Professional Documents
Culture Documents
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Summary
Wenn es also darum geht, vergangene Ereignisse immer weiter zu resub- „Hier beginnt ein Sprechen über die Taten, und auch das Unerträgliche des Hörens,
jektivieren, sich erinnernd zu ver-innerlichen, so handelt es sich um etwas denn zuerst werden die Taten meist lapidar und nebensächlich dargestellt und es ist
definitiv anderes als eine detailgenaue Rekonstruktion des Tatgeschehens, schwierig, nicht darauf zu reagieren, sondern das Gesagte erst einmal im Raum
um ein dem tatortanalytischen Ansatz der Auswertung objektiver, subjekt- stehen zu lassen. Nur bestimmte Wörter aufzugreifen und ein weiteres Sprechen zu
unbezogener Tatbestandsmerkmale geradezu entgegengesetztes psychothe- ermöglichen, um eben nicht durch Entrüstung und Gegenargumente" einen verbalen
Schlagabtausch zu beginnen, sondern Augenblicke zu ermöglichen, in denen „das
rapeutisches Vorgehen. Denn diese „Kriminalpsychologie" nimmt für sich
immer gegenwärtige routinierte, leere Sprechen durchbrochen wird und das Gespro-
„die Möglichkeit" in Anspruch, „anhand einer abgeschlossenen Tatortana-
chene in seiner Zweideutigkeit überrascht" (Schwaiger 2003, 40-41).
lyse die Dynamik eines Verbrechens und damit die darunter liegenden Be-
dürfnisse des Täters zu erkennen", um über „derartig definierte Merkmals-
Gerade indem kriminalistisch orientierte Therapeuten „das Verbrechen mit
cluster [...] neue Erkenntnisse bei [...] den einzusetzenden Therapiemög-
all seinen grauenvollen Details" beweisführend präsentieren und mit der
lichkeiten [zu] bieten" (Müller 2002). Doch das Indizienparadigma der
Begründung, die Tat „gehöre [...] zur Persönlichkeit des Täters" (Klingst
Tatortanalyse verfehlt innerhalb forensischer Behandlungen und dort in
2003, 3), als objektivierbares Charaktermerkmal festlegen, nutzt diese kri-
seiner Konzentration auf objektive Fakten das Subjekt der Tat vollends.
minalistische Praxis die - „Scheußlichkeiten" der - Tat als Dreh- und An-
Nicht aus dessen unbewusster, subjektiver Wahrheit wird nunmehr dabei
gelpunkt so genannter Therapie. Anstatt sich jenes Subjekt zum Ausgangs-
versucht, die affektive Logik, die Beziehungsdynamik, den - bewussten wie
punkt forensisch-psychotherapeutischer Erkenntnis zu machen, „welches
unbewussten - ,Sinn' zu erschließen, sondern es soll in der Tradition na-
die (Natur-)Wissenschaft um der Objektivität willen auszuschalten bemüht
turwissenschaftlich-deterministischer Faktenanalyse mit linearem Abfolge-
ist" (Gondek 2001, 133), bedeutet tatortanalytisches Vorgehen, „dass die
modell etwas verobjektivierend konkretisiert werden, das innerhalb der
Tat stärker ins Zentrum von Therapie [...] rücken muss" (Klingst 2003, 3),
physikalischen Gegebenheit nicht zu erfassen ist: Außerhalb des „Profi-
dass die Behandlung also vom Täter und dessen Subjektivität abrückt und
ling" im Kontext von Täterfahndung und -Identifizierung verliert diese
dass Behandler ihre (scheinbare) wissenschaftliche Rationalität - wie bei-
Methodik gerade im forensisch-psychotherapeutischen Feld jedwede Be-
spielhaft an Begrifflichkeiten der „Scheußlichkeiten", des „Bösen" ablesbar
rechtigung, da objektiv(ierend)e Wissenschaft „nicht in der Lage sein
- zur Verwirklichung moralischer Maßgaben, sprich, irrationaler Behand-
[kann], meine .objektive subjektive' phantasmatische Identität, diesen ob-
lungsmaxime einsetzen. Denn: Das Postulat einer ,objektiven Realität' des
jektalen Kontrapunkt meiner Subjektivität, [zu] formulieren" («i«ek 1998,
Tatgeschehens und der Tatmotive schafft ein paradoxes Apriori, das in
47). Das heißt, die naturwissenschaftlich auf den Fetisch „Objektivierung" /
seiner unmöglichen' Objektivität zum objekthaften Korrelat des Subjekts
„Objektivität" fixierte Wissenschaft „produziert ein Wissen ohne Wahrheit,
70
WsFPPlOJg. (2003) H.2 WsFPP lOJg. (2003) H.2 71
mutmaßlich besseren - Korrektur des bisherigen, unabgeschlossenen Le- „Geständniskultur" (Foucault) - der Beichte, des Geständnisses, der Anam-
bensentwurfs, annimmt (Kobbe 2003b). Dies „nicht, weil es immer noch nese - angelegten Gesellschaft ohnehin gefordert wird. Verwirklicht werden
eine Zukunft geben wird, die vom Subjekt nie ganz einzuholen sei, sondern muss diese geschichtliche Dimension des Subjekts als seine immer neu zu
weil jeder Versuch des Subjekts, seiner Geschichte habhaft zu werden, diese erreichende Kontextualisierung, als eine instituierende Integration in eine
aufspalten muss in eine Vergangenheit, die ihm immer noch bevorsteht, gemeinsame historische, soziale, kulturelle und symbolische Intersubjekti-
oder genauer: bevorgestanden haben wird. Demnach bestimmt sich die vität des Diskurses.
,lebendige Gegenwart' (Husserl) des Subjekts als ein Brennpunkt, dessen
Wirklichkeit nur eine antizipierte Nachträglichkeit sein kann" (Weber 1978, „Es darf [...] nicht der Eindruck entstehen, dass es [...] so etwas wie einen Moment
12). Der Bezug auf die bei Husserl angelegte, von Derrida ausgearbeitete gab, der die Wende vom leeren Sprechen (also dem Schlagabtausch) zum subjektiv
Phänomenologie der Geschichte beinhaltet nicht nur einen ebenso gesell- unbewussten Assoziieren markiert hätte. Ganz im Gegenteil ist in jeder Sitzung die
schaftlich-historischen wie individuell-lebensgeschichtlichen Aspekt, son- Routine omnipräsent und lässt sich nur durch ein genaues Hinhören, Akzentuieren
eines Wortes oder eben Versprecher und Fehlleistungen durchbrechen. Das Ritual
dern zugleich führt diese Ungleichzeitigkeit der Gegenwart mit sich selbst
der wöchentlichen Zusammentreffen gibt die Sicherheit, dass ein weiteres Sprechen
zu erkcnntnistheoretischen Fundierungen von ,Differenz' und ,Identität':
möglich sein wird, aber schützt nie vor dem routinierten Gerede, das in einer totalen
Institution wie dem Gefängnis [oder der Maßregelvollzugsklinik]* besonders ausge-
„Damit aber die Zukunft in der Gegenwart ,angekündigt' und die Vergangenheit in prägt ist. Und es garantiert eines nicht, was gegenwärtig als Signifikant zum Güte-
ihr ,einbehalten' ist, muss diese Gegenwart nicht bloß gegenwärtig sein: Sie muss siegel für jede Therapie erhoben worden ist: Qualitätssicherung, denn die Qualität
zur gleichen Zeit auch schon vergangene und noch zukünftige Gegenwart sein. Dank des Sprechens ist eine nachträgliche, die sich jeder ihr vorausgehenden Sicherung
dieser noch gegenwärtigen Vergangenheit und dieser schon gegenwärtigen Zukunft radikal entzieht" (Schwaiger 2003, 43).
wird die Vergangenheit als solche für uns die nicht mehr gegenwärtige Gegenwart
sein, und die Zukunft wird seit jeher und auf immer die Gegenwart gewesen sein,
Erst diese Form diskursiver Selbstbefragung und Selbstakzeptanz ist Vor-
die noch nicht gegenwärtig war" (Descombes 1981, 169).
aus-Setzung für die Antizipation einer Zukunft, für die Vorstellung einer
Lebensperspektive als Projektion des Selbst aus der zur Vergangenheit
Indem Zeit auch ,invers' ablaufend als Nachträglichkeit und als Vorweg-
werdenden Gegenwart in die Zukunft. Insofern ist eine ,lebendige Gegen-
nahme erlebt werden kann, existiert subjektiv kein linearer Zeitbegriff:
wart' des Subjekts nur in einer Sprachbeziehung, nur in der intersubjektiven
Bedeutsam sind nicht die realen Abfolgen oder Abläufe von Ereignissen,
Nachträglichkeit einer forensischen Therapie möglich, innerhalb derer sich
sondern die Art und Weise, wie diese vom Subjekt als „gegenwärtige Syn-
these der Vergangenheit" erinnert und gegenwärtig via Geständnis, Anam- der Patient
• die Vorstellung der eigenen Alterität imaginativ, projektiv-identifi-
nese und/oder therapeutischer Erinnerungsarbeit retrospektiv „historisiert"
werden (Lacan 1954). In diesem Sinne arbeitet sich das forensische Subjekt katorisch - wieder-an-erkennend - aneignet und
• diese symbolisch-identifikatorische (Re-)Introjektion vornimmt, um ein
an einer Art „Zeitschleife" (•i'ek) ab, die nicht nur eine existentiell fundie-
rende Struktur des Unbewussten darstellt, sondern auch impliziert, dass solcher zu werden wie ...
(s)ein Delikt als Wiederkehr des Verdrängten seine Bedeutung mitunter
nicht als verdrängtes Trauma der Vergangenheit erhält, sondern „seinen Das bedeutet, „in einer merkwürdigen Zeitform, die einem einholenden
Wert erst in der Zukunft, durch seine symbolische Realisierung, (durch) Zurücklaufen entspricht" (Widmer 1990, 43) und den formelhaften Impera-
seine Integration in die Geschichte des Subjekts annehmen wird" (Lacan tiv Freuds , Wo Es war, soll Ich werden' aufgreift, hat das bewusste, sprach-
1954,251). liche Subjekt seine unbewussten Eigenschaften zu artikulieren.
Folgt man diesem subjekttheoretischen Modell, so impliziert die Arbeit mit
Rechtsbrechern als solches prinzipiell keine psycho(patho)logischen Beson-
derheiten, sondern es akzentuiert lediglich die ohnehin immer wieder zu
leistende Selbsthistorisierung des Einzelnen, wie sie in der strukturell als
Dabei erweist sich selbst der geforderte Gehorsam dem Gesetz gegenüber Freiheit im Begehren
nicht als intrinsisch motiviert, sprich weder als ,natürlich' noch als spontan,
sondern als ein Gehorsam aus pathologischen' Gründen, denn: Doch diese Aspekte der (Un-)Freiheit sind im Allgemeinen nicht bewusst:
Sie klaffen lediglich situationsabhängig auf, lassen sich in diesem Moment
Dieser Gehorsam ist „immer schon durch den Wunsch (und dessen Verdrängung) jedoch nicht im Sinne eines objektivierbaren Faktums be-greifen. Vielmehr
vermittelt, das Gesetz zu überschreiten. Wenn wir dem Gesetz gehorchen, ist dies
erweist sich das Unbewusste als „gewissermaßen permanent in Verzug"
Teil einer verzweifelten Strategie, gegen den Wunsch, das Gesetz zu überschreiten,
(Pagel 1991, 133) und ist das ,Aufspringen' dieses Brennpunkts der
anzukämpfen, so dass wir, je rigoroser wir dem Gesetz gehorchen, umso mehr
die Tatsache bezeugen, dass wir tief in uns den Druck des Wunsches empfinden, uns (Selbst-)Erfahrung mitnichten eine Aktualisierung als Wiederholung einer
der Sünde hinzugeben. Das Über-Ich-Gefühl der Schuld ist daher berechtigt: Je abgeschlossenen - und lediglich , vergessenen' - Vergangenheit. Denn diese
mehr wir dem Gesetz gehorchen, umso schuldiger sind wir, weil dieser Gehorsam in Wiederkehr des Verdrängten ist Effekt eines Sprechens, das Antworten
Wirklichkeit Abwehr unseres sündigen Wunsches ist und im Christentum der „evoziert" und das Subjekt erst dadurch „als Subjekt konstituiert" (Lacan
W u n s c h (die Absicht) zu sündigen, der Tat gleichkommt. (...) Diese christliche 1971, 181). Der Begriff , Wiederholung' ist dabei insofern irreführend als
Über-Ich-Haltung kommt vielleicht am besten in einem Vers T. Eliots Mord im Dom diese im Grunde eine imaginäre Reintegration von etwas beinhaltet, das -
zum Ausdruck: ,Die höchste Form des Verrats: Das Richtige aus dem falschen ohne Wissen des Subjekts - erst in der Gegenwart gelebt und als Wieder-
Grund zu tun.' Auch wenn du das Richtige tust - tust du es nur, um der niederträch- holung verkannt wird (Lacan 1954, 177), denn diese , Wiederkehr des Ver-
tigen Schändlichkeit seiner wahren Natur entgegenzuwirken und sie so zu verber- drängten' kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern kommt aus der
gen" (n-ek 2000, 33-34).
Zukunft:
In seinem Begehren nicht nachzugeben, heißt demzufolge, konform dem „Sie stellt eine Bewegung dar, die das Vergangene überschreitet, indem sie eine -
eigenen Begehren zu handeln, „nicht länger in die ,morbide' Dialektik mit wenn auch ,kurze und begrenzte' Schleife in die Zukunft zieht. Und aus der Krüm-
dem Gesetz verwickelt zu bleiben" und die Treue gegenüber dem eigenen mung in die Zukunft kommt sie auf die Gegenwart zurück. In dieser Schleife aber
Begehren zur Freiheit einer ethischen Pflicht zu machen («i«ek 1998, 147). eröffnet sich die Perspektive eines ,Es wird gewesen sein', in der die Vergangenheit
Der Begriff der Freiheit des sich ,frei' entscheidenden Subjekts, „diese als .antizipierte Nachträglichkeit' anklingt. Was bei diesem Vorgang bezüglich der
Illusion einer psychischen Freiheit" (Freud 1917, 42), sich so oder anders zu Geschichtlichkeit des Subjekts verwirklicht werden kann, ist nicht die abgeschlosse-
entscheiden und/oder zu verhalten, läuft auf die Notwendigkeit der Unter- ne Vergangenheit dessen, was war (weil es nicht mehr ist), auch nicht das Perfekt im
scheidung zweier unterschiedlicher Aspekte hinaus: Auf die Differenz einer Sinne einer immer schon vollendeten Gegenwart, sondern die zweite Zukunft des-
Freiheit, die das Gegenteil von Unfreiheit ist, und der, die sowohl Freiheit sen, was ,es für das gewesen sein wird, was zu werden es im Begriff steht'" (Pagel
1991, 134).
als auch die Unfreiheit der Notwendigkeit aufrechterhält. „Und erst daher
ist die Konstitution des Subjekts als ethisches Subjekt möglich, die Konsti-
Dieses ethische Subjekt ist also „das (fiktionale) Subjekt, das sich am Ende
tution, die auf der Überschneidung zweier Mängel beruht (Zupan«i» 1995,
eines inszenierten Zweifelsprozesses durch die Gewissheit seiner selbst als
51):
denkend ermächtigt fühlt, auch über objektive Wahrheit zu entscheiden"
• des Mangels des Subjekts, seinem Mangel an Freiheit auf der Ebene der
(Gondek 2001, 133). Ziel dieser erinnernden Wiederholung ist nun somit
erzwungenen Wahl, deren Resultat die „psychologische Freiheit" des
aber keineswegs ein Verantwortlich-Machen mit dem Effekt der Übernah-
sich autonom wähnenden Subjekts ist, und
me von Verantwortung, denn dies geriete zu einem „Akt von leerem Nar-
Wenn man es mit zwei Prinzipien und einer Prämisse formuliert, lässt sich Kant hier * Einfügung des Verfassers UK
wie folgt verstehen:
Prinzip 1: Ab esse ad passe valet consequentia: Vom Sein darf man aufs Können
schließen; Fußnoten
Prinzip 2: Ultra passe nemo obligatur. Übers Können hinaus wird niemand ver-
pflichtet, bzw. wenn ich etwas nicht kann, bin ich nicht dazu verpflichtet; 'Da auf Deutsch vorliegende Übersetzungen der Texte Lacans zum Teil in Konnotationen
Prämisse: Angenommen, jemand tut etwas, obwohl er dazu verpflichtet ist, es divergieren, zum Teil in Nuancen widersprüchlich sind und darüber hinaus nicht komplett
bleiben zu lassen, so muss man - Prinzip l - feststellen, dass er es offenbar tun kann. zur Verfügung stehen, wurden alle französischsprachigen Zitate neu übersetzt. Auf ein wis-
Prinzip 2 lässt sich umstülpen zu: Wenn ich zu etwas verpflichtet bin, so kann ich es senschaftlich indiziertes Zitieren des Originaltextes wird aus Platzgründen verzichtet. Die
auch. angegebenen Sciten/.ahlen beziehen sich auf das französische Original.
Fazit: Daraus und aus der Prämisse gewinnt man: Ich kann es auch bleiben lassen. 2 Im Original „ein", hier grammatikalisch korrigiert in „einen".
Ich kann also, wozu ich verpflichtet bin, tun, oder es aber auch bleiben lassen. Kurz- '„irreduvbel" = nicht rückführbar, nicht ableitbar (philos., math.).
'Der Terminus technicus «assujettissement» bedeutet sowohl .Subjektwerdung' als auch ,Un-
um: Ich bin - im starken Sinne -frei.
terwerfung'.
'Freud (1916, 252-253)
Damit basiert ethisches Handeln nicht mehr auf beliebigen, austauschbaren ''„Siehe auch die umfangreiche Studie zur Frage von .Schuld - Vater - Institution' von Le-
moralischen Prinzipen und beruft es sich „nicht mehr auf irgendwelche gend« (1998)".
pathologischen' Interessen oder Motive" («t-ek 1999, 30). Indem das psy- 7 vgl. Kobbe (1998a;2002b)
E-mail: kobbe@grnx.de