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Verfluchtes Blut: Talisha
Verfluchtes Blut: Talisha
Verfluchtes Blut: Talisha
Ebook475 pages6 hours

Verfluchtes Blut: Talisha

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About this ebook

Der Orden ist zerschlagen und das Glück der Menschen liegt in Scherben. Es scheint nichts zu geben, was die Welt noch retten kann. Geleitet von einer Prophezeiung begibt sich Talisha in den Untergrund, um sich ihrer Mutter zu stellen. Sie muss Lilith finden und vernichten, bevor es dieser gelingt, mithilfe eines neuen Opfers die Himmelspforten zu öffnen.

Ein Kampf zwischen Himmel und Untergrund scheint unausweichlich.
Unerwartet taucht Aaron an ihrer Seite auf, der ihre Welt vollkommen auf den Kopf stellt. So sehr, dass Gut und Böse gleich scheint und sie sich fragen muss, was ihr Herz zuerst zerstören wird. Liliths Boshaftigkeit oder Aarons unendliche Liebe.
LanguageDeutsch
Release dateOct 26, 2018
ISBN9783961731756
Verfluchtes Blut: Talisha

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    Verfluchtes Blut - Samy Hale

    978-3-96173-175-6

    Kapitel 1

    Cavan

    Engel wurden bereits im Kindesalter dazu gedrängt, einen passenden Artgenossen auszuwählen, der in der Lage dazu sein würde, den entstehenden Nachwuchs zu versorgen. Eltern höherer Ränge veranstalteten Feste, die dazu dienten, ihre Töchter den jungen Männern zu präsentieren. Meist begegneten sich die verschiedenen Geschlechter erst bei solchen Feierlichkeiten, da diese von Geburt an getrennt worden waren.

    Mädchen lernten Bildung und Eleganz. Grazie zeichnete eine wohlerzogene junge Dame aus, aber der Instinkt und der Geist einer Frau lag an erster Stelle. Weibliche Engel erlangten das Wissen des Himmels, indem sie dazu getrieben wurden, jede einzelne Schriftrolle in der Wolkenbibliothek zu lesen. Ihre Lehrmeisterinnen förderten ihren Verstand, vermittelten ihnen Wissen und lehrten sie Sorgfalt, Sanftheit, und Fürsorge.

    Die Jungen hingegen bekamen zum ersten Geburtstag ein Schwert überreicht, gefertigt aus dem dazu aufgeschmolzenen goldenen Familienschmuck. Sie erlernten die Kampfkunst und erfuhren, was es bedeutete, fair und gerecht zu handeln. Gewaltbereite Gedanken wurden auf der Stelle ausgemerzt. Die Klinge erzog die jungen Männer zu Kriegern, dazu auserwählt, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, um in naher Zeit als Oberhaupt einer Familie wiedererkannt zu werden.

    Unfähig sich dagegen zu wehren, taten die Kinder stets, was ihre Eltern und Lehrmeister ihnen befahlen. Fleißiges Lernen wurde mit der Freiheit der eigenen Entscheidungen belohnt. Mädchen suchten auf diese Weise den Jungen aus, der in ihren Augen perfekt zu sein schien, auch wenn den Eltern das oft nicht genug war.

    Vor Hunderten von Jahren gelang es einem Engel namens Cavan, das Gebiet der jüngeren Frauen zu durchqueren. Seine Neugier hatte ihn zu diesem Ort getragen, immer den Gedanken im Kopf, seine baldige Geliebte selbst aussuchen zu können. Ihm missfiel die Art, wie Engel ihre Kinder übergaben. Ohne wirkliche Liebe zwischen den Geliebten wurden die Paare einander versprochen. Cavan, einer der Jungen mit den schönsten weißen Flügeln weit und breit, widerstand jedoch diesem Gehorsam des Himmels und erblickte durch Zufall ein Mädchen, das sein Herz im Sturm eroberte.

    Es war Lilith, die Tochter des am höchsten angesehenen Engels der Wolken. Seine Gestalt diente den Menschen auf der Erde als Gottesgeschöpf. Ein Wesen mit weitaus mehr Macht, als irgendjemand sich hätte vorstellen können.

    Cavan wusste, dass Lilith’ Festlichkeit bald bevorstand. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie den Mann an ihrer Seite würde wählen müssen. Also überschritt er eine weitere Grenze, sprach sie heimlich aus den Schatten heraus an. Tag für Tag erschien er an derselben Stelle, sprach und leistete ihr Gesellschaft. Doch während Cavans Liebe mit jeder Minute stieg, entwickelte die junge Frau Gefühle für einen Menschen.

    Die Vermählung Lilith’ wurde während eines himmlischen Sonnenunterganges vereinbart. Cavan sollte der Glückliche sein, der die Liebe des Mädchens für sich gewinnen durfte. Die Welt des jungen Mannes hätte nicht schöner sein können, bis er realisierte, wem Lilith’ Herz tatsächlich gehörte. Ihre Verlobung reichte kaum eine Woche zurück, als Cavan bemerkte, wohin der talentierte Engel verschwunden war. Das Licht in seinem Herzen zerbarst, als Lilith ihre Flügel verlor.

    * * *

    »Gib mir noch einen«, befahl der auffällige Mann an der Bar. Lässig glitt das Schnapsglas über den Tresen und landete direkt vor dem Barkeeper.

    Dieser musterte seinen Stammkunden mit hochgezogenen Brauen, nicht dazu gewillt, noch einen Schluck seines wertvollen Fusels an ihn zu verschwenden. »Du hast genug, mein Freund.«

    Cavan schnaufte verächtlich. Gleichzeitig straffte er seine Schultern und schenkte seinem alten Freund einen Blick, der vor purer Arroganz triefte. »Ich entscheide, wann es reicht. Und so lange ich noch einen beschissenen klaren Gedanken fassen kann, hab ich nicht genug.« Das Rot seiner Augen funkelte bedrohlich. »Noch einen.«

    Stumm, weil Haron wusste, wie gefährlich Cavan in dieser Stimmung sein konnte, füllte er das Glas erneut mit Hochprozentigem. Es dauerte nur einen Moment, bis Cavan erneut Nachschlag verlangte.

    Nun knallte Haron die Flasche vor dem Angetrunkenen auf die Theke. »Der Alkohol wird deine Qualen nicht lindern. Egal, wie sehr du dir die Birne zusäufst.«

    »Schnauze, nach deiner Meinung hat niemand gefragt.«

    Haron warf das Handtuch, mit dem er eben noch Gläser poliert hatte, in das Regal an der Wand, bevor er sich mit einem missbilligenden Blick an Cavan wandte. Er versuchte, seine Wut zu zügeln, was ihm jedoch nur bedingt gelang. »Du kommst seit Jahrzehnten jede Woche in meine Bar, haust dir meinen gesamten Vorrat an Bloodbone Fusel hinter die Binde und bekümmerst dein armseliges Leben. Es wird Zeit, dass du die alten Tage vergisst. Ich habe dich satt, Cavan!«

    Augenblicklich kehrte Stille im Lokal ein. Keiner der Gäste, die Cavan stetig zu meiden versuchten, sagte noch etwas. Atmen erschien für den Moment wie ein Privileg, welches niemandem zuteilwurde.

    Bedrohlich erhob sich der Engel, beugte sich über die letzten Zentimeter der Bar, die die beiden Männer voneinander trennten. Obwohl der Alkohol Cavans Sinne benebelte, heftete er seinen kontrollierten Blick auf Haron. Mit unmenschlicher Kraft bohrten sich seine Finger in das Holz, hinterließen tiefe Einkerbungen. Die Spannung im Raum drohte jeden Moment zu explodieren. Die beiden Kontrahenten starrten sich an, kalt und angriffslustig.

    Blitzschnell packte Cavan Harons Kopf und schmetterte sein Gesicht auf die Theke. Das Holz zerbrach unter der Wucht, besudelt von dunklem Blut.

    »So wirst du gefälligst nicht mit mir sprechen!«, drohte er knurrend. »Steck dir deinen verfickten Schnaps in den Arsch, wenn er dir so viel bedeutet. Ich kann mein Silber auch woanders verschwenden.«

    »Ich will dein Silber nicht«, spie Haron ihm entgegen, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Gleichzeitig versuchte er, die Blutung mit dem Handtuch zu stoppen. Trotzig schnappte er sich zwei Gläser und füllte sie mit Blutwein. Ein Gesöff, das selbst den stärksten Dämon in die Flucht schlagen könnte. »Auf den verfickten Schnaps, du Penner«, sagte er zu Cavan, bevor er den dickflüssigen Inhalt schluckte.

    Ein erleichtertes Seufzen war von den Gästen zu hören.

    Cavan nahm das Glas entgegen, setzte an und trank. Seine Kehle begann zu brennen, kaum dass die Flüssigkeit in seinen Mund gelangt war. Sein Stöhnen verriet, dass er diese Härte gebraucht hatte. Eine Art des Hilfeschreis.

    »Du weißt, dass du den angerichteten Schaden bezahlen musst?«, sagte Haron und grinste, als sei nichts geschehen.

    Ohne zu zögern warf Cavan ihm einen Sack voller Silberstücke zu. »Ich hasse dich, Schlappschwanz.«

    »Aber du liebst meinen Fusel«, erwiderte Haron trocken.

    Während sich Cavan erneut einschenkte, erinnerte er sich an den Grund dafür, dass er heute – bereits das zweite Mal in dieser Woche – an diesen Ort gekommen war. Neuigkeiten verbreiteten sich hier wie ein Lauffeuer und so erreichten sie auch ihn, der nun an der Seite Hades hauste.

    Egal, wie sehr er sich dafür verabscheute, er schafft es nicht, seine ständige Beklommenheit loszuwerden. Die Gedanken an die Vergangenheit sollten verblassen, die Trauer verschwinden. Doch die Zeit hatte sich geändert. Der Schmerz schlug wie ein fallender Stern auf ihn herab, verwandelte ihn in einen verfluchten Waschlappen.

    Cavan griff automatisch an seine Schultern, fuhr mit der Hand weiter in Richtung Rücken. Sein Leid durchfuhr ihn wie ein Stich, als er die kleinen Hubbel spürte. Sofort zog er seine Hände zurück und griff ein weiteres Mal nach der Flasche. Dieses Mal missachtete er das Glas und nahm das Gesöff direkt aus seinem Gefängnis entgegen. Kalter Schnaps rann ihm über die Mundwinkel und verwandelte seinen Körper in pure Hitze.

    Nicht genug! Er brauchte mehr. Cavan wusste, dass er nichts mehr trinken sollte. Sein Kopf sagte ihm, dass es nicht gut für ihn war, so viel von dem Gift einzunehmen. Doch die Qual besiegte seine Vernunft, benebelte den Rest seiner Sinne.

    Haron reichte ihm stumm eine weitere Flasche. Sein trauriger Blick streifte Cavan. Als er sich schließlich mit wackligen Beinen erhob, schwieg sein Freund. Er stürzte aus der Bar und ging draußen wie ein verlorenes Kind auf die Knie. Die stickige Luft verwehrte ihm das Atmen. Innerlich drohte er zu ersticken.

    Cavan brüllte, schlug wie wild auf den Boden ein. Auf den Ort, an dem das Schicksal ihn verraten hatte. »Schlampe!«, schrie er ohne Zusammenhang. »Niederträchtiges Wesen!«

    Die Erde bebte. Magie rauschte durch alle Ebenen des Landes und Cavan spürte ihre Macht. Er hätte sie überall wiedererkannt. Seine geliebte Lilith.

    Erneut, doch dieses Mal viel ruhiger, griff er sich an den Rücken. Nichts. Er versuchte, die Kraft zu spüren, die er einst in sich getragen hatte. Suchte nach der Magie in den schwarzen Stümpfen, die nun seinen Rücken zierten. Doch seine Flügel waren fort. Genommen von jener Frau, die er einst so begehrt hatte. Alkohol und Trauer drückten ihn nieder, bis er im Boden zu versinken schien.

    Ja, als gefallen kann Cavan außergewöhnlich passend beschrieben werden.

    Kapitel 2

    Nahe einem düsteren Waldgebiet lag ein Waisenhaus mit finsteren Ecken, die jedem Kind Angst einflößten. In jenem Wald hauste ein Fluch, der seine Besucher zu Boden zwang. Touristen suchten die Tempel, die im Inneren des Gebietes lagen, erlangten jedoch niemals den Pfad hinaus ins Licht. Körper fielen nächtlich, in der Dunkelheit vor den Augen aller verborgen. Dort zischte der Wind wie eine Schlange, gelangte durch die undichten Fenster des Hauses, das direkt auf einem ehemaligen Friedhof erbaut worden war.

    Die Kinder zitterten wie Espenlaub. Keines von ihnen traute sich auch nur ein Wort zu sagen, keiner rührte sich, bis auf das Mädchen in Rot. Eingehüllt in einen samtenen Mantel, das Gesicht unter einer Kapuze versteckt, schlich es sich aus dem Gebäude.

    Zielsicher richtete das Mädchen ihren braunen Seelenspiegel auf das geheimnisvolle Schwarz, dem es entgegentrat. Kindliche Furcht steckte in seinen Knochen, und obwohl sein Verstand nach Rückzug brüllte, schritt es tapfer seinem Schicksal entgegen. Der Körper des Kindes mit dem schillernd roten Haar bebte, als die ersten Zweige unter den viel zu großen Stiefeln entzweibrachen. Je tiefer das Mädchen in das Mysterium hineinschritt, desto schwerer fiel ihm das Atmen. Die Schwerkraft veränderte sich, drückte das unerwünschte Kind in die Knie.

    Es stockte, krallte die schmutzigen Finger tief in die Erde, versuchte, darin Halt zu finden. Das Dröhnen in seinem Kopf, ausgelöst durch das Heulen eines Wolfes, brachte es fast zum Wimmern. Für einen Moment warf das Mädchen seinen Blick zurück, erkannte die Umrisse des grässlichen Gefängnisses, das sich nicht um seine Bewohner scherte. Kurz dachte das Kind daran, dorthin zurückzukehren, die folgende Strafe anzutreten. Doch die Erinnerungen zwangen die rothaarige Kämpferin dazu, sich auf die Beine zu hieven. Stark straffte sie ihre Schultern, hob ihr misshandeltes Gesicht stolz wie eine Königin.

    Nie wieder würde die Schwester sie in diesem einen, grausamen Raum einsperren, Dinge mit ihr anstellen, die schmerzten. Kein weiteres Mal würde sie von dem ekelhaften Kartoffelbrei kosten, der sie stets zum Erbrechen gebracht hatte. Es würde kein weiteres Mal geben, dass Menschen zu ihr kommen würden, von der Idee getrieben, sie zu adoptieren. Keine weitere Enttäuschung. Keine verhassten Adoptivgeschwister. Keine Tränen.

    Das Mädchen ohne Namen stapfte durch den Dreck, bis die Kälte ihren Körper wie eine Decke umhüllte. Angriffslustige Äste packten das Kind, das Heulen erschreckte es. Dennoch kämpfte es sich seinen Weg nach vorne, bis es unter seinen Füßen zu knirschen begann. Mit großen, überrascht aufgerissenen Augen musterte das Mädchen den angesammelten Schnee. So etwas hatte sie nie zuvor gesehen.

    Neugierig ging sie auf die Knie und berührte das kühle Weiß. Plötzlich begannen dicke Flocken vom Himmel zu fallen. Immer schneller tanzten sie von den Wolken herab auf die Erde, bedeckten das düstere Grün mit ihrer sanften Blässe. Auf einmal wirkte dieser Wald alles andere als gefährlich.

    »Komm zu mir, mein Kind«, erklang eine glockenhelle Stimme.

    Ein Tempel, erbaut aus der Stärke Hunderter Männer, stand inmitten des weißen Teppichs. Die Tür aus Stein öffnete sich, ließ einen Blick in das leuchtende Wunder zu. In der Luft tanzte ein wunderschönes Licht, umschlungen von allerlei Farben. Es zog das Kind magisch an.

    »Berühre mich, kleine Talisha.«

    Die Stimme hatte ihr diesen Namen geschenkt. Der Kopf des Kindes pochte, tat fürchterlich weh. Fest drückte sie ihre kalten Hände gegen die Stirn. Sie näherte sich der Leuchtkugel. Streckte mutig eine Hand danach aus. Fast berührten sie sich, bis die Kugel in den Tempel schwebte. Die Dunkelheit erhellte sich, zeigte Talisha, dem Kind, das leben wollte, einen Weg in das Innere der Stätte.

    Obwohl die Zweifel ihre Gedanken bestimmen wollten, folgte sie dem schwebenden Wunder. Wie in Trance schritt Talisha durch die engen Gänge, berührte ab und zu das feuchte Gestein. Eiseskälte schlich sich unter ihren langen Mantel, haftete sich an ihren dürren Körper. Trotz des erbarmungslosen Zitterns ging sie weiter, bis der düstere Flur sich in ein wunderschönes Wunderland verwandelte.

    Talisha kannte die Geschichten von Alice und dem Kaninchen, dem sie in ein Loch gefolgt war. Die Erinnerung an das schizophrene Mädchen brachte Talisha zum Lachen. Trotz ihres jungen Alters erkannte sie die Parallelen. Auch sie war dem zeitverliebten Hasen gefolgt. Talisha war wie Alice. Und sie befand sich inmitten des hinreißenden Wunderlandes, dem Land, in das auch Alice gern geflohen war. Bevor es schwarz und widerlich geworden war. Bevor Hass und Gier die Welt besudelte und dem Grün die Farbe entlockt hatten. Bevor das Wunderland durch den Zerfall unterging.

    Doch nein, dieser Ort glühte geradezu vor Schönheit und Frieden. Lianen hingen von den tropfenden Decken, bestückt mit wunderschönen Blüten. Rechts vom Eingang zog sich ein Fluss durch den Raum – kurz fragte sich Talisha, ob es überhaupt ein Fluss sein konnte, wenn es sich in einem Gebäude befand –, der in einem kleinen Wasserfall mündete, welcher direkt aus der Wand schoss. Kleine rosa Seerosen glitten über die Oberfläche des purpurnen Wassers. Den Rand säumten Kieselsteine, an manchen Stellen mit weichem Moos bedeckt. Auf der gegenüberliegenden Seite wucherten alle Arten von Blumen. Orchideen wuchsen neben Sonnenblumen, Freesien erkämpften sich einen kleinen Platz daneben. Schimmernde rote Rosen zierten den hinteren Bereich, umarmt von gleichfarbigen Spinnenlilien. Dahinter sprossen Nelken und Osterglocken behüteten die Stiefmütterchen.

    Mit leicht geöffneten Lippen beobachtete Talisha das Kunstwerk. So viele Farben, so viele Pflanzen, die normalerweise nicht zur selben Zeit erblühten. Vorsichtig, den Blick stets auf den Boden gerichtet, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Faszination drängte Talisha dazu, näher zu kommen.

    »Schnell, Kindchen«, fuhr die Stimme fort. Das Licht bewegte sich, wurde größer, als würde es die Arme nach Talisha ausstrecken.

    Sie schluckte. Ihr Hals fühlte sich trocken an, die Hände feucht. Ihre Schritte wurden langsamer, schwerer. Auch das Atmen schien ihr plötzlich nicht mehr zu gelingen. Dann, als sie das schwebende Licht schließlich tatsächlich erreichte, berührte sie die warme Gestalt.

    Auf einmal ging alles furchtbar schnell. Mit einem Knall explodierte das Licht, verwandelte sich in ein schwarzes Loch, welches von Sekunde zu Sekunde wuchs. Erschrocken stolperte Talisha zurück, sank auf den Boden, dessen Grün sich verändert hatte.

    Ihr Wunderland zerfiel.

    Sumpfiger Sand krallte sich um ihre Finger und eine dumpfe Kraft zog sie in die Tiefe. Mit Panik in den Augen erhob sich das Kind, gewillt dazu, hinauszurennen, zurück in ihr altes, zerfallendes Leben zu fliehen. Doch der Weg war versperrt. Schwärze ummantelte die Blumen – sie starben. Der Glanz des purpurnen Flusses verebbte. Stattdessen begann die schwarze Pampe zu blubbern. Dampf stieg in die Luft, der Talishas Lunge verätzte.

    »Erinnere dich, Dämon!« Die Stimme brüllte verzerrt, besetzte den Albtraum mit Furcht.

    Talisha schrie, wandte sich aus dem Griff der kalten Hände, die aus dem Boden drangen, und versuchten, ihren Körper in den Untergrund zu ziehen. Doch so sehr sie sich auch dagegen wehrte, sie musste den Preis zahlen. Weinend fiel sie durch die Schwärze.

    Ich fuhr schweißgebadet in die Höhe. Voll Furcht schleuderte ich die schmutzige Decke von mir, bevor ich meine Beine auf den Boden setzte. Mit wackeligen Knien suchte ich nach Halt, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Schwach fiel ich nach vorn, keuchte und wimmerte. Gleichzeitig versuchte ich, nach Luft zu schnappten, doch meine Lunge brannte wie Feuer und jeder Atemzug wurde zu einer grausamen Qual.

    »Scheiße!«, fluchte ich erhitzt und stützte mich mit den Händen auf dem moderigen Boden ab. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder zu mir fand. Noch immer spürte ich die Wirkungen des Albtraumes in meinen Knochen. In meinem Kopf drehte sich alles. Bilder, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. »So ’ne verdammte Scheiße!«

    Kraftlos gab ich mich dem tauben Gefühl in meinen Beinen hin, legte mich seitlich zurück ins Bett und rollte mich mit letzter Energie auf den Rücken. Meine Augen fühlten sich müde an, als ich zur finsteren Decke starrte.

    Im Raum existierte nur eine kleine Lichtquelle, eine Kerze, deren Wachs sich bereits über den alten Tisch zog. Der Docht war fast verbrannt, die Kerze war nur noch zwei Fingerbreit hoch. Jetzt flackerte die Flamme schwach, bis sie schließlich erlosch.

    »Klasse«, grummelte ich genervt. Nun lag ich da, verschwitzt und mit gänzlich genommener Sicht. So hätte der Morgen nicht beginnen sollen.

    Nachdem ich mir endlich sicher war, dass mein Körper nicht erneut zusammenbrechen würde, rappelte ich mich auf. Ich schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit aus meinem Verstand zu treiben, und rieb mir einige Male über die Augen. Kleine Sterne funkelten darin, als ich hinüber zum Fenster schritt, um die Laken, die ich zur Verdunkelung davor gehangen hatte, herunterzureißen. Zu meiner Überraschung war es draußen noch recht dunkel, in der Ferne ging gerade erst die Sonne auf. Ich schaute eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, dann ging ich zurück, schob meinen Rucksack unter das Bett und ein paar Kisten davor. Anschließend entzündete ich eine weitere Kerze und deponierte sie in einer kleinen Lampe, die mir den Weg hinaus erhellen sollten. Dann ging ich mit nackten Füßen nach draußen, in einer Hand das flackernde Licht, in der anderen meine Wechselkleidung und ein schmutziges Handtuch.

    Die Hütte, in der ich mich befand, umfasste kaum dreißig Quadratmeter, das Schlafzimmer nahm die meisten davon ein. Der Rest gehörte zu einer kleinen Küche, die aus einem mit Moos bedeckten Tisch und einem kaputten Schrank bestand. Es gab weder einen Kühlschrank, noch einen Ort, an dem ich mein Frühstück hätte erwärmen können. Einige Meter von der Hütte entfernt stand ein Fass, gefüllt mit Regenwasser, das mir die einzige Möglichkeit bot, den Gestank von Schweiß und Angst abzuwaschen. Das einfache Metallfass stand auf einer Vorrichtung, unter der ein Feuer angesteckt werden konnte, um das Wasser zu erhitzen. Feuerholz lag bereit. Doch ich durfte keinerlei Aufmerksamkeit erregen.

    Ich warf Kleidung und Handtuch auf den Boden. Anschließend ließ ich meine Hände über die Wasseroberfläche gleiten. Als ich die Eiseskälte spürte, lief mir ein Schauer den Rücken hinab. Am liebsten hätte ich das Feuer entzündet, die Wärme mit Freude entgegengenommen. Doch mein Verstand wusste es besser.

    Also kletterte ich mit fest aufeinandergepressten Lippen in das volle Fass. Das Wasser schwappte über und rann zu Boden. Augenblicklich umklammerte die Kälte meinen Körper, brachte mich zum Erzittern. Liebend gerne wäre ich wieder aufgesprungen, doch auf eine sadistische Weise tat mir die schmerzhafte Kälte gut. Sie lenkte mich ab.

    Langsam begann sich mein Körper an sie zu gewöhnen. Um erneut von der Taubheit zu kosten, tauchte ich unter. Ich hielt eine Weile die Luft an, zwang mich dazu, vollkommen im Frost zu versinken. Ich starrte an die dunklen Wände. Die ersten Blasen verließen meine Lippen, doch ich befahl mir, weiterhin abgetaucht zu bleiben. Erst als meine Sicht zu verschwimmen drohte, drückte ich mich wieder nach oben und sog die Luft tief in meine Lunge. Der Schmerz in meinem Inneren verdoppelte sich, brachte mich fast um.

    Die Erinnerung an den Traum kehrte zurück. Obwohl ich meine Zehen nicht mehr spüren konnte und die Haut an meinen Oberschenkeln sich anfühlte, als wäre sie zu Eis erstarrt, blitzten Bilder der Vergangenheit in meinen Gedanken auf. Klar erinnerte ich mich an das Waisenhaus und den Wald, der das Gebäude wie ein Gefängnis umschlossen hatte. Ich sah den Tempel, den ich als dummes Kind ohne Zweifel betreten hatte. Das Wunderland, das meinen Fingern entronnen war und sich in einen Ort des Wahnsinns verwandelt hatte. Dieser Augenblick hatte mich für immer geprägt, obwohl ich stets gehofft hatte, all dies zu vergessen. Doch das war vergebens.

    »Scheiße«, rief ich und rieb mit zitternden Händen über mein Gesicht, als könnte das irgendwas an der Situation ändern. Doch alles blieb so wie es war. Nichts veränderte sich, egal wie sehr ich mich danach sehnte.

    Eine Weile verharrte ich starr in dieser Position, die Lider mit meinen Fingern bedeckt. Doch als starker Wind aufkam und die ersten tückischen Sonnenstrahlen durch das Geäst drangen, versuchte ich endlich, mir den Schmutz vom Körper zu waschen. Noch immer drang der Geruch von Schweiß in meine Nase, obwohl ich mir das vermutlich nur einbildete. Nichtsdestotrotz rieb und rubbelte ich, bis sich meine inzwischen runzligen Finger wund anfühlten. Ich umklammerte den Rand des Fasses und bemerkte weder den Wind in meinem nassen Haar noch die Taubheit in meinem Unterkörper.

    Erst als mich die knackenden Laute von zerbrechenden Ästen aufschreckten, kam ich in die Realität zurück. Zu spät bemerkte ich die Gestalten, die sich bereits Eintritt in die Hütte verschafft hatten. Laut kamen ihre Stimmen bei mir an. Sie versuchten nicht einmal, zu verbergen, dass sie unbefugt in ein Gebäude eingedrungen waren. Genau so, wie ich es letzte Nacht getan hatte.

    Ich fluchte innerlich auf und kletterte, so leise es mir gelang, aus dem Fass. Schlagartig peitschte mir der Wind entgegen und peinigte meinen vereisten Körper. Mit steifen Bewegungen schlang ich das Handtuch um mich. Bevor ich jedoch dazu kam, meinen Körper trocken und warm zu rubbeln, zerschellte etwas in der Hütte. Es dauerte nur einen Augenblick, bis mir bewusst wurde, dass sie jederzeit auf dieser Seite herauskommen konnten. Mir blieb keine andere Wahl als zu fliehen.

    Keuchend ergriff ich meine Klamotten, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Morast und tote Blätter klebten an meinen Fußsohlen, Geäst brach und schnitt in meine Haut. Ich rannte, bis die Hütte bloß noch als Schatten hinter den eng beieinander gewachsenen Baumstämmen wahrnehmbar war. Endlich verlangsamte ich meine Schritte.

    Angespannt ließ ich meinen Blick über die Umgebung wandern. Trotz meiner aufmerksamen Suche sah ich niemanden. Hier, im dichten Dickicht, war ich gut geschützt.

    Ich schlüpfte rasch in meine Kleider und wollte instinktiv nach meinem Reisegepäck greifen. Da durchfuhr es mich wie ein Blitz. »Das ist doch nicht zu fassen!«, fauchte ich, einer weiteren Panikattacke ziemlich nah. Meine Sachen hatte ich in der Hütte zurückgelassen. Erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken.

    Ich hasste es, zu warten. Lieber stürmte ich irgendwo hinein, gepanzert und bereit, das zu tun, was nötig war, anstatt an Ort und Stelle zu verharren. Das passte einfach nicht zu mir. Eine Eigenschaft, die Gerrit an mir ziemlich missfallen hatte. Doch daran wollte ich nicht mehr denken.

    Diese Irren verhielten sich im Inneren der Hütte wie Idioten. Töpfe klapperten laut und Glas zerschellte. Dann hallte ein lautes Wummern durch den Wald. Scheinbar hatten sie das Fass umgestoßen. Für einen Moment träumte ich mich in das eisige Wassergefängnis zurück.

    Noch verkorkster hätte mein Leben nicht sein können. Hier saß ich nun, von der Außenwelt abgeschottet und vor den Augen aller verborgen. Welcher Weg mir als nächstes bevorstand, stand noch in den Sternen. Alles um mich her war skurril. Das war etwas, das mir Angst einjagte. Nicht, dass ich das jemals laut zugegeben hätte. Ich fürchtete mich nicht. Vor niemandem. Und dennoch hockte ich nun auf dem Waldboden, die Hände wie eine Verrückte in die Erde gegraben, und kicherte hysterisch. Panisch.

    Ich wagte es nicht, die Erinnerungen wieder aufkommen zu lassen. Doch der Schleier der Wahrheit lüftete sich mit jedem aufkommenden Windstoß. Bis der Vorhang fiel und das Spiel endete. Verflucht, wie grausam hätte man dieses Kind noch bestrafen können?

    Erneut kam mir das beschissene Waisenhaus in den Sinn. Ich wollte nicht an die leeren Räume und die schmutzigen Töpfe denken, die man uns damals zum Spielen gegeben hatte. Nicht eine Sekunde wollte ich noch mit einem Gedanken an die quietschende Schaukel verschwenden, die lediglich dazu dagewesen war, die Braven zu belohnen. Es hatte nicht ein einziges Mal ein solches Kind gegeben.

    Alle schlechten Dinge hatte man hinter Lügen versteckt. Nicht genügend Fördergelder wären eingegangen, um den verlorenen Seelen einen besseren Schlafplatz zu gewähren. Der Herd sei vor wenigen Tagen zu Bruch gegangen, weswegen das Abendessen bloß aus einem labbrigen Laib Brot und Milch bestand. Krankheiten waren durch eine Grippewelle verursacht, nicht aber durch die Tatsache, dass sich niemand um die kaputten Heizlüfter gekümmert hatte.

    Wut kochte in mir hoch. Mein Griff verstärkte sich, ich bohrte meine Finger aggressiv durch Dreck und Würmer. Der Himmel schien meinen angestauten Zorn widerzuspiegeln. Die dunklen, schnell aufziehenden Wolken verrieten nichts Gutes. Mit einem Mal erfüllte ein lautes Donnergrollen die morgendliche Luft. Plötzlich fühlte ich mich matt und erschöpft. Mit dem ersten Regentropfen zerfiel das rasende Gefühl tief in meiner Brust und verwandelte sich zu etwas Trägem. Lustlos lehnte ich mich gegen den Baumstamm, der mir an diesem grauen Morgen mehr Halt schenkte, als es je eine Person getan hatte.

    War das wirklich so?

    Das widerliche Brennen in meiner Brust hinterließ einen ungewollten Beigeschmack auf meiner Zunge. Ich wollte nicht an ihn denken. Nicht jetzt. Nicht nach diesem Verrat, nicht nachdem ich sein Vertrauen so missbraucht hatte. Mit jedem Schritt, den ich mich weiter von ihm entfernt hatte, hatte ich seinen Hass gesteigert.

    Bitter war die Zitrone, auf die ich beißen musste. »Und kein Tequila weit und breit«, hauchte ich noch, bevor die erste himmlische Träne auf den Wald hinabfiel. Und auf mich. Verloren und einsam. Durchnässt und ohne Alkohol.

    Noch beschissener konnte dieser Tag nicht werden.

    Kapitel 3

    Mein Zeitgefühl verschwamm, noch ehe der Regen sein Ende fand. Der Schauer hatte mich vollkommen durchnässt. Trotz meiner dämonischen Gene sorgte das wilde Wetter bloß dafür, dass mich Frost und Gänsehaut überkamen. Als ich mich nach gefühlten Stunden endlich aufraffte, spürte ich meine Knochen kaum noch. Meine Kniekehlen schmerzten und mein Oberschenkel brannte wie Feuer, obwohl es mir so vorkam, als müssten Eiskristalle meine Haut bedecken.

    Ich reckte und streckte mich, hörte das leise Knacken in meinem Nacken. Wieder sehnte ich mich nach Schlaf. Schon seit Tagen schlief ich in unbequemen Betten oder auf harten Waldböden. Verdammt, wann hatte ich mich zuletzt in weichen Kissen gewälzt? Der Gedanke daran ließ mich vor Sehnsucht erzittern. Ich fasste den Entschluss, bei meinem nächsten Halt eine Nacht länger zu verweilen, und hoffte, dass mir dafür noch genug Zeit blieb.

    Um auf andere Gedanken zu kommen, besah ich meine Kleidung. Klitschnass und schmutzig. So eine Scheiße! Meine Ersatzkleidung war nach dem Eindringen der Fremden vermutlich futsch. Ich konzentrierte mich auf die Stimmen der Männer, versuchte, ihre Schritte auszumachen. Zu meiner Überraschung herrschte vollkommene Stille. Nur ein paar Vögel sangen in der Ferne ihr Lied.

    Ich atmete erleichtert auf. Klar, einem offensichtlichen Kampf würde ich niemals aus dem Weg gehen. Meine Natur verehrte den Drang, der dafür sorgte, dass das Adrenalin durch meinen Körper schoss, sobald ich etwas begehrte, oft mit tödlichen Folgen. Manchmal fühlte ich mich deswegen wie ein Tier. Heute allerdings war ich dem Kampf ausgewichen. Ich wunderte mich, weshalb ich nicht einfach hineingestürmt war und meine Feinde wie Vieh abgeschlachtet hatte.

    Schnell verwarf ich diesen unsinnigen Gedanken und machte mich mit eiligen Schritten auf den Weg zurück zur Hütte. Dabei ließ ich meine Umgebung nicht aus den Augen. Die Diebe könnten sich noch immer in der Nähe aufhalten. Der plötzliche Regenguss war mir entgegengekommen. Falls diese Männer auf der Suche nach mir – oder einer meiner Schwestern – gewesen waren, hatte die Nässe für die Verwischung meiner Spuren gesorgt. Theoretisch konnte ich mich nun in Sicherheit wiegen.

    Ja, theoretisch.

    Zu meiner Überraschung dauerte der Weg zurück länger als gedacht. Fast wäre ich falsch abgebogen. Der Wald wirkte auf einmal viel düsterer und voller Geheimnisse. Ich setzte langsam einen Fuß vor den andern, spähte in jede Richtung, war auf alles gefasst. Doch es blieb ruhig. Keine verirrten Menschen und keine Diebe. Die Typen hatten sich tatsächlich aus dem Staub gemacht.

    Ich betrat die Hütte. Der Innenraum bot einen grausamen Anblick. Die Möbel, so einfach sie sie auch gehalten gewesen waren, waren durch den Raum geschleudert worden. Das kleine Sofa, das links an der Wand gestanden hatte, war durch tiefe Schnitte verunstaltet worden, aus denen nun der Schaumstoff quoll. Die Kissen waren zerfetzt, die Beine des Tisches zerbrochen. Das Gleiche hatten sie auch mit dem Bett veranstaltet. Überall langen Federn, der Lattenrost war zerbrochen und nutzlos zur Seite geworfen worden. Selbst die Matratze war mit brachialer Gewalt in Stücke gerissen worden. Ein prächtiges Bild für jeden Albtraum. Ich blickte mich staunend um.

    Bis ich plötzlich realisierte, dass es sich um meinen Albtraum handelte.

    »Scheiße, nein!«, schimpfte ich wütend, kletterte geschwind über die Bruchstücke zu der Stelle, an der zuvor das Bett gestanden hatte. Fuck! Alles war fort. »Diese Arschlöcher! Das kann doch nicht wahr sein!« Meine Laune sank in einen Bereich, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existierte.

    Überall lagen meine Kleidungsstücke verteilt. Der Rucksack, den ich so sorgsam versteckt hatte, war gestohlen worden. Mein Proviant verputzt, die Wasserflasche geleert. Das Säckchen Silber, das ich für den Notfall eingesteckt hatte, war ebenfalls fort. Und das Handy. Das Handy, verflucht noch mal!

    Wutentbrannt trat ich gegen den Schutt, bevor ich zu Boden sank. Sofort bereute ich meine Flucht, wünschte, ich wäre ihnen entgegengetreten. Nun saß ich hier – ausgeraubt und allein.

    Automatisch hob ich mein Gesicht Richtung Himmel. Auch wenn ich durch die Decke das wiederkehrende Blau nicht erkennen konnte, sprach ich ihm entgegen. »Karma, so nennt man das wohl.«

    Meine Haare klebten an meinem Nacken. Ärgerlich rieb ich über die feuchte Stelle. Die Wut, die sich von Sekunde zu Sekunde mehr in meinem Bauch ansammelte, wollte freigelassen werden. Bei dem Gedanken daran, was die Diebe hatten mitgehen lassen, wurde mir schlecht. Dass sie mir auch noch damit einen Strich durch die Rechnung machten, meinen Plan vollends zerstörten, steigerte die negativen Gefühle, bis ich es kaum mehr aushielt. Zittrig erhob ich mich und schlug mit solch einer Wucht gegen die Wand, dass ich ein Loch darin hinterließ. Es war ein Wunder, dass bei dem morschen Holz nicht gleich die ganze Hütte zusammenbrach. Meine Hand juckte und der Drang, erneut zuzuschlagen, wuchs an, doch ich zügelte mich. Zum Glück, denn ich nun entdeckte etwas, was meine Laune deutlich hob.

    Mein Handy! Es lag zwischen den Trümmern des Schreibtisches. Ich warf mich wie eine Raubkatze darauf. Die Diebe mussten es übersehen oder ignoriert haben. Womöglich war es ihnen einfach nicht aufgefallen. Oder sie hatten es beim Verlassen der Hütte verloren. Egal, Hauptsache ich hatte es wieder. Flüchtig warf ich einen Blick darauf, betrachtete den halb vollen Akku und die Anzeige einer eingegangenen Nachricht. Ich entschied mich dazu, sie erst einmal zu übergehen und mich wichtigeren Dingen zuzuwenden.

    Hastig sammelte ich die verstreuten Kleidungsstücke ein – zum Glück hatten sie diese nicht auch zerstört. Ich zog die nassen Klamotten aus und schlüpfte in eine schwarze Röhrenjeans und ein graues Tanktop. Zu meiner Freude entdeckte ich auch den dunklen Pullover, den sie in die Küche geworfen hatten. Ein Faden hatte sich gelöst, doch das war mein geringstes Problem. Ich sammelte auch den Rest meiner Kleidungsstücke ein. Das Handtuch und die nassen Klamotten ließ ich achtlos liegen.

    Aber ohne meinen Rucksack konnte ich nichts mitnehmen, auch keinen Proviant. Meine Suche nach einem Behälter oder einer Stofftasche blieb erfolglos. Ich fand lediglich eine Karte der Gegend. Wenigstens etwas.

    Nun brauchte ich dringend frische Luft!

    Die Sonnenstrahlen waren zurückgekehrt und bescherten mir auf meinem Weg eine angenehme Wärme. Wohltuend für meinen unterkühlten Körper, doch nicht gut genug, um die Eiseskälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Ich ging und ging, bis ich mich irgendwann besser fühlte. Freier. Schließlich blieb ich stehen. Nach ein paar tiefen Atemzügen zückte ich mein Handy. Noch heute überraschte es mich, dass überall im Untergrund solch guter Empfang herrschte. Eigentlich nicht verwunderlich, wenn man bedachte, wie sehr wir den Menschen nacheiferten. Selbst hier unten genoss man den Luxus von Modernität. Mit ein paar wenigen Tasten öffnete ich die Nachricht.

    Talisha,

    komm nicht hier her. Alles voller Schlächter. Erreiche mich.

    Roger.

    Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Hielt mein Freund mich für komplett inkompetent? Seit Jahren befand ich mich nun schon auf der Flucht, da würde ich mich sicherlich nicht fangen lassen, indem ich Kontaktmänner persönlich traf. Witzig, dieser Roger.

    Ich ging langsam weiter. Kurzwahltaste. Es klingelte zweimal, bevor er abhob.

    »Talisha, meine Lady. Schön, von der Süße deiner Stimme zu kosten. Wie kann ich dienen?«

    Augenverdrehend schnalzte ich mit der Zunge. »Offenbar hat man dich deiner Zunge noch nicht entledigt. Wie kommt’s?«

    »Man munkelt, ich sei ein wundervoller Küsser. Du könntest das bezeugen, wenn dein Köpfchen nicht so von Sturheit besessen wäre.«

    Er brachte mich tatsächlich zum Lachen. Kurz und träge, aber ich lachte.

    »Deswegen rufe ich nicht an, Roger«, lenkte ich das Gespräch wieder in eine andere Richtung. Gleichzeitig sah ich in den Himmel und als ich fand, was ich suchte, schritt ich los gen Osten. »Du schuldest mir noch einen Gefallen.«

    Nun war er derjenige der lachte. »Oh, tu ich das? Ich erinnere dich nur ungern an den Topf mit Silber, den ich dir am Ende des Regenbogens bereitgestellt habe. Wofür du mir noch immer Dank schuldest.«

    Eine Eigenschaft, die ich an ihm verachtete. Besessen davon, immer und überall seine Schuld zu begleichen, versuchte er alles, um seiner Ehre nicht zu schaden. Wobei diese Eigenschaft durchaus nützlich sein konnte. Wie in diesem Fall.

    »Deine Erinnerungen müssen dich trüben, alter Freund. Silber und Gold sind nichts gegen das, was ich für dich getan habe. Erinnerst du dich, Roger? Der rote Fluss … dessen Bedeutung wirst du doch sicherlich noch kennen.«

    Ich musste ihm nicht gegenüberstehen, um zu wissen, dass er augenblicklich am ganzen Körper verkrampfte. In der Leitung gluckste etwas. Vermutlich hüpfte sein Adamsapfel nervös auf und ab, während er panisch schluckte. Die kurze Stille verriet mir, dass ich erfolgreich die Führung des Gesprächs übernommen hatte.

    »Ich hasse dich, Miststück und ich will, dass du das weißt.« Fast hätte ich ihm die Rolle des verstimmten Mannes abgenommen. »Also, was brauchst du?«

    »Ein Schiff«, schoss es aus mir heraus, als lägen die Worte

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