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W.

Cernoch, Ausschnitt aus:


Spaltung und Fügung, 4. Abschnitt, 2. Kapitel,
d) Die Konstitution der Zahl als Gegenstand der Arithmetik
als Formalwissenschaft

Kant rechnet hier [Axiome der Anschauung] mit dem Zahlbegriff, ohne die
Konstitution des Zahlbegriffes als ein Element der Reihe natürlicher Zahlen
bislang vorgezeigt zu haben. Die Unterscheidung zwischen Geometrie und
Arithmetik ist allerdings richtig, wenngleich auch beide beanspruchen, sowohl
für sich widerspruchsfrei möglich zu sein wie aufeinander beziehbare
Operationen (Abbildbarkeit von Mengen) zu erlauben. Vielleicht läßt sich
diese Unterscheidung dazu benutzen, um anhand des sowohl geometrisch wie
arithmetisch bedeutsamen Beispiels der sukzessive zu ziehenden Linie auch
den Unterschied vom Begriff der Anzahl (Element und Menge) zum Begriff
der Zahl (Element, Teilmenge und Menge) deutlicher zu machen, ohne auf die
Totalität Bezug zu nehmen, deren Einschränkung bislang die Vorbedingung
war, um von Allheit als Bedingung für die Konstitution des Zahlbegriffs zu
reden.

Kant scheint es dem Interpreten zu überlassen, diesen von ihm selbst nunmehr
zwischen quantaund quantitas deutlich genug gemachten Unterschied
dahingehend zu präzisieren, daß die bisherigen Darstellungen zum
arithmetischen Schema eben noch nicht zureichen, den Begriff der Zahl als
Element der Reihe der natürlichen Zahlen zu denken. B 205 enthält zwei sehr
wesentliche Aussagen. Die eine wurde in H1 gestrichen, die zweite beschränkt
sich darauf, daß die allgemeine Regel zur Konstruktion eines Dreiecks in
reiner Anschauung unendlich viele endliche (konkrete) Lösungsmöglichkeiten
besitzt, »dagegen ist die Zahl 7 nur auf eine einzige Art möglich, und auch die
Zahl 12, die durch die Synthesis der ersteren mit 5 erzeugt wird.« Da laufen
Kant verschiedene Argumentationen durcheinander: Zwar ist richtig, daß die
Zahl 7 oder die Zahl 12 gerade als Elemente der Reihe der natürlichen Zahlen
nur auf eine Weise erzeugt werden können (eben zum Unterschied zu der
Vielheit der möglichen Gegenstände der reinen Anschauung eines Begriffes
von einer geometrischen Figur — hier als Beispiel des allgemeinen Begriffs
vom Dreieck), doch ist es weder richtig, die konkret unbestimmte Regel der
Konstruktion eines Dreiecks in reiner Anschauung mit der Addition
natürlicher Zahlen zu vergleichen (eher noch mit algebraischen Operationen
wäre verständlich, aber genauso falsch), noch ist es richtig, daß additiv im
Sinne der arithmetischen Operation von Addition die Zahl 12 nur durch die

1 H: Textemendationen in Kants Handexemplar von A. Kants gesammelte Schriften. Hrsg.


v. d. Dtsch. Akademie der Wissenschaften in Berlin, Bd. XXIII. Dritte Abtl.
Handschriftlicher Nachlaß Zehnter Band, Berlin 1955, p. 43-50.
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Zahlen 7 und 5 erzeugt werden kann. Richtig ist allerdings, daß in gleichem
Sinne die Zahl 7 oder 5 (obgleich Primzahlen, das betrifft diese allerdings nur
als Produkt) jeweils nur auf eine Weise als Summanden (als Summanden der
Zahl 12) zu betrachten sind. So wäre zwar das zwölfte Element einer
reproduktiv festgehaltenen Reihe von Erscheinungen auch das zwölfte
Element der jeweils die Erscheinung festhaltende Reihe von produzierten
Vorstellungen, nur wäre weder die Erscheinung noch die Vorstellung eine
Zahl, sondern reflektiert selbst nur das soundsovielte Element ihrer Reihe. Zur
Konstitution des Begriffs einer bestimmten Zahl (und nicht bloß des Begriffs
einer Anzahl) kommt Kant so aber eben nicht. Auch wenn Kant die
Notwendigkeit demonstrieren kann, daß 7 und 5 die Zahl Zwölf ergeben, und
so eine Analogie zum Konstruktionsbegriff in der reinen Geometrie aufweist,
gelangt er derart nicht zur einer durchgängigen Konstruktion a priori der
natürlichen Zahlenreihe.

Nun zur in H gestrichenen Stelle: »Das 7+5=12 sei, ist kein analytischer Satz«
Allein das zeigt schon, daß Kant eigentlich nicht mit Zahlen der Reihe
natürlicher Zahlen rechnet, denn ansonsten wäre dies zweifelos ein
analytischer Satz. D.h. aber auch, daß Kant hier bereits ein entsprechendes
Problembewußtsein besessen haben muß: nur wenn die Zahlen 7, 5 und 12
zuvor als Elemente der Reihe natürlicher Zahlen bekannt sind, dann sind auch
die Regel der Addition bereits analytisch. »Denn ich denke weder in der
Vorstellung von 7, noch in der Vorstellung von 5, noch in der Vorstellung von
der Zusammensetzung beider die Zahl 12 (daß ich diese in der
Addition beider denken solle, davon ist hier nicht die Rede; denn bei dem
analytischen Satze ist nur die Frage, ob ich das Prädikat wirklich in der
Vorstellung des Subjekts denke).« (Hervorhebung von Kant)

Daß mit der Vorstellung von 7 (warum setzt Kant hier nicht den Begriff der
Zahl voran?) oder von 5 noch nicht die Zahl 12 gedacht wird, ist offensichtlich,
warum aber meint Kant, daß mit der Zusammensetzung beider nicht die »Zahl
12« gedacht werde? Kant gibt in der Klammer die Antwort: weil die bloße
Zusammensetzung noch nicht angibt, daß damit eine Addition erfolgen solle.
Das kann aber nur bedeuten, daß zwar die Zusammensetzung als Hinzusetzung
von einem Element (hier dem Fünften) und einem weiteren Element (hier dem
Siebten) Abzählbarkeit der Teile im Subjektbegriff impliziert (so eben bloß als
zwei Elemente), aber eben noch nicht die Operation der Addition im
arithmetischen Sinn ausmacht. Die fragliche eigentümliche Synthesis der
Arithmetik als Grundlage deren Formalwissenschaft vermag Kant also in
qualitativer Unterscheidung zur Geometrie als Formalwissenschaft noch zu
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exponieren, ohne den Unterschied von Zusammensetzung und arithmetischer


Addition selbst weiter erklären zu können. Kant kommt über die Ordinalzahl
als Begriff der Abzählbarkeit (Anzahl) nicht wirklich hinaus, sondern vermag
diese zwar als Voraussetzung zur arithmetischen Addition vorzustellen,
dieselbe aber nur mit dem Gegensatz zur Abzählbarkeit negativ zu
kennzeichnen. Trotzdem ist zu sagen, daß er deutlich diesen Unterschied
gekennzeichnet hat, indem er jede arithmetischen Operation (vorgeführt am
Beispiel der Addition) als synthetische Zahlenformel behauptet hat. Damit hat
Kant für die Arithmetik aber folgende Situation charakterisiert: Es gibt die
Reihe der abzählbaren Elemente einer Reihe (insofern übereinstimmbar mit
dem Beispiel des sukzessiven Ziehens einer Linie — das, obgleich
geometrisch, selbst keinerlei Anweisung auf eine bestimmte Art von
Geometrie enthält). Jede weitere Operation zwischen den gezählten Elementen
ist aber nur vergleichbar mit dem Vergleich zwischen konstruierten Figuren
oder weiterer Konstruktion mittels den bereits konstruierten Figuren der
Geometrie.2 — Gegenüber der abstrakten Stellenordnung Leibnizens, welche
die Lage der Dinge noch zur (analytischen) Wesensdefinition gerechnet hat,
rechnet nunmehr Kant die Lage der beurteilten Dinge zueinander zum
synthetischen Urteil. Derart wäre jede arithmetische Operation zwischen
bereits jeweils als Einsen gezählten Elementen einer Menge von Zahlen auch
als synthetisch zu denken notwendig.

2 Vgl die Hilfslinien der Konstruktion als Kataskeue, in: J. Hintikka, Kant on the
Mathematical Method, in: Kant Studies Today, Ed. L. W. Beck, La Salle 1969 p. 117 ff..

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