen als Wirklichkeit zu authentifizieren, Zum anderen jedoch sind die Anmer- npeahlen im Binnentext zugleich ein Anlass fiir die Umkehrung der icktichtung. Denn es lasst sich auch das AuRere (die Wissenschaft) un- i den Bedingungen des Inneren (der Literatu) lesen, Dementsprechend — sich in den Anmerkungen zwei Strategien nachzeichnen, die in Sein eee Richtungen weisen: die Fiktionalisierung auf der einen | “awissenschafdichung auf der anderen, Hien i orrede, so werden auch die Anmerkungen mit der Setzung cchtebg denne” Wissens cingeleitet. Verschiedene Tierarten kénnen, so ae unter Berufung auf die Naturwissenschaft, miteinander ileertain, 7 et Odes Etres mixtes«, B IV, 95): »[D]u-moins est- avee deg anes SPeCeS: méme celle de Homme, peuvent samalgamer a Gage a par la génération.« (BIV, 95) Und weiter im Gestus ie eit hei&t es: »{I]I est certain, que du commerce de I"Homme » H naft une race, quia Pusage de la parole.« (B IV, 96) Damit ist i i | 304 ROLAND BORGARDS cine erste wissenschaftliche Argumentationslinie vorgezeichnet, der die Anmerkungen im Weiteren folgen werden: Es gibt eine Menschen-Af- fen-Mischung; und diese Mischrasse ist sprachfahig. Die Anmerkungen selbst liefern fiir diese These Beweismaterial. Erzihlt wird deshalb von der Wollust der Affen (B IV, 104) beziehungsweise der »passion des ces Animaux pour les Femmes« (B IV, 110); ausgefiihre werden auch vollen- dete Kreuzungsszenarien inklusive zweier Nachkommen (B IV, 102). Nun bedienen sich die Anmerkungen noch einer zweiten Strategie, die Wirklichkeit eines Brief schreibenden Affen wissenschafilich zu beglau- bigen. Nicht erst die Affe-Mensch-Mischung, sondern schon die Affen selbst — oder zumindest doch diejenigen Affensorten, die dem Menschen besonders ahnlich sind ~ kénnen sprechen und schreiben lernen, und dies nicht im Sine eines leeren imitativen Verhaltens, sondern als echte Menscheneigenschaften, verfiigen sie doch erstens iiber »perfectibilité« (BIV, 97) (also das Rousseau-Kriterium), zweitens iiber »raisonnemente (BIV, 97) (also das Aristoteles-Kriterium des animal rationale) und drit- tens liber »sciencex (B IV, 97) (was sich zwanglos aus Perfektibilitét und Vernunftgebrauch ergibt). Entsprechend finden sich in den Anmerkun- gen unzihlige Affenbeschreibungen, die diese Tiere als dem Menschen ahnlich darstellen, und dies vom Kérper (B IV, 99 f., 104, 108, 115), fiber Technik (Waffen, B 104), Sozialitic (noch ein Aristoteles-Kriterium, B IV, 106, 107), Politik (B IV, 114) und Jurisdiktion (2.B. Todesstrafe, B 114) bis hin zum emotionalen Ausdrucksvermégen (B IV, m1, 112) und der Fahig- Keit, cine Sprache und selbst das Schreiben zu erlernen (BIV, 30). So gelesen bestitigen die Anmerkungen zuniichst einmal die Behaup- tung der Vorrede, dass der Brief eines Affen tatstichlich, »réellements, von cinem Affen geschrieben worden ist. Gleichwohl lisst sich auch eine ge- genliufige Tendenz nachzeichnen, in der die Anmerkungen selbst von fikttionalen Elementen durchsetzt erscheinen, Das gilt z.B. dort, wo nicht nur recht phantastisch anmutende Geschichten erzéhlt, sondern diese zudem explizit als »Vaventure (BIN, 101) eingefiihrt werden, als Aben- Kuergeschichte, als Seemannsgarn. Und dies gilt auch dort, wo det Monster-Diskeurs explizit in antike Mythologie riickiibersetzt wird — »Ce Singe est un Siléne« (B IV, 114) hei es einmal — oder in eine monstrBse ars combinatoria — erwihnt werden die anatomischen Kreuzungen des Affen mit dem Lowen (B IV, 128) und dem Fuchs (B IV, 129) — tiberfiibze Witd, womit zugleich die gesamte Diskursgeschichte der Erdrandsiedler® mit aufgerufen ist, 1 Vel. hierzu 2B, Rudolf Witekower: Allegorie und Wandel der Symbole, Kila 1984, 87-150 (»Die Wunder des Ostens, Ein Beitrag zur Geschichte der Unge- KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 305 Tl Wie lisst sich nun der poetologisch-epistemologische Raum beschreiben, in dem Rousseau und Bretonne ihre Kreuzungsversuche situieren? Mit Blick auf diese Frage fasse ich 2unvichst meine bisherigen Ausfihrungen zusammen: Das Wissen vom Affen erwigt im 18. Jahthundert drei verschiedene Miglichkeiten, den Orang-Utan bew. Pongo zoologisch einzuordnen: als Tier, als Monster oder als Mensch. Rousseau stellt die Beschreibungen des Pongos als Tier und als Monster mit methodologischen Argumenten in rages das Experiment bringt er genau dott ins Spiel, wo er seine eigene These — der Pongo ist ein Mensch — explizieren méchte. Allerdings un- terliege dieses Experiment zugleich einer zweifachen Negation: Es ist kein Perfeltibilitétsexperiment (in einer tiberraschenden Wende von der An- thropologie zur Zoologie), und es ist nicht durchfihrbar (weil Zoologie und Moral einander blockieren). In dieser Blockade liegt fiir Rousseau indes die Starke des Experiments; charakterisiert wird damit sowohl der epistemologische Status seines Wissens (ein Wissen mit starker These und schwachem Geltungsanspruch) als auch ein fundamentaler Grund- 2ug eines jeden wissenschaftlichen Experimentierens (das stets einer Poi- ¢sis, einer Fiktionslogilk, einer ars ngendi unterliegt). Bretonnes Lettre d’un Singe liest sich wie die literarische Ausarbeitung des so erdfneten Imaginationsraumes. Hier wird genau das durchge- fire, was bei Rousseau blockiert bleibt: ein Kreuzungsexperiment. Die literatische Ausarbeitung besteht dabei nicht einfach in dem Brief selbst, sondern vor allem im komplexen Textarrangement, in dem Vorrede, Brief und Anmerkungen ineinander verschriinke werden. Vorrede und Anmerkungen zielen dabei auf die wissenschaftliche Beglaubigung des- Sen, was mit dem Brief selbst geboten wird; zugleich treiben sie selbst ein offensichdliches Spiel mit chetorischen, narrativen und literarischen Por- men. Dies zeigt sich etwa in der Vorrede. Sic beginnt in einem ausgestellt Wissenschaftlichen Duktus und endet in einer dezidiert literarischen Ex- ‘ung; genau in der Mitte dieser Entwicklung von der Wissenschaft aur Literatur Platziert Bretonne sein Experiment, in dem sich mithin nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene Affe und Mensch, sondern aut siner formalen Ebene auch Wissenschaft und Literatur kreuzen. heuer); Alexander Perrig: Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nachkommen » Aspekte der mittelalterlichen Vélkerkunde, in: Thomas Koebner, Ger- tag Pickerod (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt aM. 2 31-87, 306 ROLAND BORGARDS Inhaltlich betrachtet zielen Rousseaus Discours und Bretonnes Lettre in unterschiedliche Richtungen: Der Discours méchte zeigen, dass der Pongo immer schon ein Mensch ist; die Lettre setzt den Fall, dass ein Affe mittels Ziichtung und Erziehung zu menschlichen Fahigkeiten gebracht werden kann. In formaler Hinsicht jedoch arbeiten Rousseau und Bre- tonne mit den gleichen Methoden und am gleichen Projekt: am Expeti- ment als Kreuzungspunkt von Literatur und Wissenschaft. Denn nicht erst bei Bretonne, sondern schon bei Rousseau wird die Narrativitit des verhandelten Themas nachgerade ausgestellt. Andauernd wird erzihle, berichtet, beschrieben. So heiftt es 2.B. cinmal: »Die Neger erzihlen son- derbare Geschichten iiber dieses Tier.« (R 331) Zudem werden diese Er- zéhlungen in narrativen Verschachtelungen prasentiert. An der zitierten Stelle etwa erzihlen nicht einfach die Eingeborenen, sondern zitiert Rousseau den Abbé Antoine Francois Prevost, der wiederum den Englin- der John Green iibersetzt, der seinerseits den hollindischen Arat und Geographen Olfert Dapper zitiert, der wiederum die »sonderbaren Ge- schichten« der Ureinwohner und der europaischen Reisenden nacher- zahle: »Dieses Tier [...] ist dem Menschen so ahnlich, da einigen Rei- senden in den Sinn gekommen ist, es kénnte von einer Frau und einem Affen stammen: Eine Chimie, die selbst die Neger von sich weisen.« (R 329) Auf diese Weise schaltet Rousseau zwischen die Tatsache einer Affen-Mensch-Kreuzung und den Leser insgesamt fiinf texcuelle Vet- mittlungsebenen. Diese Kreuzung ist damit nicht nur eine Chimére im Sinne eines (naturwissenschaftlichen oder mythologischen) Mischwesens zwischen Mensch und Tier, sondern auch im Sinne eines Trugbildes oder Hirngespinstes, in dem die realen und imaginaren Anteile ununterscheid- bar ineinander iibergehen. In narratologischer Perspektive haben die Erzihlungen der Eingebore- nen und der Reisenden bei Rousseau einen ahnlichen Status wie der Affenbrief bei Bretonne: Es sind intra-, meta- oder gar metametadiegeti- sche! Erzihlungen. Solche narrativen Verschachtelungen thematisieren stets den Akt des Erzihlens selbst und machen dadurch das Erihlte als dessen Produkt kenntlich. Dies gilt nicht nur fiir Rousseau und Bre- sae sondern fast immer, wenn im 78, Jahthundert von der méglichen oder unméglichen Kreuzung zwischen Affe und Mensch die Rede ist. Die Intensitit indes, mit der sowohl Rousseau als auch Bretonne das 13 Bei Rousseau gibt es alle diese Vermitt die Differenz zwischen intra- Vorrede von Joly (B III, 2-12) schen Eraahlebene, lungsstufen, bei Bretonne gibt es durchweg und extradiegetischem Erzthlen, nimmet man die hinzu, dann wird der Brief selbst 2ur metadieget= KREUZUNGSVERSUCHE BEI ROUSSEAU UND BRETONNE 307 Erzahlte aus dem Erzihlen hervorgehen lassen, hat Methode und lasst sich seinerseits als eine Versuchsanordnung beschreiben: Rousseaus zehnte Anmerkung und Bretonnes Brief eines Affén sind selbst Experi- mente (und zwar literarische), deren Gegenstand wiederum Geschichten, Erz3hlungen, Berichte sind. Experimentiert wird bei Rousseau und Bre- tonne eben nicht mit Affen und Menschen, sondern mit Erzahlungen, die ihrerseits von Affen und Menschen handeln. Diese Arbeit am ge- meinsamen Projekt wird noch dadurch unterstrichen, dass Rousseau und Bretonne jeweils die gleichen wissenschaftlichen Texte benutzen und dass sie dies zudem auf vergleichbare Art und Weise tun: Sie zitieren, kom- mentieren, montieren, kompilieren, kurz: Sie atbeiten aktiv mit ihren Vorlagen und entwerfen dabei Experimentalanordnungen, in denen ‘Texte unterschiedlicher Disziplinen (Reiseliteratur, Zoologie, Anthropo- logie usw.) miteinander gekreuzt werden. Die Fiktionslogik des Experi- ments wird so durch eine Experimentallogik der Fiktion komplettiert. Um es abschlieBend auf eine These zu bringen: Kreuzungsexperimente zwischen Affe und Mensch sind immer auch Kreuzungsexperimente 2wi- schen Wissenschaft und Literatur. Diese These ist allerdings dringend mit einer historischen Einschrinkung zu verschen. Denn die Kreuzung von Literatur und Wissenschaft setzt deren Trennung voraus, und diese wird erst im 18, Jahrhundert in Szene gesetzt. Zuvor ist das Experiment schlicht einer der méglichen Beriihrungspunkte awischen Literatur und Wissenschaft. Erst im Zuge der disziplinaren Ausdifferenzierung gewinnt das Experiment fiir den Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft an Bedeutung, insofern es nun als strukcureller Indifferenepunkt in Spannung zur pragmatischen Differenzierung gerat. Genau fiir dieses Zusammenspiel von Indifferenz und Differenzie- rung bietet nun das Krewzungsexperiment einen paradigmatischen Fall. Denn in einer Kreuzung werden die gekreuzten Terme zusammenge- bracht und zugleich als auseinander stehende vorausgesetzt. In dem his- torischen Augenblick, in dem sich Wissenschaft und Literatur in einem modernen Sinn voneinander zu unterscheiden beginnen, also an dem Ort, an dem der historische Einsatepunkt fiir die Frontstellung der so genannten »zwei Kulturen: liegt, etabliert sich mithin als subversives Ge- genmodell das Affen-Mensch-Kreuzungsexperiment, in dem die beiden auseinander driftenden Reiche Literatur und Wissenschaft aufeinander bezogen bleiben, und dies in dreifacher Hinsicht: zuntichst einmal, in- sofern das Experiment im Allgemeinen stets ein Bewohner beider Welten ist, der wissenschaftlichen wie der literatischen; sodann, insofern alle ‘uzungsexperimente (was auch immer da gekreuzt wird) die Méglich- keit in sich tragen, Inhalt und Form der Kreuzung miteinander ins Spiel 308 ROLAND BORGARDS zu bringen; und schlieSlich, insofern der Kreuzungspunkt awischen Mensch und Affe ein ausgezeichneter Punkt des Nicht-Wissens darstellt und es genau dieses Nicht-Wissen ist, das die grundstindige Fiktions- logike des Experiments forciert und den Menschen-Affen-Eraahlun- gen bis heute ~ von denjenigen des Primatenforschers Frans de Waal bis zu denen des Thriller-Autors Michael Crichton’ — einen besonderen Schwung verleihe. %4 Vel. Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wit sind, wie wir sind, Miinchens Wen 2006 (Fd. We: Our Inner Ape. A Leading Primatologise Explains Why We ‘Are Who ‘We Are, New York 2003), 35 Vgl. Michael Crichton: Next, Miinchen 2006 (M. C.: Next, New York 2006).

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