Gestatten, Jack Vance!
By Jack Vance
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Nahezu völlig blind hat er das vorliegende Buch, seine Autobiografie, auf Band gesprochen; niedergeschrieben wurde es von seinem Freund Jeremy Cavaterra.
Es ist der Roman seines Lebens – ein Leben mit vielen Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen, mit Musik und immer wieder der Heimkehr zum Haus in Oakland, das sich die Familie selbst gebaut und mit Materialien aus aller Welt eingerichtet hat.
Dieser großartige Schriftsteller bietet dem Leser die Möglichkeit, ihn auf der Reise durch sein Leben zu begleiten: Gestatten, Jack Vance.
»Diese autobiografische Aufzeichnung ist vielleicht eher eine Landschaftsbeschreibung denn ein Selbstportrait – oder zumindest ein Streifzug durch die Landschaft, die mein Leben darstellt. Ich begreife, dass mein Ruf, so wie die Dinge liegen, von meinen literarischen Hervorbringungen rührt; allerdings ist das Schreiben nicht die einzige Tätigkeit meines Lebens gewesen, und ich bin verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Buch nur wenig zum Thema in der Art von Fachsimpelei zu bieten hat … Wie auch immer, viele bemerkenswerte Personen sind in mein Leben getreten und wieder daraus verschwunden, und ich hatte das Glück, in einer interessanten und ereignisreichen Epoche zu leben. Ich habe versucht, diese Personen und Ereignisse zu beschreiben und gleichzeitig etwas von meiner Haltung gegenüber dem Leben zum Ausdruck zu bringen. Letzteres nicht mit Nachdruck oder auch nur bewusst; es ist lediglich ein unvermeidliches Nebenprodukt, wenn man seine eigene Geschichte erzählt.«
Jack Vance
Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.
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Book preview
Gestatten, Jack Vance! - Jack Vance
Jack Vance
Gestatten, Jack Vance!
Edition
Andreas Irle
Hunschlade 27
51702 Bergneustadt
2019
Originaltitel: This is Me, Jack Vance!
Copyright © 2009 by Jack Vance
Originalausgabe: This is Me, Jack Vance! – Subterranean: Burton, 2009
Deutsche Erstausgabe: Gestatten, Jack Vance! – Irle: Bergneustadt, 2010
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Spatterlight Press
Darkling: A Threnody
by L. Bassington Mulliner, Anfang Kapitel V
und die Zeilen aus Good Gnus, ebenfalls Kapitel V
Copyright © PG Wodehouse.
Reproduced by permission of the author’s estate
c/o Rogers, Coleridge & White Ltd, 20 Powis Mews,
London W11 1JN
Motto for a Doghouse
von Arthur Guiterman, Anfang Kapitel X
ist wiedergegeben mit freundlicher
Genehmigung von Richard Sclove
Titelbild: Jack Vance
Satz: Andreas Irle
Übersetzung: Andreas Irle
Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald
ISBN 978-1-61947-309-6
V01 2019-04-13
spatterlight.de
Management: John Vance, Koen Vyverman
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Das Buch
Sein letzter Roman – Lurulu – erschien 2004; Vance bezeichnet dieses Werk als seinen Schwanengesang.
Nahezu völlig blind hat er das vorliegende Buch, seine Autobiografie, auf Band gesprochen; niedergeschrieben wurde es von seinem Freund Jeremy Cavaterra.
Es ist der Roman seines Lebens – ein Leben mit vielen Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen, mit Musik und immer wieder der Heimkehr zum Haus in Oakland, das sich die Familie selbst gebaut und mit Materialien aus aller Welt eingerichtet hat.
Dieser großartige Schriftsteller bietet dem Leser die Möglichkeit, ihn auf der Reise durch sein Leben zu begleiten: Gestatten, Jack Vance.
»Diese autobiografische Aufzeichnung ist vielleicht eher eine Landschaftsbeschreibung denn ein Selbstportrait – oder zumindest ein Streifzug durch die Landschaft, die mein Leben darstellt. Ich begreife, dass mein Ruf, so wie die Dinge liegen, von meinen literarischen Hervorbringungen rührt; allerdings ist das Schreiben nicht die einzige Tätigkeit meines Lebens gewesen, und ich bin verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Buch nur wenig zum Thema in der Art von Fachsimpelei zu bieten hat … Wie auch immer, viele bemerkenswerte Personen sind in mein Leben getreten und wieder daraus verschwunden, und ich hatte das Glück, in einer interessanten und ereignisreichen Epoche zu leben. Ich habe versucht, diese Personen und Ereignisse zu beschreiben und gleichzeitig etwas von meiner Haltung gegenüber dem Leben zum Ausdruck zu bringen. Letzteres nicht mit Nachdruck oder auch nur bewusst; es ist lediglich ein unvermeidliches Nebenprodukt, wenn man seine eigene Geschichte erzählt.«
Der Autor
Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.
Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.
Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.
Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:
www.editionandreasirle.de
In Memoriam
NORMA VANCE
(1927–2008)
Einleitende Bemerkungen
Charm’d magic casements, opening on the foam
Of perilous seas, in faery lands forlorn.
Keats
Ich verwende diese Überschrift, weil andere übliche Bezeichnungen zu formell wirken und eine literarische Struktur nahe legen, von der ich bezweifle, dass sie irgendwo im Folgenden offenbar werden wird. Als Vorbereitung für diese Memoiren habe ich es mit einer neuen und unvertrauten Form der Kommunikation versucht: nämlich dem Diktieren, das unberechenbar ist und einem eine ganz eigene Art von Disziplin abverlangt. Das gesamte Material dieses Buches wurde auf Band aufgezeichnet und dann von meinem Freund Jeremy Cavaterra niedergeschrieben.
Diese autobiografische Aufzeichnung ist vielleicht eher eine Landschaftsbeschreibung denn ein Selbstportrait – oder zumindest ein Streifzug durch die Landschaft, die mein Leben darstellt. Ich begreife, dass mein Ruf, so wie die Dinge liegen, von meinen literarischen Hervorbringungen rührt; allerdings ist das Schreiben nicht die einzige Tätigkeit meines Lebens gewesen, und ich bin verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Buch nur wenig bietet, was man als Fachsimpelei bezeichnen kann. Wie jedes andere Handwerk auch ist das Schreiben durch Übung und Geduld zu meistern, und wenn man den »Kniff« heraus hat, kann dieser – paradoxerweise – alles unter der Sonne erklären, außer sich selbst.
Wie auch immer; viele bemerkenswerte Personen sind in mein Leben getreten und wieder daraus verschwunden, und ich hatte das Glück, in einer interessanten und ereignisreichen Epoche zu leben. Ich habe versucht, diese Personen und Ereignisse zu beschreiben und gleichzeitig etwas von meiner Haltung gegenüber dem Leben zum Ausdruck zu bringen. Letzteres nicht mit Nachdruck oder auch nur bewusst; es ist lediglich ein unvermeidliches Nebenprodukt, wenn man seine eigene Geschichte erzählt.
Kapitel I
On we rode, the others and I,
Over the mountains blue, and by
The Silver River, the sounding sea,
And the robber woods of Tartary.
Robert Louis Stevenson
Ich bin in San Francisco geboren, in dem als Pacific Heights bekannten Bezirk, auf halber Höhe der Hügel im Norden der Stadt, welche die Bucht überblicken. Zu dieser Zeit – im Jahr 1916 – war San Francisco überall wegen ihres Liebreizes, ihres Charmes, ihrer Würde und für ihre wundervollen Ausblicke, die vorzüglichen Restaurants und sogar wegen ihrer Respektabilität bekannt.
Ich bin das mittlere von fünf Kindern, mit zwei älteren Brüdern (Albert und Louis), einem jüngeren Bruder (David) und einer jüngeren Schwester (Patricia). Meine Mutter, Edith Vance (geborene Hoefler), war eine markante Person im gesellschaftlichen Leben San Franciscos. Sie besuchte die exklusive Miss Hamlin School zusammen mit Lurline Matson von Matson-Schifffahrtslinien. Als sie und mein Vater heirateten, gaben sie einen großen Empfang im Fairmont Hotel, und der Gesellschaftsteil des Chronicle widmete dem Ereignis eine ganze Seite. Mutter war unbekümmert, gutmütig, großzügig, und mein ganzes Leben lang habe ich sie nicht nur geliebt, sondern auch bewundert und respektiert.
Während dieser frühen Jahre sah ich sehr wenig von meinem Vater, der in Frankreich stationiert war und auf irgendeine Art und Weise mit dem Roten Kreuz zu tun hatte. Auf der anderen Seite sah ich sehr häufig meinen Großvater mütterlicherseits, Ludwig Matthias Hoefler. Er wohnte auf der anderen Seite der Stadt in einer prächtigen viktorianischen Villa, die einen Weinkeller, ein Billardzimmer und ein mit Palisanderholz getäfeltes Esszimmer besaß. Er war ein erfolgreicher Anwalt, Amateurpolitiker und offenbar bedeutsam, was die Angelegenheiten der Stadt betraf. Ich wundere mich heute noch, wenn ich an die Trams denke, die den Haight-Street-Hügel hinaufknirschten, beladen mit Leuten, die auf dem Weg von der Arbeit nach Hause waren, und auf halbem Weg vor dem Haus von Großvater haltmachten, um ihn dort herauszulassen, bevor sie zur Laguna Street weiterfuhren.
***
1920 oder ’21 – ich kann mich nicht genau erinnern – wurde Großvater im Rahmen des Dawes-Komitees, das die wirtschaftliche Situation Deutschlands verbessern sollte, dorthin gesandt. Während er unterwegs war, besuchte er Rom, wo er zwei massive Marmorstatuen sah, die zwei antike griechische Boxer darstellten. Er war so eingenommen von den Statuen, dass er Kopien in Auftrag gab, die er als Geschenk an den Olympic Club, in dem er Vizepräsident war, nach San Francisco verschiffen ließ. Dort stehen sie bis zum heutigen Tage, auf der Post Street vor dem Olympic Club.
Unsere Familie wohnte bis zu meinem fünften Lebensjahr in San Francisco, und ich erinnere mich an viele Episoden dieser frühen Jahre. Eines Nachts, oben im Schlafzimmer, das ich mir mit meinen beiden älteren Brüdern teilte, flatterte eine große Motte an der Decke und machte mir Angst. Ich erinnere mich, wie meine älteren Brüder von Bett zu Bett hüpften und wacker die Motte einzufangen versuchten, was sie zu meiner Erleichterung schließlich schafften.
Wir hatten eine Köchin namens Alice McKittrick, die ich sehr mochte. Eines Tages erklärte ich ihr, wer weiß warum, dass ich gerne Zwiebeln in Cremesauce essen würde. Also machte mir Alice großartige Zwiebeln in Cremesauce. Ich kann sie immer noch vor mir sehen, wie ich auf das Tablett blickte und mit dem Löffel darüber wedelte. Letztendlich entschied ich, dass ich sie doch nicht wollte. Alice sah mich mit purer irischer Verachtung auf dem Gesicht an.
Mein Bruder David interessiert sich für die Genealogie unserer Familie und hat auf diesem Gebiet eine beträchtliche Menge an Informationen gesammelt. Im Tiefland von Schottland, Wigtownshire, um genau zu sein, gibt es eine Burg, die jetzt von einem Herrn bewohnt wird, über den ich nichts weiter weiß, als dass er viel Forschung in Hinsicht auf die Abstammung der Vances betrieben hat. Seine Ermittlungen deuten darauf hin, dass zwei normannische Brüder mit dem Namen Vaux 1066 mit William dem Eroberer herüberkamen. Sie ließen sich im Norden Englands nieder; später zog eine jüngere Linie nach Schottland. 1745 unterstützten sie die falsche Seite der jakobitischen Rebellion und flohen nach Irland, sodass daraus eine schottisch-irische Familie wurde. Der Herr aus Wigtown verfolgte die Familie bis Aquitanien zurück, sogar zum Adel, und schließlich zu einer gallisch-römischen Familie namens Vallibus. Das alles hört sich etwas weit hergeholt an, aber wenn ich darüber nachdenke: Alle Namen müssen irgendwoher stammen, und es gibt keinen wirklichen Grund für Skepsis. Der Name Vance entstammt, wie alle anderen, aus einem Ursprung im Altertum – warum nicht von Vallibus?
Außerdem habe ich erfahren, dass ich ein Nachkomme von William Clark von der Lewis-und-Clark-Expedition bin. Oben in Montana, so geht die Geschichte, ging Clark mit einer Indianerin ins Bett, die in Folge dessen einen Jungen zur Welt brachte. Es war die Gewohnheit des Stammes, das Kind nach dem ersten Ding zu benennen, welches die Mutter nach dem Aufwachen zu Gesicht bekam. Das erste, was sie sah, war ein Strumpf*, also wurde der Junge Stocking Clark genannt. Zu gegebener Zeit, nach ein oder zwei Generationen, heiratete einer von Stocking Clarks Nachkommen in eine gewisse Case-Familie ein, die später einen Drogeriemarkt in Copperopolis besaß, einer Stadt in der Mitte von Kalifornien. (Seltsamerweise spielt Copperopolis in meiner Lebensgeschichte ebenfalls eine Rolle, doch dazu später mehr.) Case trat der Familie meiner Großmutter bei und gab mir so eine Spur einheimischen Bluts mit. Dies sind, so viel ich weiß, meine Ahnen.
* Anm. des Übers.: Original »stocking«.
Mit fünf Jahren begann ich mit dem Kindergarten; dort beging ich eine schmachvolle Tat. Vor mir saß ein kleines Mädchen mit dunklem Haar, das ein hübsches grünes Kleid trug. Aus keinem besonderen Grund nahm ich eine Schere und begann damit, Dreiecke aus dem Stoff ihres Kleides zu schneiden. Ich hatte vier oder fünf solcher Dreiecke ausgeschnitten, bevor das Mädchen merkte, was ich tat. Sie war nicht erschreckt, nur recht verwirrt und fragte sich wohl, was ich im Sinn hatte. Natürlich gab es einen großen Bohei, und meine Mutter bot schamvoll an, dem kleinen Mädchen ein neues Kleid zu kaufen; aber deren Mutter sagte: »Oh nein! Machen Sie sich keine Sorgen, es ist ja nur kindliche Torheit.« Einige meiner Lästerer haben versucht zu unterstellen, dass dies eine Andeutung meiner späteren Vorlieben gewesen sei, doch das leugne ich strikt. Niemals wieder habe ich eine Schere benutzt, um in das Kleid eines Mädchens zu schneiden!
Achtzig Kilometer östlich von San Francisco befindet sich die Deltaregion, wo drei Flüsse – der Sacramento, der San Joaquin und der Mokelumne – zusammenfließen. Sie sind durchsetzt von Dutzenden von Zuläufen, die Sloughs genannt werden, wodurch viele Inseln gebildet werden. Das Wort »Slough«* ist eigentlich unzutreffend, da diese Wasserwege mit ihren Trauerweiden und Pappeln entlang der Ufer äußerst malerisch sind. 1921 erwarb Großvater ein Grundstück neben einem dieser Wasserwege, bekannt als Little Dutch Slough. Im Norden des Grundstücks gab es einen Milchhof – mit einem Stall, einem Schuppen, sämtlichem Gerät und vielen Kühen – den Großvater verpachtete. Auf der anderen Seite der Felder, etwa einen Kilometer entfernt, stand ein weiteres Haus, das Großvater als Wochenendzuflucht nutzte. Dies war die Green Lodge Ranch, ein weitläufiges Haus, umgeben von Robinien und Pfeffersträuchern, mit einem Wasserturm daneben, auf dem ein Tank ruhte.
* Anm. des Übers.: Original: »slough«, dt. Sumpf. »Wasserweg« ist wohl eine treffende Umschreibung.
Im Sommer 1922 wurde entschieden, dass die Familie – meine Mutter und wir fünf Kinder – zur Green Lodge Ranch ziehen würden, um dort den Sommer zu verbringen. Das traf auf unsere Zustimmung, da es auf dem Grundstück einen Stall mit einem kleinen Shetlandpony, einem Pferd und einem altmodischen Einspänner gab. Dort gab es sogar eine Quelle, aber die Pumpe war außer Betrieb, und deshalb mussten wir eine Zeit lang Pferd und Einspänner benutzen, um zum einen Kilometer entfernten Nachbarn zu fahren, einige Fässer mit Wasser zu füllen und dann zur Ranch zurückkehren. Das ging einige Monate so, bis wir endlich die Quelle wieder in Betrieb nahmen und den Tank füllten, was die Dinge um einiges bequemer machte.
Bisher habe ich meine Tante, Nellie Holbrook, nicht erwähnt. Unser Haus in San Francisco befand sich in 2660 Filbert Street, und sie wohnte in 2664 Filbert Street, nebenan. Tante Nellie war affektiert und prüde, bis zu dem Grad, dass, wann immer ich eine meiner Platten spielte, sie sich weigerte, das Wort »Jazz« in den Mund zu nehmen, sondern die Musik stattdessen als »Zazz« bezeichnete. Ich möchte, was sie betrifft, nicht in die Einzelheiten gehen, nur so viel, dass sie über die Jahre hinweg meiner Mutter eine große Menge Schwierigkeiten bereitete. Sie war die Schwester meines Vaters und ihm auf nahezu unnatürliche Weise zugewandt; sie war überaus eifersüchtig auf meine Mutter. Während wir oben auf der Green Lodge Ranch waren, nutzte sie die Gelegenheit, um unser Haus an Leute zu geben, die ihr eine ansehnliche Miete zahlten. Am Ende des Sommers, als wir zurück in die Stadt ziehen wollten, drängte uns meine Tante zu bleiben, wo wir waren. Es sei gesund für uns Kinder auf der Ranch zu sein, sagte sie, weshalb wir nicht einfach dort blieben? Die Familie würde, fuhr sie fort, von der Vermietung des Hauses profitieren, und wir Kinder könnten dort zu Schule gehen und ein bekömmliches Landleben führen. Meine Mutter stimmte, unter dem Druck seitens Vaters, schließlich zu.
Etwa einen Kilometer östlich der Green Lodge Ranch gab es eine kuriose, altmodische Schule mit zwei Räumen, die Iron House School. Sie musste zu dieser Zeit mindestens fünfzig Jahre alt sein. Ich begann dort mit der ersten Klasse; meine Geschwister gingen in die entsprechenden Klassen.
Als ich in der zweiten Klasse war, gründete die Lehrerin Miss Lawson einen Mundharmonika-Club. Sie lehrte uns alle, wie man Marine Band Mundharmonikas spielte, was zu der Zeit 50 Cent kostete. Dank Miss Lawson spiele ich immer noch Mundharmonika.
Während dieser Zeiten wohnte Vater nur gelegentlich auf der Green Lodge Ranch und war häufig woanders, in Geschäftsangelegenheiten unterwegs oder in San Francisco im Haus der Tante. Das kümmerte uns Kinder nicht so sehr, weil er ein recht schroffer, lauter, selbstgerechter Kerl war und, wenn ich es schon sagen muss, ein kleiner Tyrann. Als meine beiden älteren Brüder ihren Abschluss an der Iron School machten, überredeten Vater und Tante sie, nach San Francisco zu ziehen, um die High School zu besuchen, wo sie sich, nach Überzeugung meiner Tante, gesellschaftlicher Vorteile erfreuen würden, die in der ländlichen Umgebung nicht gegeben seien. Mutter missbilligte es sehr, aber sie wurde von meinen Brüdern, Vater und Tante überstimmt, und so wurde der Haushalt weiter aufgeteilt.
Mir machte es so oder so nichts aus. Zu der Zeit war ich ein schmächtiger junger Bursche, ein rechter Bücherwurm mit kurzem dunklem Haar, einer Brille – meine Augen waren schon in jenen Tagen schlecht – und nicht besonders gesellig. Großvater nannte mich Steinmetz, was mir nicht besonders gefiel, da Steinmetz kein Tom Mix oder Douglas Fairbanks war.
Großvater kam gewöhnlich jedes Wochenende aus der Stadt angefahren, in einem schönen Twin Six Packard Saloon. Er selbst konnte nicht fahren, also übernahm dies George Slade, sein Chauffeur. George besaß eine Unterkunft im Obergeschoss des Hauses in der Haight Street, wo man ihn während seiner Freizeit Saxophon spielen hören konnte.
Jeden Freitag sollten mein Bruder David, meine Schwester Pat und ich den Vorhof aufräumen: ihn rechen, um sicherzustellen, dass keine Blätter in der Zufahrt lagen, und alles so richten, dass es im Allgemeinen ordentlich aussah. Gegen drei Uhr Nachmittags begannen wir, die Straße auf und ab zu schauen. Schon bald darauf sahen wir den Packard heranrollen, und das voller Aufregung, denn aus dem Wagen kam als Erstes mein Großvater, gefolgt von seiner Mutter – meiner Urgroßmutter – dann meine Großmutter und häufig Gäste, die er für das Wochenende mit zur Ranch gebracht hatte. Seine Gäste waren von jeglicher Couleur: zuweilen etwas unverbindlich, zuweilen Geschäftsleute. Dessen ungeachtet erfreuten wir uns dieser Wochenenden immer. Samstagmorgens schnitten Großmutter und Mutter Nieren, die kurz angebraten wurden und unser übliches Samstagsfrühstück darstellten. Das sonntägliche Abendessen bestand aus einem Drei- oder Vierrippen-Roastbeef oder gelegentlich einem Lamm- oder Schweinebraten und war stets ein bemerkenswertes Ereignis, nach dem Großvater, seine Familie und die Gäste in den Packard stiegen und nach San Francisco zurückkehrten und meine Mutter erleichtert aufatmete. Dann ging das Leben wieder ruhig weiter, bis zum nächsten Freitagnachmittag, wenn alles von Neuem beginnen würde.
Bei seinen Ausflügen aufs Land machte Großvater gewöhnlich bei Johnny Heinhold’s Wirtschaft in Oakland halt, am heutigen Jack London Square. Heinhold kannte Jack London, und obwohl es die Zeit der Prohibition war, genossen er und Großvater in aller Stille einige Gläschen Konterbande. Dann fuhr Großvater gewöhnlich weiter zum Hunt Hatch Depot, an dem er beteiligt war, belud dort den Packard mit Säcken voller Apfelsinen, Äpfeln oder anderem Obst und brachte diese mit zur Ranch.
Ich hatte eine schöne