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Stephen King

Colorado Kid

scanned 2006-07/V1.0

Am Strand von Maine wird eine Leiche gefunden. Als sie endlich
identifiziert werden kann, erscheint die Situation höchst mysteriös: Wie kam
der Mann von Colorado, wo er wenige Stunden vor seinem Tod noch
gesehen wurde, nach Maine? Scheinbar unmöglich …
ISBN: 978-3-548-26378-6
Original: The Colorado Kid
Aus dem Englischen von Andrea Fischer
Verlag: Ullstein
Erscheinungsjahr: 1. Auflage Januar 2006
Umschlaggestaltung: Büro Hamburg

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!


Buch

Am Strand einer Insel im Bundesstaat Maine wird ein Toter


gefunden. Außer ein paar Münzen und einem Päckchen
Zigaretten trägt er nichts bei sich. Woran er starb, kann nicht
eindeutig geklärt werden. Nur der Hartnäckigkeit zweier
Lokalreporter und eines jungen Gerichtsmediziners ist es zu
verdanken, dass der Unbekannte – über ein Jahr später –
identifiziert wird. Doch damit beginnt das Rätsel erst. Denn je
mehr sie über den Toten und seine Herkunft herausfinden, umso
weniger verstehen sie den Fall: ein scheinbar unmögliches
Verbrechen.
Autor

Stephen King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren. Schon


als kleiner Junge begann er mit dem Schreiben von
Kurzgeschichten. Der Durchbruch gelang ihm 1973 mit seinem
ersten Roman Carrie. Seither hat er um die 50 Romane und über
100 Kurzgeschichten verfasst und gilt weltweit unbestritten als
der »erfolgreichste Horrorschriftsteller aller Zeiten« (FAZ).
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Als der Journalist des Boston Globe einsah, dass er aus den
beiden alten Männern – der gesamten Belegschaft des Weekly
Islander – nichts Interessantes herausbekommen würde,
verkündete er nach einem Blick auf die Uhr, er könne noch die
Fähre um halb zwei erreichen, wenn er sich beeile. Er dankte
den beiden Männern, dass sie sich Zeit genommen hatten, legte
Geldscheine auf den Tisch und beschwerte sie mit einem
Salzstreuer, damit sie nicht von der steifen auflandigen Brise
fortgeweht würden. Dann eilte er von der Terrasse des Grey
Gull die Steintreppe hinunter, zur Bay Street und dem kleinen
Ort dahinter. Die junge Frau zwischen den beiden Alten hatte er
kaum wahrgenommen, nur einige Male mit flüchtigem Blick
ihre Brüste gestreift.
Kaum war der Journalist des Globe verschwunden, griff Vince
Teague über den Tisch und zog die beiden Geldscheine – zwei
Fünfziger – unter dem Salzstreuer hervor. Mit unverkennbarer
Genugtuung stopfte er sie in die Pattentasche seines alten,
zweckdienlichen Tweedsakkos.
»Was machst du da?«, fragte Stephanie McCann. Sie wusste
zwar, dass Vince ihren, wie er sich ausdrückte, »jungen
Knochen« gerne einen Schreck einjagte (sie hatte ja selbst Spaß
daran), konnte in diesem Moment ihre Verwunderung jedoch
nicht verhehlen.
»Wonach sieht es denn aus?« Vince wirkte selbstzufrieden wie
selten. Er strich die Patte der Tasche glatt und aß den Rest seines
Hummerbrötchens. Dann tupfte er sich den Mund mit einer
Papierserviette ab und fing geschickt den Plastikdeckel von der
Hummerportion des Globe-Journalisten auf, den eine frischere,
nach Salz riechende Böe forttragen wollte. Vince’ Hände waren

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von seiner Arthritis fast grotesk verformt, dennoch waren sie
erstaunlich flink.
»Es sieht so aus, als hättest du gerade das Geld genommen,
mit dem Mr Hanratty unser Essen bezahlen wollte«, sagte
Stephanie.
»Stimmt genau, Steffi, gut aufgepasst«, bestätigte Vince und
zwinkerte dem anderen Mann am Tisch zu. Dave Bowie war
fünfundzwanzig Jahre jünger als Vince Teague, wirkte aber
gleich alt. Das läge allein an der Grundausstattung, mit der man
vom Schicksal auf den Weg geschickt werde, behauptete Vince
immer; jeder halte so lange durch, bis er auseinander falle, und
vorher würde eben geflickt, was das Zeug halte. Vince war
überzeugt, dass selbst Hundertjährigen – ein Alter, das auch er
zu erreichen hoffte – das Leben letztlich nicht länger erschien
als ein Sommernachmittag.
»Aber warum?«
»Hast du Angst, dass ich die Zeche prelle und Helen auf der
Rechnung sitzen lasse?«, fragte Vince zurück.
»Nein … Wer ist Helen?«
»Helen Hafner, die Frau, die uns eben bedient hat.«
Vince wies mit dem Kinn über die Terrasse, wo eine etwas
fülligere Frau von rund vierzig Jahren Teller abräumte. »Denn
es ist die Geschäftspolitik von Jack Moody, dem dieses feine
Restaurant gehört – er hat es von seinem Vater übernommen,
auch wenn das nicht so wichtig ist –«
»Doch, es interessiert mich«, beteuerte Stephanie.
Dave Bowie, seit fast so langer Zeit Herausgeber des Weekly
Islander wie Helen Hafner auf der Erde weilte, beugte sich vor
und legte seine fleischige Hand auf Stephanies junge, glatte
Finger. »Weiß ich doch«, sagte er.
»Und Vince auch. Deshalb fängt er immer bei Adam und Eva
an, wenn er dir etwas erklärt.«

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»Aha, jetzt gibt’s also Unterricht«, sagte Stephanie lachend.
»Genau«, bestätigte Dave. »Und warum machen so alte
Knacker wie wir das gerne?«
»Weil ihr nur Schüler habt, die was lernen wollen.«
»Richtig«, sagte Dave und lehnte sich zurück. »Schön.«
Er trug weder Anzugjacke noch Blouson, sondern ein altes
grünes Sweatshirt. Es war August. Stephanie fand es trotz des
auflandigen Windes ziemlich heiß auf der Terrasse des Grey
Gull, wusste aber, dass beiden Männern schnell kalt wurde. Bei
Dave wunderte sie das ein wenig: Er war erst fünfundsechzig
und hatte mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht. Vince Teague
hingegen wirkte nicht älter als siebzig (ein fitter Siebzigjähriger,
trotz seiner verformten Hände), war jedoch Anfang des
Sommers schon neunzig geworden und dünn wie ein Aal. »Ein
Strich in der Landschaft«, pflegte Mrs Pinder zu sagen, die
Teilzeitsekretärin des Islander. Meistens mit verächtlichem
Schnauben.
»Im Grey Gull haften die Kellnerinnen für ihre Tische, bis die
Gäste bezahlt haben«, erklärte Vince. »Wenn eine Frau bei Jack
vorstellig wird und nach Arbeit fragt, sagt er das sofort, damit
sie ihm hinterher nicht vorheulen kann, sie hätte es nicht
gewusst.«
Stephanie schaute über die Terrasse, die um zwanzig nach eins
noch immer zur Hälfte besetzt war. Dann spähte sie in den
großen Saal, der einen herrlichen Blick auf die Bucht von
Moose Cove bot. Dort war so gut wie jeder Tisch besetzt.
Stephanie wusste, dass die Gäste zwischen Ende Mai und Ende
Juli draußen bis gegen drei Uhr Schlange standen. In anderen
Worten: Im Sommer herrschte Hochbetrieb. Dabei zu erwarten,
dass die Kellnerinnen jede einzelne Bestellung im Kopf
behielten, während sie sich die Hacken abliefen, um Tabletts mit
dampfenden Hummern und Muscheln herauszubringen …
»Das ist aber ganz schön –« Stephanie verstummte. Sie hatte

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Angst, dass diese beiden schrägen Vögel sich über sie lustig
machen würden. Wahrscheinlich hatten sie den Islander schon
zu Zeiten herausgebracht, als es noch gar keinen Mindestlohn
gab.
»Unfair? Oder was wolltest du sagen?«, fragte Dave trocken
und nahm das letzte Brötchen aus dem Korb.
Bei ihm klang »unfair« wie unfä-or und reimte sich mehr oder
weniger mit »ah jo«, der hiesigen Antwort auf alle Fragen,
irgendwo zwischen »ja« und »ach, wirklich?« angesiedelt.
Stephanie stammte aus Cincinnati, Ohio. Beim Antritt ihres
Praktikums beim Weekly Islander auf Moose-Lookit Island hatte
sie gedacht, sie würde es niemals schaffen, etwas zu verstehen,
der Akzent sei einfach zu schwer. Wie sollte sie etwas lernen,
wenn sie nur jedes siebte Wort verstand? Und wie schnell wären
die Männer der Meinung, sie sei völlig minderbemittelt, wenn
sie ständig bat, den letzten Satz noch einmal zu wiederholen?
Vier Tage nach Beginn ihres viermonatigen Praktikums für die
Universität von Ohio war sie kurz davor gewesen, alles
hinzuwerfen. Da hatte Dave sie beiseite genommen und gesagt:
»Gib nicht auf, Steffi, hab noch ein bisschen Geduld.« Es hatte
sich gelohnt: Fast über Nacht hatte sie den Dialekt plötzlich
verstanden. Als hätte sie eine Blase im Ohr gehabt, die plötzlich
auf wundersame Weise geplatzt war. Selbst wenn sie hier für
den Rest ihrer Tage lebte, würde sie zwar niemals wie die
Einheimischen sprechen, aber verstehen, »ah jo«, das würde sie
sie schon.
»Genau: unfair«, stimmte Stephanie Dave zu.
»Dieser Begriff existiert nicht in Jack Moodys Wortschatz,
höchstens wenn er über Sport redet«, sagte Vince, und dann im
gleichen Tonfall: »Lass das Brötchen liegen, Dave Bowie,
irgendwann platzt du noch, quiek, quiek, kleines Schweinchen.«

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»Soweit ich weiß, sind wir nicht verheiratet«, gab Dave zurück
und biss ins Brötchen. »Kannst du ihr nicht verraten, was dir
durch den Kopf geht, ohne mich dabei zu beschimpfen?«
»Ganz schön vorlaut, was?«, sagte Vince. »Und keiner hat ihm
beigebracht, dass man nicht mit vollem Munde spricht.« Er legte
den Arm über die Rückenlehne des Stuhls. Der Wind wehte über
den funkelnden Ozean und blies Vince das weiße Haar aus der
Stirn. »Steffi, Helen hat drei Kinder zwischen sechs und zwölf
Jahren. Ihr Mann hat sich vom Acker gemacht. Sie will auf der
Insel bleiben, aber das schafft sie nur – gerade so –, wenn sie im
Grey Gull arbeitet. Denn die Sommer sind ein bisschen fetter,
als die Winter mager sind. Kannst du noch folgen?«
»Ja, sicher«, sagte Stephanie. Genau in dem Moment erschien
die Frau, die Gegenstand des Gesprächs war. Stephanie
bemerkte, dass sie dicke Stützstrümpfe trug, die ihre
Krampfadern nicht völlig kaschierten. Außerdem hatte sie
dunkle Ringe unter den Augen.
»Hallo, Vince, hallo, Dave«, sagte sie und begnügte sich mit
einem Nicken in Richtung des hübschen Mädchens, dessen
Namen sie nicht kannte. »Euer Freund ist ja schon gegangen.
Musste er zur Fähre?«
»Jawohl«, sagte Dave. »Ihm ist plötzlich eingefallen, dass er
noch zurück nach Boston muss.«
»Ah jo? Seid ihr fertig?«
»Ja, aber warte noch ein bisschen mit dem Abräumen«, sagte
Vince. »Wenn du Zeit hast, kannst du uns die Rechnung
bringen, Helen. Wie geht’s den Kindern?«
Helen Hafner verzog das Gesicht. »Jude ist letzte Woche aus
dem Baumhaus gefallen und hat sich den Arm gebrochen! Wie
der geschrien hat! Ich hab mich zu Tode erschrocken!«
Die beiden Alten sahen sich an und mussten lachen. Schnell
rissen sie sich wieder zusammen und machten zerknirschte

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Gesichter. Vince entschuldigte sich bei Helen, aber sie war
dennoch erzürnt.
»Männer haben gut lachen«, sagte sie mit müdem,
sarkastischem Lächeln zu Stephanie. »Als kleine Jungs sind sie
selbst aus dem Baumhaus gefallen und haben sich den Arm
gebrochen. Sie sind alle mal kleine wilde Racker gewesen. Aber
dass ihre Mutter mitten in der Nacht aufgestanden ist und ihnen
Schmerztabletten gegeben hat, das wissen sie natürlich nicht
mehr. Ich bringe euch die Rechnung.« In ihren abgelaufenen
Turnschuhen schlurfte sie davon.
»Sie hat ein gutes Herz«, sagte Dave. Er besaß genug Anstand,
um leicht beschämt dreinzublicken.
»Ja, das stimmt«, bestätigte Vince, »und wenn wir von ihr
einen Nasenstüber bekommen haben, dann haben wir ihn auch
verdient. Egal. Mit dem Essen läuft das jetzt so, Steffi: Ich weiß
nicht, was drei Hummerbrötchen, einmal Hummer mit Muscheln
und vier Eistees in Boston kosten, aber der Journalist hat
scheinbar vergessen, dass wir hier oben sozusagen an der
Bezugsquelle sitzen, wie der Ökonom sich ausdrücken würde.
Deshalb hat er hundert Dollar auf den Tisch gelegt. Wenn
unsere Rechnung höher als fünfundfünfzig Dollar ist, fress ich
einen Besen. Kannst du mir noch folgen?«
»Natürlich«, sagte Stephanie.
»Also, für den Typ vom Globe wird das so laufen: Auf der
Rückfahrt schreibt er ›Mittagessen, Grey Gull, Moose-Lookit
Island‹ und ›Serie: Ungelöste Rätsel Neuenglands‹ in seinen
kleinen Spesenblock. Wenn er ehrlich ist, notiert er hundert
Dollar, aber wenn er auch nur die geringste kriminelle Energie
besitzt, schreibt er hundertzwanzig auf und geht mit seiner
Freundin für die restlichen zwanzig ins Kino. Verstehst du?«
»Ja«, entgegnete Stephanie. Mit vorwurfsvollem Blick trank
sie ihren Eistee aus. »Das finde ich ganz schön zynisch.«

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»Nein, wenn ich zynisch wäre, hätte ich hundertdreißig
gesagt«, gab Vince zurück. Dave musste lachen. »Auf jeden Fall
hat er hundert hier gelassen, das sind mindestens fünfunddreißig
Dollar zu viel, selbst wenn man zwanzig Prozent Trinkgeld
draufrechnet. Deshalb habe ich das Geld an mich genommen.
Wenn Helen die Rechnung bringt, unterschreibe ich und lasse
sie an den Islander schicken.«
»Du gibst ihr hoffentlich mehr als zwanzig Prozent
Trinkgeld«, sagte Stephanie, »in Anbetracht ihrer Situation zu
Hause.«
»Nein, da irrst du dich«, sagte Vince.
»Aha. Und wieso?«
Geduldig sah er sie an. »Was glaubst du wohl? Dass ich ein
geiziger Opa bin? Ein knickriger Yankee?«
»Nein, das glaube ich genauso wenig, wie dass Schwarze faul
sind oder Franzosen den ganzen Tag an Sex denken.«
»Dann setz mal deine kleinen grauen Zellen in Bewegung!
Gott hat dir genug gegeben.«
Stephanie strengte sich an. Neugierig betrachteten die beiden
Männer sie.
»Helen will keine Almosen«, sagte sie schließlich.
Vince und Dave schauten sich amüsiert an.
»Was ist?«, fragte Stephanie.
»Ein bisschen nah an faulen Schwarzen und sexbesessenen
Franzosen, was?«, sagte Dave mit besonders starkem Akzent,
jeden Vokal wie Kaugummi in die Länge ziehend. »Die stolze
Yankeefrau, die keine Almosen nimmt.«
Stephanie hatte das Gefühl, im Sumpf der
Pauschalvorstellungen zu versinken. »Ihr denkt also, dass sie es
nehmen würde. Für ihre Kinder, vielleicht auch für sich selbst.«
»Der Mann, der uns das Mittagessen ausgegeben hat, kommt
von weit her«, sagte Vince. »Für Helen Hafner haben Leute von
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weit her so viel Geld, dass sie sie damit sozusagen zusch …
ähm, eindecken können.«
Erheitert über diese sprachliche Rücksichtnahme, sah sich
Stephanie auf der Terrasse um und blickte dann durch die
Glasscheibe in den Saal. Ihr fiel etwas auf: Viele, ja fast
sämtliche Gäste draußen auf der Terrasse waren Ortsansässige,
die Kellnerinnen ebenfalls. Drinnen saßen die Urlauber, die
Sommerfrischler. Sie wurden von jüngeren Kellnerinnen
bedient, hübscheren Mädchen vom Festland. Aushilfen. Da
verstand Stephanie alles. Es war falsch gewesen, die Frage unter
soziologischem Aspekt zu betrachten – es war viel einfacher.
»Die Kellnerinnen im Grey Gull teilen sich das Trinkgeld,
stimmt’s?«, fragte sie. »Deshalb!«
Vince zeigte mit dem Finger auf sie. »Bingo!«
»Und was wollt ihr jetzt machen?«
»Es läuft wie folgt«, erklärte er. »Ich unterschreibe die
Rechnung mit fünfzehn Prozent Trinkgeld. Dann stecke ich
Helen vierzig Dollar vom Globe-Typen in die Tasche. Sie
bekommt den ganzen Batzen, der Zeitung tut’s nicht weh, und
was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«
»So werden in Amerika Geschäfte gemacht«, sagte Dave
feierlich.
»Und weißt du, was ich gut finde?«, fragte Vince Teague und
hielt das Gesicht in die Sonne. Er kniff die Augen wegen des
grellen Lichts zusammen, seine Haut legte sich in unzählige
Falten. Sein wahres Alter war noch immer nicht zu erraten, aber
wie achtzig sah er jetzt immerhin schon aus.
»Nein. Was denn?«, fragte Stephanie belustigt.
»Ich finde es gut, dass das Geld im Umlauf bleibt, wie Wäsche
im Trockner. Das beobachte ich gerne. Und diesmal landet das
Geld, wenn die Maschine endlich stehen bleibt, hier auf Moosie,
wo die Leute es wirklich brauchen. Am tollsten ist allerdings,

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dass der Typ aus Boston zwar unser Essen bezahlt hat, aber
nichts in der Hand hatte, als er zur Fähre ging.«
»Als er zur Fähre rannte«, verbesserte ihn Dave. »Er musste
sich doch beeilen! Ich hab an dieses Gedicht von Edna St.
Vincent Millay gedacht: ›Wir waren so müde, wir waren so
froh, wir fuhren die ganze Nacht auf dem Boot.‹ Oder so
ähnlich.«
»Na, froh sah er mir nicht gerade aus. Aber wenn er im
nächsten Ort eintrifft, ist er bestimmt richtig müde«, meinte
Vince. »Ich glaube, er hat von Maddewaska gesprochen.
Vielleicht findet er ja da ein ungelöstes Rätsel. Zum Beispiel,
warum da überhaupt freiwillig Menschen leben. Pass jetzt auf,
Dave!«
Stephanie war überzeugt, dass zwischen den beiden Männern
eine schlichte, aber gut funktionierende Telepathie herrschte.
Seit ihrer Ankunft auf Moose-Lookit Island vor drei Monaten
hatte sie mehrere Beweise dafür erlebt. Dies war wieder eines.
Die Kellnerin kam näher, die Rechnung in der Hand. Dave hatte
ihr den Rücken zugewandt, Vince sah ihr entgegen. Der Jüngere
schien dennoch genau zu wissen, was der Redakteur des
Islander von ihm erwartete: Dave griff in die Gesäßtasche, holte
seine Börse heraus, zog zwei Scheine hervor, faltete sie und
schob sie über den Tisch. Kurz darauf stand Helen vor ihnen.
Mit seiner knotigen Hand nahm Vince die Rechnung entgegen,
mit der anderen drückte er die Geldscheine in die Tasche von
Helens Uniform.
»Danke, meine Liebe«, sagte er.
»Wollt ihr wirklich keinen Nachtisch?«, fragte sie. »Es gibt
Macs Schokoladenkuchen mit Kirschen. Steht nicht auf der
Karte, aber es ist noch was da.«
»Für mich nicht. Steffi, du?«
Sie schüttelte den Kopf. Mit gewissem Bedauern schloss sich
Dave Bowie ihr an.

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Helen schenkte (falls das das richtige Wort war) Vince Teague
einen abschätzenden Blick: »Du könntest etwas mehr auf den
Rippen vertragen, Vince.«
»Der Suppenkasper und der Vielfraß, das sind Dave und ich«,
sagte Vince grinsend.
»Ah jo.« Helen warf Stephanie einen Blick zu. Rasch kniff sie
ein Auge zu, ein kurzes Zwinkern, das überraschend viel Humor
verriet. »Da haben Sie sich ja zwei ausgesucht, Miss«, sagte sie.
»Die sind schon in Ordnung«, gab Stephanie zurück.
»Klar, und als Nächstes gehen Sie direkt zur New York
Times«, entgegnete Helen. Sie sammelte die Teller ein.
»Komme gleich wieder.« Dann stapfte sie davon.
»Wenn sie die vierzig Dollar findet«, meinte Stephanie, »weiß
sie dann, von wem sie sind?« Auf der Terrasse saßen rund ein
Dutzend Gäste, die Kaffee, Eistee und Nachmittagsbier tranken
oder den Schoko-Kirsch-Kuchen aßen, der nicht auf der Karte
stand. Nicht alle sahen so betucht aus, als könnten sie der
Kellnerin vierzig Dollar zustecken.
»Wahrscheinlich schon«, sagte Vince. »Aber sag mir eins,
Steffi.«
»Was denn?«
»Wenn sie es nicht wüsste, wäre das dann so schlimm?«
»Ich weiß nicht, was du –«
»Ich glaube schon«, unterbrach er sie. »Na los, zurück an die
Arbeit. Die Nachrichten warten nicht.«

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Was Stephanie beim Weekly Islander am besten gefiel, was sie


selbst nach drei Monaten unermüdlichen Artikelschreibens
verzückte, war der Umstand, dass man an einem sonnigen Tag
nur von seinem Schreibtisch aufstehen und sechs Schritte gehen
musste, um den herrlichsten Blick auf die Küste Maines zu
haben. Dazu brauchte man nämlich nur auf die überdachte
Veranda zu treten, die sich an dem scheunenähnlichen
Zeitungsgebäude entlangzog. Natürlich roch es nach Fisch und
Tang, aber dieser Geruch lag überall auf Moose-Look in der
Luft. Man gewöhnte sich daran, hatte Stephanie festgestellt, und
irgendwann geschah etwas Wunderbares: Kaum hatte die Nase
den Geruch ignorieren gelernt, entdeckte sie ihn aufs Neue, und
diesmal empfand sie ihn fast wie Parfüm.
An klaren Tagen (wie an diesem gegen Ende August)
zeichnete sich jedes Haus, jeder Anleger, jedes Fischerboot
jenseits des Wassers in Tinnock deutlich ab. Stephanie konnte
den Schriftzug SUNOCO auf einer Zapfsäule und den Namen
LeeLee Bett am Rumpf eines Schellfischkutters erkennen, der
zum herbstlichen Ausbessern und Lackieren an Land gezogen
worden war. Ein Junge in kurzer Hose und abgeschnittenem
Trikot der Patriots angelte am müllübersäten Kiesstrand vor
Preston’s Bar. Die Sonne blinzelte tausendfach von den
Blecheinfassungen hunderter Dächer. Zwischen Tinnock Village
(eher eine Kleinstadt als ein Dorf) und Moose-Lookit Island
fielen die Sonnenstrahlen auf das blaueste Wasser, das
Stephanie je gesehen hatte. An Tagen wie diesem fragte sie sich,
wie sie jemals in den Mittleren Westen zurückkehren solle – ob
sie das überhaupt könnte. An anderen Tagen hingegen, wenn der
Nebel hereindrückte und das Festland verschwand, wenn der
wehmütige Klang des Nebelhorns wie die Stimme eines längst

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vergessenen wilden Tieres ertönte … tja, dann fragte sie sich das
auch.
Du musst vorsichtig sein, Steffi, hatte Dave einmal zu ihr
gesagt, als sie draußen auf der Veranda saß, auf dem Schoß den
Block mit einem halb fertigen Artikel in ihrer schwungvollen,
nach links geneigten Handschrift. Das Leben auf der Insel
schleicht sich dir klammheimlich in den Körper, und wenn du es
einmal hast, ist es wie Malaria. Dann wirst du es so schnell
nicht mehr los.
Stephanie knipste das Licht an (die Sonne neigte sich dem
Horizont zu, in dem lang gezogenen Raum wurde es allmählich
dunkel), setzte sich an ihren Schreibtisch und suchte ihren
treuen Schreibblock, auf dessen oberstem Blatt sie einen neuen
Artikel verfasst hatte. Er war so gut wie identisch mit einem
halben Dutzend anderer, die bereits gedruckt worden waren,
dennoch betrachtete sie ihn mit unverhohlenem Stolz.
Schließlich war dieser Text ihr Werk, es waren ihre Worte, für
die sie bezahlt wurde, und sie zweifelte nicht dran, dass die
Leute im Verbreitungsgebiet des Islander – das gar nicht so
klein war – ihn auch tatsächlich lasen. Ihr ehemaliger
Englischlehrer an der High School hätte von ars utile
gesprochen.
Mit leisem, aber vernehmlichem Stöhnen nahm Vince an
seinem Schreibtisch Platz. Es ertönte ein Knacken, als er sich
erst nach links, dann nach rechts drehte. »Die Wirbelsäule
einrenken«, nannte er das. Dave sagte immer, eines Tages würde
er durch sein Einrenken vom Hals abwärts gelähmt sein, doch
diese Prognose schien Vince keine Sorgen zu bereiten. Er stellte
den Computer an, während sein geschäftsführender Herausgeber
auf der Schreibtischkante saß, einen Zahnstocher hervorholte
und damit in seinem Gebiss herumbohrte.
»Was liegt heute an?«, fragte Dave, während Vince darauf
wartete, dass sein Computer hochfuhr. »Feuer? Flutwellen?
Erdbeben? Aufstand der Massen?«
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»Ich dachte, ich fange mit Ellen Dunwoodie an. Sie hat den
Hydranten auf der Beach Lane umgefahren, als sich die
Handbremse ihres Wagens löste. Wenn ich dann so richtig in
Fahrt bin, wollte ich meinen Leitartikel über Büchereien noch
mal überarbeiten«, sagte Vince und knackte mit den
Fingerknöcheln.
Dave warf Stephanie von Vince’ Schreibtisch aus einen Blick
zu. »Erst der Rücken, dann die Finger«, sagte er. »Wenn er noch
lernt, auf seinem Brustkorb ›Dry Bones‹ zu spielen, können wir
ihn bei American Idol anmelden.«
»Nur am Meckern«, sagte Vince liebevoll. »Weißt du, Steffi,
irgendwie ist das ja grotesk: Ich sitze hier mit meinen neunzig
Jahren, reif für die Kühltruhe, und habe einen brandneuen
Macintosh vor mir, und du mit deinen zweiundzwanzig sitzt
daneben, zart und knackig wie ein junger Pfirsich, und schreibst
auf einem Block wie eine alte Jungfer aus einem
Viktorianischen Roman.«
»Zu Viktorias Zeiten gab es bestimmt noch keine
Schreibblöcke«, sagte Stephanie. Sie schob die Blätter auf ihrem
Schreibtisch umher. Als sie im Juni nach Moose-Look zum
Weekly Islander gekommen war, hatte man ihr den kleinsten
Tisch hinten in der Ecke zugewiesen, kaum größer als in der
Grundschule. Mitte Juli war sie zu einem größeren in der Mitte
des Raumes aufgerückt. Das freute sie, aber mehr Platz auf dem
Tisch bot auch mehr Gelegenheit, Sachen zu verlieren. Sie
suchte herum, bis sie einen pinkfarbenen Handzettel fand.
»Weiß einer von euch, welcher Organisation der Gewinn des
diesjährigen Heuwagenausflugs mit anschließendem Picknick
von Gernerds Hof zugute kommt, ›diesmal mit Musik von Little
Jonna Jaye und den Straw Hill Boys‹?«
»Wahrscheinlich Sam Gernerd, seiner Frau, ihren fünf
Kindern und den diversen Gläubigern«, erklärte Vince. Sein
Computer piepste. »Was ich dir schon länger sagen wollte,
Steffi: Du machst das toll mit deiner kleinen Kolumne.«
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»Ja, das stimmt«, pflichtete Dave ihm bei. »Wir haben über
zwanzig Leserbriefe bekommen, und nur einer war negativ, aber
der war von Edina Steen, der Grammatikpäpstin, und die ist
völlig verrückt.«
»Absolut durch den Wind«, stimmte Vince ihm zu.
Stephanie lächelte. Sie fragte sich, wie oft man nach der
Kindheit so eine ungetrübte, schlichte Freude empfand.
»Danke«, sagte sie. »Danke euch beiden.«
Und dann: »Darf ich euch etwas fragen? Geradeheraus?«
Vince drehte sich in seinem Stuhl herum. »Was du willst,
Hauptsache, ich muss mich nicht mit Mrs Dunwoodie und dem
Hydranten beschäftigen«, sagte er.
»Und ich mich nicht mit den nervigen Rechnungen«, ergänzte
Dave. »Obwohl die heute noch fertig werden müssen.«
»Lass dich nicht von dem Papierkram unterkriegen!«, mahnte
Vince. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«
»Du hast gut reden«, gab Dave zurück. »Du hast seit zehn
Jahren keinen Blick mehr in das Rechnungsbuch vom Islander
geworfen.«
Stephanie war nicht bereit, die Männer mit ihrem Gezänk
davonkommen zu lassen. »Hört auf damit!«
Verdutzt schauten die beiden sie an und schwiegen.
»Dave, du hast diesem Mr Hanratty vom Globe gesagt, du
würdest seit gut vierzig Jahren mit Vince beim Islander arbeiten
…«
»Ah jo.«
»Und du hast ihn 1948 gegründet,Vince.«
»Stimmt«, bestätigte er. »Bis zum Sommer ’48 hieß die
Zeitung The Weekly Shopper and Trading Post und wurde als
Gratisblättchen auf einigen Inselmärkten und in größeren Läden
auf dem Festland verteilt. Ich war damals jung und starrköpfig
und hatte unheimliches Glück. Damals gab es die großen Brände
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drüben in Tinnock und Hancock. Diese Brände … ich will nicht
behaupten, dass sie die Zeitung gerettet haben, auch wenn das
einige damals sagten, aber sie haben ihr natürlich einen guten
Start beschert. Erst 1956 hatte ich wieder so viele Anzeigen wie
im Sommer ’48.«
»Ihr beide seid also seit über fünfzig Jahren dabei, und in der
ganzen Zeit seid ihr niemals auf ein ungelöstes Rätsel gestoßen?
Soll ich das wirklich glauben?«
Dave Bowie machte ein schockiertes Gesicht. »Das haben wir
nie behauptet!«
»He, du warst doch dabei!«, erklärte Vince, gleichermaßen
empört.
Kurz gelang es ihnen, diesen Gesichtsausdruck beizubehalten,
doch als Stephanie McCann streng wie die Schulmeisterin in
einem Western von John Ford auffordernd von einem zum
anderen blickte, war es um sie geschehen. Zuerst begann ein
Mundwinkel von Vince Teague zu zucken, dann flackerte Dave
Bowies Auge. Bis dahin hätten sie es noch geschafft, doch dann
machten sie den Fehler, sich anzusehen, und kurz darauf lachten
sie los, als wären sie die ältesten Lausbuben der Welt.

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»Du hast ihm doch von der Pretty Lisa erzählt«, sagte Dave zu
Vince, als er sich wieder unter Kontrolle hatte. Die Pretty Lisa
Cabot war ein Fischerboot, das in den zwanziger Jahren am Ufer
der Nachbarinsel Smack Island mit einem toten Matrosen im
Bug angespült worden war. Ohne eine Spur von den anderen
fünf Mann Besatzung. »Was glaubst du, wie oft Hanratty diese
Geschichte hier an der Küste schon gehört hat?«
»Keine Ahnung, was glaubst du denn, wo er überall gewesen
ist, bevor er zu uns kam?«, konterte Vince, und sofort wieherten
die beiden wieder los, brüllten johlend, Vince schlug sich auf
sein knochiges Knie, Dave klopfte sich auf die breiten
Oberschenkel.
Mit gerunzelter Stirn beobachtete Stephanie die Männer,
weder erzürnt noch erheitert (na ja, ein bisschen schon), und
versuchte die Ursache ihrer guten Laune zu ergründen. Sie hatte
gedacht, die Geschichte der Pretty Lisa Cabot eigne sich
zumindest für eine Folge einer achtteiligen Serie über – tata! –
UNGEKLÄRTE RÄTSEL NEUENGLANDS. Doch da
Stephanie weder dumm noch unsensibel war, hatte sie deutlich
gespürt, dass Mr Hanratty die Lisa Cabot nicht gut genug
gewesen war. Und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen,
hatte er die Geschichte auf seinen vom Globe finanzierten
Reisen an der Küste zwischen Boston und Moose-Look schon
längst gehört, wahrscheinlich nicht nur einmal.
Vince und Dave nickten zustimmend, als sie ihnen ihren
Eindruck schilderte. »Ah jo«, sagte Dave. »Hanratty kommt
vielleicht von weiter her, aber er ist trotzdem nicht faul oder
dumm. Die Geschichte der Pretty Lisa – deren Geheimnis mit
Sicherheit etwas mit schießwütigen Alkoholschmugglern zu tun
hat, die in Kanada Schnaps gebunkert hatten, auch wenn man

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das nie aufklären wird – ist seit Jahren bekannt. Sie steht in
einem halben Dutzend Büchern, von den Zeitschriften Yankee
und Downeast ganz zu schweigen. Und, Vince, hat nicht der
Globe selbst …?«
Vince nickte. »Kann sein. Vor sieben, acht oder vielleicht auch
neun Jahren. In einer Sonntagsbeilage. Obwohl, das kann auch
das Journal in Providence gewesen sein. Jedenfalls hat das
Sunday Telegram aus Portland die Geschichte über die
Mormonen gebracht, die in Freeport auftauchten und eine Mine
in der Wüste von Maine versenken wollten …«
»Und die ›Lichter an der Küste‹ von 1951 tauchen zu
Halloween jedes Jahr wieder in den Zeitungen auf«, ergänzte
Dave vergnügt. »Und auf UFO-Webseiten.«
»Und letztes Jahr hat eine Frau ein Buch über die
Vergiftungsopfer des Kirchenpicknicks von Tashmore
geschrieben«, schloss Vince. Das war das letzte der so
genannten »ungelösten Rätsel« gewesen, die sie dem Globe-
Journalisten beim Essen aufgetischt hatten. Kurz darauf war
Hanratty zu dem Schluss gekommen, dass er doch die Fähre um
halb zwei noch nehmen sollte. Irgendwie hatte Stephanie jetzt
das Gefühl, dass sie ihm das nicht übel nehmen konnte.
»Ihr habt ihn also an der Nase herumgeführt«, sagte sie. »Habt
ihm uralte Geschichten vorgesetzt.«
»Aber nein, meine Liebe«, sagte Vince und klang diesmal
aufrichtig empört. (Nun ja, vielleicht, dachte Stephanie.) »Jede
dieser Geschichten ist nach bestem Wissen und Gewissen ein
ungelöstes Rätsel von der Küste Neuenglands, ja, sogar aus
unserer Gegend.«
»Wir konnten doch nicht wissen, dass er all die Geschichten
schon kennt; also mussten wir sie ihm doch erzählen«, erklärte
Dave. »Obwohl, überrascht hat es uns nicht.«
»Kein Stück«, stimmte Vince zu. Seine Augen funkelten.
»Ganz schön olle Kamellen, muss ich zugeben. Aber wir haben

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uns ein leckeres Mittagessen damit verdient, was? Wir konnten
beobachten, wie das Geld in Umlauf geht und da landet, wo es
gebraucht wird … nämlich bei Helen Hafner.«
»Und das sind wirklich die einzigen Geschichten, die ihr
kennt? Ihr kennt echt nur welche, die schon in Büchern und
großen Zeitungen breitgetreten wurden?«
Vince schaute seinen langjährigen Kollegen an.
»Habe ich das gesagt?«
»Nein«, antwortete Dave. »Ich auch nicht, glaube ich.«
»Ja, was kennt ihr denn noch für ungelöste Rätsel? Und
warum habt ihr sie ihm nicht erzählt?«
Wieder schauten sich die beiden Alten an, und erneut hatte
Stephanie McCann das Gefühl, dass sie telepathisch verbunden
waren. Vince nickte mit dem Kinn Richtung Tür. Dave stand
auf, durchquerte den grell beleuchteten langen Raum (im
dunkleren Teil stand der Koloss der altmodischen
Offsetdruckerpresse, die seit über sieben Jahren nicht mehr
gelaufen war) und drehte das in der Tür hängende Schild von
OFFEN auf GESCHLOSSEN. Dann kam er zurück.
»Geschlossen? Mitten am Tag?«, fragte Stephanie mit einem
leichten Anflug von Unbehagen, der sich vielleicht sogar in ihre
Stimme stahl.
»Wenn jemand eine Nachricht für uns hat, wird er schon
anklopfen«, sagte Vince im Brustton der Überzeugung. »Wenn
es eine Riesenneuigkeit ist, schlägt er die Tür ein.«
»Und wenn im Ort ein Feuer ausbricht, hören wir die Sirene«,
warf Dave ein. »Komm mit raus auf die Veranda, Steffi.
Augustsonne darf man nicht verpassen, scheint nicht lange.«
Sie sah erst Dave und dann Vince Teague an, der mit seinen
neunzig Jahren geistig noch so fit war wie mit fünfundvierzig.
»Gibt’s wieder Unterricht?«, fragte sie.
»Allerdings«, erwiderte Vince, und sie spürte, dass es ihm

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ernst war, auch wenn er lächelte. »Und warum machen so alte
Knacker wie wir das gerne?«
»Weil ihr nur Schüler habt, die was lernen wollen.«
»Ah jo. Willst du etwas lernen, Steffi?«
»Klar.« Trotz des sonderbaren Unbehagens bejahte sie
spontan.
»Dann komm mit raus auf die Veranda«, sagte er. »Setz dich
ein bisschen hin.«
Und das tat sie.

22
4

Die Sonne war warm und die Luft kühl, die salzigsüße Brise
trug die Geräusche von Glocken, Hupen und plätscherndem
Wasser heran. Innerhalb nur weniger Wochen hatte Stephanie
diese Klänge lieben gelernt. Die beiden Männer nahmen rechts
und links von ihr Platz, und obwohl Stephanie es nicht wusste,
hatten sie denselben Gedanken: Alter neben Schönheit. Es war
nichts Falsches an dieser Idee, denn beide wussten, dass sie die
anständigsten Absichten hatten. Sie wussten, dass Stephanie
sehr viel Potenzial besaß und dass sie gerne lernte; bei solch
wissbegierigen Schülern war man mit Freude Lehrer.
»Also«, sagte Vince, als alle saßen. »Denk mal an die
Geschichten, die wir Hanratty beim Mittagessen erzählt haben,
Steffi: die Lisa Cabbot, die Lichter an der Küste, die
wandernden Mormonen, das Kirchenpicknick von Tashmore,
alles Rätsel, die nie gelöst wurden, und dann sag mir, was sie
alle gemeinsam haben.«
»Sie sind alle ungelöst.«
»Streng dich ein bisschen mehr an, mein Mädchen«, sagte
Dave. »Enttäusch mich nicht!«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und merkte, dass er es
ernst meinte. Klar, die Antwort lag auf der Hand, wenn man
bedachte, weshalb Hanratty sie überhaupt zum Essen eingeladen
hatte: wegen der achtteiligen Serie des Globe (eventuell sogar
zehnteilig, hatte Hanratty erklärt, wenn er genügend sonderbare
Geschichten fände), die aller Voraussicht nach zwischen
September und Halloween erscheinen sollte. »Sie wurden alle
schon zigmal durchgekaut?«
»Schon ein bisschen besser«, meinte Vince, »aber das ist auch
nichts Neues. Frag dich doch mal dies, Kleine: Warum wurden

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sie alle schon zigmal durchgekaut? Warum zerrt mindestens
einmal im Jahr eine Zeitung aus Neuengland die Lichter an der
Küste hervor und druckt dazu ein paar verschwommene Fotos,
die mindestens fünfzig Jahre alt sind? Warum interviewen
regionale Zeitschriften wie Yankee oder Coast mindestens
einmal pro Jahr Clayton Riggs oder Ella Ferguson, als ob sie auf
einmal wie der Springteufel aus der Schachtel hüpfen und etwas
völlig Neues verraten würden?«
»Die Namen habe ich noch nie gehört«, sagte Stephanie.
Vince schlug sich auf den Hinterkopf. »Ah jo, ich Dummkopf.
Ich vergesse ständig, dass du nicht von hier bist.«
»Soll ich das als Kompliment verstehen?«
»Könntest du, solltest du sogar. Clayton Riggs und Ella
Ferguson waren die Einzigen, die damals beim Picknick am
Tashmore Lake den Eiskaffee getrunken haben und nicht daran
gestorben sind. Der Ferguson geht’s ganz gut, aber Riggs’ linke
Körperhälfte ist gelähmt.«
»Wie schrecklich! Und trotzdem werden sie immer wieder
befragt?«
»Ah jo. Fünfzehn Jahre sind ins Land gegangen, und
wahrscheinlich weiß jeder, der noch einen Funken Verstand im
Kopf hat, dass niemals jemand für dieses Verbrechen belangt
werden wird – acht Menschen am Seeufer wurden vergiftet,
sechs davon starben –, dennoch tauchen Ferguson und Riggs
immer wieder in der Presse auf, jedes Jahr klappriger: ›Was
geschah an jenem Tag?‹ oder ›Der Schrecken am See‹ und so
weiter … du weißt, was ich meine. Es ist einfach eine
Geschichte, die die Leute gerne hören, so wie ›Rotkäppchen‹
oder ›Die drei kleinen Schweinchen‹. Die Frage ist bloß:
warum?«
Stephanie war schon ein Stück weiter. »Ihr habt da was,
oder?«, fragte sie. »Eine Geschichte, die ihr ihm nicht erzählt
habt. Stimmt’s?«

24
Wieder tauschten die Männer einen Blick aus, doch diesmal
konnte Stephanie nicht einmal ansatzweise enträtseln, welchen
Gedanken die beiden hatten. Sie saßen in identischen
Gartenstühlen. Stephanies Hände ruhten auf den Armlehnen.
Dave beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. »Wir werden’s
dir erzählen, nicht wahr, Vince?«
»Doch, denke schon«, sagte Vince und lächelte in die Sonne.
Erneut legte sich seine Haut in unzählige Falten.
»Aber wer mit der Fähre fahren will, muss dem Steuermann
Tee mitbringen – Tea for the Tillerman. Kennst du das Lied?«
»Ich glaube schon.« Stephanie kam eine alte Schallplatte ihrer
Mutter in den Sinn, oben auf dem Dachboden.
»Gut«, sagte Dave, »dann beantworte mir eine Frage: Hanratty
wollte die Geschichten nicht, weil sie schon zigmal durchgekaut
wurden. Warum?«

Sie dachte nach, die beiden Männer ließen ihr Zeit. Es machte
ihnen Freude, der jungen Frau beim Grübeln zuzusehen.
»Also«, sagte Stephanie schließlich, »wahrscheinlich hören die
Leute gerne Geschichten, bei denen man sich an einem
Winterabend ein bisschen gruseln kann, besonders wenn die
Lampen leuchten und der Kamin gemütlich knistert.
Geschichten über das Unbekannte halt.«
»Wie viel Unbekanntes pro Geschichte, mein Mädchen?«,
fragte Vince Teague. Seine Stimme war sanft, aber seine Augen
durchbohrten Stephanie.
In Gedanken beim Kirchenpicknick wollte sie gerade sagen:
höchstens sechs, doch dann besann sie sich eines Besseren. An
jenem Tag waren am Ufer des Tashmore Lake tatsächlich sechs
Menschen ums Leben gekommen, doch es war nur eine große
Giftmenge gewesen, die, wie Stephanie annahm, vom Täter in
den Eiskaffee gerührt worden war. Sie wusste nicht, wie viele

25
Lichter an der Küste zu sehen gewesen waren, ging aber davon
aus, dass man sie als Gesamtphänomen betrachtete.
»Eins?«, fragte sie zögernd. Sie kam sich vor wie ein Kandidat
in der letzten Runde von Jeopardy. »Eine unbekannte Tatsache
pro Geschichte?«
Vince richtete den Finger wie eine Pistole auf sie, grinste
breiter denn je zuvor, und Stephanie atmete erleichtert auf.
Sicher war dies kein richtiger Unterricht, und die beiden Männer
würden sie genauso gern mögen, wenn sie eine Antwort
verpatzte, dennoch wollte sie sie unbedingt zufrieden stellen.
Das hatte sie sonst nur bei ihren allerbesten Lehrern an der High
School und am College gewollt. Bei den leidenschaftlichen,
mitreißenden Lehrern.
»Außerdem müssen die Leute im Grunde ihres Herzens
überzeugt sein, dass sich die Geschichte auf eine bestimmte
Weise zugetragen hat. Daran müssen sie wirklich tief und fest
glauben«, ergänzte Dave. »Zum Beispiel die Pretty Lisa, die
1926 an den Felsen südlich von Dingle Nook auf Smack Island
angeschwemmt wurde.«
»1927«, korrigierte Vince.
»Na gut, dann halt ’27, du Klugschwätzer, aber Teodore
Riponeaux war noch an Bord, nur leider mausetot, und die
anderen fünf waren verschwunden. Und obwohl es keine
Blutspuren oder Anzeichen eines Kampfes gab, sind die Leute
überzeugt, dass es Piraten waren. Man erzählt sich sogar, die
Besatzung hätte eine Schatzkarte an Bord gehabt und
vergrabenes Gold gefunden, aber der Schatz sei bewacht
gewesen, sie hätten ihn nicht bekommen und so weiter und so
fort.«
»Oder sie wären sich untereinander in die Haare geraten«,
ergänzte Vince. »Das gehörte schon immer zu den beliebtesten
Theorien über das Schicksal der Pretty Lisa. So ist es halt –
manche Geschichten wollen erzählt und gehört werden.

26
Hanratty war klug genug zu wissen, dass sein Redakteur diesen
aufgewärmten Brei nicht annehmen würde.«
»Vielleicht in zehn Jahren noch mal«, vermutete Dave.
»Irgendwann ist alles Alte wieder neu. Das glaubst du vielleicht
nicht, Steffi, aber es stimmt.«
»Doch, das glaube ich gerne«, sagte sie und dachte: Dieses
Lied mit der Fähre, Tea for the Tillerman, von wem war das
noch mal? Von Al Stewart oder Cat Stevens?
»Dann die Sache mit den Küstenlichtern«, fuhr Vince fort.
»Ich kann dir genau sagen, warum die Geschichte immer so
beliebt war. Es existiert ein Foto. Es steckte wohl nichts anderes
dahinter als die Lichter von Ellsworth, die von den niedrigen
Wolken reflektiert wurden. So entstanden Kreise, die wie
fliegende Untertassen aussahen. Jedenfalls steht unten im Bild
die gesamte Kinderbaseballmannschaft von Hancock Lumber im
Trikot und schaut in die Wolken.«
»Und ein kleiner Junge zeigt mit seinem Handschuh nach
oben«, ergänzte Dave. »Das ist das i-Tüpfelchen. Die Leute
betrachten das Foto und sagen sich: ›Mensch, das sind bestimmt
Besucher aus dem Weltall, die sich mal kurz die berühmteste
Freizeitbeschäftigung Amerikas ansehen wollen.‹ Dennoch: Es
ist ein einzelnes unbekanntes Phänomen, bloß mit spektakulären
Bildern, deshalb interessieren sich die Leute immer wieder
dafür.«
»Nur nicht der Boston Globe«, warf Vince ein, »auch wenn ich
vermute, dass er im Notfall drauf zurückgreifen würde.«
Die beiden Männer lachten so entspannt, wie es nur alte
Freunde tun.
»Also«, sagte Vince, »vielleicht kennen wir tatsächlich ein
ungelöstes Rätsel …«
»Das ist leicht untertrieben«, sagte Dave. »Wir kennen
mindestens eins, mein Mädchen, bloß haben wir nicht die
geringste Ahnung, was damals passiert ist …«
27
»Eventuell das Steak«, warf Vince ein, klang aber nicht sehr
überzeugt.
»Oh, ah jo, aber das ist ja selbst schon ein Rätsel, meinst du
nicht?«, gab Dave zurück.
»Doch«, stimmte Vince zu, ziemlich zerknirscht. Er sah auch
so aus.
»Ich komme nicht mehr mit«, gestand Stephanie.
»Ah jo, die Geschichte von Colorado Kid ist ziemlich
verwirrend, das stimmt«, bestätigte Vince, »weshalb sie auch
nichts für den Globe ist, würde ich sagen. Zuerst mal zu viele
Unbekannte. Außerdem nichts, wo man mit Sicherheit sagen
könnte: So ist es gewesen.«
Er beugte sich vor und fixierte Stephanie mit seinem klaren
blauen Yankee-Blick. »Du willst doch Journalistin werden,
oder?«
»Das wisst ihr doch«, sagte Stephanie verdutzt.
»Gut, dann verrate ich dir ein Geheimnis, das so gut wie jeder
Journalist kennt, der einige Zeit dabei ist: Im wahren Leben gibt
es nur wenige bis gar keine runden Geschichten, also
Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende. Aber wenn man dem
Leser eine Unbekannte vorsetzt (allerhöchstens zwei) und dann
das beisteuert, was unser Dave Bowie ein ›Muss‹ nennt, erzählt
sich der Leser diese Geschichte selbst. Erstaunlich, was?
Zum Beispiel das Kirchenpicknick. Keiner weiß, wer die
Leute vergiftet hat. Man weiß nur, dass Rhoda Parks, die
Sekretärin der Methodistengemeinde von Tashmore, und
William Blakee, der Pastor der Methodistengemeinde, ein
halbes Jahr vor dem Picknick eine kurze Affäre hatten. Blakee
war verheiratet und machte Schluss. Kannst du mir folgen?«
»Ja«, versicherte Stephanie.
»Man weiß auch, dass Rhoda Parks untröstlich war, zumindest
eine Zeit lang. Sagte ihre Schwester. Was ist noch bekannt?

28
Sowohl Rhoda Parks als auch William Blakee tranken den
vergifteten Eiskaffee beim Picknick und starben. Was ist das
Muss hier? Los, Steffi, frei von der Leber weg!«
»Rhoda hat den Kaffee vergiftet, um ihren Geliebten zu töten,
weil er sie sitzen gelassen hat, dann hat sie Selbstmord verübt.
Die anderen vier – und die, denen schlecht wurde – waren, wie
nennt man es noch mal, Kollateralschaden.«
Vince schnippte mit den Fingern. »Ah jo, das ist die
Geschichte, die die Leute sich zusammenreimen. Die Zeitungen
und Zeitschriften rücken nie so ganz mit der Sprache heraus,
müssen sie ja auch nicht. Sie wissen, dass die Leute schon die
entsprechenden Schlüsse ziehen. Aber was spricht dagegen?
Noch mal, frei von der Leber!«
Doch diesmal funktionierte ihre Leber wohl nicht richtig, denn
Stephanie fiel kein Gegenargument ein. Sie wollte gerade
protestieren, dass sie den Fall nicht gut genug kenne, da stand
Dave auf, stellte sich an die Brüstung, schaute über das Wasser
nach Tinnock und bemerkte leise: »Sechs Monate Wartezeit
kommen einem ziemlich lang vor, oder?«
Stephanie sagte: »Vielleicht war es einfach nur späte Rache?«
»Ah jo«, erwiderte Dave, immer noch leise, »aber wenn man
sechs Menschen vergiftet, ist das ein bisschen mehr als Rache.
Ich sage ja nicht, dass es nicht so gewesen ist, nur dass es auch
anders gelaufen sein könnte. Genauso wie die Küstenlichter
Reflexionen in den Wolken gewesen sein können … oder
irgendwas Geheimes, das von der Air Force getestet wurde und
vom Luftwaffenstützpunkt Bangor stammte … oder, wer weiß,
vielleicht waren es tatsächlich grüne Männchen, die mal eben
gucken wollten, ob die Jungs von Hancock Lumber gegen die
von Tinnock Auto Body einen Homerun schaffen.«
»Meistens legen sich die Leute eine Geschichte zurecht und
bleiben dann dabei«, erklärte Vince. »Das ist nicht schwer,
solange es nur eine Unbekannte gibt: einen Giftmischer, eine

29
mysteriöse Lichterscheinung, ein auf Grund gesetztes Schiff mit
nur einem Mann Besatzung an Bord. Aber bei Colorado Kid gibt
es eigentlich nur Unbekannte und deshalb gibt es keine richtige
Geschichte.« Er hielt inne. »Wie eine Lokomotive, die aus dem
Kamin kommt, oder Pferdeköpfe, die eines Morgens in der
Auffahrt liegen. Nicht so spektakulär, aber genauso unerklärlich.
Und solche Dinge …« Er schüttelte den Kopf. »Steffi, so was
mögen die Leute nicht. Sie wollen so was einfach nicht. Wenn
man am Strand steht, ist ein gewaltiger Brecher schön
anzusehen, aber zu viele machen seekrank.«
Stephanie sah hinaus auf die funkelnde Wasserfläche – voller
Wellen, aber sie waren nicht groß, heute nicht. Schweigend
dachte sie nach.
»Da ist noch was«, sagte Dave nach einer Weile.
»Was denn?«, fragte sie.
»Die Story gehört uns«, erwiderte er, mit überraschendem
Nachdruck. Stephanie fand, dass es fast zornig klang. »Ein Typ
vom Globe, einer, der nicht von hier kommt, der würde sie nur
vermasseln. Der würde sie nicht verstehen.«
»Und du verstehst sie?«, fragte sie.
»Nein«, entgegnete er und setzte sich wieder. »Muss ich ja
auch nicht, mein Mädchen. Was Colorado Kid angeht, bin ich
ein bisschen wie die Jungfrau Maria, nachdem sie Jesus zur
Welt gebracht hatte. In der Bibel steht: ›Und Maria schwieg und
bewegte die Dinge in ihrem Herzen‹. Bei Rätseln ist das
manchmal das Beste.«
»Aber mir wollt ihr es erzählen?«
»Na, aber sicher!« Überrascht schaute Dave sie an. Es sah ein
wenig aus, als erwache er aus dem Halbschlaf.
»Denn du bist eine von uns. Stimmt’s, Vince?«
»Ah jo«, entgegnete Vince. »Irgendwann im Sommer hast du
die Prüfung bestanden.«

30
»Ach ja?« Wieder war sie grotesk glücklich. »Wie denn? Was
für eine Prüfung?«
Vince schüttelte den Kopf. »Weiß ich auch nicht, mein
Mädchen. Ich weiß nur, irgendwann war das Gefühl da, dass du
in Ordnung bist.« Er warf Dave einen kurzen Blick zu, und der
nickte. Dann wandte er sich wieder an Stephanie. »Gut«, sagte
er. »Die Geschichte, die wir heute Mittag nicht erzählt haben, ist
unser ganz persönliches ungelöstes Rätsel. Die Geschichte von
Colorado Kid.«

31
5

Doch Dave war derjenige, der zu erzählen begann.


»Vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte er, »also im Jahr 1980,
gab es mal zwei Jugendliche, die zur Schule nie die Fähre um
halb acht, sondern die um halb sieben nahmen. Sie gehörten zur
Leichtathletikmannschaft der Bayview Consolidated High
School und sie gingen miteinander. Sobald der Winter vorüber
war – was hier an der Küste immer früher der Fall ist als auf
dem Festland –, liefen sie querfeldein über die Insel, den
Hammock Beach hinunter bis zur Hauptstraße, dann auf die Bay
Street und zum städtischen Anleger. Kannst du sie vor dir sehen,
Steffi?«
Das konnte sie. Sie sah auch die Liebe zwischen den beiden.
Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was das Pärchen tat,
wenn es auf dem Festland in Tinnock angekommen war.
Stephanie wusste, dass die zwölf bis fünfzehn Highschool-
Kinder von Moose-Look fast immer die Fähre um halb acht
nahmen. Sie gaben dem Fährmann – Herbie Gosslin oder Marcy
Lagasse – ihren Ausweis und wurden mit einem kurzen Piepser
der alten Laserpistole registriert. In Tinnock wartete der
Schulbus auf sie, der sie die drei Meilen zur BCHS fuhr.
Stephanie erkundigte sich, ob das Pärchen dort ebenfalls auf
den Bus gewartete hätte, doch Dave schüttelte lächelnd den
Kopf.
»Nein, die sind drüben weitergelaufen«, erklärte er.
»Nix mit Händchenhalten, obwohl, es könnte schon sein. Die
beiden waren unzertrennlich. Johnny Gravlin und Nancy
Arnault. Ein paar Jahre lang passte kein Blatt zwischen sie.«
Stephanie setzte sich auf. Der John Gravlin, den sie kannte,
war der Bürgermeister von Moose-Lookit Island, ein geselliger

32
Mann, der für jeden ein gutes Wort übrig hatte und ein Auge auf
einen Posten im Senat in Augusta geworfen hatte. Sein
Haaransatz ging zurück, sein Bauch wölbte sich vor. Stephanie
versuchte sich ihn als jungen Mann vorzustellen, der jeden Tag
zwei Meilen über die Insel und dann noch mal drei auf dem
Festland lief. Es gelang ihr nicht.
»Funktioniert nicht, mein Mädchen, was?«, fragte Vince.
»Nein«, gab sie zu.
»Tja, das liegt daran, dass du den Bürgermeister John Gravlin
vor Augen hast, das größte Tier in diesem Zoo, und nicht den
jungen Johnny Gravlin, der Fußball spielte und schnell laufen
konnte, der freitagabends den Leuten Streiche spielte und sich
samstags mit seiner Freundin traf. Der Bürgermeister tapert die
Bay Street hoch und runter und grüßt die Leute, und beim
Grinsen blitzt der Goldzahn in seinem Mund. Er hat ein gutes
Wort für jeden, vergisst keinen Namen und weiß genau, wer
einen Ford-Pick-up fährt und wer sich immer noch mit Daddys
alter Erntemaschine herumschlägt. Er ist eine Karikatur wie aus
einem Vierziger-Jahre-Film über Provinzpolitiker, er ist so
hinter dem Mond, dass er es selbst nicht mal merkt. Gravlin ist
eine dicke Kröte, die nur noch einen Sprung vor sich hat, und
sobald er es in den Seerosenteich von Augusta geschafft hat, ist
er entweder klug genug und hört auf, oder er versucht es noch
mal und wird platt gemacht.«
»Mein Gott, wie zynisch«, sagte Stephanie, nicht ohne
jugendliche Bewunderung für diesen Charakterzug.
Vince zuckte mit seinen knochigen Schultern. »Ach, ich bin
selbst ein Stereotyp, mein Mädchen, nur komme ich aus dem
Film, wo der Zeitungstyp mit den Ärmelhaltern und dem
Sonnenschild auf dem Kopf in der letzten Einstellung losschreit:
›Haltet die Presse an!‹ Ich will darauf hinaus, dass Johnny
damals ein anderer Mensch war: gertenschlank und schnell wie
ein Windhund. Er sah aus wie ein junger Gott, wenn man nicht

33
auf seine schiefen Zähne achtete, aber die hat er sich ja
inzwischen richten lassen.
Und sie in dieser kurzen roten Hose … sie war wirklich eine
Göttin.« Er dachte nach. »Wie fast alle Mädchen von siebzehn
Jahren.«
»Jetzt reiß dich mal zusammen mit deiner schmutzigen
Phantasie!«, schimpfte Dave.
Vince tat gekränkt. »Die ist gar nicht schmutzig«, gab er
zurück, »sondern rein wie die eines Engels.«
»Wenn du das sagst«, meinte Dave. »Ich gebe zu, dass Nancy
toll aussah. Sie war zwei, drei Zentimeter größer als Johnny,
vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich im Frühjahr des
letzten Schuljahres trennten. Aber damals, 1980, waren sie wie
Pech und Schwefel. Jeden Tag liefen sie zur Fähre und dann in
Tinnock den Bayview Hill hoch zur Schule. Es gab schon
Wetten, wie lange es dauern würde, bis Nancy schwanger
würde, aber es passierte nichts; entweder war er unglaublich
anständig oder sie war unglaublich vorsichtig.« Dave hielt inne.
»Oder sie kannten sich einfach besser aus als die anderen
Jugendlichen auf der Insel.«
»Ich glaube, es lag eher am Laufen«, meinte Vince voller
Ernst.
»Schweift nicht vom Thema ab, ihr beiden!«, mahnte
Stephanie und die Männer mussten lachen.
»Zum Thema«, sagte Dave. »Es war ein Morgen im Frühjahr
1980 – muss April gewesen sein –, da entdeckten sie einen
Mann, der draußen am Hammock Beach saß. Du weißt schon,
draußen vor dem Dorf.«
Stephanie kannte den Strand gut. Hammock Beach war ein
herrlicher Flecken, auch wenn dort immer sehr viele Urlauber
waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es dort im Herbst
aussehen würde, sollte es aber noch erleben: Ihr Praktikum ging
bis in den Oktober.
34
»Also, saß ist vielleicht nicht das richtige Wort«, berichtigte
sich Dave. »Später sagten beide, er habe halb gelegen. Er lehnte
gegen eine Mülltonne, weißt du, die im Sand eingegraben sind,
damit sie bei starkem Wind nicht fortgeweht werden. Das
Gewicht dieses Mannes hatte die Tonne nach hinten gedrückt,
sie stand so …«
Dave kippte die Hand leicht zur Seite.
»Wie der schiefe Turm von Pisa«, ergänzte Steffi.
»Genau. Außerdem war der Mann nicht passend gekleidet für
den frühen Morgen. Das Thermometer zeigte vielleicht fünf
Grad plus, aber durch den frischen Wind vom Wasser kam es
einem vor wie fünf Grad minus. Er trug eine graue Anzughose
und ein weißes Hemd. Dazu Slipper. Keine Jacke, keine
Handschuhe.
Die beiden Jugendlichen überlegten nicht lange. Sie liefen
sofort zu ihm hinüber und merkten, dass etwas nicht stimmte.
Johnny erzählte später, als er das Gesicht des Mannes gesehen
habe, hätte er sofort gewusst, dass er tot sei, und Nancy sagte
genau das Gleiche, aber das hätten sie sich nicht sofort
eingestehen wollen. Würdest du das tun? Ohne dich davon
überzeugt zu haben?«
»Nein«, erwiderte Stephanie.
»Er saß einfach da, beziehungsweise lag halb da, eine Hand im
Schoß und die andere, die rechte, im Sand. Sein Gesicht war
kreidebleich, nur auf den Wangen hatte er rote Flecken. Er hatte
die Augen geschlossen. Nancy meinte, die Augenlider wären
bläulich gewesen. Seine Lippen waren auch blau gefärbt, und
sein Hals, sagte sie, wirkte irgendwie geschwollen. Er hatte
kurzes hellblondes Haar, der Wind blies ihm eine Strähne in die
Stirn.
Nancy sagte: ›Hallo, schlafen Sie? Stehen Sie lieber auf!‹
Johnny Gravlin meinte: ›Der schläft nicht, Nancy, der ist auch
nicht ohnmächtig. Der atmet gar nicht mehr.‹ Später sagte

35
Nancy, dass sie es gewusst hätte, gesehen hätte, aber es nicht
glauben wollte. Natürlich nicht, die Arme. Deshalb sagte sie:
›Kann sein. Aber vielleicht schläft er nur. Man kann nicht
immer genau sehen, ob einer atmet. Schüttel ihn mal, Johnny, ob
er nicht doch aufwacht.‹
Johnny wollte nicht, aber genauso wenig wollte er vor seiner
Freundin als Feigling dastehen. Er beugte sich runter und
rüttelte den Mann an der Schulter. Er musste sich richtig
zusammenreißen, erzählte er mir Jahre später, als wir im
Breakers ein paar Gläser zusammen tranken. Er meinte, er hätte
es sofort gewusst, weil sich die Schulter nicht lebendig anfühlte,
sondern wie aus Holz. Trotzdem schüttelte er den Mann und
sagte: ›Wachen Sie auf, wachen Sie auf oder -‹ Er wollte
eigentlich hinzufügen wollen Sie sich den Tod holen, fand dann
aber, das klinge unter den gegebenen Umständen nicht so gut
(vielleicht dachte er schon damals wie ein Politiker), deshalb
fuhr er anders fort: ›Wollen Sie nichts frühstücken?‹
Er schüttelte den Mann zwei Mal. Zuerst passierte nichts.
Beim zweiten Mal sackte der Kopf des Mannes auf die linke
Schulter – Johnny hatte die rechte berührt –, und der Mann
rutschte von der Mülltonne, die ihn gestützt hatte, auf die Seite.
Der Kopf fiel in den Sand. Nancy schrie auf und lief, so schnell
sie konnte, zurück zur Straße – und das war richtig schnell, kann
ich dir sagen. Wenn sie da nicht stehen geblieben wäre, hätte
Johnny ihr wohl bis zum Ende der Bay Street hinterherlaufen
müssen, vielleicht sogar raus bis zum Ende von Anleger A. Aber
sie blieb stehen, er kam zu ihr, legte den Arm um sie und sagte,
er sei noch nie so froh gewesen, etwas Lebendiges im Arm zu
halten. Er erzählte mir, er würde nie vergessen, dass sich die
Schulter des Toten unter dem weißen Hemd wie Holz angefühlt
hätte.«
Dave unterbrach sich und stand auf. »Ich hole mir eine Cola
aus dem Kühlschrank«, sagte er. »Ich habe einen trockenen
Mund und die Geschichte ist noch lang. Sonst noch jemand?«

36
Tatsächlich wollten alle etwas trinken, und da Stephanie
diejenige war, die unterhalten wurde (wenn das das richtige
Wort war), ging sie die Getränke holen. Als sie zurückkam,
standen beide Männer am Geländer, betrachteten das Meer und
das Festland dahinter. Sie gesellte sich zu ihnen, stellte das alte
Blechtablett auf die breite Brüstung und reichte jedem ein Glas.
»Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Dave, nachdem er
einen großen Schluck getrunken hatte.
»Das weißt du ganz genau«, gab Vince zurück. »An der Stelle,
wo unser späterer Bürgermeister und Nancy Arnault, die
inzwischen weiß Gott wo ist, wahrscheinlich in Kalifornien –
die Guten versuchen immer, so weit wie es ohne Reisepass
möglich ist, von der Insel fortzukommen –, Colorado Kid tot am
Hammock Beach finden.«
»Ah jo. Nun Johnny wollte mit ihr zum nächsten Telefon
laufen, das wäre vor der öffentlichen Bücherei gewesen. Er
wollte George Wournos anrufen, den damaligen Wachtmeister
von Moose-Look, längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen,
der Gute. Nancy war einverstanden, aber zuerst sollte Johnny
›den Mann‹ wieder aufsetzen. Sie nannte ihn immer ›den Mann‹.
Nie ›den Toten‹ oder ›die Leiche‹, sondern immer nur ›den
Mann‹.
Johnny sagte: ›Ich glaube nicht, dass es die Polizei gut findet,
wenn wir ihn bewegen, Nan.‹
Nancy meinte: ›Du hast ihn schon bewegt, du sollst ihn nur
wieder so hinsetzen, wie er war.‹
Und er erwiderte: ›Das habe ich nur getan, weil du es
wolltest.‹
Worauf sie antwortete: ›Bitte, Johnny, ich kann es nicht
ertragen, ihn da so liegen zu sehen, ich will ihn nicht so in
Erinnerung behalten.‹ Dann begann sie zu weinen und damit
war die Sache geklärt. Johnny ging zurück zur Leiche, die noch
immer auf der linken Seite im Sand lag.

37
An dem Abend im Breakers hat Johnny mir erzählt, dass er nie
getan hätte, was sie von ihm verlangte, wenn sie ihm nicht dabei
zugeschaut und auf ihn vertraut hätte. Das glaube ich ihm. Für
eine Frau tut ein Mann viele Dinge, die er allein nicht wagen
würde, vor denen er zu neunzig Prozent zurückschrecken würde,
selbst wenn er betrunken wäre und seine Freunde ihn dazu
drängten. Johnny sagte, je näher er diesem Mann kam, der mit
angezogenen Beinen im Sand lag, als säße er auf einem
unsichtbaren Stuhl, desto überzeugter war er, dass sich die
geschlossenen Augen öffnen und der Mann sich auf ihn stürzen
würde. Auch das Wissen, dass der Mann tot war, konnte ihm
dieses Gefühl nicht nehmen, sagte Johnny, sondern hätte es nur
noch schlimmer gemacht. Schließlich stand er vor dem Toten,
riss sich zusammen, legte die Hände auf die hölzernen Schultern
und richtete den Mann auf, lehnte ihn mit dem Rücken wieder
gegen die schiefe Mülltonne. Johnny meinte, er habe sich die
ganze Zeit vorgestellt, der Mülleimer würde polternd umkippen
und er vor Schreck laut losschreien. Aber die Tonne kippte nicht
um und Johnny schrie nicht. Ich bin der tiefen Überzeugung,
Steffi, dass wir armen Kreaturen immer vom Schlimmsten
ausgehen, weil es in Wahrheit so selten eintrifft. So erscheint
uns das Mittelmäßige schon erträglich – fast gut sogar – und wir
kommen zurecht.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Na klar! Jedenfalls wollte Johnny gerade gehen, als er eine
Schachtel Zigaretten entdeckte, die in den Sand gefallen war.
Und weil das Schlimmste vorbei und es nur noch mittelmäßig
war, konnte er sie aufheben – er nahm sich sogar vor, George
Wournos zu erzählen, dass er das getan hatte, für den Fall, dass
die Polizei sie auf Fingerabdrücke absuchte und seine auf der
Zellophanfolie fand – und wieder in die Brusttasche des weißen
Hemdes stecken. Dann ging er zurück zu Nancy, die in ihrer
Trainingsjacke mit dem BCHS-Aufdruck dastand,
wahrscheinlich die Arme um sich geschlungen hatte und von

38
einem Bein aufs andere hüpfte, weil ihr in der knappen kurzen
Hose kalt war. Obwohl natürlich nicht die Kälte schuld war,
dass sie fror.
Jedenfalls war ihr nicht mehr lange kalt, denn die beiden liefen
runter zur Bücherei, und ich wette, wenn man die Zeit gestoppt
hätte, wäre es ein Rekord für die halbe Meile gewesen oder
wenigstens nah dran. Nancy hatte mehrere Vierteldollarmünzen
in einem kleinen Portemonnaie in ihrer Trainingsjacke. Sie rief
George Wournos an, der sich gerade anzog – er war der Inhaber
von Western Auto, da halten die Kirchenfrauen jetzt die Basare
ab.«
Da Stephanie in ihrer Kolumne über mehrere Basare berichtet
hatte, nickte sie.
»George fragte, ob der Mann mit Sicherheit tot sei, und Nancy
bejahte. Dann bat er sie, ihm Johnny zu geben, und er stellte
Johnny dieselbe Frage. Johnny bejahte ebenfalls. Er erklärte, er
habe den Mann geschüttelt, er sei steif wie ein Brett. Er
schilderte George, wie der Mann zur Seite gekippt sei, die
Zigaretten aus der Tasche gerutscht seien und er sie wieder
zurückgesteckt hätte. Johnny glaubte, George würde ihm die
Hölle heiß machen, aber es passierte nichts. Niemand rügte ihn
deswegen. Nicht wie bei den Krimis im Fernsehen, was?«
»Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Stephanie und dachte, dass
die Geschichte sie doch ein klein bisschen an eine Folge von
Mord ist ihr Hobby erinnerte, die sie mal gesehen hatte. Doch
angesichts des Gesprächs, das dieser Geschichte
vorausgegangen war, nahm sie nicht an, dass Angela Lansbury
auftauchen und das Rätsel lösen würde … obwohl irgendjemand
irgendetwas herausgefunden haben musste. Immerhin wussten
die Männer ja, dass der Tote aus Colorado stammte.
»George sagte Johnny, er und Nancy sollten schnell zum
Strand zurücklaufen und dort auf ihn warten«, fuhr Dave fort.
»Er sagte, sie sollten aufpassen, dass niemand näher herankäme.

39
Johnny erklärte sich einverstanden. George sagte: ›Wenn ihr die
Fähre um halb acht verpasst, John, schreibe ich dir und deiner
Freundin eine Entschuldigung.‹ Johnny meinte, das wäre das
Letzte, über das er sich im Moment Gedanken machen würde.
Dann kehrte er mit Nancy Arnault zurück an den Hammock
Beach, jetzt trabten sie gemächlich, anstatt zu rennen.«
Das konnte Stephanie verstehen. Vom Hammock Beach nach
Moosie Village ging es bergab. Der Rückweg war
anstrengender, zumal jetzt nicht mehr so viel Adrenalin durch
ihr Blut rauschte.
»In der Zwischenzeit«, erklärte Vince, »rief George Wournos
Doc Robinson in der Beach Lane an.« Er hielt inne, lächelte wie
in Gedanken versunken – oder vielleicht auch um des Effektes
willen. »Dann sagte er mir Bescheid.«

40
6

»Ein Mordopfer liegt am einzigen öffentlichen Strand der Insel


und der örtliche Gesetzesvertreter ruft den Herausgeber der
örtlichen Zeitung an?«, fragte Stephanie. »Mensch, das ist
wirklich was anderes als in Mord ist ihr Hobby!«
»Das Leben an der Küste von Maine ist selten so wie in Mord
ist ihr Hobby«, sagte Dave trocken, »und damals lief es hier
nicht anders als heute, Steffi, besonders wenn die Urlauber fort
sind und nur noch wir da sind – die Einheimischen, die alle im
selben Boot sitzen. Das ist nichts Romantisches, nur irgendwie
… keine Ahnung, nenn es Sonnenscheinpolitik, wie in Korea.
Wenn alle wissen, was es zu wissen gibt, braucht sich niemand
unnütz das Maul zu zerreißen. Allerdings: Mordopfer!
Gesetzesvertreter! Du preschst aber ganz schön weit vor, was?«
»Daraus kannst du ihr keinen Vorwurf machen«, entgegnete
Vince. »Wir haben ihr den Floh selbst ins Ohr gesetzt, als wir
ihr von dem vergifteten Eiskaffee drüben in Tashmore erzählten.
Steffi, Chris Robinson hat zwei meiner Kinder auf die Welt
geholt. Meine zweite Frau Ariette, die ich sechs Jahre nach
Joannes Tod geheiratet habe, war gut mit den Robinsons
befreundet, war in der Schule sogar mit Chris’ Bruder Henry
zusammen. Es ist so, wie Dave sagt, aber es war mehr als rein
geschäftlich.«
Er stellte sein Glas Cola (das er »meine Droge« nannte) auf
der Brüstung ab, zog den Kopf ein und breitete die Hände aus.
Stephanie fand die Geste charmant und entwaffnend – ich habe
nichts zu verbergen, besagte sie. »Wir hocken hier draußen
ziemlich dicht beisammen. So war es schon immer, und so
wird’s wohl auch bleiben, denn viel größer werden wir hier
nicht werden.«

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»Gott sei Dank«, grummelte Dave. »Bloß keinen scheiß Wal-
Mart. Entschuldige die Ausdrucksweise, Steffi.«
Sie lächelte ihn an und sagte: »Schon gut.«
»Jedenfalls«, fuhr Vince fort, »möchte ich jetzt, dass du den
Gedanken an Mord vorerst vergisst, Steffi. In Ordnung?«
»Ja.«
»Ich denke, am Ende wirst du zu dem Schluss kommen, dass
du ihn weder gänzlich vom Tisch wischen noch richtig drauf
stehen lassen kannst. So ist das mit vielen Dingen bei Colorado
Kid und deshalb eignet sich die Geschichte nicht für den Globe.
Von Yankee, Downeast und Coast ganz zu schweigen. Sie hat
sich nicht mal richtig für den Weekly Islander geeignet. Wir
haben natürlich drüber berichtet, klar, schließlich sind wir ’ne
Zeitung, Nachrichten sind unser Metier – auf mich warten Ellen
Dunwoodie und der Hydrant, vom kleinen Sohn der Lesters
ganz zu schweigen, der in Boston eine neue Niere bekommt,
vorausgesetzt er hält lange genug durch –, und natürlich musst
du den Leuten von der Heuwagenfahrt draußen auf dem
Gernerd-Hof berichten, oder?«
»Das Picknick nicht zu vergessen!«, murmelte Stephanie.
»Essen bis zum Umfallen – das Volk wird sich erheben, wenn es
das nicht erfährt.«
Die Männer lachten. Dave schlug sich sogar mit der Hand auf
die Brust, um ihr zu zeigen, wie gut der Witz gewesen war.
»Ah jo, mein Mädchen!«, stimmte Vince grinsend zu.
»Aber manchmal passieren Dinge, da finden zum Beispiel
zwei Schüler beim morgendlichen Trainingslauf eine Leiche am
schönsten Strand des Ortes, und man sagt sich: Es muss doch
eine Story dahinterstecken. Keine simple Nachricht: was,
warum, wann, wo und wie, sondern eine Geschichte – und dann
musst du feststellen, dass nichts zu finden ist. Dass es wirklich
nur eine Reihe zusammenhangloser Tatsachen um ein echtes,
ungelöstes Rätsel ist. Und das, meine Liebe, wollen die Leute
42
nicht. Es macht sie nervös. Das sind zu viele Wellen. Die
machen seekrank.«
»Amen«, schloss Dave. »So, nun erzähl mal den Rest, solange
es noch hell ist!«
Und das tat Vince Teague.

43
7

»Wir waren fast von Anfang an dabei – mit ›wir‹ meine ich
Dave und mich, den Weekly Islander –, auch wenn ich nichts ins
Blatt gesetzt habe, was George Wournos nicht vorher
freigegeben hatte. Damit hatte ich kein Problem, weil an der
Sache nichts war, das das Wohl der Insel zu beeinträchtigen
schien. Nach diesen Kriterien entscheiden Zeitungsleute ständig,
Steffi – dir wird es mal genauso gehen –, und irgendwann
gewöhnt man sich dran. Man muss nur darauf achten, dass man
sich nie zu wohl dabei fühlt.
Die beiden Schüler liefen also zurück und bewachten die
Leiche, auch wenn es da nicht viel zu bewachen gab. Bis George
und Doc Robinson eintrafen, sahen sie nur vier Autos, die in
Richtung Stadt fuhren. Keines verlangsamte die
Geschwindigkeit, bloß weil zwei Jugendliche auf der Stelle
joggten oder Dehnübungen am kleinen Parkplatz von Hammock
Beach machten.
Als George und der Doc eintrafen, schickten sie Johnny und
Nancy fort, und hier verlassen die beiden unsere Geschichte. Sie
waren neugierig, schätze ich, wie Menschen halt sind, aber
letztendlich bestimmt froh, gehen zu können. George stellte
seinen Ford auf dem Parkplatz ab, der Doc nahm seine Tasche,
dann gingen sie zu dem Mann, der gegen die Mülltonne gelehnt
dasaß. Er war wieder ein bisschen zur Seite gesackt, so dass der
Doc ihn zuerst wieder richtig hinsetzte.
›Ist er tot, Doc?‹, fragte George.
›Und wie! Der ist seit mindestens vier Stunden tot, vielleicht
sogar seit sechs und mehr‹, antwortete der Doc. (Ungefähr in
dem Moment kam ich angefahren und parkte meinen Chevy
neben Georges Ford.) ›Der ist steif wie ein Brett. Rigor mortis.‹

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›Was glaubst du, wie lange er hier schon liegt? Seit
Mitternacht?‹, fragte George dann.
›Der kann hier schon länger liegen, wenn du mich fragst‹,
sagte der Doc, ›ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass er seit
heute Nacht zwei Uhr tot ist. Wegen der Totenstarre.
Wahrscheinlich ist er schon seit Mitternacht tot, aber in solchen
Fragen bin ich kein Experte. Wenn starker auflandiger Wind
herrschte, könnte das Einfluss auf das Einsetzen der Totenstarre
gehabt haben.‹
›Gestern Nacht war kein Wind‹, sagte ich, als ich mich zu den
beiden gesellte. ›Es war so ruhig und still wie in der Kirche.‹
›Na, sieh mal einer an, noch einer, der seinen Senf dazugeben
will‹, meinte Doc Robinson. ›Möchte der rasende Reporter
vielleicht den Todeszeitpunkt feststellen?‹
›Nein‹, sagte ich. ›Das überlasse ich lieber dir.‹
›Und ich überlasse das lieber dem Amtsarzt‹, entgegnete er.
›Das ist Cathcart, drüben in Tinnock. Dem zahlt der Staat elf
Riesen pro Jahr zusätzlich für seine Leichenfledderei. Nicht
genug, meiner bescheidenen Meinung nach, aber jedem das
Seine. Ich bin nur allgemeinpraktischer Arzt. Aber … ah jo,
dieser Kerl hier war um zwei Uhr tot, so viel ist sicher. Als der
Mond unterging.‹
Dann standen wir drei ungefähr eine Minute lang einfach nur
da und betrachteten ihn, als würden wir trauern. Unter gewissen
Umständen kann eine Minute furchtbar kurz sein, aber in so
einer Situation ist sie schrecklich lang. Ich erinnere mich an das
Geräusch des Windes. Er war noch schwach, frischte von Osten
aber langsam auf. Wenn man auf der dem Festland zugewandten
Seite der Insel steht und der Wind von Osten kommt, dann hat er
so einen einsamen Klang …«
»Ich weiß«, sagte Stephanie leise. »Wie ein Heulen.«

45
Die Männer nickten. Stephanie konnte nicht wissen, dass
dieses Geräusch im Winter manchmal schrecklich war. Aber es
gab keinen Grund, ihr das zu sagen.
»Schließlich bat George den Doc, einmal zu schätzen, wie alt
der Mann sein könnte. Ich glaube, er tat es nur, um das
Schweigen zu brechen.
›Ich würde ihn auf rund vierzig schätzen, plus oder minus fünf
Jahre‹, sagte der Doc. ›Was meinst du, Vincent?‹ Ich nickte.
Vierzig erschien mir richtig. Mir ging durch den Kopf, wie
furchtbar es ist, mit vierzig sterben zu müssen – was für eine
Schande. Da ist ein Mann in den besten Jahren.
Dann entdeckte der Doc etwas, das ihn interessierte. Er stützte
sich auf ein Knie (was bei einem Mann von seiner Statur nicht
leicht ist, er musste um die hundertdreißig Kilo wiegen und war
höchstens eins fünfundsiebzig groß) und nahm die rechte Hand
des Toten hoch, die im Sand lag. Die Finger waren leicht
gekrümmt, als hätte der Tote sie im Sterben zu einem Fernrohr
formen wollen. Als der Doc die Hand hochhielt, sahen wir, dass
innen an den Fingern und auf dem Handteller Sand haftete.
›Was soll das sein?‹, fragte George. ›Sieht mir nach normalem
Sand aus.‹
›Ist es auch, aber warum klebt er an den Fingern?‹, gab Doc
Robinson zurück. ›Diese Mülltonne ist wie alle anderen weit
über der Hochwasserlinie aufgestellt, das weiß jeder, der einen
Funken Verstand im Kopf hat. Gestern Nacht hat es nicht
geregnet. Der Sand ist knochentrocken. Außerdem: Seht mal
hier!‹
Er hob die linke Hand der Leiche an. Wir konnten erkennen,
dass der Tote einen Ehering trug, doch an den Fingern und auf
dem Handteller war kein Sand. Der Doc legte die Hand wieder
hin und hob noch mal die andere hoch. Er kippte sie ein wenig,
so dass mehr Licht auf die Innenfläche fiel. ›Da!‹, sagte er. ›Seht
ihr das?‹

46
›Was ist das?‹, fragte ich. ›Fett? Ein bisschen Schmiere?‹
Grinsend sagte er: ›Du gewinnst den Teddybär, Vincent.
Siehst du auch, wie die Finger gekrümmt sind?‹
›Ja, als würde er damit ein Fernrohr bilden wollen‹, meinte
George. Inzwischen knieten wir beide neben dem Doc, es sah
aus, als sei der Mülleimer ein Altar und wir wollten den Toten
durch unser Gebet wieder zum Leben erwecken.
›Nein, das glaube ich nicht‹, sagte der Doc, und ich merkte
etwas, Steffi: Er war aufgeregt, und zwar so, wie man es nur ist,
wenn man etwas herausgefunden hat, mit dem man
normalerweise niemals konfrontiert würde. Er blickte dem
Toten ins Gesicht (das nahm ich zumindest an, es stellte sich
heraus, dass er etwas tiefer schaute), dann wieder auf die
gekrümmte rechte Hand. ›Das sehe ich ganz anders.‹
›Was denn dann?‹, fragte George. ›Ich möchte das hier gerne
der Polizei und dem Staatsanwalt melden, Chris. Ich habe keine
Lust, den Vormittag auf den Knien zu verbringen, weil du Ellery
Queen spielst.‹
›Seht ihr, dass der Daumen fast den Zeige- und Mittelfinger
berührt?‹, fragte der Doc. Natürlich konnten wir das erkennen.
›Wenn dieser Typ im Sterben durch seine zum Fernrohr
gekrümmten Finger geschaut hätte, wäre der Daumen über den
Fingern und würde den Mittel- und den Ringfinger berühren.
Probiert es aus, wenn ihr mir nicht glaubt!‹
Ich versuchte es und er hatte natürlich Recht.
›Das soll kein Rohr oder Schlauch sein‹, erklärte der Doc und
berührte die rechte Hand des Toten abermals mit den Fingern.
›Das ist wie eine Pinzette. Dazu das Fett und der Sand auf dem
Handteller und auf den Fingerkuppen – was sagt euch das?‹
Ich wusste es, aber da George der Gesetzesvertreter war, ließ
ich ihm den Vortritt. ›Sieht aus, als hätte er etwas gegessen, als
er starb‹, antwortete er. ›Aber wo ist das geblieben, verdammt
noch mal?‹
47
Der Doc wies auf den Hals des Toten. Selbst Nancy Arnault
hatte bemerkt, dass er leicht geschwollen wirkte. ›Ich vermute,
dass das, woran er erstickt ist, noch da drin sitzt. Gib mir mal
meine Tasche, Vincent!‹
Ich reichte sie ihm. Er versuchte, darin herumzukramen,
musste aber feststellen, dass er nur eine Hand frei hatte und sein
ganzes Gewicht auf einem Knie balancierte: Der Doc war groß,
er musste sich mit mindestens einer Hand abstützen, um nicht
umzukippen. Deshalb schob er die Tasche zu mir zurück und
sagte: ›Ich habe da zwei Ohrenspiegel drin, Vincent, will sagen,
meine kleinen Untersuchungsleuchten. Eine, die ich jeden Tag
benutze, und eine andere, die noch ganz neu ist. Ich brauche
beide.‹
›Also, Moment mal, ich weiß ja nicht‹, sagte George. ›Ich
dachte, das überlassen wir alles Cathcart vom Festland. Der wird
schließlich vom Staat für diese Arbeit bezahlt.‹
›Ich übernehme die Verantwortung‹, erklärte Doc Robinson.
›Neugier kann gefährlich sein, schon klar, aber der Erfolg ist
manchmal das Risiko wert. Ihr ruft mich hier nach draußen in
die feuchte Kälte, ohne dass ich eine Tasse Tee getrunken hätte,
nicht mal ’ne Scheibe Toast hab ich gegessen. Da möchte ich
wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis haben, wenn’s recht ist.
Vielleicht funktioniert es nicht, aber ich habe so ein Gefühl …
Vincent, nimm mal diese Leuchte! George, du nimmst die neue,
aber lass sie bitte nicht in den Sand fallen, ja? Die kostet
nämlich zweihundert Dollar. Also, ich bin seit, ich sag mal, seit
meinem siebten Lebensjahr nicht mehr wie ein kleines Kind auf
allen vieren gewesen und hab Pferdchen gespielt, und wenn ich
mich noch lange in dieser Position halten muss, kippe ich mit
Sicherheit um und falle auf diesen Kerl. Macht also schnell und
tut, was ich euch sage! Habt ihr schon mal gesehen, wie die
Angestellten im Museum zwei Punktstrahler auf ein kleines Bild
richten, so dass es hell ist und schön aussieht?‹

48
George kannte das nicht, deshalb erklärte Doc Robinson es
ihm. Als er fertig war (und überzeugt war, dass George
Wournos es verstanden hatte), kniete der Chefredakteur der
Inselzeitung auf einer Seite der Leiche und der Wachtmeister
der Insel auf der anderen, jeder mit einer kleinen Stableuchte des
Docs in der Hand. Bloß dass wir kein Kunstwerk beleuchteten,
sondern die Kehle des Toten, damit der Doc genauer
hineinsehen konnte.
Unter Schnaufen und Grunzen brachte er sich in die richtige
Position – unter anderen Umständen hätte es lustig sein können,
wenn ich nicht irgendwie Angst gehabt hätte, dass er an Ort und
Stelle einen Herzinfarkt bekommt. Dann streckte er die Hand
aus, schob sie in den Mund des Toten und hebelte den Kiefer
aus, als sei er ein Scharnier. Was er ja eigentlich auch ist, wenn
man es recht bedenkt.
›So‹, sagte er. ›Näher ran, Leute! Ich glaube, er beißt nicht
mehr, und falls ich mich irre, werde ich selbst für den Fehler
büßen müssen.‹
Wir rückten näher und leuchteten in die Kehle des Toten. Sie
war rot und schwarz, nur die Zunge leuchtete rosa. Der Doc
schnaufte und grunzte und sagte zu sich selbst: ›Noch etwas
mehr!‹ Dann zog er den Unterkiefer weiter herunter. Er wies uns
an: ›Höher, richtig tief in den Schlund strahlen!‹ Wir versuchten
es, so gut wir konnten. Der Lichteinfall veränderte sich gerade
so weit, dass die Zunge nicht mehr rosa war und dieses Ding
hinten im Mund bestrahlte, wie heißt es noch gleich …«
»Zäpfchen«, sagten Stephanie und Dave wie aus einem Mund.
Vince nickte. »Ah jo, genau. Und direkt dahinter konnte ich
etwas erkennen. Es war dunkelgrau. Das Ganze dauerte nur zwei
oder drei Sekunden, aber Doc Robinson war schon zufrieden. Er
nahm die Finger aus dem Mund des Toten. Die Unterlippe
machte ein sonderbar schmatzendes Geräusch, als sie wieder auf
das Zahnfleisch traf, aber der Kiefer blieb im Großen und

49
Ganzen da, wo er gewesen war. Dann setzte sich der Doc zurück
und schnappte nach Luft.
›Ihr müsst mir gleich beim Aufstehen helfen‹, sagte er, als er
wieder genug Luft zum Sprechen hatte. ›Meine Beine sind von
den Knien abwärts eingeschlafen. Verflucht, was bin ich auch so
schwer!‹
›Ich helfe dir gleich‹, sagte George. ›Hast du was gesehen? Ich
nämlich nicht. Du, Vincent?‹
›Ich glaub schon‹, erwiderte ich. In Wahrheit wusste ich
verdammt gut, was ich gesehen hatte – ’tschuldigung, Steffi –,
aber ich wollte nicht vor ihm angeben.
›Ah jo, da hinten ist was drin‹, sagte der Doc. Er war immer
noch atemlos, aber klang zufrieden, als hätte er sich gerade an
einer juckenden Stelle gekratzt. ›Cathcart wird es herausholen,
dann werden wir wissen, ob es ein Stück Steak oder Schwein
oder sonst was ist, aber das ist nebensächlich. Was wichtig ist,
wissen wir jetzt: Er kam hier raus mit einem Stück Fleisch in der
Hand und setzte sich zum Essen hin, wollte vielleicht
bewundern, wie das Mondlicht aufs Wasser fällt. Lehnte sich
gegen die Mülltonne. Und erstickte, genau wie in dem
Kinderlied von den zehn kleinen Negerlein. Am letzten Bissen.
Kann so gewesen sein, muss aber nicht.‹
›Als er tot war, könnte eine Möwe herangeflogen sein und ihm
den Rest aus der Hand gepickt haben‹, meinte George. ›Nur das
Fett blieb zurück.‹
›Genau‹, bestätigte der Doc. ›Helft ihr beiden mir jetzt hoch
oder muss ich zu Georges Auto rüberkriechen und mich am
Türgriff hochziehen?‹«

50
8

»Und, was meinst du, Stetti?«, fragte Vince und nahm einen
erfrischenden Schluck von seiner Cola. »Ist das Rätsel gelöst?
Der Fall abgeschlossen?«
»Im Leben nicht!«, rief sie und registrierte kaum das
anerkennende Lachen der Männer. Ihre Augen blitzten. »Die
Sache mit der Todesursache vielleicht, aber … was war das
denn überhaupt, was er im Hals hatte? Oder greife ich damit
vor?«
»Meine Liebe, man kann bei einer Geschichte, die keine ist,
gar nicht vorgreifen«, erklärte Vince, ebenfalls mit funkelnden
Augen. »Du kannst fragen, was du willst. Ich antworte nach
bestem Wissen. Dave auch, denke ich.«
Wie um das zu beweisen, fügte der geschäftsführende
Herausgeber des Weekly Islander hinzu: »Es war ein Stück
Rindfleisch, wahrscheinlich Steak, eher von den besseren
Stücken – Filet, Lende oder Filet mignon. Es war medium
gegart. Auf dem Totenschein stand letztlich Tod durch
Ersticken, auch wenn der Mann, den wir immer ›Colorado Kid‹
nennen, außerdem eine starke zerebrale Embolie erlitt – also
einen Schlaganfall. Cathcart entschied, der Schlaganfall sei
durch das Ersticken hervorgerufen worden, aber wer weiß,
vielleicht war es auch umgekehrt. Du siehst also, aus der Nähe
betrachtet, wird selbst die Todesursache unsicher.«
»Eine kleine Geschichte gibt es immerhin und die werde ich
dir jetzt erzählen«, sagte Vince. »Sie handelt von einem jungen
Mann, der in mancher Hinsicht so war wie du, Stephanie, auch
wenn ich mir einbilde, dass du an bessere Menschen geraten
bist, was den letzten Schliff an deiner Ausbildung angeht. An
mitfühlendere Menschen. Dieser Mann war jung –
dreiundzwanzig, glaube ich – und kam wie du von weiter her (in
51
seinem Fall aus dem Süden, nicht wie du aus dem Mittleren
Westen). Er machte ebenfalls ein Praktikum, nur auf dem Gebiet
der Rechtsmedizin.«
»Das heißt, er arbeitete bei diesem Dr. Cathcart und fand
etwas heraus?«
Vince grinste. »Klug kombiniert, mein Mädchen, aber du irrst
dich, was seinen Chef angeht. Der junge Mann hieß … wie hieß
er noch gleich, Dave?«
Dave Bowies Namensgedächtnis war so legendär wie Annie
Oakleys Treffsicherheit mit dem Gewehr. Ohne zu zögern, sagte
er: »Devane, Paul Devane.«
»Genau, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Dieser junge Mann
also, Devane, machte ein dreimonatiges Praktikum bei zwei
Beamten der State Police, die der Staatsanwaltschaft zugeteilt
waren. Nur muss man in seinem Fall wohl eher sagen, dass er zu
diesem Praktikum verdonnert war. Er wurde dort sehr schlecht
behandelt.«
Vince’ Blick verdüsterte sich. »Alte Leute, die junge
Menschen schlecht behandeln, obwohl diese nur etwas lernen
wollen, gehören rausgeworfen. Das ist meine Meinung. Leider
werden sie viel zu oft befördert, anstatt die Kündigung auf den
Tisch zu bekommen. Ich habe mich nie gewundert, dass Gott die
Welt ein bisschen schief ins All gehängt hat: Es gibt so vieles,
das bei uns nicht rund läuft.
Dieser junge Mann, dieser Devane, war vier Jahre zur
Universität von Georgetown oder so gegangen, er wollte lernen,
wie man Kriminelle überfuhrt. Und gerade als er zu blühen
begann, sandte ihm das Schicksal zwei donutmampfende
Beamte, die ihn zum Laufburschen degradierten, der zwischen
Augusta und Waterville Akten hin- und herfahren und bei
Unfällen die Gaffer verscheuchen musste. Gelegentlich durfte er
vielleicht als Belohnung einen Fußabdruck vermessen oder

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Fotos von Reifenspuren machen. Aber selten, schätze ich. Sehr
selten.
Jedenfalls waren diese beiden Prachtexemplare des
Polizeiwesens – und ich hoffe bei Gott, dass sie inzwischen das
Zeitliche gesegnet haben – zufällig gerade in Tinnock Village,
als die Leiche von Colorado Kid am Hammock Beach gefunden
wurde. Sie untersuchten den Brand eines Mietshauses mit
›unklarer Ursache‹. So drücken wir uns aus, wenn wir in der
Zeitung über so was berichten. Die beiden hatten ihren
Prügelknaben dabei, der allmählich seinen Idealismus verlor.
Wenn der Junge zwei gute Beamte von der Staatsanwaltschaft
erwischt hätte – und ich habe einige kennen gelernt, auch wenn
die verfluchte Bürokratie den Strafvollzug in unserem Staat so
kompliziert macht – oder wenn das Institut für Rechtsmedizin
ihn in einen anderen Staat geschickt hätte, wäre er vielleicht
einer von den Typen geworden, die man heute im Fernsehen in
CSI – Den Tätern auf der Spur sieht –«
»Das gucke ich gern«, unterbrach ihn Dave. »Viel realistischer
als Mord ist ihr Hobby. Wer hat Lust auf einen Muffin? Ich hab
welche in der Vorratskammer.«
Tatsächlich hatten sie alle Hunger, und die Geschichte wurde
unterbrochen, bis Dave mit den Muffins und einer Rolle
Küchenkrepp zurückkam. Als jeder einen Kürbismuffin und ein
Stück Papier für die Krümel in der Hand hielt, bat Vince Dave,
mit dem Bericht fortzufahren. »Ich fange nämlich an zu
moralisieren. Wenn ich weitermache, sitzen wir hier noch bis
zum Einbruch der Dunkelheit.«
»Ich finde, du schlägst dich gut«, sagte Dave.
Vince legte seine knochige Hand auf seine magere Brust. »Ruf
den Notarzt, Steffi, mein Herz hat gerade ausgesetzt!«
»Wenn es wirklich so weit ist, findest du das nicht mehr lustig,
altes Haus«, sagte Dave.
»Guck dir an, wie ihm die Krümel runterfallen«, spottete
53
Vince. »Am Anfang des Lebens sabbert man, am Ende läuft
man aus, hat meine Mutter immer gesagt. Los, Dave, erzähl
weiter, aber tu uns einen Gefallen und mach erst den Mund
leer.«
Dave gehorchte. Dann trank er einen großen Schluck Cola, um
alles hinunterzuspülen. Stephanie hoffte, dass ihr
Verdauungssystem in Dave Bowies Alter noch derartige
Herausforderungen bestehen würde.
»Also«, sagte er. »George machte sich nicht die Mühe, den
Strand abzusperren, denn das hätte die Leute nur angezogen wie
ein Kuhfladen die Fliegen. Die beiden Hohlköpfe von der
Staatsanwaltschaft sperrten aber doch ab. Ich fragte den einen,
wozu das gut sein solle, und er sah mich an, als sei ich völlig
minderbemittelt. ›Na, das ist doch wohl ein Tatort, oder?‹, fragte
er.
›Vielleicht ja, vielleicht auch nicht‹, gab ich zurück, ›aber
wenn die Leiche weg ist, was sollen dann noch für Beweise
übrig bleiben, die der Wind nicht längst weggeweht hat, hm?
Was meinen Sie?‹ Inzwischen hatte der Ostwind nämlich heftig
aufgefrischt. Aber sie ließen sich nicht beirren, und ich gebe zu,
dass die Absperrung ein nettes Bild auf der Titelseite abgab,
stimmt’s, Vince?«
»Ah jo, ein Foto mit Flatterleine und der Aufschrift TATORT
verkauft sich immer gut«, stimmte Vince zu. Er hatte bereits die
Hälfte seines Muffins vertilgt, ohne dass Stephanie auf seinem
Papiertuch Krümel entdecken konnte.
Dave sagte: »Als Cathcart, der Amtsarzt, die Leiche
untersuchte, war Devane noch dabei: die Hand mit den
Sandspuren, die Hand ohne, dann den Mund. Aber gerade als
der Leichenwagen des Beerdigungsinstituts von Tinnock eintraf
(er hatte die Fähre um neun Uhr genommen), fiel den beiden
Beamten wieder ein, dass Devane noch da war und womöglich
was lernen könnte. Das konnten sie natürlich nicht zulassen, also

54
schickten sie ihn Kaffee, Donuts und Gebäck holen, für sie
selbst, Cathcart, dessen Assistenten und für die beiden Leute
vom Beerdigungsinstitut, die gerade angekommen waren.
Devane hatte keine Ahnung, wo er was Essbares
herbekommen sollte, und weil ich inzwischen auf der falschen
Seite der Flatterleine stand, fuhr ich mit ihm zu Jennys Bäckerei.
Es dauerte eine halbe Stunde, vielleicht etwas länger, die meiste
Zeit saßen wir im Auto. Ich bekam eine ziemlich gute
Vorstellung von der Lage des jungen Mannes, auch wenn er
absolut diskret war; er plauderte nicht aus dem Nähkästchen, gar
nichts, er sagte nur, er lerne nicht so viel, wie er gehofft habe,
und angesichts der Aufgabe, die er zu erledigen hatte, während
Cathcart die In-situ-Untersuchung durchführte, musste ich ja nur
eins und eins zusammenzählen.
Als wir zurückkamen, war die Untersuchung natürlich schon
vorbei. Die Leiche war bereits im Leichensack. Das hielt einen
dieser Beamten – den großen, fleischigen, der O’Shanny hieß –
nicht davon ab, Devane dumm anzumachen. ›Was hat das so
lange gedauert, wir frieren uns hier draußen schon den Arsch ab‹
und so weiter und so fort.
Devane nahm das einfach so hin – keine Klagen, keine
Ausreden, war ziemlich gut erzogen, der Junge –, deshalb
schaltete ich mich ein und sagte, wir wären so schnell wie
möglich gewesen. ›Sie wollen doch nicht, dass wir die
Geschwindigkeitsbeschränkungen übertreten, oder?‹, fragte ich.
Ich wollte die Situation ein bisschen auflockern, die Leute zum
Lachen bringen, du weißt schon. Funktionierte aber nicht. Der
andere Beamte, er hieß Morrison, sagte: ›Wer hat denn Sie
gefragt, Sie Schreiberling? Gibt es keinen Ramschverkauf, über
den Sie berichten müssen oder so was Ähnliches?‹ Sein Kollege
musste immerhin darüber lachen, doch der junge Mann, der
eigentlich Rechtsmedizin lernen sollte und stattdessen
eingebläut bekam, dass O’Shanny den Kaffee mit Milch und
Morrison ihn schwarz trank, bekam einen knallroten Kopf.

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Sicher, Steffi, man kommt nicht in das Alter, in dem ich
damals war, ohne öfter mal einen Arschtritt von Trotteln zu
bekommen, die ein bisschen Autorität haben, dennoch tat mir
dieser Devane Leid. Er schämte sich nicht nur für sich selbst,
sondern auch für mich. Ich merkte, dass er versuchte, sich bei
mir zu entschuldigen, aber bevor er das konnte (oder ehe ich
ihm sagen konnte, dass das nicht nötig sei, da er nichts Falsches
getan habe), nahm O’Shanny ihm das Tablett mit dem Kaffee ab
und reichte es an Morrison weiter, dann riss er mir die beiden
Tüten mit Gebäck aus den Händen. Danach sagte er Devane, er
solle sich unter dem Band hindurchducken und die Tasche mit
den persönlichen Dingen des Toten an sich nehmen.
›Unterschreiben Sie das Sicherstellungsprotokoll!‹, befahl er, als
spreche er mit einem Fünfjährigen, ›und sorgen Sie dafür, dass
niemand in die Nähe der Tasche kommt, bis ich sie mir
wiederhole. Und Sie selbst stecken nicht die Nase hinein, haben
Sie mich verstanden?‹
Jawohl, Sir, sagte Devane und lächelte mich zurückhaltend an.
Ich beobachtete, wie er von Dr. Cathcarts Assistenten die
Tasche mit den Beweismitteln entgegennahm. Sie hatte
Ähnlichkeit mit so einer Sammelmappe, wie sie im Büro benutzt
wird. Ich sah zu, wie er das Protokoll aus dem durchsichtigen
Umschlag zog und … weißt du, wofür der Zettel gut ist, Steffi?«
»Ich glaube schon«, sagte sie. »Geht es nicht darum, dass der
Staat im Fall einer Strafverfolgung lückenlos dokumentieren
kann, in wessen Besitz sich die am Tatort gefundenen
Gegenstände jeweils befanden, und zwar vom Moment des
Auffindens bis zu dem Punkt, wenn sie irgendwann als
Beweisstucke im Gerichtssaal auftauchen?«
»Schön ausgedrückt«, sagte Vince. »Du solltest Schriftstellerin
werden.«
»Sehr lustig«, gab Stephanie zurück.
»Doch, doch, so ist unser Vincent, ein richtiger Oscar Wilde«,

56
sagte Dave. »Wenn er nicht gerade Oskar aus der Mülltonne ist.
Egal, jedenfalls beobachtete ich, wie der junge Devane seine
Unterschrift unter das Sicherstellungsprotokoll setzte und es
wieder in den Umschlag auf der Tasche mit den Beweismitteln
schob. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie die Packer
vom Beerdigungsinstitut den Toten hinten in den Leichenwagen
luden.Vince war mittlerweile in die Redaktion zurückgekehrt,
um den Artikel zu schreiben, und ich fuhr ebenfalls los. Den
Leuten, die mir Fragen stellten – und das waren so einige,
angezogen von dem dämlichen gelben Flatterband wie Ameisen
von Zucker –, sagte ich, sie könnten das alles für nur einen
Vierteldollar lesen. Damals kostete der Islander nämlich nicht
mehr.
Jedenfalls sah ich Paul Devane damals zum letzten Mal. Er
stand da und sah den beiden Gorillas dabei zu, wie sie den Toten
in den Leichenwagen schoben. Doch zufällig weiß ich, dass
Devane O’Shannys Anweisung missachtete, nicht in die Tasche
mit den Beweismitteln zu sehen, denn ungefähr sechzehn
Monate später rief er mich in der Redaktion des Islander an.
Damals hatte er seinen Traum von der Rechtsmedizin bereits an
den Nagel gehängt und drückte wieder die Schulbank, um
Rechtsanwalt zu werden. Ob gut oder schlecht, dieser
Sinneswandel war ursächlich auf die Beamten O’Shanny und
Morrison zurückzuführen, dennoch war es Paul Devane, der den
Unbekannten von Hammock Beach letztendlich zu Colorado
Kid machte und es der Polizei ermöglichte, ihn zu
identifizieren.«
»Und wir brachten es exklusiv«, sagte Vince. »Größtenteils
weil unser Dave Bowie dem jungen Mann einen Donut spendiert
hatte und ihm das schenkte, was man mit Geld nicht kaufen
kann: ein offenes Ohr und ein bisschen Verständnis.«
»Na, jetzt trägst du aber ein bisschen dick auf«, sagte Dave
und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich war höchstens eine
halbe Stunde mit ihm unterwegs. Maximal eine

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Dreiviertelstunde, wenn du die Zeit dazu zählst, die ich mit ihm
in der Bäckerei Schlange stand.«
»Manchmal reicht das schon«, sagte Stephanie.
Dave erwiderte: »Ah jo, manchmal schon, und warum auch
nicht? Wie schnell erstickt ein Mensch an einem Stück Fleisch
und ist danach für alle Zeiten tot?«
Darauf wusste niemand etwas zu sagen. Auf dem Wasser
tutete wichtigtuerisch die Yacht eines reichen Mannes, die auf
den Anleger von Tinnock zusteuerte.

58
9

»Lass Paul Devane mal eine Zeit lang außen vor«, sagte Vince.
»Dave kann dir gleich den Rest erzählen. Ich muss dir vorher
noch von der Leichenfledderei berichten.«
»Ah jo«, sagte Dave. »Das Ganze ist zwar keine echte
Geschichte, Steffi, aber wahrscheinlich käme es jetzt als
Nächstes, wenn es doch eine wäre.«
Vince sagte: »Nicht dass du glaubst, Cathcart hätte sich direkt
an die Autopsie gemacht, das tat er nicht. Bei dem Brand in dem
Mietshaus, der O’Shanny und Morrison überhaupt in unseren
entlegenen Winkel führte, waren nämlich zwei Menschen ums
Leben gekommen und die waren zuerst dran. Nicht nur weil sie
zuerst gestorben waren, sondern weil sie Mordopfer waren und
der Unbekannte am Strand allem Anschein nach ›nur‹ ein
Unfallopfer. Als er endlich bei Cathcart an die Reihe kam,
waren die beiden Beamten schon wieder in Augusta – zum
Glück.
Ich war bei der Autopsie zugegen, weil ich damals der Einzige
in der Gegend war, der einigermaßen anständige Fotos schießen
konnte. Man wollte nämlich ein ›Schlaffoto‹ von dem Toten.
Das ist ein spezieller Begriff, er bezeichnet nichts anderes als
ein Foto von einer Leiche, das man noch in der Zeitung
veröffentlichen kann. Dabei soll die Leiche aussehen, als würde
sie schlafen.«
Stephanie schaute gleichzeitig neugierig und entsetzt drein.
»Funktioniert das denn?«
»Nein«, antwortete Vince. Dann fügte er hinzu: »Na ja …
vielleicht für ein Kind. Oder wenn man nur einen kurzen Blick
auf das Bild wirft und ein Auge zukneift. Das Foto musste vor
der Obduktion gemacht werden, weil Cathcart meinte, er würde

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den Unterkiefer wegen der verstopften Kehle und so vielleicht
zu weit ausrenken müssen.«
»Und ihr dachtet, es würde eher nach Schlafen aussehen, wenn
er keinen Gürtel ums Kinn hat, der ihm den Mund zuhält?«,
fragte Stephanie und musste wider Willen grinsen. Furchtbar,
dass man so etwas lustig fand, aber sie konnte nicht anders; ein
kleiner Teufel in ihrem Kopf entwarf eine makabre Karikatur
nach der anderen.
»Ja, so ähnlich«, stimmte Vince zu und musste ebenfalls
lächeln. Dave auch. Wenn sie wirklich pervers war, dann war sie
wenigstens nicht die Einzige, Gott sei Dank. »Das würde ja
aussehen wie eine Leiche mit Zahnschmerzen.«
Alle drei brachen in Gelächter aus. Stephanie dachte, dass ihr
die beiden alten Vögel wirklich ans Herz gewachsen waren.
»Am besten, man lacht Freund Hein ins Gesicht«, sagte Vince
und nahm sein Colaglas vom Geländer. Er trank einen Schluck
und stellte es zurück. »Besonders in meinem Alter. Ich spüre
den Sensenmann hinter jeder Tür, rieche seinen Atem auf dem
Kopfkissen neben mir, wo früher meine Frauen lagen – Gott
segne die beiden –, wenn ich das Licht ausmache.
Man muss ihm ins Gesicht lachen.
Wie auch immer, Steffi, ich machte jedenfalls meine Fotos –
meine ›Schlaffotos‹ – und sie wurden ungefähr so, wie zu
erwarten war. Auf dem besten sah der Kerl aus, als würde er
gerade einen gewaltigen Rausch ausschlafen oder im Koma
liegen. Das haben wir dann eine Woche später gedruckt. Auch
die Daily News aus Bangor brachte es, außerdem die Zeitungen
in Ellsworth und Portland. Hat natürlich nichts genützt, niemand
meldete sich bei uns, der ihn gekannt haben wollte, und später
fanden wir heraus, dass es dafür einen sehr einleuchtenden
Grund gab.
In der Zwischenzeit fuhr Cathcart natürlich mit der Autopsie
fort, und da die beiden Trottel aus Augusta wieder da waren, wo

60
sie hingehörten, hatte er keine Einwände gegen meine
Anwesenheit, solange ich nicht öffentlich davon sprach. Ich
versicherte ihm, dass ich es niemandem erzählen würde, und
hielt mich natürlich an mein Versprechen.
Er ging von oben nach unten vor. Zuerst kam natürlich das
Stück Steak an die Reihe, das Doc Robinson schon erspäht
hatte. ›Da haben wir auch schon die Todesursache‹, sagte
Cathcart. Die zerebrale Embolie (die er viel später entdeckte, als
ich längst auf der Fähre nach Moosie war) änderte seine
Meinung nicht. Er meinte, wenn jemand da gewesen wäre, der
den Heimlich-Griff beherrscht hätte – oder wenn er ihn selbst
gekonnt hätte –, wäre der Mann nie auf dem Edelstahltisch mit
den Abflussrinnen gelandet.
Dann kam Mageninhalt Nummer eins, das ist das, was ganz
oben liegt, der Mitternachtsimbiss, der kaum verdaut war, als
unser Mann starb. Es war nur das Steak. Vielleicht sechs oder
sieben Bissen, gut durchgekaut. Cathcart schätzte es insgesamt
auf hundertzwanzig Gramm.
Dann Mageninhalt Nummer zwei, damit meine ich das
Abendessen. Das war alles schon ziemlich – nun, ich will hier
nicht ins Detail gehen; sagen wir einfach, der
Verdauungsprozess war schon so weit fortgeschritten, dass
Dr. Cathcart ohne weitere Tests mit Sicherheit sagen konnte,
dass der Mann irgendetwas Fischiges gegessen hatte,
wahrscheinlich mit Salat und Pommes frites, so sechs bis sieben
Stunden vor seinem Tod.
›Ich bin ja nicht Sherlock Holmes, Doc‹, warf ich ein, ›aber
ich könnte das noch ein wenig präzisieren.‹
›Ach ja?‹, fragte er skeptisch.
›Ah jo‹, erwiderte ich. ›Ich denke, dass er entweder auf dem
Festland bei Curly oder Jan’s Wharfside oder bei Yanko auf
Moose-Look zu Abend gegessen hat.‹
›Warum gerade da, wenn es im Umkreis von dreißig

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Kilometern mindestens fünfzig Restaurants gibt, wo man Fisch
essen kann, auch schon im April?‹, wollte er wissen. ›Warum
nicht zum Beispiel im Grey Gull?‹
›Weil das Grey Gull sich nicht dazu herablassen würde, Fish
and Chips zu servieren‹, erklärte ich, ›und das hat er gegessen.‹
Also, Steffi, bis dahin hatte ich mich gut gehalten, aber
allmählich wurde mir übel. ›In den drei Läden bekommt man
Fish and Chips‹, erklärte ich, ›und ich hab den dazugehörigen
Essig gerochen, kaum dass Sie den Bauch aufgeschnitten
hatten.‹ Dann rannte ich auf das kleine Klo und übergab mich.
Aber ich hatte Recht. Noch am selben Abend entwickelte ich
meine Fotos und zeigte sie direkt am nächsten Tag bei den
Restaurants herum, die Fish and Chips verkaufen. Bei Yanko
hatte ihn keiner gesehen, aber die Bedienung von Jan’s
Wharfside erkannte ihn sofort. Sie meinte, sie hätte ihm einen
Tag, bevor er gefunden wurde, eine Portion Fish and Chips und
dazu eine Cola oder Cola light verkauft, das wusste sie nicht
mehr ganz genau. Er hätte sich damit an einen Tisch gesetzt und
aufs Wasser geschaut. Ich fragte, ob er etwas gesagt hätte, und
sie meinte, eigentlich nicht, nur ›bitte‹ und ›danke‹. Ich wollte
wissen, ob sie mitbekommen hätte, wo er anschließend
hingegangen sei – so gegen halb sechs –, aber sie verneinte.«
Vince sah Stephanie an. »Ich schätze, er lief hinunter zum
Anleger, um die Fähre um sechs Uhr nach Moosie zu nehmen.
Das wäre von der Zeit her ungefähr hingekommen.«
»Ah jo, der Meinung war ich auch immer«, meinte Dave.
Stephanie setzte sich auf. Ihr war etwas eingefallen.
»Das war im April. Mitte April an der Küste von Maine, und
der Typ hatte keine Jacke an, als man ihn fand. Trug er eine
Jacke, als er bei Jan bedient wurde?«
Die beiden Alten grinsten sie an, als hätte sie gerade eine
komplizierte Gleichung gelöst. Bloß wusste Stephanie, dass die
Aufgabe der Journalisten weniger darin bestand, Probleme zu
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lösen, als zu beschreiben, was gelöst werden musste – auch auf
der bescheidenen Ebene des Weekly Islander.
»Eine gute Frage«, sagte Vince.
»Eine herrliche Frage«, bestätigte Dave.
»Den Teil habe ich mir eigentlich aufgehoben«, sagte Vince,
»aber da es ja gar keine richtige Geschichte ist, nützt es nichts,
die guten Stellen aufzusparen … und wenn du Antworten
suchst, mein Mädchen, der Zug ist leider abgefahren. Die
Bedienung bei Jan wusste es nicht mehr mit Sicherheit und
ansonsten konnte sich niemand an ihn erinnern. Wahrscheinlich
können wir schon von Glück sagen: Wäre es Mitte Juli gewesen,
wenn Tausende von Gästen in die Restaurants einfallen und Fish
and Chips, Hummerbrötchen oder Eisbecher bestellen, dann
hätte sie sich gar nicht an ihn erinnert, es sei denn, er hätte die
Hose heruntergelassen und ihr seinen blanken Hintern gezeigt.«
»Vielleicht nicht mal dann«, sinnierte Stephanie.
»Stimmt. Jedenfalls konnte sie sich an ihn erinnern, wusste
aber nicht mehr, ob er eine Jacke getragen hatte. Ich habe sie
auch nicht zu stark unter Druck gesetzt, weil mir klar war, dass
ihr dann vielleicht etwas einfallen würde, nur um mir einen
Gefallen zu tun oder um mich loszuwerden. Sie sagte: ›Ich
meine mich zu erinnern, dass er eine hellgrüne Jacke trug, Mr
Teague, aber ich könnte mich auch irren.‹ Und vielleicht irrte sie
sich tatsächlich, aber wer weiß … Ich neige zu der Annahme,
dass sie Recht hatte. Dass er tatsächlich so eine Jacke trug.«
»Aber wo ist sie geblieben?«, fragte Stephanie. »Ist denn
jemals so eine Jacke aufgetaucht?«
»Nein«, entgegnete Dave. »Vielleicht gab’s ja doch keine …
aber was er ohne Jacke in einer rauen Aprilnacht draußen an der
Küste wollte, das übersteigt absolut meine Vorstellungskraft.«
Stephanie schaute Vince an, und plötzlich hatte sie tausend
Fragen auf der Zunge, alle dringend, keine ausformuliert.

63
»Warum lächelst du, Kleine?«, fragte Vince.
»Weiß nicht.« Sie überlegte. »Doch, ich weiß es wohl. Ich
habe so verdammt viele Fragen im Kopf, dass ich nicht weiß,
welche ich zuerst stellen soll.«
Beide Männer mussten lachen. Dave zog sogar ein großes
Taschentuch aus der Gesäßtasche und trocknete sich damit die
Augen. »Du bist eine Marke!«, rief er aus.
»Alle Achtung! Ich sag dir was, Steffi: Warum machst du’s
nicht so, als wärst du auf der Tupperwareparty vom
Wohltätigkeitsbasar? Einfach die Augen schließen und
zugreifen!«
»Gut«, sagte sie und folgte seinem Rat. »Was ist mit den
Fingerabdrücken des Toten? Und seinen zahnärztlichen
Unterlagen? Ich dachte, wenn man Tote identifizieren will, sind
diese Sachen so gut wie unfehlbar.«
»Das denken die meisten, und wahrscheinlich stimmt es
auch«, sagte Vince, »aber du darfst nicht vergessen, dass das
1980 war, Steffi.« Er lächelte noch immer, doch seine Augen
blickten ernst. »Vor der digitalen Revolution und lange vor dem
Internet, diesem wunderbaren Werkzeug, das junge Leute wie
du inzwischen für selbstverständlich halten. 1980 konnte man
Fingerabdrücke und zahnärztliche Unterlagen von Menschen,
die bei der Polizei als ›unbekannte Personen‹ oder ›unbekannte
Leiche‹ liefen, mit denen des Menschen vergleichen, den man
für den Unbekannten hielt. Aber es hätte Jahre gedauert, sie mit
den Daten aller gesuchten Verbrecher abzugleichen, die in den
Dienststellen aktenkundig waren, beziehungsweise mit den
Daten aller, die jedes Jahr in Amerika vermisst gemeldet
werden. Selbst wenn man die Suche auf Männer zwischen
dreißig und vierzig beschränkt hätte, wäre das nicht möglich
gewesen, mein Mädchen.«
»Aber ich dachte, bei den Streitkräften gab es damals schon
Daten in digitalisierter Form …«

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»Das glaube ich nicht«, sagte Vince. »Und selbst wenn, glaube
ich nicht, dass die Fingerabdrücke von Colorado Kid jemals
dorthin geschickt wurden.«
»Jedenfalls erfolgte die Identifizierung weder durch
Fingerabdrücke noch durch Röntgenbilder des Zahnarztes«,
sagte Dave. Er verschränkte die Finger über der breiten Brust
und schien sich im späten Sonnenschein zu rekeln. Die Sonne
stand schon tief, wärmte aber noch immer. »Ich glaube, was wir
jetzt machen, nennt man ›auf den Punkt kommen‹.«
»Wie hat man ihn denn dann identifiziert?«
»Nun kehren wir zurück zu Paul Devane«, sagte Vince. »Und
ich komme gerne auf ihn zurück, weil es bei ihm, wie gesagt,
eine Geschichte zu erzählen gibt, und das ist nun mal mein
Metier. Mein Ding, hätte man früher gesagt. Devane hatte ein
bisschen was von Horatio Alger – klein, aber genügsam: Ohne
Fleiß kein Preis; jeder ist seines Glückes Schmied.«
»Arbeit ist aller Ärger Anfang«, ergänzte Dave.
»Wenn du meinst«, sagte Vince ungerührt. »Ah jo, sicher,
wenn du meinst. Devane verschwand mit diesen beiden
bescheuerten Bullen, O’Shanny und Morrison, sobald Cathcart
ihnen einen vorläufigen Bericht über die Brandopfer aus dem
Mietshaus vorgelegt hatte, denn ein Erstickungstod drüben auf
Moose-Lookit Island war ihnen völlig schnuppe. Cathcart
wühlte derweil in den Eingeweiden des Unbekannten herum, in
Anwesenheit meiner Wenigkeit. Auf den Totenschein kam Tod
durch Ersticken oder wie das bei Medizinern heißt. In den
Zeitungen erschien mein ›Schlaffoto‹, das unsere
viktorianischen Vorfahren viel zutreffender ein Totenporträt
genannt hätten. Aber niemand meldete sich bei der
Staatsanwaltschaft oder der State Police in Augusta und sagte,
ja, der Vermisste ist mein Vater, mein Onkel, mein Bruder.
Das Beerdigungsinstitut von Tinnock lagerte ihn sechs Tage
im Kühlhaus – das ist nicht vorgeschrieben, aber hat sich wie so

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vieles zu einer Tradition entwickelt. Das weiß jeder, der mit
Toten zu tun hat, auch wenn keiner sagen kann, warum es so ist.
Als die Frist ablief, als er immer noch keinen Namen hatte und
niemand ihn haben wollte, machte Abe Carvey weiter und
balsamierte ihn ein. Der Unbekannte kam in die firmeneigene
Krypta des Instituts auf dem Friedhof Seaview …«
»Das ist ja ganz schön gruselig«, sagte Stephanie. Sie hatte
den Toten vor Augen, doch aus unerfindlichem Grund nicht im
Sarg (obwohl man ihn bestimmt zumindest in eine billige Kiste
gesteckt hatte), sondern auf einer steinernen Bahre, über ihm
eine Decke. Ein nicht abgeholtes Paket im Postamt der Toten.
»Äh jo, ein bisschen schon«, sagte Vince ungerührt.
»Soll ich weitererzählen?«
»Wenn du jetzt aufhörst, bringe ich dich um«, sagte sie.
Er nickte ohne zu lächeln, aber doch zufrieden mit ihr. Sie
wusste nicht, warum, aber sie spürte es deutlich.
»Er blieb den Sommer und den halben Herbst in der Krypta.
Als es November wurde, die Leiche immer noch keinen Namen
hatte und niemand sie wollte, beschloss man, sie zu bestatten.
Bevor der Boden zu hart wurde, verstehst du?«
»Ja«, sagte Stephanie leise. Sie verstand es sehr gut. Vielleicht
war, ohne dass Stephanie den Finger darauf hätte legen können,
wieder Telepathie zwischen den beiden Alten am Werk, denn
Dave erzählte die Geschichte weiter (falls man es eine
Geschichte nennen konnte), ohne dass der Chefredakteur des
Islander ihm ein Zeichen gegeben hätte.
»Devane zog sein Praktikum mit O’Shanny und Morrison bis
zum bitteren Ende durch«, sagte er. »Wahrscheinlich schenkte
er den beiden am Ende der drei Monate oder des Vierteljahres
sogar eine Krawatte; wie ich schon sagte, Stephanie, der junge
Mann gab einfach nicht auf. Aber sobald er fertig war, reichte er
seine Unterlagen bei der Uni ein – ich meine, er hätte von
Georgetown gesprochen, aber nagel mich nicht drauf fest – und
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legte sich ins Zeug, absolvierte die Kurse, die er fürs
Jurastudium brauchte. Abgesehen von zwei Dingen könnten wir
Mr Paul Devane jetzt aus der Geschichte entlassen, die, wie
Vince sagt, gar keine Geschichte ist, Höchstens dieser kleine
Teil. Erstens lugte Devane irgendwann in die Tasche mit den
Beweismitteln und begutachtete die Habseligkeiten des Toten.
Zweitens wurde es ihm mit einem Mädchen ernst, und er ging
ihre Eltern besuchen, das wollen Mädchen ja oft, wenn’s ernst
wird. Der Vater dieses Mädchens hatte zumindest eine schlechte
Angewohnheit, die damals weiter verbreitet war als heute: Er
rauchte Zigaretten.«
Die Kamera in Stephanies Kopf, in dem ein fähiges Hirn
arbeitete (wie beide Männer wussten), zeigte eine Packung
Zigaretten, die in den Sand von Hammock Beach fiel, als der
Tote vornüberkippte. Johnny Gravlin (inzwischen Bürgermeister
von Moose-Look) hatte sie aufgehoben und dem Mann zurück
in die Tasche gesteckt. Und dann fiel Stephanie etwas anderes
ein, doch sah sie es nicht wie ein Kamerabild vor sich, sondern
es durchfuhr sie wie ein Blitz. Sie zuckte zusammen, als sei sie
gestochen worden. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen ihr Glas
und kippte es um. Zischend floss Cola über die verwitterten
Bretter der Veranda und tropfte auf die Felsen und das Unkraut
darunter. Die beiden Alten bemerkten es nicht. Sie wussten,
wenn jemand einen Geistesblitz hatte. Voller Interesse und
Freude beobachteten sie ihre Praktikantin.
»Die Steuermarke!«, kreischte sie fast. »Auf jeder
Zigarettenpackung ist die Steuermarke des Staates, wo sie
gekauft wurde!«
Die beiden applaudierten, leise, aber aufrichtig.

67
10

Dave sagte: »jetzt erzähle ich dir, was der junge Mr Devane sah,
als er verbotenerweise in die Tasche mit den Beweismitteln
lugte, Steffi. Ich bin überzeugt, dass er den beiden Polizisten
eins auswischen wollte. Er erwartete nicht, in so einer
kümmerlichen Sammlung tatsächlich etwas Aussagekräftiges zu
finden. Da war zum einen der Ehering des Fremden, ein
schlichter Goldring ohne jede Gravur.«
»Der wurde ihm abgenommen?« Stephanie merkte, wie die
beiden Alten sie ansahen, und ihr wurde klar, dass sie etwas
Dummes gesagt hatte. Wenn der Mann identifiziert worden war,
hatte seine Frau den Ring bekommen. Der Tote mochte sogar
mit dem Ring am Finger bestattet worden sein, wenn seine
Hinterbliebenen das so wünschten. Aber bis dahin war er ein
Beweisstück und musste als solches behandelt werden.
»Ja«, sagte sie, »natürlich. Wie dumm von mir. Aber eins
noch: Irgendwo muss es doch eine Frau gegeben haben. Eine
Mrs Colorado Kid, oder?«
»Ja«, bestätigte Vince Teague ziemlich schwerfällig.
»Wir haben sie irgendwann gefunden.«
»Hatten sie Kinder?«, fragte Stephanie, weil sie fand, dass der
Mann genau im richtigen Alter für eine ganze Schar von
Sprösslingen war.
»Lass uns erst woanders weitermachen, wenn es dir recht ist«,
sagte Dave.
»Kein Problem«, entgegnete Stephanie. »’tschuldigung.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, beruhigte er sie
und grinste schwach. »Will nur nicht den Faden verlieren. Das
passiert schnell, wenn man keinen … wie sagst du noch mal.
Vincent?«

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»Wenn man kein Seil zum Festhalten hat«, ergänzte Vince.
Auch er lächelte, aber sein Blick war irgendwie abwesend.
Stephanie fragte sich, ob der Gedanke an Colorado Kids Kinder
diese Abwesenheit hervorgerufen hatte.
»Genau, hier gibt’s überhaupt kein Seil zum Festhalten«,
bestätigte Dave. Er überlegte und zählte dann mehrere
Stichpunkte an den Fingern ab, um zu beweisen, dass er absolut
nichts vergessen hatte. »In der Tasche mit den Beweismitteln
war der Ehering des Verstorbenen, siebzehn Dollar in Scheinen
– ein Zehner, ein Fünfer, zwei Einer – sowie ein bisschen
Kleingeld, insgesamt vielleicht ein Dollar. Außerdem, sagte
Devane, sei eine Münze dabei gewesen, die nicht amerikanisch
war. Seiner Meinung nach war die Schrift darauf russisch.«
»Russisch?«, staunte Stephanie.
»Das heißt kyrillisch«, murmelte Vince.
Dave fuhr fort: »Des Weiteren eine Rolle Pfefferminzbonbons
und eine Packung Big-Red-Kaugummi mit nur noch einem
Streifen. Ein Streichholzbriefchen mit einer
Briefmarkenwerbung vorne darauf – die hast du bestimmt schon
mal gesehen, bekommt man in jedem Lebensmittelgeschäft
gratis –, und Devane meinte, er hätte einen rosa Abrieb auf der
Zündfläche unten sehen können. Und dann die Packung
Zigaretten, offen, es fehlten nur eine oder zwei. Devane glaubte,
es fehlte nur eine, was der einzelne Zündstreifen auf dem
Streichholzbriefchen bestätigen wurde, meinte er.«
»Aber keine Geldbörse«, bemerkte Stephanie.
»Nein.«
»Und keinerlei Papiere.«
»Nein.«
»Hat mal einer die Theorie aufgestellt, dass vielleicht jemand
das letzte Stück Steak und die Brieftasche des Toten gestohlen

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hat?«, fragte sie und musste kichern, noch ehe sie die Hand vor
den Mund halten konnte.
»Steffi, das haben wir überlegt und wir sind auch alle anderen
Möglichkeiten durchgegangen«, sagte Vince.
»Wir haben sogar erwogen, dass eines der Küstenlichter ihn
am Hammock Beach abgesetzt hat.«
»Sechzehn Monate nachdem Johnny Gravlin und Nancy
Arnault den Mann fanden«, fuhr Dave fort, »wurde Paul Devane
eingeladen, ein Wochenende bei den Eltern seiner Freundin in
Pennsylvania zu verbringen. Ich nehme an, dass Moose-Lookit
Island, Hammock Beach und der Tote das Letzte waren, das er
damals im Kopf hatte. Er sagte, er wollte mit seiner Freundin am
Abend ausgehen, ins Kino oder so. Mutter und Vater waren in
der Küche, machten den Abwasch, und Paul hatte angeboten zu
helfen, war aber ins Wohnzimmer verbannt worden, weil er ja
nicht wisse, wo alles hingehöre. Da saß er also, schaute sich an,
was gerade im Fernsehen lief, und warf einen Blick auf den
Fernsehsessel von Papa Bär, und siehe da: Auf Papa Bärs
kleinem Beistelltisch, direkt neben Papa Bärs Fernsehzeitung
und Papa Bärs Aschenbecher, lagen Papa Bärs Zigaretten.«
Dave hielt inne, grinste Stephanie an und zuckte mit den
Schultern.
»Schon komisch, wie so was manchmal läuft: Da tragt man
sich doch, wie oft das nicht funktioniert. Wenn die Packung
andersherum gelegen hätte, so dass er nicht auf den Boden,
sondern auf den Deckel geschaut hätte, dann wäre der
Unbekannte immer noch der Unbekannte und nicht zuerst
Colorado Kid und dann Mr James Cogan aus Nederland, einer
Stadt westlich von Boulder. Doch Devane schaute auf den
Boden der Schachtel und somit auf die Steuermarke. Es war eine
Marke wie eine Briefmarke und sie erinnerte ihn an die
Schachtel Zigaretten in der Tasche mit den Beweismitteln.

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Du musst wissen, Steffi, dass einer von Paul Devanes
Aufpassern – ich weiß nicht mehr, ob O’Shanny oder Morrison
– ebenfalls Raucher gewesen war und dass es zu Pauls
Aufgaben gehörte, ihn regelmäßig mit Camel-Zigaretten zu
versorgen. Die hatten zwar auch eine Marke drauf, aber
irgendwie hatte er das Gefühl, dass es eine andere war als auf
der Packung des Toten.
Er meinte, dass die Marke des Bundesstaates Maine auf den
Packungen, die er für den Polizisten kaufte, ein Tintenstempel
gewesen sei, wie man ihn manchmal auf die Hand gedrückt
bekommt, wenn man in irgendeinem Dorf zum Tanzen geht
oder … keine Ahnung …«
»Zum Heuwagenausflug mit anschließendem Picknick auf
dem Gernerd-Hof?«, ergänzte Stephanie lachend.
»Genau!«, sagte er und richtete den Finger auf sie wie eine
Pistole. »Egal, jedenfalls war das nicht so eine Erkenntnis, wo
man aufspringt und ›Eureka!‹ ruft. Trotzdem kam Devane
während dieses Wochenendes in Gedanken immer wieder darauf
zurück, denn die Erinnerung an die Schachtel ließ ihm keine
Ruhe. Zum einen fand er, dass die Zigaretten des Toten auf
jeden Fall einen Stempel aus Maine haben mussten, egal woher
er stammte.«
»Wieso?«
»Weil nur eine fehlte. Welcher Raucher raucht nur eine in
sechs Stunden?«
»Ein schwacher Raucher?«
»Ein Mann, der eine volle Schachtel hat und nicht mehr als
eine Zigarette in sechs Stunden herausnimmt, ist kein schwacher
Raucher, sondern ein Nichtraucher«, sagte Vince sanft.
»Außerdem hatte Devane die Zunge des Toten gesehen. Ich
auch – ich kniete direkt vor ihm und leuchtete ihm mit Doc
Robinsons Ohrenspiegel in den Hals. Sie war bonbonrosa. Auf
keinen Fall eine Raucherzunge.«

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»Ach, und das Streichholzbriefchen«, sagte Stephanie
nachdenklich. »Nur einmal gezündet?«
Vince Teague lächelte sie an. Lächelte und nickte.
»Nur einmal gezündet«, bestätigte er.
»Kein Feuerzeug?«
»Kein Feuerzeug«, erwiderten beide Männer gleichzeitig und
mussten lachen.

72
11

»Devane wartete bis zum Montag«, erklärte Dave, »und als die
Sache mit den Zigaretten ihm immer noch im Kopf herumging –
obwohl er diesen Teil seines Lebens bereits seit fast anderthalb
Jahren hinter sich gelassen hatte –, rief er mich an und erklärte
mir, er hätte so eine Ahnung, dass die Packung Zigaretten des
Toten vielleicht, ganz vielleicht, gar nicht aus dem Staat Maine
stamme. Wenn er Recht hätte, würde die Marke auf der
Unterseite verraten, woher sie komme. Er äußerte Zweifel, ob
der Tote überhaupt Raucher gewesen sei, meinte aber, die
Steuermarke könne trotzdem ein Hinweis sein. Ich stimmte ihm
zu und fragte ihn, warum er ausgerechnet mich angerufen hätte.
Er sagte, ihm sei niemand anders eingefallen, der sich jetzt noch
für den Fall interessieren würde. Er hatte Recht, ich interessierte
mich noch dafür – Vince auch –, und er sollte auch Recht
behalten mit der Steuermarke.
Also, ich bin Nichtraucher, habe noch nie geraucht,
wahrscheinlich ein Grund, warum ich das gesegnete Alter von
fünfundsechzig in einem so hervorragenden Zustand erreicht
habe.«
Vince brummte und machte eine abfällige Handbewegung.
Unbeirrt fuhr Dave fort.
»Deshalb machte ich einen kleinen Ausflug die Straße runter
zu Bayside News und fragte, ob ich mal eine Schachtel
Zigaretten genauer untersuchen könne. Meine Bitte wurde mir
gewährt, und so konnte ich feststellen, dass unten drauf
tatsächlich ein Tintenstempel war, keine gedruckte Steuermarke.
Ich rief die Staatsanwaltschaft an und sprach mit einem
gewissen Murray, der für die Asservatenkammer zuständig war.
Ich war so diplomatisch wie möglich, Stephanie, weil die beiden
dusseligen Beamten damals noch im Dienst waren …«

73
»Und einen wichtigen Anhaltspunkt übersehen hatten, nicht
wahr?«, fragte Steffi. »Einen Hinweis, der die Suche nach dem
Unbekannten auf einen einzigen Bundesstaat begrenzt hätte. Der
ihnen hätte ins Auge springen müssen.«
»Genau«, bestätigte Vince, »und ihrem Praktikanten konnten
sie die Schuld nicht in die Schuhe schieben, weil sie ihm
ausdrücklich befohlen hatten, die Nase nicht in die Tasche mit
den Beweismitteln zu stecken. Außerdem: Als herauskam, dass
er ihre Anweisung missachtet hatte …«
»War er längst über alle Berge«, ergänzte Stephanie.
»Du sagst es«, bestätigte Dave. »Aber großen Ärger hätten sie
sowieso nicht bekommen. Vergiss nicht, drüben in Tinnock gab
es eine richtige Mordermittlung – Totschlag, zwei Menschen
verbrannt – und unser Unbekannter war einfach nur erstickt.«
»Trotzdem …« Stephanie blickte skeptisch.
»Trotzdem dumm, du kannst es ruhig sagen, wir sind unter
uns«, sagte Dave grinsend. »Aber der Islander hatte kein
Interesse daran, den beiden Bullen Ärger zu machen. Das
versicherte ich Murray, und ich machte ihm auch klar, dass es
sich nicht um eine strafrechtliche Angelegenheit handelte; ich
wolle einfach nur herausfinden, wer der arme Kerl sei, weil es
bestimmt irgendwo Menschen gab, die ihn vermissten und
wissen wollten, was mit ihm passiert sei. Murray sagte, er würde
sich wieder bei mir melden. Diese Reaktion hatte ich zwar
erwartet, trotzdem verbrachte ich einen unruhigen Nachmittag
und fragte mich, ob ich vielleicht anders hätte vorgehen sollen.
Das wäre durchaus möglich gewesen, weißt du. Ich hätte Doc
Robinson oder sogar Cathcart bitten können, in Augusta
anzurufen, aber die Vorstellung, einen von ihnen als
Mittelsmann zu benutzen, ging mir irgendwie gegen den Strich.
Wahrscheinlich ist das abgedroschen, aber ich bin davon
überzeugt, dass in neun von zehn Fällen Ehrlichkeit die beste

74
Lösung ist. Ich hatte einfach Bedenken, dieses könnte der zehnte
Fall sein.
Am Ende klappte es doch. Gerade als ich dachte, dass Murray
sich nicht mehr melden würde, und meine Jacke für den
Heimweg anzog, rief er mich an – ist das nicht immer so?«
»Das Wasser fängt nie an zu kochen, wenn man zusieht«,
sagte Vince.
»Du liebe Güte, das ist ja fast schon philosophisch! Gib mir
schnell einen Stift und einen Block, damit ich’s aufschreiben
kann«, sagte Dave mit breitestem Grinsen. Es machte ihn nicht
nur jünger, es wischte Jahrzehnte hinweg, und Stephanie sah in
ihm den Jungen, der er früher einmal gewesen war. Dann wurde
Dave wieder ernst und der Junge verschwand.
»In Großstädten gehen ständig Beweismittel verloren, habe ich
gehört, aber so groß ist Augusta ja nicht, selbst wenn es die
Hauptstadt des Bundesstaates ist. Sergeant Murray hatte keine
Schwierigkeiten, die Beweismittel mit Paul Devanes
Unterschritt auf dem Sicherstellungsprotokoll zu finden; er
sagte, keine zehn Minuten nach unserem Gespräch hätte er sie in
den Händen gehalten. Die übrige Zeit hätte er gebraucht, um
von dem zuständigen Vorgesetzten die Erlaubnis zu bekommen,
mir mitzuteilen, was sich in der Tasche befand, und die hatte er
schließlich erhalten. Es waren Zigaretten der Marke Winston,
und die Steuermarke war so, wie Paul Devane sie in Erinnerung
hatte: ein handelsüblicher kleiner Aufkleber, auf dem in
winzigen schwarzen Buchstaben COLORADO stand. Murray
sagte, er hätte die Information auch an die Staatsanwaltschaft
weitergegeben. Für den Fall, dass wir bei der Identifizierung von
Colorado Kid vorankämen, wüsste sie es zu schätzen, wenn wir
ihr vor einer Pressemeldung Bescheid geben würden. Colorado
Kid, so nannte er ihn, man kann also mit Fug und Recht
behaupten, dass der Name eine Erfindung von Sergeant Murray
aus der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft ist. Außerdem
sagte er, falls wir wirklich Glück mit der Identifizierung hätten,
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würden wir in unserem Bericht hoffentlich erwähnen, wie
hilfsbereit die Staatsanwaltschaft gewesen sei. Das fand ich
irgendwie nett, weißt du?«
Mit glänzenden Augen beugte sich Stephanie vor, völlig
fasziniert. »Und was habt ihr dann gemacht? Wie seid ihr
vorgegangen?«
Dave wollte antworten, doch Vince legte die Hand auf die
stämmige Schulter des geschäftsführenden Herausgebers und
unterbrach ihn. »Was meinst du denn, wie wir vorgegangen
sind, mein Mädchen?«
»Gibt’s wieder Unterricht?«, fragte Stephanie.
»Genau«, erwiderte er.
Und weil sie an seinen Augen und seinem Mund (mehr an
Letzterem) ablesen konnte, dass er es völlig ernst meinte, dachte
sie gründlich nach, ehe sie antwortete.
»Ihr … habt Abzüge von dem ›Schlaffoto‹ gemacht –«
»Ah jo, sicher.«
»Und dann … hm … dann habt ihr es mit einer
entsprechenden Meldung an – wie viele Zeitungen in Colorado
geschickt?«
Vince lächelte sie an, nickte und hielt ihr den ausgestreckten
Daumen hin. »Achtundsiebzig, Miss McCann, und ich weiß
nicht, wie es Dave erging, aber ich war erstaunt, wie wenig es
kostete, so viele Kopien zu versenden, schon damals, 1981. Das
belief sich summa summarum auf nicht mehr als hundert Mäuse,
selbst mit Porto.«
»Was wir natürlich über die Bücher laufen ließen«, sagte
Dave, der gleichzeitig Buchhalter des Islander war.
»Jeden Penny. War unser gutes Recht.«
»Wie viele Zeitungen brachten den Bericht?«
»Jede einzelne!«, rief Vince und schlug sich auf den schmalen
Oberschenkel. »Ah jo! Selbst die Denver Post und die Rocky
76
Mountain News! Denn damals hatte die Geschichte nur eine
Unbekannte und ein wunderschönes Seil zum Festhalten,
verstehst du?«
Stephanie nickte. Schlicht und schön. Das fand sie auch.
Vince nickte ebenfalls und strahlte. »Unbekannter Toter,
möglicherweise aus Colorado, zweitausend Meilen entfernt auf
einer Insel in Maine gefunden! Das Steak in seiner Kehle wurde
nicht erwähnt, auch nicht die Jacke, die er sonst wo verloren
haben konnte (oder vielleicht gar nicht angehabt hatte), auch
war keine Rede von der russischen Münze in seiner Tasche. Es
ging einfach nur um Colorado Kid, das ungelöste Rätsel. Das
brachten alle Zeitungen, selbst die Gratisblättchen, die fast nur
aus Gutscheinen bestehen.«
»Und zwei Tage, nachdem es Ende Oktober 1981 in Boulder
in der Zeitung gestanden hatte«, erklärte Dave, »erhielt ich einen
Anruf von einer Frau namens Aria Cogan. Sie wohnte in
Nederland, in den Bergen in der Nähe von Boulder. Ihr
Ehemann war im April des Vorjahres verschwunden und hatte
sie und einen Sohn zurückgelassen, der zum damaligen
Zeitpunkt sechs Monate alt gewesen war. Sie sagte, ihr Mann
heiße James, und obwohl sie keine Ahnung hätte, was um alles
in der Welt er auf einer Insel vor der Küste Maines getrieben
haben mochte, habe das Foto in der Camera doch große
Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann. Sehr große sogar.« Er hielt
inne. »Sie ahnte offenbar, dass es mehr war als eine Ähnlichkeit,
denn sie konnte nicht weitersprechen und brach in Tränen aus.«

77
12

Stephanie bat Dave, den Vornamen von Mrs Cogan zu


buchstabieren. Bei Dave Bowies starkem Akzent hatte sie nicht
mehr als verschiedene A-Laute mit einem L in der Mitte
verstanden.
Er tat ihr den Gefallen und sagte dann: »Sie hatte keine
Fingerabdrücke von ihm – natürlich nicht, die arme Frau –, aber
sie konnte mir den Namen seines Zahnarztes nennen und –«
»Moment, Moment, Moment«, rief Stephanie und hob die
Hand wie ein Verkehrspolizist. »Dieser Cogan, womit verdiente
der sein Geld?«
»Er war Zeichner in einer Werbeagentur in Denver«,
antwortete Vince. »Ich habe mittlerweile einige seiner Arbeiten
gesehen und muss sagen, dass er gar nicht schlecht war. Er hätte
sich nicht landesweit durchgesetzt, aber wenn man für eine
Postwurfsendung schnell ein Bild von einer Frau wollte, die eine
Rolle Toilettenpapier hochhält, als hätte sie gerade die dickste
Forelle gefangen, dann war Cogan der Richtige. Zweimal
wöchentlich fuhr er nach Denver, dienstags und mittwochs, zu
Besprechungen und Konferenzen. Ansonsten arbeitete er zu
Hause.«
Stephanie richtete den Blick auf Dave. »Der Zahnarzt sprach
mit Cathcart, dem Amtsarzt, stimmt’s?«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf, Steffi. Cathcart hatte keine
Röntgenbilder von den Zähnen des Toten, er war nicht darauf
vorbereitet gewesen und hatte keinen Grund gesehen, die Leiche
zum County Memorial rauszuschicken, wo die
Röntgenaufnahmen hätten erstellt werden können, aber er hatte
die Füllungen notiert, außerdem zwei Kronen. Es passte alles. Er
schickte Kopien von den Fingerabdrücken des Toten an die

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Polizei in Nederland. Die forderte einen Techniker in Denver an,
der zum Wohnhaus der Cogans ging und James Cogans
Arbeitszimmer nach Fingerabdrücken absuchte. Mrs Cogan –
Aria – sagte dem Techniker, er würde nichts finden, weil sie das
gesamte Zimmer von vorne bis hinten geputzt hätte, als sie sich
endlich eingestand, dass ihr Jim nicht zurückkommen würde,
dass er sie entweder verlassen hätte, was sie kaum glauben
konnte, oder dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sei, was
ihr immer wahrscheinlicher schien.
Der Techniker sagte, wenn Cogan einen ›signifikanten
Zeitraum‹ in seinem Büro verbracht hätte, würde er noch immer
Abdrücke finden.« Dave hielt inne, seufzte, fuhr sich mit der
Hand durch sein spärliches Haar. »Er hatte Recht, und wir
erfuhren, dass der Unbekannte, auch Colorado Kid genannt, mit
richtigem Namen James Cogan hieß, zweiundvierzig Jahre alt
war, aus Nederland in Colorado stammte, mit Aria Cogan
verheiratet und Vater von Michael Cogan war, der zum
Zeitpunkt des Verschwindens seines Vater sechs Monate alt war
und seinem zweiten Geburtstag entgegensah, als sein Vater
identifiziert wurde.«
Vince stand auf und streckte sich, die Hände in den Rücken
gestemmt. »Was haltet ihr davon reinzugehen, Leute? Langsam
wird’s hier draußen kalt und es gibt noch ein bisschen was zu
erzählen.«

79
13

Nacheinander gingen sie zur Toilette. Sie lag versteckt in einer


Nische hinter der alten Offsetpresse, die nicht mehr in Gebrauch
war (die Zeitung wurde inzwischen in Ellsworth gedruckt, schon
seit 1998). Als Dave an der Reihe war, stellte Stephanie die
Kaffeemaschine an. Wenn die Geschichte, die keine war, noch
eine Stunde dauern würde (und sie hatte so das Gefühl), wären
alle froh über eine Tasse Kaffee.
Als sie wieder zusammensaßen, schnupperte Dave in Richtung
Küchenzeile und nickte wohlwollend. »Ich mag Frauen, für die
Hausarbeit keine Sklavenarbeit ist, bloß weil sie ihr eigenes
Geld verdienen.«
»Geht mir bei Männern genauso«, gab Stephanie zurück, und
als er lachte und nickte (das war ein guter Spruch gewesen – der
zweite an diesem Nachmittag, ein Rekord), wies sie auf die
gewaltige alte Presse. »Das Ding sieht für mich nach
Sklavenarbeit aus«, sagte sie.
»Sieht schlimmer aus, als es war«, entgegnete Vince, »die
Presse davor war hingegen wirklich furchtbar. Wenn man nicht
aufpasste, war der Arm ab, da konnte man sich noch so in Acht
nehmen. Aber wo waren wir stehen geblieben?«
»Bei der Frau, die gerade erfahren hatte, dass sie Witwe war«,
sagte Stephanie. »Vermutlich hat sie die Leiche abgeholt,
oder?«
»Ja«, bestätigte Dave.
»Hat einer von euch beiden Mrs Cogan vom Flughafen in
Bangor abgeholt?«
»Was meinst du, mein Mädchen?«
Stephanie brauchte nicht lange nachzudenken. Ende Oktober
oder Anfang November 1981 war Colorado Kid für den

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Bundesstaat Maine absolut kalter Kaffee … und als Erstickter
hatte er sowieso nicht oberste Priorität. Eigentlich war er ja nur
eine unbekannte Leiche.
»Na klar habt ihr sie abgeholt. Ihr beiden wart praktisch die
einzigen Leute in Maine, die sie kannte.«
Diese Feststellung hatte bei Stephanie die eigentümliche
Erkenntnis zur Folge, dass Aria Cogan ein Mensch aus Fleisch
und Blut war (wahrscheinlich bis zum heutigen Tage) und keine
Figur in einem Krimi von Agatha Christie oder in einer Folge
von Mord ist ihr Hobby.
»Ich bin hingefahren«, sagte Vince leise. Er beugte sich vor
und betrachtete seine Hände, knorrig wie Treibholz, die er unter
den Knien verschränkt hatte.
»Sie war anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte mir
ein falsches Bild von ihr gemacht. Ich hätte es besser wissen
müssen, ich bin schließlich seit fünfundsechzig Jahren im
Zeitungsgeschäft – so lange wie mein alter Freund und
Kupferstecher hier auf der Erde weilt, und der ist auch nicht
mehr der junge Hüpfer, für den er sich hält. In der Zeit habe ich
so manche Leiche gesehen. Meistens vergisst man ganz schnell
diese romantische Vorstellung nach dem Motto ›Sah eine Maid
ich sanft dort ruhn‹. Leichen sind was Grässliches. Manchmal
sind sie gar nicht mehr als Menschen zu erkennen. Aber von
Colorado Kid konnte man das nicht behaupten. Er sah noch so
gut aus, dass Mr Poe fast eins von seinen romantischen
Gedichten über ihn hätte schreiben können. Natürlich hatte ich
ihn vor der Autopsie fotografiert, das darfst du nicht vergessen.
Wenn man das Bild etwas länger ansah, merkte man natürlich,
dass er mausetot war (fand ich jedenfalls), aber trotzdem hatte er
etwas Schönes an sich mit seinen aschfahlen Wangen, den
blassen Lippen und diesem lila Schatten auf den Augenlidern.«
»Brrr«, machte Stephanie, aber sie verstand schon, was Vince
sagen wollte, und tatsächlich kam ihr ein Gedicht von Poe in

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den Sinn. Das über die verlorne Leonor.
»Ah jo, hört sich nach der großen Liebe an«, sagte Dave und
stand auf, um sich Kaffee einzuschenken.

82
14

Vince Teague goss, wie es Stephanie erschien, fast eine halbe


Tüte Kaffeesahne in seine Tasse, dann fuhr er wehmütig
lächelnd mit seinem Bericht fort.
»Ich will eigentlich nur sagen, dass ich irgendwie mit einer
blassen, dunkelhaarigen Schönheit gerechnet hatte. Stattdessen
kam ein pummeliger Rotschopf mit tausend Sommersprossen.
An ihrer Trauer und ihrem Kummer bestand natürlich kein
Zweifel, aber sie gehörte wohl eher zu der Sorte Mensch, die
alles in sich reinstopft, wenn ihr was Sorgen bereitet, statt gar
nichts mehr zu essen. Ihre Familie war aus Omaha oder Des
Moines gekommen und passte auf das Kind auf, und ich werde
nie vergessen, wie verloren und einsam sie aussah, als sie von
der Fluggastbrücke kam. Sie trug ihre Handtasche nicht an der
Seite, sondern hielt sie vor die Brust gedrückt. Sie sah so anders
aus, als ich sie mir vorgestellt hatte, sie hatte so gar nichts von
verlorner Leonor …«
Stephanie zuckte zusammen. Jetzt funktioniert die Telepathie
auch bei mir, dachte sie.
»… aber ich wusste sofort, wer sie war. Ich winkte ihr zu, sie
kam zu mir und fragte: ›Mr Teague?‹ Und als ich bejahte,
nannte sie ihren Namen, setzte die Tasche ab, umarmte mich
und sagte: ›Danke, dass Sie mich abholen kommen. Danke für
alles. Ich kann einfach nicht glauben, dass er es sein soll, aber
ich brauche eigentlich nur auf das Foto zu sehen und weiß
Bescheid.‹
Die Strecke zum Flughafen ist ganz schön lang – das weiß
niemand besser als du, Steffi –, daher hatten wir viel Zeit zum
Reden. Zuerst fragte sie mich, ob ich irgendeine Ahnung hätte,
was Jim an der Küste von Maine gewollt hätte. Ich verneinte.
Dann erkundigte sie sich, ob er sich am Mittwochabend in
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irgendeinem Motel eingemietet hätte –« Vince hielt inne und sah
Dave an. »Stimmt doch, oder? Mittwochabend?«
Dave nickte. »Sie muss sich nach dem Mittwochabend
erkundigt haben, weil Johnny und Nancy ihn am
Donnerstagmorgen fanden. Am 24. April 1980.«
»Dass du das noch weißt!«, staunte Stephanie.
Dave zuckte mit den Schultern. »So was behalte ich immer«,
erklärte er, »aber wenn ich nach der Arbeit Brot besorgen soll,
vergesse ich es und muss noch mal im Regen raus.«
Stephanie wandte sich wieder an Vince: »Er hat sich am Tag
davor doch bestimmt nicht in einem Motel eingemietet, sonst
hättet ihr ihn nicht die ganze Zeit ›den Unbekannten‹ genannt.
Dann hättet ihr einen Namen gehabt, vielleicht nicht den
richtigen, aber zumindest den, mit dem er sich im Motel
eingetragen hat.«
Vince nickte, noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte.
»Dave und ich haben nach dem Tod von Colorado Kid drei
oder vier Wochen lang – selbstverständlich in unserer Freizeit –
sämtliche Motels im Umkreis von Moose-Lookit Island
abgeklappert. In der Hauptsaison wäre das so gut wie unmöglich
gewesen, dann kann man sich im Umkreis von einer halben
Tagesreise von der Fähre in Tinnock in circa vierhundert
Motels, Gasthäuser, Ferienhäuser, Fremdenzimmer und was
nicht sonst noch alles einmieten. Aber im April war das noch zu
bewerkstelligen, weil siebzig Prozent der Häuser zwischen
Thanksgiving und dem Memorial Day Ende Mai geschlossen
haben. Wir haben das Foto überall vorgelegt, Steffi.«
»Ohne Erfolg?«
»Ohne jeden Erfolg«, erwiderte Dave.
Sie fragte Vince: »Wie reagierte sie, als du ihr das sagtest?«
»Gar nicht. Sie war baff.« Er überlegte. »Weinte ein
bisschen.«

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»Natürlich, die Arme«, sagte Dave.
»Und was hast du gemacht?«, fragte Stephanie, immer noch
auf Vince konzentriert.
»Meine Arbeit«, erwiderte er, ohne zu zögern.
»Weil du derjenige bist, der immer Bescheid wissen muss«,
sagte sie.
Er hob die buschigen Augenbrauen. »Meinst du?«
»Ja«, sagte sie. »Meine ich.« Und sah Dave an, wartete auf
seine Bestätigung.
»Ich glaube, da hat sie dich erwischt, Junge«, stimmte Dave
zu.
»Die Frage lautet: Ist das auch dein Ziel, Steffi?«, gab Vince
mit schiefem Lächeln zurück. »Ich glaube, ja.«
»Klar«, sagte sie, fast automatisch. Sie wusste es schon seit
Wochen, obwohl sie jeden, der sie vor ihrem Praktikum beim
Islander gefragt hätte, ob sie sich für ein Leben an so einem
abgelegenen Ort entscheiden wollte, ausgelacht hätte. Die
Stephanie McCann, die sich beinahe für New Jersey statt für
Moose-Lookit vor der Küste Maines entschieden hätte, kam ihr
nun wie eine Fremde vor. Eine Landpflanze. »Was hat sie dir
erzählt? Was wusste sie?«
»Gerade so viel, um die sonderbare Geschichte noch seltsamer
zu machen«, antwortete Vince.
»Erzähl!«
»Gut, aber ich warne dich: Ab hier gibt es kein Seil zum
Festhalten mehr!«
Stephanie zögerte nicht. »Erzähl trotzdem!«

85
15

»Am Mittwoch, dem 23. April 1980, fuhr Jim Cogan zur Arbeit
in der Werbeagentur Mountain Outlook in Denver, so wie er es
jeden Mittwoch tat«, begann Vince.
»Das sagte sie mir. Er hatte eine Mappe mit Entwürfen für
Sunset Chevrolet dabei, einen der großen örtlichen Autohändler,
die bei Mountain Outlook jedes Jahr tonnenweise
Werbebroschüren in Auftrag geben – also ein sehr einträglicher
Kunde. Cogan war seit drei Jahren einer der vier Zeichner, die
für Sunset Chevrolet arbeiteten, sagte sie, und sie war überzeugt,
dass die Firma mit Jims Arbeit zufrieden war. Das beruhte
offenbar auf Gegenseitigkeit, denn auch Jim war gerne für den
Autohändler tätig. Nach Aria Cogans Aussage waren seine
Spezialität ›Liebe-Güte-Frauen‹, wie sie sie nannte. Als ich
fragte, was das sei, grinste sie und sagte, das seien hübsche
Mädchen mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, die
meistens die Hände auf die Wangen legten. Die Geste besage so
viel wie: ›Du liebe Güte, das ist ja ein tolles Angebot bei Sunset
Chevrolet!‹«
Stephanie musste lachen. Sie hatte solche Illustrationen schon
gesehen, meistens in den Gratisbeilagen im Supermarkt drüben
in Tinnock.
Vince nickte. »Aria war selbst eine Künstlerin, nur mit
Worten. Sie zeichnete mir das Bild von einem anständigen
Mann, der seine Frau, sein Kind und seine Arbeit liebte.«
»Es gibt manches, was der liebende Blick nicht sehen will«,
bemerkte Stephanie.
»So jung und schon so desillusioniert!«, rief Dave, nicht ohne
Anerkennung.

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»Hm, ah jo, aber sie hat Recht«, sagte Vince. »Bloß sind
sechzehn Monate eigentlich lang genug, um die rosarote Brille
abzusetzen. Wenn da irgendetwas gewesen wäre –
Unzufriedenheit auf der Arbeit oder vielleicht eine kleine
Affäre, so was käme mir als Erstes in den Sinn –, dann hätte
Aria bestimmt einen Hinweis darauf gefunden oder zumindest
Lunte gerochen. Oder aber ihr Mann war unglaublich vorsichtig.
Denn in den sechzehn Monaten, die er vermisst wurde, sprach
sie mit allen, die ihn kannten, mit den meisten zweimal, und alle
sagten ihr das Gleiche: Er mochte seine Arbeit, liebte seine Frau
und vergötterte seinen kleinen Sohn. Das wiederholte sie immer
wieder. ›Er hätte Michael nie im Stich gelassen‹, sagte sie. ›Das
weiß ich ganz genau, Mr Teague. Das weiß ich tief in meinem
Herzen.‹« Vince zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen:
Ich kann’s nicht ändern. »Ich glaubte ihr.«
»Hatte er vielleicht seine Arbeit satt?«, versuchte es Stephanie.
»Wollte er sich verändern?«
»Sie meinte, nein. Angeblich liebte er ihr Haus oben in den
Bergen, hatte sogar ein Schild über der Tür angebracht, auf dem
stand: HERNANDO’S HIDEAWAY.
Sie sprach mit einem der anderen Zeichner, die für Sunset
Chevrolet arbeiteten, einem langjährigen Kollegen von Cogan.
Weißt du noch, wie er hieß, Dave?«
»George Rankin oder Franklin«, antwortete Dave.
»Kann mich nicht mehr ganz genau erinnern.«
»Nicht nachlassen, altes Haus«, sagte Vince. »Selbst Willie
Mays hat zum Ende seiner Karriere öfter mal neben den Ball
geschlagen, glaube ich.«
Dave streckte ihm die Zunge heraus.
Vince nickte, als habe er genau diese kindische Reaktion von
seinem Herausgeber erwartet, dann nahm er den Faden wieder
auf. »George, der Zeichner, mit Nachnamen Rankin oder
Franklin, erzählte also Aria, dass Jim mit dem, was er
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draufhatte, so ziemlich am oberen Ende der Fahnenstange
angekommen war, und dass er zu den glücklichen Leuten
gehörte, die ihre Grenzen nicht nur kennen, sondern auch mit
ihnen zufrieden sind. Jims einziges Ziel sei gewesen,
irgendwann Leiter der Illustrations-Abteilung von Mountain
Outlook zu werden. Angesichts dieses Ziels wäre er wohl als
Allerletztes auf die Idee gekommen, die Brücken hinter sich
abzubrechen und aus einer Laune heraus an die Küste
Neuenglands zu fliehen.«
»Aber genau das hatte er nach Ansicht seiner Frau getan«,
sagte Stephanie. »Stimmt’s?«
Vince stellte die Kaffeetasse ab und fuhr sich durch den Rest
weißer Haare, die schon reichlich verstrubbelt waren.
»Angesichts der Beweislage konnte Aria Cogan gar keinen
anderen Schluss ziehen«, erklärte er, »so wie wir alle.
James Cogan verließ sein Haus umViertel vor sieben am
Mittwoch und fuhr auf die Schnellstraße nach Denver. Er hatte
lediglich die Mappe mit den Entwürfen dabei. Er trug einen
grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und einen
grauen Mantel. Ach ja, und schwarze Slipper.«
»Keine grüne Jacke?«, fragte Stephanie.
»Nein, keine grüne Jacke«, bestätigte Dave. »Aber die graue
Hose, das weiße Hemd und die schwarzen Schuhe hatte er noch
an, als Johnny und Nancy ihn tot am Mülleimer fanden.«
»Und die Anzugjacke?«
»Wurde nie gefunden«, erklärte Dave. »Auch die Krawatte
nicht, allerdings steckt ein Mann sie, wenn er sie abnimmt, zu
neunzig Prozent in die Tasche seiner Anzugjacke. Ich würde
also wetten, dass man sie in dem grauen Sakko fände, falls es
irgendwo auftauchen würde.«
»Um Viertel vor neun war er an seinem Reißbrett im Büro«,
fuhr Vince fort, »und arbeitete an einer Anzeige für King
Sooper.«
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»Was ist –?«
»Eine Supermarktkette, mein Mädchen«, sagte Dave.
»Gegen Viertel nach zehn«, erzählte Vince, »sah der Zeichner
George, mit Nachnamen Rankin oder Franklin, unseren Mann
auf die Aufzüge zusteuern. Cogan sagte, er wolle sich einen
›richtigen Kaffee‹ im Lebensmittelladen um die Ecke holen,
dazu ein Sandwich mit Ei als Mittagessen, er werde die Pause
im Büro verbringen. Er fragte George, ob er ihm etwas
mitbringen solle.«
»Das hat dir Aria alles erzählt, als du mit ihr nach Tinnock
gefahren bist?«
»Ja. Ich habe sie zu Cathcart gebracht, wo sie das Foto
offiziell identifizieren und dann einen Exhumierungsantrag
unterschreiben musste: ›Das ist mein Mann, das ist James
Cogan‹ und so weiter. Cathcart erwartete uns bereits.«
»Schon gut. Entschuldige die Unterbrechung. Erzähl weiter!«
»Du brauchst dich nicht entschuldigen, wenn du Fragen hast,
Steffi, das ist schließlich die Aufgabe eines Journalisten.
Jedenfalls sagte der Zeichner George …«
»Mit Nachnamen Rankin oder Franklin«, warf Dave hilfsbereit
ein.
»Ah jo, genau der – er sagte zu Cogan, dass er keinen Kaffee
wolle, begleitete ihn jedoch zu den Fahrstühlen, um sich mit ihm
über die anstehende Verabschiedung eines Kollegen namens
Haverty zu unterhalten, einer der Begründer der Werbeagentur.
Die Feier war für Mitte Mai angesetzt. Dieser George erzählte
Aria, dass ihr Mann sich schon darauf zu freuen schien. Bis der
Fahrstuhl kam, diskutierten sie über ein passendes
Abschiedsgeschenk, dann stieg Cogan ein und sagte zu George,
sie könnten in der Mittagspause weiterreden und eine Kollegin
fragen, was sie davon halte. George fand, das sei eine gute Idee,
Cogan winkte ihm noch zu, die Fahrstuhltüren schlossen sich,

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und das war das letzte Mal, dass Colorado Kid in Colorado
gesehen wurde.«
»George, der Zeichner«, sagte Stephanie fast bewundernd.
»Glaubt ihr, dass das alles passiert wäre, wenn George gesagt
hätte: ›Ach, warte kurz, ich zieh nur eben schnell meinen Mantel
über und komme mit‹?«
»Tja, wer weiß«, sagte Vince.
»Trug er denn seinen Mantel?«, fragte sie. »Cogan, meine ich?
Trug er den grauen Mantel, den er morgens angehabt hatte?«
»Aria fragte George, aber der wusste es nicht mehr«, erwiderte
Vince. »Er war sich nicht sicher, glaubte es aber eher nicht. Und
hatte wahrscheinlich Recht. Das Lebensmittelgeschäft lag direkt
um die Ecke.«
»Aria sagte, es hätte jemand am Empfang gesessen«, fügte
Dave hinzu, »aber die Empfangsdame hätte nicht gesehen, dass
die Männer zum Fahrstuhl gingen. Sie vermutete, sie wäre ›kurz
mal abkömmlich gewesen‹.«
Missbilligend schüttelte er den Kopf. »In Krimis ist das immer
anders.«
Aber Stephanies Gedanken hingen bei etwas anderem fest. Sie
hatte das Gefühl, lediglich Krümel aufzupicken, obwohl ein
ganzer Braten auf dem Tisch stand. Sie hob den linken
Zeigefinger. »George, der Zeichner, verabschiedete sich gegen
Viertel nach zehn morgens von Cogan, also Colorado Kid.
Vielleicht war es auch schon zwanzig nach, als der Fahrstuhl
endlich kam und Cogan einstieg.«
»Ah jo«, sagte Vince. Mit glänzenden Augen beobachtete er
Stephanie. Dave ebenfalls.
Jetzt hob sie den rechten Zeigefinger. »Und die Bedienung bei
Jan’s Wharfside drüben in Tinnock sagte, er hätte gegen halb
sechs abends am Tisch Fish and Chips gegessen und aufs
Wasser gestarrt.«

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»Ah jo«, wiederholte Vince.
»Wie groß ist der Zeitunterschied zwischen Maine und
Colorado? Eine Stunde?«
»Zwei«, korrigierte Dave.
»Zwei«, wiederholte sie, überlegte. »Zwei Stunden. Als also
George, der Zeichner, Cogan zum letzten Mal sah und sich die
Fahrstuhltüren schlossen, war es in Maine schon nach zwölf
Uhr.«
»Vorausgesetzt, die Zeiten stimmen«, bestätigte Dave, »aber
das müssen wir ja nun mal annehmen, oder?«
»Haut das hin?«, wollte Stephanie wissen. »Kann er in der Zeit
hergekommen sein?«
»Ja«, antwortete Vince.
»Nein«, antwortete Dave.
»Vielleicht«, sagten die beiden, und Stephanie blickte verdutzt
vom einen zum anderen, die Kaffeetasse in der Hand.

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16

»Das ist wieder einer der Gründe, warum sich die Geschichte
nicht für eine Zeitung wie den Globe eignet«, sagte Vince nach
einer kurzen Pause, in der er seinen milchigen Kaffee trank und
seine Gedanken sammelte.

»Selbst wenn wir die Story weitergeben wollten.«


»Aber das wollen wir nicht«, warf Dave ziemlich gereizt ein.
»Nein, das wollen wir nicht«, stimmte Vince zu. »Aber selbst
wenn wir das täten … Steffi, wenn eine große Zeitung wie der
Globe oder die New York Times einen Bericht oder eine Serie
macht, dann möchte sie Antworten geben oder wenigstens
vorschlagen. Ob ich damit ein Problem habe? Und was für eins!
Du kannst jede große Zeitung in die Hand nehmen, und was
findest du auf der Titelseite? Fragen, die sich als Nachrichten
tarnen. Wo ist Osama bin Laden? Wir wissen es nicht. Was
macht der Präsident im Mittleren Osten? Wir wissen es nicht,
weil er es selbst nicht weiß. Erholt sich die Wirtschaft oder geht
sie den Bach runter? Die Experten streiten sich. Sind Eier gut
oder schlecht für die Gesundheit? Hängt davon ab, welcher
Studie man glaubt. Nicht mal die Meteorologen legen sich heute
noch fest, ob tatsächlich ein Nordostwind aus Nordosten kommt,
weil sie sich beim letzten Mal geirrt haben. Wenn eine Zeitung
also eine Reportage über bessere Lebensbedingungen für
Minderheiten bringt, möchte sie gerne sagen können: Wenn man
dies, das und jenes macht, wird die Lage 2030 besser sein.«
»Und wenn sie einen Beitrag über ungelöste Rätsel bringt«,
erklärte Dave, »will sie dem Leser sagen können, dass die
Lichter an der Küste wahrscheinlich Reflexionen in den Wolken
waren und die Vergiftungen beim Picknick der

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Kirchengemeinde die Tat einer sitzen gelassenen Sekretärin der
Methodisten. Aber die Sache mit dem möglichen Zeitablauf …«
»Über den du ja auch gleich nachgedacht hast«, fügte Vince
grinsend hinzu.
»Und der ist wirklich ziemlich zusammengezimmert, egal wie
man es wendet«, sagte Dave.
»Dann ist er halt zusammengezimmert«, entgegnete Vince.
»Verdammt, ich habe die Sache untersucht, habe mir fast die
Finger wund gewählt, da darf mein Ergebnis doch wohl
zusammengezimmert sein, oder?«
»Mein Vater sagte immer, selbst wenn man den ganzen Tag
Kreide schneidet, wird kein Käse daraus«, sagte Dave, aber er
lächelte ein wenig dabei.
»Stimmt, aber lass mich trotzdem noch ein bisschen
rumzimmern«, meinte Vince. »Sagen wir, die Fahrstuhltüren
schlossen sich um zwanzig nach zehn, Colorado-Zeit, ja? Sagen
wir weiterhin, der Beweisführung zuliebe, dass alles von langer
Hand geplant war und ein Wagen mit laufendem Motor vor dem
Gebäude wartete.«
»Okay«, sagte Stephanie und beobachtete Vince aufmerksam.
»Reine Phantasie«, schnaubte Dave verächtlich, wirkte aber
dennoch interessiert.
»Es ist natürlich weit hergeholt«, stimmte Vince zu, »aber
schließlich war er um Viertel nach zehn in Denver und etwas
mehr als fünf Stunden später bei Jan’s Wharfside. Das ist auch
weit hergeholt, aber es ist eine Tatsache. Beide Male war er es
selbst. Darf ich jetzt fortfahren?«
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Dave.
»Wenn ein Auto mit laufendem Motor auf ihn wartete,
brauchte er vielleicht eine halbe Stunde bis nach Stapleton.
Einen Linienflug kann er auf gar keinen Fall genommen haben.
Er hätte das Ticket bar bezahlt und einen Decknamen benutzt

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haben können – damals ging das noch –, aber es gibt keine
direkten Linienflüge von Denver nach Bangor. Überhaupt keine
von Denver nach Maine.«
»Habt ihr das geprüft?«
»Ja, ich. Mit einem Linienflug wäre er frühestens um Viertel
vor sieben in Bangor gelandet, lange nachdem das Mädchen im
Restaurant ihn gesehen hatte. Zu der Jahreszeit wäre sogar
schon die letzte Fähre nach Moosie fort gewesen.«
»Um sechs geht die letzte?«, fragte Stephanie.
»Ja, und zwar bis Mitte Mai«, erwiderte Dave.
»Dann muss er Charter geflogen sein«, sagte sie. »Ein
Charterflugzeug? Gab es Fluggesellschaften, die von Denver aus
mit Charterjets flogen? Hätte er sich das leisten können?«
»Ja, ja und ja«, antwortete Vince, »aber es hätte ihn schon ein
paar tausend Mäuse gekostet, das hätte sich auf jeden Fall auf
seinem Bankkonto bemerkbar gemacht.«
»Tat es aber nicht?«
Vince schüttelte den Kopf. »Es gab keine auffälligen
Kontobewegungen vor seinem Verschwinden. Trotzdem muss er
ein Flugzeug gechartert haben. Ich habe bei verschiedenen
Chartergesellschatten nachgefragt, die mir alle versicherten,
dass der Flug an einem guten Tag – wenn eine kleine Lear wie
die 35 oder 55 in einen kräftigen Jetstream gerät – rund drei
Stunden dauern würde, vielleicht etwas länger.«
»Von Denver nach Bangor«, wiederholte Stephanie.
»Von Denver nach Bangor, ja, es gibt hier in der Nähe sonst
nichts, wo die kleinen Vögel landen können. Die Rollbahn ist
nicht lang genug, verstehst du?«
Ja, das verstand sie. »Habt ihr die Chartergesellschaften in
Denver überprüft?«
»Ich hab’s versucht. Leider ohne großen Erfolg. Von den fünf
Gesellschaften, die Jets in der fraglichen Größenordnung haben,

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waren überhaupt nur zwei bereit, mit mir zu reden. Müssen sie
schließlich nicht, stimmt’s? Ich war nur ein Kleinstadt-
Journalist, der einen Unfalltod recherchiert, kein Bulle, der in
einem Mordfall ermittelt. Einer von ihnen erklärte mir
außerdem, dass es nicht nur darum ging, die FBOs zu
überprüfen, die von Stapleton aus starten …«
»Was sind FBOs?«
»Fixed Base Operations«, erklärte Vince. »Das sind
Gesellschaften, die Flugzeuge chartern, aber auch zahlreiche
andere Dienstleistungen anbieten: Sie holen
Startgenehmigungen ein, unterhalten kleine Terminals für
Passagiere, die privat fliegen, damit sie nicht unters gemeine
Volk müssen, außerdem verkaufen, warten und reparieren sie
Flugzeuge. Bei zig FBOs kann man durch den Zoll gehen, man
kann bei ihnen Höhenmesser kaufen, wenn der eigene kaputt ist,
oder der Pilot kann sich acht Stunden in der Lounge erholen,
wenn er seine maximale Flugzeit erreicht hat. Manche FBOs
wie Signature Air sind riesige Unternehmen, große Ketten wie
Holiday Inn oder McDonald’s. Andere sind kleine Klitschen mit
einem Snackautomaten und einem Windsack am Rollfeld.«
»Du hast dich wirklich schlau gemacht«, sagte Stephanie
anerkennend.
»Allerdings, und inzwischen weiß ich, dass nicht nur Piloten
und Flugzeuge aus Colorado Stapleton und andere Flughäfen in
Colorado anflogen oder anfliegen. Zum Beispiel könnte das
Flugzeug einer FBO von La-Guardia in New York mit
Passagieren nach Denver fliegen, die ihre Verwandten in
Colorado besuchen wollen. Dann erkundigt sich der Pilot, ob
jemand nach New York will, damit er nicht leer zurück muss.«
»Heutzutage stehen die Passagiere für den Rückflug natürlich
vorher im Computer«, sagte Dave. »Verstehst du, Steffi?«

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Sie nickte. Und sie sah noch etwas anderes. »Das heißt, die
Buchung für Mr Cogans Flug könnte beispielsweise im Archiv
von Adler Air in New York sein.«
»Oder bei Adler Air in Montpelier, Vermont«, ergänzte Vince.
»Oder bei Alles in Butter Jets aus Washington, D. C«, sagte
Dave.
»Und wenn Cogan bar bezahlt hat«, fügte Vince hinzu, »gibt
es möglicherweise überhaupt keine Unterlagen darüber.«
»Aber es gibt doch bestimmt alle möglichen Behörden –«
»Allerdings«, bestätigte Dave. »Mehr als man sich vorstellen
kann, angefangen bei der Flugaufsichtsbehörde bis hin zum
Finanzamt. Würde mich nicht wundern, wenn die
Nachwuchsorganisation der amerikanischen Farmer auch
irgendwie dazugehörte. Aber bei Barzahlung gibt’s nicht viele
Unterlagen. Denk an Helen Hafner!«
Natürlich konnte sich Stephanie an die Kellnerin aus dem
Grey Gull erinnern. Deren Sohn kürzlich aus dem Baumhaus
gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte. Sie bekommt
den ganzen Batzen, hatte Vince gesagt, bevor er Helen Hafner
das Geld zusteckte. Was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht
heiß. Und Dave hatte hinzugefügt: So werden in Amerika
Geschäfte gemacht.
Stephanie nahm an, dass sie Recht hatten, aber im
vorliegenden Fall bereitete ihnen diese Art, Geschäfte zu
machen, erhebliche Probleme.
»Ihr wisst es also nicht«, schloss sie. »Ihr habt euer Bestes
getan, aber ihr habt es nicht herausbekommen.«
Vince schaute erst überrascht, dann erheitert drein.
»Ob man sein Bestes getan hat, Steffi, kann man, glaube ich,
nie mit Sicherheit sagen: Ich bin sogar der Ansicht, dass die
meisten dazu verurteilt, ja verflucht sind zu glauben, sie hätten
es noch ein bisschen besser machen können, selbst wenn sie

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eigentlich mit dem Ergebnis zufrieden sind. Aber du irrst dich –
ich habe es herausbekommen. Er hat sich ein Flugzeug in
Stapleton gechartert. Auf jeden Fall.«
»Aber du hast gesagt –«
Er beugte sich noch weiter über seine gefalteten Hände und
fixierte sie mit seinem Blick. »Hör gut zu und lass dir etwas
gesagt sein, mein Mädchen. Es ist lange her, dass ich Sherlock
Holmes gelesen habe, weshalb ich nicht präzise zitieren kann,
aber irgendwann sagt der große Detektiv zu Dr. Watson so
etwas wie: ›Eliminiert man das Unmögliche, muss das, was
übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch ist, die Wahrheit
sein.‹ Also, wir wissen, dass Colorado Kid bis Viertel oder
zwanzig nach zehn am Mittwochmorgen in seinem Büro in
Denver war. Und wir können auch davon ausgehen, dass er um
halb sechs bei Jan’s Wharfside war. Heb noch mal die Finger
hoch, wie du es eben getan hast, Stephanie.«
Sie tat wie ihr geheißen, den linken Zeigefinger für Colorado
Kid in Denver, den rechten für James Cogan in Maine. Vince
nahm die Hände auseinander und berührte mit seinem
Zeigefinger den ihrer rechten Hand. Alter und Jugend trafen sich
quasi mitten in der Luft.
»Dieser Finger darf aber nicht halb sechs sein«, sagte er. »Wir
müssen der Bedienung nicht unbedingt glauben. Sie hat sich
zwar nicht die Hacken abgelaufen wie im Juli, aber sie hatte
bestimmt genug zu tun, es war schließlich Abendessenszeit und
so.«
Stephanie nickte. In diesem Teil der Welt aß man früh zu
Abend. Das Mittagessen nahm man mittags aus dem
Henkelmann zu sich, oft draußen im Hummerboot.
»Dieser Finger ist jetzt mal sechs Uhr«, sagte er. »Die letzte
Fähre.«
Stephanie nickte abermals. »Die muss er genommen haben,
oder?«

97
»Ja, es sei denn, er ist geschwommen«, warf Dave ein.
»Oder hat ein Boot gemietet«, ergänzte Stephanie.
»Wir haben uns umgehört«, erklärte Dave. »Wichtiger noch:
Wir haben Gard Edwick gefragt, der im Frühjahr 1980 der
Fährmann war.«
Hat Cogan ihm Tee gebracht?, fragte Stephanie sich plötzlich.
Denn wenn man mit der Fähre fahren will, muss man dem
Steuermann Tee mitbringen. Hast du selbst gesagt, Dave. Oder
sind der Fährmann und der Steuermann zwei verschiedene
Personen?
»Steffi?« Vince klang besorgt. »Alles in Ordnung, mein
Mädchen?«
»Sicher, warum?«
»Weiß nicht, du sahst gerade aus, als hättest du ein Gespenst
gesehen.«
»Hab ich auch. Ist ja eine seltsame Geschichte, oder?«
Dann fügte sie hinzu: »Nur dass es gar keine Geschichte ist, da
hattet ihr Recht, und wenn ich gerade ein komisches Gesicht
gemacht habe, liegt es wahrscheinlich daran. Es ist, als würde
man mit dem Fahrrad auf einem Drahtseil fahren wollen, das gar
nicht existiert.«
Stephanie zögerte, dann entschied sie sich, weiterzusprechen,
auch wenn sie sich komplett zum Narren machte.
»Konnte sich Mr Edwick an Cogan erinnern, weil der ihm
etwas mitgebracht hatte? Weil er Tee für den Steuermann
mitbrachte?«
Eine Weile sagte keiner der Männer etwas, sie betrachteten
Stephanie nur mit ihren unergründlichen Augen – so sonderbar
lebendig und sympathisch jungenhaft in ihren alten Gesichtern –
, und Stephanie hatte Angst, jeden Moment loszulachen oder –
zuweinen, irgendetwas zu tun, bloß um die Spannung und

98
wachsende Gewissheit zu vertreiben, dass sie sich völlig
blamiert hatte.
Vince sagte: »Es war eine kalte Überfahrt. Ein Mann kam zum
Ruderhaus und reichte Gard einen Pappbecher mit Kaffee. Sie
wechselten nur wenige Sätze. Es war ja April, zu der Zeit wurde
es schon langsam dunkel. Der Mann sagte: ›Ruhige See‹, und
Gard antwortete: ›Ah jo.‹ Dann sagte der Mann: ›Das hat sich
schon lange angekündigt‹, vielleicht aber auch ›Ich hab mich
schon lange angekündigt‹. Gard meinte, es hätte sogar heißen
können ›Haas hat sich schon lange angekündigt‹. Es gibt den
Namen; zwar nicht im Telefonbuch von Tinnock, aber in
mehreren anderen habe ich ihn gefunden.«
»Trug Cogan die grüne Jacke oder den Mantel?«
»Steffi«, sagte Vince. »Gard konnte sich nicht nur nicht
erinnern, ob der Mann einen Mantel trug, er hätte vor Gericht
nicht mal beschwören können, ob der Mann zu Fuß oder zu
Pferde kam. Erstens wurde es schon dunkel; zweitens waren es
lediglich eine freundliche Geste und ein paar Sätze, an die er
sich anderthalb Jahre später erinnerte; drittens … naja, der alte
Gard, weißt du …« Vince tat, als halte er sich eine Flasche an
den Mund.
»Wir wollen nicht schlecht über die Toten reden, aber der
Mann soff wie ein Loch«, sagte Dave. »1985 verlor er die Stelle
als Fährmann. Die Stadt gab ihm den Schneepflug, damit seine
Familie nicht hungern musste. Er hatte fünf Kinder und seine
Frau litt an MS. Aber irgendwann räumte er im Februar
stinkbesoffen die Main Street und fuhr den Pflug an einem
Strommasten zu Schrott, danach gab es eine verdammte Woche
lang keinen Strom mehr, entschuldige meine Ausdrucksweise.
Er verlor die Stelle und lebte von der Wohlfahrt. Wundere ich
mich also, dass er sich an nichts erinnern konnte? Nein,
überhaupt nicht. Aber aufgrund der Fakten, die er noch wusste,
bin ich überzeugt, dass Colorado Kid mit der letzten Fähre vom
Festland rüberkam und dass er dem Steuermann tatsächlich Tee
99
brachte, beziehungsweise einen akzeptablen Ersatz. Klasse, dass
du das noch wusstest, Steffi!« Er tätschelte ihr die Hand. Sie
lächelte ihn an und hatte das Gefühl, ihr würde schwindelig.
»Wie du schon gesagt hast«, nahm Vince den Faden wieder
auf, »muss der Zeitunterschied von zwei Stunden berücksichtigt
werden.« Er schob ihren linken Zeigefinger näher an den
rechten heran. »Um Viertel nach zwölf Ostküstenzeit verlässt
Cogan das Büro. Sobald sich die Aufzugtüren zum
Eingangsbereich des Gebäudes öffnen, legt er seine lässige,
routinierte Art ab. Augenblicklich schaltet er um. Als säße ihm
der Teufel im Nacken, rast er nach draußen, wo das schnelle
Auto mit einem ebenso schnellen Fahrer auf ihn wartet.
Eine halbe Stunde später ist er bei einer FBO in Stapleton und
fünf Minuten später steigt er in ein Privatflugzeug. Er hat nichts
dem Zufall überlassen. Kann er gar nicht. Viele Leute fliegen
regelmäßig privat hin und her, bleiben dann aber ein, zwei
Wochen an einem Ort. Die Flugzeuge, die die Passagiere
hinbringen, können in diesen zwei Wochen auch von anderen
gemietet werden. Unser Mann wird sich für eines dieser
Flugzeuge entschieden und mit großer Wahrscheinlichkeit im
Voraus bar bezahlt haben. Um Richtung Osten zu fliegen.«
Stephanie fragte: »Was hätte er denn getan, wenn der Flug,
den er nehmen wollte, in letzter Minute abgesagt worden wäre?«
Dave zuckte mit den Schultern. »Das Gleiche, was er auch bei
schlechtem Wetter getan hätte, nehme ich an: Er hätte sein
Vorhaben auf einen anderen Tag verschoben.«
Vince hatte Stephanies linken Finger ein bisschen weiter nach
rechts gerückt. »Nun ist es bald ein Uhr mittags an der
Ostküste«, sagte er, »aber immerhin muss sich unser Freund
Cogan keine großen Gedanken über das ganze Sicherheitstrara
machen, das gab’s 1980 noch nicht, schon gar nicht bei einem
Privatflug. Wir müssen davon ausgehen – wieder nur eine
Annahme –, dass sein Flugzeug nicht lange auf die

100
Starterlaubnis wartete, denn das hätte den ganzen Zeitplan
durcheinander gebracht, am Ziel wartete ja schließlich schon
…«
Er berührte Stephanies rechten Finger. »… die Fähre. Die
letzte.
Der Flug dauerte drei Stunden. Sagen wir jetzt mal so. Mein
werter Kollege hat im Internet recherchiert, er ist ganz verrückt
danach, jedenfalls behauptet er, an dem Tag sei gutes Wetter
zum Fliegen gewesen, und auf den Karten sieht man, dass der
Jetstream ungefähr im richtigen Bereich war …«
»Allerdings habe ich nie herausfinden können, wie stark er
war«, unterbrach ihn Dave. Er warf Vince einen Blick zu. »In
Anbetracht der dürftigen Ergebnisse in unserem Fall ist das
wahrscheinlich nicht so schlimm, Partner, was?«
»Sagen wir also, drei Stunden«, wiederholte Vince und schob
Stephanies linken Finger (den sie bei sich nun ›Colorado Kid‹
nannte) bis auf fünf Zentimeter an den rechten heran (der für sie
jetzt ›der fast tote James Cogan‹ hieß). »Viel länger kann es
nicht gedauert haben.«
»Weil die Fakten das nicht zulassen«, murmelte sie vor sich
hin, fasziniert (und auch ein wenig eingeschüchtert) von der
Vorstellung. Auf der High School hatte sie mal einen Science-
Fiction-Roman gelesen, der hieß Der Mond ist eine herbe
Geliebte. Mit dem Mond kannte sie sich nicht so gut aus, aber
langsam war sie überzeugt, dass das Urteil auf die Zeit allemal
zutraf.
»Genau, weil es nicht anders sein kann«, stimmte Vince zu.
»Um vier Uhr oder vielleicht um fünf nach vier – sagen wir um
fünf nach – landet Cogan und geht bei Twin City Civil Air von
Bord, damals die einzige FBO am Flughafen Bangor –«
»Wurde seine Ankunft irgendwo registriert?«, wollte
Stephanie wissen. »Hast du das geprüft?« Sie wusste, dass
Vince das getan hatte, natürlich, und dass es zu nichts geführt

101
hatte. So war es nun mal bei dieser Geschichte. Eine Geschichte,
als müsste man niesen und könnte nicht.
Vince lächelte. »Na klar, aber damals, in der sorglosen Zeit
vor den Sicherheitsvorkehrungen, bewahrte Twin City lediglich
Rechnungsbücher für längere Zeit auf. Die Fluggesellschaft
hatte an dem Tag mehrere Barzahlungen, darunter einige
ansehnliche Tankquittungen am späten Nachmittag, aber selbst
die haben nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Soweit wir
wissen, kann derjenige, der Colorado Kid herflog, die Nacht in
einem Hotel in Bangor verbracht haben und am nächsten
Morgen zurückgeflogen sein …«
»Oder das Wochenende über hier geblieben sein«, sagte Dave.
»Andererseits könnte der Pilot auch direkt umgedreht haben,
ohne wieder aufzutanken.«
»Wie soll das gehen, wenn er die weite Strecke von Denver
hergeflogen ist?«, wollte Stephanie wissen.
»Er könnte einen Zwischenstopp in Portland eingelegt haben«,
erklärte Dave, »um da nachzutanken.«
»Warum sollte er?«
Dave grinste. Er sah erstaunlich pfiffig aus, ganz anders als
sonst, wenn sein ernster Gesichtsausdruck eher den Eindruck
dümmlicher Ehrlichkeit vermittelte. Jetzt kam Stephanie der
Gedanke, dass Daves Hirn hinter dem rundlichen Kindergesicht
ebenso raffiniert und schnell war wie das von Vince Teague.
»Cogan könnte dem Piloten aus Denver Geld gegeben haben,
damit er dort tankt, weil Cogan befürchtete, Spuren zu
hinterlassen«, erklärte Dave. »Und wenn der Pilot aus Denver
entsprechend bezahlt wurde, war er sicherlich mit diesem
Ansinnen einverstanden.«
»Colorado Kid«, fuhr Vince fort, »blieben noch zwei Stunden,
um nach Tinnock zu gelangen, bei Jan’s Wharfside einen Teller
mit Fish and Chips zu holen, sich an den Tisch zu setzen, beim
Essen aufs Wasser zu schauen und dann die letzte Fähre nach
102
Moose-Lookit Island zu nehmen.« Während der Aufzählung
bewegte er Stephanies linken Zeigefinger auf den rechten zu, bis
sie sich berührten.
Fasziniert schaute Stephanie zu. »Ist das möglich?«
»Schon, aber es ist verdammt knapp«, erwiderte Dave
seufzend. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn er nicht
tot am Hammock Beach gelegen hätte. Du, Vince?«
»Nie«, sagte Vince wie aus der Pistole geschossen.
»Im Umkreis von zwölf Meilen von Tinnock gibt es vier
Behelfsrollbahnen, die nur in der Hochsaison benutzt werden«,
erklärte Dave. »Meistens starten dort im Sommer Touristen zu
Besichtigungsflügen oder um sich im Herbst das bunte Laub
anzusehen, wenn die Farben explodieren. Wir haben alle vier
Rollbahnen auf die Möglichkeit überprüft, ob Cogan vielleicht
ein zweites Flugzeug charterte, eine kleine Propellermaschine
wie eine Piper Cub, und von Bangor zur Küste flog.«
»Ebenfalls ohne Erfolg, nehme ich an.«
»Da liegst du richtig«, gab Vince zurück, und er grinste eher
trübsinnig als gerissen. »Von dem Moment an, wo sich die
Fahrstuhltüren in Denver hinter Cogan schließen, besteht die
Geschichte nur noch aus Schatten, die man nicht zu fassen
bekommt … plus einer Leiche.
Drei der vier Landeplätze waren im April gar nicht in Betrieb,
dort hätte also jemand landen können, ohne dass es einer
bemerkt hätte. Beim vierten wohnte eine Frau namens Maisie
Harrington mit ihrem Vater und rund sechzig Kötern. Sie
behauptete, von Oktober 1979 bis Mai 1980 sei niemand bei
ihnen gelandet, aber sie roch wie eine ganze Schnapsbrennerei,
so dass ich meine Zweifel hatte, ob sie noch wusste, was eine
Woche zuvor passiert war, von anderthalb Jahren ganz zu
schweigen.«
»Und der Vater von dieser Frau?«, fragte Stephanie.

103
»Blind wie ein Maulwurf und nur noch ein Bein«, erklärte
Dave. »Zucker.«
»Oje«, gab sie zurück.
»Ah jo.«
»Legen wir Jack und Maisie Harrington zu den Akten«, sagte
Vince ungeduldig. »Ich habe nie an die Theorie mit dem zweiten
Flugzeug geglaubt, genauso wenig wie an die Theorie mit dem
zweiten Schützen bei Kennedy. Wenn in Denver ein Auto auf
Cogan gewartet hat – und das kann ich mir nicht anders
vorstellen –, dann kann auch eins am General Aviation Terminal
auf ihn gewartet haben. Davon gehe ich aus.«
»Das ist sehr weit hergeholt«, sagte Dave, allerdings nicht
spöttisch, sondern traurig.
»Kann sein«, erwiderte Vince unbeirrt, »aber wenn man das
Unmögliche ausschaltet, ist das, was übrig bleibt … der kleine
Hund, der an der Tür kratzt und reinwill.«
»Cogan könnte auch selbst gefahren sein«, sagte Stephanie
nachdenklich.
»Mit einem Mietwagen?« Dave schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht, mein Mädchen. Autovermietungen
nehmen nur Kreditkarten, das hätte eine Spur hinterlassen.«
»Außerdem«, fügte Vince hinzu, »kannte sich Cogan im Osten
und an der Küste von Maine nicht aus. Soweit wir
herausgefunden haben, war er nie zuvor hier gewesen. Du
kennst die Straßen inzwischen, Steffi: Es gibt nur eine
Hauptstraße, die von Bangor nach Ellsworth führt, aber wenn
man in Ellsworth ist, gibt es drei oder vier Möglichkeiten. Da ist
ein Auswärtiger, selbst wenn er eine Karte hat, schnell
überfordert. Nein, ich glaube, Dave hat Recht. Wenn Colorado
Kid mit dem Auto fahren wollte und vorher wusste, wie klein
sein Zeitfenster sein würde, wird er dafür gesorgt haben, dass

104
ein Fahrer auf ihn wartete. Jemand, der Bargeld brauchte,
schnell fahren konnte und sich nicht verirrte.«
Stephanie dachte kurz nach. Die beiden Männer warteten.
»Das macht insgesamt drei Personen«, sagte sie schließlich.
»Ein Fahrer in Denver, der Pilot im Privatflugzeug und ein
Fahrer hier.«
»Vielleicht sogar noch ein Copilot«, warf Dave schnell ein.
»So sind jedenfalls die Vorschriften.«
»Das ist doch so gut wie unmöglich«, bemerkte sie.
Vince nickte seufzend. »Da widerspreche ich nicht.«
»Ihr habt keinen von denen gefunden, oder?«
»Nein.«
Sie dachte erneut nach, hielt den Kopf gesenkt, ihre sonst so
glatte Stirn war tief gefurcht. Wieder ließen ihr die Männer Zeit,
und nach vielleicht zwei Minuten schaute sie auf. »Aber
warum? Was könnte fur Cogan so wichtig gewesen sein, um
solche Umstände in Kauf zu nehmen?«
Vince Teague und Dave Bowie sahen sich an, dann sagte
Vince: »Na, das ist wirklich eine gute Frage!«
»Eine supergute Frage«, echote Dave.
»Die größte Frage überhaupt«, ergänzte Vince.
»Natürlich«, meinte Dave. »War sie schon immer.«
Dann sagte Vince leise: »Wir wissen es nicht, Stephanie. Wir
haben es nicht herausgefunden.«
Und Dave fügte noch leiser hinzu: »Das würde dem Boston
Globe nicht gefallen. Ganz und gar nicht.«

105
17

»Wir sind natürlich nicht der Boston Globe«, sagte Vince.


»Wir sind nicht mal die Daily News aus Bangor. Aber
Stephanie, wenn ein Erwachsener völlig aus der Spur läuft, dann
sucht jeder Journalist, egal ob in einer Klein- oder Großstadt,
nach einer Erklärung. Es ist unwichtig, ob am Ende die halbe
Picknickgesellschaft der Methodisten vergiftet ist oder ob sich
nur die männliche Hälfte eines Ehepaares eines Wochentags
morgens leise verdrückt und nie wieder lebendig gesehen wird.
Jetzt sag mir mal – ohne dass du bedenkst, wo James Cogan
gelandet ist und wie unwahrscheinlich der Weg dahin ist –, was
es für Gründe geben könnte, aus der Spur zu laufen. Zähle sie
auf! Ich will mindestens vier Finger in der Luft sehen.«
Es gibt wieder Unterricht, dachte Stephanie. Dann fiel ihr
etwas ein, was Vince einen Monat zuvor fast beiläufig gesagt
hatte: Um im Nachrichtengewerbe erfolgreich zu sein, schadet
es nicht, eine schmutzige Phantasie zu haben, mein Mädchen.
Damals hatte sie seine Bemerkung abwegig gefunden, ja sogar
leicht senil. Jetzt meinte sie, seinen Ausspruch besser zu
verstehen.
»Sex«, sagte sie und streckte den linken Zeigefinger aus, den
Finger namens Colorado Kid. »Will sagen: eine andere Frau.«
Der nächste Finger. »Geld – Schulden oder Diebstahl.«
»Vergiss nicht das Finanzamt«, sagte Dave. »Manche Leute
verdrücken sich, wenn sie merken, dass sie Onkel Sam was
schuldig sind.«
»Damit kennt sie sich noch nicht aus, das kann man ihr nicht
vorwerfen«, sagte Vince. »Weiter, Steffi, du machst das gut.«
Sie hatte noch nicht genug Gründe an den Fingern abgezählt,
um ihn zufrieden zu stellen, aber ihr fiel nur noch einer ein.

106
»Der Wunsch, ein neues Leben zu beginnen?«, fragte sie
zaghaft, eher sich selbst als die beiden Männer. »Einfach …
keine Ahnung … alle Brücken hinter sich abzubrechen und als
anderer Mensch an einem anderen Ort noch mal neu
anzufangen?«
Dann fiel ihr doch noch etwas ein: »Wahnsinn?« Jetzt hielt sie
vier Finger hoch: einen für Sex, einen für Geld, einen für
Veränderung, einen für Wahnsinn. Zweifelnd betrachtete sie die
letzten beiden: »Vielleicht sind Veränderung und Wahnsinn
dasselbe?«
»Vielleicht«, entgegnete Vince. »Und man könnte
argumentieren, dass der Begriff ›Wahnsinn‹ alle möglichen
Abhängigkeiten einschließt, vor denen man weglaufen möchte.
Manchmal wird einem ja geraten, aus dem alten Umfeld
wegzuziehen. Ich denke in erster Linie an Drogen und Alkohol.
Auch bei Spielsucht versuchen es die Menschen mit Weglaufen,
aber die fällt ja wohl eher unter den Oberbegriff ›Geld‹.«
»Hatte er Probleme mit Drogen oder Alkohol?«
»Aria Cogan verneinte es, und ich denke, sie hätte es gewusst.
Und da sie sechzehn Monate Zeit hatte und er längst tot war,
glaube ich, dass sie es mir gesagt hätte.«
»Aber, Steffi«, warf Dave vorsichtig ein, »wenn man es recht
bedenkt, muss es schon irgendwas mit Wahnsinn zu tun haben,
meinst du nicht?«
Sie dachte an James Cogan oder Colorado Kid, der tot am
Hammock Beach mit dem Rücken an der Mülltonne leimte, ein
Stück Fleisch in der Kehle, die geschlossenen Augen auf
Tinnock und das Meer gerichtet. Sie dachte daran, dass die
Finger der einen Hand gekrümmt gewesen waren, als umfasse er
noch immer den Rest seines Mitternachtssnacks, ein Stück
Steak, das eine hungrige Möwe ihm zweifellos gestohlen hatte,
so dass nur noch ein klebriges Sandmuster auf der fettigen
Innenfläche seiner Hand zurückgeblieben war. »Ja«, sagte sie.

107
»Irgendetwas hat es mit Wahnsinn zu tun. Wusste sie das? Seine
Frau?«
Die beiden Männer sahen sich an. Vince seufzte und rieb sich
die messerscharfe Nase. »Möglicherweise, aber sie musste sich
um ihr eigenes Leben kümmern, Steffi. Um ihres und das ihres
Sohnes. Wenn ein Mann einfach so verschwindet, hat es die
zurückgelassene Frau verdammt schwer. Sie konnte in ihren
alten Job zurück, bei einer Bank in Boulder, aber das Haus in
Nederland konnte sie nicht halten –«
»Hernando’s Hideaway«, murmelte Stephanie und empfand
Mitleid für die Frau.
»Ah jo, genau das. Sie schlug sich wacker, musste sich nicht
allzu viel Geld von der Familie leihen, von seiner schon gar
nicht, aber sie brauchte so gut wie alle Ersparnisse auf, die sie
für die Ausbildung des kleinen Michael zur Seite gelegt hatten.
Als wir sie trafen, Stephanie, wollte sie meiner Meinung nach
zweierlei: etwas Praktisches und etwas, das man vielleicht …
spirituell nennen könnte.« Skeptisch blickte er Dave an, der mit
den Schultern zuckte und nickte, als wolle er sagen, das Wort
würde schon passen.
Vince nickte ebenfalls und fuhr tort: »Sie wollte die
Ungewissheit loswerden. Lebte er noch oder war er tot? War sie
eine verheiratete Frau oder eine Witwe? Durfte sie die Hoffnung
aufgeben oder weiterhoffen? Vielleicht klingt die letzte Frage
etwas hartherzig, mag sie auch sein, aber ich denke, dass
Hoffnung nach sechzehn Monaten eine verdammt große Last ist,
die schwer auf den Schultern wiegt.
Was das Praktische anging, das war einfach: Sie wollte, dass
die Lebensversicherung zahlt. Ich weiß, dass Aria Cogan nicht
der einzige Mensch auf der Welt ist, der Versicherungen hasst,
aber bei ihr ging das schon ziemlich weit, so abgrundtief war ihr
Hass. Sie hatte sich am Riemen gerissen, war über die Runden
gekommen, zusammen mit Michael in der Drei- oder

108
Vierzimmerwohnung in Boulder, eine beträchtliche Umstellung
nach dem schönen Haus in Nederland, sie musste ihn tagsüber
betreuen lassen, von Babysittern, denen sie nicht unbedingt
vertrauen konnte, sie hatte eine Stelle, die sie eigentlich nicht
mochte, lag nachts allein im Bett, nachdem sie sich jahrelang an
jemanden hatte kuscheln können, machte sich Sorgen über die
Rechnungen, sah immer auf die Tankanzeige, weil Diesel
damals schon teuer war … und die ganze Zeit war sie im
Innersten überzeugt, dass er tot war, aber die Versicherung
wollte nicht zahlen, weil es keine Leiche gab und schon gar
keine Todesursache.
Sie fragte mich immer wieder, ob ›die Schweine‹ – so nannte
sie die Leute von der Versicherung – sich irgendwie
›davonstehlen‹ könnten, ob sie sich mit Selbstmord herausreden
konnten. Ich sagte ihr, dass ich noch nie von jemandem gehört
hätte, der seinen eigenen Erstickungstod mit Hilfe eines Stücks
Fleisch herbeigeführt hätte, und als sie später in Cathcarts
Gegenwart das Totenbild offiziell identifizierte, erklärte er ihr
dasselbe. Das schien ihr ein wenig Ruhe zu verschaffen.
Cathcart legte sich schwer ins Zeug, sagte, er würde den
Versicherungsvertreter in Brighton, Colorado, anrufen und das
mit den Fingerabdrücken und der Identifizierung per Foto
erklären. Er wollte alles niet- und nagelfest machen. Sie musste
ein bisschen weinen – ein wenig aus Erleichterung und aus
Dankbarkeit, ein bisschen vor Erschöpfung, nehme ich an.«
»Ja, sicher«, murmelte Stephanie.
»Ich fuhr mit ihr auf der Fähre nach Moosie und brachte sie im
Red Roof Motel unter«, sagte Vince.
»Da hast du am Anfang auch übernachtet, als du noch neu hier
warst, stimmt’s?«
»Ja«, bestätigte Stephanie. Im vergangenen Monat war sie in
einer Pension untergekommen, wollte sich aber im Oktober nach

109
etwas Festem umsehen. Das hieß, falls diese zwei alten Vögel
sie behalten wollten.
Wovon sie ausging. Sie nahm an, dass dieses Gespräch auch
irgendwie davon handelte.
»Am nächsten Morgen frühstückten wir drei gemeinsam«,
berichtete Dave, »und wie die meisten Menschen, die nichts
Böses getan und nicht viel Erfahrung im Umgang mit Zeitungen
haben, nahm sie kein Blatt vor den Mund. Sie hatte keine
Bedenken, dass irgendetwas von dem, was sie erzählte, später
auf Seite eins auftauchen könnte.« Er hielt inne. »Natürlich
haben wir nur sehr wenig gebracht. Aber es war eh nie die Art
von Story, die als Aufmacher taugt, wenn erst mal die Fakten
berichtet sind: ›Toter an Hammock Beach gefunden, Coroner
sieht keinen Hinweis auf Verbrechen.‹ Und das war damals eh
schon alles kalter Kaffee.«
»Kein Seil zum Festhalten«, warf Stephanie ein.
»Genau!«, rief Dave und lachte dann, bis er husten musste. Er
räusperte sich und wischte sich mit einem großen Paisley-
Taschentuch, das er aus der Gesäßtasche seiner Hose zog, die
Tränen aus den Augen.
»Was hat sie euch gesagt?«, fragte Stephanie.
»Was konnte sie uns sagen?«, entgegnete Vince. »In erster
Linie stellte sie Fragen. Ich fragte sie lediglich, ob der
Tscherwonetz ein Talisman oder ein Souvenir oder sonst was
sei.« Er schnaubte verächtlich. »Ein toller Journalist war ich
damals.«
»Der was?«, fragte Stephanie kopfschüttelnd.
»Die russische Münze in seiner Tasche, beim übrigen
Kleingeld«, sagte Vince. »Das war ein Tscherwonetz, ein Zehn-
Rubel-Stück. Ich fragte Aria, ob ihr Mann ihn als Glücksbringer
oder so was bei sich trüge. Sie hatte keine Ahnung. Jim hätte nie
etwas mit Russland zu tun gehabt, sie hätten sich mal den

110
James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau ausgeliehen, das war
aber auch schon alles.«
»Er könnte die Münze am Strand gefunden haben«, sagte
Stephanie nachdenklich. »Da liegt alles Mögliche herum.« Sie
selbst hatte einmal bei einem Spaziergang an Little Hay Beach,
knapp drei Kilometer von Hammock entfernt, einen
Damenschuh mit hohem Absatz entdeckt, fremdartig
weichgespült vom Meer.
»Kann schon sein, ah jo«, stimmte Vince zu. Er blickte
Stephanie an, seine Augen blitzten in den tiefen Höhlen. »Willst
du wissen, an was ich mich am besten erinnern kann, an dem
Morgen nach ihrem Gespräch mit Cathcart drüben in Tinnock?«
»Ja, sicher.«
»Wie erholt sie aussah. Und an ihren gesunden Appetit, als wir
zusammen frühstückten.«
»Das stimmt«, bestätigte Dave. »Man sagt ja immer, dass ein
zum Tode Verurteilter besonders viel isst, aber ich glaube, dass
keiner mit so viel Appetit isst wie ein Mensch, der in letzter
Minute begnadigt wurde. Und so erging es ihr auf gewisse
Weise. Sie mag nicht gewusst haben, was er bei uns zu suchen
hatte oder was ihm hier widerfuhr, und ihr wurde wohl klar, dass
sie es vielleicht niemals erfahren würde …«
»Das war ihr klar«, stimmte Vince zu. »Das sagte sie mir, als
ich sie zurück zum Flughafen brachte.«
»Aber eins wusste sie, und das war das Wichtigste: Er war tot.
Tief im Innern mochte sie das die ganze Zeit geahnt haben, aber
vom Kopf her brauchte sie einen Beweis, um weitermachen zu
können.«
»Ganz zu schweigen davon, dass sie die verflixte
Versicherung überzeugen musste«, ergänzte Dave.
»Hat sie das Geld wenigstens bekommen?«, wollte Stephanie
wissen.

111
Dave grinste. »Na sicher. Die ließen sich Zeit –
Versicherungen sind ganz schnell dabei, wenn sie einem was
andrehen wollen, aber wenn man Ansprüche geltend machen
will, schalten sie plötzlich auf Schneckentempo. Aber doch,
irgendwann hat sie ihr Geld bekommen. Aria schrieb uns einen
Brief, in dem sie sich für alles bedankte, was wir getan hätten.
Ohne uns, schrieb sie, hätte sie noch immer keine Sicherheit und
die Versicherung würde behaupten, James Cogan könne
genauso gut in Brooklyn oder Tangiers leben.«
»Was für Fragen hat sie euch gestellt?«
»Die zu erwarten waren«, sagte Vince. »Zuerst wollte sie
wissen, wo er hinging, als er von der Fähre stieg. Wir konnten es
ihr nicht sagen. Das haben wir auch viele Leute gefragt,
stimmt’s, Dave?«
Dave Bowie nickte.
»Aber keiner konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben«,
fuhr Vince fort. »Natürlich war es fast stockdunkel, als er von
Bord ging, warum sollte sich also jemand an ihn erinnern? Die
anderen Passagiere – und zu der Jahreszeit waren es nicht viele,
schon gar nicht auf der letzten Fähre – werden direkt zu ihren
Autos auf dem Parkplatz in der Bay Street gegangen sein, den
Kopf eingezogen, weil der Wind vom Meer herüberblies.«
»Sie erkundigte sich nach seiner Brieftasche«, erzählte Dave.
»Wir konnten ihr nur sagen, dass sie nie gefunden wurde …
zumindest wurde sie nie bei der Polizei abgegeben. Es ist
möglich, dass ein Dieb sie ihm auf der Fähre aus der Tasche
stahl, das Geld herausnahm und die Börse über Bord ins Wasser
warf.«
»Es ist auch möglich, dass im Himmel schwer was abgeht,
aber nicht sehr wahrscheinlich«, warf Vince trocken ein. »Wenn
er Geld im Portemonnaie hatte, warum sollte er dann noch mehr
– siebzehn Dollar in Scheinen – in der Hosentasche haben?«
»Für alle Fälle?«, schlug Stephanie vor.

112
»Vielleicht«, willigte Vince ein, »aber das leuchtet mir nicht
ein. Und ehrlich gesagt, finde ich die Vorstellung, dass ein
Taschendieb die Sechs-Uhr-Fähre zwischen Tinnock und
Moosie heimsucht, noch unwahrscheinlicher, als dass ein
Illustrator aus einer Werbeagentur in Denver ein Flugzeug
chartert und damit nach Neuengland fliegt.«
»Wir konnten ihr jedenfalls nicht sagen, wo sein Portemonnaie
war«, schloss Dave, »genauso wenig wussten wir, wo sich sein
Mantel und seine Anzugjacke befanden oder warum er lediglich
in Hemd und Hose draußen am Strand war.«
»Und die Zigaretten?«, fragte Stephanie. »Das hat sie doch
bestimmt interessiert.«
Vince lachte bellend. »›Interessiert‹ ist leicht untertrieben. Die
Zigarettenschachtel machte sie fast wahnsinnig. Sie konnte sich
nicht erklären, warum er Zigaretten dabeihatte. Und sie brauchte
uns nicht zu sagen, dass er nicht zu der Sorte Mensch gehörte,
die eine Zeit lang mit dem Rauchen aufhört und dann wieder
anfängt. Cathcart hatte seine Lunge bei der Obduktion gründlich
untersucht, du wirst bestimmt wissen, warum –«
»Er wollte sichergehen, dass Colorado Kid nicht doch
ertrunken war?«, fragte Stephanie.
»Genau«, sagte Vince. »Wenn Dr. Cathcart Wasser in der
Lunge gefunden hätte, wäre das ein Hinweis gewesen, dass
jemand versucht hatte, die wahre Todesursache von Cogan zu
verschleiern. Zwar noch kein Beweis für einen Mord, aber
sicherlich ein Indiz. Cathcart fand jedoch kein Wasser in Cogans
Lunge und er fand auch keinen Hinweis auf Zigarettenkonsum.
Alles rosa und sauber, sagte er. Doch irgendwo zwischen seinem
Büro und dem Flughafen Stapleton muss Cogan, obwohl er es
unglaublich eilig hatte, den Fahrer gebeten haben anzuhalten,
um sich eine Schachtel zu kaufen. Oder aber er hatte sie von
Anfang an dabei, was ich eher glaube. Vielleicht zusammen mit
der russischen Münze.«

113
»Hast du ihr das gesagt?«, fragte Stephanie.
»Nein«, erwiderte Vince und in dem Moment klingelte das
Telefon. »Entschuldigt mich«, sagte er und hob den Hörer ab.
Das Gespräch dauerte nicht lange, er sagte mehrmals »Ah jo«
und legte dann auf. »Das war Ellen Dunwoodie«, verkündete er
und streckte den Rücken durch.
»Sie ist jetzt bereit, über ihr großes Trauma zu sprechen, weil
sie den Hydranten umgefahren und ›sich zum Affen gemacht
hat‹. Das waren ihre Worte. Ich glaube allerdings nicht, dass sie
in meiner atemberaubenden Schilderung des Zwischenfalls
auftauchen werden. Nun, ich glaube, ich muss gleich mal rüber;
mir die Geschichte anhören, solange Ellen sich noch klar
erinnern kann und bevor es Abendessen gibt. Ich kann von
Glück sagen, dass sie und ihre Schwester immer so spät essen.
Sonst habe ich meistens Pech.«
»Und ich muss mich unbedingt um die Rechnungen
kümmern«, verkündete Dave. »Ich habe das Gefühl, dass da
jetzt zehn mehr liegen als eben, bevor wir zum Grey Gull
aufgebrochen sind. Ich schwöre es: Wenn man sie allein auf
dem Schreibtisch liegen lässt, vermehren sie sich wie die
Karnickel.«
Voller Entsetzen starrte Stephanie die beiden an. »Ihr könnt
doch jetzt nicht aufhören! Ihr könnt mich doch nicht so sitzen
lassen!«
»Wir haben keine Wahl«, gab Vince freundlich zurück. »Wir
sitzen ja auch fest, Steffi, und das seit fünfundzwanzig Jahren.
In dieser Geschichte gibt es keine verlassene
Gemeindesekretärin.«
»Und keine Lichter von Ellsworth, die von den Wolken
reflektiert werden«, fügte Dave hinzu. »Nicht mal einen
Teodore Riponeaux, einen armen alten Seemann, der wegen
eines mutmaßlichen Schatzes umgebracht und dann in seinem
eigenen Blut auf dem Vorderdeck liegen gelassen wird,

114
nachdem die anderen Matrosen über Bord geworfen wurden –
und warum?
Als Warnung an andere Möchtegern-Schatzjäger, du lieber
Himmel! Na, das ist mal ein Seil zum Festhalten, was, mein
Mädchen?«
Dave grinste, doch dann wurde er ernster. »Das alles fehlt im
Fall von Colorado Kid; es gibt keine Schnur, auf die sich die
Perlen fädeln ließen, verstehst du? Ist ja auch kein Sherlock
Holmes oder Ellery Queen da, um sie aufzureihen. Nur zwei alte
Zeitungshasen, die jede Woche rund hundert Meldungen
bringen müssen. Keine davon schlägt große Wellen, verglichen
mit dem Boston Globe, aber trotzdem wollen die Leute auf der
Insel sie lesen. Wo wir gerade dabei sind: Wolltest du nicht mit
Sam Gernerd reden? Damit du alles über seine berühmte
Heuwagenfahrt mit anschließendem Picknick erfährst?«
»Wollte ich … ich bin … natürlich will ich das! Könnt ihr das
glauben? Dass ich tatsächlich mit ihm über dieses blöde Fest
reden will?«
Vince Teague lachte laut los, Dave fiel ein.
»Ah jo«, sagte Vince, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Keine Ahnung, was dein Lehrer an der Journalistenschule
davon halten würde, Steffi, wahrscheinlich würde er weinend
zusammenbrechen, aber ich verstehe das.« Er schaute Dave an.
»Wir verstehen das.«
»Und ich weiß, dass ihr noch zu tun habt, aber ihr müsst doch
gewisse Theorien haben … irgendwelche Hypothesen … nach
so vielen Jahren.« Flehend schaute Stephanie vom einen zum
anderen. »Ich meine, ihr müsst doch …«
Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, und wieder
spürte sie die Telepathie zwischen ihnen, nur dass sie diesmal
nicht wusste, welcher Gedanke transportiert wurde. Dave sah sie
an. »Was genau willst du wirklich wissen, Stephanie? Raus mit
der Sprache!«
115
18

»Glaubt ihr, dass er ermordet wurde?« Das wollte sie eigentlich


wissen. Die beiden hatten Stephanie gebeten, den Gedanken
außen vor zu lassen, und sie hatte gehorcht, aber da das
Gespräch über Colorado Kid nun so gut wie vorbei war, nahm
sie an, dass sie das Thema wieder aufs Tapet bringen durfte.
»Warum hältst du das für wahrscheinlicher als einen
Unfalltod, wenn du alles in Betracht ziehst, was wir dir erzählt
haben?«, wollte Dave wissen. Er klang ehrlich interessiert.
»Wegen der Zigaretten. Die Zigaretten muss er absichtlich
mitgenommen haben. Er wäre nur nicht auf die Idee gekommen,
dass es anderthalb Jahre dauern würde, bis jemand die
Steuermarke aus Colorado entdeckt. Cogan glaubte, dass ein
Toter ohne Papiere Gegenstand einer größeren Ermittlung sein
würde.«
»Ja«, bestätigte Vince. Er sprach mit leiser Stimme, schüttelte
dabei aber die geballte Faust wie ein Zuschauer, der gerade
miterlebt, wie ein Spieler einen wichtigen Spielzug macht oder
einen Superball schlägt.
»Gut, die Kleine. Gut aufgepasst!«
Auch wenn Stephanie erst zweiundzwanzig war, gab es
Menschen, denen sie übel genommen hätte, von ihnen so
genannt zu werden. Dieser Neunzigjährige mit dem schütteren
weißen Haar, dem schmalen Gesicht und den durchdringenden
blauen Augen gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil wurde sie
rot vor Freude.
»Cogan konnte nicht wissen, dass er an zwei Hohlköpfe wie
O’Shanny und Morrison geraten würde«, sagte Dave. »Er
konnte nicht wissen, dass er auf einen Studenten angewiesen
sein würde, der in den vergangenen Monaten lediglich

116
Aktentaschen geschleppt und Kaffee geholt hatte, ganz zu
schweigen von den beiden Opis von der Wochenzeitung, die
nicht viel mehr als eine Supermarktbeilage war.«
»Jetzt mal vorsichtig, Bruder«, sagte Vince. »Da muss ich
widersprechen.« Er hob die Fäuste.
»Es hat doch noch geklappt«, sagte Stephanie. »Letztendlich
hat er es geschafft.« Dann dachte sie an die Frau und den
kleinen Michael, der inzwischen Mitte zwanzig sein musste.
»Seine Frau auch. Ohne Paul Devane und euch hätte Aria Cogan
niemals Geld von der Versicherung bekommen.«
»Das stimmt«, willigte Vince ein. Stephanie fand es niedlich,
dass es ihm irgendwie unangenehm war. Nicht dass er Erfolg
gehabt hatte, sondern dass es jemand wusste. Hier draußen gab
es Internet, auf so gut wie jedem Haus stand eine
Satellitenschüssel, kein Fischerboot fuhr ohne GPS aus dem
Hafen, und doch hielten sich die alten calvinistischen
Überzeugungen hartnäckig in den Köpfen: Lass deine linke
Hand nicht wissen, was die rechte tut.
»Was genau glaubst du, dass passiert ist?«, fragte sie.
»Nein, Steffi«, sagte Vince freundlich, aber entschieden. »Du
rechnest immer noch damit, dass gleich Nero Wolfe oder Ellery
Queen Arm in Arm mit Miss Marple aus dem Schrank getanzt
kommen. Wenn wir wüssten, was passiert ist, wenn wir nur die
geringste Ahnung hätten, dann hätten wir nicht lockergelassen.
Scheiß auf den Boston Globe, dann hätten wir die Geschichte
auf der Titelseite des Islander gebracht. Wir mögen 1981 kleine
Journalisten gewesen sein und sind jetzt vielleicht kleine alte
Journalisten, aber wir sind keine toten Journalisten. Eine gute
Story macht mir immer noch Spaß!«
»Mir auch«, versicherte Dave. Er war aufgestanden,
wahrscheinlich in Gedanken bei den Rechnungen, hockte aber
nun auf der Schreibtischkante und schwang das Bein. »Ich habe
immer davon geträumt, dass wir eine Story entdecken, die in

117
ganz Amerika gedruckt wird, aber den Traum werde ich wohl
mit ins Grab nehmen. Los, Vince, sag ihr, was du glaubst. Sie
erzählt es nicht weiter. Sie ist jetzt eine von uns.«
Stephanie erschauderte vor Freude, ungewollt, aber Vince
Teague schien es nicht zu bemerken. Er beugte sich vor und sah
ihr in die hellblauen Augen. Seine Pupillen waren dunkler, von
der Farbe des Meeres an einem sonnigen Tag.
»Na gut«, sagte er. »Schon lange vor der Sache mit der
Steuermarke fand ich, dass irgendetwas an seinem Tod und an
der Art, wie Cogan hergekommen war, merkwürdig sei. Als ich
erfuhr, dass er eine Schachtel Zigaretten dabeihatte, in der nur
eine fehlte, obwohl er seit spätestens halb sieben auf der Insel
war, begann ich, mir Fragen zu stellen. Den Leuten bei Bayside
News bin ich richtig auf die Nerven gegangen.«
Vince grinste bei der Erinnerung.
»Jedem im Laden habe ich Cogans Bild gezeigt, selbst dem
Jungen, der da fegt. Ich war überzeugt, dass Cogan die Packung
dort gekauft hatte, sofern er sie nicht an einem Automaten in
einem Laden wie dem Red Roof, dem Shuffle Inn oder Sonny’s
Sonoco gezogen hatte. Damals nahm ich an, dass seine Packung
leer war und er sich eine neue besorgte. Ich ging davon aus, dass
er sie um kurz vor elf Uhr bei Bayside News gekauft haben
musste, denn um elf machen die zu. Das hätte erklärt, warum er
vor seinem Tod nur eine geraucht und nur ein Streichholz
entzündet hatte.«
»Bis du erfahren hast, dass er Nichtraucher war«, sagte
Stephanie.
»Genau. Cathcart bestätigte das. Langsam kam ich zu der
Überzeugung, dass die Zigarettenschachtel eine Botschaft war:
Ich komme aus Colorado, sucht mich dort.«
»Das werden wir nie mit Sicherheit wissen, aber wir glauben
beide, dass es so war«, erklärte Dave.

118
»Allmächtiger Himmel«, sagte Stephanie fast flüsternd. »Und,
was bringt euch das?«
Wieder schauten sich die Männer an und zuckten gleichzeitig
mit den Schultern. »Nichts als Phantasie und Schneegestöber«,
sagte Vince. »Kaum geeignet für einen Reporter vom Boston
Globe. Aber es gibt ein paar Dinge, von denen ich völlig
überzeugt bin. Willst du sie hören?«
»Ja, sicher!«
Vince sprach nun langsam und überlegt, wie ein Mann, der
sich durch einen dunklen Tunnel tastet, den er schon oft
gegangen ist.
»Cogan wusste, dass er sich in einer so gut wie ausweglosen
Situation befand und im Todesfalle nicht identifiziert werden
könnte. Das wollte er nicht, wahrscheinlich weil er seine Frau
nicht mittellos zurücklassen wollte.«
»Deshalb kaufte er sich die Zigaretten in der Hoffnung, dass es
keinem auffallen würde«, sagte Stephanie.
Vince nickte. »Ah jo, und es funktionierte.«
»Aber wer war derjenige, dem es nicht auffallen sollte?«
Vince dachte nach, dann fuhr er fort, ohne auf Stephanies
Einwand einzugehen. »Er fuhr mit dem Aufzug nach unten,
verließ das Gebäude. Draußen wartete ein Auto auf ihn, das ihn
zum Flughafen Stapleton brachte. Entweder stand es direkt vor
dem Bürogebäude oder um die Ecke. Vielleicht saßen nur er und
der Fahrer drin, es kann aber auch ein Dritter dabei gewesen
sein. Das werden wir nie erfahren. Du hast eben gefragt, ob
Cogan seinen Mantel trug, als er das Büro verließ, und ich sagte
dir, dass George, der Zeichner, sich nicht erinnern konnte, aber
Aria erwähnte, sie hätte den Mantel nie wieder gesehen, also
trug er ihn vielleicht. Wenn ja, dann hat er ihn im Wagen oder
im Flugzeug ausgezogen. Ich glaube, er hat auch die
Anzugjacke abgelegt. Entweder gab ihm jemand stattdessen die
grüne Jacke oder sie lag schon für ihn bereit.«
119
»Im Auto oder im Flugzeug.«
»Ah jo«, sagte Dave.
»Und die Zigaretten?«
»Weiß ich nicht genau, aber wenn ich wetten müsste, würde
ich sagen, er hatte sie bereits dabei«, sagte Dave.
»Er wusste, was passieren würde … Ich nehme an, er hatte sie
in der Hosentasche.«
»Später dann, am Strand …« Stephanie hatte Cogan vor
Augen, ihre persönliche Vorstellung von Colorado Kid, der sich
die erste Zigarette seines Lebens anzündet – seine erste und
letzte – und dann am Hammock Beach zum Wasser
hinunterschlendert, allein im Mondlicht. Im mitternächtlichen
Mondenschein. Er zieht den kratzigen, ungewohnten Rauch ein,
einmal, vielleicht zweimal. Dann wirft er die Zigarette ins Meer.
Und dann …?
Ja, was dann?
»Das Flugzeug setzte ihn in Bangor ab«, hörte sie sich mit
einer Stimme sagen, die in ihren Ohren ebenfalls kratzig und
ungewohnt klang.
»Ah jo«, stimmte Dave zu.
»Und jemand fuhr ihn von Bangor nach Tinnock.«
»Ah jo.« Diesmal Vince.
»Dann aß er Fish and Chips.«
»Genau«, bestätigte Vince. »Das bewies die Obduktion. Und
meine Nase. Ich habe den Essig selbst gerochen.«
»Hatte er da noch sein Portemonnaie?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Dave, »aber ich glaube nicht.
Ich denke, er gab es mit seinem Mantel, der Anzugjacke und
seinem bisherigen Leben ab. Dafür bekam er die grüne Jacke,
von der er sich ebenfalls später trennte.«
»Oder die der Leiche gestohlen wurde«, sagte Vince.

120
Stephanie erschauderte, sie konnte es nicht verhindern. »Er
fährt mit der Sechs-Uhr-Fähre rüber nach Moose-Lookit Island,
bringt Gard Edwick einen Pappbecher mit Kaffee – wie in dem
Lied Tea for the Tillerman.«
»Ja«, sagte Dave. Er schaute feierlich drein.
»Da hat er bereits kein Portemonnaie und keinen Ausweis
mehr dabei, nur noch siebzehn Dollar und etwas Kleingeld,
unter anderem eine russische Zehn-Rubel-Münze. Meint ihr, das
Geldstück könnte vielleicht … keine Ahnung … irgendeine Art
Erkennungszeichen sein, wie in einem Spionageroman? Ich
meine, damals herrschte doch noch der Kalte Krieg zwischen
der Sowjetunion und Amerika, nicht?«
»Und wie!«, bestätigte Vince. »Aber Steffi, wenn dir ein
Austausch mit einem russischen Geheimagent bevorstände,
würdest du dich dann mit einem Rubel zu erkennen geben?«
»Nein«, gestand sie. »Aber warum sollte er ihn sonst bei sich
gehabt haben? Um ihn jemandem zu zeigen, was Besseres fällt
mir nicht ein.«
»Ich hatte immer das Gefühl, dass er ihn geschenkt bekam«,
sagte Dave. »Vielleicht zusammen mit dem kalten Steak, in
Alufolie gewickelt.«
»Warum?«, fragte sie. »Wer sollte das tun?«
Dave schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Hat man am Tatort Alufolie gefunden? Vielleicht im Seegras
am Ende des Strandes?«
»O’Shanny und Morrison haben mit Sicherheit nicht
nachgesehen«, sagte Dave. »Vince und ich haben den ganzen
Strand abgesucht, nachdem das Absperrband entfernt war. Wir
suchten nicht ausdrücklich Alufolie, verstehst du, sondern
irgendetwas, das aussah, als würde es mit dem Toten in
Verbindung stehen, was auch immer. Wir fanden nur den
üblichen Müll, Bonbonpapier und so.«

121
»Wenn das Fleisch in Folie gewickelt oder in einem Beutel
war, ist es ebenso gut möglich, dass Colorado Kid es zusammen
mit der Zigarette ins Wasser warf«, sagte Vince.
»Und das Stück Fleisch in seinem Hals …«
Vince grinste schwach. »Ich habe mich mehrmals lange
sowohl mit Doc Robinson als auch mit Dr. Cathcart über das
Fleisch unterhalten. Dave war ein paar Mal dabei. Ich weiß
noch, was Cathcart einmal zu mir sagte. Das kann höchstens
einen Monat vor seinem Herzinfarkt gewesen sein, der ihm vor
sechs oder sieben Jahren das Leben nahm. Er sagte: ›Ihnen lässt
die alte Geschichte einfach keine Ruhe. Sie kommen immer
wieder darauf zurück, so wie ein Kind, dem ein Zahn
ausgefallen ist und das unablässig mit der Zunge in dem Loch
herumbohrt.‹ Und ich dachte, jawohl, genau so ist es, so fühlt es
sich an. Es ist wie ein Loch, an dem ich herumbohren muss, weil
ich bis zum Grund vordringen will.
Zuerst wollte ich wissen, ob das Stück Fleisch Cogan nach
seinem Tod in den Hals geschoben worden sein könnte, mit den
Fingern oder mit einem Werkzeug wie beispielsweise einer
Hummergabel. Die Frage ist dir auch schon durch den Kopf
gegangen, nicht wahr?«
Stephanie nickte.
»Cathcart meinte, es sei möglich, aber unwahrscheinlich, weil
das Fleisch nicht nur zerkaut war, sondern schon so weit
zerkleinert, dass es geschluckt werden konnte. Es war kein
richtiges Fleisch mehr, sondern ein ›organischer Brei‹, wie
Cathcart sich ausdrückte. Jemand anders hätte es vorkauen
können, aber es ist unwahrscheinlich, dass er es Cogan danach
in den Hals stopfte, denn dann hätte es nicht so ausgesehen, als
sei er daran erstickt. Kannst du mir folgen?«
Sie nickte erneut.
»Außerdem meinte Cathcart, dass zu Brei gekautes Fleisch
kaum mit einem Instrument zu bewegen sei. Wenn man es aus

122
dem Mund in die Kehle schieben wollte, würde es sich auflösen.
Mit dem Finger würde es gehen, aber Cathcart meinte, wenn es
so gewesen wäre, hätte es Indizien dafür gegeben, am ehesten
gedehnte Bänder im Kiefer.« Vince hielt inne, dachte nach,
schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Fachausdruck für dieses
Kieferausrenken, aber ich habe ihn vergessen.«
»Erzähl ihr, was Robinson dir gesagt hat«, forderte Dave ihn
auf. Seine Augen leuchteten. »Letzten Endes hat es nicht mehr
gebracht als der Rest, aber ich fand es ungemein interessant.«
»Robinson meinte, es gebe bestimmte Muskelrelaxanzien,
einige seien ganz selten, mit denen Cogans Mitternachtsimbiss
hätte versetzt sein können«, sagte Vince. »Vielleicht bekam er
die ersten Bissen gut runter, in seinem Magen war schließlich
etwas verdautes Fleisch, und beim letzten Bissen merkte er
plötzlich, dass er nicht mehr schlucken konnte.«
»Das muss es gewesen sein!«, rief Stephanie. »Jemand hat das
Fleisch vergiftet und sah zu, wie er erstickte! Als Cogan tot war,
lehnte ihn der Mörder gegen die Mülltonne und nahm den Rest
vom Steak mit, damit es nicht untersucht werden konnte! Es war
gar keine Möwe! Es …« Sie unterbrach sich, schaute die beiden
an. »Warum schüttelt ihr den Kopf?«
»Wegen der Obduktion, mein Mädchen«, antwortete Vince.
»Es fand sich nichts dergleichen bei der Gaschromatographie.«
»Aber wenn es ein richtig seltenes Gift war …«
»So wie bei Agatha Christie?«, fragte Vince mit einem
Zwinkern und lächelte. »Nun, vielleicht … aber vergessen wir
nicht das Stück Fleisch in seinem Hals.«
»Ach ja, natürlich. Dr. Cathcart hat es untersucht, nicht
wahr?« Stephanie sackte in sich zusammen.
»Ah jo«, stimmte Vince zu. »Hat er. Auch wenn wir am Ende
der Welt leben, haben wir durchaus dunkle Gedanken. An dem
zerkauten Fleisch war keinerlei Gift, nur ein bisschen Salz.«

123
Kurz schwieg Stephanie. Dann sagte sie mit leiser Stimme:
»Vielleicht war es ein Gift, das sich auflöst.«
»Ah jo«, machte Dave und schob die Zunge in die Wange.
»Wie die Lichter an der Küste nach ein, zwei Stunden.«
»Oder die restliche Crew der Lisa Cabot«, fügte Vince hinzu.
»Nach der Überfahrt mit der Fähre hat ihn keiner mehr
gesehen.«
»Nein«, bestätigte Vince. »Wir haben fünfundzwanzig Jahre
lang gesucht und nie eine Menschenseele gefunden, die
behauptet hat, ihn vor Johnny und Nancy gegen Viertel nach
sechs am Morgen des 24. April gesehen zu haben. Und nur fürs
Protokoll – nicht dass einer eins führt –, aber ich glaube nicht,
dass jemand das restliche Steak stahl, nachdem Cogan am
letzten Bissen erstickt war. Ich glaube, dass eine Möwe den Rest
aus seiner leblosen Hand stibitzte, genau wie wir immer
vermutet haben. Mensch noch mal, ich muss mich wirklich
beeilen!«
»Und ich muss mit diesen Rechnungen weitermachen«, sagte
Dave. »Aber zuerst ist wohl ein kleiner Abstecher zur Toilette
angesagt.« Mit diesen Worten bewegte er sich gen WC.
»Ich denke, ich muss an meiner Kolumne arbeiten«, sagte
Stephanie. Dann kam es halb lachend, halb ernst aus ihr heraus:
»Fast wäre mir lieber, wenn ihr mir nie davon erzählt hättet, wo
ihr mich jetzt so hängen lasst! Das wird mir noch wochenlang
im Kopf herumgeistern!«
»Es ist fünfundzwanzig Jahre her und geistert uns immer noch
durch den Kopf«, gab Vince zurück. »Jetzt weißt du wenigstens,
warum wir es nicht dem Typen vom Globe erzählt haben.«
»Ja. Auf jeden Fall.«
Lächelnd nickte er. »Du machst das gut, Stephanie.
Du wirst schon zurechtkommen.« Er klopfte ihr herzlich auf
die Schulter und steuerte dann auf die Tür zu, nahm im

124
Vorbeigehen das schmale Notizbuch von seinem überfüllten
Schreibtisch und stopfte es sich in die Gesäßtasche. Er war
neunzig und hatte noch immer einen federnden Schritt. Sein
Rücken war vom Alter nur leicht gebeugt. Er trug ein weißes
Businesshemd, auf dessen Rücken sich die Hosenträger
kreuzten. Mitten im Raum hielt er inne und drehte sich zu
Stephanie um. Ein Sonnenstrahl fing sich in seinem feinen
weißen Haar und ließ es wie einen Heiligenschein leuchten.
»Es war wirklich schön, dich hier zu haben«, sagte er.
»Ich möchte, dass du das weißt.«
»Danke.« Sie hoffte, dass man ihrer Stimme nicht anmerkte,
wie nah sie den Tränen war. »Es war herrlich … anfangs hatte
ich so meine Zweifel, aber … aber jetzt kann ich das
Kompliment zurückgeben. Es macht wirklich Spaß, hier zu
sein.«
»Hast du dir mal überlegt zu bleiben? Bestimmt, oder?«
»Ja. Kannst du mir glauben.«
Er nickte ernst. »Dave und ich haben darüber gesprochen. Es
wäre gut, frisches Blut in der Redaktion zu haben! Junges Blut.«
»Ihr beiden macht das doch noch jahrelang«, sagte sie.
»Ja, natürlich«, erwiderte er leichthin, als sei das
selbstverständlich, und als er sechs Monate später starb, saß
Stephanie in der kalten Kirche, machte in ihrem eigenen
schmalen Büchlein Notizen über den Gottesdienst und dachte:
Er sah es kommen. »Ich mache noch jahrelang weiter.
Trotzdem, wenn du bleiben willst, wir würden dich gerne
nehmen. Du musst dich jetzt noch nicht entscheiden, es ist nur
ein Angebot.«
»Gut, ich denke drüber nach. Wir wissen, glaube ich, beide,
wie die Antwort ausfallen wird.«
»Das freut mich.« Er wollte gehen, drehte sich aber noch
einmal um. »Der Unterricht für heute ist so gut wie beendet,

125
aber eines könnte ich dir noch über unsere Arbeit verraten. Darf
ich?«
»Natürlich.«
»Es gibt tausende von Zeitungen und zehntausende von
Menschen, die für sie schreiben, aber es gibt nur zwei Sorten
von Berichten. Das eine sind Meldungen. Das sind gar keine
richtigen Geschichten, sondern schlicht Wiedergabe von Fakten.
Sie brauchen auch gar keine Geschichten zu sein. Die Leute
kaufen eine Zeitung, weil sie von Blut und Tränen lesen wollen,
so wie sie bei einem Unfall auf der Autobahn langsamer fahren,
um alles sehen zu können, und anschließend geht’s weiter. Aber
was finden sie in der Zeitung?«
»Reportagen«, sagte Stephanie und dachte an Hanratty und
seine ungelösten Rätsel.
»Ah jo. Das sind richtige Geschichten. Jede hat einen Anfang,
eine Mitte und ein Ende. Deshalb sind es gute Nachrichten,
Steffi, deshalb sind sie gut. Selbst wenn sie von einer Sekretärin
handeln, die wahrscheinlich die halbe Gemeinde beim Picknick
umgebracht hat, weil ihr Geliebter sie sitzen ließ, sind es gute
Nachrichten. Weißt du, warum?«
»Keine Ahnung.«
»Wäre aber besser«, sagte Dave, der gerade von der Toilette
kam und sich die Hände an einem Papiertuch abtrocknete. »Das
solltest du wissen, wenn du in diesem Geschäft arbeiten und
verstehen willst, was du tust.« Er warf das Tuch in seinen
Papierkorb.
Stephanie dachte nach. »Reportagen sind gute Geschichten,
weil sie vorbei sind.«
»Stimmt!«, rief Vince strahlend. Er warf die Hände in die Luft
wie ein Erweckungsprediger. »Sie haben einen Schluss! Sie sind
gelöst! Aber im richtigen Leben, Stephanie, haben die Dinge da
auch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende? Was sagt dir deine
Erfahrung?«
126
»Was das Schreiben angeht, habe ich nicht viel Erfahrung«,
sagte sie. »Nur an der Uni und diese Kolumne hier.«
Vince winkte abwehrend mit der Hand. »Dein Herz, was sagt
dir das?«
»Dass es im Leben meistens nicht so ist.« Sie dachte an einen
jungen Mann, um den sie sich kümmern musste, falls sie sich
entschied, über die Praktikumszeit von vier Monaten hier zu
bleiben … das könnte unangenehm werden. Würde es sogar
ziemlich sicher. Rick würde die Nachricht nicht positiv
aufnehmen, denn in Ricks Kopf sollte die Geschichte eigentlich
anders weitergehen.
»Ich habe noch keine Reportage gelesen, in der nicht
irgendwas gelogen war«, sagte Vince milde, »aber meistens
reichen sie für den Innenteil. Mit dieser Geschichte würde das
nicht gehen. Es sei denn …« Er zuckte leicht mit den Schultern.
Einen Moment lang wusste Stephanie nicht, was dieses
Schulterzucken zu bedeuten hatte. Dann fiel ihr ein, was Dave
gesagt hatte, kurz nachdem sie sich draußen auf die Veranda in
den späten Augustsonnenschein gesetzt hatten. Sie gehört uns,
hatte er gesagt, und es klang trotzig. Ein Typ vom Globe, einer,
der nicht von hier kommt, der würde sie nur vermasseln.
»Wenn ihr sie Hanratty erzählt hättet, hätte er sie verwendet,
stimmt’s?«, fragte Stephanie.
»Wir hätten es nicht verbieten können, sie gehört uns ja nicht«,
erwiderte Vince. »Sie gehört dem, der sie findet.«
Leicht lächelnd schüttelte Stephanie den Kopf. »Das ist
Haarspalterei. Du und Dave, ihr seid die Letzten, die die ganze
Geschichte kennen.«
»Waren wir«, entgegnete Dave. »Jetzt gehörst du auch dazu,
Steffi.«
Sie nickte, bedankte sich für das stille Kompliment, dann
wandte sie sich mit erhobenen Augenbrauen Vince Teague zu.

127
Nach ein paar Sekunden fing er an zu schmunzeln.
»Wir haben ihm nicht von Colorado Kid erzählt, weil er aus
einem echten ungelösten Rätsel eine Reportage wie jede andere
gemacht hätte«, erklärte Vince.
»Nicht dass er die Fakten falsch wiedergegeben hätte, aber er
hätte hier was hervorgehoben – sagen wir mal, die Idee mit dem
Muskelrelaxans, das das Schlucken so gut wie unmöglich macht
– und an anderer Stelle etwas ausgelassen.«
»Beispielsweise, dass es nirgends auch nur den geringsten
Anhaltspunkt dafür gibt«, warf Stephanie ein.
»Ah jo, vielleicht das, vielleicht etwas anderes. Kann auch
sein, dass er sich was zurechtgebastelt hätte, einfach weil man
sich angewöhnt, aus Fakten, die nicht für eine Geschichte
reichen, irgendwas zusammenzuflicken, wenn man eine Weile
in diesem Geschäft ist, oder weil sein Redakteur ihm die
Geschichte zum Umschreiben zurückgegeben hätte.«
»Notfalls hätte es der Redakteur auch selbst gemacht, wenn
nicht viel Zeit gewesen wäre«, ergänzte Dave.
»Genau, so was soll schon vorgekommen sein«, stimmte
Vince zu. »Jedenfalls wäre Colorado Kid Folge sieben oder acht
in Hanrattys Reihe über Ungelöste Rätsel Neuenglands
geworden, die Leute hätten am Sonntag eine Viertelstunde über
die Geschichte gestaunt und am Montag damit ihre Katzenklos
ausgelegt.«
»Und sie hätte nicht mehr euch gehört«, fügte Stephanie hinzu.
Dave nickte, aber Vince wedelte abweisend mit der Hand.
»Damit könnte ich mich abfinden, aber man hätte einem Toten,
der sich nicht mehr wehren kann, eine Lüge um den Hals
gehängt, und das kann ich nicht ertragen. Muss ich auch nicht.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich mach mich jetzt jedenfalls
auf den Weg. Wer von euch als Letztes geht, schließt hinter sich
ab, ja?«

128
Vince ging. Sie sahen ihm nach, dann sagte Dave zu
Stephanie: »Noch Fragen, Euer Ehren?«
Sie lachte. »Mindestens hundert, aber die können Vince und
du wohl nicht beantworten.«
»Solange du nicht müde wirst, sie auch zu stellen, ist das kein
Problem.« Er schlenderte zu seinem Tisch, setzte sich und zog
seufzend einen Papierstapel zu sich heran. Stephanie steuerte auf
ihren Tisch zu, doch da entdeckte sie etwas am schwarzen Brett
am anderen Ende des Raumes, gegenüber von Vince’
überfülltem Schreibtisch. Sie trat näher.
Das schwarze Brett zog sich über die gesamte Wand. An der
linken Seite hingen alte Titelblätter des Islander, vergilbt und
knittrig. Oben in der Ecke klebte einsam der Titel vom 9. Juli
1951. Die Schlagzeile lautete: GEHEIMNISVOLLE LICHTER
ÜBER HANCOCK FASZINIEREN TAUSENDE. Darunter war
ein Foto von einem gewissen Vincent Teague, der damals erst
siebenunddreißig gewesen sein durfte, wie Stephanie errechnete.
Auf dem gewellten Schwarzweißbild war ein Baseballfeld mit
einer Anzeigentafel zu sehen, auf der stand: HANCOCK
LUMBER WEISS WIE ES STEHT! Auf Stephanie wirkte das
Bild, als sei es in der Dämmerung geschossen. Die wenigen
Erwachsenen auf der durchhängenden Tribüne schauten hoch in
den Himmel. Ebenso der Schiedsrichter, der breitbeinig über der
Home Plate stand, den Helm in der rechten Hand. Eine
Mannschaft – die Gäste, nahm sie an – drängte sich um die dritte
Base, als suchte sie Trost. Die anderen Kinder in Jeans und
Trikots, auf deren Rücken HANCOCK LUMBER gedruckt war,
standen in einer Reihe im Innenfeld und starrten in den Himmel.
Auf dem Wurfhügel wies der kleine Junge, der geworfen hatte,
mit seinem Handschuh auf einen hellen Kreis, der direkt unter
den Wolken am Himmel schwebte, als wolle er das Geheimnis
berühren und heranholen, ihm das Herz öffnen und seine
Geschichte erfahren.

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