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Wolfgang Cernoch

HERBARTS WISSENSCHAFTLICHE BEGRÜNDUNG DER PÄDAGOGIK


Der Zerfall des Reiches der Pädagogik Herbarts in Sachkundeunterricht
(Willensbildung) und Moralkundeunterricht (Geschmacksbildung)
beruht auf der Spaltung der Bedeutung der Realien
in physische und psychische Qualitäten.
Ausblick auf Franz Fischer.

Worauf ich aufmerksam machen will, ist die Verschränktheit von


einerseits
(1) der Entdeckung, die Fähigkeit zur logischen, mathematischen und
naturwissenschaftlicher Rationalität
(2) und andererseits der Entdeckung der historischen Dimension
(a) in der Gewinnung eines sich selbst ermächtigenden Menschenbildes
vor den Hintergrund der Wiederentdeckung der Antike als wesentliches
Merkmal der Aufklärung
(b) in der Entdeckung des Zusammenhangs von Schriftwerdung und
Artikulation der Sprache (Vico als Gegengewicht zu Descartes) und
(c) in der Entwicklung einer neuen politischen Theorie. Organisiertes
Bankenwesen verändert die Wirtschaftsform der Stadt — ein erstes
Entdecken des Fortschritts im sozialen Gefüge, welches die Geschichte
als Abfolge von Epochen erlebbar gemacht hat.
(3) Im Gegenzug zur Ekstase der Selbstermächtigung des Menschen als
Emanizipation von Natur, Aberglauben und Kirche führt die Melancolia
des Mittelalters von Beginn an zum Gefühl der Überforderung durch
den eigenen, neu entdeckten Selbstanspruch in Ethik und Wissenschaft.
Nicht nur das Christentum wurde von Rom übernommen, sondern auch
die stoische Ethik. Letztere hatte den Vorteil, sowohl den Überschwang
wie die Niedergeschlagenheit zu zügeln.

Es ist augenfällig, daß unser modernes bis postmodernes Zeitalter auf


eine vergleichbare Analyse des Zustandekommens der eigenen
kulturellen Situation und deren Zusammenhänge nicht mehr Wert legt.
Nun ist Herbart, dessen ästhetische Formulierung der Ethik
pädagogisch zur Methodik der Gewöhnung an das Gute führt, zugleich
derjenige, der am Beginn des 19. Jhdts. die mathematisch-
naturwissenschaftliche Behandlung der Psychologie im Schild geführt
hatte. Darin erblicke ich in der Person Herbarts die Gespaltenheit der
Geschichte der Aufklärung nochmals. Herbart versucht die
Vernunftphilosophie und die Gründe unserer moralischen und
gefühlsmäßigen Bewertung auf wissenschaftlichem Wege zu verbinden.
Dazu entwirft er eine »mechanische« Psychologie, die neben der
fundierenden Bedeutung auch für die Pädagogik als Modell der
Mathematisierbarkeit der Psychologie gedacht war, und auf Robert
Zimmermann, Sigmund Freud, Theodor Fechner, um nur einige aus der
ersten und zweiten Generation zu nennen, bis zu Bertalanffy und
Glasersfeld gewirkt hat. Damit hat er einige Denker auch mit
Leibzianischen Ideen bekannt gemacht.
Daß dies beim Fichte-Schüler Herbart einen konkreten philosophischen
Hintergrund besitzt, habe ich versucht, mit diesem kleinen Aufsatz nahe
zu bringen.

Realien wie Jochen Ebmeier als »Abdrücke des Seins« zu bezeichnen,


könnte die passende »realistische« Interpretation für die
individualpsychologische Seite der Pädagogik sein. Ich bringe dieses
Grundelement aber mit dem »metaphysischen Punkt« Leibnizens nicht
nur historisch in Verbindung. Ich glaube vielmehr, daß von hier aus eine
Linie zu ziehen möglich ist, entlang das Thema der »Kraft« zwischen
dem physischen und den psychischen Modell des selbst
verschwindenden Systems der Realien verschoben worden ist. Die
Realien in metaphysischer Hinsicht sind die Unbekannten, welche uns
Qualitäten der Wahrnehmung physisch vermitteln und zugleich
zusammen das erzeugen, was wir Widerstand nennen. Die Versuche der
Erfassung der Erscheinungen dessen, was uns Widerstand leistet und
sich sowohl für uns in Theorie und Lebenswelt wie in der Objektwelt
füreinander kenntlich macht und im Prozess als Diskontinuität
vergegenständlicht wird, nutzen die Varianz der Bedeutung der
Erscheinung, wie sie seit Kant bekannt geworden, vorher am
Eindringlichsten zwischen Leibniz und Des Bosses noch zwischen
Phaenomena, Substantiata und Substantia (spätplatonische und
spätaristotelische Diskussion des 17. Jhdts.) diskutiert worden ist.
Die Realien in metaphysischer Bedeutung wären nicht einmal als
einfache Qualitäten der sinnlichen Erscheinung zu gebrauchen, die noch
eine Spekulation über Ursache und Umstand zulassen würde. Sie sind
auch nicht Monaden, Substanz oder Materie, sondern müssen demnach
als eine diesen Erscheinungsweisen vorausliegende Struktur betrachtet
werden. — Das erlaubt konstruktivistische Freiheiten, welche zu einem
einfachen Gleichgewichtsmodell der Bewahrung des status quo eines
gestörten Gleichgewichts als Vereinfachung der Monade zum
selbstregelnden System (geht bis Bertanalaffy und Glasersfeld) führt. —
Da nun die Diversifikation der Qualitäten ein unbetreitbares Faktum ist
und nach dieser Annahme als durch die Struktur der Realien in
metaphysischer Bedeutung erzeugt zu denken ist, fällt auch die Qualität
des Psychischen unter diese Reihe der Qualitäten. Das ist der Moment
des Übersprunges auf Raten, in welchem mit der Zwischenstation des
Seelischen als Qualität und eigene Realie unter Realien, dann, im
Grunde wider Erwarten und wie erwartet zugleich, die Realien den
Grund des psychischen Geschehens ausmachen, und, ganz in
Leibnizianischer und nicht in Kantscher Tradition, einmal mit einer
Vorstellung und einmal mit einer Vorstellungskomplexion in
Verwechslung geraten.
Ich fasse also die Auflösung in ein Doppelsystem der Realien (gemäß
Herbart: Metaphysik und Psychologie) als eine Antwort auf die Frage
auf, inwieweit Ideen eine eigene Kraft besitzen (Plato) oder nicht (Kant).
Das bemerkenswerte ist daran, daß die kraftlosen Ideen (vgl. Yorck,
auch Robert Zimmermann nach dem Vorbild Kant) erst durch die
»mechanische« Vorstellungsart der Psychologie wieder zu einer
Vorstellung der »Kraft« kommen, aber nicht übersehen werden darf,
daß damit auch das Verwerfen und Vorziehen aus den Verhältnissen
zwischen Vorstellungskomplexionen erst entsteht. Insofern zieht
Herbart mit seiner psychologischen Konstruktion sehr ungefähr und
nicht verlustfrei die Entwicklung nach, die bei Kant von der (1) der
»Zeichenhaftigkeit des Bewußtseins«, die außerhalb des semantisch-
logischen Raumes keine Wirkung hat (Auflösung der dritten Antinomie
der kosmologischen Idee), über (2) der subjektiven Lust am
Funktionieren des freien Spiels der Seelenvermögen als unmittelbarer
Gegenstand des ästhetischen Urteils, und (3) der Lust an der
Selbsterhaltung einer Vorstellung im ersten Vorwort der Kritik der
Urteilskraft zu verfolgen ist.
Mit der Konstruktion einer mechanischen Psychologie wird allerdings
der Übergang des ästhetisch Schönen zum Ideal des Schönen
unterschlagen, worin mittels des Ausdrucks der inneren Gestimmtheit
der Zusammenhang einerseits zum (empirischen) höchsten Gut,
andererseits zur Sittlichkeit als Natur oder eben als Projekt der Gattung
hergestellt worden ist. Dieser Zusammenhang ist nicht nur in der
historischen Darstellung, wie der deutsche Idealismus in die
Staatsphilosophie, Rechtsphilosophie, Geschichtsphilosophie und
politische Philosophie übergeht, sondern im Versuch des Praktisch-
Werden der Philosophie ersichtlich, die schon mit Fichte in die
Pädagogik mündet.
Nicht nur, daß die Erklärung des Verwerfens und des Vorziehens in die
mechanische Psychologie zurückführt (und zwar auch bei der Bildung
des Geschmacks durch Gewöhnung und nicht durch Willensbildung im
Sachunterricht), ebenso zentral ist die Grenzziehung des Verwerfens
und Vorziehens zum Urteilen. Reinhold hatte schon die Differenz
zwischen Verstandesurteil und ästhetischem Urteil psychologisch-
ästhetisch nivelliert. Herbart scheint das nicht ganz verhindern zu
können, wenn er die Beschleunigung der Anlagerungen mit dem
Schlußfolgern, und das Behaltenkönnen der Verhältnisse der
Vorstellungen (vielleicht: Herausheben) mit dem Urteil in
Zusammenhang bringt (auch Bolzano hat eine ähnliche Variation über
Bobrik’ Herbartianismus entwickelt). Herbarts Auseinandersetzung mit
Kant in der Frage des kategorischen Urteils hat mit der mechanischen
Psychologie aber nichts Erkennbares mehr zu tun, da geht es um die
Frage, ob der Satz des kategorischen Urteils Identität des Konzepts und
Existenz (Kant), oder ob die Sätze des kategorischen Urteils zuerst
Identität des jeweiligen Konzepts ausdrücken, und erst dann nach der
Existenz gefragt werden kann (Herbart). Es steht also zur Debatte,
inwieweit die transzendentallogische Fragestellung zu einer
eigenständigen modallogischen Fragestellung wie in der rationalen
Metaphysik nach Leibniz führen muß.
Auch Franz Brentano hält die Differenz zwischen Verwerfen und
Vorziehen einerseits und Urteilen andererseits für entscheidend,
obgleich er seinerseits ohne die Zurückführung des logischen Urteils auf
die Psychologie der Akte (Phänomenologie) nicht auskommt. In der
Frage nach der richtigen Behandlung der modalen Frage fundiert
Brentano die Wahrheitsfrage mit einer Evidenztheorie, die weit hinter
Kant zurückgreift: tlw. thomistischer Aristoteles, Duns Scotus,
Descartes, und in seiner Logik auf einen klandestinen Leibniz. So vertritt
er die Position Kantens und nicht die von Herbart, auf den er sich
anfangs (Empirische Psychologie, Bd.2, Von der Klassifikation der
psychischen Phänomene), insbesondere in der Frage der Einteilung der
Seelenvermögen, mehrfach bezieht.
Um zu einem ersten Resumée zu kommen: Ich stelle mir die aktuelle
Bildungs- und Wissensfrage in der Aufklärung immer schon im
nämlichen Spannung wie die Philosophie befindlich vor, die zwischen
den unverzichtbaren Polen des Logozentrismus, der Idee der Mathesis
und der hermeneutisch-historischen Auslegung des
Vergesellschaftungs- und Reproduktionsprozesses (wie unvollständig
auch immer) auszuhalten und zu bearbeiten ist. Der Übergang des
theoretischen Bemühens in die Praxis in allen spezifierbaren relevanten
Bereichen der Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung geht aber
ins Leere, wenn versäumt wird, schon für unsere eigene Weltaneignung
individuell wie kollektiv die Dimension der Pädagogik zu bedenken. Ich
denke, daß die Verbindung von Philosophie und Pädagogik im
Heranführen und Herangeführtwerden eine wesentliche ist, und nicht
erst unter bildungssoziologischen Gesichtspunkten zum Thema wird.
Vgl. Franz Fischers zwei Anläufe: das System der vertikalen und
horizontalen Bildungskategorien, und die Einübung in die von sich
leeren Vorstellung zur Einübung der von sich reinen (leeren)
Gesellschaft als Füreinandersein (Proflexion) gegenüber der von sich
erfüllten Vorstellung und der von sich erfüllten Gesellschaft als
Gegeneinandersein (Reflexion).
Daß dergleichen Projektwerdung von Philosophie durch Haltung ohne
die In-Beziehung-Setzen der geschichtlichen Qualität des soziologisch
fassbaren Gesellschaftsprozesses mit der Interpretation der eigenen
Lebensgeschichte von selbst an Relevanz verliert, macht für mich den
Übergang zur gesellschaftshistorischen Relevanz von soziologischen,
ökonomischen und politischen Gesellschaftsmodellen aber nicht nur auf
der sachlich-theoretischen Ebene zu einem politischen Thema.

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