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Ulrich Kobbe
Zusammenfassung
Die Arbeit behandelt Fragen der Behandlungszeit und des Behandlungsraums im Maßregel-
vollzug unter theoretischen wie praktischen Gesichtspunkten. Im ersten Teil wird die
Notwendigkeit der Anerkennung von Differenz und reflektierten Ausgestaltung differenzier-
ter Therapieangebote herausgearbeitet. Zugleich läßt sich die Gefahr totalisierender
Konzepte mit ihrer Tendenz zur Zerstörung zyklischen Zeiterlebens durch willkürliche
Zeitstrukturierungen moderner Arbeitsteilung aufzeigen.
Teil 2 fokussiert die unterschiedlichen Zeitperspektiven von Straftat, Strafprozeß, Psycho-
therapie und Unterbringung sowie die diskursiven Verhältnisse von Justiz und forensischer
Psychiatrie im imaginären Feld von Institution, Ideologie und Wissenschaft. Im dritten Teil
stellt der Verfasser die institutionellen Auswirkungen einer bürgerinitiativ erwirkten restrik-
tiven Praxis von Lockerungen bzw. Sicherung dar. Er diskutiert die sich aus Stigmatisierung,
Entsubjektivierung und Individualisierung ergebenden Konsequenzen für Patientenselbstbild,
Behandlungsauftrag, Therapiestandards und Rehabilitationschancen.
Schlüsselwörter
„Differenz" - zyklische versus lineare Zeit - „Sicherheit vor Therapie" - Stigma - forensische
Psychiatrie und Politik
Summary
This contribution deals with the questions of length and scope of treatment within the
Implementation of disciplinary measures under their theoretical and practical aspects. In
part one the necessity of recognition of differentiation and the well thougth out planning of
a differentiated ränge of possibilities of treatment is detailed. At the same time the danger
of total concepts with their tendency towards the destruction of the cyclical experiences of
time by way of arbitrary Separation, which modern working-time structures bring about,
can be indicated.
Part two brings into focus the differing perspectives of the offence, the criminal case,
psychotherapy and accomodation, äs well äs the discursive relationship between the
administration of the law and forensic psychiatry in the imaginary field of Institution -
ideology - science. In part three the author presents a factual account of the effects which
a citizens' initiative group had on an Institution which brought about restrictive practices in
Simon und Stierlin (1984, 247) kommentieren, Folge derartiger Stigmati- Wie sich zeigen läßt, werden die ohnehin schwierigen Verhältnisse von
sierungs- und Selbststigmatisierungseffekte seien „die Verhinderung der Zeit und Raum im Maßregelvollzug durch den Einbruch öffentlicher
Individuation, der Entwicklung von Identität sowie die Verzerrung der Zwangsmoral ins psychotherapeutische Feld zusätzlich behindert (Kobbe
Kommunikation und der kognitiven Schemata". Denn in der Tat bleiben 1995b). Die Vorstellung, eine forensisch-psychiatrische Institution lasse
die Versuche der Behandler, sich nur auf die „harte Realität der Tatsa- sich bei ausreichend gutem Willen, engagierten Mitarbeitern, fachlicher
chen" (Zizek) zu beziehen, dann sinnlos, wenn dieselben Therapeuten dem Qualifikation trotz interagierender Dynamiken von Großinstitution und
Patienten gegenüber Maßnahmen mitzumachen genötigt sind, die sie selbst Frühstörung zu einer Art therapeutischem Partner entwickeln, muß
als anti- oder untherapeutisch ablehnen müssen, sodaß ihre Authentizität ernüchtert werden: Die forensische Psychiatrie des Maßregelvollzugs ist
und Verläßlichkeit in Frage gestellt wird. Anders ausgedrückt: Als strukturell keineswegs so definitiv am Subjekt orientiert wie angenom-
„Subjekte einer solchen 'de-ideologisierten', 'nüchternen', 'objektiven', men, denn im Zweifelsfall werden Patient wie Therapeut zugunsten der
'vorurteilslosen' Betrachtungsweise" des psychisch kranken Straftäters Angstabwehr des gesunden Menschenverstands ins Abseits manövriert:
„Es geht darum, einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit
bleiben wir - wie Zizek (1991, 115-116) ausführt-nichts anderes als „das
Bewußtsein unserer ideologischen Träume". Denn die vorgenommene dem sich die Akzeptabilität eines Systems - sei es das System der
Deliktorientierung impliziert Definitionen, in denen der „' Prä-Delinquente' Geisteskrankheit, der Strafjustiz, der Delinquenz, der Sexualität usw. -
oder der über seine potentielle Gefährlichkeit definierte" Patient einem erfassen läßt" (Foucault 1978, 33).
neuen präventiv-gestaltenden Modell sozialer Kontrolle unterworfen wird
134 WsFPPS.Jg. (1996) H . l WsFPP 3.Jg. (1996) H. l 135
Offensichtlich erweist sich die - hier paraphrasierte - Bemerkung Sartres wird, eher Hilfe benötigen." Dies allerdings würde auch voraussetzen, daß
(1975, 40) als richtig, daß die Lockerungspraxis die offene Flanke der sich die Bürger ihrer Projektionen auf die psychisch kranken Straftäter
Behandlungs- und Sicherungsideologie ist. Nicht in einer auf Gesellschaft bzw. projektiven Identifikationen mit ihnen bewußt werden. Denn, so
und Täter bezogenen Humanwissenschaften spiegelt sich die unbewußte weiter Rasch (1984, 16): "An der Art, wie sie mit ihren Außenseitern
Struktur der «etat»b\ierlen6 sozialen Institutionen wider, sondern in einer umgeht, erweist sich der Reifegrad einer Gesellschaft. Vielleicht wächst
ggf. defensiv-repressiven Sicherheitsideologie der - wie Althusser sich die Einsicht, daß es wenig nutzt, nachdem alles geschehen ist, die Opfer
ausdrückt - ideologischen Staatsapparate. Stigma-Theorie und Überwa- zu beklagen und auf die Täter einzuschlagen. Umgekehrt kann es natürlich
chungsimperativ jedoch sind das Gegenstück jeden aufklärerischen Dis- auch nicht darauf ankommen, den Täter zum eigentlichen Opfer zu
kurses und thematisieren Sexualangst als Facette gesellschaftlicher wie stilisieren und zur Jagd auf andere Sündenböcke zu blasen."
verinnerlichter Herrschaft.
CHOR Was nämlich jeder voraussieht
Lange genug,
Das Ängstigende ist - wie Haug (1965, 9) schreibt - ein „Sexuelles nach Dennoch geschieht es am End: Blödsinn,
der Innenseite des Triebes, ein Politisches ... nach der Seite der Gesell- Der nimmerzulöschende jetzt,
schaft hin". Die Verbindung gegenaufklärerischen Denkens mit dem Schicksal genannt. **
Interesse an Machtausübung „läßt sich an zwei komplementären Set-
zungen" ablesen: „ An falschen Ungleichheiten wie an falscher Gleichheit" Eine solche Arbeit enthält immer das Risiko, mißverstanden zu werden.
(Haug 1965, 11). Denn weder besteht die unterstellte Differenz zwischen Denn die an die Angstlust, den „thrill" (Balint 1959) in der Konfrontation
der Triebangst bzw. Trieblust der normalen Bürger und kranken Straftäter mit Sex und Gewalt gebundenen Projektionen führen in den Augen der
noch existiert die von manchen behauptete Übereinstimmung der Thera- Öffentlichkeit zur Unterstellung, Psychotherapeuten seinen in ihrem
peuten bzw. der Institution mit diesen Bürgern hinsichtlich der Sinnhaftigkeit Bemühen um ein Verständnis der Sexualstraftäter oder Mörder potentiell
restriktiver l:l-Ausgänge. deren heimliche, vielleicht gar lustvolle Komplizen (Duncker 1995).
CHOR Nimmer geziemt es dem Chor, „Es ist absurd," schreibt Moser (1971, 432), der Psychologie/Psychiatrie/Psychoanalyse
Richter zu sein über Bürger, die handeln. „zu unterstellen, sie sehe nur noch das Wohl des Täters und vergesse die Opfer. Sie ist als
CHORFÜHRER Der nämlich zusieh! von außen, der Chor, Wissenschaft und Behandlungsmethode von gestörtem Verhalten und gestörten seelischen
Leichter begreift er, was droht. Strukturen für die Arten von seelischer Abnormität zuständig, die zu kriminellem Verhalten
CHOR Fragend nur, höflich führen. Sie erkennt die Vorgeschichte des bösen Handelns als eine Leidensgeschichte, die
Noch in Gefahr, die uns schreckt, sie, mindestens partiell, rückgängig zu machen oder zu kompensieren sucht. Ihr Ziel ist es,
Warnend nur, ach kalten Schweißes gefaßt den Täter so zu behandeln, daß er keine neuen Opfer braucht und diejenigen, die seine Opfer
Naht sich bekanntlich der Chor, waren, so weit wie möglich entschädigen kann."
Ohnmächtig wachsam, mitbürgerlich,
Bis es zum Löschen zu spät ist, Daher ist eine solche Parteinahme unausweichlich, ist doch Psychothera-
Feuerwehrgleich. **
pie - wie eingangs mit Rogge (1985, 14) postuliert - „in ihren Grundlagen
an einem Punkt festgemacht, in dem die Gesellschaft der Vernünftigen
Rasch (1984,16-17) schrieb im' Nachruf auf eine Bestie': „ Die Zyklen der
ihren Grenzpunkt zieht und damit die gesellschaftliche Ordnung defi-
Kriminalpolitik schieben einmal mehr den Strafgedanken, ein anderes mal
niert", und insofern genötigt, „sich zugleich mit dieser Ordnung selbst
stärker den Behandlungsgedanken in den Vordergrund. Wenn man hinter
auseinander" zu setzen. Wer also, wenn nicht der Therapeut, kann und soll
die Dinge schaut, könnte man, abgelöst von momentanen Mode-
sonst den psychotherapeutischen Raum gegen den Einbruch öffentlicher
schwankungen, sich darum bemühen, das Angemessene geschehen zu
Zwangsmoral verteidigen und insofern kritischer Anwalt7 - keineswegs
lassen. Auch in einer Zeit, da öffentliche Mittel knapp sind, sollte nicht
unkritischer Komplize - des Patienten8 werden?
vergessen werden, daß viele, deren Fehlverhalten mit Strafen bedacht