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Green Scales: Die Drachen von Talanis
Green Scales: Die Drachen von Talanis
Green Scales: Die Drachen von Talanis
Ebook436 pages5 hours

Green Scales: Die Drachen von Talanis

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Teil 1 Blue Scales Teil 2 Green Scales "Ein Jahr. Zwei Arenen. Von einem Duell zur nächsten Schlacht." Die Suche nach ihrem leiblichen Vater führt Christie in die zwielichtigsten Viertel von Shousa, der Stadt der Drachen-Triade. Ausgerechnet ihre verhassten Drachenschuppen erwecken die Aufmerksamkeit zweier niederträchtiger Jäger, die Drachenwandler wie Ware verkaufen und Christie auf offener Straße entführen. In Gefangenschaft wird Christie vor eine schwere Entscheidung gestellt. Soll sie das Risiko eingehen, ihre geheime Identität zu verraten, in der Hoffnung dadurch Hilfe zu erlangen? Die Uhr tickt denn wer nicht verkauft werden kann, dem droht ein weitaus schlimmeres Schicksal.
LanguageDeutsch
Release dateSep 27, 2017
ISBN9783959914116
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    Book preview

    Green Scales - Katharina V. Haderer

    Kapitel 1

    Anwärter

    Wer hätte gedacht, dass so viele Speichellecker für einen einzigen freien Platz im Stadtrat kandidieren würden? Misstrauisch beäuge ich die zehn Bewerber der heutigen Vorstellungsrunde. Ein Interview reiht sich an das nächste und erfüllt unser aller Leben mit schrecklicher Monotonie. Keiner der bisherigen Kandidaten erscheint mir geeignet, den Stuhl zu besetzen, der durch das Dahinscheiden von Anne Devoye frei geworden ist .

    Meine beste Freundin Cordula, die heute im Rat ihre Eltern vertritt, behauptet zu Recht, auch bei Anne Devoye hätte es sich um keine Idealbesetzung gehandelt. Ihrem Verrat habe ich es schließlich zu verdanken, dass ich von einem rachsüchtigen Wolfsrudel entführt worden bin. Obwohl ich auf die verstorbene Hexade-Matriarchin zornig sein sollte, verbinde ich keinerlei negative Gefühle mit ihr. Denke ich an Anne, sehe ich nur die gebrochene Frau, die in einen Käfig gezwängt wurde, von den Wölfen als Haustier gehalten, oder später ihren zerbissenen Katzenkörper, den wir in einem kleinen Sarg zu Grabe getragen haben.

    Ihre Tochter Lisbeth – ebenfalls eine Gestaltwandlerin – überlebte die Herrschaft der Wölfe zwar, hat bisher jedoch noch nicht in ihre menschliche Gestalt zurückgefunden. Als Katze hat sie sich bei einem Hexade-Nachfolger einquartiert. Nicht einmal Viktorius Horasch selbst ahnt, wie genau er zu dieser Ehre gekommen ist. Lisbeth und er standen sich in keiner Weise nah.

    Mein Blick gleitet in seine Richtung. Viktorius sitzt neben seinem Patriarchen, die Handwerkerarme in einem verblichenen T-Shirt vor der Brust verschränkt. Er sieht aus, als wäre er von einer Baustelle direkt hierhergekommen und hätte sich eben noch den Bauarbeiterhelm vom wehenden blonden Haar gezogen. Auf seinen Stiefeln befinden sich Farbspritzer. Während sein Patriarch mit der Müdigkeit kämpft – sein Kinn mit dem vergilbten Bart sackt zusehends Richtung Brustbein –, lauscht Viktorius dem momentanen Bewerber mit entsprechendem Ernst. Als spüre er meinen Blick, dreht er den Kopf in meine Richtung.

    Ertappt wende ich mich ab und versuche mich wieder auf den Kandidaten zu konzentrieren. Für gewöhnlich teile ich die Bewerber in drei verschiedene Typen ein – die Nervösen, die Großkotzigen und die übermäßig Untertänigen. Die Nervösen erkennt man an den ausgedehnten Schweißflecken unter den Ärmeln, dem nervösen Zucken ihrer Gliedmaßen und daran, dass sie trotz Mittermorgens entgegenkommender Interview-Führung immer wieder ins Stottern geraten.

    Die Großkotzigen legen gerne eine gespielt gelangweilte Attitüde an den Tag, lehnen lässig auf ihrem Stuhl und versuchen allen das Gefühl zu vermitteln, wir müssten uns gefälligst bei ihnen einschmeicheln, großartig wie sie sind. Die anderen beiden Bewerbertypen sind den Großkotzigen natürlich ein Graus, stehen sie in der Nahrungskette weit unter ihnen. Meist geben sie sich nicht einmal in den Pausen mit ihnen ab. Zuletzt habe ich einen Typ 2-Bewerber dabei erwischt, wie er einen Typ 3-Bewerber – die Untertänigen – um ein Erfrischungsgetränk geschickt hat.

    Jener letzter Typ sagt prinzipiell Ja zu jeder Frage, würde nach Aurora paddeln, um jemand anderem einen Gefallen zu tun, und grinst selbst dann noch, wenn Typ 2 ihm das Lächeln mit einem Vorschlaghammer aus dem Gesicht zu prügeln versucht.

    Perzival Pensing-Palaver, unser momentaner Kandidat, ist eine Mischform aus Typ 1 und 3. Sein teures Sakko kann die Schweißperlen an seinem Haaransatz genauso wenig verbergen wie die glühenden Ohren, die zwischen seinem nussbraunen Haar hervorspähen. Die Nervosität lässt das Lächeln auf seinem Gesicht flackern. Er scheint sich stark konzentrieren zu müssen.

    Perzival befindet sich in meinem Alter und ist der Neffe der Ratsmitglieder Paul und Peter Pensing. Dass sie ihn ausführlich auf die erste Bewerbungsrunde vorbereitet haben, erkennt man auch daran, dass Peter Pensing, der einige Stühle weiter sitzt, die Antworten seines Neffen parallel mit den Lippen nachformt.

    Die beiden Brüder sind nicht die einzigen Hexade-Mitglieder, die versuchen, Freunde oder Verwandte auf den freien Platz zu hieven. Nach wie vor verstehe ich nicht, warum sich über hundert Bewerber für einen Posten gefunden haben, der außer Ansehen hauptsächlich Scherereien mit sich bringt.

    Neben mir sackt Anselm Horaschs Kinn auf seine Brust und der Alte beginnt zu schnarchen. Das bemerkt auch der junge Bewerber. Sein Unterkiefer hängt sich aus, und sein Satz läuft in einem zerhackten Stottern aus.

    Oliver Mittermorgen, der sich während der Bewerbungsphase als Gesprächsführer angeboten hat, dreht sich auf seinem etwas abseits stehenden Stuhl zu uns um und räuspert sich lautstark. »Vielleicht ist der Zeitpunkt für eine Pause gekommen«, schlägt er vor.

    Niemand erhebt Einspruch. Als inoffizielles Sprachrohr der Hexade trifft Mittermorgen viele Entscheidungen, an die sich alle halten müssen. Üblicherweise beschwert sich niemand, denn er verhält sich taktisch klug und bleibt immer freundlich.

    Stühle werden gerückt. Perzival Pensing, die restlichen Bewerber für den heutigen Nachmittag und die Hexade-Mitglieder strecken ihre Arme und Beine. Anselm Horasch blinzelt durch seine laschen Lider, als Viktorius ihm die Hand tätschelt und vorschlägt, frische Luft zu schnappen.

    Neben mir taucht meine Freundin Cordula auf. »Ich brauche dringend ’ne Kippe«, erklärt sie, »sonst halte ich das nicht länger aus.«

    An der Seite der Pensings, die ihren Neffen einkesseln, um ihn mit weiteren Tipps zu versorgen, verlassen wir das Ratsgebäude. 

    »Feuer?«, fragt Peter Pensing, der wie Cordula Raucher ist. Meine Freundin nickt und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Der Patriarch lehnt sich zu ihr und führte seine gekrümmten Hände heran, ohne dass ich ein Feuerzeug oder Streichhölzer darin entdecken könnte. Plötzlich dringt ein Leuchten zwischen seinen Fingern hervor. Kurze Zeit später steigt Rauch aus Cordulas Zigarettenspitze. 

    »Danke«, sagt sie und zieht mich die Stufen hinab, sodass wir in Ruhe sprechen können.

    Auf dem Gehweg halten wir neben einer der gigantischen Steinvasen, die den Treppenaufgang zum Ratsgebäude flankieren. Cordula verschränkt die Arme, spitzt die Lippen und stößt den Zigarettenrauch aus, der vom klirrend kalten Wind davongetragen wird. Es nieselt, doch ich bin mir sicher, der erste Schnee lässt nicht mehr lange auf sich warten. 

    »Peter und Paul sind unmöglich«, brummt Cordula. Mit ihren kräftig umrahmten Augen fixiert sie die beiden Brüder, die abwechselnd auf ihren Neffen einsprechen. Der junge Mann, der das nussbraune Haar sowie das gleichförmige Gesicht der Pensings teilt, reißt überfordert den Kopf nach links und rechts. Sobald ein Pensing-Bruder das Gespräch übernimmt, zieht der andere gierig an seiner Zigarette. Sie sind zwei seltsame Käuze – ich kann sie nicht sonderlich leiden. 

    »So sind sie doch immer«, antworte ich daher.

    »Glauben sie wirklich, ihr Neffe schafft es in die Hexade, indem er ihre vorgeschriebenen Floskeln herunterbetet?«

    Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf, um mich vor dem Nieselregen zu schützen. Cordulas mit Haarspray zementierte, wasserstoffblonden Haare scheinen immun gegen den Wettereinfluss.

    Nachdenklich saugt sie an ihren Wangenpiercings. »Ist dir aufgefallen, wie er immer wieder herübergesehen hat?«

    Meine Augenbraue hebt sich. »Er war nervös.«

    »Das meine ich nicht. Schau.«

    Ich folge ihrem Blick. Perzival Pensing-Palaver starrt in unsere Richtung, die Augen leicht aufgerissen. Sein Kopf fährt wieder herum, als einer seiner Onkel seine Aufmerksamkeit fordert.

    Fragend sehe ich meine Freundin an. »Und?«

    Cordulas sorgfältig gezeichnete Augenbrauen verschieben sich auf eine Art und Weise, die mir verrät, dass sie mehr weiß als ich. 

    »Du wirst es schon merken«, sagt sie und zieht ein letztes Mal an der Zigarette. Dann wirft sie den Glimmstängel auf die Straße und zertritt ihn. »Lass uns reingehen. Je schneller wir weitermachen, desto rascher bringen wir den heutigen Tag hinter uns.«

    Ich folge Cordula und marschiere hinter ihr durch das Tor des Backsteingebäudes. Mein Blick kreuzt den des Pensing-Klons. Er starrt. Dann heben sich seine Mundwinkel wie in Zeitlupe, bis sie beinahe seine Ohren durchstoßen. 

    »Was …?«, murmle ich, als ich das Tor durchschreite.

    Vor mir lacht Cordula. »Die Pensings sind bereit, mit allen Mitteln zu kämpfen«, brummt sie. »Nimm dich in Acht.«

    Meine Augen weiten sich, als die Bedeutung ihrer Worte in meinen Kopf sickert. Glaubt Perzival Pensing etwa, er könne mich anbaggern und somit beeinflussen?

    Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und stiere finster zurück, bis das Tor hinter mir zuklappt. Cordulas Schritte hallen lautstark durch den Korridor, im Takt dazu klappern die Spielzeugautos ihrer Kinder in ihren Manteltaschen.

    Auf dem Weg zum Saal, in dem die Vorstellungsgespräche stattfinden, begegnen wir Oliver und Charlêne Mittermorgen, zwei der Hexade-Mitglieder, die mit einer weiteren Hexade-Matriarchin – Großmama Pheng – in ein Gespräch vertieft sind. Als könne Letztere meine Gedanken lesen, rückt ihr Haupt wie das eines Geiers herum.

    Pheng wird von vielen Menschen Großmutter genannt, mit denen sie gar nicht verwandt ist. Tatsächlich hat sie nur sehr wenig mit einer liebevollen Oma gemein. Selbst ihr Sohn, mein Ziehvater Long, nennt seine Mutter nur äußerst selten Mama. Als er nach seinem Gefängnisaufenthalt erfuhr, dass die Matriarchin der Familie mich nie offiziell in der Familie aufgenommen hat, löste er ihre ohnehin erkaltete Beziehung und kehrt ihr mitsamt der Hexade den Rücken zu. Weil er nicht länger dem Stadtrat angehört, war es mir auch möglich, den neutralen Posten als Iudex Poschovaris anzunehmen.

    Der Iudex Poschovaris dient bei Streitigkeiten und Uneinigkeiten als neutraler Beobachter. Auch im Nachbesetzungsvorgang für den frei gewordenen Hexade-Platz besitze ich ein Stimmrecht. Das Gute an der Sache ist: Ich werde dafür bezahlt; und Geld hat meine Familie bitter nötig. Das Schlechte folgt auf raschem Fuß: Ich muss mich ständig mit Großmama Pheng auseinandersetzen, die mir mein Leben lang schreckliche Dinge an den Kopf geworfen hat.

    Im Vorübergehen messen wir uns in einem Blickduell. Ihr Haar ist streng zu einem Knoten zurückgekämmt, die Augen sind, passend zu ihrer magischen Fähigkeit, schwarz wie die Nacht. Von ihr hat mein Cousin Zhang sein Talent für Nekromantie geerbt, die Fähigkeit zur Totenbeschwörung. 

    Charlêne Mittermorgen stellt Pheng eine Frage, weswegen die Alte das Gesicht von mir abwendet. Währenddessen bemühe ich mich, den selbstsichersten Gang meines Lebens hinzulegen. Mich kann sie nicht länger verunsichern. Wenn ich es mir oft genug einrede, glaube ich vielleicht selbst einmal daran.

    »Christine!«, ruft Oliver Mittermorgen und bringt damit mein Gehkonzept zum Wanken. Meine Beine verheddern sich. Ich versuche den Fauxpas mit einer Drehung auszugleichen und komme zum Stehen, die Hand an der Taille, als wäre ich soeben am Laufstegende angekommen. Mein Blick zuckt zu Pheng, doch sie ist in das Gespräch mit Mittermorgens Ehefrau Charlêne vertieft.

    Der Ratsvorsitzende löst sich von ihrer Seite und eilt auf mich zu, unter den Arm einen Stapel Unterlagen geklemmt. »Ich habe dir mitgebracht, worum du mich letztes Mal gebeten hast. Unser Iudex Poschovaris soll schließlich für seine Entscheidung gerüstet sein.«

    Etwas verwirrt sehe ich ihn an.

    Er streckt die Hand aus und reicht mir das Zettelwerk, welches ich zögerlich entgegennehme. Dann erinnere ich mich. »Die schriftlichen Bewerbungen …« Jeder Anwärter musste ein Bewerbungsschreiben abgeben. Im Großen und Ganzen interessieren sie mich wenig. Stellengesuche erzählen nur kleine Ausschnitte eines Lebens (und mein eigenes würde vermutlich kaum dazu einladen, mich einzustellen). Für mich ist bloß die Hintergrundgeschichte eines ganz besonderen Bewerbers von Bedeutung.

    Vorsichtig blicke ich von der Mappe auf. Ich will nicht, dass Oliver Mittermorgen allzu genau über mein Interesse Bescheid weiß. Er besitzt ein süßliches Lächeln, schmeichelnd wie Honig. Dazu passen auch sein kornfeldblondes Haar und seine goldenen Augen. Ich unterdrücke den Impuls, sein Lächeln zu erwidern. Das Verlangen danach drängt sich ganz automatisch auf.

    »Danke«, sage ich. »Ich möchte mich informieren, bevor ich meine Entscheidungen treffe.«

    »Dein Interesse freut mich«, erwidert er. »Es ist wichtig, diesen Platz an einen geeigneten Anwärter zu vergeben. Niemand sollte unüberlegt in die engere Wahl gezogen und somit in die zweite Bewerbungsrunde gewählt werden.«

    Mein Mund öffnet sich, doch ich schließe ihn wieder. Ich möchte nicht zu auffällig nach Han fragen. Niemand soll über mein besonderes Interesse Bescheid wissen.

    »Hast du noch Fragen?« Oliver hat einen untrüglichen Instinkt für die Bedürfnisse anderer. Das macht ihn zu einem erfolgreichen Kunsthändler und zur unangefochtenen Sprechfigur der Hexade.

    »Etwas verstehe ich noch nicht ganz«, schließe ich zögerlich an. »Der erste Bewerber – Han …«

    »Han Wei«, nickt Oliver.

    »Sie meinten damals beim Treffen im Wintersteiner Palast, Han wäre bereits ein Patriarch der Triade. Er gehört zu den drei Drachenfamilien Shousas.«

    »Das ist wahr.«

    »Warum bewirbt er sich dann für den Posten in Poschovar? Ist es möglich, Patriarch in zwei Städten zugleich zu sein?«

    In seinem versteiften Jackett hebt Mittermorgen die Schultern. »Nun …«, erwidert er. »Es gibt zumindest kein Gesetz, das es verbietet.«

    Das kratzende Gefühl in meiner Kehle lässt sich nicht hinunterschlucken. Ich weiß, dass ich mit folgenden Worten auf Glatteis trete. »Als Drache der Triade in Shousa … warum wollen Sie ihn bei uns in Poschovar haben?«

    Mittermorgen blinzelt. »Warum denkst du, dass ich ihn hier haben möchte?«

    »Er wurde im Vorstellungsprozess allen anderen Kandidaten vorgezogen.«

    Einen Augenblick lang schweigt mein Gegenüber. Er dreht die Augen zur Seite, dann schnellt sein Blick wieder zu mir, haftet sich an meinem Gesicht fest. »Ich will ehrlich zu dir sein, Christine. Han Wei ist ein mächtiger Mann.« Er legt sich die Worte zurecht, bevor er weiterspricht. »Es gibt zwei Gründe, warum ich ihn verfrüht eingeladen habe. Zum einen wären seine Verbindungen, sein Wohlstand und sein Einfluss ein Gewinn für die Hexade …«

    »… zum anderen wollen Sie es sich nicht mit ihm verscherzen.«

    Mittermorgen zuckt mit den Schultern, führt die Bewegung jedoch nicht ganz zu Ende. Es ist schwer für mich, mir vorzustellen, jemand mit dem Einfluss und dem Wohlstand Mittermorgens könne sich von einem anderen Geschäftsmann beeindrucken oder beeinflussen lassen. Andererseits ist Han kein einfacher Geschäftsmann. Wer weiß, in wie viele illegale Tätigkeiten er verwickelt ist.

    Ich knete meine Hände.

    »Hast du sonst noch Fragen? Zum laufenden Prozedere?«

    Hastig schüttle ich den Kopf. Aus den hundert Bewerbern wurden rund fünfzig zum Gespräch geladen. Nach den Bewerbungsgesprächen werden durch eine anonyme Abstimmung zehn mögliche Kandidaten für den Hexade-Platz ausgewählt.  Danach findet eine zweite Auswahlrunde statt. Dank meiner Position besitze ich ebenfalls eine Stimme.

    Die Pensings traben an uns vorbei. Sie haben sich rechts und links bei ihrem Neffen eingehakt und schleifen ihn zwischen sich her wie Soldaten einen Gefangenen.Ihnen folgt träge Anselm Horasch, geführt von seinem Verwandten Viktorius. Wie genau sie in Beziehung stehen, wurde nie erwähnt. Horasch selbst hat keine Kinder, doch der Horasch-Clan ist groß und Viktorius gehört dazu.

    Der alte Greis scheint schon wieder halb dem Schlaf verfallen zu sein, während das Gesicht des Jüngeren ein steinernes Mysterium bleibt. Er nickt mir zu, ich erwidere die Bewegung. Hinter ihm trippelt Großmama Pheng herbei. 

    »Kommst du, Christine?«, schnarrt sie. »Du wirst schließlich nicht fürs Herumstehen und Gaffen bezahlt.«

    Ich wünsche mir Zhangs Nunchaku – eine talanidische Flegelwaffe, die aus zwei Stöcken besteht, welche mit einer Kette verbunden sind –, damit ich es ihr an den Kopf schleudern kann. Bevor mir eine passende Erwiderung einfällt oder ich auf die Idee komme, die Unterlagen zu werfen, berührt mich Oliver Mittermorgen am Arm. Seine Präsenz wirkt beruhigend, wie ein warmes Bad, das auf meine Glieder drückt und mich schwer und wohlig fühlen lässt. 

    »Lass uns gehen«, spricht er leise. »Die nächste Bewerberin findest du auf Seite 36, ich habe dir alles nummeriert.«

    Kapitel 2

    Rotieren

    Am Ende eines kräfteraubenden Nachmittags voll von sich selbst lobpreisenden Anwärtern, strample ich auf meinem neuen Fahrrad nach Hause, kette es an die Feuertreppe und laufe die Treppe hinauf zu unserer Wohnung .

    In der Sicherheit meines Zuhauses traue ich mich schließlich, einen Blick in die Bewerbungsunterlagen zu werfen. Ich setze mich aufs Sofa und blättere in den Aktennotizen. Als ich auf Han Weis Schreiben stoße, halte ich automatisch den Atem an. Bei seiner Biografie hat er die für Vesper übliche Schreibweise seines Namens verwendet, Wei Han, wobei es sich bei Han um den Familiennamen handelt. Ich traue mich kaum, weiterzulesen. Was werden mir diese Zeilen eröffnen? Ich lecke mir über die Lippen. Die Vorstellung, dass meine Mutter mit diesem Mann eine Affäre gehabt haben könnte, scheint mir momentan vollkommen absurd.

    Ich versuche den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken und blättere in den Dokumenten. Han Wei, wie er nach talanidischer Schreibung heißt, ist zweiundfünfzig Jahre alt. Er wurde in Shousa geboren und wuchs in der Triade auf, in der bereits sein Vater eine Position als Patriarch innehatte.

    Besonders interessiert mich sein Familienstatus.

    Witwer.

    Verdutzt blicke ich auf. Er war verheiratet gewesen und hat seine Ehefrau verloren? Ich widme mich wieder den gedruckten Lettern, sauge jedes Wort gierig auf, von einer ungewohnten Aufregung erfasst.

    Als Beruf wird selbstständig aufgeführt.

    Ich nage an meinen Fingernägeln, überfliege die wenigen Zeilen Motivationsschreiben, die sich wie eine Biografie lesen, die seine Sekretärin verfasst haben muss. Plötzlich lärmt der Schlüssel an der Wohnungstür. Ertappt klappe ich die Mappe zu, als meine Mutter durch die Haustür schlüpft. »Hallo, Christie, wie war dein Tag?«, fragt sie.

    Wenn Mama wissen möchte, wie mein Tag war, meint sie damit alles, nur keine Hexade-Angelegenheiten. Daher zucke ich mit den Schultern. »Ganz okay«, sage ich. »Ist Lin bei dir?«

    »Sie ist unterwegs«, erwidert Mama.

    Aha. Unterwegs ist eine Art Losungswort dafür, dass sie sich mit ihrem Ex-(Ex?)-Freund Thomas McAvoy trifft.

    Meine Mutter schlüpft aus der Jacke und fährt sich durch das ebenholzfarbene Haar. Ihre mandelförmigen Augen sind eine Spur heller als die meinen, da sie von mütterlicher Seite aus aurorische Wurzeln besitzt. Das ist einer der vielen Gründe, warum Großmama Pheng ihre Schwiegertochter nie richtig akzeptieren konnte. Wir leben zwar auf einem anderen Kontinent, aber verdammt – für ihren Sohn wäre nur eine reine Talanidin infrage gekommen.

    Als Mamas Blick die Unterlagen auf meinem Schoß ertastet, verengen sich ihre Brauen. »Was ist das?«

    Ich umfasse die Bewerbung, als müsste ich sie beschützen. »Nichts.«

    Meine Antwort entlockt ihr ein Schnaufen. Sie findet es unmöglich, dass ich den Posten als Iudex angenommen habe. Als ich mein Gehalt der Familienkasse beisteuern wollte, blockte sie komplett ab. Dabei könnte das Geld unser aller Leben erleichtern.

    Eine Weile sieht mich Mama an. Sie scheint etwas zu meinem Zweitjob sagen zu wollen, doch wie üblich entscheidet sie sich dagegen. »Einige Vorräte in unserem Laden neigen sich dem Ende zu«, sagt sie stattdessen. »Ich werde wieder nach Shousa auf den Markt fahren müssen.«

    Shousa, die Stadt, in der ein dreiköpfiger Stadtrat das Sagen hat, besitzt ein Stadtviertel voll von talanidischen Einwanderern. Hier kaufen wir auch alles für unseren Laden, in dem wir talanidische Medizin und mehr oder weniger wirkungsvolles Zubehör vertreiben.

    Als Patriarch der Triade lebt auch der Bewerber Han Wei dort. Ich lecke mir über die Lippen. 

    »Soll ich statt dir auf den Markt fahren?«, folge ich einem plötzlichen Geistesblitz.

    Mama bleibt auf dem Weg Richtung Küche stehen. Langsam dreht sie sich um. Ihre Stirn schlägt Falten. »Seit wann interessiert dich das? Du behauptest immer, die Märkte wären schrecklich öde.«

    Mein letzter Besuch in Shousa ist eine Weile her. Ich mag Mister Rhee und seine Frau, doch der Einkauf zieht ein langwieriges wie auch langweiliges Ritual mit sich. Die wirklich spannenden Teile des talanidischen Viertels waren immer tabu für uns.

    Ich versuche mich an einem unauffälligen Lächeln. »Nun … ich …« Ein Räuspern entkommt meiner Kehle. »Durch die Hexade helfe ich momentan weniger im Laden. Ich wollte dir etwas Arbeit abnehmen.« Han Weis Akte fühlt sich an, als würde sie meine Hände verbrennen.

    »Du wirst rot, Christine«, mustert mich meine Mutter skeptisch.

    »… habe … vorhin was Scharfes gegessen«, stoße ich aus.

    Mama verlagert ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. »Du heckst doch etwas aus, nicht wahr?«

    Hastig blinzle ich. Kann meine Mutter Gedanken lesen?

    Schließlich zuckt sie mit den Achseln. »Ich plädiere an deine Weitsicht und nehme dein Angebot gerne an.« Sie verschwindet in der Küche und hantiert im Küchenschrank.

    Ich entspanne die Arme, die Unterlagen knistern unter meinen Fingern. Was erhoffe ich mir überhaupt in Shousa herauszufinden? Schließlich kann ich schlecht vor Hans Haus auftauchen und anklingeln – Hallo, Iudex Poschovaris hier, wollte mal vorbeischauen. Wie sieht es aus? Hatten Sie einmal eine Affäre mit meiner Mutter?

    Ich erhebe mich vom Sofa, schleiche in mein Zimmer und verstecke die Unterlagen unter meinem Bett. Eigentlich gibt es dazu keinen Grund. Jeder in meiner Familie weiß von dem Auswahlverfahren und dass ich daran beteiligt bin. Trotzdem habe ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, wenn ich dem Geheimnis meiner Schuppen nachgehe. Ein Geheimnis, das ich vor allen Menschen in meinem Leben verborgen halte.

    Vor jedem bis auf Zhang. Mein Cousin, der neben Cordula mein bester Freund ist und bisweilen die nervigste und sturste Pestbeule, die die Welt jemals gesehen hat, weiß als Einziger über meine Schuppen Bescheid. Seitdem er allerdings aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, lässt er sich nicht mehr außerhalb seines Elternhauses blicken.

    Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schreibe ihm eine SMS.


    Christie: Heute?


    Ein paar Minuten lang warte ich auf eine Reaktion. Wer Zhang eine SMS schreibt, hat momentan die beste Chance, eine Antwort zu erhalten – Anrufe ignoriert er nämlich gekonnt. Seine Stimmbänder haben starke Verletzungen erlitten, als Geralt ihm in Wolfsgestalt die Gurgel zerbissen hat. Die Verletzung hat nicht nur seine Stimme verändert, sondern auch dem Jungen, dem sie gehört. Mein Cousin, der sich seit jeher für den besten Fang der Gegend gehalten hat, vergräbt sich nun als zorniges Häufchen Elend unter seiner Bettdecke, anstatt mit seinen Schlachtnarben zu prahlen.

    Mama, Lin und ich haben bereits zu Abend gegessen, als mein Vater nach Hause kommt. Das derzeitige Bauprojekt, bei dem er eine Stelle als Bauarbeiter gefunden hat, befindet sich je nach Anschluss eineinhalb bis zweieinhalb Stunden von zu Hause entfernt.

    »Long?«, ruft meine Mutter aus dem Badezimmer. Die drehbare Wäscheleine quietscht. Ich lege mein Taschenbuch ab, das mich kurzfristig in eine andere, kitschige Welt entführten konnte, stehe auf und begrüße meinen Vater. Er berührt meine Schultern, küsst mich auf die Wange, seine Hände streifen meine Arme, als die Erschöpfung sie herabzieht. Der Schutzhelm, der von einem feinen Staubschleier überzogen ist, landet auf dem Haken der Umkleide, daneben sackt alsbald seine Warnweste herab wie ein neonfarbener, zerstochener Luftballon. Meine Mutter kommt aus der Küche und fragt, wie sein Tag war. Grunzend schlurft er ins Bad. Wenig später geht die Dusche an.

    Die Arbeit auf dem Bau verlangt Long einiges ab. Er beklagt sich nicht, das würde er seiner Ehefrau gegenüber nie wagen – schließlich hat er sie durch seinen Gefängnisaufenthalt jahrelang mit ihren Problemen allein gelassen.

    Als er geduscht hat, tappt er in Unterhemd und Jogginghose in die schmale Küche und lässt sich auf seinen Sessel fallen. Rauchend nimmt er ein verspätetes Abendessen ein und schlürft Nudelsuppe mit schwammigen Pilzen. Auf Mamas Fragen reagiert er einsilbig, weswegen sie bald aufhört, welche zu stellen. Dieser Abend verläuft wie die meisten in Stille. Papas neue Arbeit verlangt ihren Tribut.

    Des Nachts höre ich ein Geräusch auf der Feuerleiter vor meinem Fenster. Schlaftrunken hieve ich mich in die Höhe und blinzle hinaus. Mein Vater sitzt im Unterhemd auf den Gitterstufen und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Unter ihm ziert nach wie vor ein Graffiti die Straße, eine Entschuldigung, die Thomas dort für Lin angebracht hat. Gedankenverloren sieht mein Vater darauf hinab.

    Ich stemme das Fenster auf. Die kalte Luft zieht herein, weswegen ich die Bettdecke ergreife und mich mit ihr nach draußen zwänge. Das Feuergerüst kracht unter meinen Schritten. Neben meinem Vater lasse ich mich nieder und platziere den Überwurf so, dass er uns beide bedeckt. Eine Weile sehe ich ihm beim Rauchen zu. Der Geruch von Phönix Gold erfüllt die Luft, genau wie der Duft von Schnee, der darauf wartet, aus den Wolken zu segeln.

    Schuldgefühle überkommen mich, während ich ihn im Licht der Laternen betrachte. Long war immer mein Vater. Er war es, bevor er ins Gefängnis ging, währenddessen, und ist es auch jetzt. Nach meinem leiblichen Vater zu suchen, erscheint mir plötzlich wie ein Verrat an ihm.

    Die Decke verrutscht und entblößt die Schuppen an seiner Schulter. Schuppen, ähnlich wie die meinen. Mein Pyjama-Oberteil ist allerdings so geschnitten, dass es das dunkle Blau verdeckt. Über die Jahre habe ich meine Kleidung angepasst, sie dient mir als Verkleidung.Wären meine Schuppen nicht blau, sondern rot wie Longs, wäre alles gut. Wäre doch die ganze Welt farbenblind! Ich könnte als unerweckter Drache zwischen den Roten Drachen meiner Familie leben, als Tochter dieses Mannes, den ich trotz seiner Verfehlungen so sehr liebe und verehre.

    Als ahne er meine Gedanken, sieht er mich an, die Hand mit dem Zigarettenstummel an das bärtige Kinn gelehnt. Dann lächelt er, bemüht sich, aufmunternd zu wirken, doch die Müdigkeit drückt den Versuch. Stattdessen schlingt er den freien Arm um mich und zieht mich an sich. Sein Geruch hüllt mich wohliger ein als jede Decke. Schweigend lauschen wir dem Gemurmel der entfernten Straßen.

    Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob mein Ausflug nach Shousa eine so gute Idee ist, wie ich es mir nachmittags noch in meinem Kopf zusammengereimt habe. Vielleicht sollte ich einfach zufrieden sein mit dem, was ich habe. Ich brauche doch gar keinen leiblichen Vater. Dennoch drängt sich vor allem des Nachts immer wieder dieselbe Frage in meinen Kopf …

    Ist Han Wei mein leiblicher Vater? Und falls ja, wie ist es dazu gekommen?

    Kapitel 3

    Das Talanidische Viertel

    Meine Mutter bringt mich frühmorgens zum Busbahnhof, schärft mir einige Tipps zur Verhandlung mit Mister Rhee ein und küsst mich zum Abschied auf die Wange. Die erste Fahrtstunde schlummere ich vor mich hin, bis die Dämmerung dem Morgenlicht weicht und mich gänzlich weckt .

    Mit einem Ruck wechselt der Bus die Spur. Sein tiefes Brummen wandert meine Beine empor. Ich umklammere den leeren Rucksack, während der Verkehr sich auf zahlreichen Fahrstreifen an uns vorbeischiebt.

    Langsam tauchen wir in die Außenbezirke Shousas ein. Kaum übertritt man die Stadtgrenze, befindet man sich zwischen aufragenden Wohngebäuden und Industrieanlagen. Wir nähern uns zunächst den Hochhäusern im Zentrum, dann biegen wir zum Busbahnhof ab. Dort steige ich aus und fahre vier Stationen mit der U-Bahn, bis mich eine Rolltreppe an der Straße ausspuckt, die das talanidische Viertel begrenzt.

    In Shousa lebt der größte Anteil talanidischer Einwanderer. Die meisten Zuwanderer dieses spät entdeckten Kontinents stammen aus Aurora, wenige aus Gilebret oder Nodhal. Dass Shousa so viele Talaniden anzieht, hängt vor allem mit der Triade aus Drachenwandlern zusammen, die hier seit Jahrzehnten die herrschende Funktion einnimmt.

    In der Zeit, als der schmale Streifen zwischen Vorst-Sandhe und Mangana als Grenzlande oder Grenzzone bezeichnet wurde, um die sich die verfeindeten Staaten stritten, verwalteten sich die darin gelegenen Städte selbst. Bis heute existieren in diesem Streifen alte Strukturen von Herrscherfamilien und Familienräten, obwohl die Städte und Gemeinden nach dem vesperischen Friedenspakt offiziell den Staaten zugeteilt wurden.

    Als ich die U-Bahn-Station verlasse, ziehen sogleich die schamanistischen Schutzzeichen an den Häuserfronten meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Gebäude des Viertels scheinen sich zueinander zu lehnen, als würden sie der restlichen Stadt den Rücken zuwenden. Umringt von verkehrsreichen Straßen wirkt der Bezirk in sich abgeschlossen. Inmitten der Traube aus talanidisch aussehenden Menschen falle ich kaum auf, besitze ich doch dieselben dunklen Haare und die mandelförmigen braunen Augen.

    Das Viertel erstreckt sich nicht nur in die Horizontale, sondern auch in die Vertikale – zwischen den Spalten und Zugängen der hohen Gebäude sind bunte Lichter gespannt. An der Seite der Einwohner schlüpfe ich durch einen Gebäudespalt. Ein weißer Lampion mit schwarzem Schriftzeichen markiert, dass es sich um eine Gasse handelt, die direkt zum Markt führt.

    Mir bleibt gar keine andere Wahl, als der Menge zu folgen. Der Klang der hier gesprochenen Sprache ist mir fremd und gleichzeitig vertraut. Ich frage mich, wie es wäre, hier aufgewachsen zu sein. Vermutlich könnte ich dann die verschiedenen Bevölkerungsgruppen an ihrem Akzent oder sogar an den für mich kaum erkennbaren Unterschieden ihrer Gesichtszüge ausmachen. Der honigsüße Duft kündigt den Blumenmarkt an. Zwischen den Gebäuden, die sich wie Pinguine aneinanderdrängen, beginnt das Marktgelände. Die Blumen bestechen nicht nur durch ihren intensiven Geruch, sondern auch durch ihre prächtigen Farben. Blütenketten aus gelben Chrysanthemen baumeln von den Dächern. In unzähligen Eimern bauschen sich üppige Pelargonien, Orchideen, Rosen und Magnolien – in leuchtenden Nuancen von Orange, Weiß, Rot und Zyklame. Die Händlerinnen scheinen im Blütenmeer zu versinken, zupfen welke Blätter aus den Kübeln und preisen lautstark ihre Ware an.

    Während ich weitergeschoben werde, sauge ich die Sinneseindrücke ein. Langsam verändert sich der Geruch. Ich erhasche Blicke auf Lotusblüten, die in Holzschalen schaukeln, und Bottiche, in denen Fische mit schleierhaften Flossen zwischen Seerosen hindurchtauchen. In Glastanks schwanken schwerfällig Algen und Seetang. Kresse sowie Wasserminze werden aus Fässern abgeschöpft und als vitaminreiche Nahrungsmittel verkauft. Unter den schlammigen Duft von Meerespflanzen mischt sich der von Fisch und Muscheln, als ich mich dem Fischmarkt nähere.

    Die Gräten, Halbinseln und Inselgruppen, die sich im Norden wie Klauen ins Meer krallen, werden vor allem von den

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