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Vorlesungsskriptum

Mathematik 3
Studiengang B.Sc. Biomedizinische Informatik WS 200809
Version vom 17. Dezember 2008

Doz. Gerald Fischer & Dr. Leonhard Wieser

Eduard Wallnöfer Zentrum 1


A-6060 Hall in Tirol
Österreich/Austria

www.umit.at


c Gerald Fischer, Leonhard Wieser
1

Vorwort

Die Lehrveranstaltung Mathematik 3 orientiert sich im Wintersemester 2008/09 weitgehend am


Buch von Erwin Kreyszig: Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Aus-
gabe. Ziel dieses Skriptums ist es, durch Erklärungen und Anwendungsbeispiele ein noch besseres
Verständnis für die Anwendung der mathematischen Methoden zu erreichen, sowie Schwerpunk-
te im Stoff zu unterstreichen.

Das vorliegende Skriptum enthält nur die in der Vorlesung behandelte Theorie und Anwendungs-
beispiele. Die im Übungsteil gerechneten Beispiele sind hier nicht enthalten. Daher ersetzt das
Skriptum nicht den Besuch der Lehrveranstaltung.

Anwendungsbeispiele dienen ausschließlich der Vertiefung des Stoffes. Sie werden nicht geprüft
und sind daher gesondert gekennzeichnet.

Die rot gedruckten Terme werden am Beiblatt zur Prüfung angegeben.


2
Kapitel 1

Gewöhnliche Differentialgleichungen

Der britische Physiker, Mathematiker und Astronom Sir Isaac Newton (1643-1727, Abb.
1.1) begründete gemeinsam mit dem deutschen Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz die
Differentialrechnung. Das von Newton formulierte zweite Newton’sche Axiom besagt, daß
Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist. Newton erkannte, daß dieses Naturgesetz als
Differentialgleichung angeschrieben werden kann. Möchte man beispielsweise die Bahnkurve
eines Himmelskörpers im Sonnensystem berechnen, so ist die erste Ableitung der Bahnkurve
nach der Zeit seine Geschwindigkeit und die zweite Ableitung seine Beschleunigung. Das zweite
Newton’sche Axiom trifft also eine Aussage über eine Zeitableitung, d.h. über die zeitlich
Änderung der gesuchten Bahnkurve. Da die Kraftwirkung (durch das Gravitationsgesetz) zu
jedem Zeitpunkt bekannt ist, läßt sich von gegebenen Anfangswerten (Ort und Geschwindigkeit)
die Bahn des Himmelskörpers durch Lösung einer Differentialgleichung berechnen.

Allgemein bezeichnet man solche Gleichungen, welche eine Aussage über eine Änderung der
gesuchten Größe (n. Ableitung) enthalten, als Differentialgleichungen. Da es häufig möglich
ist, eine Gesetzmäßigkeit über die Änderung einer gesuchten Größe anzugeben, sind Diffe-
rentialgleichungen ein Kerngebiet der angewandten Mathematik. Ab dem 18. Jahrhundert
haben Differentialgleichungen zunächst vor allem die Physik revolutioniert und so die Basis
für die Ingenieurswissenschaften gelegt. Beispiele für berühmte Differentialgleichungen sind das
obengenannte zweite Newton’sche Axiom als Grundlage der Dynamik, die Maxwell-Gleichungen
als Grundlage des elektromagnetischen Feldes (z.B. Antennentheorie) und die Schrödiger-
Gleichung als Basis der modernen Atomphysik (siehe Abb. 1.2). Aber auch in anderen
Anwendungsgebieten haben Differentialgleichungen Einzug gehalten. So modellieren sie z.B.
die Bevölkerungsentwicklung in soziologischen Studien oder Signalpfade in Zellen in der Biologie.

Eine große Schwierigkeit bei der Lösung von Differentialgleichungen ist die breite Vielfalt an
verschiedenen Formen, welche zumeist auch unterschiedliche Lösungswege erfordern und häufig
mit einem beträchlichem Rechenaufwand verknüpft sind. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
war die Mathematik vor allem darum bemüht, immer neue Lösungswege für verschiedene
4 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

Abbildung 1.1: Isaac Newton im Portrait von Godfrey Kneller aus dem Jahr 1702.

Abbildung 1.2: Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961) erklärte durch die von ihm
entwickelte Schrödinger-Gleichung - eine partielle Differentialgleichung - den Aufbau der Atomhülle. Er
erhielt 1933 den Nobelpreis für Physik. Die von der österreichischen Nationalbank im Jahr 1983 heraus-
gegebene 1000 Schilling Banknote zeigt sein Portrait.
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 5

Typen von Differentialgleichungen zu finden. Damit werden zumeist exakte, analytische


Lösungen für die Gleichungen gefunden. Mit der Einführung der Computer treten immer mehr
Näherungsmethoden in den Vordergrund. Diese streben eine computerunterstützte Lösung mit
ausreichender Genauigkeit für die konkrete Fragestellung an. Um dieser Entwicklung Rechnung
zu tragen, wir in der Vorlesung folgender Zugang gewählt:
In diesem Abschnitt wird mit den gewöhnlichen Differentialgleichungen der grundlegendste
Gleichungstyp behandelt. Für diesen Fall sollen die grundlegende Eigenschaften von Differenti-
algleichungen diskutiert werden und analytische Lösungswege für die einige Subtypen aufgezeigt
werden. Hierbei werden die wichtigsten Eigenschaften von Differentialgleichungen aufgezeigt.
In einem weiteren Kapitel wird die Lsung von partiellen Differentialgleichungen vorgestellt. In
der Vorlesung Mathematik 4 wird eine Einführung in die computerunterstützte Lösung von
Differentialgleichungen gegeben.

Zunächst soll der Begriff der gewöhnlichen Differentialgleichung definiert werden:


Eine gewöhnliche Differentialgleichung ist eine Differentialgleichung, die nur Ableitungen nach
einer reellen Variablen enthält. Ihre Lösung ist somit eine Funktion, die von einer Variablen
abhängt. In den meisten Lehrbüchern der Mathematik (so auch im Kreyszig) wird die gesuchte
Funktion zumeist mit y und die unabhängige Variable mit x bezeichnet. Bei Aufgabenstel-
lungen mit konkretem Bezug zu einer Anwendung ist es üblich auch andere Bezeichnungen
zu verwenden. So bezeichnet man beispielsweise beim radioaktiven Zerfall häufig die Zahl an
radioaktiven Kernen mit N (gesuchte Funktion), die unabhänige Variable ist die Zeit t. Die
zeitliche Änderung (Abnahme) an radioaktiven Material ist direkt proportional zu N . Man
kann schreiben:

dN ln 2
=− N, (1.1)
dt TH

wobei TH die Halbwertszeit der radioaktiven Substanz bezeichnet. Da in Gl. (1.1) keine höhe
Ableitung als die erste Ableitung vorkommt bezeichnet man dies als eine gewöhnliche Diffe-
rentialgleichung erster Ordnung. Im folgenden Unterkapitel wird die Lösung für die wichtigsten
Typen von gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung besprochen.

1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Eine gewöhnliche Differentialgleichung, die nur die 1. Ableitung y 0 nach der unabhängigen Va-
riablen x enthält, bezeichnet man als gewöhnliche Differentialgleichung 1. Ordnung. Allgemein
kann sie in der impliziten Form

F (x, y, y 0 ) = 0 (1.2)

angeschrieben werden. Häufig gelingt es, den Abbleitungsterm explizit auf eine Seite der Glei-
6 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

chung zu schreiben:

y 0 = f (x, y). (1.3)

Dies wirkt sich positiv auf die Lösbarkeit der Differentialgleichung aus.

Lösung durch Integration der rechten Seite


Bei der einfachste Form von gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung kommt nur die
Ableitung y 0 nicht aber die gesuchte Funktion y selbst vor. Man kann dann schreiben:

y 0 = f (x). (1.4)

Da die Umkehr der Differentialrechnung die unbestimmte Integration ist, kann Gl. 1.4 durch
Integration der rechten Seite gelöst werden:
Z
y = f (x)dx + C. (1.5)

Wie aus der Integralrechnung bekannt, ist das unbestimmte Integral nur bis auf eine additive
Konstante C definiert. Da für C ein beliebiger reeller Wert gewählt werden, kann besitzt die
Differentialgleichung (1.4) unendlich viele Lösungen. Es soll an dieser Stelle vorweggenom-
men werden, daß Differentialgleichungen stehts über eine Schar von Lösungen verfügen. Die
Gesamtheit aller Lösungen einer Differentialgleichung nennt man die allgemeine Lösung der
Differentialgleichung. Die Bedeutung der Konstanten C in Gl. (1.5) soll an einen klassischen
Beispiel aus der Physik erläutert werden.

Beispiel: freier Fall ohne Luftreibung

Beim freien Fall ohne Luftreibung ist die Beschleunigung (also die Änderung der Ge-
schwindigkeit v nach der Zeit t) gleich der konstanten Erdbeschleunigung g. Man kann
schreiben:
dv
= g. (1.6)
dt

Wie oben festgestellt, ist diese Gleichung durch unbestimmte Integration lösbar:
Z
v(t) = g dt + C = gt + C. (1.7)

In der allgemeinen Lösung der Differentialgleichung ist die Geschwindigkeit v = gt + C nur bis
auf eine Konstante bestimmt. Physikalisch ist dies so erklärbar, daß Gl. (1.6) nur den freien
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 7

Fall selbst beschreibt, aber keine Aussage über die Anfangsgeschwindigkeit des Körpers enthält.
Diese muß zusätzlich über eine Anfangsbedingung festgelegt werden. Wird der Körper z.B.
zum Zeitpunkt t = 0 aus der Ruhe heraus (v0 = 0) fallen gelassen, so gilt die Anfangsbedingung
v(t = 0) = 0. Daraus erhält man C = 0 und v = gt. Man nennt dies eine spezielle Lösung
der Differentialgleichung. Würde der Körper zu Beginn mit bekannter Geschwindigkeit nach
oben geworfen, so würde C einen negativen Wert annehmen. D.h. die Konstante C deckt alle
möglichen Anfangsgeschwindigkeiten C ab.

Allgemein besitzen gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung immer genau eine


Konstante C in ihrer allgemeinen Lösung. Um eine eindeutige Lösung zu erhalten, ist immer
eine Zusatzbedingung notwendig. Ist die unabhängige Variable die Zeit, so spricht man von einer
Anfangsbedingung. Man nennt eine gewöhnliche Differentialgleichung mit Anfangsbedingung
ein Anfangswertproblem. Ist die unabhängige Variable eine geometrische Größe, so spricht
man von einer Randbedingung (Randwertproblem).

Richtungsfeld einer Differentialgleichung 1. Ordnung


Liegt eine gewöhnliche Diffierentialgleihung 1. Ordnung in expliziter Form y 0 = f (x, y) vor,
so kann für jedes beliebige Wertepaar xi , yi die zugehöhrige Steigung yi0 = f (xi , yi ) berechnet
werden. Berechnet man diese Steigungen für eine große Zahl an Punkten und plottet das
Ergebnis in die xy-Ebene, so erhält man ein Richtungsfeld. Zeichnet man (z.B. händisch) in
dieses Richtungsfeld Kurven, welche tangential zu den Steigungen verlaufen, so erhält man
Näherungslösungen der Differentialgleichung.

Richtungsfelder sind daher eine Möglichkeit den Lösungsvorgang und Eigenschaften von
gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung (nur für diesen Typ können sie gezeichnet
werden) anschaulich darzustellen. Z.B. computerunterstützte (numerische) Lösungsverfahren
basieren auf Richtungsfeldern. Früher wurden Richtungsfelder händisch gezeichnet (im Kreyszig
ist dafür ein Verfahren angegeben). Heutzutage empfielt es sich, diese mittels Computer zu
plotten. Wir wollen vorest für drei Beispiele Richtungsfelder und Lösungen betrachten.

Beispiel - freier Fall ohne Luftreibung: Abb. 1.3 zeigt das Richtungsfeld. Da die
Erdbeschleunigung mit 9.81 ms-2 konstant ist, sind alle Steigungen gleich. Der Maßstab ist so
gewählt, daß der Steigungswinkel knapp unter 45o liegt. Die drei Geraden stellen drei spezielle
Lösungen der Differentialgleichung dar.

Beispiel - radioaktiver Zerfall: Gl.(1.1) gibt das Zerfallsgesetz an. Skaliert man die
TH 0
Zeitachse so, daß die Zeiteinheit gleich ln 2 ist, so vereinfacht sich die Gleichung zu: N = −N mit
−t
der allgemeinen Lösung N (t) = Ce (überprüfen Sie diese Lösung durch einsetzen in die Diffe-
rentialgleichung !). Abb. 1.4 zeigt das Richtungsfeld und einige spezielle Lösungen der Gleichung.
8 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

Abbildung 1.3: Richtungsfeld und einige spezielle Lösungen für den freien Fall ohne Luftreibung.

Die multiplikative Konstante C entspricht der Menge an radioaktiver Substanz zum Zeitpunkt
t = 0. Für C=0 erhält man die triviale Lösung y ≡ 0. Auch für negative C gibt es Lösungen der
Differentialgleichung. Diese sind aber physikalisch sinnlos.

Beispiel - van der Pol Gleichung: Die van der Pol Gleichung y 0 = 0.1(1 − x2 ) xy besitzt keine
explizite Lösung. Wie im Kreyszig erwähnt, liegt ihre Anwendung in der Elektronik und zwar
in der Behandlung von einfachen Oszillatoren, wie sie z.B. mit Verstärkerröhen realsiert wurden
(heute sind diese Oszillatoren weitgehen durch Schwingquarze und integrierte Schaltkreise ver-
drängt). Der Weg vom Schaltkreis zur van der Pol Gleichung soll hier aus Platzgründen nicht
dargestellt werden. Die gesuchte Funktion y ist hier die Spannung am Ausgang des Oszillators
und x die Zeitableitung der Ausgangsspannung (Phasendiagramm; siehe auch Kreszig Chap.
3.5).
In Abb. 1.5 sind das Richtungsfeld und zwei mit numerischen Methoden berechnete spezielle
Lösungen dargestellt. Für den Startwert (4,-3) (grüne Kurve) nähert sich die Lösung von außen
dem Grenzzyklus (schwarz). Für den Startwert (0,0.5) (rote Kurve) nähert sich die Lösung von
innen dem Grenzzyklus. Die wesentliche Beobachtung aus dem Richtungsfeld ist, daß die Lösung
für fast alle Startwerte gegen den Grenzzyklus konvergiert, was dem Oszillator eine große Stabi-
lität verleiht. Lediglich für den Ursprung (0,0) als Startwert nimmt wird y 0 singulär. Dieser Fall
ist praktisch nicht von Bedeutung, da es Aufgrund von Widerstands und Verstärkerrauschen
immer minimale Abweichungen vom Ursprung gibt.
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 9

Abbildung 1.4: Richtungsfeld und einige spezielle Lösungen für den radioaktiven Zerfall.

Abbildung 1.5: Richtungsfeld und einige spezielle Lösungen für die van der Pol Gleichung.
10 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

1.1.1 Separierbare Differentialgleichungen


In diesem Abschnitt sollen gewöhnliche Diffierentialgleihung 1. Ordnung behandelt werden, die
sich in expliziter Form anschreiben lassen und bei denen weiters die Funktion f (x, y) als Verhält-
nis zweier Funktionen φ und γ angeschrieben werden kann, von denen eine nur von x und eine
nur von y abhängt:

φ(x)
y 0 = f (x, y) = , (1.8)
γ(y)

bzw.
dy φ(x)
= . (1.9)
dx γ(y)

Man kann beobachten, daß durch die Schreibweise

γ(y)dy = φ(x)dx. (1.10)

dx
die Variablen getrennt werden können. Multipliziert man die linke Seite mit dx , so können beide
Seiten nach dx integriert werden:
Z Z
dy
γ(y) dx = φ(x)dx + C. (1.11)
dx

dy
Durch die Umformung dx dx = dy kann die Integrationsvariable auf der linken Seite auf y
geändert werden: Z Z
γ(y)dy = φ(x)dx + C. (1.12)

Unter der Annahme, daß φ(x) und γ(y) integrierbar sind, ist die Differentialgleichung (1.8)
somit lösbar. In der Lehrveranstaltung bzw. im Kreyszig wird die Lösung von separierbaren
Differentialgleichungen an Beispielen gezeigt. Im nachfolgenden Beispiel soll gezeigt werden,
wie man durch Modellbildung für eine physikalische Aufgabenstellung zunächst zu einer
separierbaren Differentialgleichung und anschließend zu deren Lösung gelangt.

Anwendungsbeispiel - Modellbildung:
Bei der Berechnung eines tatsächlichen Vorganges aus unserer Erfahrungswelt muß dieser Vor-
gang zunächst in die Sprache der Mathematik (also in Gleichungen) übersetzt werden. Hierzu
sind immer abstrakte, vereinfachende Annahmen nötig. Man spricht daher von Modellbildung
(ein Modell ist ein abstraktes Bild der Wirklichkeit).
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 11

Wir wollen nun das Beispiel der zylindrischen Wassertonne aufgreifen aus der Wasser
ausfließt. Sie habe den Radius R und die Ausflußöffnung habe den Radius r. Gesucht sei
die Füllhöhe H als Funktion der Zeit t. Zum Zeitpunkt t = 0 (ziehen des Stöpsels) sei die
Füllhöhe gleich H0 . Die Füllhöhe sinkt umso rascher, je größer die Geschwindigkeit v ist,
mit der das Wasser ausfließt ( dH dt ∼ −v). In einem infitesimalen Zeitinterval dt fließt das
infintesimale Volumen dV , welches durch das Produkt aus Geschwindigkeit v und Querschnitt
der Ausflußöffnung (πr2 ) gegeben ist, aus (dV = πr2 vdt). Der Wasserspielgel muß dabei genau
um eine diesem Volumen entsprechende infintesimale Höhe dH absinken (negatives Vorzeichen).
Das Volumselement dV entspricht daher dem negativen Produkt aus Querschnittfläche der
Wassertonne πR2 mal Höhenelement dH (dV = −πR2 dH). Setzt man die beiden Ausdrücke
für dV gleich, so erhält man durch Kürzen und Umordnen:

dH r2
= − 2 v. (1.13)
dt R

Diese Differentialgleichung ist noch nicht lösbar, da sie 3 Variablen enthält (H, t, v). Daher soll
zunächst die unbekannte Geschwindigkeit als Funktion der anderen beiden Variablen ausge-
drückt werden. Man kann erwarten, daß die Ausflußgeschwindigkeit v mit sinkender Füllhöhe
monoton abnimmt. Die theoretische Obergrenze für die Ausflußgeschwindigkeit v̂ erhält man
aus der Bernoullischen Druckhöhengleichung. Nimmt man die Strömung idealsiert als völlig
2
verlustfrei an, so muß die kinetische Energie v̂2 dm eines ausströmenden Wasserteilchens mit
infitesimaler Masse dm gleich der potentiellen Energie gHdm eines Wasserteilchens an der Was-
seroberläche sein √(g bezeichnet die Erdbeschleunigung). Man erhält durch Gleichsetzen und
Umformung: v̂ = 2gH. Tatsächlich muß aufgrund der verlustbehafteten Strömung (Bildung
von Wirbeln und Strudeln) und der Kontraktion des Wasserstrahles mit einer verringerten Ge-
schwindigkeit gerechnet werden. Man berücksichtigt
√ dies durch die positive Ausflußzahl µ < 1
und erhält für die Geschwindigkeit: v = µ 2gH. Damit hängt v nur noch von H ab und man
kann schreiben:
dH r2 p √
= −µ 2 2gH = −k H. (1.14)
dt R

Um zu einer verkürzten Schreibweise zu kommen, wurden alle Konstanten zu einer neuen


2 √
Konstanten k = µ Rr 2 2g zusammengefaßt. In der Praxis besteht bei der Ausflußzahl µ die
größte Unsicherheit. Sie beträgt für Wasser bei einer kreisrunden Bohrung im Boden ca.
0.60-0.65, bei Ausfluß durch ein Rohrstück mit doppelter Länge des Lochdurchmesseres ca. 0.8
und bei Ausfluß durch eine Düse 0.97 bis 0.99 (Quelle der Zahlenangaben: A. Böge: Mechanik
und Festigkeitslehre, Vieweg Verlag, Braunschweig, 1984).

Nach Sepeartion der Variblen kann die Differentialgleichung (1.14) wie folgt angeschrie-
ben werden:
dH
√ = −kdt. (1.15)
H
12 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

Unbestimmte Itegration liefert die allgemeine Lösung in impliziter Form



2 H = −kt + C, (1.16)

und durch Umformen erhält man die Lösung in expliziter Form


1
H(t) = (C − kt)2 . (1.17)
4

Man beachte, daß Gl. (1.17) die allgemeine Lösung nicht vollständig beschreibt, da auch H(t) ≡ 0
eine Lösung der Differentialgleichung ist. √
Aus der Anfangsbedingung H(t = 0) = H0 erhält man für C = 2 H0 und für die spezielle
Lösung der Differentialgleichung:

p k 2 2 H0
H(t) = ( H0 − t) , für 0 ≤ t ≤ . (1.18)
2 k

Es soll betont werden, daß die Gültigkeit der Lösung auf das Intervall [0, 2 H0
k ] eingeschränkt

2 H0
werden muß. Für t > k wird der Term in der Wurzel von Gl. (1.14) negativ, womit die
Lösung für diese Zeitpunkte nicht gültig sein kann. Die Lösung von Differentialgleichungen ist
häufig aufgrund von solchen Beobachtungen auf einen Gültigkeitsbereich einzuschränken.

Abb. 1.6 zeigt das Richtungsfeld und die spezielle Lösung für gewählte Konstanten. Es soll
an diese Stelle wiederholt werden, daß jedes Modell nur eine Approximation der Wirklichkeit
darstellt. In dem hier gewählten Modell wurden Effekte wie z.B. die Bildung eines Strudels
beim Ausfluß nicht detailiert nachgebildet. Daher ist für die berechnete Zeit zur Entleerung
eine Genauigkeit von etwa 5 bis 10 % zu erwarten. Er ist dennoch bemerkswert (und nicht so
selbstverständlich wie es scheint), daß das Modell (übereinstimmend mit den Beobachtungen
aus der Erfahrungswelt) eine endliche Zeit für die Entleerung des Gefäßes voraussagt. Für
viele physikalische Aufgabestellungen (Radioaktiver Zerfall, Entladung eines Kondensators,
Abkühlen auf Raumtemperatur) nähert sich die Lösung nur assymptotisch dem Ruhewert. Hier,
bei der Entleerung der Tonne, wird dieser in endlicher Zeit erreicht, wofür die Wurzel in Gl.
(1.14) verantwortlich ist. Das qualitative Übereinstimmen des Modells mit der Erfahrungswelt
stützt daher die Annahme, daß die Ausflußgeschwindigkeit proportional zur Wurzel der Füllhöhe
ist.

Überführen in eine separierbare Form: Manchmal können auch nicht separierbare


Differentialgleichungen durch eine geschickte Substitution in eine separierbare Form gebracht
werden. Beispiele hierfür werden in der Vorlesung und im Kreyszig behandelt.
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 13

Abbildung 1.6: Richtungsfeld und spezielle Lösung für den Ausfluß aus der zylindrischen Tonne. Für die
Konstanten wurden folgende Werte angenommen: R=0.1 m, r=0.005 m, g=9.81 ms-2 , µ=0.65, H0 =0.3 m.
Nach 152 s ist das Gefäß entleert.

1.1.2 Exakte Differentialgleichungen

In diesem Abschnitt soll die bisher verfolgte Strategie, Differentialgleichungen 1. Ordnung durch
Integration zu lösen, auf ein möglichst breites Anwendungsgebiet verallgemeinert werden. Um
möglichst allgemeine Aussagen bezüglich der Integrierbarkeit zu finden, soll zunächst folgende
Annahme gemacht werden:
Die erste Ableitung der gesuchten Funktion y kann explizit als negativer Quotient zweier Funk-
tionen M (x, y) und N (x, y) angeschrieben werden:

M (x, y)
y 0 = f (x, y) = − , (1.19)
N (x, y)

Die Lösung dieser Differentialgleichung kann immer durch eine implizite Form

u(x, y) = C (1.20)

angeschrieben werden, wobei C die Konstante sei, die bei der allgemeinen Lösung der Differen-
tialgleichung eingeführt werden muß. Um allgemein zu untersuchen, unter welchen Vorausset-
zungen u(x, y) durch Integration bestimmt werden kann, betrachten wir das totale Differential
14 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

du = ∂u ∂u
∂x dx + ∂y dy der Funktion u(x, y). Da auf der rechten Seite von Gl. (1.20) eine Konstante
steht, muß das totale Differential du = 0 sein. Wir können schreiben:
∂u ∂u
dx + dy = 0 (1.21)
∂x ∂y

Die partiellen Ableitungen ∂u ∂u


∂x und ∂y sind im allgemeinen Fall Funktionen von x und y und wir
können folgende Abkürzungen einführen:
∂u ∂u
= M (x, y) und = N (x, y). (1.22)
∂x ∂y

Wir erhalten:
dy M (x, y)
M (x, y)dx + N (x, y)dy = 0 bzw. =− . (1.23)
dx N (x, y)

Man beachte die Ähnlichkeit von Gl. (1.23) mit Gl. (1.19). Aufgrund der kommutativen Eigen-
schaft der Ableitung muß für Gl. (1.23) jedoch zusätzlich gelten:
∂ ∂u ∂ ∂u ∂M (x, y) ∂N (x, y)
( )= ( ) → = . (1.24)
∂y ∂x ∂x ∂y ∂y ∂x

∂Q
Um Gl. (1.19) durch Integration lösen zu können, muß daher gelten: ∂P ∂y = ∂x . Ist diese
Bedingung erfüllt, so bezeichnen wir Gl. (1.19) als exakte Differentialgleichung.

Zur Lösung der Differentialgleichung gibt es nun zwei mögliche Wege:


A) Da M (x, y) = ∂u
∂x , kann u(x, y) durch Integration von M über dx bestimmt werden:
Z
u(x, y) = M (x, y)dx + k(y). (1.25)

Hierbei ist zu beachten, daß die Integrationskonstante auch eine additive Funktion von y sein
kann (diese würde bei der partiellen Ableitung M = ∂u ∂x wegfallen). Die unbekannte Funktion
k(y) kann aus der Bedingung ∂u ∂y = N bestimmt werden.
B) Aus N (x, y) = ∂u
∂y erhält man durch Integration über dy:
Z
u(x, y) = N (x, y)dy + l(x). (1.26)

∂u
Hierbei kann die unbekannte Funktion l(x) aus der Bedingung ∂x = M bestimmt werden.

Es sind theoretisch immer beide Lösungswege möglich, jedoch können sich diese im Re-
chenaufwand beträchlich unterscheiden. Es bedarf an Erfahrung, um frühzeitig zu erkennen,
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 15

welcher Weg der Günstigere ist. In der Lehrveranstaltung und im Kreyszig werden Beispiele zu
exakten Differentialgleichungen durchgerechnet.

Integrierende Faktoren

Wie in der Vorlesung und im Kreyszig an einem Beispiel gezeigt wird, kann eine nicht
exakte Differentialgleichung

P (x, y)
y0 = − , (1.27)
Q(x, y)

häufig indem man Zähler und Nenner der rechten Seite mit einer geschickt gewählten Funktion
F (x, y) multipliziert, in eine exakte Differentialgleichung übergeführt werden:
P (x, y)F (x, y) M (x, y) ∂(P F ) ∂(QF )
y0 = − =− mit = . (1.28)
Q(x, y)F (x, y) N (x, y) ∂y ∂x

Um eine solche Funktion F systematisch berechnen zu können, soll zunächst untersucht werden,
welche Eigenschaften die Funktion erfüllen muß. Durch Anwendung der Kettenregel erhält man
aus ∂(P
∂y
F)
= ∂(QF )
∂x :
Fy P + F Py = Fx Q + F Qx . (1.29)

Eine allgemeine Lösung dieses Ausdrucks ist zumeist nicht durchführbar. Folgende Umstände
helfen, die Lösung zu vereinfachen. Zumeist gibt es nicht genau einen integrierende Faktor F ,
sondern mehrere. Häufig ist es sogar möglich, integrierende Faktoren zu finden, welche nur von
x bzw. nur von y abhängen. Wir wollen zunächst nach einem integrierenden Faktor suchen, der
nur von x abhängt.

F (x): In diesem Fall wird die partielle Ableitung von Fy = 0. Man erhält aus Gl. (1.29)
durch Umordnen:  
1 ∂F 1 ∂P ∂Q
= − = R(x). (1.30)
F ∂x Q ∂y ∂x

Dabei wurde für die rechte Seite die Abkürzung R(x) eingeführt. Die erhaltene Differentialglei-
chung ist durch Separation der Variablen F und x lösbar. Man erhält:
R
R(x)dx
F (x) = e . (1.31)

Hierbei wurde bei der Lösung die Integrationskonstante gleich Null gesetzt. Dies ist deshalb
zulässig, da nur nach einer einzigen (der einfachst möglichen) integrierenden Funktion gesucht
wird.
16 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

F (y): Soll F nur von y abhängen wird Fx = 0. Man erhält aus Gl. (1.29) durch Umord-
nen:  
1 ∂F 1 ∂Q ∂P
= − = R̃(y). (1.32)
F ∂y P ∂x ∂y

Wobei die rechte Seite als R̃(y) bezeichnet wird. Man erält nach Seperation der Variablen und
Lösen der Differentialgeichung:
R
R̃(y)dy
F (y) = e . (1.33)

Wiederum sind beide Rechenwege gleichwertig, können sich jedoch im Rechenaufwand be-
trächlich unterscheiden.

1.1.3 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung


Eine Differentialgleichung 1. Ordnung ist linear, wenn sie in der Form

y 0 + p(x)y = r(x) (1.34)

angeschrieben werden kann. Hierbei kommen die gesuchte Funktion y und ihre Ableitung nur
in der ersten Potenz vor. Da viele technisch interessante Systeme durch lineare Differential-
gleichungen beschrieben werden, soll Gl. (1.34) zunächst an einem konkreten Beispiel in einen
physikalischen Kontext gebracht werden.

Konkretisierung - Temperaturgleichung: Es sei y die Temperaturdifferenz eines Körpers


zu seiner Umgebung (z.B. Temperatur des Kühlkörpers eines Prozessors) und x die Zeit. Die
rechte Seite r(x) der Gleichung modelliert dann die Energiezufuhr in der Körper. Allgemein
kann man dies als erregende Funktion oder Eingangsfunktion bezeichnen. Sie kann z.B. mit
der Auslastung des Prozessors zeitlich variieren. Die Funktion p(x) modelliert die Kühlung des
Körpers. Sie ist zeitlich variabel, wenn z.B. ein Ventilator ein und ausgeschalten wird.
Häufig interessiert man sich für das Verhalten, wenn der Körper zwar eine Anfangstempertur
y > 0 hat, aber die Energiezufuhr (Eingangsfunktion) gleich Null ist r(x) ≡ 0 (Auskühlvorgang).
Man spricht von der Lösung der homogenen Differentialgleichung.

Lösung der homogenen Differentialgleichung:

Ist die rechte Seite r(x) ≡ 0, so hat die Differentialgleichung die Form:

y 0 + p(x)y = 0. (1.35)
1.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 17

Durch Separation der Variablen erhält man:


Z
dy
= −p(x)dx, → ln | y |= − p(x)dx + ln C. (1.36)
y

Bildet man auf beiden Seiten die Exponentialfunktion des Ausdrucks, so bekommt man für die
allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung:
R
y = Ce− p(x)dx
. (1.37)

Wählen wir y ≡ 0, so erhalten wir die triviale Lösung der homogenen Differentialgleichung.

Lösung der inhomogenen Differentialgleichung:

Die Lsung der inhomogenen Diffeentialgleichung soll hier nur kurz skizziert werden. Der
detailierte Lsungsweg ist im Kreyszig beschrieben. Durch Umformung kann die lineare
Differentialgleichung (1.34) als nicht exakte Differentialgleichung angeschrieben werden:

dy p(x)y − r(x)
=− . (1.38)
dx 1

D.h. P = py − r und Q = 1. Wir nehmen an, daß ein integrierender Faktor existiert, der nur
von x abhängt und erhalten:
1 dF
= p(x). (1.39)
F dx

Somit erhält man für den integrierenden Faktor:


R
p(x)dx
F =e . (1.40)

Nach weiterer Rechnung (siehe Kreyszig) erhält man für die Lösung y:
R
Z R

− p(x)dx p(x)dx
y=e e r(x)dx + C . (1.41)

Leider ist die Anwendbarkeit von Gl. (1.41) nicht so umfassed, wie es auf den ersten Blick scheint.
Der Grund hierfür ist die Auswertung der Integrale, welche häufig in geschlossener Form nicht
lösbar sind. Die Herleitung und Anwendung von Gl. (1.41) ist daher nicht prüfungsrelevant.
18 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

1.1.4 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten


Ein praktisch bedeutsamer Sonderfall ist eine konstante Funktion p(x) = k.

y 0 + ky = r(x). (1.42)

Man spricht dann von linearen Differentialgleichung 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten.
Ist x die Zeit, so beschreibt Gl. 1.42 ein lineares Zeitunabhängiges System mit zeitabhängiger
Erregung. Die Lösung der homogenen Differentialgleichung yh = Ce−kx kann wie oben beschrie-
ben einfach durch Separation der Variablen ermittelt werden. Fr die Berechnung der Lösung der
inhomogenen Lösung der inhomogenen Differentialgleichung gilt ein bemerkenswertes Theorem,
welches hier ohne Beweis angefhrt wird:
Ist eine spezielle (partikuläre) Lösung yp der inhomogenen Differentialgleichung 1.42 bekannt, so
ist deren allgemeine Lösung durch die Summe aus Lösung der homogenen Differentialgleichung
yh und einer partikulären Lösung yp gegeben:

y = yh + yp = Ce−kx + yp . (1.43)

Gleichung 1.43 kann insoferne ausgenutzt werden, als das nach der einfachst möglichen parti-
kulären Lösung gesucht wird. In der Lehrveranstaltung wird dies anhand von Übungsbeispielen
demonstriert.

1.2 Gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung

Einige grundlegende Eigenschaften von gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung sollen


zunächst wieder an einem Beispiel beobachtet werden.

Anwendungsbeispiel: nochmals freier Fall ohne Luftreibung

Im Abschnitt 1.1 wurde für den freien Fall ohne Luftreibung die Geschwindigkeit als
Funktion der Zeit gesucht. Hier soll jetzt die Wegstrecke s als Funktion der Zeit gesucht werden.
Da die Beschleunigung die 2. Ableitung des Weges nach der Zeit ist, kann man schreiben:

d2 s
= g. (1.44)
dt2

Integration nach der Zeit liefert:


ds
= gt + C1 . (1.45)
dt

Durch nochmalige Integration erhält man:


g 2
s= t + C1 t + C2 . (1.46)
2
1.2 Gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung 19

Wir beobachten, daß die allgemeine Lösung der Differentialgleichung 2. Ordnung (1.44) zwei
Konstanten beinhaltet. Dies ist allgemein so, bei gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ord-
nung. Daher müssen zur Bestimmung einer speziellen Lösung auch zwei Anfangs- bzw. Randbe-
dingungen gegeben sein. Im hier betrachteten Fall entspricht die Konstante C1 der Anfangsge-
schwindigkeit und die Konstante C2 dem Anfangsweg.
Weiters beobachten wir das Gl. (1.44) eine lineare Differentialgleichung ist und die allgemeine
Lösung eine Linearkombination aus zwei linear unabhängigen Funktionstermen (t und t2 ) ist.
Auch diese Beobachung hat allgemein Gültigkeit für lineare gewöhnliche Differentialgleichungen
2. Ordnung. Bei diesem Beispiel konnte die Lösung durch zweifache Integration gefunden wer-
den. Leider funktioniert dieser Weg nur bei sehr wenigen und einfachen Differentialgleichungen.
Wir werden im weiteren dazu gezwungen sein, die Lösung durch Wahl von geeigneten Ansatz-
funktionen zu ’erraten’. Die Beobachtung, daß die allgemeine Lösung zwei linear unabhängige
Terme aufweisen muß ist dabei zentral.

1.2.1 Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten


Eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten kann in der Form

y 00 + ay 0 + by = r(x) (1.47)

angeschrieben werden. Wir möchten uns zunächst auf den homogenen Fall (r(x) = 0) be-
schränken:
y 00 + ay 0 + by = 0. (1.48)

Diese Gleichung läßt sich nicht durch Integration lösen. Der Lösungsweg, der hier zum Ziel führt
versucht die Lösung durch ausprobieren von möglichen Lösungen zu ’erraten’. Man sagt, man
macht einen Lösungsansatz. Tatsächlich kommen nur sehr wenige Funktionen für einen solchen
Ansatz in Frage. Wir erinnern uns, daß die allgemeine Lösung einer linearen homogenen Diffe-
rentialgleichung 1. Ordnung eine Exponentialfunktion enthalten hat. Dies ist auf die besondere
Eigenschaft, daß die Ableitung der Exponentialfunktion wieder die Exponentialfunktion ergibt
x
( ∂e x
∂x = e ) zurückzuführen. Diese Beobachtung legt uns nahe, die Funktion y = e
λx auszupro-
0 λx 00 2 λx
bieren. Sie besitzt die Ableitungen y = λe und y = λ e . Man erhält durch Einsetzen in
Gl. (1.49):
(λ2 + aλ + b)eλx = 0, bzw. λ2 + aλ + b = 0. (1.49)

Hierbei bezeichnet man die rechts angeschriebene Gleichung als charakteristische Gleichung. Ihre
Nullstellen erhält man aus: r
a a2
λ1,2 = − ± − b. (1.50)
2 4
20 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

Daher sind also y = eλ1 x und y = eλ2 x Lösungen der Differentialgleichung und die allgemeine
Lösung hat die Form:
y = c1 eλ1 x + c2 eλ2 x . (1.51)

Abhängig von den Werten a und b sind für die Nullstellen λ1 und λ2 der charakteristische
Gleichung (1.50) drei Fälle zu unterscheiden:
a) zwei reelle Nullstellen für a2 − 4b > 0,
b) eine reelle doppel Nullstelle für a2 − 4b = 0, und
c) zwei konjugiert komplexe Nullstellen für a2 − 4b < 0.
Bevor wir uns mit der mathematischen Behandlung dieser drei Fälle beschäftigen, soll ihre
physikale Bedeutung an einem Beispiel plausiblisiert werden.

Beispiel: Feder-Masse-System mit Stoßdämpfer

Abbildung 1.7 zeigt ein Feder-Masse-System mit Stoßdämpfer. Es kann durch eine linea-
re Differentialgleichung 2. Ordnung modelliert werden.
Ist der Stoßdämpfer so dimensioniert, daß nur eine geringe Dämpfung auftritt, so wird die Masse
nach einer Anfangsauslenkung eine gedämpfte Schwingung ausführen (Schwingfall). Dieser
Schwingfall entspricht dem oben genannten Fall c) (zwei konjugiert komplexe Nullstellen).
Besitzt der Stoßdämpfer hingegen eine sehr große Dämpfung, so kehrt die Maße nach einer
Anfangsauslenkung nur langsam und ohne zu schwingen in die Ausgangslage zurück (Kriechfall).
Der Kriechfall entspricht dem oben genannten Fall a) (zwei reelle Nullstellen).
Beide skizzierten Fälle sind z.B. für die Dimensionierung eines Stoßdämpfers eines Kfz nicht
ideal. Hier sollte das Feder-Masse-System möglichst rasch auf einen Stoßreagieren, aber nicht
schwingen. Der oben genannte Fall b) (eine relle Doppelnullstelle) beschreibt den im Idealfall
erreichbaren Kompromiss: die schnellste Rückkehr in die Ausgangslage ohne zu schwingen
(aperiodischer Grenzfall, kritische Dämpfung).
Im folgenden soll die Differentialgleichng für b=4 und a=8 (große Dämpfung), a=4 (kritische
Dämpfung) und a=2 (kleine Dämpfung) gelöst werden. Die Anfangsbedingen seine jeweiles
y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0.

Fall a) zwei reelle Nullstellen

y 00 + 8y 0 + 4y = 0 mit y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0:

Ansatz: y = c1 eλ1 x + c2 eλ2 x


√ √
Nullstellen: λ1,2 = −4 ± 12 = −(4 ∓ 12)
√ √
allgemeine Lösung: y = c1 e−(4− 12)x + c2 e−(4+ 12)x
1.2 Gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung 21

Abbildung 1.7: Ein Feder-Masse-System mit Stoßdämpfer wie im Faksimile rechts oben dargestellt
(Quelle: Erwin Kreyszig, Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Ausgabe.) kann
durch eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung modelliert werden. Die Graphen zeigen zeigen Lösun-
gen der Differentialgleichung y 00 + ay 0 + 4y = 0 mit den Anfangsbedingungen y(0) = 1, y 0 (0) = 0 für a = 8
(Kriechfall), a = 4 (aperiodischer Grenzfall) und a = 2 (gedämpfte Schwingung).
22 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

Anfangsbedingung 1: y(0) = c1 + c2 = 1
√ √
Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = −(4 − 12)c1 − (4 + 12)c2 = 0
√ √
√ 3
2+
→ c1 = 12
und c2 = − 2−
√ 3
12
√ √ √ √
spezielle Lösung: y = √ 3 e−(4− 12)x
2+
− √ 3 e−(4+ 12)x
2−
12 12

Fall b) eine reelle Doppelnullstelle

Für den Fall einer reellen Doppelnullstelle (λ1,2 = − a2 ) muß eine von y1 = e−a/2 x linear
unabhängige Lösung y2 bestimmt werden. Wir wählen den Ansatz y2 = ue−a/2 x, wobei u eine
Funktion von x sei. Die neue Ansatzfunktion besitzt die Ableitungen y20 = u0 y1 + uy10 und
y200 = u00 y1 + 2uy10 + uy100 . Setzt man dies in die homogene Differentialgleichung (1.49) ein, so
erhält man:
(u00 y1 + 2uy10 + uy100 ) + a(u0 y1 + uy10 ) + b(uy1 ) = 0. (1.52)

Ordnet man diese Gleichung so um, daß die Terme u00 , u0 und u zusammengefaßt werden, so
erhält man:
u00 y1 + u0 (2y10 + ay1 ) + u00 (y100 + ay10 + by1 ) = 0. (1.53)

Der Term in der letzten Klammer gibt Null, da y1 eine Lösung der Differentialgleichung ist. Der
Term in der ersten Klammer (2y10 + ay1 )ist ebenfalls Null, da 2y10 = −ae−ax/2 = −ay1 . Somit ist
u00 y1 = 0, d.h. u00 = 0. Durch doppelte Integration erhält man: u = c1 + c2 x. Somit lautet die
allgemeine Lösung:
y = (c1 + c2 x)e−ax/2 . (1.54)

Damit ergibt sich für unser Beispiel (y 00 + 4y 0 + 4y = 0; a = 4):

y = (c1 + c2 x)e−2x .

Anfangsbedingung 1: y(0) = c1 + 0c2 = 1

Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = (−2c1 + 0c2 + c2 )e0 = 0

→ c1 = 1 und c2 = 2

Fall c) zwei konjugiert komplexe Nullstellen


1.3 Übungsaufgaben 23

y 00 + 2y 0 + 4y = 0 mit y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0:

Wie im Kreyszig gezeigt wird ist die allgemeine Lösung ist gegeben durch.
r
−ax/2 a2
y=e (α cos ωx + β sin ωx), mit ω = b − . (1.55)
4

Damit erhält man für unser Beispiel e−ax/2 = e−x und ω =


p
(3). Daraus folgt:
√ √
y = e−x (α cos 3x + β sin 3x).

Anfangsbedingung 1: y(0) = e0 (α cos 0 + β sin 0) = 0.


√ √
Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = e0 (α cos 0 + β sin 0 − 3A sin 0 + 3B cos 0) = 0.

→ α = 1 und β = √1
3

Inhomogene Differentialgleichung
Wie bereits bei den lineaen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten
kann auch hier die Lsung der lineaen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten
Koeffizienten als Linearkombination der allgemeinen Lsung der homogenen Gleichung und einer
partikulren Lsung der inhomogenen Gleichung angeschrieben werden (y = yh + yp ).

1.2.2 System von Differentialgleichungen 1.Ordnung


Es ist immer möglich, eine gewöhnliche Differentialgleichung n.-ter Ordnung in ein System von n
gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit n Unbekannten Funktionen umzuformen.
Dies ist vor allem für die computerunterstützte (numerische) Lösung von Differentialgleichungen
von Vorteil, da sich die numerische Lösung von Differentialgleichungen 1. Ordnung leicht in
Algorithmen mit breiter Gültigkeit überführen läßt.
Wir wollen die Umformung in ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung
am Beispiel der linearen Differentialgleichung 2. Ordnung y 00 + p(x)y 0 + q(x)y = r(x) zeigen.
Führt man anstelle der 1. Ableitung von y eine neue Variable u = y 0 ein so erhält man:

y 0 = u,
(1.56)
u0 = −p(x)u − q(x)y + r(x).

1.3 Übungsaufgaben

P (x)
Theoriefrage: Zeigen Sie allgemein wie für die gewöhnliche Differentialgleichung y 0 = − Q(x)
24 Kapitel 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen

ein Integrierender Faktor gefunden werden kann, der nur von x abhängt.

Beispiel: Lösen Sie die folgenden Anfangswertprobleme:


a) y 0 = 3 √xy , y(x = 0) = 1.
2 2
b) y 0 = − x 2xy
+y
, y(x = 1) = 1.
c) y 00 + 5y 0 + 6y = 0, y(x = 0) = 1, y 0 (x = 0) = 0.
Überprüfen Sie die Lösungen.

Beispiel: Bestimmen Sie die allgemeinen Lösungen folgender Differentialgleichungen:



a) y 0 = xy.
y+4x2
b) y 0 = 2 cos
x sin y .
c) y 00 + 2y 0 + y = 0.
Überprüfen Sie die Lösungen.

Beispiel: Lösen Sie die folgenden Anfangswertprobleme:


a) y 0 = 2 + y, y(x = 0) = 1.
yex
b) y 0 = − 2y+e x , y(x = 0) = −1.

c) y + 9y = 0, y(x = 0) = 0, y 0 (x = 0) = 1.
00

Überprüfen Sie die Lösungen.

Beispiel: Bestimmen Sie die allgemeinen Lösungen folgender Differentialgleichungen:


a) y 0 = (x + 1)y −3 .
b) y 0 = − 2y+xy 1
2x . Hinweis: xy ist ein integrierender Faktor.
c) y 00 + 6y 0 + 8y = 0.
Überprüfen Sie die Lösungen.
Kapitel 2

Fourierreihen

Die unter dem Begriff Fourier-Analyse subsummierten Methoden gehen auf den französischen
Mathematiker Jean Baptiste Joseph Fourier (1768-1830, Abb. 2.1) zurück. Der Großteil der Me-
thoden wurde von Fourier während des Ägypten-Feldzuges von Napoléon Buonaparte, an dem
er als Gelehrter und Landvermesser teilnahm, entwickelt. Daher verwundert es nicht, daß die
klassischen Fourier Methoden, wie sie in diesem Kapitel behandelt werden, zum Gebiet der ana-
lytischen Mathematik gehören. Ihre Bedeutung für die Medizinische Informatik ergibt sich vor
allem durch die digitalen bzw. numerischen Weiterentwicklungen (z.B. Fast Fourier Transfor-
mation, FFT), welche in den Vorlesungen aus Signal- und Bildverarbeitung behandelt werden.
Diese Verfahren werden in der modernen Medizintechnik beispielsweise bei der Berechnung von
Magnetresonanz- und Computer-Tomografie-Bilddaten eingesetzt.
Zunächst sollen im Rahmen der Vorlesung jedoch die Fourierreihen als Basis aller wei-
terführenden Verfahren behandelt werden.
In der Literatur werden Fourierreihen üblicherweise zunächst für periodische Funktionen
eingeführt. Die wesentliche Beobachtung von Fourier war, dass periodischen Funtionen durch eine
Summe von trigonometrischen Funktionen (’sinusförmige Schwingungen’) plus einer konstanten
Funktion dargestellt werden können. Periodische Funktionen sind besonders in der Elektronik
und damit auf der hardwarenahen Seite der Informatik weit verbreitet. Man beachte, daß hier
eine besondere Attraktivität für die Anwendung besteht. Sinusförmigen Schwingungen bilden die
Grundlage der Wechselstromrechnung, konstante Größen werden durch die Gleichstromrechnung
abgedeckt.

2.1 Beispiel - symmetrische Dreieckfunktion

In dem Abschnitt soll die Idee hinter den Fourierreihen zunächst am Beispiel einer Dreieckfunk-
tion vermittelt werden. Dreieckfunktionen treten in der Elektronik bei den meisten Generatoren
auf, die Signale mit verändererbarer Frequenz erzeugen (Grundausstattung in jedem Elektroni-
klabor).
Es soll zunächst eine periodische Dreieckfunktion mit der Amplitude 1 und der Periode 2π
26 Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.1: Jean Baptiste Joseph Fourier (Quelle: Wikipedia - freie Enzyklopädie)

betrachtet werden. Diese Funktion f (x) kann wie folgt angeschrieben werden:

2
− π2 < x ≤ π2

f (x) = πx für
mit f (x + 2π) = f (x). (2.1)
2 π 3π
2 − π x für 2 <x≤ 2

Diese Funktion ist in Abb. 2.2 dargestellt. Es soll an dieser Stelle zunächst ohne Beweis
behauptet werden, daß die Funktion f (x) auch durch eine unendliche Reihe mit Sinus-Gliedern
dargestellt werden kann:

8 1 1
f (x) = 2
(sin x − 2 sin 3x + 2 sin 5x ∓ ...). (2.2)
π 3 5
In Abb. 2.2 ist auch der Graph dieser Reihe dargestellt, wobei einmal nur das 1. Glied, dann
alle Glieder bis zum 3., 5. und 7. Glied dargestellt sind. Man erkennt, daß mit wachsender Zahl
an Gliedern die Funktion immer besser approximiert wird. Man kann zeigen, daß im Grenzwert
für unendlich viele Glieder die Reihe sogar exakt gegen die Funktion f (x) konvergiert, was das
’Ist-Gleich-Zeichen’ in Gl. (2.2) rechtfertigt.
Wie im Kreyszig geeigt wird, kann die Beobachtung an diesem Beispiel auf eine große Fa-
milie an peridischen Funktionen erweitert werden, wenn zusätzlich zum sin noch cos-Glieder
und ein konstantes Glied eingeführt werden. Faktisch alle in der Technik vorkommenden pe-
riodischen Funktionen (z.B. Taktsignale in der Elektronik, Druckgrößen in Kolbenmaschinen)
können durch eine Fourierreihe dargestellt werden. Wir erhalten dadurch einen neuen Blickwin-
kel auf die peridische Funktion. Wir bezeichnen die mit sin x und cos x verküpften Glieder als
Grundschwingung bzw. 1. Harmonische und die mit sin nx und cos nx verknüpften Glieder als
n. Oberschwingung bzw. n. Harmonische. In der Musik legt die Frequenz der Grundschwingung
die Tonhöhe fest, die Oberschwingungen die Klangfarbe des Instrumentes. So ist beispielswei-
se die Klangfarbe des Kammertones a1 (Grundschwingung 440 Hz) bei einer Blockflöte (wenig
Oberschwingungen) anders als bei einer Trompete (starke Oberschwingungen).
2.1 Beispiel - symmetrische Dreieckfunktion 27

Abbildung 2.2: Peridische Dreieckfunktion (oben) und ihre Approximation durch Fourierreihen bis zum
1., 3., 5. und 7. Glied.
28 Kapitel 2: Fourierreihen

2.2 Fourierreihen - Ansatz

Wir wollen uns in diesem Kapitel zunächst wie im Kreyszig auf Funktionen mit der fundamen-
talen Periode 2π beschränken. Die Fourierreihe kann wie folgt angeschrieben werden:

X
f (x) = a0 + (an cos nx + bn sin nx). (2.3)
n=1

Bei gegebener Funktion f (x) sind die Koeffizienten a0 , an und bn zunächst unbekannt. Ihre
Berechnung bezeichnet man als Fourierreihenentwicklung. Sie basiert auf dem unten beschrie-
benen Ansatz. Die hier gezeigte Behandlung ist umfangreicher als im Kreszig.
Wir nehmen an, die Reihe beschreibt die Funktion mit einem Residum (Fehler) ρ(x):

X
ρ(x) = f (x) − a0 − (an cos nx + bn sin nx). (2.4)
n=1

Das Residum sollte für eine gesammte Periode [−π, π] betragsmäßig möglichst klein werden.
Man fordert
Z π
ρ2 (x)dx → min. (2.5)
−π

Hier sorgt das Quadrat in Gl. (2.4) dafür, daß auch negative Fehler positiv gezählt werden
(Alternative zur Betragsbildung). Durch die Integration werden die Fehler über die gesammte
Periode aufsummiert. Setzt man Gl. (2.4) in Gl. (2.5) ein, so erhält man:
Z π ∞
X
[f (x) − a0 − (an cos nx + bn sin nx)]2 dx → min. (2.6)
−π n=1

Die Unbekannten a0 , an und bn werden durch Nullsetzen aller partiellen Ableitungen nach
a0 , an und bn berechnet. Dies kann für a0 wie folgt angeschrieben werden:
Z π ∞
∂ X !
[f (x) − a0 − (an cos nx + bn sin nx)]2 dx = 0 (2.7)
∂a0 −π n=1

Man erhält nach Durchführung der partiellen Ableitung und Umordnung des Ausdruckes
(vergleiche Kreyszig):
Z π Z π Z π ∞
X
f (x)dx = a0 dx + (an cos nx + bn sin nx)dx (2.8)
−π −π −π n=1

Für die Integrale im Summenterm auf der rechten Seite gilt:


Rπ Rπ
−π cos nx dx = −π sin nx dx = 0, n ∈ N. (2.9)
2.2 Fourierreihen - Ansatz 29

Die Beobachtung, daß fast alle Integrale auf der rechten Seite Null werden erleichtert die
Behandlung wesentlich. Sie ist auch zentral für den theoretischen Hintergrund der Fourierreihen.
Durch diese Eigenschaft kann das konstante Glied aR0 unabhänig von an und bn berechnet werden.
π
Damit erhält man unter Berücksichtigung von −π dx = 2π:
Z π
1
a0 = f (x)dx. (2.10)
2π −π

Zur Berechnung der Koeffizienten an und bn soll zunächst die Eigenschaft der Orthogonalität
eines trigonometrischen Systems angeführt werden:
Rπ Rπ
−π cos mx cos nx dx = −π sin mx sin nx dx = 0, m, n ∈ N, m 6= n. (2.11)


−π cos mx sin nx dx = 0, m, n ∈ N. (2.12)
Die Behandlung dieser Integrale kann im Kreyszig nachgelesen werden. Abb. 2.3 plausibili-
siert, warum die Integrale Null werden (Symmetrieeigenschaften des Integranden).
Zur Berechnung aller Koeffizienten am setzt man alle partiellen Ableitungen des Funktionals
(2.6) nach am gleich Null:
Z π ∞
∂ X !
[f (x) − a0 − (an cos nx + bn sin nx)]2 dx = 0 (2.13)
∂am −π n=1

Man erhält nach Ableiten und Umordnen (vergleiche Kreyszig):


Z π Z π ∞
X
f (x) cos mx dx = [a0 + (an cos nx + bn sin nx)] cos mx dx (2.14)
−π −π n=1

Aufgrund der Orthogonalität geben die Integrale über das konstante Glied und auch jene
über dieRsin-Glieder Null. Die Integrale über die cos-Glieder sind für m 6= n Null. Nur das
π
Integral −π cos mx cos mx dx = π liefert aufgrund der quadratischen Operation im Integranden
ein Ergebnis größer Null. Man erhält somit:

1 π
Z
am = f (x) cos mx dx. (2.15)
π −π

Die Berechnung der Koeffizienten bm ist völlig analog zur Berechnung der am (siehe auch
Kreyszig). Daher wird hier nur das Ergebnis angeschrieben:

1 π
Z
bm = f (x) sin mx dx. (2.16)
π −π

Es soll abschließend betont werden, die Berechnung der Koeffizienten a0 , am und bm auf der
Minimierung eines Funktionales (2.6) beruht. Es kann gezeigt werden, daß dieses Funktional nur
30 Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.3: Beispiel zur Orthogonalität des trigonometrischen Systems. Das obere Bild zeigt die
Funktionen cos 2x und sin 3x. Das unter Feld zeigt das Produkt cos 2x sin 3x. Die gelb hinterlegte Fläche
entspricht dem Integral. Aufgrund der Symmetrie heben sich die positiven und negativen Flächen exakt
weg. Das Integral gibt Null.
2.3 Gerade und ungerade Funktionen 31

ein Extremum (Minimum) besitzt. Daher ist die Fourierreihenentwicklung ein äußerst stabiles
Verfahren. Für endliche, stückweise stetige periodische Funktionen konvergiert die Reihe gegen
die exakte Funktion.

2.3 Gerade und ungerade Funktionen

Im Kapitel 2.1 sind in der Fourierreihe der Dreiecksfunktion nur sin-Glieder vorgekommen
(a0 = a1 = ... = 0). Verantwortlich dafür ist eine besondere Symmetrieeigenschaft der in Gl.
(2.1) definierten Dreiecksfunktion. Sie ist ungerade, d.h. sie ist punktsymmetrisch bezüglich des
Ursprunges. Es gilt:

f (x) = −f (−x) ... ungerade Funktion. (2.17)


Von allen Gliedern der Fourierreihe (2.3) sind nur die sin-Glieder punktsymmetrisch
bezüglich des Ursprunges (siehe Abb. 2.4). Daher kommen in der Reihenentwicklung auch nur
diese Terme vor (alle an = a0 = 0).
Im Gegensatz zum sin sind das konstante Glied und die cos-Glieder spiegelbildlich bezüglich
der Ordinate. Man spricht von geraden Funktionen:

f (x) = f (−x) ... gerade Funktion. (2.18)


In der Reihenentwicklung von geraden Funktionen kommen daher nur gerade Terme vor (alle
bn = 0, siehe Abb. 2.4).
Besonders in der Elektronik haben zahlreiche Signale Symmetrieeigenschaften, die bei der
Berechnung der Fourierreihen ausgenutzt werden können. Eine Funktion f (x) kann auch immer
aus einem ungeraden Anteil f1 (x) und einem geraden Anteil f2 (x) zusammengesetzt werden
(f (x) = f1 (x) + f2 (x)). Häufig vereinfacht dies die Rechnung, wie an folgendem Beispiel gezeigt
werden soll.
Die periodische Sägenzahnfunktion f (x) sei gegeben als:
x
f (x) = + 1, für − π < x < π, mit f (x) = f (x + 2π). (2.19)
π
Diese Funktion besitzt den geraden Anteil f2 (x) = 1 mit trivialer Fourierreihe (nur konstan-
tes Glied) und der ungeraden Anteil f1 (x) = πx (siehe Abb. 2.5). Beim ungeraden Anteil können
nur die Koeffizienten bn ungleich Null sein, was Rechenaufwand einspart und Fehlerquellen ver-
meidet. Übungsaufgabe: Berechnen Sie die Fourierreihe von f (x). Sägezahnfunktionen dienen in
der Elektronik/Informatik z.B. zur Horizontal- und Vertikalablengkung des Elektronenstrahles
am Bildschirm.
Symmetrieeigenschaften haben eine weitere praktische Bedeutung, welche hier nur kurz an-
gedeutet werden soll (detailierte Behandlung im Kreszig). Oft haben Funktionen nur in einem
endlichen Intervall ein physikalische Bedeutung. Als Beispiel sei hier z.B. die Auslenkung f (x, t)
einer schwingenden Gitarrensaite genannt (t ist die Zeit). Hier ergibt die Funktion nur für x
im Intervall [0, L] (L ... Länge der Saite) einen physikalischen Sinn. Außhalb ist die Funktion
32 Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.4: Beispiel für gerade und ungerade Funktionen. Die gleichschenkelige Dreiecksfunktion
kann als ungerade (links) aber auch als gerade Funktion (rechts) definiert werden. Im ersten Fall enthält
die Fourierreihe nur sin-Glieder. Im zweiten Fall nur cos-Glieder. Übungsaufgabe: Berechnen Sie die
Fourierreihen der beiden Funktionen.

Abbildung 2.5: Sägezahnfunktion f (x) aus Gl. 2.19 (volle Linie). Sie kann aus der ungeraden Funktion
f1 (x) (strichpunktiert) und der geraden, konstanten Funktion f2 (x) zusammengesetzt werden (punktiert).
2.4 Funktionen mit beliebiger Periode p = 2L 33

Abbildung 2.6: Skalierung der Abszisse. Die Variable x hat die Periode 2π, die Variable ξ hat die Periode
p = 0.2.

undefiniert. Man kann dies nutzen, und sich die Funktion außerhalb der Saite beliebig peri-
odisch vorgesetzt denken. Damit werden Grund- und Oberschwingung auf der Saite in Form von
Fourierreihen behandelbar.
Anlog ist auch der Einsatz von Fourier-Methoden in der digitalen (medizinischen) Bildver-
arbeitung zu plausibilisieren. Die Bildfunktion ist nur für Pixel innerhalb der Bildes definiert.
Außerhalb kann man sich die Funktion beliebig (also auch periodisch) vorgesetzt denken.

2.4 Funktionen mit beliebiger Periode p = 2L

Im vorigen Kapitel wurde vereinfacht angenommen die Fundamentalperiode sei 2π. Im allge-
meinen Fall jedoch sei die Fundamentalperiode p. Manchmal ist es zweckmäßig die Abkürzung
L für die halbe Fundamentalperiode einzuführen (siehe Kreszig). Um eine klare Abgrenzung
zum vorangegangenen Kapitel zu ermöglichen, schreiben wir hier für die unabhängige Variable
ξ (anstelle von x).
Durch die Koordinatentransformation
π 2π
x= ξ= ξ (2.20)
L p
kann jede Funktion auf das Intervall [−π, π] skaliert werden (siehe Abb. 2.6). Dann lauten die
Vorschriften zur Fourierreihenentwicklung:
L
1 p
Z Z
1
a0 = f (ξ) dξ =
f (ξ) dξ, (2.21)
2L
−L p 0

1 L 2 p
Z Z
mπξ 2mπξ
am = f (ξ) cos dξ = f (ξ) cos dξ, (2.22)
L −L L p 0 p

1 L 2 p
Z Z
mπξ 2mπξ
bm = f (ξ) sin dξ = f (ξ) sin dξ. (2.23)
L −L L p 0 p
34 Kapitel 2: Fourierreihen

Gl. (2.21) bis (2.23) sind am Formelblatt zur Prüfung angeführt.

2.5 Komplexe Fourierreihen

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß Fourierreihen auch in komplexer Form angeschrieben
werden können. Eine (in der Praxis eher seltene) Anwendung dieses Verfahrens ist die Reihen-
entwicklung komplexer Funktionen fc (x). Der bedeutende Vorteil komplexer Fourier-Reihen ist
die kompakte Schreibweise, die mit Hilfe der komplexen Zahlen erreicht wird. Durch diesen Vor-
teil bedienen sich praktisch alle Weiterentwicklungen der Fourierreihen (vor allem die ’digitalen’
Verfahren wie die FFT und die z-Transformation) der komplexen Notation. Die Betrachungen
werden hier auf reelle Funktionen f (x) eingeschränkt.
Wir wollen uns zunächst die Euler Formel eix = cos x + i sin x in Erinnerung rufen. Man
kann beobachten, daß je ein cos- und sin-Term sehr kompakt in den Exponenten der e-Funktion
geschrieben werden können. Die imaginäre Einheit i ist dabei eine Art ’Mascherl’, welches ver-
wendet wird um sin und cos-Term zu unterscheien. Um zu einer kompakten Schreibweise zu
gelangen, notieren wir zunächst (die Periode von f (x) sei 2π):

einx = cos nx + i sin nx. (2.24)

e−inx = cos nx − i sin nx. (2.25)

Addiert man die beiden Ausdrücke (2.24) und (2.25), so erhält man nach Division durch 2:

1
cos nx = (einx + e−inx ). (2.26)
2
Damit ist es gelungen, den cos-Term als Summe zweier komplexer e-Funktionen darzustellen.
Analog erhält man durch Subtraktion von (2.24) und (2.25) nach Division durch 2i:

1 inx
sin nx = (e − e−inx ). (2.27)
2i
Aus Gl. (2.26) und (2.27) erhält man für die n. Harmonische der Reihe:

1 1
an cos nx + bn sin nx = (an − ibn )einx + (an + ibn )e−inx . (2.28)
2 2
Wir führen nun den komplexen Fourierkoeffizienten cn = 21 (an − ibn ) ein. Weiters schreiben
wir für das konstante Glied c0 = a0 und führen die Hilfsgröße kn = 12 (an + ibn ) ein.
Wir können nun die Fourierreihe (2.3) wie folgt anschreiben:

X
f (x) = c0 + (cn einx + kn e−inx ). (2.29)
1
2.6 Übungsaufgaben 35

Um die Schreibweise noch weiter abzukürzen, lassen wir nun auch negative Indizes für n zu.
Weiters ersetzen die Hilfsgröße durch einen komplexen Fourierkoeffizienten mit negativem Index
c−n = kn :

X
f (x) = cn einx . (2.30)
−∞

Gl. (2.30) ist die komplexe Fourierreihe. Sie ist das komplexe Äquivalent zur reellen Fourier-
reihe (2.3). Sie kann jedoch deutlich kompakter angeschrieben werden. Die komplexen Fourier-
koeffizienten cn berechnen sich aus:
Z π
1
cn = f (x)e−inx dx. (2.31)
2π −π

Man beachte, daß es hier möglich ist, das Äquivalent zu Gl. (2.10), (2.15) und (2.16) in
einem einzigen Ausdruck anzuschreiben. Für die allgemeine Periode p = 2L lauten dann die
entsprechenden Beziehungen:

X
f (ξ) = cn einπξ/L , (2.32)
−∞
Z L
1
cn = f (ξ)e−inπξ/L dξ. (2.33)
2L −L

Gl. (2.32) und (2.33) sind am Formelblatt zur Prüfung angeführt.

2.6 Übungsaufgaben

Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funk-
tion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 4. Hinweis: f (x) kann als Summe einer geraden
und einer ungeraden Funktion angeschrieben werden. Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 ,
c1 der komplexen Fourierreihe von f (x) an.

Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funk-
tion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 4. Hinweis: f (x) kann als Summe einer geraden
und einer ungeraden Funktion angeschrieben werden. Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 ,
c1 der komplexen Fourierreihe von f (x) an.

Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funk-
tion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 6. Hinweis: beachten Sie die besonderen Symmetrie-
eigenschaften von f (x). Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 , c1 der komplexen Fourierreihe
von f (x) an.
36 Kapitel 2: Fourierreihen

Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man vom Fourierreihenansatz durch Minimierung des Residums
die Beziehungen zur Berechnung der Koeffizienten a0 , am und bm erhält. Nutzen Sie die Eigen-
schaft der Orthogonalität des durch die Ansatzfunktionen gebildenten Funktionensystems.
Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man durch Nutzung der Eulerformel von der Fourierreihe mit
den reellen Koeffizienten a0 , an und bn zu einer komplexen Darstellung der Reihe mit den Ko-
effizienten cn kommt.
Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe mit den komplexen Koeffizienten cn der unten darge-
stellten Funktion f (x) = k | cos x | (Ausgangssignal des Vollweggleichrichters). Hinweis: verwen-
den Sie die Beziehung cos x = 12 (eix + e−ix ) zur Vereinfachung der komplexen Integration. Wie
groß ist die Fundamentalperiode der Funktion ?

Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe mit den komplexen Koeffizienten cn der unten darge-
stellten periodischen Funktion f (x) = ke−|x| , für −1 < x < 1, mit f (x) = f (x + 2).
2.6 Übungsaufgaben 37
38 Kapitel 2: Fourierreihen
Kapitel 3

Fourierintegrale & Fouriertransformation

Durch die Fourierreihenentwicklung ist es gelungen, periodische Funktionen in Grundschwin-


gung und Oberschwingungen zu zerlegen. Das schafft einen neuen Blickwinkel auf physikalische
Probleme und technische Fragestellungen. Somit können ein vertieftes Verständnis und quanti-
tative Ansätze zur Problemlösung gewonnen werden. Es stellt sich die Frage, ob diese Vorteile
auch für aperiodische Funktionen nutzbar gemacht werden können. Die Verallgemeinerung der
Fourierreihen auf aperiodische Funktionen erfolgt durch Fourierintegrale.
Es soll an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, daß die Verallgemeinerung nicht
so vollständig gelingt, wie dies oft zu wünschen wäre. Es gibt durchaus Funktionen von großem
praktischem Interesse (z.B. die Sprungfunktion), die nicht durch Fourierintegrale behandelt wer-
den können. Die Funktionen, welche in diesem Kapitel behandelt werden haben zumeist impuls-
artigen Charakter. In der Praxis sind diese Funktionen häufig zeitabhängige Größen (Signale).
Für solche impulsartigen Signale gelingt es, durch die Fourierintegrale exakt ihr Frequenzspek-
trum zu berechnen (z.B. Kippimpuls bei der Magnetresonanztomographie).

3.1 Fourierintegrale

3.1.1 Beispiel - Rechteckimpuls


Wir betrachten ein periodisches Rechtecksignal fL (x) mit der Fundamentalperiode 2L > 2:

 0 für −L < x < −1
fL (x) = 1 für −1 < x < 1 (3.1)
0 für 1 < x < L.

Wir untersuchen nun die Funktion im Grenzübergang L → ∞. Abb. 3.1 zeigt die Funktion
fL (x) für 2L = 4, 8, 16. Im Grenzwert besteht die Funktion nur aus einem Rechteckimpuls und
ist daher aperiodisch. Wir schreiben:

1 für − 1 < x < 1
f (x) = lim fL (x) = (3.2)
L→∞ 0 sonst
40 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.1: Funktionsverlauf und Amplitudenspektra zum Beispiel Rechteckimplus (Quelle: Erwin
Kreyszig, Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Ausgabe.)

Man erkennt, dass (zumindest einige) aperiodischen Funktionen als Grenzwert einer periodi-
schen Funktion mit unendlicher Periodendauer interpretiert werden können. Wir untersuchen
als nächstes, wie sich die Fourierkoeffizienten an verhalten, wenn L vergrößert wird. Mit Hilfe
von Gl. (2.21) und Gl. (2.22) erhalten wir:

1 2 sin(nπ/L)
a0 = , an = . (3.3)
L L nπ/L

Gl. (3.3) beschreibt das Amplitudenspektrum der geraden Funktion fL (x) (alle bn = 0).
Wir führen die Abkürzung ωn = nπ/L ein. (Dies ist physikalisch sinnvoll. Wenn x die Zeit ist,
dann steht ω für die Kreisfrequenz = 2π mal Frequenz). Wie aus Abb. 3.1 ersichtlich, hat die
Hüllkurve des Spektrums immer die Form sin(ωn )/ωn . Die Amplitude des Spektrums sinkt mit
1/L, hingegen nimmt die Dichte der Amplituden im gleichen Ausmaß zu. Es ist naheliegend,
diese Beobachtung auszunutzen. Führt man eine spektrale Amplitudendichte ein, bei der sich die
beiden beschriebenen Effekte kompensieren, so ist das Ergebnis unabhängig von L. Dies erfolgt
im nächten Abschnitt.
3.1 Fourierintegrale 41

3.1.2 Grenzübergang zum Fourierintegral


Wir betrachten nun eine beliebige periodische Funktion fL (x) mit der Fundamentalperiode 2L.
Sie besitzt die Fourierreihe:

X nπ
fL (x) = a0 + (an cos ωn x + bn sin ωn x), ωn = . (3.4)
L
n=1

Hier ist ωn wie im Beispiel oben definiert. Um den Grenzübergang L → ∞ durchführen zu


können, ersetzen wir die Koeffizienten a0 , an und bn durch Gl. (2.21), (2.22) und (2.23). Da die
Variable x bereits vergeben ist, nennen wir die Laufvariable zur Integration v:
Z L ∞ Z L
1 1X
fL (x) = fL (v)dv + [cos ωn x fL (v) cos ωn vdv
2L −L L −L
n=1 Z L (3.5)
+ sin ωn x fL (v) sin ωn vdv].
−L

Um die Beobachtungen aus dem Bespiel oben zu nutzen, führen wir die Variable ∆ω = π/L
für den Abstand zwischen zwei Harmonischen ein. Man beachte, daß dies dem Kehrwert der
Amplitudendichte im Spektrum entspricht. Wir erstetzen in Gl. (3.5) 1/L vor dem Summenterm
mit ∆ω/π und ziehen ∆ω in die Summe:
Z L ∞ Z L
1 1X
fL (x) = fL (v)dv + [cos ωn x∆ω fL (v) cos ωn vdv
2L −L π −L
n=1 Z L (3.6)
+ sin ωn x∆ω fL (v) sin ωn vdv].
−L

Man erkennt, daß der Summenterm einer den Riemannsummen ähnliche Form annimmt. Im
Gegensatz zu den Riemannsummen wird aber über ein unendliches Intervall summiert. Daher
wird im Grenzwert L → ∞ die Summe zu einem uneigentlichen Integral (∆ω → dω). Um die
Existentz des uneigentlichen Integrales zu gewährleisten, muß über die Funktion fL (x) entspre-
chend verfügt werden.R ∞Eine hinreichende Bedingung hierfür ist, daß f (x) absolut integrierbar
ist. D.h. das Integral −∞ | f (x) | dx existiert. Man beachte, daß dies eine starke Einschränkung
darstellt, welche die Anwendbarkeit des Verfahrens (wie oben diskutiert) eingrenzt.
Durch die Eigenschaft der Absolut-Integrierbarkeit wird der erste Term auf der rechten Seite
von 3.6 (stammt vom konstanten Glied her) im Grenzwert L → ∞ Null. Man erhält:
Z ∞ Z ∞ Z ∞ 
1
f (x) = cos ωx f (v) cos ωvdv + sin ωx f (v) sin ωvdv dω. (3.7)
π 0 −∞ −∞

Hierbei wurde aus den diskreten Werten ωn die kontinuierliche Funktion ω. Es soll betont
werden, daß (in Analogie zum Kreszig) der Grenzwertübergang hier nur plausibilisiert wurde,
jedoch nicht in Form einer vollständigen mathematischen Behandlung vollzogen wurde. Wir
42 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

beobachten, daß die Integrale mit dem Funktionsargument v analog wie die Definition der Koef-
fizienten bei der Fourierreihe sind. Es ist daher naheliegend, folgende Abkürzungen einzuführen:

1 ∞ 1 ∞
Z Z
A(ω) = f (x) cos ωx dx, B(ω) = f (x) sin ωx dx. (3.8)
π −∞ π −∞
Die kontinuierlichen Funktionen A(ω) und B(ω) für die aperiodische Funktion f (x) sind das
Analogon zu den Koeffizienten an und bn einer periodischen Funktion. Entspricht die Variable
x der Zeit, so beschreiben A(ω) und B(ω) das exakte Frequenzspektrum der Funktion. Es sei
hier bemerkt, daß nur Fourierintegrale die exakte Berechnung von Spektren erlauben. Digitale
Verfahren wie z.B. die Fast-Fourier-Transformation liefern lediglich Schätzwerte der gesuchten
Spektren.
Ist das Spektrum A(ω) und B(ω) bekannt, so kann die zugehörige Funktion f (x) wie folgt
berechnet werden:
Z ∞
f (x) = [A(ω) cos ωx + B(ω) sin ωx]dω. (3.9)
0

Man bezeichnet Gl. (3.9) auch als Fourierintegraldarstellung der aperiodischen Funktion
f (x). Sie ist das Analogon zur Fourierreihe einer periodischen Funktion. Gl. (3.8) und (3.9) sind
am Beiblatt zur Prüfung angegeben.

3.1.3 Anwendungsbeispiel: MRT-Kippimpuls


Bei der Magnetresonanztomographie wird durch die Kombination eines Gradientenfeldes mit
einem Kippimpuls das Schichtbild ausgewählt. Abb. 3.2 zeigt das Prinzip. Nach Anlegen des
Gradientenfeldes ist die Resonanzfrequenz eine Funktion des Ortes. Will man die Magnetisierung
in einer Schicht mit endlicher Dicke kippen, so muß der Kippimpuls Frequenzanteile in einem
Interval [ω0 −∆ω, ω0 +∆ω] enthalten. Hier bestimmt der Parameter ω0 die Lage der Schichtmitte
und ∆ω die Schichtdicke. Außerhalb der Schicht sollen die Frequenzanteile im Idealfall Null sein.
Wir beobachten, daß das gewünschte Spektrum z.B. nur mit sin-Gliedern erzeugt werden kann
(entspricht der Festlegung des Zeitpunktes Null) und wählen A(ω) ≡ 0, sowie:

k für ω0 − ∆ω < ω < ω0 + ∆ω
B(ω) = (3.10)
0 sonst.
Hierbei sollen alle Spins in der Schicht gleichmäßig mit der Amplitude k angeregt werden.
Damit erhalten wir für die Fourierintegraldarstellung des Kippimpulses f (x):
Z ω0 +∆ω
f (x) = k sin ωx dω, (3.11)
ω0 −∆ω
und nach Integration den Kippimpuls:

k
f (x) = {cos[(ω0 − ∆ω)x] − cos[(ω0 + ∆ω)x]}. (3.12)
x
3.1 Fourierintegrale 43

Abbildung 3.2: Exemplarische Darstellung des Prinzips der Schichtauswahl bei der Magnetresonanzto-
mographie. Nach dem Anlegen eines Gradientenfeldes (oben) entsprechen niedrige Resonanzfrequenzen
ω kaudalen Regionen, hohe ω den kranialen Regionen (unten). Bild modifiziert aus Hans H. Schild, MRI
made easy (... well almost), Schering AG - Druckhaus Berlin.

Abbildung 3.3: Berechneter MRT-Kippimpuls (dicke Linie). Die Hüllkurve ist strichliert gezeichnet.

Dies kann mit Hilfe des Summensatzes cos α−cos β=−2 sin( α+β
2
) sin( α−β
2
) wie folgt angeschrieben
werden:

sin(∆ωx)
f (x) = 2k sin(ω0 x). (3.13)
x
Abb. 3.3 zeigt den berechneten Kippimpuls. Der Term sin(∆ωx)/x legt die Hüllkurve der
Funktion fest. Die Mittenfrequenz ω0 der Schicht findet sich im Term sin(ω0 x) wieder. Prak-
tisch läßt sich der berechnete Kippimpuls nur näherungsweise realisieren, da eine Begrenzung
auf endliche Dauer erforderlich ist. Durch diese Begrenzung kommt es - durch das im Kreszig
beschriebene Gibb’sche Phänomen - zu Oszillationen im Anregungsprofil B(ω). In machen An-
wendungen ist dies störend, und es werden daher modifizierte Kippimpulse verwendet. Bei der
typischen Kippimplusdauer von wenigen ms liegt ∆f = ∆ω/2π in der Größenordnung von einem
kHz. Bei einer Grundfeldstärke von 1.5 T wird f0 = ω0 /2π rund 64 MHz.
44 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

3.2 Fouriertransformation

Im Kapitel 2.5 wurde durch Einführen einer komplexen Notation eine kompakte Schreibweise
erreicht. Auch das oben eingeührete Fourierintegral kann mit Hilfe der komplexen Zahlen in eine
kompakte Form gebracht werden, die man als Fouriertransformation bezeichnet.
Um zur Fouriertransformation zu gelangen setzen wir zunächst die beiden Fourierintegrale
in Gl. (3.8) in die Fourierintegraldarstellung (3.9) ein. Wir erhalten:

1 ∞ ∞
Z Z
f (x) = f (v)[cos ωx cos ωv + sin ωx sin ωv] dvdω. (3.14)
π 0 −∞

Man beachte, daß diese Beziehung durch Umordnen auch aus Gl. (3.7) erhalten werden kann.
Der Term in der eckigen Klammer kann mit Hilfe des Summensatzes cos α cos β+sin α sin β=cos(α−β)
nach Umordnung auch wie folgt angeschrieben werden:

1 ∞
Z Z ∞ 
f (x) = f (v) cos(ωx − ωv) dv dω. (3.15)
π 0 −∞

Wir beobachten, daß der Term in der eckigen Klammer den Integranden des äußeren Integra-
les über dω darstellt. Da im Integranden ω nur im cos vorkommt, ist der Integrand eine gerade
Funktion. Aufgrund der Symmetrie bezüglich der Ordinate können wir die Integrationsgrenzen
ändern und schreiben schreiben:
Z ∞ Z ∞ 
1
f (x) = f (v) cos(ωx − ωv) dv dω. (3.16)
2π −∞ −∞
Durch diese Manipulation ist in beiden Integralen von −∞ bis ∞ zu integrieren, was sich
positiv auf die Symmetrieeigenschaften der Transformation auswirkt. Um die komplexe Schreib-
weise einzuführen wird ein Trick verwendet. Wir ersetzen in Gl. (3.16) den cos durch den sin
und beobachten, daß dieses Integral Null geben muß, da im Integranden eine ungerade Funktion
steht.
Z ∞ Z ∞ 
1
f (v) sin(ωx − ωv) dv dω = 0. (3.17)
2π −∞ −∞

Wir können daher den Integranden in (3.16) mit Hilfe der Euler Formel wie folgt erweitern:

cos(ωx − ωv) + i sin(ωx − ωv) = ei(ωx−ωv) , (3.18)

da das Integral über den mit dem sin-Term verknüpften Imaginärteil immer Null gibt. Wir
erhalten:
Z ∞Z ∞
1
f (x) = f (v)ei(ωx−ωv) dvdω. (3.19)
2π −∞ −∞
3.2 Fouriertransformation 45

Um zur Fouriertransformation zu gelangen, drücken wir die Exponentialfunktion in Gl. (3.19)


als Produkt von Exponentialfunktien ei(ωx−ωv) =eiωx e−iωv aus. Weiters schreiben wir, um zu einer
symmetrischen Transformationsbeziehung zu gelangen: 2π 1
= √1 √1 . Wir erhalten:
2π 2π

Z ∞  Z ∞ 
1 1 −iωv
f (x) = √ √ f (v)e dv eiωx dω. (3.20)
2π −∞ 2π −∞

Diese Gleichung hat eine ähnliche Form wie Gl. (3.7), über welche die Fourierintegrale ein-
geführt wurden. Der wesentliche Unterschied ist, daß die sin und cos Terme durch Exponenti-
alfunktionen mit komplexen Exponenten ersetzt wurden. Analog zur Definition der Fourierinte-
grale definieren wir die Fouriertransformation:
Z ∞
1
fˆ(ω) = √ f (x)e−iωx dx. (3.21)
2π −∞

Das Analogon zur Fourierreihendarstellung ist die inverse Fouriertransformation:


Z ∞
1
f (x) = √ fˆ(ω)eiωx dω. (3.22)
2π −∞

Man beachte die Symmetrie der Transformationsbeziehungen (3.21) und (3.22). Diese Trans-
formationsbeziehungen werden auch am Beiblatt zur Prüfung angegeben.
Das Wesen einer Transformation ist, daß eine Funktion einer Variable f (x) in eine Funktion
einer anderen Variable fˆ(ω) übergeführt werden kann und umgekehrt. Häufig ist bei der Fou-
riertransformation eine physikale Interpretation der Variablen möglich. Ist zum Beispiel x die
Zeit, so entspricht ω der Kreisfrequenz. Damit hat der Betrag von fˆ(ω) die physikalische Bedeu-
tung eines Spektrums. Häufig verwendet man in Zusammenhang mit der Fouriertransformation
zeitabhängiger Größen die Begriffe Zeitbereich und Frequenzbereich. Wir haben am Bespiel
des MRT-Kippimpulses gesehen, daß oft anwendungsnahe Probleme besser im Frequenzbereich
angeschrieben werden können. Eine weitere Anwendung ist, daß sich mache im Zeitbereich for-
mulierte Fragestellungen besser im Frequenzbereich lösen lassen. Beispiele hierfür werden in der
Vorlesung behandelt.

3.2.1 Eigenschaften der Fouriertransformation

Die in Gleichung (3.21) definierte Fouriertransformation kann durch die verkürzte Schreibweise
fˆ(ω) = F{f (x)} angeschrieben werden. Die inverse Fouriertransformation (3.22) kann in der
Form f (x) = F −1 {fˆ(ω)} angeschrieben werden. Diese kompakte Notation ist bei der Darstellung
der wichtigsten Eigenschaften der Fouriertransformation nützlich.
46 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Linearität

Die Fouriertransformation ist eine lineare Operation. Es existieren die Fouriertransformationen


der beiden Funktionen f (x) und g(x) und weiters seien a und b zwei beliebige (komplexe)
Konstanten, so gilt:

F{af (x) + bg(x)} = a F{f (x)} + b F{g(x)}. (3.23)

Beweis: Die Linearitärt der Fouriertransformation folgt aus der Linearität der Integration.
R∞
F{af (x) + bg(x)} = √12π −∞ [af (x) + bg(x)]e−iωx dx
R∞ R∞
= √a2π −∞ f (x)e−iωx dx + √b2π −∞ g(x)e−iωx dx (3.24)
= a F{f (x)} + b F{g(x)}.

Analog dazu ist auch die inverse Fouriertransformation linear.

Verschiebungsatz

Wird die Funktion f (x) um die Zeit T verschoben, so erhält man für die verschobene Funktion
g(x) = f (x − T ). Für die Fouriertransformierte dieser Funktion kann man schreiben:
Z ∞ Z ∞
1 1
F{g(x)} = √ g(x)e−iωx dx = √ f (x − T )e−iωx dx. (3.25)
2π −∞ 2π −∞

Wir führen nun für die Integration über die Zeit x eine um T verschobene Zeitachse ξ = x − T
ein und erhalten: R∞
F{g(x)} = √12π −∞ f (ξ)e−iω(ξ+T ) dξ
−jωT R ∞
= e√2π −∞ f (ξ)e−iω(ξ) dξ (3.26)
=e −jωT F{f (x)}.

Die Integration über die Zeitachse ξ gibt aber genau die Fouriertransformierte von f (x). Wir
können schreiben:
F{f (x − T )} = e−jωT F{f (x)}. (3.27)

Eine Verschiebung um T im Zeitbereich entspricht daher im Frequenzbereich einer Multiplika-


tion mit e−jωT . Man beachte, daß der Betrag | e−jωT | immer genau eins ist. Wie zu erwarten,
wird der Betrag der Fouriertransformierten als Funktion von ω durch eine zeitliche Verschie-
bung nicht verändert. Eine zeitliche Verschiebung der Funktion ändert daher nur die Real- und
Imaginäranteile der Transformierten bei unverändertem Betrag.
3.2 Fouriertransformation 47

Ableitungen
Es sei f (x) stetig mit den Grenzwerten lim|x|→∞ f (x) = 0, und es sei die 1. Ableitung der
Funktion f 0 (x) absolut integrierbar. Dann gilt:

F{f 0 (x)} = iωF{f (x)}. (3.28)

Beweis: Die Fouriertransformation der 1. Ableitung kann wie folgt angeschrieben werden:
Z ∞
0 1
F{f (x)} = √ f 0 (x)e−iωx dx. (3.29)
2π −∞

Durch partielle Integration erhält man:


 Z ∞ 
1
F{f 0 (x)} = √ f (x)e−iωx |∞
−∞ −(−iω) f (x)e−iωx
dx . (3.30)
2π −∞

Da die Funktion f (x) in den Grenzwerten | x |→ ∞ Null wird, erhalten wir:

F{f 0 (x)} = 0 + iωF{f (x)}. (3.31)

Man beachte, daß die Ableitung einer Funktion im Zeitbereich einer einfachen Multiplikati-
on im Frequenzbereich entspricht. Diese Beziehung ist daher u.a. für die Signalverarbeitung von
hohem Interesse. Durch mehrfache Anwendung von Gl. (3.28) können auch Ausagen über Ablei-
tungen höherer Ordnung getroffen werden. Beispielsweise erhält man für die zweite Ableitung:

F{f 00 (x)} = −ω 2 F{f (x)}. (3.32)

D.h. n-faches Ableiten im Zeitbereich entspricht der Multiplikation mit (iω)n im Frequenz-
bereich. Daher nehmen im Zeitbereich formulierte Differentialgleichungen im Frequenzbereich
die Form von algebraischen Gleichungen an. Die Fouriertransformation kann daher auch ein
nützliches Werkzeug zur Lösung von Differentialgleichungen sein, wie unten an einem Beispiel
demonstriert wird.
Bei unseren Betrachtungen zur Fouriertransformation der Ableitung einer Funktion wur-
de Eingangs gefordert, daß f (x) stetig sei. Mit Hilfe der Theorie der Distributionen kann die
Gltigkeit von Gl. (3.28) auch auf stückweise stetige, fourierfransformierbare Funktionen (z.B.
Rechteckimpuls) erweitert werden. Dies erweitert die Anwendbarkeit erheblich.

Filter - Lösung im Frequenzbereich


In dieser Anwendung soll die Lösung einer Differentialgleichung mit Hilfe der Fouriertransforma-
tion gezeigt werden. Hierzu wird wird ein Tiefpaßfilter 1. Ordnung betrachtet, an dessen Eingang
ein Rechteckimpuls gelegt wird. In der digitalen Schaltungstechnik könnte diese Konfiguration
48 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

algebraische Gleichung - Lösung im Frequenzbereich

6
F F −1
?
direkte Lösung
Differentialgleichung - Lösung im Zeitbereich

Abbildung 3.4: Schematische Darstellung der Lösung von linearen Differentialgleichungen mittels Fou-
riertransformation.

b r b
ue (t)
6 R
U
ue (t) ua (t)
C
-
−T T t b r b

Abbildung 3.5: Tiefpaß 1. Ordnung mit Rechteckimpuls am Eingang.

beispielweise dazu dienen, ein verrauschtes Nutzsignal von einem hochfrequentem Störsignal zu
trennen. Selbstverständlich kann man dieses Beispiel auch mit den herkömmlichen Methoden
der Differentialrechnung lösen (partikuläre Lösung einer Differentialgleichung 1. Ordnung). Vom
Rechenaufwand sind beide Lösungswege in etwa vergleichbar. Der Vorteil der Lösung mittels
Fouriertransformation ist, daß das Arbeiten im Frequenzbereich einen zusätzlichen Blickwinkel
auf die Problemstellung schafft und damit u.a. eine Aussage über die Grenzfrequenz des Filters
möglich wird. Abb. 3.4 zeigt eine schematische Darstellung der beiden Lösungswege. In diesem
Abschnitt soll nur die Lösung im Frequenzbereich angegeben werden. Die Lösung im Zeitbereich
wird in einem eigenen Kapitel berechnet.
In diesem Anwendungsbeispiel soll die Notation der in der Praxis verwendeten Schreibweise
angepaßt werden. Da die unabhängige Variable der Zeit entspricht, schreiben wir t anstelle von x.
Abb. 3.5 zeigt das Tiefpaßfilter mit dem Widerstand R und der Kapazität C. Die Spannung ue (t)
am Eingang ist durch einen Rechteckimpuls mit der Amplitude U und der Dauer 2T gegeben.
Gesucht ist die Spannung ua (t) am Filterausgang. Sie wird durch die Differentialgleichung
dua (t)
RC + ua (t) = ue (t) (3.33)
dt

bestimmt. Die Herleitung dieser Beziehung basiert auf den Gesetzen der Elektrodynamik. Sie
wird wird hier nicht angegeben, da dies nicht Teil der Vorlesung ist. Das Produkt RC definiert
die typisches Zeitkonstante τ des Systems (τ = RC). Die Anwendung der Fouriertransformation
auf Gl. (3.33) kann wie folgt angeschieben werden:
3.2 Fouriertransformation 49

dua (t)
F{τ + ua (t)} = F{ue (t)}. (3.34)
dt

Aufgrund der Linearität der Fouriertransformation erhält man:

dua (t)
τ F{ } + F{ua (t)} = F{ue (t)}. (3.35)
dt

Die 1. Ableitung kann durch eine Multiplikation mit iω ersetzt werden:

(iωτ + 1)F{ua (t)} = F{ue (t)}. (3.36)

Es ist zweckmäßig für die in den Frequenzbereich transformierten Funktionen die Abkürzungen
ûe (ω) bzw. ûa (ω) einzuführen und den Ausdruck so umzuordnen, daß die unbekannte Funktion
am Filterausgang auf der linken Seite der Gleichung steht:
1
ûa (ω) = ûe (ω). (3.37)
1 + iωτ

Man kann beobachten, daß für kleine Kreisfrequenzen (ωτ  1) die Fouriertransformierte der
Ausgangspannung näherungsweise gleich jener der Eingangsspannung wird (ûa ' ûe ). Man sagt,
das Filter läßt diese Frequenzen durch. Für hohe Kreisfrequenzen (ωτ  1) wird die Ausgangs-
ûe
spannung gedämpft (ûa ' iωτ ). Man sagt, das Filter sperrt. Aufgrund dieser Beobachtung ist
es zweckmäßig die Grenzfrequenz ωg des Filters so zu definieren, daß gilt: ωg τ = 1. Man erhält:

1
ωg = . (3.38)
τ
Bisher wurde die gegebene Eingangsspannung ue (t) noch nicht in der Rechnung berücksich-
tigt. Die Ergebnisse oben gelten daher allgemein für alle fouriertransformierbaren Eingangsfunk-
tionen. Für das gegenwärtige Beispiel erhalten wir durch Fouriertransformation der Eingangs-
spannung ue (t):
r
2 sin T ω
ûe (ω) = U . (3.39)
π ω

Damit kann die Lösung im Frequenzbereich wie folgt angeschrieben werden:


r
2 U sin T ω
ûa (ω) = . (3.40)
π 1 + iωτ ω

Man beachte, daß die Konstante τ eine Eigenschaft des Filters (Grenzfrequenz) festlegt, während
50 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.6: Frequenzspektrum am Eingang (blau) und Ausgang des Tiefpasses für für τ = 0.5 s
(magenta) bzw. tau = 2 s (grün). In allen Fällen wurde T = 1 s und U = 1 V gewählt. Links ist das
Spektrum in einem linearem Plot, rechts in einem doppelt logarithmischen Plot dargestellt.

T eine Eigenschaft des Eingangssignals (Impulsdauer) festlegt. In der Praxis soll zumeist bei ge-
gebener Impulsdauer eine geeignete Grenzfrequenz gewählt werden. Abb. 3.6 zeigt exemplarisch
das Spektrum der Eingangs- und Ausgangsspannung für einige spezielle Werte der Konstanten.
Rein formal kann die Rücktransformation der Lösung in den Zeitbereich durch Einsetzen der
Frequenzbereichslösung (3.40) in die inverse Fouriertransformation (3.22) erfolgen. Leider führt
diese Vorgehensweise zumeist auf Integrale, die auf herkömmlichem Wege mit vertretbarem
Aufwand kaum lösbar sind. So erhalten wir beispielsweise für die Problemstellung in diesem
Kapitel:
Z ∞
U 1 sin T ω iωt
ua (t) = e dω. (3.41)
π −∞ 1 + iωτ ω

Im nächsten Kapitel wird das Faltungstheorem behandelt, welches die Lösung dieses Integrals
ermöglicht. Zunächst soll aber noch eine Beobachtung gemacht werden, welche die Betrachtun-
gen im nächsten Abschnitt motiviert. Im Integranden von Gl. (3.41) steht das Produkt der
1
Terme 1+iωτ und sinωT ω . Für jeden dieser beiden Terme ist die inverse Transformation bekannt
und kann im Kreszig nachgelesen werden. Ein Zweck der Faltung ist es - basierend auf den be-
kannten inversen Transformationen der Einzelterme - die inverse Transformation des gesammten
Ausdrucks zu ermöglichen.

3.2.2 Faltung

Es soll in diesem Kapitel zunächst die Definition der Faltung angegeben und deren Funktion an
einem Beispiel gezeigt werden. Erst dann wird auf das für die Fouriertransformation so wichtige
Faltungstheorem eingegangen.
Die Faltung (engl. convolution) f ∗ g(x) zweier Funktionen f (x) und g(x) ist definiert als:
Z ∞ Z ∞
h(x) = f ∗ g(x) = f (p)g(x − p)dp = f (x − p)g(p)dp. (3.42)
−∞ −∞
3.2 Fouriertransformation 51

Abbildung 3.7: Faltung der Beispielfunktionen f und g aus Gl. (3.43). Auf der linken Seite sind die
Funktionen f (p) und g(x − p) für x = -2, -4 und -6 dargestellt. Rechts ist das Ergebnis der Faltung. Die
Stellen x = -2, -4 und -6 sind markiert.

Beispiel: Es seien
 
1 für | x |< 4 1 für | x |< 1
f (x) = g(x) = (3.43)
0 sonst, 0 sonst.
R∞
Abb. 3.7 zeigt die Auswertung des Faltungsintegrals −∞ f (p)g(x − p)dp für x =-6, -4 und -2.
An der Stelle x = −6 gibt das Integral Null, da für jedes p immer entweder g oder f gleich Null ist
(Pulse überlappen nicht). An der Stelle x = −4 gibt das Integral 21 , da das Reckeck in f mit der
Hälfte der Rechteckfunktion g (Gesammtfläche ist 1) überlappt (teilweise Überlappung). An der
Stelle x = −2 gibt das Integral 1, da die beiden Rechtecke vollständig überlappen. Man erkennt,
daß für steigendes x das Spiegelbild von g von links nach rechts über f gezogen wird. Früher
wurde dies gerne mit einem Blatt Transparentpapier dargestellt, auf dem links die Funktion f
und rechts die Funktion g aufgezeichnet war. Biegt oder faltet man das Blatt in der Mitte, so
kann man g über f bringen. Daher stammt der Name Faltung.
52 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Das hier gezeigte Beispiel hat einen praktischen Hintergrund. Man kann die Funktion f
als digitales Signal betrachten. Die Impulsbreite von g mittelt immer genau jener Teil einer
Funktion f mit der sie bei der Faltung überlappt. Wre der Funktion f ein hochfrequentes
Störsignal (Rauschen) überlagert, so würde dieses durch die Faltung unterdrückt. Man kann
durch Faltung also mathematische Filteroperationen ausführen. Diese werden vor allem in der
digitalen Signal- und Bildverarbeitung gerne eingesetzt, da damit digitale Filter realisiert werden
können, welche durch analoge Schaltkreise nicht realisierbar sind. Man bezeichnet g dann als
Filterkern. In unserem Beispiel war der Filterkern ein Rechteckimpuls. Das dadurch realisierte
Filter wird als ’Moving-Average’ Filter bezeichnet.
Im Beispiel oben war die Funktion f (x) nicht fouriertransformierbar. Wir wollen uns nun
auf das Faltungstheorem bei der Fouriertransformation konzentrieren und daher im weiteren
fordern, daß f (x) und g(x) fouriertransformierbar seien. Es gilt dann

F{f ∗ g(x)} = 2πF{f (x)}F{g(x)}. (3.44)

Beweis: Setzt man das Faltungsintegral aus (3.42) in das Faltungstheorem ein, so erhält man
indem man die Fouriertransformation auf der rechten Seite ausschreibt:
Z ∞ Z ∞
1
F{f ∗ g(x)} = √ f (x − p)g(p)e−iωx dxdp. (3.45)
2π −∞ −∞

Hierbei wurde auch die Reihenfolge der Integration vertauscht. Wir substituieren jetzt q = x − p
und erhalten:
Z ∞ Z ∞
1
F{f ∗ g(x)} = √ f (q)g(p)e−iω(p+q) dqdp. (3.46)
2π −∞ −∞

Dieses Doppelintegral kann in zwei Integrale mit je einer Variablen geteilt werden und liefert
das Faltungstheorem:
Z ∞ Z ∞
1
F{f ∗ g(x)} = √ f (q)e−iωq dq g(p)e−iωp dp
√ 2π −∞ −∞ (3.47)
= 2πF{f (q)}F{g(p)}.

Wendet man die inverse Fouriertransformation auf das Faltungstheorem an, so erhält man:
Z ∞
(f ∗ g)(x) = fˆ(ω)ĝ(ω)eiωx dω. (3.48)
−∞

Diese Beziehung wird im kommenden Abschnitt zur Rücktransformation der Filterausgangs-


spannung in den Zeitbereich verwendet.
3.2 Fouriertransformation 53

3.2.3 Filter - Lösung im Zeitbereich


Wir schreiben zunächst Gl. (3.41) aus Kapitel 3.2.1 nochmals an:

U ∞
Z
1 sin T ω iωt
ua (t) = e dω. (3.49)
π −∞ 1 + iωτ ω

Weiters übernehmen wir folgende Transformationsbeziehungen aus dem Kreyszig und schreiben
t anstelle für x, da es sich um zeitabhängige Funktionen handelt:
 −t/τ
e für t < 0 ˆ τ 1
f (t) = , f (ω) = √ (3.50)
0 sonst 2π 1 + iωτ

und  r
1 für | t |< T 2 sin T ω
g(t) = , ĝ(ω) = (3.51)
0 sonst π ω

Wir können nun mit Hilfe der Faltung die Ausgangsspannung wie folgt darstellen:

U ∞ τ
Z r
U 1 2 sin T ω iωt
ua (t) = (f ∗ g)(t) = √ e dω. (3.52)
τ τ −∞ 2π 1 + iωτ π ω

Wir erhalten, indem wir das Faltungsintegral ausschreiben:



Z ∞  0 R
 für t < −T
U U t+T −p/τ
ua (t) = f (p)g(t − p)dp = τ 0 e dp für − T < t < T , (3.53)
τ −∞  U R t+T e−p/τ dp für t > T

τ t−T

und nach Lösung der Integrale die Ausgangsspannung im Zeitbereich:



 0 für t < −T
ua (t) = U [1 − e−(t+T )/τ ] für − T < t < T . (3.54)
2U sinh ( Tτ )e−t/τ für t > T

Abb. 3.8 zeigt exemplarisch die Faltung für t =-2, 0 und 2, sowie die Spannungen ue (t) und
ua (t) für spezielle Werte der Konstanten.

3.2.4 Dirac Impuls


In der Technik ist häufig die Antwort eines Systems auf eine sehr kurze impulsförmige Erregung
von Interesse (z.B. Stoß in einem mechanischen System). Der Begriff kurz ist hier so zu verstehen,
daß die Dauer des Impulses kurz gegen alle Eigenzeitkonstanten des Systems ist. In Abb. 3.9 ist
die für das Tiefpaßfilter aus Abschnitt 3.2.1 die Ausgangsspannung für die Erregung mit kurzen
54 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.8: Faltung der Funktionen f (p) und g(t − p) (rot strichliert) aus dem Anwendungsbeispiel
Tiefpaßfilter für t =-2, 0 und 2 (links). Die Konstanten wurden analog zu oben gewählt: U =1 V, T =1 s,
und τ =0.5 s (magenta) bzw. τ =2 s (grün). Rechts ist die Eingangsspannung ue (t) und die Ausgangs-
spannung ua (t) dargestellt.
3.2 Fouriertransformation 55

Abbildung 3.9: Impulsantwort des Tiefpaßfilters aus Abb. 3.5 für verschiedene kurze Impulse mit iden-
tischer Fläche 1 Vs. Oben links: Vergleich von zwei Rechteckimpulsen mit 0.2 s (rot) und 0.1 s (grün)
Dauer. Oben rechts: Vergleich eines Rechteckimpulses mit einem Dreieckimpuls (blau). Unten: Impul-
santwort am Ausgang des Filters mit Zeitkonstante τ =1 s. Die farbliche Zuordnung ist gleich wie am
Eingang des Filters. Die strichlierte Kurfe ist die Antwort auf einen Dirac-Impuls.
56 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Impulsen gleicher Fläche dargestellt. Man erkennt, dass diese kaum von der Form des Impulses
abhängt, solange dieser kurz genug ist.
Ausgehend von dieser Beobachtung erscheint es zweckmäßig für kurze Impulse (im
Grenzübergang unendlich kurze Impulse) geeignete Methoden zu schaffen, welche durch Ver-
nachlässigung der Kurvenform bei gegebener Fläche eine Vereinfachung der Rechnung ermögli-
chen. Die wird durch die Einführung des Dirac Impulses erreicht. Die Einführung des Dirac
Impulses orinetiert sich hier wiederum grundsätzlich am Lehrbuch von Erwin Kreyszig. Dieser
wird hier jedoch hier jedoch für die Fouriertransformation eingeführt, während im Kreyszig der
Dirac Impuls für die verwandte Laplace Transformation eingeführt wird.
Zur Vereinfachung soll ein Rechteckimpuls mit der Dauer T und der Fläche eins betrachtet
werden:
für − T2 < x < T2

1/T
fT (x) = (3.55)
0 sonst
Ohne Beweis soll festgehalten werden, daß das Ergebnis auch fr jede andere Kurvenform
eines Impulses von endlicher Dauer gültig ist. Durch die Festlegung der Flche auf eins mußdie
Amplitude des Impulse fT (x) dem Kehrwert der Impulsdauer T entsprechen. Damit nimmt mit
Verkrzung der Dauer die Amplitude zu und geht im Grenzwert T → 0 gegen unendlich.

3.2.5 Verwandte Transformationen


Bei der Fouriertransformation ist die zu transformierende Funktion f (x) in Form einer analyti-
schen Gleichung gegeben. Der Wunsch, dieses Verfahren auch auf gemessene Signale (z.B. EEG,
EKG) anwenden zu können, hat zur Entwicklung der Diskreten Fourier Transformation
(DFT) geführt. Ist die Zahl der Meßwerte eine ganze Potenz von 2 (z.B. 256, 512, ...), so kann
die DFT mit geringer Rechenzeit durchgeführt werden. Man bezeichnet das bezüglich Rechen-
zeit optimierte Verfahren als Fast Fourier Transformation (FFT). Die Rechenzeitersparnis
ist ein Hauptgrund dafür daß MRT, bzw. CT Bilddaten häufig eine Auflösung von 256 × 256
Pixel aufweisen.
Beim Lösen von Differentialgleichungen wie im Beispiel oben schränkt die Fouriertransforma-
tion die Anwendung auf ’impulsartige’ Funktionen ein. Außerdem ist die Rücktransformation in
den Zeitbereich häufig sehr aufwendig. Die Laplace Transformation beseitigt diese Nachteile.
Sie ist das Werkzeug der Wahl zur Berechnung von Schaltvorgängen in der Elektrotechnik und
analogen Elektronik, sowie von Ausgleichsvorgängen in der Regelungstechnik.
Die z-Transformation ist das digitale Gegenstück zur analogen Laplace Transformation.
Sie ist das mächtigste Verfahren bei der Dimensionierung von Schaltkreisen der digitalen Signal-
verarbeitung (z.B. digitale Telefonie, digitales Fernsehen).

3.3 Übungsaufgaben

Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man für eine periodische Funktion fL (x) mit der Fundamen-
talperiode 2L durch den Grenzwertübergang L → ∞ zur Fourierintegraldarstellung einer
3.3 Übungsaufgaben 57

aperiodischen Funktion f (x) gelangt. Nennen Sie eine hinreichende Bedingung, für die Fourier-
integrale existieren.

Beispiel: Ein Kippimpuls zur Magnetresonanttomographie erzeuge folgendes Anregungs-


profil: A(ω) ≡ 0 und B(ω) ist die in der Skizze unten dargestellte Dreiecksfunktion. Der
Parameter ω0 legt die Schichtmitte fest, und ∆ω legt die Schichtdicke fest.
B(ω)
6k
@
@
@
@
@ -
ω0 − ∆ω ω0 ω0 + ∆ω ω

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation des biphasischen Defibrillationsimpulses


f (x):

 0 für t < −τ
f (x) = U für − τ < t < 0 (3.56)
−U e−t/τ für t > 0.

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x):

k[1 − ( x−T 2

f (x) = T ) ] 0 < t < 2T f (x) = −f (−x) (3.57)
0 t > 2T.

Hinweis: Nutzen Sie die Ableitungsregel zur Vereinfachung der Integration.

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformationen der unten dargestellten Funktionen


f (x) und f 0 (x):

f (x) 6 f 0 (x) 6k
k T
@
@
@
@
@ - -
−T T x −T T x
58 Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x) unter Ausnutzung
der Linearitätseigenschaften:
f (x) 6
2k

-
−3T −T T 3T x

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x):

f (x) 6
k
@ @
@ @
@ @
@
@ @
@ -
−2T −T T 2T x

Hinweis: Mit Hilfe des Additionstheorems kann die Lösung aus der Fouriertransformation
des Dreieckimpulses berechnet werden. Die Ableitungsregel ermöglicht eine Kontrolle mit wenig
Rechenaufwand.

Beispiel: Berechnen Sie die Funktion h(x), die man durch Faltung der Funktionen f (x)
und g(x) erhält. Skizzieren Sie die Lösung.
 
k für | x |< π cos x für | x |< π
f (x) = , g(x) = . (3.58)
0 sonst 0 sonst

Beispiel: Berechnen Sie die Funktion h(x), die man durch Faltung der Funktionen f (x)
und g(x) erhält. Skizzieren Sie die Lösung.
  −x
k für | x |< 1 xe für x > 0
f (x) = , g(x) = . (3.59)
0 sonst 0 sonst
Kapitel 4

Vektoranalysis

4.1 Einführung, Grundlagen

Im Folgenden wird kurz die im Kapitel verwendete Schreibweise eingeführt: Vektoren werden
normalerweise als fettgedruckte (Klein-)Buchstaben gekennzeichnet, deren Komponenten mit
demselben Buchstaben in normaler Schrift (mit Subindizes). Wenn die Form Darstellung der
Komponenten nicht von Bedeutung ist, können Vektoren grundsätzlich sowohl als Zeilen- als
auch Spaltenvektor angeschrieben sein. Etwa bei Matrizenmultiplikationen ist eine Unterschei-
dung allerdings sehr wohl von Bedeutung.
Punkte im Raum, die unabhängig von einer Koordinatendarstellung sind, werden mit Großbuch-
staben in normaler Schrift geschrieben. Matrizen werden auch als Großbuchstaben dargestellt,
ebenso wie geometrische Teilmengen des Raumes (Punkte, Flächen, Kurven).
Der folgende Abschnitt wiederholt einige Begriffe aus der linearen Algebra, anschließend werden
wichtige Begriffe der Vektoranalysis eingeführt: Raumkurven, Vektorfelder, skalare Funktionen.

4.1.1 Koordinatensysteme, Koordinatentransformation

Wir bezeichnen mit Rn den n-dimensionalen Euklidischen Raum, der die Grundlage für unsere
physikalischen Modelle bildet. Jeder Raumpunkt r lässt sich als Linearkombination von n linear
unabhängigen Vektoren (Basisvektoren) auf folgende Art darstellen:

n
X
r= ri ei (4.1)
i=1

Die Koeffizienten ri bezeichnen wir als Koordinaten von r bezüglich der Basis ei .
Verwendet man stattdessen eine andere Basis von Rn , nennen wir sie e0i mit Koordinaten ri0 ,
so lässt sich die ursprüngliche Basis in die neue mit einer invertierbaren, linearen Abbildung
überführen:
f (ei ) = e0i ∀i (4.2)
60 Kapitel 4: Vektoranalysis

Stellt man die Abbildung durch eine Matrix A dar, so ergeben sich folgende Zusammenhänge:
   0 
r1 r1
0 0  ..   .. 
(e1 , ..., en )A = (e1 , ..., en ),  .  = A .  (4.3)
rn 0
rn

Die Koordinaten-Vektoren transformieren sich invers zu den Basisvektoren selbst. Um die jeweils
andere Transformation zu erhalten, muss die Matrix A invertiert werden.
Wir werden hauptsächlich mit kartesischen Koordinatensystemen arbeiten, die sich dadurch
auszeichnen, dass die Basisvektoren auf 1 normiert sind und paarweise aufeinander orthogonal
stehen (orthonormale Basis). Zwei orthonormale Basen transformieren sich zueinander über
orhtogonale Matrizen. Solche Matrizen haben die Eigenschaft, dass Multiplikation mit deren
Transponierter
RR> = R> R = In (4.4)
gerade die n−dimensionale Einheitsmatrix ergibt.

4.1.2 Raumkurven
Definition
Ein wichtiges Konzept im Rahmen der Vektoranalysis sind (parametrische) Kurven im Raum,
also Funktionen, die einem skalaren Parameter einen Ortsvektor zuordnen. Dabei hängt der
Ortsvektor oft stetig (differenzierbar) vom Parameter ab.
Bei Problemen aus der Mechanik lässt sich beispielsweise die Bewegung von Massenpunkten
mit solchen Raumkurven darstellen, wobei der Parameter die Zeit ist. In Abb. 4.1 ist etwa die
Bahn eines Planeten im Schwerefeld eines anderen als Raumkurve dargestellt. Mathematisch

Abbildung 4.1: Elliptische Bahn eines Planeten um einen anderen. Der Ausgangspunkt wird
nach der Umlaufzeit wieder erreicht. Die Pfeile deuten die Bewegungsrichtung an.

verstehen wir unter einer Raumkurve C also eine Abbildung von der Art

r : I ⊆ R −→ R3 : t 7→ r(t) (4.5)
4.1 Einführung, Grundlagen 61

mit einem beliebigen Intervall I.


Beispiele:

1. Gleichförmige Bewegung:
r(t) = r0 + v0 t (4.6)

mit konstanten Vektoren r0 und v0

2. Beschleunigte Bewegung (Wurfparabel):

t2
r(t) = r0 + v0 t + g (4.7)
2

mit konstanten r0 , v0 und g (Erdbeschleunigung).

Tangentenvektor

Wird die Bahn eines Massenpunktes durch eine Raumkurve dargestellt, interessiert man sich
oft auch für seine Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit. Diese Größen werden durch den
sogenannten Tangentenvektor bestimmt, der die Raumkurve in jedem Punkt linear approximiert.
Der Tangentenvektor in einem Punkt P lässt sich konstruieren, indem man den Vektor von P zu
einem benachbarten, ebenfalls auf der Kurve liegenden Punkt Q betrachtet, und mit Q entlang
der Kurve Richtung P wandert (Abb. 4.2). Das führt uns zur Definition der Ableitung einer

Abbildung 4.2: Konstruktion des Tangentenvektors anhand der Bahnkurve mit Darstellung
(t2 , t3 ). Tangentenvektoren sind in P und im Koordinatenursprung O eingezeichnet.
62 Kapitel 4: Vektoranalysis

Raumkurve: Den Vektor

dr r(t + ∆t) − r(t)


r0 (t) = = lim (4.8)
dt ∆t→0 ∆t

nennt man den Tangentenvektor der Kurve C im Punkt r(t), falls r an dieser Stelle differen-
zierbar und die Ableitung 6= 0 ist. Man erhält den Tangentenvektor also durch Differenzieren
jeder seiner Komponenten.
Ist der Tangentenvektor 0, kann dies entweder bedeuten, dass die Kurve an dieser Stelle keine
Tangente hat (z.B. konstante Funktion) oder dass die Parametrisierung “ungünstig” gewählt
ist. Ein Beispiel für letzteren Fall ist etwa die Kurve r(t) = (t2 , t3 , 0) für t ∈ [0, ∞] mit
r0 (t) = (2t, 3t2 , 0) (siehe Abb. 4.2), für die die Ableitung im Punkt t = 0 der Nullvektor ist. Die
Kurve besitzt aber sehr wohl eine Tangente, wie im Bild zu erkennen. Das Problem löst man
in diesem Fall, indem man die Parametrisierung ändert und t2 durch einen neuen Parameter
3
s ersetzt: r(s) = (s, s 2 , 0). Dies ändert zwar die Durchlaufgeschwindigkeit, die Gestalt der
Kurve bleibt jedoch gleich. Beachte dabei den Unterschied der beiden Begriffe Tangente und
Tangentenvektor: Beim Tangentenvektor kommt es auf Betrag und Richtung an, und der Betrag
hängt auch von der Parametrisierung ab. Die Tangente hingegen ist eine Gerade und hängt nur
von der Geometrie der Kurve ab.
Wenn sich etwa eine Kurve an einer Stelle überschneidet, gibt es dort keine eindeutige Tangente,

Abbildung 4.3: Kurven mit nicht eindeutigen Tangentenvektor in manchen Punkten. (Quelle:
Kreyszig)

wohl aber jeweils einen Tangentenvektor für die einzelnen Stellen in der parametrisierten Kurve
(Abb. 4.3).
Man spricht allgemein von einer glatten Kurve, wenn in jedem Punkt ein eindeutiger Tangenten-
vektor (in einer beliebigen Parametrisierung) existiert, dieser Tangentenvektor im Kurvenverlauf
stetig variiert und nirgends 0 wird. Man nennt eine Kurve stückweise glatt, wenn sie sich aus
endlich vielen glatten Kurven zusammensetzen lässt. Ein Beispiel dafür ist etwa ein Rechteck,
das aus vier glatten Kurven besteht. Beachte, dass Glattheit und stückweise Glattheit also eine
Frage der Parametrisierung ist.
Für Bahnkurven in der Mechanik (mit der Zeit als Parameter) entspricht der Tangentialvektor
genau dem Geschwindigkeitsvektor der Bewegung.
4.1 Einführung, Grundlagen 63

Bogenlänge
Für die Bestimmung der Bogenlänge einer Kurve in parametrischer Darstellung kommt der
Tangentialvektor zur Anwendung: Zunächst approximieren wir die Kurve durch endlich viele
Geradenstücke, deren Längen man leicht angeben kann (Abb. 4.4):

Abbildung 4.4: Parametrische Kurve im R2 mit Unterteilung in einzelne Segmente.

si = |r(ti + ∆ti ) − r(ti )| (4.9)


X n p
X
Sn = si = (r(ti + ∆ti ) − r(ti ))2 = (4.10)
i i=1
s
n 2
X r(ti + ∆ti ) − r(ti )
∆ti (4.11)
∆ti
i=1
Macht man nun den Grenzübergang n → ∞ und ∆ti → ∞ (wodurch das ∆ zu einem d wird),
so ergibt sich das Integral
ZB r ZB p
dr dr
lim Sn = · dt = r0 (t) · r0 (t)dt. (4.12)
n→∞ dt dt
A A
Beispiel: Kreisbogen
r(t) = R(cos ωt, sin ωt, 0) (4.13)
0
r (t) = Rω(− sin ωt, cos ωt, 0) (4.14)
Bestimmen wir die Bogenlänge des Kreisbogens von Winkel 0 bis zu einem Winkel α, so ergibt
sich das erwartete Resultat α

S(α) = Rωdt = Rα. (4.15)
0
64 Kapitel 4: Vektoranalysis

Bemerkung: Der Parameter ω (“Winkelgeschwindigkeit” der gewählten Bahn) fällt bei der Be-
rechnung der Bogenlänge heraus. Dies leuchtet ein, weil die Bogenlänge immer nur von der
Geometrie der Kurve abhängig ist, nicht aber von der gewählten Parametrisierung.
Man kann die Bogenlänge von einem fixen Anfangspunkt r(a) und variablen Endpunkt als Funk-
tion des Parameters t auffassen
Zt q
s(t) = t) · r0 (e
r0 (e t)de
t. (4.16)
a

Dann erhält man durch Differenzieren nach t gerade den Integranden auf der rechten Seite.
Quadriert man zusätzlich die Gleichung, so ergibt sich
 2  2  2  2
ds dx dy dz
= + + . (4.17)
dt dt dt dt

Es ist üblich, dass man ds als das Bogenelement der Kurve bezeichnet, wobei die folgende
Beziehung gilt:
ds2 = dx2 + dy 2 + dz 2 (4.18)

4.1.3 Skalare Funktionen, Vektorfelder


Wir werden nun weitere Begriffe einführen, nämlich skalare und vektorielle Funktionen. Viele
Zusammenhänge in der Physik lassen sich durch Funktionen dieser beiden Typen darstellen.
Wir nennen eine skalare Funktion eine Abbildung der Art

f : M ⊆ R3 −→ R : P 7→ f (P ), (4.19)

die jedem Raumpunkt eine skalaren Wert zuordnet.


Beispiele hierfür sind etwa die Temperatur- oder Druckverteilung eines Objekts zu einem be-
stimmten Zeitpunkt (Wetterkarte). Andere Beispiele, sogenannte Potentiale, werden wir später
noch kennenlernen.
Ebenfalls vom skalaren Typ ist eine Funktion, die jedem Punkt seinen Abstand zum Koordina-
tenursprung zuordnet: f (P ) = |P − O|, oder in kartesischen Koordinaten
p
f (x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 . (4.20)

Wir nennen ein Vektorfeld eine Abbildung der Art

v : M ⊆ R3 −→ R3 : P 7→ v(P ), (4.21)

die jedem Raumpunkt einen Vektor zuordnet. Ein Beispiel dafür ist das Geschwindigkeitsfeld
eines bewegten Mediums (fest, flüssig, gasförmig) oder das Gravitationsfeld (Kraftfeld) eines
Massenpunktes:
Betrachten wir etwa eine Kreisscheibe vom Radius R, die in der x − y−Ebene liegt und mit
4.1 Einführung, Grundlagen 65

Abbildung 4.5: Geschwindigkeitsvektoren einer rotierenden Kreisscheibe. (Quelle: Kreyszig)

der Umlaufzeit 2π
ω um die z−Achse rotiert (Abb. 4.5). Dannp legt ein Punkt der Scheibe mit
Koordinaten (x, y, 0) in der Zeit (2π/ω) die Strecke 2πr = 2π x2 + y 2 zurück. Das ergibt für
jeden Punkt den Geschwindigkeitsvektor
! p !
1 2π x2 + y 2
(−y, x, 0) p 2π (4.22)
x2 + y 2 ω

(Einheitsvektor mal Betrag). Damit lässt sich das Geschwindigkeitsvektorfeld auch schreiben als
     
−y 0 x
v(x, y, z) =  x  =  0  ×  y  in der x − y − Ebene. (4.23)
0 ω z
Das Kraftfeld eines Massenpunktes der Masse M (im Koordinatenursprung liegend) auf eine
weitere Masse m am Ort r ist gegeben durch das Gravitationsgesetz

Abbildung 4.6: Darstellung eines Gravitationsfeldes. (Quelle: Kreyszig)

Mm
F(r) = −G r, (4.24)
|r|3
66 Kapitel 4: Vektoranalysis

2
wobei G = 6.674 · 10−11 Nm
kg2
die Gravitationskonstante bezeichnet (Abb. 4.6).
Wir werden in den nächsten beiden Abschnitten auf Differentiation und Integration im Raum
näher eingehen und dabei immer wieder auf skalare und vektorielle Funktionen stoßen.

4.2 Differenzieren

Wir wollen uns im Rahmen der Vorlesung hauptsächlich mit Problemen im 1- bis 3-dimensionalen
Raum beschäftigen und auf höher dimensionale Räume nicht näher eingehen. Die Einführung
der partiellen Ableitung und die Formulierung der Kettenregel in mehreren Dimensionen kommt
jedoch gleich in der verallgemeinerten Form.

4.2.1 Partielle Ableitungen, Kettenregel


Wir betrachten eine vektorwertige Funktion y, die von mehreren Variablen abhängt:
   
x1 y1 (x1 , ..., xm )
 ..  ..
y : M ⊆ Rm −→ Rn :  .  7→  (4.25)
 
. 
xm yn (x1 , ..., xm )
Die Definition der partiellen Ableitung einer Komponente yi der Funktion lautet dann in einem
Punkt x ∈ M
∂yi yi (x1 , ..., xj + ∆xj , ..., xm ) − yi (x1 , ..., xm )
= lim . (4.26)
∂xj ∆xj →0 ∆xj
Die Funktion ist dann partiell nach xj differenzierbar, falls dieser Grenzwert existiert, bzw.
partiell differenzierbar, falls sie für alle Koordinaten xj partiell differenzierbar ist. Die partielle
Ableitung gibt also den Grad der Änderung einer Funktion in eine bestimmte Richtung an und
ist selbst wieder eine Funktion. Man verwendet dabei das Symbol ∂ im Unterschied zum Symbol
d bei Funktionen mit nur einer Veränderlichen.
Man kann für y alle partiellen Ableitungen an einem Punkt in einer n × m-Matrix, der soge-
nannten Jacobi-Matrix J(y), zusammenfassen:
 
∂yi
J(y) = (4.27)
∂xj i,j

Ähnlich wie für die eindimensionale Differentialrechnung kann man auch für mehrere Dimensio-
nen eine Kettenregel für die Ableitung angeben. Betrachten wir die Hintereinanderausführung
der Abbildungen einer (skalaren) Funktion f und einer vektoriellen Funktion y (z.B. Koordina-
tentransformation):
y f
fy : M ⊆ Rm −→ N ⊆ Rn −→ R : fy (x) = f (y(x)) (4.28)
Dann gilt für die partiellen Ableitungen der Hintereinanderausführung
n
∂fy X ∂f ∂yj
= , (4.29)
∂xi ∂yj ∂xi
j=1
4.2 Differenzieren 67

falls die partiellen Ableitungen von f und der yj an dieser Stelle existieren. In Matrixschreib-
weise lässt sich dann die Jacobi-Matrix der Zusammensetzung als Produkt der Einzelmatrizen
darstellen:
J(fy ) = J(f )J(y) (4.30)

In Komponenten ausgeschrieben lautet diese Gleichung folgendermaßen:


 ∂y1 ∂y1 
∂x1 ··· ∂xm
.. ..
   
∂f
··· ∂f
= ∂f
··· ∂f
·
 .. 
(4.31)
∂x1 ∂xm ∂y1 ∂yn . . . 
∂yn ∂yn
∂x1 ··· ∂xm

Der Subindex y bei f wurde hier weggelassen, weil man auch durch die Argumente xi bzw. yj
erkennen kann, welche Art von f gemeint ist.

4.2.2 Gradient, Richtungsableitung


Definition des Gradienten
Bildet man die partiellen Ableitungen einer skalaren Funktion f in alle Raumrichtungen, so
erhält man eine vektorwertige Funktion (Vektorfeld), die wir den Gradienten nennen. In drei
Dimensionen schreibt man
 
∂f ∂f ∂f
grad f = , , = ∇f, (4.32)
∂x ∂y ∂z

wobei der sogenannte Nabla-Operator als


 
∂ ∂ ∂
∇= , , (4.33)
∂x ∂y ∂z

definiert ist. Der Nabla-Operator ist also ein vektorartiger Operator, der hier auf eine skalare
Funktion angewandt wird.

Richtungsableitung
Eine weitere Form einer Ableitung für eine skalare Funktion f ist die sogenannte Richtungsablei-
tung. Sie ist ein Skalar, der die Änderungsrate von f in eine vorgegebene Richtung beschreibt.
So gesehen besteht der Gradient aus (4.32) aus drei spezifischen Richtungsableitungen, nämlich
gerade in die Richtungen der Koordinatenachsen.
Für einen vorgegebenen Richtungsvektor n mit Betrag 1 ist die Richtungsableitung von f im
Punkt p definiert als

f (p + sn) − f (p)
(Dn f )(p) = Dn f = lim . (4.34)
s→0 s
68 Kapitel 4: Vektoranalysis

Die Funktion f wird also entlang einer Geraden durch p in Richtung n variiert, und deren Ände-
rungsrate betrachtet. Wir betrachten zunächst die Hintereinanderausführung der zwei Funktio-
nen
fr : R −→ R3 −→ R
(4.35)
s 7→ r(s) 7→ f (r),
wobei die linke Abbildung r(s) = p + sn die parametrische Darstellung der Geraden ist. Dann
kann die Richtungsableitung wegen (4.35) und wegen der Definition der Ableitung in einer
Veränderlichen auch geschrieben werden als dfr
ds . Aufgrund der Kettenregel ergibt sich die wich-
tige Folgerung
dfr ∂f dx ∂f dy ∂f dz dr
Dn f = = + + = (grad f ) · = (grad f ) · n. (4.36)
ds ∂x ds ∂y ds ∂z ds ds
Die Richtungsableitung lässt sich also als Projektion des Gradienten auf die vorgegebenen Rich-
tung (Einheitsvektor) darstellen. Man kann diesen Zusammenhang auch schreiben als

Dn f = (grad f ) · n = |grad f | cos(γ), (4.37)

wenn γ den Winkel zwischen grad f und n bezeichnet. Betrachtet man nun eine Variation aller
möglichen Richtungsvektoren mit Länge 1, wird der Wert für Dn f genau dann maximal, wenn
γ = 0 ist. Daraus können wir folgern, dass die Richtungsableitung genau in die Richtung des
Gradienten maximal wird. Mit anderen Worten, der Gradient von f zeigt gerade in die Richtung
der maximalen Steigung von f .
Wir können umgekehrt diese Eigenschaft auch als Charakterisierung des Gradienten auffassen:
Sei der Gradient so definiert, dass er in die Richtung der maximalen Steigung von f zeigt
und sein Betrag den Wert dieser Steigung hat. Da dieser Definition im Gegensatz zu (4.32)
kein spezifisches Koordinatensystem zu Grunde liegt, können wir sagen, dass der Gradient vom
gewählten (kartesischen) Koordinatensystem unabhängig ist. Praktisch bedeutet das, dass etwa
in einem anderen kartesischen Koordinatensystem (x∗ , y ∗ , z ∗ ) der Gradient
 
∂f ∂f ∂f
grad f = , , (4.38)
∂x∗ ∂y ∗ ∂z ∗

in dieselbe Richtung zeigt wie im ursprünglichen. Beispielsweise kann das andere Koordinaten-
system gedreht sein relativ zum ursprünglichen.

Gradient als Flächennormale


Wir betrachten hier eine Fläche S ⊆ R3 , die durch eine Gleichung f (x, y, z) = 0 darge-
stellt werden kann. Beispielsweise lässt sich die zweidimensionale Sphäre mit Radius R durch
f (x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 − R2 repräsentieren.
Man kann nun beliebige Kurven auf S betrachten, die durch einen bestimmten Punkt laufen:

r(t) = (x(t), y(t), z(t)) (4.39)


4.2 Differenzieren 69

Wegen der charakterisierenden Gleichung von S gilt also f (r(t)) = 0 und damit wegen der
Kettenregel (4.29)

df ∂f dx ∂f dy ∂f dz
0= = + + = (grad f ) · r0 . (4.40)
dt ∂x dt ∂y dt ∂z dt

Der Gradient in einem bestimmten Punkt P steht also normal auf den Tangentenvektor jeder
beliebigen Kurve, die auf S liegt und durch P geht. Somit steht der Gradient auch normal
auf die Gesamtheit aller Tangentenvektoren in einem Punkt, der sogenannten Tangentenebene
(Abb. 4.7).

Abbildung 4.7: Normale auf eine Tangentenebene, die Kurve C läuft auf der Oberfläche. (Quelle:
Kreyszig)

Beispiel: Kugeloberfläche
Stellt man eine Kugeloberfläche durch die oben genannte Gleichung dar, so ergibt sich als Gra-
dient
grad f = 2(x, y, z), (4.41)

also in jedem Punkt der nach außen zeigende Normalvektor auf die Kugel.

Potentiale
Man nennt eine skalare Funktion, deren Gradient ein gegebenes Vektorfeld ergibt, ein Potential.
Falls ein Potential für ein Vektorfeld existiert, nennt man dieses ein konservatives Vektorfeld.
Nicht jedes Vektorfeld ist konservativ, eine Charakterisierung werden wir später kennenlernen.
Die Vorteile, mit einem Potential anstatt einem Vektorfeld arbeiten zu können, liegen z.T. auf
der Hand: Die Reduktion von drei Komponenten auf eine spart Rechenarbeit. Einen anderen
Vorteil, wie etwa die Wegunabhängigkeit von Linienintegralen, werden wir noch kennenlernen.
Beispiel: Kraftfeld einer Punktladung q0 auf eine andere Ladung q
Nach dem Coulombschen Gesetz gilt für diese Kraft

1 qq0 r
F(r) = (4.42)
4πε0 |r|3
70 Kapitel 4: Vektoranalysis

mit r dem Abstandsvektor zwischen den beiden Ladungen. Man kann leicht überprüfen, dass
für das Potential definiert durch
1 qq0
f (x, y, z) = p (4.43)
4πε0 x2 + y 2 + z 2

genau die Beziehung grad f = −F gilt. Dividiert man die Gl. (4.42) bzw. (4.43) durch die
Probeladung q (Bezug auf eine Einheitsladung), so erhält man daraus genau den Ausdruck für
die elektrische Feldstärke E bzw. das elektrische Potential φ einer Punktladung.

Beispiel aus der Bildverarbeitung

Der Gradient findet z.T. auch Anwendung in der Bildverarbeitung, etwa bei Grauwertbildern
(Röntgen, MRI, Ultraschall). In solchen Grauwertbildern ist jedem Ort im Bild eine Zahl (Grau-
wert) aus einem bestimmten Bereich zugeordnet. Der Gradient zeigt dann in die Richtung der
stärksten Veränderung dieses Grauwertes, und gibt mit seinem Betrag auch ein Maß für diese
Veränderung an. An den Stellen, an denen der Gradient ein gewisse Schwelle überschreitet, wer-
den somit die Kanten von Objekten zu finden sein. Die detektierten Kanten kann man wiederum
verwenden, um Objekte aus dem Bild zu extrahieren.

4.2.3 Divergenz

Der Nabla-Operator kann auch auf Vektorfelder angewendet werden. Wie wir sehen werden,
ist das Ergebnis dieser Operation ein Skalar, die sogenannte Divergenz des Vektorfeldes. Die
Divergenz hat Bedeutung in vielen Bereichen der Physik, wie etwa in der Strömungslehre oder
in der elektromagnetischen Feldtheorie.

Definition

Für ein gegebenes, differenzierbares Vektorfeld v(x, y, z) mit den Komponenten v1 , v2 und v3
ist die Divergenz definiert als

∂v1 ∂v2 ∂v3


div v = + + . (4.44)
∂x ∂y ∂z

Man kann also die Divergenz auch als “Skalarprodukt” des Nabla-Operators mit dem Vektorfeld
v auffassen. Ähnlich wie beim Skalarprodukt zweier Vektoren wird hier jede Komponente des
Nabla-Operators auf die entsprechende Komponente von v angewandt:
 ∂   
∂x v1

div v = ∇ · v =  ∂y
 ·  v2  (4.45)
∂ v3
∂z
4.2 Differenzieren 71

Genau wie der Gradient ist auch die Divergenz unabhängig vom gewählten kartesischen Koordi-
natensystem. Für ein Vektorfeld v, das in anderen Koordinaten (x∗ , y ∗ , z ∗ ) dargestellt ist (z.B.
gedrehtes Koordinatensystem), ergibt die Divergenz
∂v1 ∂v2 ∂v3
div v = + + (4.46)
∂x∗ ∂y ∗ ∂z ∗
dasselbe skalare Feld wie in den ursprünglichen Koordinaten.
Nachdem die Anwendung des Nabla-Operators auf ein skalares Feld ein Vektorfeld, und auf
ein Vektorfeld ein skalares Feld ergibt, kann man auch beide Operationen kombinieren. Man
erhält dadurch den sogenannten Laplace-Operator (∆, nicht zu verwechseln mit dem Symbol
für “kleine Änderungen” einer Größe):

div grad f = ∇ · (∇f ) = ∇2 f = ∆f (4.47)

In der Elektrostatik kennen wir das elektrische Feld E und das zugehörige Potential φ. Die
Divergenz des Feldes hat eine besondere Bedeutung und hängt mit der Quellendichte zusammen
(siehe nächster Abschnitt). Wegen E = −grad φ ergibt sich also

div E = −∇2 φ. (4.48)

Man kann zeigen, dass die Divergenz des elektrischen Feldes einer Punktladung (Coulomb-
Gesetz) außerhalb der Ladung verschwindet, also

div E(r) = ∇2 φ(r) = 0, f ür r 6= 0 (4.49)

Kontinuitätsgleichung
Wir wollen uns jetzt ein besseres Bild von der Bedeutung der Divergenz machen. Betrachten wir
dazu das Geschwindigkeitsvektorfeld v eines bewegten Mediums, z.B. einer Flüssigkeit oder eines
Gases. Dabei wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt, jedem Ort im Raum der Geschwindigkeits-
vektor der Teilchen zugeordnet, die sich dort befinden. Der Einfachheit halber beschränken wir
uns auf zwei Dimensionen. Wie in Abb. 4.8 dargestellt, betrachten wir ein kleines Flächenstück
∆A = ∆x∆y an einer Position (x, y). Wir möchten nun wissen, wie viele Teilchen über die
Grenzlinien in das Flächenstück gelangen, bzw. wie viele es verlassen. Wir führen daher ein
Vektorfeld u = %v ein, das v mit der Teilchendichte wichtet. Diese Größe hat dann die Dimen-
kg m kg
sion [u] = [%][v] = m 2 s = ms , gibt also die Menge (Masse) der Teilchen an, die pro Zeit- und
Längeneinheit durch die Grenzfläche des Flächenstücks geht. Die Gesamtmenge der Teilchen
durch die linke Kante ergibt daher
∆y
∆y∆tu1 (x, y + ) = ∆y∆tu1 (x). (4.50)
2
Hier müssen wir beachten, dass nur der Teil von u senkrecht zur Kante (also u1 ) einen Beitrag
liefert. Das zweite Argument von u1 lassen wir der Einfachheit halber weg. Analog lassen sich
72 Kapitel 4: Vektoranalysis

die Anteile durch die übrigen Kanten bestimmen:

rechts ∆y∆tu1 (x + ∆x, y + ∆y


2 ) = ∆y∆tu1 (x + ∆x)
∆x (4.51)
oben ∆x∆tu2 (x + 2 , y + ∆y) = ∆x∆tu2 (y + ∆y)
unten ∆x∆tu2 (x + ∆x 2 , y) = ∆x∆tu2 (y)

Abbildung 4.8: Fluss eines Vektorfeldes durch ein Flächenelement ∆A in 2D.

Für die Nettozunahme bzw. -abnahme der Teilchen im Flächenstück muss man alle 4 Terme
summieren und dabei auf die richtigen Vorzeichen achten:
∆y∆tu1 (x + ∆x) − ∆y∆tu1 (x) + ∆x∆tu2 (y + ∆y) − ∆x∆tu2 (y)
h
u1 (x+∆x)−u1 (x) u2 (y+∆y)−u2 (y)
i (4.52)
= ∆t ∆x∆y ∆x + ∆y
| {z }
∆A

Auf der anderen Seite entspricht der Fluss durch die Wände des Flächenstücks genau der Ände-
rung der Teilchenmenge im Inneren:
−∆%∆A (4.53)
Setzt man nun beide Terme gleich, dividiert durch ∆t und ∆A und macht den Grenzübergang
∆x, ∆y und ∆t gegen 0, so erhält man die sogenannte Kontinuitätsgleichung der Strömungslehre:

∂%
+ div (%v) = 0 (4.54)
∂t
Sie besagt nichts anderes als die Erhaltung der Masse bei Strömungen.
Für eine stationäre Strömung (Dichte ändert sich nicht mit der Zeit) gilt

div (%v) = 0, (4.55)

und wenn die Dichte auch räumlich konstant ist, dann folgt

div (v) = 0. (4.56)

Die letzte Bedingung ist auch die sogenannte Inkompressibilitätsbedingung (inkompressibel =


Dichte des Mediums räumlich konstant).
4.2 Differenzieren 73

Wir haben somit gesehen, dass die Divergenz den Nettofluss des Vektorfeldes durch ein Volums-
element (Flächenelement) misst, also Abfluss minus Zufluss. Anschaulich gesprochen entspricht
eine positive Divergenz eher einem Auseinanderlaufen der Vektoren (Quellen), eine negative
Divergenz hingegen eher einem Zusammenlaufen der Vektoren (Senken). Betrachten wir zum
Beispiel einen dünnen Strahl Öl, der auf eine ruhige Wasseroberfläche trifft. Die Geschwindig-
keitsvektoren der Öl-Partikel als zweidimensionales Vektorfeld zeigen dann von dem Punkt weg,
an dem das Öl auftrifft. Die Divergenz ist dort positiv. Wenn man auf der anderen Seine eine
dünne Wasserschicht in einem Becken mit Abfluss als zweidimensionales Vektorfeld beschreibt,
so werden die Vektoren eher in Richtung des Abflusses zeigen. Der Abfluss ist eine Senke, und
die Divergenz ist dort negativ.
Beispiel:
Betrachten wir etwa das Geschwindigkeitsvektorfeld der Kreisscheibe aus Abb. 4.5
 
−y
v(x, y, z) =  x  ω, (4.57)
0

so ergibt sich als Divergenz gleich 0, was in diesem Fall die Inkompressibiltät der Kreisscheibe
zum Ausdruck bringt.

4.2.4 Rotation
Definition und Bedeutung
Man kann den Nabla-Operator auch wie ein Kreuzprodukt für Vektoren auf ein Vektorfeld
anwenden. Damit ergibt sich wieder ein Vektorfeld, die sogenannte Rotation (rot , im Eng-
lisch sprachigen Raum auch curl). Die formale Definition in kartesischen Koordinaten (in einem
Rechtssystem) für ein Vektorfeld v lautet also
 
∂v3 ∂v2
∂y − ∂z
rot v = ∇ × v =  ∂v
 1 ∂v3 
∂z − ∂x 
. (4.58)
∂v2 ∂v1
∂x − ∂y

Bemerkung: Im Gegensatz zu Gradient und Divergenz, ist die Definition der Rotation nicht
direkt auf den 2-dimensionalen Raum übertragbar. Bettet man ein 2-dimensionales Vektorfeld
im R3 ein, so ist nach (4.58) nur die z-Komponente ungleich 0. Das bedeutet also, dass die
Rotation im 2-Dimensionalen zu einer skalaren Funktion entartet.
Da wir auch die Rotation in (4.58) für ein vorgegebenes kartesisches Koordinatensystem definiert
haben, soll auch an dieser Stelle gesagt sein, dass die Rotation in einem anderen kartesischen
Koordinatensystem mit derselben Definition dasselbe Vektorfeld ergibt.
Auf ähnliche Weise wie die Divergenz mit dem Netto-Fluss durch ein kleines Volumselement kann
man sich die Rotation als diejenige Größe vorstellen, mit der ein infinitesimal kleiner Körper
(z.B. eine Kugel) im Vektorfeld aufgrund der Pfeilrichtungen “rotiert”. Dabei hat diese Größe
sowohl eine Richtung (Drehachse), als auch einen Betrag (Drehgeschwindigkeit), sie ist also eine
74 Kapitel 4: Vektoranalysis

vektorielle Größe. Im 2-Dimensionalen ist hingegen nur eine Drehachse möglich (nämlich die
gedachte z-Achse, Abb. 4.9), daher ist das Äquivalent der Rotation in 2D eine skalare Größe.
Betrachten wir noch einmal das Beispiel der drehenden Kreisscheibe, so ergibt sich hier als
Rotation das konstante Vektorfeld
 
0
rot v(x, y, z) =  0  . (4.59)

Der Betrag eines sich drehenden Vektorfeldes ist also immer die doppelte Winkelgeschwindigkeit
der Drehbewegung. Abbildung 4.9 zeigt dieses Vektorfeld.

Abbildung 4.9: Darstellung der Rotation eines Vektorfeldes an zwei Stellen durch kleine, an der
Drehachse befestigte Kreisscheiben.

Vektorfelder mit einer Rotation gleich 0 nennt man auch wirbelfrei.

Eigenschaften
Wir können zwei wichtige Eigenschaften der bisher kennen gelernten Operatoren direkt aus ihren
Definitionen herleiten:
Für ein zweimal stetig differenzierbares Vektorfeld v gilt

div (rot v) = 0, (4.60)

und für ein zweimal stetig differenzierbares skalares Feld f gilt

rot (grad f ) = 0. (4.61)

Die Gleichung (4.61) heisst mit anderen Worten, dass ein konservatives Vektorfeld wirbelfrei
ist. Unter bestimmten Umständen gilt sogar die Umkehrung: Aus rot v = 0 kann man die
Existenz eines Potentials f mit grad f = v folgern. Die genaue Formulierung dieses Satzes lautet:
4.3 Integration 75

Für ein Vektorfeld v, das auf einem einfach zusammenhängenden Gebiet D definiert ist und
dort eine stetige partielle Ableitung besitzt, sind folgende Aussagen äquivalent:

• Es gibt ein Potential f mit grad f = v,

• rot v = 0 in D.
Die Bedingung “einfach zusammenhängend” von D bedeutet, dass jeder geschlossene Weg in
D stetig übergeführt werden kann in einen Punkt. Das gilt zum Beispiel für das Innere einer
Kugel oder einer Kugelschale, jedoch nicht mehr für den Zwischenraum von zwei konzentrischen
Kreisen.
Bemerkung: In 2 Dimensionen lautet die 2. Bedingung in Komponenten angeschrieben gerade
∂v2 ∂v1
= . (4.62)
∂x ∂y
Dies erinnert stark an die Bedingung einer exakten Differentialgleichung aus dem ersten Kapitel.

4.3 Integration

Wir kommen nun zu den mehrdimensionalen Integralen. Wie bei der Differentiation gibt es
verschiedene Möglichkeiten für die Integration im Raum, je nach Typ der Funktion und Inte-
grationsbereich.

4.3.1 Mehrdimensionale Integrale


Ebene

Abbildung 4.10: Unterteilung eines Bereiches R in kleine Rechtecke. (Quelle: Kreyszig)

Doppelintegrale stellen die zweidimensionale Verallgemeinerung von bestimmten Integralen


in einer Veränderlichen dar. Für eine gegebene Funktion f in R ⊆ R2 teilt man den Definitions-
76 Kapitel 4: Vektoranalysis

bereich R in kleine Rechtecke mit der Fläche ∆xi ∆yi (Abb. 4.10). Das Integral vob f über R
approximiert man zunächst über die Summe über n Rechtecke und bildet dann den Grenzwert
n → ∞:
Xn ZZ
Sn = f (xi )∆xi ∆yi = f (x, y)dA (4.63)
i=1 R

Die Berechnung eines solchen Integrals führt man über zwei Integrationen mit jewils einer Va-
riablen von x und y aus, wobei im Allgemeinen die Reihenfolge von x und y keine Rolle spielt
(Abb. 4.11):

   
ZZ Zb h(x)
Z Zd q(y)
Z
f (x, y)dxdy = f (x, y)dy  dx = f (x, y)dx dy (4.64)
   
 
R a g(x) c p(y)

Man beachte hierbei, dass die Integrationsgrenzen durchaus wieder von der jeweils anderen
Variable abhängen können.

Abbildung 4.11: Integrationsgrenzen für ein Gebiet R. (Quelle: Kreyszig)

Raum

Die räumliche Integration einer Funktion f (x, y, z) mit Definitionsbereich T ⊆ R3 kann in ana-
loger Weise zu den Doppelintegralen auf ein Tripelintegral mit drei sukzessiven Integrationen
erweitert werden:
ZZZ
f (x, y, z)dxdydz (4.65)
T
4.3 Integration 77

4.3.2 Kurvenintegrale
Definition und Beispiele
Wir beginnen hier mit einer kurzen Motivation aus der Physik. Betrachten wir die Bewegung
eines beliebigen Körpers (Massenpunkt) in einem konstanten Kraftfeld F (z.B. dem Gravitati-
onsfeld eines anderen Körpers). Die mechanische Arbeit, die an diesem Körper verrichtet wird,
ist dann gegeben durch die zurückgelegte Wegstrecke mal der Kraft in Wegrichtung (Abb. 4.12).
Um die Gesamtarbeit zu berechnen, müssen wir den gesamten Weg in lauter kurze Stücke un-

Abbildung 4.12: Berechnung der Verschiebungsarbeit einer Bahnkurve.

terteilen und die Summe über alle Teilarbeiten bilden. Sei jetzt einmal angenommen, dass die
Kurve durch r(t) parametrisiert ist, dann ergibt sich für die Summe aller Arbeiten der Ausdruck
n
X ∆ti
W = F(r(t)) · (r(ti+1 ) − r(ti )) . (4.66)
∆ti
i=1

Macht man den Grenzübergang hin zu infinitesimal kleinen Wegstücken, wird aus dieser Sum-
me letztendlich ein Integral. Das führt uns zum so genannten Kurven- oder Linienintegral des
Vektorfeldes F entlang der Kurve C:
Z Z Z
dr
F(r)dr = F(r(t)) (t)dt = F(r(t))r0 (t)dt (4.67)
dt
C C C

Man bezeichnet hier die Kurve auch als Integrationsweg oder Integrationspfad. Im Linienintegral
wird also das skalare Produkt aus Richtungsvektor des Feldes und Tangentenvektor der Kurve
gebildet und über C integriert. Man beachte, dass wir hier zwar eine spezielle Parametrisierung
von C angenommen haben (von der auch der Tangentenvektor abhängt), aber letztendlich ist
der Wert des Integrals von der Parametrisierung unabhängig. Wichtig ist nur, dass es (bis auf
endlich viele Punkte) überall einen eindeutigen Tangentenvektor geben muss, also der Integra-
tionspfad sollte glatt oder zumindest stückweise glatt sein. Stückweise glatt geht deshalb, weil
man “kleine” Mengen (z.B. Punkte) aus dem Definitionsbereich herausnehmen kann, sich der
78 Kapitel 4: Vektoranalysis

Wert des Integrals dadurch aber nicht ändert.


Das Integral ändert jedoch sein Vorzeichen, wenn der Integrationspfad in umgekehrter Richtung
durchlaufen wird, wenn sich also die Orientierung ändert.
Stückelt man zwei oder mehrere Wege C1 , ..., Cn zu einem Gesamtweg C zusammen, so erhält
man für das gesamte Linienintegral gerade die Summe
Z n Z
X
F(r)dr = F(r)dr. (4.68)
C i=1 C
i

Eine besondere Schreibweise gibt es für einen geschlossenen Pfad, dies deutet man oft durch ein
I Z
anstatt dem an. (4.69)

Fasst man das Linienelement dr durch seine Komponenten auf, und multipliziert diese formal
mit den Komponenten des Vektorfelds, ergibt sich eine Schreibweise für das Linienintegral, wie
sie etwa im Kreyszig auch verwendet wird:
Z Z
F(r)dr = (F1 dx + F2 dy + F3 dz), (4.70)
C C

wobei F1 , F2 und F3 die einzelnen Komponenten von F bezeichnen.

Linienintegrale für konservative Vektorfelder


Linienintegrale sind im Allgemeinen vom Integrationspfad abhängig. Eine Ausnahme hiervon
machen jedoch die konservativen Vektorfelder. Man kann mit der Wegunabhängigkeit von
Linienintegralen sogar die Konservativität charakterisieren:

Ein Vektorfeld F besitzt genau dann ein Potential f mit grad f = F, wenn das Linienintegral
entlang eines beliebigen Weges C nur von deren Endpunkten, nicht aber vom Weg an sich
abhängt.
Der Beweis in der einen Richtung erfolgt durch Anwendung der Kettenregel: Angenom-
men, f sei ein Potential von F, und r(t) sei eine Darstellung des Weges mit den beiden
Endpunkten r(0) = A und r(1) = B, dann können wir für das Linienintegral schreiben

Z Z1
F(r)dr = (grad f ) · r0 (t)dt = (4.71)
C 0
Z 1 
∂f dx ∂f dy ∂f dz
+ + dt = (4.72)
0 ∂x dt ∂y dt ∂z dt
Z 1
df
dt = f (r(1)) − f (r(0)) = f (B) − f (A). (4.73)
0 dt
4.3 Integration 79

Das Integral ist also gegeben durch die Werte des Potentials am Anfangs- und Endpunkt der
Kurve und unabhängig davon, wie die Kurve genau verläuft.
Der Beweis der umgekehrten Richtung des Satzes findet sich etwa im Anhang vom Kreyszig.
Wir wollen ihn an dieser Stelle weglassen.
Die Wegunabhängigkeit von Linienintegralen lässt sich noch auf eine andere Weise charak-

Abbildung 4.13: Zusammensetzen von zwei Pfaden mit gleichem Anfangs- und Endpunkt bzw.
Unterteilen eines geschlossenen Pfades in zwei Teile.

terisieren, nämlich über geschlossene Pfade: Man kann nämlich sagen, dass Linienintegrale
über beliebige geschlossene Kurven genau dann verschwinden, wenn Linienintegrale über zwei
beliebige Pfade mit gleichem Anfangs- und Endpunkt gleich groß sind (Abb. 4.13). Damit kann
man auch folgern:

Ein Vektorfeld F besitzt genau dann ein Potential f mit grad f = F, wenn das Linienintegral
entlang eines beliebigen geschlossenen Weges C gleich 0 ist.
Von dieser Eigenschaft kommt ursprünglich der Name konservativ. Beschreiben wir etwa
die Bewegung eines Körpers in einem Kraftfeld, stellt das Wegintegral gerade die mechanische
Arbeit dar, also die Zu- oder Abnahme der mechanischen Energie auf seiner Bahnkurve. Diese
Energie ist insofern erhalten, als dass sie auf geschlossenen Wegen keine Änderung erfährt.
Klassisches Beispiel für so ein System ist das Gravitationsfeld einer Massenverteilung oder das
elektrostatische Feld einer Ladungsverteilung. Kommen hingegen Verlustkräfte wie Reibung
oder Luftwiderstand hinzu, verliert das System die Eigenschaft der Konservativität, und
es wird dissipativ. Ein typisches Beispiel für ein nicht konservatives Feld ist das rotierende
Geschwindigkeitsfeld (4.59) im vorigen Abschnitt.
80 Kapitel 4: Vektoranalysis

Abbildung 4.14: Parametrisierung einer Kugel mit Hilfe zweier Winkel. Die Tangentialebene in
einem Punkt (u0 , v0 ) und deren Basis, bestehend aus den Tangentialvektoren ru und rv sind
ebenfalls eingezeichnet.

4.3.3 Oberflächenintegrale
Darstellung von Oberflächen im Raum, Tangentialebenen
Wir kennen im Prinzip zwei Möglichkeiten, eine Fläche S im Raum mittels Funktionen darzu-
stellen, nämlich

• durch eine Gleichung g(x, y, z) = 0 oder

• in parametrischer Form als

r(u, v) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) . (4.74)

Zum Beispiel können wir die Einheitssphäre entweder durch die Gleichung

g(x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 − 1 (4.75)

oder durch die Parametrisierung


   
x(u, v) sin(u) cos(v)
 y(u, v)  =  sin(u) sin(v)  (4.76)
z(u, v) cos(u)

darstellen (siehe auch Abb. 4.14). Ähnlich wie Tangentialvektoren an Kurven lässt sich an jeden
Punkt der Fläche S eine Tangentialebene legen, vorausgesetzt, S hat an dieser Stelle keine
4.3 Integration 81

Spitze oder Kante (ist also glatt). Die Tangentialebene einer Fläche S am Punkt P ist definiert
als die Menge aller Tangentialvektoren von Kurven auf S die durch P laufen. Das ergibt im
Allgemeinen eine Ebene, die sich mit zwei linear unabhängigen Richtungsvektoren darstellen
lässt. Für gegebene Parametrisierung
r(u, v) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) , r(u0 , v0 ) = P (4.77)
laufen etwa die beiden Kurven
r(u, v = v0 ), r(u = u0 , v) (4.78)
durch P , und deren Tangentialvektoren
∂r ∂r
ru = (u0 , v0 ), rv = (u0 , v0 ) (4.79)
∂u ∂v
bilden eine Basis der Tangentialebene in P (Abb. 4.14).
Einen Normalenvektor bzw. Einheitsnormalenvektor auf die Tangentialebene erhalten wir durch

N
N = ru × rv , n= . (4.80)
|N|

Oberflächenintegral einer skalaren Funktion


Bei gegebener Fläche S mit Parametrisierung wie im vorigen Abschnitt und gegebener skalarer
Funktion f (r) auf S interessiert uns nun das Integral von f über S. Da wir es im Allgemei-
nen mit gekrümmten Flächen zu tun haben, betrachten wir zunächst ein infinitesimal kleines
Flächenstück um den Punkt r(u, v), (Abb. 4.15). Da dieses Flächenstück im Allgemeinen ein

Abbildung 4.15: Herleitung des Integrals über die Gesamtoberfläche S.

Parallelogramm bildet, erhalten wir den Flächeninhalt durch den Betrag des Kreuzproduktes der
beiden aufspannenden Vektoren. Durch Erweitern mit ∆u und ∆v erhalten wir den Ausdruck

r(u + ∆u, v) − r(u, v) r(u, v + ∆v) − r(u, v)
f (r(u, v))(∆u∆v) × . (4.81)
∆u ∆v
82 Kapitel 4: Vektoranalysis

Die beiden Faktoren des Kreuzproduktes approximieren die partiellen Ableitungen der Para-
metrisierung r, also für kleine ∆u, ∆v nähern sie sich den Basisvektoren der Tangentialebene
ru und rv . Für die Summe über alle Einzelflächen erhalten wir im Grenzwert das so genannte
Oberflächenintegral von f über S, das hiermit lautet
ZZ ZZ
f (r)dA = f (r(u, v))|N(u, v)|dudv, (4.82)
S R

wobei R den betreffenden Bereich im u-v-Raum bezeichnet. Somit kann man das Oberflächen-
integral auf ein Doppelintegral zurückführen.
Man kann (4.82) nun beispielsweise verwenden, um den Flächeninhalt einer (gekrümmten) Fläche
S zu berechnen. In diesem Fall muss man die zu integrierende Funktion f (r) = 1 setzen.

Oberflächenintegral eines Vektorfeldes


Wir definieren das Oberflächenintegral eines Vektorfeldes F über eine Fläche S als den Fluss von
F durch diese Fläche (Flussintegral). Der Fluss sei wie gehabt definiert als die Projektion von F
auf die Flächennormale, multipliziert mit dem Flächeninhalt (Abb. 4.16). Dadurch ändert sich

Abbildung 4.16: Fluss eines Vektorfeldes durch ein Flächenelement.

im Ausdruck (4.81) nur der Faktor f (r(u, v)), der durch die Projektion F · n ersetzt wird. Mit
dem Grenzübergang zu einem Integral erhalten wir das Oberflächenintegral des Vektorfeldes F
über S als Fluss durch die Gesamtoberfläche. Man kann hier verwenden, dass der Einheitsvektor
n, multipliziert mit dem Betrag |N|, gerade N selbst ergibt. Somit erhalten wir
ZZ ZZ
F · ndA = F(r(u, v)) · N(u, v)dudv. (4.83)
S R

Orientierung von Flächen


Die Definition des Normalvektors (4.80) hängt von der Reihenfolge der beiden Faktoren im
Kreuzprodukt ab. Als Folge dessen kann N zwei verschiedene Orientierungen haben (in die
Fläche hinein, aus der Fläche heraus), die sich nur durch das Vorzeichen unterscheiden. Dement-
sprechend kann daher auch das Vorzeichen des Integranden in (4.83) wechseln. Man muss sich
daher im Einzelfall im Klaren sein, welche Orientierung der Flächennormale gemeint ist. Für
4.3 Integration 83

das Oberflächenintegral einer skalaren Funktion in (4.82) ist die Orientierung egal.
Eine Fläche heißt dann orientierbar, wenn eine Orientierung der Flächennormale stetig und auf
eindeutige Weise über die gesamte Oberfläche fortgesetzt werden kann. Ein Beispiel für eine
nicht orientierbare Fläche ist das Möbius-Band (Abb. 4.17): Wenn man mit dem Normalvektor
um das Band läuft und dabei die Orientierung beibehalten möchte, zeigt dieser nach einem Um-
lauf in die entgegengesetzte Richtung wie am Beginn. Im Falle einer nicht orientierbaren Fläche
ist also das Flussintegral nicht definiert.

Abbildung 4.17: Möbius-Band als Beispiel für eine nicht orientierbare Fläche. (Quelle: Kreyszig)

Satz von Gauß


Der Satz von Gauß (Divergenztheorem) bringt Flussintegrale über geschlossene Oberflächen
und Volumsintegrale in Beziehung miteinander. Dieser Zusammenhang zum Beispiel dann von
Bedeutung, wenn eine Form des Integrals intuitiver oder einfacher zu lösen ist als die andere.
Wir werden außerdem noch zwei Beispiele aus der Physik kennenlernen, in denen der Satz von
Gauß den Zusammenhang zwischen einem Feld und seinen Quellen ausdrückt. Der Satz von
Gauß lautet folgendermaßen:
Sei T ein geschlossenes Volumen im Raum mit stückweise glatter Oberfläche S. Sei weiters eine
Vektorfunktion F(x, y, z) gegeben, die in einer offenen Teilmenge von R3 , die T enthält, partiell
differenzierbar ist mit stetigen partiellen Ableitungen. Dann gilt folgende Gleichheit:
ZZZ ZZ
div FdV = F · ndA (4.84)
T S

Anwendungsbeispiele für den Satz von Gauß


Elektrisches Potential
Wir berechnen zunächst den elektrischen Kraftfluss einer Punktladung q im Mittelpunkt einer
Kugel mit Radius R durch die Kugeloberfläche. Die elektrische Feldstärke an der Kugeloberfläche
hat den Wert
1 qr
E= . (4.85)
4πε0 R3
84 Kapitel 4: Vektoranalysis

Berechnet man das Oberflächenintegral dieses Feldes über die Kugeloberfläche (mit geeigneter
Parametrisierung), erhält man (siehe Übungsbeispiel)
ZZ
q
E · ndA = . (4.86)
ε0
S

Bei diesem Ausdruck fällt auf, dass der Fluss nur von der Ladung q im Inneren der Kugel,
nicht aber vom Kugelradius R abhängt. Man kann sogar zeigen, dass das Ergebnis von (4.86)
unabhängig von der genauen Gestalt des geschlossenen Volumens und von der Position der
Ladungen im Innern des Volumens ist. Nehmen wir jetzt im Innern eines Volumens V mit
Oberfläche S eine beliebige Ladungsverteilung mit Raumladungsdichte %(r), so berechnet sich
die Gesamtladung q als das Volumsintegral über %. Dies setzen wir in (4.86) ein und wenden
außerdem den Satz von Gauß an:
ZZZ
q 1
= %(r)dV (4.87)
ε0 ε0
ZZ Z ZVZ
= E · ndA = div EdV (4.88)
S V

Der zweite und vierte Ausdruck sind jeweils ein Volumsintegral. Da die Gleichung für beliebige
Volumina V gilt, können wir die Integranden gleichsetzen und erhalten die wichtige Beziehung
%
div E = . (4.89)
ε0
Das elektrische Feld ist also proportional zur Ladungsdichte, die ihrerseits die “Quellen” des
elektrischen Feldes darstellen. Daraus kann man für das elektrische Potential φ schließen
%
∇2 φ = − , (4.90)
ε0
der Laplace-Operator ergibt also 0 im ladungsfreien Raum. Man nennt (4.90) auch die Poisson-
Gleichung bzw. Laplace-Gleichung, falls die rechte Seite 0 ist.

Wärmeleitung
Wir wissen zunächst aus physikalischen Experimenten, dass Wärme grundsätzlich von höheren
zu niedrigeren Temperaturen fließt. Räumlich gesehen fließt sie in Richtung des stärksten
Temperaturunterschiedes, also in Richtung des Gradienten des Temperaturfeldes T (r)
v = −λgrad T, (4.91)
wobei λ eine Proportionalitätskonstante, die sogenannte Wärmeleitfähigkeit ist. Der Wärmefluss
durch eine beliebige Oberfläche S eines geschlossenen Volumens V kann geschrieben werden als
ZZ
v · ndA. (4.92)
S
4.4 Übungsaufgaben 85

Wegen des Gauß’schen Satzes ergibt sich


ZZ ZZZ ZZZ
v · ndA = −λ div (grad T )dxdydz = −λ ∇2 T dxdydz. (4.93)
S V V

Auf der anderen Seite gibt der Wärmefluss durch die Oberfläche gerade die Abnahme (Zunahme)
der im Volumen gespeicherten Energie
ZZZ
∂H ∂T
− =− κ% dxdydz, (4.94)
∂t ∂t
V

wobei wir hier Konstanten für die Materialdichte % und spezifische Wärmekapazität des Ma-
terials κ eingeführt haben. Wiederum können wir aufgrund des beliebig gewählten Volumens
V die Integranden der Gleichungen (4.93) und (4.94) gleichsetzen und erhalten dadurch die
Wärmeleitungsgleichung
∂T K
= c2 ∇2 T, c2 = . (4.95)
∂t κ%

4.4 Übungsaufgaben

4.4.1 Differentialrechnung
1
Beispiel: Gegeben ist eine skalare Funktion f (x, y, z) = x2 +y 2 +z 2
von 3 Variablen. Weiters sei
eine Fläche im Raum durch die Parametrisierung

x = u2 + v 2 , y = u2 − v 2 , z = 2uv (4.96)

gegeben.
a) Geben Sie f als Funktion der Parameter u und v auf der Fläche an.
b) Berechnen Sie die partiellen Ableitungen von f nach u und v.
c) Wenden Sie für die Berechnung der partiellen Ableitungen aus b) nun die Kettenregel an:
Bestimmen Sie dazu zunächst die Jacobi-Matrizen
 
∂f ∂f ∂f
, , (4.97)
∂x ∂y ∂z

und  ∂x ∂x 
∂u ∂v
∂y ∂y

∂u ∂v
 (4.98)
∂z ∂z
∂u ∂v
und bilden das Produkt der beiden Matrizen. Zeigen Sie, dass die sich ergebende Matrix
 
∂f ∂f
, (4.99)
∂u ∂v
86 Kapitel 4: Vektoranalysis

mit dem Ergebnis aus a) übereinstimmt. Um die Gleichheit zu zeigen, muss man noch x, y und
z im Ergebnis durch u und v ausdrücken.

Beispiel: Gegeben ist eine skalare Funktion der Gestalt

y
f (x, y) = , (4.100)
x
wobei x = x(t) und y = y(t) Funktionen von einem Parameter t sind. Wenden Sie die Kettenregel
an und finden Sie einen Ausdruck für die Ableitung

df
. (4.101)
dt
Vergleichen Sie das Resultat mit der Regel für die Ableitung eines Quotienten.

Theoriefrage: Für welche Typen von Funktionen (skalar oder vektoriell) wird der Gra-
dient gebildet? In welche Richtung zeigt er, und wie groß ist sein Betrag?

Theoriefrage: Was misst, anschaulich gesprochen, die Divergenz eines Vektorfeldes, das
die Bewegung von Teilchen modelliert? Bringen Sie jede der 3 Aussagen div v > 0, div v < 0
und div v = 0 in Zusammenhang mit einer der folgenden Aussagen:

1. Der Nettofluss durch ein kleines Volumselement (bzw. Flächenelement für 2-dimensionale
Vektorfelder) an der Stelle ist 0.

2. An der Stelle befindet sich eine Senke.

3. An der Stelle befindet sich eine Quelle.

Beispiel: Bestimmen Sie die Divergenz der folgenden Vektorfelder:


a) v = (x3 + y 3 , 3xy 2 , 3zy 2 )
b) v = (e2x cos(2y), e2x sin(2y), 5e2z )
c) v = (x2 + y 2 , 2xyz, z 2 + x2 )

Beispiel: Bestimmen Sie die Divergenz des elektrischen Feldes einer Ladung q0 im Ko-
ordinatenursprung
1 q0
E(x, y, z) = (x, y, z) (4.102)
4πε0 x2 + y 2 + z 2 3
p

für r 6= 0.

Beispiel: Bestimmen Sie die Rotation der folgenden Vektorfelder. Leiten Sie aus dem
4.4 Übungsaufgaben 87

Vektorfeld ein Potential ab, falls ein solches existiert.


a) v = (yex , ex , 2z)
b) v = (3x2 , 2yz, y 2 )

Beispiel: Überprüfen Sie folgende Relationen durch komponentenweises Nachrechnen:


a) div (rot v) = 0
b) rot (grad f ) = 0

4.4.2 Integralrechnung
Beispiel: Berechnen Sie die Doppelintegrale durch zwei sukzessive Integrationen (zuerst nach
y, dann nach x). Bestimmen Sie anschließend die Integrationsgrenzen für die umgekehrte Rei-
henfolge anhand der beigefügten Abb. 4.18 und führen die Integration erneut aus. Vergleichen
Sie die Ergebnisse.
R1 R2x
a) (x + y)2 dy dx
0 x
R1 Rx
b) (1 − 2xy) dy dx
0 x2

Abbildung 4.18:
88 Kapitel 4: Vektoranalysis

Beispiel: Bestimmen Sie die beiden Koordinaten des Schwerpunkts des Halbkreises R
(s. Abb. 4.19) ZZ ZZ
1 1
x= x dx dy und y = y dx dy. (4.103)
A A
R R

Abbildung 4.19:

Beispiel: Bestimmen Sie das Wegintegral des Vektorfeldes v vom Punkt (1, 0, 0) nach (0, 1, 0),
einmal über den Weg C1 , dann über C2 , C3 (Abb. 4.20). Begründen Sie, warum im Fall a) beide
Wege dasselbe Ergebnis liefern. Zeigen Sie, dass man das Ergebnis in a) auch ohne Integration
unter Verwendung eines Potentials bestimmen kann (für das Potential siehe früheres Beispiel).
a) v = (3x2 , 2yz, y 2 )
b) v = (xy, −y 2 , 0)

Abbildung 4.20:

Theoriefrage: Wie lautet der Satz von Gauß für eine Vektorfunktion F, die stetig partiell
4.4 Übungsaufgaben 89

differenzierbar ist in einem Volumen V mit stückweise glatter, geschlossener Oberfläche S?


Welche Arten von Integralen werden hier in Beziehung gesetzt?

Beispiel: Gegeben sei die Einheitssphäre S mit einer Parametrisierung (4.76). Bestim-
men Sie für die folgenden Vektorfelder das Oberflächenintegral über S. Verifizieren Sie für
a) den Satz von Gauß, indem Sie die Divergenz des Vektorfeldes und das entsprechende
Volumsintegral bilden.
a) v = (x, y, z)
b) v = √ (x, y, z) 3
x2 +y 2 +z 2

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