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Geschichten aus der Erstaufnahme
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Geschichten aus der Erstaufnahme

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Im Juli 2015 kommt Ekaterine Doreulli für mehrere Monate in die Gießener Erstaufnahmeeinrichtung. Ihre Zimmergenossinnen im Camp fragt sie, was Deutschland für sie bedeutet, und was sie dort hört und erlebt, hält sie in ihren berührenden Geschichten fest. So entstand eine lebendig-bunte Bilderfolge, deren Leitmotiv die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist.

Ekaterine Doreulli erzählt von Flüchtlingen, die meisten davon Frauen, die mit ihr in einem Zimmer wohnen. Sie entfaltet vor ihren Lesern den Lager-Alltag, die Fluchtgeschichten und Asylgründe, die Erwartungen, Ängste und Träume. Sie begegnet Frauen aus Tschetschenien und Syrien, der Ukraine und aus Armenien, Somalia, Eritrea, Albanien, Serbien und dem Iran. Viele von ihnen haben eine Tragödie erlebt, manche kommen aus undurchsichtigen Gründen.

Alle diese unterschiedlichen Frauen, die Ekaterine Doreulli im Camp kennenlernt, haben eines gemeinsam: die Hoffnung auf eine gute und sichere Zukunft. Diese Hoffnung hat ihnen den Mut gegeben, die lange und gefährliche Reise nach Deutschland zu wagen. Deutschland ist für sie das Land des Fortschritts und der Träume, der Chancen und des Neuanfangs. Wladimir sagte: "Deutschland ist gut. Sie haben es noch nicht gesehen. Bald verlassen Sie das Camp und schmecken, wie das richtige Deutschland wirklich ist. Dann wollen Sie nicht mehr zurückgehen!" Heute weiß die Autorin, dass er recht hat: Deutschland ist ein wundervolles Land mit vielen Möglichkeiten! Ihr persönlich schenkte Deutschland etwas sehr Wichtiges: Deutsche Ärzte retteten ihrem kleinen Neffen das Leben.
LanguageDeutsch
Release dateMay 18, 2018
ISBN9783920793214
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    Geschichten aus der Erstaufnahme - Ekaterine Doreulli

    Ekaterine Doreulli

    Geschichten aus der Erstaufnahme

    Ruhland Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

    geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

    Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

    Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Ereignisse in diesem Buch habe ich so beschrieben, wie ich sie erlebt und in Erinnerung behalten und verstanden habe. Fast alle Namen habe ich geändert und die Änderungen durch ein Sternchen bei der ersten Nennung gekennzeichnet.

    Ekaterine Doreulli

    1. Auflage 2018

    ISBN 978-3-920793-20-7

    ISBN 978-3-920793-21-4 (epub)

    ISBN 978-3-920793-22-1 (mobi)

    Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2018

    Ekaterine Doreulli, Geschichten aus der Erstaufnahme

    Übersetzung: Silke Leich

    Lektorat: G. Lentzen, weisenwerck

    Umschlagbild: © csakisti / istockphoto LP

    Alle Rechte vorbehalten.

    www.ruhland-verlag.de

    Anstelle eines Vorwortes

    Ich pflegte meine Zimmergenossinnen im Camp zu fragen, was Deutschland für sie bedeute, und die Antwort war fast immer die gleiche: Hoffnung.

    Für diese Flüchtlingsfrauen ist Deutschland das Land des Fortschritts, der Träume, der Chancen, des Neuanfangs. Sie kommen nach Deutschland, um hier eine Art von »deutschem Traum« zu verwirklichen, vergleichbar mit dem »American Dream«.

    Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt diesen Immigrantinnen den Mut, sich auf eine lange und gefährliche Reise zu begeben. Einige brauchten Monate, um nach Deutschland zu gelangen, sie überquerten das Mittelmeer und kamen durch zahlreiche europäische Länder, sie machten sich bei Wind und Wetter, Regen und Hitze, Schnee, Nebel und Kälte auf den Weg; sie kamen mit Schiffen, mit Booten, im Flugzeug, in Zügen, auf Lastwagen, in Autos, zu Fuß.

    Fast alle nahmen Risiken auf sich, um an ihr Ziel zu gelangen. Einige ertranken, andere verdursteten, wurden getötet, und wieder andere hielten die Gefahren und Entbehrungen nicht aus und gaben auf.

    Die Frauen, die ich im Camp getroffen oder gesehen habe, hatten oft (nicht immer) ihre eigene Tragödie erlebt. Sie alle hatten ihr individuelles Los: Die meisten hatten ihre Heimat verlassen, um Verfolgung, Unterdrückung oder Krieg zu entkommen; viele hatten Korruption, Diktatur, Bürgerkriege, Hunger und Vergewaltigungen erlebt; einige kamen aber auch aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen, andere aus persönlichen; manche hatten freilich nicht nachvollziehbare Motive.

    Selten kamen auch Frauen aus medizinischen Gründen nach Deutschland, um gesund zu werden oder schwer kranke Angehörige behandeln zu lassen.

    Uns persönlich schenkte Deutschland – genauer gesagt, deutsche Ärzte – etwas sehr Wichtiges: Sie retteten das Leben eines kleinen Kindes.

    Die Frauen, die ich im Camp kennenlernte, sind vereinigt unter einem Wort: Hoffnung. Hoffnung auf eine gute und sichere Zukunft.

    Erster Tag, letzter Tag –

    oder die Geisel

    ihrer Traditionen

    »Er ist mein Ein und Alles. Ich nehme ihn mit, wohin ich auch gehe – ich kann nicht atmen ohne ihn. Er ist mein Atem, meine Seele. Sie werden es verstehen, wenn Sie erst Ihr eigenes Kind haben.«

    Samira* sprach oft darüber, wie sehr sie ihren Sohn liebte. Das ist eigentlich nicht außergewöhnlich, fast jede Mutter liebt ihr Kind. Aber für eine alleinstehende Mutter fern ihrer Heimat hat ihr Kind eine ganz andere Bedeutung und Wichtigkeit, da es ihr eigen Fleisch und Blut ist.

    Samira hat niemanden sonst in Deutschland, keine Familienmitglieder, keine Verwandten, keine Freunde. Seit gut zwei Jahren zieht diese Tschetschenin von Land zu Land, auf der Suche nach dem Glück. Einige Monate war sie in Georgien, ein weiteres Jahr in Frankreich und zuletzt zwei Monate in Deutschland. Sie wusste eine Menge über das Flüchtlingsleben und über Asylanträge, sie hatte nämlich schon in Frankreich Asyl beantragt. Ihr Antrag war dort jedoch abgelehnt worden.

    Deswegen versuchte sie es nun noch einmal, in Deutschland; sie verglich den deutschen Lebensstil immer mit dem französischen und zog den letzteren vor. Mir gab sie zahlreiche nützliche Tipps, die mir in der ersten Zeit sehr halfen zurechtzukommen – im Camp, aber auch sonst in Deutschland. Mit einem Wort: Sie fügte meiner eigenen Camperfahrung Daten hinzu, die sie für wissenswert hielt.

    Einiges erschien mir jedoch auch befremdlich.

    »Meine Schwester hat einen Asylantrag in Frankreich gestellt. Sie lebt in einer Einzimmerwohnung im Süden von Frankreich, zusammen mit ihrem Ehemann und ihren zwei erwachsenen Kindern. Ich konnte nicht bei ihnen in der Wohnung bleiben, weil es in unserer Tradition ein Problem darstellt, mit fremden Männern in einem Raum zu leben. Ich hätte die ganze Zeit über zu Hause ein Kopftuch tragen müssen …

    Wo sollte ich also hingehen, nachdem Frankreich »Nein« gesagt hatte? Deutschland ist viel besser als andere Länder, und ich kam hierher, weil mir die Regierung als alleinstehende Mutter finanziell hilft. Bald werden wir 320 Euro Unterstützung bekommen. Ich gehe nicht arbeiten, nicht einmal einen Tag pro Woche. Zweimal 320 Euro, freie Unterkunft – und überhaupt keine Steuern! Die Summe wird mir für einen Monat reichen.

    Ich habe so viele Pläne, wenn ich das Camp verlasse. Aber zunächst einmal habe ich eine medizinische Untersuchung am 13. August vor mir. Unser Transfer wird etwa zwei Wochen nach meiner medizinischen Untersuchung sein!«, sagte Samira.

    Alle diese Begriffe wie »Transfer«¹, »medizinische Erstuntersuchung²«, »Negativ«³ hörten sich in diesem speziellen Zusammenhang sehr seltsam für mich an, weil ich nicht einmal die geringste Vorstellung davon hatte, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein …

    An einem stillen Sonntagnachmittag Ende Juli erfuhr ich dann aber, was es bedeutet.

    Ich rufe mir die Szene meiner zweiten Ankunft ins Gedächtnis und finde mich selbst am Eingang des Erstaufnahmelagers wieder, wo ich meinen sogenannten »Ausweis« erneut einem Sicherheitsmitarbeiter oder »Security«, wie ihn die Flüchtlinge nennen, vorzeigen musste:

    »Junge Frau, Sie haben am Freitag Ihre Anhörung verpasst, und Sie wurden aus dem Programm geworfen. Raum 201 ist besetzt, und wir werden einen neuen Raum für Sie finden. Morgen versuchen Sie im Büro zu erklären, aus welchem Grund Sie abwesend waren.«

    Ich stand da, erstarrt vor Furcht, und konnte erst einmal nichts erwidern. Nach einer Weile erklärte ich: »Wissen Sie, ich habe meinen Asylantrag am Donnerstag gestellt, aber wegen der Krankheit meines kleinen Neffen wurden wir in das Universitätsklinikum in Frankfurt gebracht, wo ich drei Tage blieb.«

    Ehrlich gesagt: Ich hatte nicht gewusst, dass es so ernst war; und ich war mir außerdem absolut sicher gewesen, dass ich alles richtig gemacht und nicht gegen die Hausordnung des Camps verstoßen hatte. Aber tatsächlich war dies nun doch passiert.

    Mein früherer Raum 201 hatte neue Bewohner: Unsere persönlichen Gegenstände (ein roter Koffer und ein Kinderwagen) waren glücklicherweise von niemandem angerührt, sondern in einer Ecke des Raums abgestellt worden. Nur die weiße Tüte mit allem Notwendigen, die ein Flüchtling am Tag seiner Ankunft bekommt, war »verschwunden«.

    Mir wurde ein neues Zimmer im selben Haus zugewiesen. Zu dieser Zeit war es das Haus Nummer 3 und der Raum 211, in denen ich die zugleich glücklichsten und traurigsten Tage meines halben Campaufenthalts erlebte.

    Ich wusste, dass nun ein neues Leben vor mir lag, es war ein wirkliches Flüchtlingsleben – ganz anders als das, was ich am Donnerstag, dem 23. Juli, erlebt hatte, am Tag unserer ersten Ankunft, an dem wir unser ganzes früheres Dasein hinter uns gelassen hatten.

    *

    Das neue Zimmer befand sich auf demselben Stockwerk, aber auf der anderen Seite des Ganges. Ich stand lange auf der Fußmatte und schaute einfach nur hinein … Dieses Zimmer erschien mir sehr viel größer als die Nummer 201, denn es war für acht Personen eingerichtet; aber ansonsten nichts Neues … Ganz ähnliches einfaches, altes Mobiliar, lediglich mit dem Unterschied, dass sich vier Doppelstockbetten darin befanden, acht statt zwei Stühle, zwei wackelnde Tische aus Holz und vier Wäscheschränke – mit einem Wort: In dem Camp hatte man alles, was in den ersten Tagen in Deutschland nötig ist. In der Ecke war ein Kühlschrank, um Lebensmittel aufzubewahren, doch er war viel zu klein für acht Personen.

    Übrigens, in dem Camp gab es Lebensmittel im Überfluss. Wir Campbewohner wussten gar nicht, wohin mit all der Wurst, dem Käse, dem Weißbrot, der Fruchtkonfitüre …

    Ich war geschockt – und zwar sehr oft – als ich sah, dass es etliche Flüchtlinge vorzogen, ihre Lebensmittel in Läden zu kaufen, statt sie kostenlos aus der Kantine zu beziehen, und das nur, weil sie glaubten, dass die in den Läden erhältlichen Lebensmittel besser schmeckten …

    In der anderen Zimmerecke war ein Waschbecken, in dem die muslimischen Frauen, die mit mir das Zimmer teilten, ihre Füße wuschen, bevor sie beteten. Der Boden und alle Sachen im Zimmer waren sauber und poliert – die »Hausfrau« Samira, der die meisten privaten Gegenstände gehörten, war ordentlich und sehr aufs Putzen erpicht; oft sah ich sie mit einem Wischmopp und einem Staubtuch von einer Ecke zur anderen sausen; und uns andere Flüchtlinge kommandierte sie, den Boden sauber zu halten. Sie hielt sich wirklich für den Boss im Zimmer und erwartete von uns allen, dass wir ihr gehorchten.

    So trat ich an jenem stillen Sonntagnachmittag im Juli vorsichtig in das Zimmer und fragte mich, wen ich dort wohl treffen würde. Vier Frauen starrten mich eisig an. Eine von ihnen war Samira, die andere war eine Frau aus Somalia, Fatima*. Die Namen der beiden weiteren Somalierinnen blieben mir unbekannt. Alle warteten auf ihren Transfer.

    Sie starrten mich nicht deshalb so seltsam an, weil sie böse auf mich gewesen wären oder mir etwas Schlechtes gewünscht hätten. Nein – wie ich später erfahren habe, war ich ein unerwünschter Gast: Je weniger Leute im Zimmer, desto besser – manche Frauen machten bisweilen eine Menge Lärm.

    Es ist ein Unterschied, ob hier jemand nur übernachtet und am nächsten Tag seinen Transfer in ein anderes Camp hat oder ob er länger hier bleibt, einen Monat, oder zwei. Wir waren zwar alle Asylbewerberinnen in der Erstaufnahme, aber die anderen Frauen dachten, ich würde nur eine Nacht bleiben.

    Tatsächlich kam es jedoch anders. Ich war ein Flüchtling wie sie, aber das war in diesem Moment weder ihnen noch mir bewusst.

    Es dauerte nicht lange, da sprach mich Fatima in gebrochenem Englisch freundlich an. Samira stand zunächst dabei und hörte zu, doch ohne etwas zu verstehen – bis ich ihr unser Gespräch ins Russische übersetzte. Dann setzte sich Samira hin.

    Plötzlich aber schien ihr etwas einzufallen, und sie sprang von ihrem Stuhl wieder auf, näherte sich mir und fragte mich nach meinem Ausweis.

    Eine Welle der Überraschung überrollte mich. Warum besteht sie so darauf?, fragte ich mich.

    Später erfuhr ich: sie machte das mit allen so.

    Naja: Vielleicht wollte sie nur wissen, wie lange ich hier »stören« würde. Alle Informationen über mein Alter, über meine Herkunft und über meinen Familienstand waren in dem Ausweis zu finden. Sie sagte »okay« wie ein Polizeibeamter und gab mir meinen Ausweis zurück. Und dann war es nicht Fatima, die mich zu einem leeren Bett führte, sondern Samira – eben weil sie der Boss von uns allen war und wir uns das gefallen ließen.

    Dieses Bett gehörte mir dann für eineinhalb Monate. Es war das obere eines Doppelstockbettes, und ich war ganz froh darüber – ich hasse es, unten zu schlafen.

    Die beiden namenlosen Somalierinnen starrten mich an, als ob sie noch nie in ihrem Leben eine fremde Frau gesehen hätten. Widerwillig stellte ich meinen kleinen roten Reisekoffer, in dem alles war, was ich besaß, neben das Bett, stieg die Metallleiter hinauf, legte mich darauf und versuchte, die Augen zu schließen.

    Ich war verzweifelt.

    »Wenn es die Hölle gibt, dann muss sie so sein wie hier!« Ich dachte dabei an einige schlechte Erfahrungen, die ich in dem Erstaufnahmelager gemacht hatte, mit Schmutz, eisigen Gesichtern und einer kompletten Ungewissheit, was uns erwartete; aber eigentlich sah dieses ganze Camp überhaupt nicht so schlimm aus.

    Ich versuchte, meinen bedrückenden Gedanken zu entfliehen und zu schlafen, aber ich konnte nicht, denn die Polyestermatratze war kalt, und meine ganzen Sachen, die ich am ersten Tag erhalten hatte, waren im Raum

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