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Dr.

Harald Wasser

Eine kurze Reise zum Konstruktivismus


Version 1.1

Aus der Reihe


Materialien zur Philosophie & Soziologie

© Refrath bei Köln im Februar 2007


Der vorliegende Text wurde so angelegt, dass er neben der engeren Fachdiskussion auch Studierende (vor allem der Philosophie, So­
ziologie sowie der Literaturwissenschaften) bei der Anfertigung von Hausarbeiten und Referaten unterstützen können sollte. Ge­
rade daher sei nochmals darauf hingewiesen, dass online veröffentlichte Aufsätze voll zitierfähig sind, sofern folgende Angaben aus
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tizitätsseite geprüft werden. Im vorliegenden Fall lautet diese »http://autopoietische-systeme.de«.
Inhalt
I. Hinführung.................................................................................................. 4
II. Worum es im Konstruktivismus nicht geht............................................... 5
III. Varianten des Konstruktivismus.............................................................. 6
IV. Konstruktivismus und Realität................................................................. 7
V. Wie kam es zum Konstruktivismus?......................................................... 8
VI. Mit Kant beginnt der Konstruktivismus...................................................11
VII. Moderner Konstruktivismus und noch mal Realität............................... 16
Harald Wasser, Eine kurze Reise zum Konstruktivismus
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I. Hinführung
»Die These des operativen Konstruktivismus führt [...]
nicht zu einem ‚Weltverlust', sie bestreitet nicht, dass es
Realität gibt. Aber sie setzt die Welt nicht als Gegenstand,
sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus.
Also unerreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Mög­
lichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beob­
achter zu beobachten, wie sie Realität konstruieren.«

Niklas Luhmann

Es gibt viele Spielarten des Konstruktivismus. Wir werden sie hier allerdings der Einfachheit halber in nur
zwei Richtungen aufteilen. Näher erläutern werden wir nur die zweite Spielart, da der ersten heute keine nen­
nenswerte Bedeutung mehr zukommt. Alle übrigen Konstruktivismen bilden dagegen lediglich Derivate die­
ser zweiten. Dabei liegen zentrale Unterschiede hauptsächlich in der Radikalität, mit der der konstruktivisti­
sche Gedanke umgesetzt wird. Dem Namen nach hält sich der so genannte »radikale Konstruktivismus« (v.
Glaserfeld/Maturana/v. Foerster) für die radikalste Variante. Wer sich auskennt, wird aber vermutlich einräu­
men müssen, dass beispielsweise der »operative Konstruktivismus« (Luhmann) weitaus »radikaler« durchge­
führt wird.

Die erste der beiden Spielarten bildet der so genannte »Erlanger Konstruktivismus«. Er steht sehr direkt in
der Tradition der Kantschen Philosophie. Man könnte ihn daher vielleicht treffender einen »Rekonstruktivis­
mus« nennen, insofern er nach dem Vorbild der Transzendentalphilosophie Kants die Erkenntnisgründe be­
stimmter Gegenstandsgebiets zu rekonstruieren sucht. Die Frage Kants: »Wie ist Erkenntnis möglich?«, die
bei Kant durchaus konstruktivistisch anmutet, steht dabei weniger im Zentrum als Kants zweites Grundanlie­
gen: nämlich Metaphysik von »strenger« Wissenschaft (z.B. empirischer Wissenschaft) zu trennen. In Kants
Erkenntnistheorie wird also der Versuch einer Rekonstruktion des Nachweises unternommen, dass (und: wie)
bestimmte Gegenstände tatsächlich Gegenstand der Wissenschaft werden können und nicht auf bloßem
Glauben (doxa) oder Metaphysik (i.S. einer Erkenntnis des Übersinnlichen) beruhen.
Diesem Anspruch Kants folgend sucht auch der Erlanger Konstruktivismus einen Weg zu finden, auf dem
Gegenstände als wissenschaftliche (re)konstruiert werden können. Dies gilt dann auch, wenn nicht sogar vor­
nehmlich, auf bereits bestehende Wissensschaften bezogen. Ziel ist immer die wissenschaftliche Legitimati­
on (nachträglich) einer Erkenntnis bzw. Gegenstandsbildung zu rekonstruieren und insofern nachzuweisen.
Auf diesem Weg lassen sich beispielsweise recht gut die Grundlagen der Mathematik herausarbeiten. Kant
hatte dies mit der Unterscheidung (a priorischer) analytischer und synthetischer (a posteriori) unternommen.
Ganz anders liegt aber der Schwerpunkt der Fragestellungen im zweiten Fall, also bei dem, was heute in den
meisten Fällen gemeint ist, wenn von Konstruktivismus die Rede ist. Heutigen konstruktivistischen Epistemo­

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logien geht es eher wenig oder gar nicht um die Prüfung, ob eine bestimmte Erkenntnis legitimer Weise als
wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnet werden darf. Es geht vielmehr um die Frage, wie es überhaupt zur
Gegenstandserkenntnis kommt – und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine wissenschaftliche oder um
eine alltägliche Gegenstandserkenntnis handelt. Das, was den Konstruktivismus zum Konstruktivismus
macht, besteht in der Annahme, dass jede Erkenntnis auf Konstruktionen eines Beobachters basiert: Was im­
mer erkannt wird, wird von einem Beobachter erkannt! Was immer ausgesagt wird, wird von einem Beob­
achter ausgesagt! Jede Erkenntnis, jede Aussage, jede Beobachtung beruht letztlich auf den Konstruktionen
eines Beobachters und nicht auf von ihm unabhängigen Tatsachen bzw. Gegenständen oder etwa einem von
ihm unabhängigem, absoluten Sein. Wenn man so ansetzt – und es handelt sich fraglos um einen sehr konse­
quentes Herangehen – dann fängt man sich ein Problem ein, dem aber letztlich ohnehin niemand entkommen
kann: Man fängt sich die Frage ein, wie Erkenntnisse, wenn sie immer bloß Konstruktionen sind, mit dem
korrelieren können, was wir gemeinhin Realität nennen. Realität erscheint dann nämlich als das, was ein Be­
obachter dafür hält. Aber: Heißt das dann, das es so etwas wie Realität eigentlich gar nicht gibt, zumindest
nicht in dem Sinne, wie wir es im Alltag glauben, also als etwas, das auch ohne uns da wäre und mit dem wir
täglich irgendwie zurecht kommen müssen und an dem wir schmerzhaft scheitern werden, wenn wir es von
der Beliebigkeit unserer Konstruktionen abhängig machen? Und in der Tat, nirgendwo so sehr wie auf diesen
Punkt bezogen unterscheiden sich die verschiedenen Spielarten dieser Art von Konstruktivismus. Über kei­
nen Punkt gibt es so viel Streit wie über diesen. Wir werden weiter unten auf diesen Punkt zurückkommen.

II. Worum es im Konstruktivismus nicht geht


Vorweg aber ein unvermeidliches Wort zu dem, worum es im Konstruktivismus nicht geht, einfach, weil
sich diese irrtümliche Annahme immer wieder findet, gerade unter Naturwissenschaftlern:
Es geht im Konstruktivismus nicht darum, die Entstehung irgendwelcher »Dinge/Gegenstände/Tatsachen in
der Welt« dadurch zu erklären, dass ihnen eine Konstruktion bzw. ein Plan zu Grunde liege. Es geht also
nicht um die Frage, ob die Erde, andere Planeten, Tiere, Menschen, Handys, Computer oder soziale Systeme
evolutive, geschichtliche oder kausale Konstruktionen sind. Es geht im Konstruktivismus nicht um die An­
nahme, etwas sei durch Konstruktionen entstanden. Es geht im Konstruktivismus immer nur um die Frage
der Erkenntnis von Gegenständen – also nicht darum, wie sie in die Welt gekommen sind, sondern darum,
wie sie in die Erkenntnis bzw. Beobachtung gelangt sind! Es geht also immer fort nur um Fragen der »Er­
kennbarkeit der Realität« bzw. der »Beobachtbarkeit der Welt (und der in ihr auffindbaren Gegenstände)«.
Die Frage des Konstruktivismus lautet also vielmehr immer: Wie funktioniert Beobachtung? Wie konstituie­
ren sich Gegenstände in der Erkenntnis?

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III. Varianten des Konstruktivismus


Für einen kurzen Blick in den Konstruktivismus reicht es zunächst aus, zwei heute sehr stark vertretene,
grundsätzlich aber doch recht unterschiedliche Varianten dieser Denkrichtung zu unterscheiden:
A) Radikaler Konstruktivismus: Teils geht dieser davon aus, dass Erkenntnis entlang unabhängig von der
Erkenntnis existierender »Objekte«, die sich in der Umwelt des Konstrukteurs befinden, hergestellt wird.
Teils wird hier Realität streng sensualistisch gedacht (vgl. hierzu unten S. 9), teils wird Realität aber auch
ausgelegt als so etwas wie Kants »Beharrliches« (s. hierzu S. 12f.), also als eine vom Subjekt bzw. System
nur passiv »empfangene«, amorphe Masse von Störungen, so eine Art aus der Umwelt des Systems veran­
lasstes Rauschen, das erst im System eine handlungs- bzw. erkenntnisgerechte Form erhält. Dieses »Rau­
schen« erfährt der »Konstrukteur« (also: der Beobachter) als Störungen (genannt: »Perturbationen«). Diese
regen ihn an zur Konstruktion seiner Umwelt und der in ihr befindlichen Gegenstände.
Immer wieder findet man inkonsequenter Weise (auch bei v. Foerster) die Annahme, einige Konstruktionen
des Systems entsprächen exakt dem, was in der Umwelt tatsächlich existiere. Beispiel dafür ist die unter ra­
dikalen Konstruktivsten verbreitete Annahme, es gebe zwar in der Umwelt keine unabhängig vom System
existierenden Farben, sehr wohl aber die diesen zu Grunde liegenden elektromagnetische Wellen; es gebe
zwar keine Geräusche, aber die diesen zu Grunde liegenden schwingende Druckwellen der Luft. Solche An­
nahmen nehmen Rücksichten auf Evidenz- und Intuitivitätsbedürfnisse, obwohl sie innerhalb der Theorie In­
konsistenzen erzeugen. Denn, wie sollte man eine solche Übereinstimmung zwischen Konstruktion und Rea­
lität feststellen können – wenn nicht mittels einer Konstruktion? Zudem würde dies bedeuten, dass das Sys­
tem inferiore und privilegierte Erkenntnisse akzeptiert, also solche, die »bloße« Konstruktionen sind und
solche, die die Auszeichnung erhalten dürfen, »echte Realitätsabbildungen« zu sein. So, als würden be­
stimmte Erkenntnisse für den Forscher sichtbar das »Gütesigel der Beobachterunabhängigkeit« tragen und
damit anzeigen, dass sie genau so, wie sie konstruiert wurden, auch unabhängig von ihrer Konstruktion exis­
tieren. Kann man aber annehmen, »etwas Reales« sei Ursache seiner eigenen Konstruktion, ohne dabei den
damit zwangsläufig verbundenen Status, bloße Konstruktionen zu sein, akzeptieren zu müssen? Und, wenn
das ginge: Ließe sich so etwas konstruktionsunabhängig beobachten?
Derartige abbildtheoretische Einsprengsel drohen also, den Konstruktivismus unnötig aufzuweichen, in die
Beliebigkeit zu treiben, denn sie verdecken, dass Druckwellen oder elektromagnetische Wellen beobach­
tungslogisch auf ebensolchen Konstruktionen des System beruhen wie Farben und Töne. (Philosophen er­
scheint diese Art zu unterscheiden schon deswegen ebenso so verwunderlich wie unergiebig, weil schon vor
Jahrhunderten im englischen Empirismus Analoges versucht wurde, was spätestens von Kant als inkonsisten­
te Schematisierung erkannt wurde. Siehe dazu unten S.9f.)
Jedenfalls geht der radikale Konstruktivismus also in unterschiedlicher Art und Weise davon aus, dass es
wiederholte Störungen aus der Umwelt sind, die für eine Anpassung von Realität und Konstruktion sorgen:
Nur, wer »passend« konstruiert, kann Störungen angemessen verarbeiten und umweltgerecht handeln. So
lautet der Grundgedanke. Und der hat in der Tat die Vorteile, auf angenehme Weise unseren Intuitionen ent­

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gegenzukommen und letztbegründen zu können, wieso so viele komplizierte Dinge überhaupt funktionieren.

B) Operativer Konstruktivismus: Wesentlich »radikaler« beziehungsweise konsequenter ist diese Variante


des Konstruktivismus, denn sie versucht, die oben gezeigten zu vermeiden, indem sie die Grundannahme da­
hingehend radikalisiert, dass es wenig Sinn macht, auf der einen Seite Erkenntnis als Konstruktion eines Be­
obachters zu behandeln und auf der anderen Seite dennoch zugleich vom beobachtungsunabhängigen Gege­
bensein einer solchen Realität auszugehen. Zentrales Argument: Selbst Perturbationen, die aus einer solchen
Realität stammten, wären für einen Beobachter nicht anders denn immerfort nur als Konstruktionen beob­
achtbar. Kurzum: Die Annahme einer beobachterunabhängigen Realität und ebenso die Annahme von aus
dieser auf den Beobachter eindringenden Perturbationen sind ihrerseits Konstruktionen wie diejenigen, die
angeblich nur Resultat der genannten Perturbation sein sollen. Es gibt kein Entrinnen aus der »Welt als Kon­
struktion«, wenn man sich einmal auf diese Annahme eingelassen hat. Alles andere wäre Willkür nach dem
Motto: Aber es muss doch ein von uns unabhängige Realität geben!
Der operativen Konstruktivismus muss also mit dem Problem zurecht kommen, jeder Intuition zu widerspre­
chen und auch keine Letztbegründung für das Funktionieren von Realität anbieten zu können. In ihm steht
ausnahmslos und immer die »konstruierende Operation der Beobachtung« zentral. Jede Beobachtung, jede
Aussage gilt hier – ohne Ausnahme – immer schon als Konstruktion eines Beobachters. Es gibt kein Entrin­
nen. Schließlich ist – konsequent gedacht – schon die bloße Unterscheidung von Konstruktion und Realität
eine Konstruktion.

IV. Konstruktivismus und Realität


Um abermals Missverständnissen zuvor zu kommen: Beide Konstruktivismen unterstellen gleichwohl, dass
es so etwas wie »Realität« gibt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der radikale Konstruktivismus
eine Art Residuum belässt, dass vom Beobachter unabhängig ist, während der operative Konstruktivismus
die volle Konsequenz konstruktivistischer Logik zu tragen versucht, die darin besteht, einfach alles immer
und ohne Ausnahme als beobachtungsabhängig anzuerkennen. Im operativen Konstruktivismus wird Realität
vollständig als Konstruktion gedacht und mit allen anderen Konstruktionen gleichgestellt. Keine Konstrukti­
on erhält ein Privileg, keine einen besonderen Status oder ein Ausnahmerecht.
Dennoch treffen sich beide Konstruktivismen darin, dass sie nicht annehmen, Konstruktionen seien willkür­
lich möglich. Um zu zeigen, dass dies immer auch für den operativen Konstruktivismus gilt, denke man nur
an die Mathematik, die Geometrie oder an die Logik der Spiele: Wenn erst einmal etwas (fest)gesetzt wurde,
so zeitigt es unausweichlich und unvermeidbar Konsequenzen an ganz anderen (unerwarteten) Stellen. Nie­
mand kann z.B. einfach sagen, 5+3=20. Wer das sagt, wird nicht nur unübersehbare Folgen in anderen Tei­
len der Mathematik auslösen (und tragen müssen), sondern regelrechte Katastrophen in der Welt der Tech­
nik. Oder: er wird seine Aussage revidieren müssen! Willkür ist ein Luxus, der nur äußerst selten zur Option
wird, jedenfalls soweit es den Bereich komplexer System/Umwelt-Beziehungen betrifft. So entsteht nur sehr

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wenig Freiraum innerhalb der Konstruktion von Realität. Man kann eine Weile die Erde für eine Scheibe hal­
ten oder Amerika für Indien. Eine Weile, und auch das nur, weil andere Umstände dem entgegenkommen –
aber nicht etwa: weil man sich als Konstrukteur einfach die Freiheit nehmen könnte. Autos sind schließlich
auch im technischen (statt nur im erkenntnistheoretischen) Sinn »bloß Erfindungen« und Straßen desglei­
chen. Jeder Fahrzeugkonstrukteur muss Rücksichten auf den Straßenbelag nehmen, obwohl dieser »erfun­
den« wurde? Und im Recht oder in der Verwaltung der Kommunen spielt es eine unvermeidlich große Rolle,
dass einstmals Autos erfunden wurden. Geschweige im Umweltbundesamt. Parlament, Wahlen, Post, Elek­
trizität – allesamt »bloße Erfindungen«, die sofort angefangen haben in einer nicht planbaren oder auch nur
vorherzusehenden Weise die Welt zu verändern. Erfindungen und deren Folgen haben sehr wenig mit Will­
kür zu tun. Einer derjenigen, der dies als erster in vollem Umfang erkannt und analysiert hat, war Marshall
McLuhan. Es ging ihm um genau diese unvermeidliche Verselbständigung von Medien, diesen naiven Glau­
ben an eine Planbarkeit der Welt oder eine Steuerung durch den Menschen, als er den berühmten Wahl­
spruch prägte, »the medium is the message«. Die Medien »machen ungleich mehr mit uns« als »wir mit ih­
nen«. Wenn etwas erst einmal gesetzt ist, wird es Folgen an ganz unerwarteten Stellen zeitigen und der Will­
kür nahezu keinen Raum lassen.

V. Wie kam es zum Konstruktivismus?


In einen Parforceritt durch die Erkenntnistheorie lässt sich schnell zeigen, aus welchen Problemlagen und –
lösungen der modernen Konstruktivismus hervorgegangen ist. Wir müssen uns auf eine sehr kleine Auswahl
beschränken und dabei stark verallgemeinern, was aber durchaus machbar, zweckgerecht und zulässig sein
dürfte. Vielleicht waren – stark komprimiert gesehen – die folgen Lösungsversuche entscheidend:

1. Substanzmetaphysik/Ontologie: Diese schon in der Antike zu findenden Erkenntnistheorien gehen da­


von aus, dass es unabhängig von unserer Erkenntnis Etwas gibt, das wir erkennen können. Plato und Aristo­
teles z.B. wussten aber, dass es die Dinge, die wir sehen, so einfach nicht geben kann. Denn erstens würde
die Eins-zu-eins-Abbildung von Dingen nur funktionieren, solange wir stets über wahre Erkenntnisse verfüg­
ten (und nicht auch Irrtümer vorkämen). Und zweitens würde man damit nicht zum Intelligiblen vorstoßen
können, also etwa zur Mathematik, zur Geometrie, zur Logik etc., die ja nichts sinnlich in der Welt Vorlie­
gendes darstellen. Sie nahmen daher Ideen bzw. Substanzen an, die nicht per Wahrnehmung erkannt werden
können. Oftmals der Wahrnehmung und immer dem Verstand präsentieren sich aber deren Eigenschaften
(die »Attribute« oder »Akzidenzien«). Wir können das Gute an sich nicht hören, sehen, riechen oder schme­
cken. Aber wir können Taten sehen, die wir gut heißen und sie von schlechten unterscheiden. Substanzmeta­
physik und Ontologie verfügen nicht über konstruktivistische Module.
2. Rationalismus/Idealismus: Der Rationalismus (z.B. Descartes) geht davon aus, dass nicht die Dinge,
sondern die Erkenntnisfähigkeit (Vorstellungskraft, Logik, Begriffsbildung etc.) entscheidend ist und klärt
daher u.a. die Wahrheitsbedingungen (Wahrheit/Täuschung) der Erkenntnis. Ist diese Grundlage erarbeitet,
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so dürfen wir in der Folge auch entsprechenden Wahrnehmungen trauen und können eine empirische Wis­
senschaft begründen. Einige Philosophen gehen heute noch wie Descartes weiterhin von so etwas wie Sub­
stanzen (»res«) aus. Er unterschied sie bekanntlich streng in geistige (res cogitans) und körperliche (res ex­
tensa). Man findet diese Unterscheidung leicht abgewandelt heute noch in der Analytischen Philosophie be­
ziehungsweise deren Zweig einer »philosophy of mind« wieder, ganz deutlich und explizit bei der Frage des
Selbstbewusstseins sowie der Frage nach dem »Geist der Tiere« (z.B. in der »kognitiven Ethologie«). Eine
spätere Formen des Rationalismus bildet vor allem der »Kritische Rationalismus« (Popper). Auch hier lassen
sich aber keine konstruktivistische Module finden, die diesen Namen wirklich verdient hätten.
Der neuzeitliche Idealismus radikalisiert dagegen grob gesprochen die These, die Welt sei uns als bloße
Vorstellung/Idee gegeben. Gemeinsam ist entsprechend allen Idealismen, dass sie Materielles nur als etwas
betrachten, das ein Geist sich vorstellt, dem aber nichts von diesen Vorstellungen Unabhängiges entspricht.
Eine idealistische Variante ist der »gefürchtete« Solipsismus. Berühmtester Ahnherr ist Bischof Berkeley.
Dieser ging nicht von einem produktiven bzw. konstruktiven Geist aus, der Vorstellungen aktiv hervorbringt,
sondern von einem passiven Geist, der von Gott alle seine Vorstellungen per Eingebung empfängt. Demnach
hat Gott auch festgelegt, welche Vorstellungen stets aufeinander folgen sollen und das erscheint dem Natur­
forscher dann als Gesetzmäßigkeit (Naturgesetz). Die Naturgesetze sind also bloßer Schein und beruhen
letztlich immer auf der Willkür Gottes und können daher jederzeit von diesem geändert werden. Da hier dem
Subjekt alles geradezu Ein zu Eins gegeben wird, erübrigt sich die Frage nach konstruktivistischen Ein­
sprengsel. Das ändert sich rigoros mit den späteren Formen: Kritischer Idealismus/deutscher Idealismus (s.
S. 10).
Empirismus/Sensualismus: Diese beiden Strömungen ähneln einander, setzten jedenfalls (vor allem von
Descartes ausgehend) »Erfahrung« zentral, betonen aber gegenüber dem Vernunftanteil der Erfahrung denje­
nigen der Sinnlichkeit. (Das galt sogar noch für den logischen Empirismus des zwanzigsten Jahrhunderts.)
Im Kern folgten beide zunächst einer Abbildtheorie bzw. einem naiven Realismus, also einer Lehre, die an­
nimmt, das, was wir wahrnehmen, existiere auch unabhängig von unserer Wahrnehmung. (Immerhin nahm
der logische Empirismus z.B. bei Carnap Elemente aus der Phänomenologie und der Ganzheitspsychologie
auf, die ja beide eigentlich dem Idealismus näher standen.) Vor allen die Engländer Locke und Hume durch­
brechen mit ihrer gegen alle Dogmen gerichteten Sichtweise sowohl die bislang gültigen ontologischen als
auch die dem Alltagsverstand immer wieder willkommenen unmittelbar abbildtheoretischen Ansichten und
lösen dadurch unübersehbare Erschütterungen innerhalb der kontinentalen Philosophie, dem Staatsrecht (der
damaligen »Naturrechtslehre«) und der Naturwissenschaften in Europa aus. Humes kritischen Empirismus
legt einerseits viele in der Wissenschaft eingeschliffenen Vorurteile offen, zeigt z.B., dass viele Erkenntnisse
schlicht auf Gewohnheiten und unkritischen Überzeugungen aufsetzen (etwa der Gedanke einer »Kausalität
der Natur«, die er in rein zeitliche Abfolgen auflöst und alles darüber Hinausgehende als Metaphysik ab­
weist). Er, explizit aber vor allem Locke, zeigten auch, dass die verschiedenen Qualitäten von Gegenständen
nicht alle auf Substanzen als deren Träger reduziert werden können. Vor allem die so genannten »sekundären
Qualitäten« (Farbe, Geschmack etc.) weist Locke als »subjektive Zutaten« nach, denen nichts Substantielles

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entsprechen könne. (Z.B. schmeckt dem Kranken bitter, was der Gesunde als süß erfährt. Vgl. hierzu das auf
S. 6 zum radikalen Konstruktivismus Gesagte.) Sie werden vom Subjekt ans Objekt herangetragen und auch
durch das Subjekt und seine Zustände variiert. Der Schwerpunkt der Erkenntnis verlagert sich so zunehmend
und ganz modern aufs Subjekt beziehungsweise auf die von diesem gemachten Erfahrungen. (Kein Wunder
also, dass ausgerechnet diese Position dann wieder den Idealismus – der ja zuständig fürs Subjekt ist – ins
Spiel brachte!) Zudem finden sich hier datensensualistische Gedankengänge, die nach dem Vorbild einer
»Teilchentheorie des Ganzen« davon ausgehen, dass der Mensch stets einzelne, zunächst keine Ganzheit er­
gebenden Daten passiv empfängt und daraus ein Gesamtbild erst zusammensetzen muss. Hier wird also Er­
kenntnis schon in einer zunächst nur schwachen Form als Konstruktion gedacht, aber anders als bei Kant
und den späteren phänomenologischen Varianten des Konstruktivismus. Beide gehen nicht mehr davon aus,
dass Konstruktion als Zusammensetzungen von Daten verstanden werden können. Ein solches, datensensua­
listisches Modell erzeugt nämlich das Problem, dass Daten (oder auch »Perturbationen«) immer schon Kon­
struktionen sind, so dass die Theorie nicht erklären kann, wie es zu so etwas wie Daten überhaupt kommen
können soll, sprich: Wie soll etwas Konstruktionen erklären können, was seinerseits als Konstruktion erklärt
werden müsste? Daten müssten demzufolge aus Daten zusammengesetzt werden, und damit ginge alles nur
wieder von vorne los. Diese Antwort führt also in einen unendlichen Regress. Hinzu kommt, dass Datenmo­
delle zwar auf den ersten Blick einleuchtend erklären können, wie ein System Wahrnehmungen aus seiner
Umwelt beziehen könnte – sie können aber gar nicht erklären, wie Denken oder Gefühle zustande kommen,
denn spätestens hier geht es zweifellos nicht um etwas, das aus »aufgenommenen« Umwelt-Daten zusam­
mengesetzt werden kann, einfach, weil es sich um vollständig efferente (also um aus dem System selbst her­
vorgehende, nicht aus der Umwelt bezogene) Leistungen handelt, also um Leistungen, die spontan und ohne
externe Kausalität vom System erzeugt werden müssen. Gefühle lassen sich nun einmal nicht aus der Um­
welt beziehen. Ebenso wenig können Gefühle aus irgendetwas zusammengesetzt werden, dass sich in der
Umwelt vorfinden ließe: Ich kann meine Freundin verlieren, aber daraus ergeben sich keinerlei Daten, aus
denen sich Liebeskummer zusammensetzen ließe. Ich kann zum dritten Mal am Tor vorbei schießen, aber
selbst, wenn diese Tatsache aus äußeren Daten erkennbar werden sollte, so könnte sich daraus niemals »mein
Frust« zusammensetzen lassen. Ich kann mir denken, dass mein Kurzurlaub offenbar ins Wasser zu fallen
droht – aber dieser Gedanke lässt sich nicht aus den Daten des besten Wetterberichts der Welt zusammenfü­
gen.
4. Kritischer Idealismus/deutscher Idealismus: Vor allem für Kant wurde Humes glasklare Kritik an rei­
ner Abbildtheorie und Ontologie gleichermaßen ausschlaggebend. Im Vordergrund standen bei Kant die im
englischen Empirismus zentralen Fragen nach »subjektiven Zutaten« und »eingeschleppten Vorurteilen«.
Hume habe ihn aus seinem »dogmatischen Schlummer« (Prolegomena, A13), geweckt, bekannte Kant frei­
mütig und legte mit »deutscher Gründlichkeit« eine noch strengere epistemologische Messlatte an als Hume:
Wahrnehmbar werden laut Kant »Dinge« immer nur mit Hilfe subjektiver, konstruktiver Formbildungspro­
zesse. Das heißt im Klartext: Nicht nur Farbe und Geschmack, sondern ausgerechnet die Zentralwerte der
prominentesten Metaphysiken, nämlich Raum und Zeit, werden laut Kant vom Subjekt in die Realität einge­

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bracht und jeder Formung wahrnehmbarer Objekte zugrunde gelegt. Die Welt in Raum und Zeit wird von
Kant als etwas vom Menschen nicht nur Erkanntes, sondern Erzeugtes begriffen. Gleiches postulierte Kant
für die nicht wahrnehmbaren Gegenstände der Vernunft, also die Begriffsbildung (s. Kategorienlehre), und
also keineswegs nur für die Mathematik und Geometrie. »Erkennen« wird hier also (gut konstruktivistisch)
erstmals identisch mit »erschaffen«.
Im Prinzip basiert sein Idealismus zwar auf einer Radikalisierung des Humeschen Denkens; aber im Unter­
schied zu Hume sah er erstmals »subjektive Eigenschaften« nicht mehr als »Zutaten«, die das Subjekt ein­
bringt, sondern als Produkte eines komplexen Konstruktionsprozesses(!), der jede Erkenntnisleistung unum­
gänglich begleitet bzw. ihr ermöglichend vorhergehen muss. (Andererseits sei für den Kenner angemerkt,
dass hier »Prozess« nicht zeitlich verstanden werden darf, weil die Zeit ja ihrerseits bei Kant zunächst reine,
transzendentale Form ist, die erst im »empirischen Produkt« als »zeitliche Ordnung« auftritt.) Diese »Philo­
sophie des aller Wahrnehmung und Vernunfterkenntnis Vorhergehenden« nannte er »Transzendentalphiloso­
phie«. Die Tatsache aber, dass sich zu jeder Erkenntnis immer ein Subjekt (heute: ein Beobachter) finden
bzw. benennen lässt, behandelte er unter dem Titel »transzendentale Subjektivität« (die er leicht erkennbar
an Descartes »cogito« anlehnte, weshalb Kant immer vom »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss
begleiten können« spricht).
Kant hatte also nicht nur begriffen, dass Welt bzw. Realität etwas ist, das untilgbar beobachterrelative (sub­
jektive) »Anteile« einschließt; er begriff als vielleicht Erster weit darüber hinausgehend, dass ohne einen Be­
obachter überhaupt nicht die Rede davon sein kann, dass es eine Realität gibt. Realität ist nicht einfach so da
– sie muss immerfort aufs Neue von einem Beobachter erzeugt werden, ist ohne Subjekt undenkbar, reine
Worthülse. Realität ist immer erkannte Realität. Realität ist immer schon durch Handlungen, Erlebnisse oder
Sprache beschriebene Realität. Realität in diesem Sinne ist immer unterschiedene Realität (Realität/Täu­
schung, Realität/Irrealität, Realität/Vergangenheit etc.). Jedes Unterscheiden setzt aber immer einen Beob­
achter voraus, der unterscheidet. Die Leistung des Subjekts sah Kant also ähnlich dem modernen Konstruk­
tivismus sowohl als »Konstruktion von Unterschiedenem« (also von »Objekten«) als auch als Fähigkeit des
»Unterscheidens« (Differenzbildung) und »Vergleichens« (Identitätsbildung): Als eine Leistung also, die nur
funktionieren kann, wenn man jeweils einen Beobachter benennen kann, der sie just erbringt.

VI. Mit Kant beginnt der Konstruktivismus


Man könnte sagen, dass schon mit dem Sensualismus (s.o. S. 9) der Konstruktivismus begann. Selbst der ra­
dikale Konstruktivismus macht bis heute deutliche datensensualistische Anleihen. In einem engeren Sinn
aber beginnt der Konstruktivismus sicherlich erst mit Kant – und gerät sofort in Schwierigkeiten, die in eini­
gen Varianten des Konstruktivismus noch heute auftreten. Die Rede ist vom sogenannten Solipsismusvor­
wurf bzw. Solipsismusverdacht, also dem Vorwurf, jedes Subjekt bilde so etwa wie eine Monade, ein eige­
nes, in sich geschlossenes Universum ohne Kontakte zu anderen Subjekten oder einer allgemeinverbindli­
chen Realität.

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Um diesem Vorwurf zu entgehen, führte Kant etwas ein, das er »das Beharrliche« nannte. (»Widerlegung
des Idealismus«, KrV. Statt »etwas Beharrliches« würden wir heute vielleicht von »etwas Widerständigem«
sprechen.) Als Begründung dafür führte er kluger Weise aber nicht direkt die Gefahr eines Solipsismus an,
sondern das Argument, dass nur an etwas absolut Ruhendem Veränderung (und also auch Zeit) beobachtbar
werden könne. Um mit diesem Theoriemanöver aber tatsächlich einem Solipsismusverdacht entgehen zu
können, musste er dieses Beharrliche als etwas von allen einzelnen Subjekten völlig unabhängiges denken,
damit sichergestellt sein kann, dass sich alle gleichermaßen auf ein und dasselbe Unabhängige beziehen. Der
radikale Konstruktivismus geht einen ähnlichen Weg – nur nennt er dieses Beharrliche die »Perturbanz«.
Luhmanns operativer Konstruktivismus wählt dagegen einen ganz anderen Weg und zwar den, nicht einen
einzigen Beobachtertypen (etwa Subjekte oder Menschen oder Gehirne oder biologische Systeme) anzuneh­
men, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Beobachtertypen, die nur eines gemeinsam haben, nämlich:
dass sie allesamt Systeme sind (soziale Systeme, psychische Systeme, biologische Systeme etc.) Auf diese
Weise wird ein Solipsismus von vornherein ausgeschlossen, was vor allem im kniffligsten Fall einleuchten
sollte, also im Fall der Kommunikation, die ja für Luhmann ein eigenständiges System bildet. Hier stellt sich
dann z.B. gar nicht mehr die Frage, wie Subjekte oder Bewusstseine per Interaktion in Kontakt treten kön­
nen. Sie können es nicht. Sie müssen es auch nicht können, weil nicht sie kommunizieren, sondern das dafür
»zuständige« System, sprich: das Kommunikationssystem.
Zu allem Überfluss aber war, wie wir gleich sehen werden, die verhängnisvolle Schwierigkeit, in die Kant
mit seiner Lösung »hineinstolperte«, sehr viel größer als jenes Problem, das er mit seiner Idee eigentlich lö­
sen wollte. Denn: Wie soll etwas vom Beobachter Unabhängiges in dessen Konstruktionsprozesse gelangen
können, ohne seinerseits zuvor konstruiert worden zu sein – und damit also doch abhängig von Konstruktio­
nen des Beobachters zu werden? Kann überhaupt irgendetwas »konstruktionsfrei« innerhalb von Konstruk­
tionen eine Rolle spielen? Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem, dass Kants Pro­
blem auf modelllogischer Ebene völlig identisch ist mit demjenigen, in dem sich heute noch der radikale
Konstruktivismus verfängt (vgl. o. S. 6). In einem Beispiel veranschaulicht: Wenn ein Physiker ein Teilchen­
modell oder gar eine ganze Teilchentheorie konstruiert, so mag dies zwar auf der Grundlage gemessener Da­
ten geschehen. Und diese Daten mögen ihm auch etwas über den Zustand der Welt oder auch nur den eines
einzigen Teilchens verraten. Aber eben das kann nur funktionieren, weil neben seinen Modellen und Theori­
en eben auch sämtliche in ihr vorkommenden, gemessenen Teilchen oder Daten Konstruktionen sind. Denn
schließlich werden alle Teilchen und Daten ja immer und nur auf der Basis des Modells respektive der Theo­
rie postulierbar, messbar und beschreibbar! Dass eine Färbung, ein Kurvenverlauf oder eine Zeigeraus­
schlag auf ein Teilchen hinweist, ergibt sich nie wie von selbst aus dieser Färbung, dem Kurvenverlauf oder
dem Zeigerausschlag, sondern immer und nur aus der Theorie, die dies begründen und plausibel machen
kann. Theorie weg – Daten weg. Man hat dann plötzlich bestenfalls noch Färbungen, Kurvenverläufe und
Zeigerausschläge, die entweder gar nichts aussagen, oder aber: mit Hilfe einer anderen Theorie gedeutet wer­
den. Teilchen, Messungen und Nachweise sind Konstruktionen auf der Grundlage einer Theorie und anders
nicht denkbar. Die Betonung dieser Aussage basiert dabei auch auf Folgendem:

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Nicht nur die Teilchen sind Konstruktionen (wie der radikale Konstruktivismus annimmt), sondern ebenso
und im exakt gleichen Sinne jene (gemessenen) »Störungen«, die daraus ermittelten »Daten« und natürlich
auch die »Messung« selbst – kurz, alles, was zur Konstruktion der Teichen herangezogen wurde. Alles, was
auch nur das Geringste zur Entdeckung, Messung bzw. zur Erkenntnis beigetragen hat, ist seinerseits Kon­
struktion. Nichts, was zum Aufbau einer Konstruktion verhilft oder innerhalb von Konstruktionen eine Rolle
spielte, kann unkonstruiert bzw. unabhängig von der jeweiligen Konstruktion einfach so da sein. Es gibt kei­
nen (und sei es auch nur graduellen) Unterschied zwischen der Theorie, der Messung und der ihnen zu Grun­
de liegenden Daten hinsichtlich ihrer Konstruktionsabhängigkeit. Die Täuschung, dies sei anders, entsteht,
weil teilweises übersehen oder geleugnet wird, dass alles, was uns zunächst »unkonstruiert« erscheint, nur
auf Grund einer Konstruktion so erscheint, die da sagt, X sei unkonstruiert. Die These, etwas sei Unkonstru­
iert, ist ihrerseits eine Konstruktion wie jede andere und folglich ist alles aus ihr heraus Konstruierte nur et­
was Konstruiertes. So sind den auch (angeblich) konstruktionsunabhängige Störungen Resultat der Kon­
struktion von Unkonstruiertheit. Es gibt, wie gesagt, kein Entrinnen aus dem Konstruktivismus, wenn man
erst einmal »in seinen Zirkel hineingesprungen« ist.
Rekapitulieren wir kurz unsere Veranschaulichung und fassen zusammen:
✗ Was ein Messgerät ist und wie es funktioniert, beruht auf modellgetriebenen Konstruktionen und auf
sonst nichts.
✗ Dass Messgeräte Störungen (Perturbationen/Beharrliches/Widerständiges) anzeigen, beruht auf mo­
dellgetriebenen Konstruktionen und auf sonst nichts.
✗ Die Annahme, es gebe Perturbationen/Beharrliches/Widerständiges, beruht auf theoriegetriebenen
Konstruktionen und auf sonst nichts.
✗ Dass eine bestimmte Messung auf Teilchen verweist oder etwas über sie aussagt, ist eine rein mo­
dellabhängige Konstruktion und sonst nichts.
✗ Dass es Teilchen gibt, ihre Typen, Beschaffenheiten und Eigenschaften – all das stellt nichts weiter
dar als eine auf Grundlage bestimmter Theorien und Modelle gebildete Konstruktion.
✗ Jede Theorie, jedes Modell stellt eine Konstruktion dar und sonst nichts.
Wenn es also so etwas wie »harte Fakten« geben sollte, so können diese nicht auf dem Gegebensein unkon­
struierter Phänomene, Dinge oder Daten beruhen – und zwar deswegen nicht, weil es so etwas nicht geben
kann (sofern man seine Theorie konsequent konstruktivistisch aufbaut). Im Konstruktivismus ist alles abhän­
gig von bereits bestehenden Konstruktionen – sogar die Behauptung, dass dies so sei, beruht letztlich nur
auf einer Konstruktion (wenn auch auf einer unausweichlichen). Der Konstruktivismus kennt also keine
Willkür – es sei denn, in der Wahl seiner Modelle und Theorien; es sei denn, im Entschluss, konstruktivis­
tisch zu forschen.
Die Erkenntnis muss darum, wenn man konstruktivistisch herangeht, alles (alles!) selbst erzeugen, was sie
auslösen und was in ihr vorkommen soll. Sie kann zwar Sachverhalte so interpretieren (interpretieren!), als
bilde eine Messung/Erhebung nur ab, was es tatsächlich gebe, denn sie werde von unkonstruierten Perturba­
tionen vorangetrieben: Aber selbst diese Denkweise impliziert (paradoxer Weise), dass sie selbst nur eine In­

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Harald Wasser, Eine kurze Reise zum Konstruktivismus
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terpretation bzw. Konstruktion ist.


Interessant ist es auch, zu sehen, dass der heutige radikale Konstruktivismus mit seiner Theorie nicht etwa
Kant voraus ist. Im Gegenteil: Die Chancen, einen logisch konsistenten Ausweg aus dem aufgezeigten Di­
lemma zu finden, steigen außergewöhnlich an mit der (Kantschen) Annahme eines Transzendentalen. Keine
Konstruktion kann etwas aufweisen, das seinerseits keine Konstruktion ist – es sei denn, man nähme an, die­
ses Konstruktionsunabhängige liege vor und damit außerhalb jeder Konstruktion, was nur in einem einzigen
Fall so sein kann, nämlich dann: wenn es Konstruktionen überhaupt erst ermöglicht! Eben diese kluge An­
nahme macht ja darum die Transzendentalphilosophie.
Wir haben die auch damit verbundenen Probleme erläutert. Und diese steigen an, wenn man Konstruktionsu­
nabhängiges annimmt und gleichzeitig jede Transzendentalität leugnet.

Kant war sich wie einige seiner Anmerkungen zeigen der Problematik seiner Annahme eines Beharrlichen
prinzipiell bewusst – aber er spielte sie herunter, obwohl seine »Kritik der reinen Vernunft« (KrV) vom Cre­
do geprägt ist, dass dem Subjekt nur gegeben sein kann, was es selbst hervor gebracht hat oder zur Formung
einsetzt. Eine wahrhaft konstruktivistische Grundannahme! Das »Beharrliche« Kants stellt sich somit eher
als eine Verlegenheitslösung dar. Das konnte dann einem Hegel natürlich nicht entgehen. Und so kommt an
dieser Stelle der sogenannte Deutsche Idealismus ins Spiel, der nun anfängt, mächtig Salz in diese Wunde zu
streuen.
Gleichzeitig verfolgt Hegel allerdings einen anderen Ansatz als Kant. Ging es diesem wie später dem Kon­
struktivismus der »Erlanger Schule« (vgl. S. 4) um die Suche nach einer Abgrenzung von Metaphysik und
Wissenschaft im Sinne einer Rekonstruktion der Erkenntnismöglichkeit von Gegenständen, so ging es He­
gels »Konstruktivismus« vor allem darum, die Kantschen Gegensätze auf neue Weise zu verbinden und sie
aus einem einheitlichen Prinzip abzuleiten. Zu diesen Zweck »polierte« er die antike Dialektik Platos in ge­
radezu genialer Weise auf – nicht zuletzt hatte Fichte ihm dabei mit seinem ausgeklügelten »Dreischrittver­
fahren« (Position/Negation/Negation der Negation) den Weg gewiesen. Was bei Hegel hinzukommt, ist die
Idee eines Entwicklungsprozesses von geradezu monströsen Ausmaßen. Nichts, was nicht als »List der Ver­
nunft«, als eine Art Plan oder Vorsehung Gottes ausgemacht werden könnte. Seine Dialektik beschreibt, wie
alles mit »dem Einem« anfängt, sich dann in »das Viele« entfaltet, wobei unvermeidlich Gegensätze (»Wi­
dersprüche«) aufbrechen, um am Ende wieder in einem Prinzip zu kollabieren. (Ein Prinzip, dass wir heute
in der Kosmologie der modernen Physik spätestens seit der Urknallhypothese wiederfinden können.) Auch
hier sehen wir folglich die Anwendung eines strengen Konstruktionsprinzips, das Erkennen immer als Ent­
wicklung und also als Prozesse beschreibt (der wie bei Plato in einem Aufstieg mit darauf folgenden Abstieg
besteht). Und bei aller Kritik der Metaphysik: Auch der Konstruktivismus Niklas Luhmanns versteht Welt
stets als einen Prozess endloser Differenzierungen und Entdifferenzierungen, Gegensatzbildungen, Positio­
nen und Negationen. Nach diesen Grundsätzen ist sogar das Beobachtungstheorem Luhmanns aufgebaut.
Auch sein Ansatz ist zudem »gerichtet«, und zwar in Richtung auf zunehmende Komplexität, einfach, weil
diese Tendenz sich empirisch beobachten lässt (sofern man ein evolutionstheoretisches Konstruktionsmodell

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Harald Wasser, Eine kurze Reise zum Konstruktivismus
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ansetzt). Freilich benötigt man auf diese Weise keinen »absoluten Geist«, kein Telos und damit auch keine
spekulative Metaphysik und keinen Plan Gottes mehr. Dafür bleibt aber die Verwunderung darüber, dass aus
Sicht der Theorie(!) alles so ist, wie es ist und auch die These, dass alles, was ist, hochunwahrscheinlich ist,
so wie es ist.
Was Konstruktivsten bei aller Kritik an Hegel lernen können, ist daher auch etwas ganz anderes: Nämlich,
dass das Streben nach Vollständigkeit und Geschlossenheit einer Theorie zu nichts führt (vgl. die Gödelkata­
strophe), geschweige der Blick auf ein Absolutes. Wenn man sich Hegels vom theoretischen Niveau kaum
zu überbietendes Denken anschaut, so wird man sagen können: Wenn Hegel es nicht geschafft hat, so wird
es niemals jemand schaffen! Es gilt daher heute als klüger, sich bescheiden zu geben und jede Konstruktion
als das zu sehen, was sie ist: als eine Konstruktion, die Lücken lässt und auch anders hätte ausfallen können.
Vielleicht sollte sich jede Theorie vorsorglich darauf einstellen, irgendwann als überholt zu gelten und jedes
Drängen ihrer Kritiker auf Letztbegründung mit einem bloßen Schulterzucken beantworten. Jedenfalls stel­
len Wissenschaftler, die sich über so etwas Gedanken machen, heute fest, dass selbst die anspruchsvollsten
Modelle und Theorien ihre Gegenstände weder vollständig, noch frei von Widersprüchen oder Fehlern be­
schreiben. Immerzu erzeugt die Theorie oder eine ihrer subkontaminierten Ebenen Phänomene, die nicht mit
ihr übereinstimmen. (Vgl. zur Subkontamination H. Wasser, Im Auge des Betrachters, V.2, S. 29f.) Und stets
taucht etwas auf, das nicht mit dem gewählten Modell beschrieben werden kann. Regelmäßig wird das Mo­
dell wechseln müssen, um Phänomene auf anderen Ebenen greifen zu können. Phänomen X mag auf Ebene
A relativistisch, auf Ebene B quantenmechanisch und auf Ebene C nur noch mit einer Stringtheorie beschrie­
ben werden können. Wenn es aber auf Ebene C um das Phänomen Y geht, müssen (allem Ärger zum Trotz)
wieder die Quarks ran. Man kann diesen Zustand verheerend finden – als Konstruktivist, der den Konstrukti­
vismus ernst nimmt – wird man aber ganz gut damit leben können und eher misstrauisch werden, wenn mal
einfach alles zu funktionieren scheint.

Resümierend werden wir sagen können, dass von den heute bedeutendsten konstruktivistischen Strömungen
der radikale Konstruktivismus den aus der Tradition bekannten Kantschen und sensualistischen Lösung am
nächsten steht, was sich besonders schön daran zeigt, dass er in die gleichen Fallen wie Kant »tappst«. Der
operative Konstruktivismus Luhmanns entfernt sich wesentlich weiter von diesen Traditionen, aber er hat an­
dere Probleme, bspw. im medientheoretischen Bereich oder in der Frage der System-Interpenetration. Von
seiner Konstruktionslogik gesehen stellt er sich aber – wenn die Kürze hier eine Vereinfachungen rechtfertigt
– sozusagen schon einheits- wie differenztheoretisch auf die Seite des Deutschen Idealismus und prokla­
miert, dass es inkonsequent sei, ein Residuum anzunehmen, das vom Beobachter beziehungsweise von des­
sen Konstruktionen unabhängig sei. Er (wie seinerzeit Hegel) wendet gleichsam ein, der radikale Konstrukti­
vismus (respektive Kant) lasse eine unüberbrückbare Kluft zwischen Beobachtung und einem davon Unab­
hängigen bestehen, obwohl sichtbar sei, dass etwas »Unkonstruiertes« niemals eine Beobachtung irritieren
oder gar in die Beobachtung gelangen könne, denn dazu müsse es logischer Weise beobachtet und also kon­
struiert werden. Aber auch: Weil schon die Annahme eines solchermaßen Vorgeordneten etwas darstelle, das

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nur vom Beobachter selbst konstruiert werden könne.


Die Frage nach einem von aller Konstruktion Unabhängigem oder sogar Vorgeordneten ist also recht alt. Ein
Blick in die Philosophie lässt erahnen, dass sehr viele Probleme, mit denen sich heute Wissenschaftler her­
umschlagen, in ähnlicher Form schon einmal aktuell waren. Entsprechend oft lassen sich in der philosophi­
schen Tradition auch gleich die dazu passenden Lösungen finden. Danach Ausschau zu halten, ist aber insbe­
sondere deswegen effizient, weil dann oftmals umgehend klar wird, dass eine scheinbar ganz neue Lösung
nicht viel taugt, weil sie schon damals in eine Sackgasse führte.

VII. Moderner Konstruktivismus und noch mal Realität


Wenn man das, was mit Kant angefangen hat, konsequent zu Ende denkt, dann stellt man fest, dass die An­
nahme, es gebe von der Erkenntnis unabhängige Störungen, Daten oder Dinge, die der Beobachtung anre­
gend zu Grunde lägen und dennoch von ihr unabhängig seien, nicht wirklich konsequent gedacht werden
kann und zwar u.a. schon deswegen nicht, weil schon der bloße Gedanke, sie seien unabhängig, auf einer
Konstruktion beruht. Dieser Überlegungsgang erlaubt allerdings weder einen Rückschluss auf die Nicht-Rea­
lität der Welt noch erlaubt er den Schluss, dass es außerhalb des erkennenden Subjekts/Systems etwas unab­
hängiges gebe. Vielmehr tilgt er diese Unterscheidung von »Sein und Schein« bzw. »transzendental und em­
pirisch« mit Hilfe der Prämisse, dass jede Beobachtung, jede Aussage, jede Erkenntnis und also auch das,
was wir »Realität« bzw. »Schein« nennen, unvermeidlich immer Konstruktion ist. Die Annahme eines Tran­
szendentalen lässt ohnehin nicht erkennen, ob sie ihrerseits empirisch oder transzendental ist. Die Lösung
des Rätsels lautet also: Die Realität ist eine (nicht-willkürliche) Konstruktion und als solche wirklich. Schöne
Frauen sind schließlich auch nur eine Konstruktion ihres Betrachters und dennoch unbestritten für dessen
Empfinden real und also keineswegs willkürlich. Der Betrachter konstruiert ihren Reiz – und dennoch müss­
te er ihn leugnen, wollte er ihn, weil »nur konstruiert«, für willkürlich und also irreal erklären.
Aber auch umgekehrt bildet jede Konstruktion (solange sie gilt) ein Stück Realität. Was man heute für Reali­
tät hält, kann aber morgen als Illusion gelten. Das Indien des Columbus hieß schon kurze Zeit später Ameri­
ka und die Erde gilt immer noch als real und vorhanden, obwohl ihr ihre wesentlichen Attribute entzogen
wurden, sie nicht mehr als Scheibe gesehen wird und auch nicht als im Zentrum des Universums stehend.
Als konsequente Konstruktivsten müssen wir uns also nur von einem einzigen Gedanken trennen, und zwar
von dem, wonach die Realität unabhängig vom Beobachter immer schon feststeht, unwandelbar ist und nur
noch erforscht werden muss. Wenn wir uns von diesem Gedanken verabschieden, dann macht die Rede von
der Realität sofort wieder Sinn. Konstruktion und Realität bilden dann keinen Widerspruch mehr, sondern
das eine ermöglicht dann ein vertieftes Verständnis des anderen. Von hier aus lassen sich Luhmanns Worte,
die wir als Motto schon an den Anfang unsere kleinen Abhandlung gestellt hatten, vielleicht neu verstehen:
»Der operative Konstruktivismus bezweifelt keineswegs, dass es eine Umwelt gibt. Sonst hätte ja auch der
Begriff der Systemgrenze, der voraussetzt, dass es eine andere Seite gibt, keinen Sinn. Die These des operati­
ven Konstruktivismus führt also nicht zu einem ‚Weltverlust', sie bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Aber

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sie setzt die Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus. Also un­
erreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beob­
achter zu beobachten, wie sie Realität konstruieren.«

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