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Manuskript

NOTIZBUCH

Titel: Weblogs
Autor/in: Jenny Kramer
Redaktion: Sommer-Notizbuch

Samstag, der siebte Februar 2004. Ein junger Iraki,


der sich „Salam Pax“ nennt, liegt in seinem Bett:

Sprecher:
„Ich wurde heute durch eine Bombenexplosion
geweckt. Ich öffnete meine Augen und schaute auf
meine Uhr. Es war zwanzig nach acht. Ich schlief
wieder ein, noch während ich darüber nachdachte, ob
die Explosion groß genug war, um es in die
Nachrichten zu schaffen. Um elf gab es eine weitere –
diesmal sehr nah. Du schaust auf deine Uhr und
denkst: Oh je.“

Text:
Der Text stammt aus Salams Warblog, einem
Kriegstagebuch im Internet. Wie Salam, so
beschreiben auch viele andere Blogger, wie sie als
Soldat oder Zivilist den Krieg erleben. Sie berichten
von Bombenattentaten, Besatzung, von Hass. Sie
vermitteln den Schrecken des Krieges sehr direkt,
sehr emotional, sehr subjektiv.

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Fax: 089/5900-258 Bayerischer Rundfunk 2007
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Das Ziel dieser Blogs ist eine Gegenöffentlichkeit
zu offiziellen Verlautbarungen zu schaffen, aber
auch Eindrücke zu verarbeiten indem die Blogger
ihnen eine sprachliche Gestalt geben; sie
niederschreiben, konkretisieren.

Doch Warblogs sind eher selten – eine


Untergruppe der weltweit schätzungsweise siebzig
Millionen Blogs. Und die behandeln alle möglichen
Themen. Geschrieben wird zumeist über
tagesaktuelle Gedanken, Gefühle, Erlebnisse.
Doch auch diese Blogs beanspruchen Realität
abzubilden – in Schlaglichtern.

Montag, der 12. Mai 2008. Benjamin ist unterwegs


in München.
.
Sprecher:
Privat benütze ich die Aufzüge in der U-Bahn nicht. Ich
bin ganz froh, selber ohne Probleme gehen zu können.
Wenn ich mit unseren Bewohnern unterwegs bin, sind
wir darauf angewiesen, weil sich ein Rollstuhl nicht so
leicht eine Rolltreppe rauf- und runterfahren lässt.

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Der selbsternannte Stadtneurotiker bloggt seit
anderthalb Jahren. Er schreibt über Fußball,
darüber, wie es ist als Mann einen Rock zu tragen
und über seine Arbeit mit Menschen mit
Behinderung.

„Ich denke es ist auf alle Fälle ein Stück Selbstdarstellung.


Davon spreche ich mich jetzt nicht frei. Ich glaube, dass es
bei den meisten auch so ist. Die Lust am Schreiben, die
erst so im Laufe der Jahre gekommen ist..“

Um seine Leser zu halten muss Benjamin


nachvollziehbar argumentieren und das, was er
vermittelt reflektieren. Gleichzeitig ist er frei zu
schreiben, was er will. Technisch ist das kein
Problem. Und das macht Bloggen so attraktiv. In
Deutschland gibt es rund 200-Tausend Blogs, die
fast täglich fortgeschrieben werden. Schlaglicht-
Biografien, wie die von Sabine. Ihr Blog heißt „alles
aus München“.
Es ist Dienstag, der 22. Juli 2008:

Sprecherin:
Ein unschätzbarer Vorteil unserer
Dachgeschosswohnung ist das erhabene Über-den-
Dingen-stehen; gleichbedeutend mit: Über-den-
Nachbarn-wohnen. Keiner sieht mich und ich sehe alle.

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Aufgrund der exponierten Lage meines Zimmers werde
ich also geradezu gezwungen, immer wieder
bruchstückhaft an dem Alltagsleben der anonymen
Großstadtmenschen im gegenüberliegenden Haus zu
partizipieren.

Sabines Grund öffentlich zu schreiben: Sie ist


umgezogen, wollte Freunde und Familie weiterhin
an ihrem Leben teilhaben lassen. Doch inzwischen
lesen auch Fremde mit:

Es gibt bestimmte Personenkreise, da wäre es mir lieber,


dass die nicht davon erfahren. Ich meine, das ist mein
Privatleben dann doch, was ich am Wochenende mache
und da bin ich mir schon darüber bewusst, dass die
potentiell die Möglichkeit haben darauf zuzugreifen und
dass ich dann lieber weniger darüber schreibe.

Deshalb anonymisiert Sabine viel und verzichtet


auf Emotionen im Blog. Im Gegensatz zu Dorin.

Freitag, der 15. Februar 2008:

Sprecher:
Nachdem ich das Glück habe, Münchens wohl einzige
Frau zu daten, die gestern nicht wußte, daß
Valentinstag war, ist hier kein Platz für Gefühlsduselei.

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Dorin schreibt bewusst öffentlich, bloggt im Affekt,
provoziert gern und versöhnt sich wieder. Er nutzt
sein Blog namens „Tivoli“ als Bühne:

Dorin Popa als Blogger ist eine Kunstfigur. Das heißt ich
inszeniere mich auf jeden Fall. Ich arbeite gern mit
Andeutungen und versuche damit natürlich zu tricksen, so
dass manche Dinge natürlich aufregender wirken, als sie
wirklich sind, weil die Leute dann einfach was
reininterpretieren.

Alle drei: Dorin, Sabine und Benjamin verwenden


ihr Blog als persönliches Archiv. Sie lassen andere
bewusst an ihrer Vergangenheit teilhaben, tragen
Versatzstücke ins kollektive Gedächtnis:

Also ich benutze es für mich als Stichwortgeber. Gerade so,


weil ich immer mal wieder Musik verlinke, die ich nicht so
auf Platte habe und da weiss ich: die finde ich auf meiner
Seite. Das ist auch so eine Gedächtnisstütze für mich
selber, ja.

Dorin geht noch weiter:


Die Sachen die früher gemacht wurden – Bücher, die
erschienen sind, Vorträge, Fernsehauftritte – die existieren
nicht. Weil sie nicht online sind. Deswegen tue ich zum

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Beispiel ganz systematisch meine ganzen Sachen aus den
achtziger, neunziger jahren online stellen.

Und Sabine hält mit dem Bloggen die


Vergangenheit lebendig:

Ein blog, den hatte ich während eines Auslandsaufenthaltes


in Beirut geschrieben. Wenn ich den heute lese, dann
denke ich, das sind richtige schöne Momentaufnahmen, die
haben genau diese Atmosphäre, die 2006 im Libanon
herrschte widergespiegelt. Das ist perfekt. Ich könnte das
heute so nicht mehr rekonstruieren, wie ich das damals
konnte als ich direkt in diesem, ja, Moloch war, kann man
so sagen.

Alle drei kommunizieren mithilfe ihrer Blogs. Sie


sind soziale Menschen. Sie nehmen ihre Umwelt
im Hinblick auf deren Besonderheiten wahr,
vermitteln, dass der Alltag spannend ist. Aus einer
Begebenheit wird ein Eintrag, der die Leser
amüsiert oder zum Nachdenken anregt. Und auch,
wenn die Blogger aus München natürlich nicht über
Krieg und Terror schreiben, sie haben Leser. Denn
sie sind verbindlich und menschlich in dem, was
sie schreiben.

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