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Frischfleisch: Kommissär Zürcher im Schatten der Hölle
Frischfleisch: Kommissär Zürcher im Schatten der Hölle
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Ebook347 pages4 hours

Frischfleisch: Kommissär Zürcher im Schatten der Hölle

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About this ebook

Eine ganze Familie wird ausgelöscht, die sechzehnjährige Sabira ist spurlos verschwunden. Kommissär Zürcher hat sich in den Kopf gesetzt, das Mädchen zu retten, auch wenn er sich mit seinen Ermittlungen zunehmend in gefährliches Fahrwasser manövriert. Zürchers einsame Spur führt in den Untergrund zu einem der mächtigsten Unternehmer der Stadt, der sich mit Gleichgesinnten hinter tonnenschweren Stahltüren die seelische und emotionale Leere mit perversen Spielen zu füllen versucht.
LanguageDeutsch
Release dateMay 1, 2014
ISBN9783907146187
Frischfleisch: Kommissär Zürcher im Schatten der Hölle

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    Book preview

    Frischfleisch - Robert M. Schmid

    Personen

    I

    Inmitten eines stark belebten Marktplatzes in Bagdad detonierte an diesem Morgen eine Bombe und zerfetzte Dutzende unschuldiger Menschen. Zur gleichen Zeit, in einem Pariser Café, starben im Kugelhagel zweier Kalaschnikows fünf rechtschaffene Personen. Islamische Terroristen hinterliessen auch hier einen Ort der Verwüstung, Ohnmacht und unendliches Leid.

    Zürchers rechter oberer Backenzahn machte sich mit einem leichten, unangenehmen Ziehen bemerkbar.

    Die Griechen gingen wieder ihren eigenen Weg und verdammten die EU zu Hades in die Unterwelt. In der Ukraine schwelte nach wie vor ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland, während sich die Regierung Assads im Syrien-Krieg gegen die Rebellen noch einmal aufbäumte. In den Vereinigten Staaten sass ein neuer Präsident in der Schaltzentrale der Macht, nachdem dieser mit postfaktischer Rhetorik alle seine Konkurrenten aus dem Weg geräumt hatte, während die Türkei über Nacht zur Diktatur wurde.

    Von aussen waren die Fensteröffnungen mit dicken, senkrecht verlaufenden Eisenstangen gesichert. Er betrat die finstere Halle. Die Luft roch unangenehm, abgestanden. Nur einige Schritte weiter trieb ihm ein widerlicher Gestank in die Nase. Muffig, vermischt mit dem Geruch von Schweiss und Angst, geprägt von dumpf riechendem altem Keller und dem morbiden Dunst sakraler Räume war der Mief kaum auszuhalten. Nur Augenblicke später, als wäre dies alles nicht genug, stieg ihm plötzlich und nicht vorhersehbar ein undefinierbarer süsslich beissend kalter Geruch von Salmiak in die Nase. Das mit schwarzer Folie zugeklebte Glas verwandelte die riesige Halle in eine dunkle kalte Höhle. Der Schauplatz wirkte unheimlich. Nur im hinteren Teil der Halle drang ein einziger Lichtstrahl ins Innere, ähnlich einer Lichtkanone der Flugabwehr, nur in umgekehrter Richtung. An diesem Morgen trübte kein Wölkchen den blauen Himmel. Durch ein kleines rundes Loch in der Abdeckfolie durchbrach die Sonne mit energiegeladener Gewalt die Dunkelheit der Halle. Ein gleissend heller Lichtstrahl, der von schräg oben nach unten fiel, warf einen grellen ovalen Lichtkegel auf den grauen Betonboden. Neben dem Schuhabdruck eines Kampfstiefels entdeckte Zürcher den Abdruck eines Kinderschuhs. Als würden sie um sich selbst tanzen, wirbelten winzige Staubpartikel in der Luft fröhlich auf und ab im weissen Licht des Sonnenstrahls. Mit jedem Schritt Zürchers kroch der Lichtkegel über den staubigen Boden und schob allmählich den Stuhl des Schreckens ins Zentrum des bühnenähnlichen Szenarios, theatralisch und schauerlich zugleich.

    An Händen und Füssen, nur mit braunem Plastikklebeband gefesselt, hing der leblose Körper auf dem kalt-blanken Metall des Bürostuhls, dessen Polsterung gänzlich fehlte. Die Augen des Toten, halb geöffnet, starrten seelenlos ins Nichts. Der Unterkiefer hing schlaff nach unten. Im Mund fehlte die Zunge. Die Zähne waren herausgeschlagen. Anstelle der Ohren klafften dunkle Löcher. Auch das Nasenbein, nun schief im Gesicht, war gebrochen. Der ganze Schädel schien ein einziger blutiger Klumpen zu sein. Erst jetzt bemerkte Willy Zürcher das rotschwarze Überbrückungskabel. Auf dem Boden lag eine verstaubte Autobatterie. Von dort bis zum Stuhl, die nackten Beine entlang nach oben führten die Kabel, beide endeten je in einer Klemme, die sich mit ihren scharfkantigen metallenen Zähnen in die verbrannte Haut der Hoden festgebissen hatten. Grauenhaft, dachte der Kommissär verbittert. Was für unsägliche Schmerzen sind dem Opfer allein durch die Stromschläge zugefügt worden. Von den Schlägen ganz zu schweigen. Zürcher hatte genug gesehen, er musste raus.

    Vor dem Gebäude sicherte ein gelbes Plastikband den abgesperrten Tatort.

    «Wir haben sofort alles abgeriegelt», beteuerte zackig ein junger Polizist in Uniform, der sich respektvoll vor Zürcher aufgestellt hatte.

    «Wer ausser mir hat die Halle betreten?»

    «Nur die beiden Kinder, die beim Spielen den Toten entdeckt haben und die beiden Kollegen der Streife. Ansonsten hat den Tatort niemand betreten.»

    Willy Zürcher stand an der offenen Tür. Noch einmal starrte er in den dunklen Raum hinein, dabei verriet sein Blick, wie unfassbar, unbegreiflich, ja wie hilflos er innerlich auf eine solche Tat reagierte; ein Moment einsamer Trauer. Der böse Geist dieser rohen Gewalt bohrte sich tief in seine Eingeweide. In diesem Augenblick wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er dieses Bild, das sich in sein Hirn eingebrannt hatte, nicht mehr loswerden würde.

    «Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun?», murmelte er müde vor sich hin. Nie werde ich diese sinnlose Gewalt begreifen. So wie der junge Polizist reagierte, nämlich gar nicht – er stand noch immer neben Zürcher, ohne sichtbare Gefühlsregung und ohne jegliche Mimik – schien er nichts von seinem Gemurmel mitbekommen zu haben. Zudem schien ihn die ganze Situation nicht allzu sehr zu berühren. Es geht ihm schlichtweg am Arsch vorbei.

    «Sie rühren sich nicht von der Stelle, verstanden.» Der Kommissär wies mit dem Kopf auf den nassweichen Boden.

    «Hier wimmelt es geradezu von Fussspuren, als wäre hier eine ganze Ochsenherde durchgetrampelt», ärgerte sich Zürcher. «Bevor noch jemand am Tatort herumlatscht, muss alles erst sorgsam fotografiert werden. Danach sollen die von der Spurensuche und Dr. Tomasetti ihre Arbeit machen. Sie sind dafür verantwortlich, dass diese Reihenfolge eingehalten wird», befahl Zürcher dem jungen Polizisten, «ist das klar?»

    Der Polizist salutierte: «Alles klar, Herr Kommissär.»

    Willy Zürcher überliess den Tatort den versammelten Spezialisten, die etwas abseits von der Halle bereits darauf warteten, endlich hineingelassen werden. Mehrere weisse Polizeifahrzeuge – eines davon dem EU-Trend folgend versehen mit den neuen blauen Streifen –, zwei dunkelblaue Kastenwagen von der Spurensicherung, ein dunkelgrauer Leichenwagen wie auch Tomasettis silbergrauer Wagen der Gerichtsmedizin, standen ohne sichtbaren Plan kreuz und quer um den ebenfalls abgesperrten Werkhof vor der alten Fabrikhalle. Nachdem Zürcher das Absperrband hinter sich gebracht hatte, befreite er seine Schuhe von den blauen Plastikhauben.

    «Hallo, Willy», begrüsste der Gerichtsmediziner seinen Freund Zürcher.

    «Ausgerechnet heute wollte ich einmal früher Feierabend machen.»

    «Ja. Das wird wohl nichts.»

    «Eigentlich wollte ich fischen gehen, jetzt wo die Sonne scheint; der andauernde Regen bekommt mir nicht so gut», jammerte Tomasetti.

    «Wenn es nur der Regen ist, der dich betrübt, bist du zu beneiden.»

    «Etwas Lebensfreude muss ich mir schon noch bewahren, ich bin schliesslich derjenige, der den Toten so nahe kommt wie kein anderer hier. Ist auch nicht immer einfach, wie du dir vorstellen kannst, in den Eingeweiden anderer Leute herumzuwühlen.» Zürcher sagte nichts. Nach einer Weile des Schweigens fragte Tomasetti: «Mann oder Frau?»

    «Mann.» Tomasetti schien zu überlegen, was er darauf sagen wollte.

    «Allmählich habe ich die Schnauze gestrichen voll», schimpfte Zürcher.

    «Vielleicht bist du zu alt für diesen Job.»

    «Glaub ich nicht. Es ist die Brutalität, die mir zu schaffen macht. Die zunehmende Verrohung der Menschen. Die Gewalt, die sich um uns herum wie ein bösartiges Krebsgeschwür breitmacht und mehr und mehr alles infiziert.»

    «Das war doch schon immer so.»

    «Vielleicht. Wir haben es aber nicht mehr nur mit Ganoven zu tun. Einzelne Spinner, die gelegentlich mal ausrasten, verstehst du? Einmal gelöst, sind diese Fälle erledigt und tun niemandem mehr weh.»

    «Der Mensch war im Grunde schon immer gewalttätig.»

    «Drogen, Organ- und Frauenhandel, Waffenschieber und Söldnertruppen. Terroristen und gefährliche Spinner, religiöse Fanatiker, rechtslose Räume und Staaten, die sich demokratisch nennen und einen Dreck um die Rechtsstaatlichkeit kümmern. Das macht mir zu schaffen.»

    «Siehst du nicht ein wenig zu schwarz, Willy?»

    «Mal sehen, ob du mir folgen kannst, nachdem du den Toten gesehen hast.»

    «So schlimm?»

    «Schlimm ist harmlos ausgedrückt. In all den Jahren als Polizist habe keine solche Sauerei wie diese gesehen. So, wie es ausschaut, haben wir es schon wieder mit einem aussergewöhnlichen und brutalen Fall zu tun. Der Mann wurde gefoltert und anschliessend hingerichtet. Der letzte Fall hat mir bereits gereicht. Naiv wie ich bin, dachte ich, in Sachen Gewalt könne dieser nicht mehr überboten werden.»

    «Du hattest Glück, wie die neun Leben der Katzen. Die Spinner des Basiliken-Ordens hätten dich beinahe geschafft. Glücklicherweise nur beinahe, sonst hätte ich in Zukunft den ‹Aigle› in meinen weiss gekachelten Katakomben einsam und alleine trinken müssen.»

    «Du bräuchtest nur deine Schubladen zu öffnen; schon wärst du in bester Gesellschaft und könntest in der Runde deiner kalten Freunde anstossen.»

    «Eine gute Idee; vielleicht doch ein wenig zu wortkarg.»

    «Aha, ich verstehe. Wann?»

    «Wenn du dir den Untersuchungsbericht persönlich bei mir abholen möchtest. Per Mail macht es einfach keinen Spass mehr, zudem finde ich es unpersönlich.»

    «Gut zu wissen, ich kann den verdammten Mailverkehr ebenfalls nicht ausstehen.»

    «Wenn es soweit ist, rufe ich dich an.» Zürcher bedankte sich bei seinem Freund und verabschiedete sich, um den Weg in den Waaghof anzutreten, wo er noch einen Bericht schreiben musste.

    II

    Am folgenden Morgen um sieben sass Zürcher bereits wieder an seinem Pult. Er war schrecklich müde. Tatsächlich hatte er in der Nacht nur wenig geschlafen. Der böse Geist des Grauens hatte ihn heimgesucht. Immer wieder schreckte er auf und träumte den gleichen Traum. Der Mann ohne Hände sass auf dem Stuhl. Ein Sonnenstrahl rückte seinen Kopf ins Zentrum und aus dem zahnlosen blutverschmierten Mund kamen stets die gleichen Worte: «Du musst sie finden … du musst sie finden … du musst …» Daraufhin erwachte Zürcher jeweils schweissgebadet aus dem Schlaf.

    Nach der langen Regenperiode schien nun der Sommer endgültig da zu sein, das Thermometer kletterte tagsüber sofort auf über dreissig Grad. Doch um diese Zeit war die Luft noch einigermassen erträglich und auch im Waaghof war der Betrieb ruhig. Die Beine konnte er nicht mehr hochlagern, auf dem Schreibtisch gab es einfach keinen Platz mehr dafür. Das Hochlagern der Beine war für Zürcher ein wichtiger Akt; so liess es sich besser nachdenken. Es floss dann mehr frisches Blut ins Hirn als in die Füsse, so wenigstens seine Theorie.

    Die Hände des Toten fehlten. Ein geeignetes Werkzeug, mit dessen Hilfe dem Mann den Schädel eingeschlagen worden war, konnte am Tatort nicht sichergestellt werden. Zürcher glaubte, dass die fehlenden Hände irgendwo auf dem Gelände versteckt oder entsorgt worden waren. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand mit einem Sack mit abgeschnittenen Händen durch die Gegend fahren sollte. Ein Grund mehr, die Hundestaffel aufzubieten, die das ganze Gelände um den Tatort noch einmal gründlich absuchen sollte.

    Wer quält einen Menschen so zu Tode? Ein Verrückter? Ein völlig durchgeknallter, ein kranker Mensch? Ein Sadist? Zürcher ordnete seine Gedanken. Das Bild in seinem Kopf lieferte ihm viele Hinweise. Nichts war hier dem Zufall überlassen worden, nicht einmal das Loch in der schwarzen Folie am Fenster, da war sich Willy Zürcher absolut sicher. Mit Stromschlägen an den empfindlichsten Stellen wird der Mann gefoltert und zum Reden gebracht. Doch die Nacktheit des Opfers und die Stromschläge an der intimsten Stelle des Opfers sprechen eine andere Sprache. Der Mann wird auch gedemütigt. Jemand rächt sich an ihm für etwas. Ebenfalls auf einen Racheakt deuteten die fehlenden Zähne. Erst ein Zahn. Darauf folgt ein zweiter. Dann ein dritter. Zahn für Zahn wurde dem Opfer ausgeschlagen. Nicht etwa gezogen. Sie werden ihm regelrecht ausgeschlagen; mit Hammer und Meissel. Die Vorgehensweise hatte Methode. Hatte sie auch eine Bedeutung? Zahn um Zahn. Als Foltermethode führte das Zähneausschlagen vermutlich zum Erfolg. Der Mann gibt sein Geheimnis preis. Nun wird ihm die Zunge abgeschnitten. Er braucht sie nicht mehr. Eine deutliche Botschaft an die Überlebenden: Du wirst nichts mehr sagen. Die abgeschnittenen Ohren verstärken diese These noch: Du wirst auch nichts mehr hören. Neben der Rache gilt sie gleichzeitig als Warnung: Ihr werdet nichts hören und ihr werdet nichts sagen, ansonsten werdet ihr ebenso enden.

    Die Ohren wurden dem Opfer am Ende der Tortur abgeschnitten, so stand es jedenfalls später in Tomasettis Bericht. Dem Opfer wurde ein Geheimnis herausgeprügelt, an ihm wurde Rache geübt und er wurde als Botschaft und Warnung für andere liegengelassen. Wenn sich seine Gedankensprünge als wahr herausstellen sollten, hätte er es weder mit einem Spinner noch mit einem kranken Hirn zu tun, sondern mit einem eiskalten, intelligenten und überaus berechnenden Gegner. Bei diesen dunklen Aussichten stellten sich Zürchers Nackenhaare auf.

    Für Kommissär Zürcher waren diese ersten Erkenntnisse glasklar: Der oder die Täter gingen eiskalt und äusserst brutal vor, unbarmherzig und völlig unmenschlich. Sie liessen sich Zeit. Viel Zeit. Für das Opfer bedeutete eine Minute eine Ewigkeit; der Tod die ersehnte Erlösung aller Qualen. Wer so vorging, war Profi in seinem Fach. Alles wurde bestens vorbereitet, eine gründliche Arbeit. Der Ort wurde perfekt gewählt. Das Fabrikareal war überschaubar mit nur einem Ein- und Ausgang. Die leerstehende, längst verlassene Halle befand sich im hinteren Teil einer ehemaligen Maschinenfabrik, weit abseits vom Leben. Die Schreie verhallen in der Stille; kein Aussenstehender hört sie. Die Fenster waren mit schweren Eisengittern versehen, gesichert gegen unbefugte Eindringlinge. Die Fenster wurden sorgfältig mit schwarzer Folie abgeklebt, ein Riesenaufwand. Dieser Umstand deutet auf mehrere Täter hin. Die am Tatort gefundenen Schuhabdrücke schienen dies zu bestätigen. Bei deren Profil handelte es sich eindeutig um Militärschuhe der Schuhmarke «Magnum Hitec», produziert für Militär-, Polizei- und Sicherheitsdienste weltweit. Aufgrund der verschiedenen Schuhgrössen ging Zürcher davon aus, dass es sich bei den Tätern mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um mehr als zwei Männer handeln musste, eiskalte Profis. Vermutlich ehemalige Soldaten, Geheimdienstleute oder Söldner, die schon länger im Geschäft sind und ihren Job bestens verstehen.

    Für Zürcher kamen dafür nur wenige Gruppen in Frage: Täter aus dem Osten, aus Russland, Tschetschenien, Kasachstan, der Ukraine oder aus dem Balkan, Kroatien, Bosnien und Albanien. Vielleicht hatte auch der syrische oder iranische Geheimdienst ihre schmutzigen Hände im Spiel; in der jüngsten Vergangenheit wurden abtrünnige Landsleute selbst in der Schweiz bespitzelt oder liquidiert. Oder waren es Fanatiker des Islamischen Staates?

    Noch einmal ging Zürcher seiner These gedanklich nach. Einerseits wurde Rache geübt. Andererseits wurden aus dem Opfer Informationen herausgequetscht. Schliesslich diente die ganze Aktion auch als Abschreckung. Das leuchtete ein. Ich muss mich bei der Suche nach der Wahrheit auf den Lebenspfad dieses Mannes begeben; zurück in seine Vergangenheit, denn dort hat irgendwann alles angefangen. Dies würde ihn vielleicht auf die richtige Fährte lenken, so wie ein Spürhund dem Geruch der Vergangenheit folgt. Der Anstoss zu der Rache, die das Opfer erleiden musste, war nur in der Vergangenheit zu finden, während die erzwungenen Informationen sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft betreffen konnten. Informationen, die für jemanden unglaublich wichtig, ja gar lebenswichtig sind. Informationen, mit denen jemand schwer belastet werden kann für bestimmte Geschehnisse in der Vergangenheit oder für solche, die auch die Zukunft betreffen; Aktionen eben, die durch diese Informationen stark gefährdet sind. Vielleicht traf auch alles zu. Die Idee, dass vielleicht der IS hinter dem Verbrechen stecken könnte, schloss Zürcher schliesslich aus. Die hätten dem Mann den Kopf abgeschlagen.

    Zürcher musste das Hemd wechseln, die schwüle Hitze machte ihm zu schaffen. Vermutlich war neben der Hitze sein Übergewicht massgeblich für die Schwitzattacke verantwortlich. Doch für Zürcher war klar: das Wetter war schuld; nicht seine unbändige Lust am Essen. Pauli trat wieder einmal etwas zu kräftig an die Türfalle.

    «Hornochse», knurrte der Kommissär, dessen Herz beinahe einen doppelten Salto ohne Netz vollführte. Während Zürchers enger Mitarbeiter ein weiteres Bündel an Akten auf den bereits überfüllten Tisch deponierte – welches das Beinhochlagern nun erst recht verunmöglichte –, verkündete Pauli mit einer gewissen Genugtuung die neuesten Nachrichten aus der Klatsch-Etage: «Wie im Vorfeld bereits gemunkelt wurde, hat der Grossrat des Kantons soeben Adriano Fortunato zum neuen Ersten Staatsanwalt bestätigt.»

    Nun war die Mannschaft im Justiz-Departement also wieder komplett, nachdem sich der Vorgänger mit einem Sprung aus dem Fenster der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung entzogen hatte.

    «Fortunato ist Sohn italienischer Einwanderer», besserte Pauli nach.

    «Ist das ein Problem?», grummelte Zürcher.

    «Eigentlich nicht.»

    «Gut!»

    «Das wird dich sicherlich ebenfalls interessieren.» Pauli hielt noch eine weitere Akte in der Hand, mit der er nun triumphierend in der Luft herumwedelte, natürlich ausserhalb Zürchers Reichweite.

    «Was ist das?»

    «Das UE von FM …», verkündete Kurt Pauli zufrieden. Hätten Zürchers Blicke töten können, wäre Pauli nun tot gewesen. Ich sollte mich mehr mit Almas Theorien über aussersinnliche Phänomene befassen, vielleicht ist die Technik tödlicher Blicke lernbar.

    «Der Bericht von Dr. Tomasetti … ich meine … das Untersuchungsergebnis von Franz Mösinger», gab der Detektiv präzisierend zur Antwort.

    «Gib schon her», knurrte Zürcher bedrohlich. Vorsichtig hielt Pauli die Akte nun etwas näher vor die Nase, genervt riss ihm Zürcher diese aus der Hand. Ohne Pauli mit einem einzigen Blick zu würdigen, öffnete er die Mappe, um Tomasettis Bericht zu überfliegen. Noch zeigte Pauli keinerlei Anstalten, das Büro seines Chefs zu verlassen. An Zürchers brummigen Charakter hatte sich der etwas linkische, aber loyale Mitarbeiter schon längst gewöhnt. Zudem hielt Pauli in der anderen Hand, ebenfalls wedelnd, noch ein weiteres Papier.

    «Ist sonst noch was?», wollte Zürcher nun wissen, ohne aufzusehen.

    «Das hier ist soeben reingekommen.»

    «Ja und?»

    «Eine AM des KOM Kembs aus D.»

    Zürcher stiess die Hand drohend in die Luft und rief ungehalten: «Willst du eine geschmiert? Was ist das?»

    «Eine amtliche Mitteilung des Kommissariats Kembs aus Deutschland.»

    «Und das sagt du mir erst jetzt!?»

    «Geht uns eigentlich nichts an.»

    «Weshalb?»

    «Ein toter Junge wurde aus dem Rhein geborgen. Dafür sind die Deutschen zuständig, nicht wir.»

    «Was uns angeht oder nicht, bestimmen immer noch Armbruster oder meine Wenigkeit, aber ganz bestimmt nicht du. Und jetzt verzieh dich.» Doch Pauli blieb wie angewurzelt stehen, als hätte er die mehr als deutliche Aufforderung nicht mitbekommen.

    «Ist doch was, drei Leichen an einem Tag. Da wird es in Fortunatos Karriere von Beginn weg nicht langweilig.»

    «Wenn das so weitergeht, herrschen hier bald südamerikanische Grossstadt-Verhältnisse», brummte Zürcher vor sich hin.

    «Eine Ausnahme, Chef, das gibt es ja nicht alle Tage.»

    «Rechnest du die Überfälle und die unzähligen Vergewaltigungen dazu, haben wir bereits jetzt russische Verhältnisse.»

    «Ich sehe das nicht so eng.»

    «Zählen wir noch die Drogen und Bandendelikte dazu, dann sind wir verdammt nahe bei der mexikanischen Kriminalstatistik angekommen», ärgerte sich Zürcher, dessen Miene sich weiter verdüsterte, «doch noch ist es nicht soweit. Deshalb ist es unsere verdammte Pflicht, alles Erdenkliche zu unternehmen, damit es niemals so weit kommen wird.»

    «Nun übertreibst du es ein wenig, von südamerikanischen Zuständen sind wir noch meilenweit entfernt. Wir leben kriminaltechnisch gesehen im Paradies», erwiderte Pauli blöd grinsend.

    «Klar doch!», rief Zürcher. «In der heutigen globalisierten Welt sollten wir stets darum besorgt sein, dass aus unserem Paradies nicht irgendwann die Hölle wird. Denn dann, mein Lieber, kommst du auch mit der grössten Machete nicht mehr durch das Dickicht des Dschungels. Unsere Aufgabe muss es also sein, dass sich der Dschungel nicht weiter ausdehnt und eines Tages unpassierbar wird.»

    Auf diesen ungewöhnlichen Erguss seines Chefs wollte Paul noch etwas entgegnen, doch der Kommissär wiegelte gleich ab: «Nun lass mich endlich arbeiten. Siehst du diese Aktenberge? Die lösen sich nicht von alleine auf.»

    Pauli schwirrte ab. Nach der Durchsicht aller Aktenstösse würde er die meisten davon sowieso wieder an Pauli zurückgeben; sollte der sich doch mit dem täglichen Kleinkram herumschlagen.

    Nun hatte also alles wieder seine Richtigkeit. Die Stelle des Ersten Staatsanwaltes war abermals besetzt. Es war nur zu hoffen, dass sich dieser Fortunato nicht als unfähig wie sein Vorgänger entpuppte. Der ungewöhnliche Fall, der Zürcher damals in eine mehr als ungemütliche Lage gebracht hatte, war nun offiziell abgeschlossen, bereits versenkt in den Katakomben des Archivs. Mehrere Ordner umfassten schliesslich die Untersuchung. Viele Fragen wurden beantwortet, einige wichtige Fragen blieben dennoch offen. Dazu gehörte auch der Verbleib des verschwundenen Laternenmalers. Nun konnte wenigstens diese Frage beantwortet und ebenfalls zu den Akten gelegt werden. Die Leiche – oder das, was nach einem halben Jahr der Verwesung noch von ihr übriggeblieben war –, wurde von einem Gärtner im Labyrinth des Grossbasler Rheinufers entdeckt. Wie der Gerichtsmediziner Tomasetti aus den noch vorhandenen Spuren feststellen konnte, wurde der Handlanger des Geheimbundes mit einem harten Schlag auf die Schläfe getötet. Die rillenförmigen Abdrücke auf der ledrigen harten Haut des Toten konnten zweifelsfrei der Dienstwaffe von Wachtmeister Gissler zugeordnet werden; sie stimmten mit dem Pistolenknauf überein. Was sich damals ganz genau zwischen dem Polizisten und dem Laternenmaler Franz Mösinger abgespielt hatte, würde der Kommissär nun nie mehr erfahren, doch das war ihm egal. Auch wenn der Gedanke an die dunklen Vorgänge in ihm noch immer ein leichtes Frösteln auslöste, so war damit für Willy Zürcher der Fall endgültig abgehakt. Zudem zeigte auch von der Staatsanwaltschaft niemand mehr auch nur das kleinste Interesse, den Fall weiter zu verfolgen, geschweige denn, weiter zu untersuchen.

    Zürchers Gedanken kreisten nun um den toten Knaben, den seine deutschen Kollegen einige Kilometer rheinabwärts im Kembser Metallrechen des Stauwehrs geborgen hatten. Aus dem Bericht entnahm Zürcher, dass die Untersuchungsbeamten in Kembs keinerlei Anhaltspunkte gefunden hätten, die zur Herkunft des Jungen hätten Auskunft geben können. Kein Portemonnaie, keinen Ausweis, nichts, nicht einmal eine verdammte Halskette mit eingraviertem Namen trug der Tote bei sich, der seine Identität hätte verraten können. Gemäss dem Untersuchungsbericht des Gerichtsmediziners – einem Dr. Krause –, wurde der Knabe vermutlich gewaltsam in den Rhein geworfen, dies deuteten zumindest die blauen Flecken an Armen und Beinen an. Der Knabe starb aber nicht an den Folgen des Ertrinkens, davon zeugte das Fehlen von Wasser in dessen Lunge. Genickbruch. Der Junge war also bereits tot gewesen, als er mit dem Wasser in Berührung kam. Ein Unfall konnte damit ausgeschlossen werden. Es war eindeutig Mord.

    Zürcher blickte auf die Uhr. Schon so spät! Das Mittagessen konnte er sich nun ans Bein streichen, ein Teller Pasta aus Rosarios Küche hätte ihm wieder Energie verschafft.

    Zürcher nahm den Telefonhörer in die Hand und tippte 3 … 5 … 5 … in die Tasten, Nina von Plantas Nummer, seine treuste und beste Mitarbeiterin.

    «Bitte schau kurz bei mir vorbei.» Eine Minute später stand sie bei ihrem Chef im Büro.

    Die dunkle Sonnenbrille steckte lässig im blonden Haar, welches Nina nach hinten streng zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sie trug eine enge Jeans, dazu lindgrüne Sandalen mit hohen spitzen Absätzen und eine grüne kurzärmlige Bluse, die nur von zwei Knöpfen unter Verschluss gehalten wurde.

    «Schöne Bluse», beglückwünschte er die Detektivin, dabei schweifte sein Blick – natürlich rein zufällig –, über deren üppigen Inhalt. Scharfe Kurven, dachte Zürcher. Eine Millisekunde zu lange, wie es schien, denn Nina von Planta hatte dies bereits registriert. Sie hob die Augenbrauen und lächelte ihn forsch an. Dann bückte sie sich zu ihm nach unten, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und blickte ihn fragend an. Was Zürcher nun zu sehen bekam, machte ihn nervös. Etwas verlegen rutschte er auf seinem Bürostuhl hin und her. Der Chef blickte nun direkt in den Ausschnitt hinein auf die schönen Brüste seiner Mitarbeiterin, die von einem mit Spitzen verzierten Büstenhalter aufgefangen wurden. Damit sind uns die Weiber um Welten überlegen. Uns fehlt eine solche Waffe, ganz eindeutig.

    Endlich fasste sich Zürcher wieder und blickte direkt in Ninas Augen.

    «Kannst du dich um diesen toten Jungen kümmern, den die deutschen Kollegen aus dem Stauwehr Kembs gefischt haben?», erteilte Zürcher von Planta den Auftrag und trocknete sich mit einem frischen Taschentuch die Stirn.

    «Die leiten die Untersuchung selbst, auch ohne uns», gab seine Mitarbeiterin zu bedenken. Er gab ihr Recht: «Wenn der Junge aber aus der Schweiz stammt, dann sollten wir uns ebenfalls darum kümmern», meinte Zürcher freundlich, aber entschlossen.

    «Die sollen alles rüberschicken, was sie über den Toten wissen.»

    «Geht klar, mein lieber Willy», bestätigte Nina. Die Detektivin verliess Zürchers Büro; sein Blick klebte an Ninas wippendem Hintern, der rund und

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