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Vom Infamen

oder:
Die ›anderen Saiten‹ der forensischen Psychologie
Eine ethische Foucaultiade

Dr. Ulrich Kobbé


Vom Infamen
Vom Infamen

Diese Foucaultiade
• als ein Versuch, das psychologische Instrumentarium
zuzuspitzen und in ihrer forensischen Praktik auf den Punkt
zu bringen,
• als Frage nach der ethischen Selbstautorisierung und
Selbstlegitimierung der forensisch-psychologischen
Wissenschaft,
• als Untersuchung der Wahrheitseffekte psychologischer
Wissenschaft auf ihre Machteffekte hin.
Vom Infamen

Paradoxie einer forensischen Denk- und Legitimationsfigur:


An den Gefährlichkeits- und Prognosediskursen wird drastisch deutlich,
• dass die forensischen Wissenschaften diesen ekelhaften, aus der
sozio-symbolischen Struktur des Sozialen herausfallenden Exzess der
– in der Straftat ›materialisierten‹ – Gefährlichkeit zwar bekämpfen
müssen, weil die Gesellschaft durch dieses externalisierte Fragment
bedroht wird,
• dass dieselben Wissenschaften dieses Symptoms zugleich aber
bedürfen, weil ihre eigene Existenz von deren Persistenz abhängt.
Vom Infamen

Foucault (1976, 102)


»Es ist eine Illusion zu glauben, der Wahnsinn – oder die
Delinquenz oder das Verbrechen – spräche zu uns aus einer
absoluten Äusserlichkeit heraus.
Nichts ist unserer Gesellschaft stärker innerlich, nichts ist den
Wirkungen ihrer Macht stärker innerlich als das Unglück eines
Wahnsinnigen oder die Gewalttätigkeit eines Kriminellen. Mit
anderen Worten, man ist immer im Inneren. […]
Man versetzt die ›Wahnsinnigen‹ ins Draußen der […] Monstrosität.
Und doch sind sie im Netz gefangen, formen sich und funktionieren
in den Diskursen der Macht.«
Vom Infamen

Es entsteht jene forensische Psychologie,


• deren Nosologie der Geisteskranken sich in einem
Klassifikationsunternehmen verrannt und verloren und
‚Objektivität’ dergestalt fetischisiert hat,
• dass sie ihre Wissenschaftsidolatrie mit mathematisch-
statistischem Design verbrämen muss,
• anstatt sich den existentiellen Fragen des Subjekts zu
stellen.
Vom Infamen

Foucault (1974, 671)


die Analyse des psychologischen Diskurses impliziert die Achsen
(1) des Sprachspiels,
(2) des strategisch-polemischen Spiels,
(3) des subjekttheoretischen Spiels.
Vom Infamen

Foucault (1977, 330)


Bei dem Diskurs der Qualifizierung (und Disqualifizierung)
des ›gefährlichen‹ Subjekts handelt es sich
• um einen Diskurs der Infamie,
• um einen Diskurs, der das Subjekt nicht nur als infam,
als unerträglich schamlos-unverschämt, bösartig,
durchtrieben, kalt und ruchlos etikettiert und diese Fama
wieder und wieder kolportiert,
• sondern der dieses Subjekt als gleichermaßen infim, als
menschlich niedrig, mickrig, zuunterst und minderwertig
diskriminiert.
Vom Infamen

Radikalisierte Fragen an die – forensische – Psychologie:


• In welcher Senkgrube multivariater Statistik,
• durch welche Falltür abstrahierender Kohortenanalyse,
• hinter welchen Simulakren geschwätziger, aufdringlicher Fach-
diskurse mit ihren mehr verschleiernden denn offenlegenden
Sprachspielen des Wissenschaftsjargons
werden die marginalisierten Subjekte mit ihrer prekären Dynamik
auf Distanz gehalten, aus dem Bewusstsein entsorgt und/oder zu
Objekten der Wissenschaft modelliert?
Vom Infamen

Modell des forenisch-psychologischen Diskurses


Vom Infamen

Foucault (1962, 266)


Forensische Psychologie
• als undefiniert-eklektische Praktik
innerhalb eines vielgestaltigen und
demzufolge wenig konturierten
Arbeitsfeldes mit unklar formulierten
und uneindeutig legitimierten
Arbeitsaufträgen;
• als eine an der pragmatisch ausge-
richteten Kriminologie orientierte Form
technischer und objektivierender
Kontrolle.
Vom Infamen

Die Stellung des Subjekts


… im idealtypischen psychotherapeutischen Diskurs:

• Ein Subjekt, auf das sich das Begehren des


anderen – des Therapeuten – richtet.

• Ein Wissen, das dem Therapeuten


unterstellt wird … und das ihm unterstellt ist.
Vom Infamen

Die Stellung des Subjekts


… im Diskurs der Wissenschaft bzw. der Universität:

• Ein totalisiertes Wissen, das über Sinn- und


Bedeutungssysteme dominiert.

• Objektivität als fetischisiertes Ideal: Das Subjekt


als Restgröße in untergeordneter Position.
Vom Infamen

Die Stellung des Subjekts


… im Diskurs des Gebrauchswerts, sprich, des Marktes:

• Ein Subjekt (der Konsumption), das sich an den


anderen auf dem Platz der Produktion richtet.

• Ein Subjekt, das sich anmaßt, über Sinn- und


Bedeutungssystemen zu stehen.
Vom Infamen

Foucault (1981, 248)

Es müsse darum gehen, die Psychologie aus der Nähe zur Medizin und
zu den medizinische Institutionen, mithin auch aus der Umklammerung
durch und Unterwerfung unter die forensische Psychiatrie und
vollzugliche Institutionen des Maßregel- und Strafvollzugs zu lösen, da
diese Wissenschaft dort anstelle einer Theorie des Subjekts lediglich eine
Ideologie des ›Infamen‹ mit Techniken der Normalisierung von Verhalten
vorfinden können.
Vom Infamen

Foucault (1974, 825-626)


Schon der Begriff der ›Gefährlichkeit‹ ist kein psychologischer Begriff:
Er findet sich auch »weder im Recht noch in der Medizin«.
î Das heißt, er ist weder ein juristischer noch ein psychiatrischer oder
psychologischer, allenfalls ein kriminologischer Begriff, im Grunde aber
ein »disziplinarisches« Konzept.
Entsprechend haben gesellschaftliche Institutionen – z. B. des
Gefängnisses – Termini technici wie den der ›Gefährlichkeit‹
hervorgebracht, »die zunächst ganz empirisch angelegt waren und die
nun auf doppelte Weise unantastbar geworden sind,
î einerseits durch einen psychiatrischen […] Diskurs, der sie aufnimmt,
also scheinbar wissenschaftlich [werden lässt], und
î andererseits durch die juristische Wirkung, die sie haben, weil sie es
sind, in deren Namen man jemanden verurteilt.«
Vom Infamen

Foucault (1972, 399)


»Entweder deckt der psychologische Diskurs die Wahrheit dessen auf,
was die Gerichtspraxis blind vollzog […] oder aber man betreibt eine
Analyse in rein relativistischem Stil und geht davon aus, dass das
Rechtliche und das Psychologische zwei Lesearten ein und desselben
Phänomens sind, ohne dass das Psychologische besser begründet wäre
als das Rechtliche.«

Es muss daher darum gehen,


• einen eigenständigen psychologischen Diskurs zu verwirklichen,
• eine pluridisziplinäre Strategie des ›doppelten Diskurses‹ (Devereux) zu
verfolgen,
• dabei das Spezifische der jeweiligen Wissenschaft zu erhalten, anstatt
diese interdisziplinär zu verwässern,
• darin das Subjekt in seinen Facetten adäquat(er) zu repräsentieren.
Vom Infamen

der forensischen Psychologie anderen Saiten aufzuziehen …


… hieße, eine diskursive Knotenstruktur einzufordern

Medizin
Psychologie
Rechtswissenschaft
Kriminologie

Soziologie
Sozialwissenschaft
Pädagogik
Philosophie
Vom Infamen

Wenn Psychologie einem kritischen Anspruch gerecht werden will,


müsste sie
• – analog zur Logik des Wahnsinns – eine allgemeine
›Verrücktheit‹ der Menschen in der Kultur zu ihrem zentralen
Thema erheben,
• die Subjektivität der marginalisierten Subjekte zum Thema
machen.

Dies erfordert keineswegs,


• eine der Objektivität gegenüberzustellende Erkenntnisweise zu
entwickeln oder
• das Tätersubjekt zu dekonstruieren oder
• ›Gefährlichkeit‹ zu ignorieren oder Taten zu banalisieren.
Vom Infamen

Sondern:
î Weil wissenschaftliche Erkenntnis von ihrer Struktur her prinzipiell
›ethopoietisch‹, also in der Lage ist, Ethos zu produzieren, kann
und muss ihr dies auch i. S. einer Sorgeethik für das verfemte,
verworfene, paradoxe Subjekt abgefordert werden.

Dieser Anspruch zielt darauf,


• den Begriff des Subjektiven so zu ›historisieren‹, sprich, in seiner
lebensgeschichtlichen Besonderheit dergestalt zu konkretisieren,
• dass ein als ›ethisch‹ zu bezeichnendes forensisches Subjekt
aufscheinen könnte.
Vom Infamen

Foucaults Kritik:
Allzu sehr meide der forensisch-psychologische Diskurs den Boden, auf
den er sich stützen könnte:
î das Subjekt als ein weder parodiertes noch diffamiertes, sondern als
ein ethisches Subjekt.
Allzu unkritisch münde objektivierende Forschung, führe der analytische
klinische Blick des forensischen Psychologen in einen reduktionistischen
Diskurs über ‚den‘ Täter.
Als ein artifiziell-prototypisches Tätersubjekt riskiere dieses, nur noch als
Schnittpunkt zwischen gefährlichen Handlungen, die der präventiven
Regelung bedürfen, und normativ-prophylaktischen Regeln für das, was
getan werden sollte, begriffen zu werden.
Vom Infamen

Eine ›Historisierung‹ des Subjektiven mit einer Beachtung des


konkreten Subjekts basiert für Foucault auf einer besonderen
Ethik der Anerkennung.

›Anerkennung‹ beruht dabei


• keineswegs auf irgendeiner herausragenden Eigenschaft dieses
Subjekts,
• sondern ganz im Gegenteil auf einem fundamentalen Mangel,
der die Existenz dieses Subjekts definiert.
Vom Infamen

Margalit (1999)
»Noch die übelsten Verbrecher verdienen Achtung allein aufgrund
der Möglichkeit, dass sie ihr vergangenes Leben radikal in Frage
stellen und den Rest ihres Lebens auf würdige Weise verbringen
könnten.
Achtung ist dem Menschen nicht dafür zu zollen, in welchem Grad er
sein Leben tatsächlich zu ändern vermag, sondern allein für die
Möglichkeit der Veränderung.
Achtung bedeutet daher auch, niemals jemanden aufzugeben, da
alle Menschen fähig sind, ihrem Leben eine entscheidende
Wendung zum Besseren zu geben.«
Vom Infamen

Cave!
• Was die ›Wahrheit‹ des
Subjekts beinhaltet,
• was Subjekte zu Menschen
macht,
• was ihr Potential an
menschlicher Freiheit ausmacht,
Wird in forensischen – und in
anderen wissenschaftslastigen
– Situationen zum Störfaktor …
Vom Infamen

Das heißt, der von forensischen Psychologen oftmals ausgesparte


subjektpsychologische Wissenschaftsdiskurs beträfe mit Foucault
folgende Frage- und Infragestellung:
î Welche Transformation erfahren Psychologen als Wissens- und
Erkenntnissubjekte
• durch die Konstitution ihres Wissens?
• durch die Konfrontation mit Taten und Tätern?
• durch die Mechanismen der Institutionen ›Strafvollzug‹ oder
›Maßregelvollzug‹?

Denn: Institutionen des Freiheitsentzugs – wie jede andere Institution auch –


• organisieren ihren eigenen Diskurs,
• privilegieren ihre jeweiligen Themen, Denkge- und –verbote
• oktroyieren spezifische Praxen,
denen jeder forensische Psychologe (mehr oder weniger) verfangen bleibt.
Vom Infamen

Thematisierung und Untersuchung dieser Transformation


• hieße, sich als kantianisch aufgeklärtes Subjekt in Beziehung
zu sich selbst zu setzen,
• entspräche nicht nur Foucaults sorgeethischem Konzept einer
Reflexivität von sich auf sich,
• sondern muss als Modus der Selbstkonstituierung zugleich
radikalisiert werden:
î Zu welchem Preis kann das Subjekt die Wahrheit
über sich selbst sagen?
Vom Infamen

Ich danke
für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!

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