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Revolte und Tradition: Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik
Revolte und Tradition: Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik
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Ebook444 pages5 hours

Revolte und Tradition: Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik

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About this ebook

Nach den Ereignissen im Dezember 2010 und Januar 2011,
die zur Vertreibung des Diktators Ben Ali führten und den
Arabischen Frühling einleiteten, hat Tunesien eine komplexe und
widersprüchliche Entwicklung erlebt. Was aber als demokratische
Errungenschaft bleibt, ist eine Zivilgesellschaft, die offene und
freie Diskussionen führt und einen demokratischen Prozess
vorantreibt. Die Germanistik ist Teil dieser Zivilgesellschaft und
eines offenen Diskussionszusammenhangs. Der vorliegende
Band dokumentiert eine Paderborner Tagung vom Mai 2013, die
im Rahmen der vom Deutschen Akademischen Austauschdienst
unterstützten Transformationspartnerschaft stattfand, und
zeigt ein großes Spektrum von Themen, das in einem offenen
und kritischen Dialog zwischen tunesischen und deutschen
Germanistinnen und Germanisten behandelt wurde. Dabei wurden
unter anderem Fragen des deutschen Maghreb-Diskurses ebenso
erörtert wie Aspekte des Verhältnisses von Kultur und Religion,
aber auch praktische Fragen des Fachsprachenunterrichts und
Perspektiven des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
LanguageDeutsch
Release dateMar 5, 2019
ISBN9783959084819
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    Book preview

    Revolte und Tradition - Thelem / w.e.b Universitätsverlag und Buchhandel

    Inhaltsverzeichnis

    Michael Hofmann

    Revolte und Tradition. Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik. Zur Einführung

    Tunesien zwischen Revolte und Tradition

    Najjar Hassouna

    »Harlem Shake« als Moment der Jugendrebellion in Tunesien

    Mohamed Hedi Ferchichi

    Tunesien: Historische Perspektiven und aktuelle Entwicklungen vor und nach dem Arabischen Frühling – eine persönliche Bestandsaufnahme

    Nicole M. Wilk

    Der Arabische Frühling – Die Namenwerdung einer politischen Metapher

    Moez Maataoui

    Die Erziehung zur Demokratie in Tunesien mittels übersetzter deutscher Kinderliteratur am Beispiel von Martin Baltscheits Bilderbuch Ich bin für mich! Der Wahlkampf der Tiere

    Maike Bouassida

    Die Tunisreise oder Von der Seligkeit der Farben

    Kaïs Slama

    Mohammed Ali El Hammi zwischen Berlin und Tunis (1919–1924). Zur Geschichte der tunesischen Gewerkschaftsbewegung

    Michael Hofmann

    Faszination und Abwehr. Überlegungen zum deutschen Maghreb-Diskurs am Beispiel von Wieland Försters Tunesien-Reisetagebuch Begegnungen (1974)

    Perspektiven der Interkulturellen Literaturwissenschaft

    Johanna Canaris

    Leben als erweiterter Kunstbegriff. Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika als Endpunkt seines Gesamt(kunst)werks

    Christian Frankenfeld

    Der Mensch als fremdes Eigentum: Sklaverei zwischen Orient und Okzident

    Iulia-Karin Patrut

    Der Atem des Lebendigen als Welt-Takt. Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch

    Swen Schulte Eickholt

    Romantische Postmoderne in der Türkei. Religiöse Aspekte in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Orhan Pamuks Das neue Leben

    Revolution und Gedächtnis in kulturwissenschaftlicher Perspektive

    Julian Kanning

    Die Form der Erzählung bei Hayden White und die Strukturanalyse dramatischer Revolutionsdarstellungen

    Brahim Moussa

    Fotografische Geschichtsrückgewinnung in W. G. Sebalds Austerlitz. Unzulängliche Zeugenschaften

    Deutsch als Zweitsprache und Linguistik

    Alexandra Eberhardt

    Deutsch als Zweitsprache als didaktische Herausforderung

    Latifa Jabnoun

    Die arabische Schrift zwischen Revolte und Tradition – Arabisch mit Zahlen schreiben!

    Chaouki Kacem

    Die temporalsemantischen Bezüge im Konjunktivsystem des Deutschen in ihrer Entwicklung. Ein vergleichender Essay

    Über die Autorinnen und Autoren

    Michael Hofmann

    Revolte und Tradition. Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik. Zur Einführung

    Vom 6. bis 9. Mai 2013 fand an der Universität Paderborn im Kontext der im Jahr 2012 ins Leben gerufenen und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) im Rahmen der Transformationspartnerschaft Nordafrika unterstützten Kooperation der Universitäten Paderborn/Mahdia-Monastir/Carthage-Tunis ein interkulturelles Kolloquium unter dem Titel »Revolte und Tradition. Perspektiven deutsch-tunesischer Germanistik« statt.

    Der demokratische Aufbruch in Nordafrika eröffnet auch für die germanistische Forschung und Lehre neue Perspektiven. Die vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderte Transformationspartnerschaft zwischen den Universitäten Paderborn auf deutscher und Mahdia-Monastir sowie Carthage-Tunis auf tunesischer Seite stellt die germanistische Literatur- und Sprachwissenschaft in den Kontext eines Aufbaus der Zivilgesellschaft, der Entwicklung religiöser Toleranz und gesellschaftlicher und kultureller Selbstbestimmung. Das hier dokumentierte Kolloquium unter Leitung von Prof. Dr. Michael Hofmann (Paderborn), Dr. Chaouki Kacem (Mahdia) und Dr. Brahim Moussa (Carthage) untersuchte die angesprochenen Perspektiven und auch die Chancen und Herausforderungen, die sich für die deutsche Germanistik aus der jetzt intensivierten Kooperation ergeben. Die Sektionen der Tagung fragten nach neuen methodischen Perspektiven der Germanistik insgesamt und speziell nach kulturwissenschaftlichen Aspekten der Landeskunde, nach dem Verhältnis von Kultur und Religion sowie nach der Bedeutung von Orient- und Afrika-Diskursen für die postkoloniale Identitätssuche der deutschen Kultur. Die Vortragenden und Beiträgerinnen sind Germanistinnen und Germanisten der Universitäten Mahdia-Monastir, Carthage-Tunis und Paderborn. Hinzu kommen in diesem Band zusätzlich Beiträge von Germanistinnen und Germanisten der Universität La Manouba, Mednine (Kaïs Slama), Nabeul (Latifa Jabnoun) und der Universität Flensburg (Iulia-Karin Patrut).

    Im ausführlichen ersten Teil des vorliegenden Bandes »Tunesien zwischen Revolte und Tradition« reflektieren die verschiedenen Beiträge aktuelle und historische Tunesien-Diskurse aus tunesischer und deutscher Perspektive und sie verdeutlichen damit den aktuellen Stand des Selbstverständnisses und der Selbstreflexion der tunesischen Germanistik als Teil einer demokratischen und kulturellen Erneuerung des Landes, die sich positiv auf den Arabischen Frühling und damit auf eine Revolte bezieht, die in Tunesien fruchtbare politische und gesellschaftliche Veränderungen gebracht hat, auch wenn die Gegenwart ökonomisch, politisch und auch im Blick auf die Entwicklung einer lebendigen Demokratie noch große Probleme und Herausforderungen mit sich bringt. Wie die Verleihung des Nobelpreises des Jahres 2015 an das sogenannte Quartett, das aus dem Gewerkschaftsbund UGIT, dem Arbeitgeberverband Utica, der Menschenrechtsliga LTDH und der Anwaltskammer besteht, demonstriert und anerkannt hat, ist es der tunesischen Zivilgesellschaft in heiklen kritischen Phasen der nachrevolutionären Entwicklung gelungen, dem Dogmatismus und Fanatismus demokratiefeindlicher Kräfte den Geist des Dialogs, der Toleranz und der demokratischen Meinungsbildung in der Konkurrenz der Positionen und Haltungen entgegenzusetzen. Die Germanistik nimmt an diesen Entwicklungen nicht parteiisch im Sinne der Identifizierung mit einzelnen politischen Parteien oder Gruppierungen teil, aber parteilich eben für Dialog, Toleranz und für die Hochschätzung kultureller und religiöser Vielfalt und Pluralität. In dem Beitrag von Najjar Hassouna (ISLT Carthage) wird mit »›Harlem Shake‹ als Moment der Jugendrebellion in Tunesien« demonstriert, wie die tunesische Revolte sich kreativer und innovativer kultureller Formen bedient, um dem Dogmatismus und der autoritären Gewalt zu trotzen und neue Praktiken der kulturellen Artikulation und Selbstverständigung zu entwickeln. Mohamed Hedi Ferchichi (La Manouba) verdeutlicht mit seinem Beitrag »Tunesien: Historische Perspektiven und aktuelle Entwicklungen vor und nach dem Arabischen Frühling – eine persönliche Bestandsaufnahme« einerseits die Hypotheken, denen sich die Republik Tunesien nach den langen Jahren der Diktatur gegenübersieht, andererseits aber auch die Perspektiven und Potentiale, die eine positive Entwicklung zumindest denkbar erscheinen lassen. Wie sich der Begriff Arabischer Frühling in deutschen und anderen europäischen Medien entwickelte und zu einem festen Terminus wurde, erläutert Nicole M. Wilk (Paderborn) in dem diskursanalytischen Beitrag zur »Namenwerdung einer politischen Metapher«.

    Kinderbücher können einen Beitrag zur Erziehung zur Demokratie und Mündigkeit leisten. Von dieser Einsicht geht Moez Maataoui (La Manouba) aus und er stellt in seinem Beitrag »Die Erziehung zur Demokratie in Tunesien mittels übersetzter deutscher Kinderliteratur am Beispiel von Martin Baltscheits Bilderbuch Ich bin für mich! Der Wahlkampf der Tiere« die Frage, welche Probleme und Herausforderungen sich dabei aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht ergeben. Maike Bouassida (La Manouba) weist mit ihrem Aufsatz »Die Tunisreise oder Von der Seligkeit der Farben« auf einen Höhepunkt des deutschen Tunesien-Diskurses hin, der sich mit der Tunisreise von August Macke, Louis Moilliet und Paul Klee im Jahre 1914 ergab. Kaïs Slama (Universität Mednine) befasst sich in seinem landeskundlichen Beitrag »Mohammed Ali El Hammi zwischen Berlin und Tunis (1919–1924). Zur Geschichte der tunesischen Gewerkschaftsbewegung« mit einem deutsch-tunesischen Kapitel der Arbeiterbewegung. Michael Hofmann (Paderborn) beschreibt in seinem Beitrag »Faszination und Abwehr. Überlegungen zum deutschen Maghreb-Diskurs am Beispiel von Wieland Försters Tunesien-Reisetagebuch Begegnungen (1974)« ein weniger bekanntes, aber sehr aussagekräftiges und interessantes Dokument des deutschen Tunesien-Diskurses.

    Im zweiten Teil dieses Bandes »Perspektiven der Interkulturellen Literaturwissenschaft« reflektieren deutsche Beiträgerinnen und Beiträger mit Analysen zu Diskursen aus und über Afrika, dem Maghreb und der Türkei aktuelle Fragen, die sich aus der Kritik am traditionell eurozentrischen Diskurs der germanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft ergeben. Johanna Canaris (Paderborn) beschreibt in ihrem Beitrag »Leben als erweiterter Kunstbegriff. Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika als Endpunkt seines Gesamt(kunst)werks« die kulturwissenschaftlichen Implikationen des letzten Projekts des früh verstorbenen Film- und Aktionskünstlers Schlingensief, das in intensiver Auseinandersetzung mit den kulturellen Perspektiven Burkina Fasos und des subsaharischen Afrikas insgesamt entstand. Christian Frankenfeld (Paderborn) erörtert in seinem Aufsatz »Der Mensch als fremdes Eigentum: Sklaverei zwischen Orient und Okzident« die Bedeutung und damit auch die Hypothek, die das epochale Phänomen der Sklaverei für die Beziehungen zwischen Europa, Afrika, der arabischen und der »Neuen« Welt bedeutet. Iulia-Karin Patrut (Flensburg) analysiert in ihrem Beitrag »Der Atem des Lebendigen als Welt-Takt. Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch« Canettis bereits kanonischen Maghreb-Text aus aktueller postkolonialer Perspektive und Swen Schulte Eickholt (Paderborn) stellt in seinem Aufsatz »Romantische Postmoderne in der Türkei. Religiöse Aspekte in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Orhan Pamuks Das neue Leben« Bezüge zwischen der deutschen Romantik und der türkischen Gegenwartsliteratur heraus.

    Der dritte Teil unseres Bandes »Revolution und Gedächtnis in kulturwissenschaftlicher Perspektive« versammelt zwei Beiträge, die sich den aktuell viel diskutierten Bezügen zwischen Revolution, geschichtlichen Katastrophen und Gedächtnis in kulturwissenschaftlicher Perspektive widmen. Julian Kanning (Paderborn) verdeutlicht in seinem Aufsatz »Die Form der Erzählung bei Hayden White und die Strukturanalyse dramatischer Revolutionsdarstellungen« die grundlegende These, dass Darstellungen der Revolution durch formale und rhetorische Muster geprägt sind, die ihr Verständnis sehr weitgehend bestimmen und strukturieren. Brahim Moussa (ISLT Carthage) zeigt in seinem Beitrag »Fotografische Geschichtsrückgewinnung in W. G. Sebalds Austerlitz. Unzulängliche Zeugenschaften«, wie Sebald in dem analysierten Text die Bedeutung und Funktion der Fotografie für das kulturelle Gedächtnis zugleich würdigt und problematisiert.

    Im abschließenden vierten Teil dieses Sammelbandes finden sich Studien zu den Bereichen »Deutsch als Zweitsprache und Linguistik«. Alexandra Eberhardt (Paderborn) zeigt in ihrem Beitrag »Deutsch als Zweitsprache als didaktische Herausforderung« die besonderen Bedingungen und Strukturen des Zweitspracherwerbs im Deutschen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für Schulunterricht und Studium. Latifa Jabnoun (Universität Nabeul) verdeutlicht in ihrem Beitrag »Die arabische Schrift zwischen Revolte und Tradition – Arabisch mit Zahlen schreiben!«, wie die neuen und neuesten Medien das Schreiben des Arabischen beeinflussen und neue Formen der Darstellung begünstigen. Chaouki Kacem (Mahdia/Monastir) schließlich bietet mit seinem Aufsatz »Die temporalsemantischen Bezüge im Konjunktivsystem des Deutschen in ihrer Entwicklung. Ein vergleichender Essay« aktuelle Perspektiven der tunesischen germanistischen Sprachwissenschaft.

    Die Vielfalt und die Originalität der vorliegenden Beiträge zeigen die Bandbreite und die umfangreichen Forschungsinteressen der tunesischen Germanistik, aber auch die Herausforderungen, die sich aus der Begegnung mit der tunesischen Germanistik für die deutsche Forschung des Faches ergeben. Dieser Band bezeichnet im Übrigen keinen Abschluss, sondern die Bilanz erster Begegnungen, die fortgesetzt werden und aus denen neue Diskussionen und Erkenntnisse erwachsen werden. Möge die tunesische Germanistik wie die tunesische Gesellschaft in einem Klima des Friedens, des Dialogs und der Toleranz und der weltanschaulichen Vielfalt eine gedeihliche Weiterentwicklung erleben!

    I.

    Tunesien zwischen

    Revolte und Tradition

    Najjar Hassouna

    »Harlem Shake« als Moment der Jugendrebellion in Tunesien

    Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.

    Friedrich Nietzsche

    »Essalamu aleikum« heißt auf Arabisch »Friede sei mit Ihnen«.¹ Wäre ich ein Wahabit und Salafist gewesen, hätte ich am Anfang und als Erster diese Grußformel wahrscheinlich nicht aussprechen dürfen. Eine Fatwa aus Saudi-Arabien steckt dahinter.² Der nicht nur durch die arabische und islamische Welt, sondern auch durch Europa und Deutschland gereiste berühmte Saudi-Prediger Muhammed Al Arifi³ hat eine besondere Fatwa über die wahre islamische Grußformel von Christen und Juden erlassen. Al Arifi zufolge haben der Prophet und die prophetische Tradition davon abgeraten, Christen und Juden mit »essalamu aleikum« zu begrüßen. Ich dürfte aber meinen Gruß stattdessen mit »guten Morgen, guten Tag« oder »guten Abend« anfangen. Obwohl konservative islamische Länder wie Kuweit und die Emirate und europäische Länder wie die Schweiz gegen Al Arifi Einreiseverbote erwirkten, durfte er in den letzten Monaten durch europäische Länder wie Deutschland und arabische Länder wie Tunesien touren.

    In Deutschland hat Al Arifi in Moscheen gepredigt, in Tunesien durfte dieser Mufti aber mit Hilfe salafistischer Organisationen und islamistischer Studentenvertretungen und gegen alle Regeln der Uni in dem »jami« und der »jamia« predigen. Diese verwandten Worte stehen in der arabischen Sprache für Moschee und Universität. Es scheint, dass es in dem von den Islamisten nach der Revolution regierten Tunesien keinen Unterschied zwischen Universität und Moschee mehr gibt. Als Salafisten die Fakultät der Künste und Humanwissenschaften »La Manouba« nahe der tunesischen Hauptstadt Tunis Ende 2011 besetzt haben, sind Vortragssäle, Klassenräume, Verwaltung und Universitätsgelände für Wochen zum offenen Gebetsraum und Orte gewalttätiger Aktionen geworden. Die Medien sprachen von salafistischen Foltermethoden. Es ging um eine Dauerbeschallung durch religiöse Lieder, die den Unterricht an der Universität störte. »Obama, Obama, kulluna Osama«, was übersetzt »Obama, Obama, wir sind alle Osama« heißt, war eines dieser Lieder, die die motivierten jungen Salafisten auf dem Gelände gesungen haben. Der Zugang zur Universität, zur Verwaltung und zum Unterricht wurde von Salafisten und islamistischen Studenten oft gestört oder total blockiert. Dekan, Universitätslehrer und Studenten wurden nicht nur ständig belästigt und eingeschüchtert, sondern auch angegriffen. Ein Salafist, berichtete eine 60-jährige Germanistin und Professorin, habe sie bedroht und angeschrien: – »nāthbhak« – »ich schlachte dich« – auf Arabisch. Eine hervorragende Belohnung, kurz vor der Rente, für eine Gründerin der Germanistik in Tunesien.

    Da ich Anfang der 1990er Jahre Student an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität La Manouba war und dort heute Doktorand bin, weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung an diesem Campus, dass diese Uni, weil sie auch unter Bourguiba und Ben Ali eine alte, hartnäckige Burg des Widerstands der nationalen demokratischen Kräfte und eine Bastion der Linken und der tunesischen Moderne war, eine fundamentale, bevorzugte Zielscheibe nicht nur der neuen islamistischen Regierung in Tunesien, sondern auch der von der Aufklärung und Moderne beunruhigten Golfmonarchien und der reaktionären Kräfte Arabiens im Allgemeinen sein würde. Auch die von den Islamisten dominierte und manipulierte Troika hat ihre »Freikorps«, jeder kennt sie heute in Tunesien, »essalafiyyen«, die Salafisten; Gotteskrieger, die im In- und Ausland bekannt geworden sind. Die in Libyen, Mali und Syrien kämpfenden Tunesier werden sicher eines Tages in die Heimat zurückkehren. Sie werden aber dem Arabischen Frühling und dem tunesischen Volk sicher keine Jasminblumen schenken. Tunesien galt schon seit langem bei den Wahabiten als verwestlicht und zu liberal. Den demokratischen Prozess hier zu Fall zu bringen zählt, zweifellos, zu den Prioritäten der arabischen Monarchien. Ich meine vor allem Saudi-Arabien und Katar. Diese mittelalterlichen Regimes wollen doch nur bequem auf ihrem Erdöl sitzen bleiben. Kommt aber die Gegenrevolution nur aus dem islamischen Orient? Dazu schreibt der Journalist Marc Thörner:

    ›Müssen wir nach der Revolution nun mit der Scharia rechnen?‹ fragen besorgte Beobachter mit Blick auf Nordafrika. Doch der ›Islamismus‹ ist nicht nur allein im Orient entstanden, sondern wurzelt in einer gemeinsamen Tradition westöstlicher Anti-Aufklärung, deren militärischer Ableger die Aufstandsbekämpfung ist, die aktuelle Doktrin der NATO. So erscheint es alles andere als sicher, ob sich die Demokratie auf Dauer gegen ihre Feinde durchzusetzen vermag.

    Die deutschen Sicherheitskräfte waren schon 2012 mit dem »Salafistentanz« auf deutschen Straßen konfrontiert. Salafistische Hassprediger reden schon ohne Skrupel über Scharia und Hände und Füße abhacken, und das im »postmodernen« Europa. Kein Wunder also, dass sie nach den Umbrüchen in Tunesien und aufgrund der politischen und sozialen Umwälzungen des Arabischen Frühlings am Campus La Manouba um Geschlechtertrennung und gegen ein Vollverschleierungsverbot kämpfen.

    Die Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität La Manouba ist besonders nach dem Wahlsieg der Islamisten zum Schauplatz eines ideologischen Krieges zwischen den tunesischen Modernisten und den Konservativen geworden. Die Verantwortung für das, was in »Manoubistan« geschah, schob die islamistische Nahdha-Partei, vertreten besonders durch einen konservativen Minister für Hochschulwesen und Forschung, jedoch nicht den Salafisten, die auch die tunesische Fahne am Eingang der Fakultät durch die schwarze Fahne der Qaida und Dschihadisten ersetzten, sondern dem Dekan der Fakultät in die Schuhe. Er wurde vor den Richter gestellt, weil er angeblich eine Niquab-Trägerin geohrfeigt habe …! Das Fragen, sagt Martin Heidegger, ist die Frömmigkeit des Denkens. Ich frage aber wie viele andere Tunesier: Wie viele fundamentalistische Wahrheiten verträgt ein tunesischer Geist? Wie viele verkalkte, archaische und überkommene Traditionen und Absurditäten kann die sogenannte tunesische Facebook-Jugend vertragen?

    Beate, eine Freundin aus Berlin, die ich vor kurzem während des »Weltsozialforums« in Tunis auf dem Universitätscampus in El Manar getroffen habe, erzählte mir, dass sie bei ihrem ersten Besuch in Tunesien die Stimmung als ziemlich depressiv empfunden habe. Ich fragte aus Neugier: »Wieso?« Sie sagte: »Das sieht man an den Gesichtern der Frauen in der Straßenbahn.« Da habe ich mir gedacht: Was wäre das beste Elixier gegen diese tödliche Depression, die überall im Land herrscht? »Schütteltanz«, »Harlem Shake«, ist das wirksamste Heilmittel, antwortete mir die tunesische Jugend! Eine Art »Neurose[] der Gesundheit«⁵ bricht aus, die Jugend hat eine Therapie gegen Depression entdeckt. Der Leib, der in der arabischen Gesellschaft oft verhüllt, geopfert und mumifiziert wird, wird jetzt zum Schauplatz der Revolte und zur Bühne einer Selbstüberwindung und einer Selbstgestaltung der Jugendlichen. Der Leib erweist sich in diesem Kontext als Versuch der Befreiung von der Herrschaft der alten Hirten der Moral und zur Entfesselung von der staatlichen Regierungskunst und deren »Gouvernementalität« (Foucault).

    Eine getanzte Revolte der Jugend erlebten mehrere Schulen und Universitäten Ende Februar und Anfang März 2013 in Tunesien. Internationale Medien berichten: »Tanzphänomen ›Harlem Shake‹ sorgt für Konflikte in Tunesien«⁶; »›Harlem Shake‹: Protest-Schütteln in Tunesien«⁷; »Salafists fail to stop ›Harlem Shake‹ in Tunisia«.⁸ SPIEGEL online vom 4. März 2013 berichtet unter dem Titel »Tanzstreit in Tunis und Kairo – Ausziehen und zappeln kommt nicht gut an«:⁹

    An einer Sprachschule in der Hauptstadt Tunis wollten Studenten vergangene Woche ein ›Harlem Shake‹-Video drehen, als konservative Muslime der Salafisten-Bewegung auftauchten, um die Aktion zu verhindern, berichtete die Nachrichtenagentur AFP. ›Unsere Brüder in Palästina werden von Israelis getötet, und ihr tanzt‹, soll einer gerufen haben. Die Konservativen hätten sich schließlich zurückgezogen, und die Studenten hätten ihren Film aufzeichnen können.

    Es geht hier um das »Institut Supérieur des Langues de Tunis« (ISLT) der Universität Carthage, das Sprachinstitut, an dem ich arbeite. Auf Videos, die man ins Netz gestellt hat, habe ich zwei meiner Studenten, die am Tanz beteiligt waren, erkannt. Was aber genau ist dieser Schütteltanz, »Harlem Shake«?

    Das Lied »Harlem Shake« geht auf den Frühling 2012 zurück. In den sozialen Medien ist »Harlem Shake« als ein Tanzphänomen und ›Virus‹ zu einem Ereignis geworden: »Ein Song, ein Tanzstil, ein YouTube-Video«¹⁰, liest man in den Medien.

    Wie im Fall der Revolte des Arabischen Frühlings brach auch das Tanzphänomen »Harlem Shake« zuerst in Tunesien und dann in Ägypten aus. In beiden Ländern aber wurde der Tanz der Jugend zum Politikum, zu einer neuen Form der Protestkultur, wurde der Tanz zur Waffe gegen die neue islamistische rückwärtsgewandte Politik. Vor den Wahlen hat die islamistische Nahdha-Partei dem tunesischen Volk und der tunesischen Opposition die Gründung einer zivilen, bürgerlichen Gesellschaftsordnung versprochen. Schon am 18. Oktober 2005 hat die Nahdha-Partei im Rahmen des Widerstandes der tunesischen Opposition gegen Ben Ali im In- und Ausland ihren Partnern, zum größten Teil linke Parteien, offiziell im Abkommen der Opposition vom 18. Oktober erklärt, dass sie für die Gründung eines demokratischen und modernen Rechtsstaats kämpfen werde. Dies zu glauben gehört meiner Meinung nach nicht nur zur Naivität der tunesischen Demokraten und der Elite, sondern auch zum »postmodernen« arabischen Witz! »Faqidu escheyi la yu’tih«, so lautet ein altes arabisches Sprichwort! Das bedeutet auf Deutsch: »Was man nicht besitzt, das kann man nicht verschenken.« Man braucht in Wirklichkeit keine komplexen Diskursanalysen über den politischen Islam vorzutragen, um die angeblich geheime Agenda der Islamisten in Tunesien zu entlarven. In seinem Vorwort zur ersten tunesischen Ausgabe seiner Schrift al hurriyat al-’āmma fī addawla al-islāmiya¹¹ (dt. Die fundamentalen Freiheiten im islamischen Staat) schreibt Rached el Ghannouchi, der Gründer der islamischen Bewegung in Tunesien und jetziger Vorsitzender der Nahdha-Partei, der wirkliche Herrscher und der neue Khomeini Tunesiens:

    Das Ziel dieses Buches und der ganzen Forschung besteht, wie wir es in der ersten Ausgabe behaupteten, nicht darin, einen wissenschaftlichen Durst zu stillen, sondern eine islamische Revolution auszuführen, die das Böse ›Taghut‹ von der Gotteserde abreißt.

    Die »Vermuslimbrüderung« der arabischen Gesellschaft und des Arabischen Frühlings war und bleibt heute immer noch der Traum aller arabischen Fundamentalisten. Trotz aller scheinbaren Unterschiede vertreten Wahabiten, Sayyd Qutb¹², Abu alaa al Maoududi, Youssef Qaradaoui, Rasched Ghannouchi und auch Tariq Ramadan im Grunde die gleiche salafistische Ideologie. Es sind nur verschiedene Seiten ein und derselben Medaille und verschiedene Diskurse innerhalb desselben salafistischen Spektrums. In seinem Buch Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten erläutert Bernhard Schmid den Begriff »Salafisten«:¹³

    Ihr Name leitet sich von as-salaf, ungefähr: ›Vorfahren‹ oder ›Vorläufer‹, ab. Dieser Begriff bezeichnet in ihrem Sprachgebrauch die Weggefährten des Propheten zu Lebzeiten Mohammeds und in den ersten beiden Generationen nach ihm. Der Salafismus predigt eine kompromisslose Rückkehr zu diesem von Verunreinigungen freien, reinen Islam der Urperiode, lehnt (arabische und andere) Nationalstaaten im Prinzip ebenso ab wie demokratische Wahlen und andere ›neuzeitliche Erfindungen, die außerhalb des wahren Glaubens stehen‹.

    Kein Wunder also, wenn Bernhard Schmid die Politik islamistischer Bewegungen mit der »Bewegungsdynamik« des europäischen Faschismus vergleicht.¹⁴

    Der tunesische Historiker und Islamwissenschaftler Muhammad Talbi sagt zum Phänomen Tariq Ramadan:¹⁵

    […] und Tariq Ramadan ist ein Wahabit und ein Muslimbruder, der den Schnurrbart rasiert und auf den Bart verzichten kann, wenn es sein muss, da er im Westen lebt. Taqiya zu betreiben, das heißt, die Geheimhaltung oder die Verheimlichung, gehört als Regel und Prinzip zur Scharia.

    Wir dürfen bezüglich dieses Manövers und dieser Strategie und Taktik den Wahlspruch aller islamischen Fundamentalisten »adharurat tubihu almahdhurat« nicht vergessen (»Die Notwendigkeiten rechtfertigen den Bruch aller Verbote«, eine islamische Übersetzung des französischen Spruchs »la fin justifie les moyens«).

    Auf den Straßen hat die tunesische arbeitslose Jugend während der Revolte gegen Ben Ali »schughl, hurriyya, karama wataniyya« gerufen, das bedeutet »Arbeit, Freiheit, nationale Würde«. Nach dem Wahlsieg der Islamisten am 23. November 2011 forderten Abgeordnete der Nahdha-Partei in der tunesischen Konstituante die Einführung der Scharia. Es wird heute bei uns Tag und Nacht über absurde Probleme und Begriffe wie die Einführung der Polygamie, »Mut’a«, die Genuss- bzw. die Zeitehe, Vollverschleierung, Frauenbeschneidung und den Dschihad debattiert. Die wirklichen Probleme der Jugendrevolte aber rücken aus dem Blickfeld. Die Konfessionalisierung des Arabischen Frühlings ist für die Jugend kein Geheimnis mehr, sondern eine Wirklichkeit geworden. Übergriffe auf Kunstgalerien, Theater, vorislamische Ruinen, Kirchen, Kinos, Kneipen und sufische Heiligtümer, aber auch auf Oppositionspolitiker, Gewerkschaften, Künstler, Intellektuelle, Journalisten und besonders emanzipierte Frauen gehören heute zum tunesischen Alltag. Die Jugendlichen sowie die Zivilgesellschaft spüren, dass ihre Revolte gekapert wird.

    Auf die neu entstehende religiöse Diktatur und die Einschränkungen der Freiheiten reagiert die enttäuschte junge Generation nicht nur mit Demos, Streiks und Selbstverbrennungen, sondern auch spontan, sarkastisch und provokativ mit Tanz und Lachen. Islamisten, die den »Harlem Shake« als westliches Teufelszeug ansehen, greifen besonders an den Universitäten ein und wollen wie bei uns am ISLT das Tanzphänomen unterbinden. Mehrere Studenten wurden geohrfeigt; ein verschleiertes Mädchen griff eine der tanzenden Studentinnen an, ein rasender Salafist wollte unbedingt das »Spiel« verderben … Skander Ben Amor, den ich interviewt habe, war am Schütteltanz »Harlem Shake« beteiligt (er ist 22 Jahre alt und studiert Französisch) und sagte mir:

    Ich war am Tanz beteiligt, weil ich einfach Spaß haben wollte, die ganze Sache hat in Facebook angefangen. Weil sie uns das aber verbieten wollen, werde ich jetzt Widerstand gegen diese Analphabeten leisten. Diese Menschen sind total unwissend, mit denen kann man überhaupt nicht reden. Aber ich bin kein Pessimist, wir werden den Kampf nicht aufgeben. Wir werden sie besiegen.

    Skander bekam bei dieser Auseinandersetzung mit den Salafisten auch eine Ohrfeige.

    Ich habe mit meinen Studenten über dieses Tanzphänomen gesprochen und mit ihnen über die Spaltung diskutiert, die wir heute nicht nur in der Gesellschaft, auf der Straße oder auch zu Hause, sondern auch an der Universität unter Lehrern und im Klassenraum erfahren können. Tunesien ist heute in zwei Lager geteilt. Ein neuer ›Kulturkampf‹ zwischen Modernisten und Traditionalisten ist seit dem 14. Januar 2011 in Tunesien ausgebrochen. Ich habe in zwei Gruppen meiner Studenten eine kleine Umfrage gemacht. 22 Studenten waren für »Harlem Shake«, 19 Studenten waren dagegen. Unter den Bejahenden habe ich folgende Begründungen gehört: »Jeder kann machen, was er will, das ist Freiheit«; »Die Uni ist nicht nur zum Lernen da«; »Sie wollten doch nur tanzen und Spaß machen. Sie wollten mehr Demokratie«. Diejenigen, die dagegen waren, sagten: »Die Schule ist zum Studieren, nicht zum Tanzen«; »Es ist nicht die Zeit. Die politische Lage ist nicht gut. Man soll die Salafisten nicht provozieren«; »Ich bin nicht gegen Tanz, aber ›Harlem Shake‹ finde ich sinnlos und er hat keine Ziele«.

    Das Ergebnis meiner Umfrage sieht also nicht sehr rosig aus! Es sind überraschenderweise für mich nicht die fleißigsten und besten Studenten, die generell für den »Harlem Shake« waren. Einer meiner besten Studenten, den ich einen Tag später getroffen habe, hat mir geantwortet, als ich von ihm wissen wollte, warum er gegen den Schütteltanz war: »Ich mag das Tanzen nicht. Ich gehe nicht in Discos, weil ich lieber vor dem Computer sitze.« Ein zweiter Student, der seit kurzem einen Taliban-Bart trägt und seinen Kommilitoninnen beim Begrüßen nicht mehr die Hand gibt, sagte mir, dass er vom Wahabiten-Prediger Ibn El Baz fasziniert sei. Solche Einstellungen sind natürlich gefährlich, falls sie sich von der Mehrheit der Jugend vertreten und verteidigen lassen. Es besteht heute in Tunesien die Gefahr, dass die Universität gute Ärzte, qualifizierte Ingenieure oder auch Germanisten ausbildet, die total faschistisch eingestellt sein können. »Die Taliban sitzen eben nicht nur in den Bergen Afghanistans, sondern auch in den Köpfen von Menschen, egal ob sie in London oder New York leben«, so Zafer Şenocak.¹⁶ »Bekannt ist, dass totalitäre, faschistische Systeme die Gründung einer ausschließlich technischen Moderne ohne Aufklärung erzielen.«¹⁷ Şenocak schreibt dazu:¹⁸

    Die meisten Muslime wenden sich technischen Berufen zu. Sie schotten sich gegenüber der kulturellen und geistigen Moderne ab. Ein muslimischer Marsch durch die Institutionen hätte nur emanzipatorischen Charakter, wenn er das geistige Ghetto durchbricht, ein kritisches Verhältnis zur eigenen Tradition herbeiführt und das Verhältnis gegenüber Andersgläubigen und Nichtgläubigen zur Diskussion stellt.

    Leider sitzen die »Taliban« heute auch bei uns in Tunesien. Leider steht die islamistische Regierung an ihrer Seite. Bei ihren Übergriffen greift die Polizei oft nicht ein. Gewalttäter werden meistens von der Justiz freigesprochen oder gar nicht erst verhaftet. Dieselbe laxe Regierung, die die Geburt dschihadistischer Organisationen, die die Jugend in Schulen und Universitäten rekrutieren, toleriert, wird plötzlich wach und aktiv. Der Bildungsminister, übrigens mein Lehrer am ISLT im Jahr 1992, ordnet Ermittlungen an und droht mit der Bestrafung der Tanzaktionen. »Was passiert, beleidigt den Erziehungsauftrag«, sagt er. Wichtig ist zu wissen, dass der Bildungsminister kein Muslimbruder ist, sondern Mitglied einer Linkspartei war. Er hat Recht, die jungen Shaker, die sich als Salafisten verkleidet und Masken, falsche Bärte, Boxershorts und Tuniken getragen haben, haben die islamistischen Verbündeten seiner Partei provoziert und beleidigt! Ein paar Tage später erntete der Minister die Früchte seiner Politik. Die Shaker organisierten einen Schütteltanz direkt vor seinem Ministerium. »Harlem Shake« war ein Moment der »Arabellion«¹⁹ und des politischen Protests der tunesischen Jugend par excellence. »Harlem Shake« zeigt eine neue politische Dimension unserer Leiber. Der tanzende Leib setzt sich als politische Bühne des Widerstandes durch. »Klasse! Tanzt gegen diese Faschisten!« lautet die beste Aussage, die ich über das neue Tanzphänomen in den sozialen Medien gelesen habe. Im Gegensatz zu den fanatischen und lebensverneinenden Todespredigern hat die arabische Jugend tanzend nur das Leben gefeiert.

    Tanz und Gesang sind zentrale Komponenten des religiösen Kultes schon seit der Antike. Innerhalb der dionysischen Religiosität in Griechenland war der Tanz als Bewegung, Handlung, Verwandlung und verzückende ekstatische Erfahrung eine Art göttliche Sprache des Leibes. Übersetzt in die Sprache der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik heißt das:²⁰

    Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der

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