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Gier nach Erfolg: Roman
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Gier nach Erfolg: Roman

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About this ebook

Nick hängt in der Luft. Er hat keine Ahnung, wer er ist, woher er kommt oder wer seine Eltern waren. Alles, was er weiß, ist, dass sein Vater Chirurg war und die Gier nach Erfolg ihn in den Wahnsinn trieb. Allein Adoptivmutter Evelyn kennt Nicks Geschichte, weigert sich aber, sie ihm zu erzählen – bis heute. Um mehr zu erfahren, studiert Nick Medizin, wie einst sein Vater. An der Universität trifft er auf Professor Lingus, der sein Mentor wird. In anregenden Zwiegesprächen lernt Nick von ihm Elementares über Körper und Geist, was ihm auf seiner Reise zu sich selbst zu Gute kommt... Parallel verläuft Jamies Geschichte. Die Journalistin führt ein glückliches Leben: Sie hat einen liebevollen Ehemann, einen Job als Journalistin und verdient gutes Geld. Als ihr Mann ihr jedoch eines Tages vorschlägt, mit ihm ein waghalsiges Experiment zu starten, wendet sich das Blatt. Jamie wird fortan von Schuldgefühlen geplagt und möchte nur noch eines: aussteigen!
LanguageDeutsch
Release dateApr 17, 2019
ISBN9783903263116
Gier nach Erfolg: Roman

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    Gier nach Erfolg - Ceren Uçar

    2018

    NICK, 2017

    Sie packte meine Schultern und rüttelte mich heftig. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein Erdbeben erleben. Der Raum drehte sich und mein Zeitgefühl ging verloren. Ich dachte, die Welt wäre stehen geblieben. Valentina warf eine violette Mappe aus Kunststoff auf mich. Danach einen Stift. Auch ein Glas schleuderte sie nach mir, welches gegen die Wand prallte. Hunderte von Splittern fielen auf den Boden. Einer, der sich wie ein ungewolltes Teil von all den anderen getrennt hatte, strich über meinen Finger. Ich blutete. Das tat weh! Valentina schien es gar nicht zu bemerken, denn sie war mit dem Herumschmeißen von Gegenständen noch nicht fertig.

    Ich hörte sie schreien: »Das kannst du nicht machen!«

    Valentina lief so rot an, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Ich ging ein paar Schritte zurück, als ich merkte, wie mir schwindelig wurde und lehnte mich an die Wand. Meine Mitbewohnerin war eine tolle Persönlichkeit, die hin und wieder ihre Aggressionen rauslassen musste. Sie wurde wütend, wenn sie sah, dass ich mich verzweifelt und einsam fühlte. Das passierte, wenn mir einfiel, wer ich war und woher ich kam. Wenn Valentina grantig wurde, sah ich mir ihre langen schwarzen Locken an, die sie schwungvoll hin und her warf. Einmal nach links, dann nach rechts. Danach nach vorne und hinten. Meine beste Freundin hatte wundervolles Haar, so buschig wie die Mähne eines Löwen, und überdies eine dunkel glänzende Hautfarbe. Ihre länglichen Nägel waren schön gefeilt und sie hatte gepflegte, volle, verführerische Lippen, die sie gern mit einem weinroten Lippenstift ausmalte. Sie kam ursprünglich aus Rio de Janeiro und war die bewundernswerteste Fotografin, die ich je zu sehen bekam.

    Valentina lebte seit einer langen Zeit in London. Ihre Fotografien waren hervorragend. Ihre Art der Veranschaulichung war lebendig und gefühlvoll – keine einfache Darstellung. Man konnte sie sich stundenlang ansehen und fragen, was sich dahinter verbarg. Doch Valentina verriet kaum jemandem ihre Geschichten. Sie meinte, die müsste man sich selbst ausdenken.

    »Das ist auch das Spannende an der ganzen Sache, nicht die Schilderungen dahinter«, erklärte sie, während sie mir einzelne Fotografien zeigte, die wir bewunderten, als wären sie von Annie Leibovitz geschossen worden, einer der bestbezahlten und bekanntesten Fotografinnen der Welt. Dies war aber nicht die einzige Art von Erzählungen und Gedanken, die sie den Menschen mitteilen wollte. Sie meldete sich auch in anderen Bereichen zu Wort. Wenn sie etwa Petersiliensaft trank, das geschmackvollste Getränk in ihren Augen, nahm sie für dessen Beschreibung Wörter in den Mund, die einem nie einfallen würden. Sie dichtete beinahe, während sie ihre Eindrücke schilderte.

    An diesem Abend spürte ich eine enorme Spannung zwischen uns. Ich hatte Schuldgefühle, als ich zusah, wie eine mächtige Wut in ihr aufstieg. Ich hockte mich hin, schloss meine Augen und steckte meinen blutenden Finger in den Mund.

    Ihre Stimme, die in meinen Ohren wie ein Orchester klang, hallte im ganzen Raum: »Hör auf damit!«

    »Mein Blut…«, fing ich an und verzog mein Gesicht. »Es schmeckt wie Popcorn«, fügte ich hinzu, als wäre ich ein Gourmet, der sein fachmännisches Urteil ablegte.

    »Was?«, rief sie und schaute mich verblüfft an.

    »Ich sagte, dass mein Blut wie Popcorn schmeckt«, wiederholte ich meinen Satz und blickte drein, als hätte mich der Geschmack angeekelt.

    Daraufhin schüttelte sie den Kopf, nahm ihre Jacke vom verschmutzten Boden und ging aus der Wohnung. Valentina war enttäuscht von mir. Sie fühlte sich veräppelt. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, dachte ich nach. Ob sie wohl recht hatte? Ich stand hastig auf, um Ordnung zu schaffen. Die Scherben versuchte ich mit meiner zittrigen Hand aufzusammeln. Da ich noch immer meinen blutenden Finger im Mund hatte, musste ich mit einer Hand arbeiten, was eine große Herausforderung war. Währenddessen hatte ich meine Kindheit vor Augen und ich spürte eine Leere in mir. Ich war nichts als eine einsame, blutende, auf sich allein gestellte Hand, die sich durch das Leben kämpfte. Doch Valentina war der Meinung, dass ich besondere Fähigkeiten hätte.

    »Nick… Weißt du eigentlich, was in dir steckt? Du besitzt ein großes Vermögen. Eine riesige Schatztruhe verbirgt sich in dir. Wenn du deine Stärken richtig anwenden würdest, hättest du jetzt einen anderen Status in der Gesellschaft und viel Anerkennung gewonnen«, erklärte Valentina am Abend davor, während sie gierig mit der Gabel in ihrem Shrimps-Salat stocherte.

    Leute, die mich gut kennen, nennen mich Nick, obwohl mein voller Name Nicholas Parker lautet. Seit Jahren musste ich mir von meinen Freunden – besonders von Valentina – anhören, dass ich ein hervorragendes Gedächtnis hätte. In meinem Körper geschahen Vorgänge, die ich nicht definieren konnte. Zum Beispiel wusste ich oft wie etwas schmeckte, ohne es zuvor probiert zu haben. Erstaunlicherweise konnte ich Düfte aus der Ferne wahrnehmen und die feinsten Details beschreiben. Zusätzlich konnte ich genau sagen, woher der Duft kam und welchem Gegenstand oder welcher Person ich ihn zuordnen musste.

    »Hör’ zu, Nick… Ich finde es nicht in Ordnung, dass du dich selbst nicht ernst nimmst. Du besitzt Eigenschaften, die sich viele Leute wünschen würden und dann fängst du erst recht nichts damit an. Du kannst…«, begann sie und ich vollendete den Satz in meinem Kopf: »…ein ganzes Stück in seine Bestandteile zerlegen, ohne es auch nur anfassen zu müssen… « Valentina sprach ja die richtigen Worte aus, aber ich wollte ihre Feststellungen über meine Intelligenz nicht akzeptieren.

    »Himmel, wie oft soll ich es dir noch sagen? Das ist reiner Zufall«, widersprach ich sofort, »nur eine Gunst des Schicksals.«

    Ich seufzte, warf die Scherben weg, schloss die Tür und verließ die Wohnung. Als ich durch die Straßen von London schlenderte, setzte ein erfrischender Regen ein, der auf meine Schultern prasselte. Die einzelnen Tröpfchen konnte ich auf meiner Haut spüren. Es fühlte sich so an, als ob jemand permanent mit seinen Fingern leicht auf meine Schultern tippen würde.

    Ich fragte mich selbst, warum ich nur so seltsam war und richtete meinen Blick auf die Menschen, die an mir vorbeihuschten. Sie hielten ihren letzten heißen Kaffee des Tages in den Händen und liefen nach Hause. Manche von ihnen hatten keinen Regenschirm dabei und hatten es besonders eilig. Ich sah auf den nassen Boden und versuchte solide Schritte zu machen, um den festen Grund, der mir eine gewisse Sicherheit gewährte, unter meinen Füßen besser spüren zu können. Dann schaute ich auf und sah in den Himmel. Ein Tropfen nach dem anderen fiel auf mein Gesicht. Sie kullerten mir über Nase und Wangen.

    »Genau das bin ich«, sprach ich zu mir, »eine Lücke. Ein Spalt zwischen Himmel und Erde und ich weiß nicht, wo ich hingehöre…« Das Außergewöhnliche in mir brachte mich manchmal in Schwierigkeiten. Nicht ganz verstanden zu werden, war für mich eine Hürde. Wenn mich Geistesblitze überfielen und ich von innovativen Gedanken umhüllt wurde, dann bekam ich unerträgliche Kopfschmerzen. Anders zu sein war mühsam. Tatsache war, ich musste mit diesem Gefühl klarkommen und lernen damit umzugehen. Hin und wieder geriet ich in Situationen, in denen ich bewusst versuchte, gewöhnlich zu sein. Mich von anderen nicht zu unterscheiden und meine Fähigkeiten zu verbergen, war nicht so leicht, wie es sich anhörte. Ich erklärte meinen Freunden nicht, dass ich das Innere einer Frucht sehen konnte, wenn sie plötzlich in Gedanken vor meinen Augen auftauchte. Ich war fähig, die exakte Länge, Breite und sogar den Geschmack einer brasilianischen Papaya zu erkennen, obwohl ich nie zuvor eine probiert hatte. Es war einfach verblüffend! Ich konnte, wie erwähnt, sogar ihr Inneres sehen: das Fruchtfleisch, die Kerne und ihre Farben. Das war für mich gleichzeitig eine Last, die ich nicht ertragen konnte, denn das Bild ging nicht fort, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte. Ich konnte zwar Gegenstände sehen und analysieren, aber ich hatte nicht die Fähigkeit sie zu steuern. Meinem Gehirn konnte ich nicht den Befehl geben, dass es jetzt genug wäre und ich keine Früchte mehr sehen wollte. Sie gingen dann, wenn sie bereit waren zu gehen. Und das passierte rund um die Uhr. In manchen Momenten hatte ich Szenen in meinem Kopf, bei denen ich glaubte, ich hätte sie zuvor schon mal erlebt. Eine Art Déjàvu, verwirrend und aufregend zugleich. Manchmal dachte ich, dass ich mir Erinnerungen und Gedanken nur einbildete, aber dann gab es wieder Augenblicke, in denen sie so real waren. Oft war ich überzeugt von ihnen… Hatte ich diese Antwort schon mal gehört? Hatte ich diese Erfahrung zuvor gemacht? Ich flüchtete deshalb vor diesen Erlebnissen und wollte keine ähnlichen mehr durchmachen. Hoffnungslos beschloss ich, diese Begabung den Menschen, die sich in meiner Umgebung befanden, nicht zu zeigen.

    Als der Regen aufhörte, änderte ich meine Strecke und entschied, ausnahmsweise nicht in das Casino – ein Ort, an dem ich Zuflucht finden konnte – zu gehen. Normalerweise verbrachte ich viel Zeit dort, aber an jenem Tag war mir nicht danach. Wenn Valentina und ich einen heftigen Streit hinter uns hatten, war es für mich sehr entspannend, den Leuten zuzusehen, wie sie sich in Kartenspiele hineinsteigerten. Ich hatte Freiraum, konnte Zeit für mich verbringen und mitmachen. Das Mitmachen ließ ich jedoch meistens bleiben. Es war amüsanter, nicht an einem Platz festgebunden zu sein. Mehrere Male erkannte ich, dass das Casino der realen Welt sehr ähnlich war. An manchen Tagen sah ich, wie Menschen hinausgeworfen und verletzt wurden, weil sie sich geprügelt hatten und als Verlierer den Raum verlassen mussten. Große und starke Männer verwandelten sich zu schwachen, sensiblen Kerlen. Am Anfang war ich schockiert, doch mittlerweile war ich gegen dieses Leid immun und spürte keine Bedrückung mehr.

    Mein Weg führte mich zu Evelyn Smith Jackson, einer wunderbaren Frau. Sie war ein Teil von mir. Meine andere Seite. Mein eigentliches »Ich«. Evelyn war der einzige Mensch, der wusste, woher ich kam und wohin ich gehörte. Sechzig Jahre hatte sie hinter sich, aber trotzdem war sie bildschön für ihr Alter. Sie war klein, etwas mollig und hatte graue Locken, besaß braune Augen, eine kleine Nase und zarte, niedliche Hände. Sie hatte eine Aura, die einem die Seele erwärmte. Diese bescheidene Dame öffnete mir nun die Tür und zeigte mir wieder einmal ihr hübsches Lächeln.

    »Schön, dass du gekommen bist. Komm’ rein, mein Junge!«, rief sie überrascht und machte mir den Weg zum Wohnzimmer frei.

    Evelyn trug eine braune Hose und einen dünnen violetten Pullover, der ihr wie angegossen passte. Sie war die einzige Person in meinem Umfeld, die mich großgezogen hatte und mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Dafür war ich sehr dankbar, denn ich hatte keine Familie und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich niemanden gehabt, der mich verstand und dem ich mich öffnen konnte. Zwar war mir schon als kleiner Junge bewusst, dass ich keine Eltern hatte, den genauen Grund dafür kannte ich aber nicht. Evelyn sprach ungern über sie. Wenn ich sie fragte und wissen wollte, wo meine Mutter und mein Vater waren, erklärte sie, dass sie Schmetterlinge gewesen wären und nur wenige Wochen gelebt hätten. Danach fingen sie ein neues Leben als andere Falter an. Eine Zeit lang glaubte ich, meine Eltern wären tatsächlich Schmetterlinge gewesen. Später erzählte Evelyn, dass der Sensenmann sie geholt hätte. So wusste ich, dass sie nicht mehr am Leben waren und das der Grund war, weshalb Evelyn mich adoptiert hatte. Meinen Geburtsnamen hatte sie jedoch nicht geändert.

    Übrigens wusste auch Evelyn über meine Talente Bescheid. Vor vielen Jahren hatte sie erkannt, dass ich ein besonderer Mensch war und wundervolle Fähigkeiten besaß. Evelyn bestand darauf, dass sie wundervoll waren, denn nur sie wusste, wie sie sich entwickelt hatten. Eines Abends erklärte sie, dass ich im Alter von vier Jahren das Lesen und Schreiben erlernt hätte. »Du warst ein aktives Baby und lerntest viel schneller dazu, als ein durchschnittlich begabtes Kind.«

    Als ich klein war, trainierte ich regelmäßig mein Gehirn. Dies machte ich, indem ich auf die Idee kam, ein Buch umzudrehen und die Sätze verkehrt zu lesen. Das war erst der Beginn, dann subtrahierte oder addierte ich die einzelnen Buchstaben von- und miteinander. Nach einer gewissen Zeit fing ich sogar an, ganze Reihen von ihnen mit anderen zu multiplizieren. Ab und zu konnte ich äußerst bemerkenswerte Berechnungen durchführen und sah Mathematik so aus einem anderen Blickwinkel. Aus den Buchstaben konnte ich sogar Quadratzahlen machen, indem ich die Summe eines Schriftzeichens in einem ganzen Satz bildete und sie quadrierte. Ich zerlegte und fügte sie wieder zusammen, als wäre ich der Meister der Zahlen.

    »Du warst ein intelligenter, einzigartiger, kleiner Mann«, erinnerte sich Evelyn und gab mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. Wir saßen im Wohnzimmer und machten es uns bequem. »Was bedrückt dich?«, wollte sie wissen, während sie ihre Hand an der Hose abwischte.

    Zu Besuch kam ich jede Woche, vor allem, wenn es mir nicht gut ging oder ich einen Gesprächspartner brauchte. Evelyn war mein Wegweiser. Eine Landkarte, die mir die korrekte Richtung zeigte, wenn ich mich in meiner Welt verirrte.

    »Erzähl‘ es mir«, forderte sie mich auf und hörte auf, ihre Hose von Staub zu befreien. Evelyn hatte eine lebendige, angenehme und kräftige Stimme.

    Ich schlug meine Hände über den Kopf und lehnte mich zurück, als hätte ich genug Zeit, über dieses Thema zu reden. Ich musterte Evelyn. Sie hatte mehr als sechzig Vertiefungen in ihrem Gesicht und das war schon eine Menge für eine Dame in ihrem Alter. Es waren kurze, unregelmäßige, feine Linien in ihrer Haut, die unter ihren Augen Platz gefunden hatten.

    Jahrelang hatte ich kein Problem mit zahlreichen mathematischen Formeln und konnte sie immer anwenden, doch ich kannte keine Formel für mich und die Erlösung von meinen Qualen. Das wollte ich Evelyn sagen und meine Sorgen loswerden. Ich wollte zwar, wagte aber nicht die Worte, die auf meiner Zunge lagen, auszusprechen. Ich wusste, was in ihr steckte und was sie sich durch den Kopf gehen ließ. Ihre Haltung, Blicke, Gedanken und ihren Atemrhythmus konnte ich aus der Ferne ablesen. Jede Bewegung, die sie machte, hatte einen tieferen Sinn.

    Ich saß eine Weile da und schaute mich in der Wohnung um. Während ich das tat, dachte ich an meine Kindheit. Ich versuchte, mir meine Mutter und meinen Vater vorzustellen. Ich fragte mich, was für Eltern ein intelligentes Geschöpf wie ich haben musste. Wie sahen sie aus? Welche idiosynkratischen Merkmale hatten sie? Wie hatten sie sich kennengelernt? Woher kannten sie Evelyn? Auf all diese Fragen wollte ich Antworten, aber bislang fühlte ich mich nicht bereit dafür. Ich konnte nicht von heute auf morgen alles um mich herum möglicherweise einstürzen lassen. Ich benötigte noch ein wenig Zeit, um mich psychisch vorzubereiten. Während ich mir diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ, hörte ich Evelyn meinen Namen rufen. Ich zuckte zusammen und ihre Stimme holte mich zurück. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, wollte sie wissen und schaute mich erschüttert an.

    Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte. Anschließend stand ich auf, denn ich wollte nach Hause gehen. Ich teilte Evelyn mit, dass ich ein andermal wiederkommen würde.

    Am nächsten Tag ging ich in ein Café, ich musste mein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Ich beobachtete meine Umgebung. Beeindruckt schaute ich die Menschen an, wie sie sich um mich herum bewegten. Innerlich wollte ich wissen, ob sie es tatsächlich so eilig hatten, wie sie taten. Langsam führte ich meinen Melissensaft zum Mund und nippte an ihm.

    Die Melisse ist eine Pflanze, die Heilwirkung besitzt und äußerst beruhigend wirkt. Woher ich diese Information hatte, konnte ich nicht genau sagen, aber der Saft erinnerte mich an meine Zeit als Student an der Universität von Oxford. Eine Professorin, die in großem Maße mickrig und anspruchsvoll war, trank dieses Getränk, wenn sie sich von der Vorlesung erholen wollte. »Ich muss mir jetzt einen Melissensaft gönnen«, fauchte sie dann, als wären wir kleine Kinder, mit denen sie nicht klarkam. Es wunderte mich daher nicht, dass sich diese Pflanze in meinem Unterbewusstsein verankert hatte.

    Vieles, was ich einmal gehört hatte, vergaß ich nie wieder. Ich speicherte die Information in meinem Gehirn und irgendwann, wenn ich sie brauchte, holte ich sie hervor und wandte sie an… Wieso bin ich so anders und fühle mich wie ein Botschafter, der an diesem Ort eine diplomatische Rolle übernimmt und eigentlich von einem anderen Planeten stammt? In der Tat fühlte ich mich so, als würde ich aus einer anderen Welt kommen. Wie sagte Arthur Schopenhauer, der deutsche Philosoph, Autor und Hochschullehrer? »Zwischen dem Genie und dem Wahnsinnigen ist die Ähnlichkeit, dass sie in einer anderen Welt leben, als der für alle vorhandenen.« Musste ich mich so sehr von ihnen unterscheiden? Von den Menschen, die alle – mehr oder weniger – gleich waren? Eines stand fest: Ich fühlte mich zwiegespalten, als bestände ich aus zwei halben Äpfeln, die von zwei unterschiedlichen Sorten stammten und daher auch nicht zusammenpassten. Ich kannte weder meine Eltern noch hatte ich Freunde. Valentina war die Ausnahme. In puncto Sozialisierung war ich schlecht und hielt mich ungern in Menschenmengen auf. Ich war eine unnahbare Person, die sich kaum mit anderen umgab. Meine Haltung und mein Sinn für Humor unterschieden sich sehr von der Norm. Meine Sichtweisen und Meinungen zu diversen Themen waren ungewöhnlich. Obwohl ich meine Jugendzeit hinter mich gebracht hatte, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, ob ich mich dadurch verändert hatte. Ich konnte mich einfach nicht anpassen und fühlte mich desorientiert.

    Einsam und verlassen hockte ich hier im Café. Die Sonne strahlte. Ich spürte die Wärme auf meinen Wangen. Um meinen Kopf zu entleeren, schloss ich die Augen und ruhte mich aus. Es fühlte sich so an, als wollte ich aus meinem Gedankenkäfig ausbrechen. Es war nicht leicht, so viel Wissen zu besitzen. Manchmal hatte ich keine Energie mehr und wünschte mir für einen einzigen Tag lang durchschnittlich zu sein. War das denn zu viel verlangt? Plötzlich fiel mir ein, dass ich heute ein Erstgespräch hatte! Da ich meinen Master in Medizin

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