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Galaktische Spuren
Galaktische Spuren
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Galaktische Spuren

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About this ebook

Und es gibt sie doch … die Außerirdischen, die fer-nen Sterne, auf denen Lebewesen existieren.

Sie werden in den folgenden Kurzgeschichten in
fremde Welten entführt, in denen Krieg, Liebe und Freundschaft existieren. Oder die Außerirdischen
erscheinen auf der Erde und lassen uns wissen,
dass es sie gibt.
LanguageDeutsch
Publishernet-Verlag
Release dateApr 1, 2018
ISBN9783957202451
Galaktische Spuren

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    Galaktische Spuren - Vaire J. Variz

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    Vaire J. Variz

    Butha’ak

    Butha’ak und ich sind die Einzigen, die übriggeblieben sind. Woher wir das wissen? Keine der anderen acht Raumstationen hat auf unsere verzweifelten Hilferufe geantwortet. Niemand innerhalb unseres eigenen Raumschiffes hat auf meine Schreie reagiert. Mehr noch: Ich spüre es tief in mir. Dort, wo einst Hoffnung auf Hilfe keimte, prangt nun ein schwarzes Loch. Wir wurden ausgesandt, eine neue Welt zu finden, in der wir Erde Drei erschaffen würden.

    Einhundertfünfzehn Jahre ist es her, dass wir Erde Zwei verließen. Seitdem haben wir kein Planetensystem entdeckt, das all jene Anforderungen mit sich bringt, um einen besiedelbaren Planeten zu beherbergen. Ansonsten hätte Butha’ak uns aus unserem Schlaf geholt. Meine Hoffnung ist geschwunden. Die Stimmen, die uns den richtigen Weg wiesen, sind verstummt. Wohin führt uns unsere Reise?

    Um uns herum herrscht Dunkelheit. Mein Blick ist verschwommen. Ich taste um mich. Schwerelos treibe ich im Kontrollraum. Die Systeme sind ausgefallen. Ich atme nur noch, weil ich eine Maske trage. Die Gefäße, in denen wir alle geschlafen haben, sind zerstört, die Leichname meiner Gefährten, Freunde, treiben an mir vorüber, manche blutverschmiert, andere so friedlich aussehend, als würden sie schlafen.

    Wieso bin ich wach? Und wieso lebe ich, während sie alle tot sind? Wohin trudelt unser Schiff nun? Es ist außer Kontrolle. Mitten im Nichts.

    Panik macht sich breit in mir. Ich werde sterben. Und ich werde es bei vollem Bewusstsein erleben. Wieso starb ich nicht wie die anderen im Schlaf?

    Tränen steigen von meinem Gesicht auf und bleiben an der Innenseite der Gläser meines Schutzhelms kleben.

    Wo ist Captain Log? Ich konnte ihn bisher nicht unter den Toten identifizieren. War er etwa nicht mehr in der Schlafkabine, als es geschah?

    Ich versuche, meinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Als ich an einer Wand zum Stehen komme, kann ich meinen sich drehenden Körper anhalten und den Kontrollraum inspizieren. Überall leuchten Warnsignale, und Trümmer, groß und klein, trudeln zwischen den Leichen umher. Dann fällt mein Blick auf das Zentrum des Raumes. Das Steuer. Captain Log steht leblos in der glänzenden Rüstung, immer noch durch die unzähligen Kabel mit Goldilock 7, unserem Raumschiff, verbunden.

    Wieso ist er dort drin? Wir sollten doch noch … Ich blicke auf meinen Arm, an dem meine Schlafuhr befestigt ist. Einhundertfünfzehn Jahre, drei Monate und fünf Tage. Wir hätten noch mehrere Jahre Schlaf vor uns gehabt, ehe wir erwachen sollten. Was hat Captain Log getan? Seine Arme sind, gehüllt in die kaum beschädigte Rüstung, nach vorne gestreckt, als würde er nach etwas greifen. Ich muss zu ihm, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

    Butha’ak, der Bordcomputer, ist verstummt. Ist sie mit Captain Log gestorben? Nein, unmöglich. Ich kann nicht die Einzige sein, die übriggeblieben ist.

    Ich betaste meinen Helm, klopfe dagegen. Etwas beginnt zu surren. Wackelkontakt? Die Systeme fahren sich nur ruckelnd hoch. Ein blaues Signal lässt mich wissen, dass ich mit den Kommunikatoren verbunden bin.

    »Butha’ak?«, frage ich mit leiser, verschlafener Stimme, die seit unglaublich langer Zeit zum ersten Mal wieder ertönt. Ist das wirklich meine Stimme, die dort spricht? Sie klingt so fremd und hoch, dass es mir Angst einjagt.

    Eve Puls. Du bist wach.

    Erleichterung durchströmt mich, als ich die sanfte Stimme Butha’aks in meinem Helm hören kann. Für einen kurzen Moment glaube ich, sie hätte mein Erwachen bereits erwartet. Unmöglich. Ich schüttele leicht den Kopf.

    »Was ist geschehen?«, frage ich und bewege mich langsam auf Captain Log zu.

    Wir wurden getroffen. Meteoriten. Nichts zu machen. Log hat alles versucht, was ihm möglich war. Ich musste ihn wecken, damit er wenigstens versuchen konnte, Goldilock 7 und die Crew zu retten.

    »Hat noch jemand überlebt?«

    Nein.

    Ich habe keine andere Antwort erwartet. Dennoch spüre ich, wie mein Herz für einen kurzen Moment zu schlagen aufhört. Sie sind alle tot. Einschließlich Captain Log. Er hat mich für diese Mission ausgesucht, hat mir sein Vertrauen ausgesprochen und mir zum ersten Mal in meinem so jungen Leben das Gefühl gegeben, dass das, was ich tue, sinnvoll ist. Dass ich einen Unterschied machen kann. Und jetzt? War alles umsonst?

    Ich stoße mich von der Wand mit aller Kraft ab, um direkt auf Captain Log und seine Steuerrüstung zuzuschweben. Ich halte mich an einem seiner ausgestreckten Arme fest. Das System scheint ihn mit Hilfe der Rüstung in dieser Position festgefroren zu haben. Blut läuft am unteren Ende seines Helms heraus. Ich schnappe nach Luft. Sein Gesicht ist hinter dunklem Glas verborgen.

    Das System war überlastet. Ich habe versucht, sein Gehirn von den überquellenden Datenmengen zu beschützen. Doch ich wurde in unendliche Einzelteile zersprengt und konnte mich erst nach mehreren Sekunden wieder zusammensetzen. Da war Log bereits tot. Ich bedaure.

    Weiß Butha’ak überhaupt, was das Wort »bedauern« bedeutet? Nicht im lexikalischen Sinn, sondern was es bedeutet, Bedauern zu fühlen? Im Herzen? Sie ist ein Programm. Künstliche Intelligenz, sicher, doch zweifele ich bis heute daran, dass diese Programme wirklich fühlen können, was wir Menschen fühlen.

    »Log?« Meine Stimme verklingt im Inneren meines Helms.

    Butha’ak kann sie hören. Log nicht.

    Gedankenverloren löse ich eine Hand von ihm und taste nach der Kette, die um meinen Hals hängt. Sie ist noch da. Mein Herz macht einen kaum spürbaren Hüpfer.

    Er ist tot.

    »Ich weiß.« Wut flammt in meiner Brust auf, so stark, dass sie meine Trauer erstickt. Butha’ak versteht Trauer nicht. Ihre Worte sind Beweis genug.

    Meine Gedanken wandern fernab. Ich sehe Captain Log in meiner Tür stehen, wie er mir die Hand reicht und gratuliert. Ich bin eine der zweiunddreißig Auserwählten für die Mission Erde Drei. Die Jüngste von allen und die, die er am strengsten beobachten werde, sagt er mit einem Lächeln, während er mir einen Datensatz reicht, der alle Informationen zu Vorbereitung, Training, Abflug und Ablauf der Mission beinhaltet. Sogar die restlichen Crewmitglieder werden bis aufs Detail vorgestellt. Nur zu Captain Log finden sich keine Informationen. Er ist der Captain. Ich habe dies nie infrage gestellt.

    Wir sind vom Kurs abgekommen, sagt Butha’ak und holt mich zurück in die Gegenwart. Ich habe das System neu gestartet. Wir können unseren Kurs versuchen fortzusetzen, sobald alle Kontrollen erfolgreich durchgeführt worden sind.

    »Fortsetzen?« Ich löse mich von Captain Log und mache mich auf den Weg zum Kontrollpult. Überall blinkt es wild durcheinander. Nicht einmal ansatzweise kann ich auf den ersten Blick erkennen, welche Systeme noch funktionstüchtig und welche auf Gedeih und Verderb verloren sind. Wir werden unser Ziel niemals erreichen. Nicht mit einem Schiff in diesem Zustand. Obwohl ich die Antwort bereits kenne, frage ich: »Was ist mit den anderen?«

    Es gab kein Signal. Seit mehreren Jahren schon nicht mehr. Die letzte Nachricht erhielt ich vor drei Jahren, fünf Monaten und sechs Tagen von Goldilock 9. Seither herrscht Funkstille.

    Ernüchterung macht sich in mir breit. Mein Magen spielt verrückt. Mir wird übel. Ich verschaffe mir Zugriff auf das Logbuch. Vielleicht finde ich dort Antworten: die üblichen Kontaktversuche Richtung Flotte sowie Erde Zwei. Immer im selben Rhythmus. Keine Antworten. Nichts Auffälliges.

    Ich logge mich aus. Was ist mit unserem Kurs? Sind irgendwelche Daten davon noch zu retten? Meine in schwarze Handschuhe gehüllten Finger huschen über das Bord, jeder Handgriff Tausende Male einstudiert. Der Bildschirm holt die Kursdaten hervor. Alles normal. Bis auf …

    »Wann ist Log aufgewacht?«

    Ich habe Log aufgeweckt, um uns aus dem Meteoritenfeld zu lotsen.

    »Das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Wann ist Log aufgewacht?«

    Vor einer Woche.

    »Vor einer Woche? Der Meteoritensturm war heute. Das macht keinen Sinn. Und diese Zielkoordinaten … das sind nicht jene, die man uns für Erde Drei gegeben hat. Sie wurden vor einer Woche geändert. Was habt ihr getan, Butha’ak?«

    Butha’ak schweigt.

    Ich balle meine Hand zu einer Faust und unterdrücke den Drang, damit auf das Pult zu schlagen.

    Log ist vor einer Woche aus seiner Schlafkapsel gestiegen und hat den Kurs geändert. Ohne auch nur einem einzigen Mitglied seiner Crew Bescheid zu geben. Nicht einmal einen Eintrag im Logbuch hat er hinterlassen.

    Wo bin ich? Wohin haben die beiden mich gebracht?

    Übelkeit. Ich muss zurück zu Erde Zwei. In diesem Zustand haben wir keine Chance mehr, Erde Drei zu finden. Aber lieber versuche ich, zu Erde Zwei zurückzukehren, als alleine mit Butha’ak in den Tiefen des Alls umherzutreiben, bis mir der Sauerstoff ausgeht.

    Wieso, Log? Wieso hast du den Kurs geändert? Die Frage bohrt sich tief in mein Herz. Log hätte so etwas niemals getan. Er wusste, wie wichtig unsere Mission ist. Die Crew hat ihm vertraut. Ich habe ihm vertraut. Log?

    Er reicht mir seine Hand, überreicht mir mit der anderen mein offizielles Goldilock-Abzeichen. Die Prüfungen sind bestanden. Ich bin Teil des Goldilock-7-Teams. Ob ich stolz bin? Positiv. Selbst meine Eltern waren überrascht. Überrascht, aber stolz. Captain Log hat oft mit mir geredet, mir Mut zugesprochen und mir aufgeholfen, wenn ich am Boden lag.

    Einige Tage später. Der Abschied rückt näher. Tränen rollen über die Wangen meiner Mutter, als sie mich das letzte Mal fest an sich drückt und mir einen kühlen Gegenstand in die Hand legt.

    Mein Vater ist gefasst, aber seine Lippen zucken verräterisch. Ich umarme die beiden und unterdrücke jegliches Gefühl. Wir alle wissen, dass wir einander nie wiedersehen werden. Meine Reise zu Erde Drei wird erst enden, wenn die beiden bereits mehrere Jahrzehnte tot sind. Sie gehören nicht zu den Reichen. Sie können sich den lebensverlängernden Schlaf nicht leisten. Ich bin die Erste in unserer Familie, die ihre natürliche Lebensdauer weit überschreiten wird.

    »Mach’s gut, Evey. Pass auf dich auf!«, sagt mein Vater und streicht mir über das Haar, so wie er es jeden Abend tat, als ich noch ein kleines Mädchen war.

    »Du wirst eine Heldin sein. Wir sind so stolz auf dich«, versichert mir meine Mutter und schluchzt dabei unaufhörlich.

    Ich nicke kaum merklich. Die Worte bleiben mir im Hals stecken.

    »Es ist Zeit zu gehen«, ertönt Captain Logs Stimme hinter mir.

    Ich habe ihn darum gebeten, mich zu begleiten. In seiner Nähe fühle ich mich sicher, kann ich funktionieren. Ich hoffe, meine Eltern sehen, dass Captain Log auf mich aufpassen wird, dass es keinen Besseren gibt, in dessen Crew ich aufbrechen könnte.

    Log fasst mich an der Schulter. Das Zeichen ist eindeutig. Es gibt keinen Aufschub mehr. Als ich von dannen gehe, winke ich meinen Eltern ein letztes Mal zu.

    Hektisch ziehe ich die Kette um meinen Hals hervor. Das ist alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist. Das Abschiedsgeschenk meiner Mutter. Ich drücke den kleinen Knopf am Rand des silbernen Kästchens, und ein kleines Türchen öffnet sich. Das Bild meiner Eltern ist noch immer da. Ihre Gesichter jene, die mich an meinem letzten Tag auf Erde Zwei verabschiedeten.

    Wenn ich auf Erde Zwei zurückkehre, kann ich dann ihr Grab ausfindig machen? Ihnen einen Besuch abstatten und mich für mein Versagen entschuldigen? Ich könnte Log und die anderen bestatten. Sie sind Weltraumpiloten, aber ihr Zuhause war Erde Zwei.

    »Blicke nicht zurück, Eve«, sagt Log zu mir, als er mich von meinen Eltern fortführt. »Du bist zu Größerem bestimmt. Deine Heimat wird vergehen. Wir müssen eine neue Heimat für unsere Kinder und deren Kinder finden, hörst du?«

    Meine Stimme ist brüchig wie eine einsturzgefährdete Brücke. Deshalb schweige ich und nicke. Unsere Kinder? Hat Log Kinder, die er retten möchte? Nein, das glaube ich nicht. Er hat keine Familie. Er lebt für seine Mission. Meine Hände zittern.

    »Geht es dir gut, Eve?« Log ergreift meine Hände, als wir uns im Transporter, der uns zum Raumhafen bringt, hinsetzen.

    »Es hört sicherlich gleich wieder auf«, zwinge ich mich zu antworten. »Muss die Kälte sein.«

    Plötzlich rückt Log zu mir auf und legt seinen Arm um mich. Er drückt mich an sich. Ich spüre seinen warmen Körper an meinem. Ich strecke meine Arme nach ihm aus, schlinge sie um ihn und weine bitterlich, mein Gesicht an seine Brust gedrückt.

    »Der Schmerz wird vergehen«, flüstert er mir zu und hält mich. »Irgendwann.«

    Captain Logs Wohnung ist dunkel und eng. Er besitzt kaum persönliche Dinge. Wahrscheinlich, weil er den Großteil seines Lebens in den Raumstationen verbringt, um seine Crews auszubilden. Wie alt er wohl sein mag? Wie viele Male hat er bereits einen jahrelangen Schlaf hinter sich gebracht?

    Er bietet mir ein Getränk an, ich setze mich in seiner Küche an einen weißen Tisch, während er seinen Koffer packt. Ich spiele an der Kette um meinen Hals. Ich fühle mich nicht bereit, sie zu tragen. Sie wiegt zu schwer.

    »Was ist los mit dir, Eve?«

    Logs Stimme holt mich zurück. Ich blicke zu ihm auf. Sein Koffer steht gepackt neben der Tür.

    »Es ist die Kette meiner Eltern. Ich glaube nicht, dass ich bereit bin, diese Kette zu tragen. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn ich beginne zu vergessen …«

    Log setzt sich zu mir und greift nach der Kette. Er öffnet den Anhänger, blickt stumm darauf und schließt ihn sanft wieder. Dann fasst er einen Entschluss. Er nimmt mir die Kette ab und hängt sie sich selbst um. »Ich werde sie für dich tragen, bis du bereit dazu bist. Du musst es mir nur sagen, und du bekommst sie zurück.«

    Mein Blick sucht den seinen. Dankbarkeit. Erlösung. Diese Gefühle durchströmen mich. Wenn ich bereit bin … Nebel dringt in meinen Geist ein, und das Bild der Erinnerung verblasst.

    Sauerstoffabfall. Fahre Systeme erneut hoch. Bewahre Ruhe, Eve Puls.

    Mein Kopf fühlt sich wie ein Ballon an, der zum Bersten mit Wasser gefüllt ist. Ich schnappe nach Luft. Eine Ewigkeit vergeht, meine Lippen verfärben sich blau, ehe endlich wieder Sauerstoff in meinen Helm strömt und ich atmen kann. Meine Lunge dehnt sich aus. Luft. Das war knapp. Mein Herz rast. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Umriss von Erde Zwei. Ich muss dorthin zurück. Um jeden Preis. Ich will die Dunkelheit, die Ungewissheit hinter mir lassen und zurück an jenen Ort, von dem ich aufbrach.

    Sicherlich sind bereits neue Raumschiffe unterwegs, um Erde Drei zu finden. Ich kann diese Mission nicht alleine bestreiten. Die Einsamkeit erdrückt mich bereits jetzt. Wie sollte ich das weitere fünfzehn Jahre ohne Schlafkabine aushalten?

    Nein, mein Entschluss steht fest. Ich werde die Koordinaten ändern. Vielleicht hat Log den gleichen Plan verfolgt.

    Ich wende mich von den blinkenden Kontrollknöpfen ab und kehre zu Logs Steueranzug zurück. An seiner leblosen Pose hat sich nichts verändert. In meinem Kopf ist er genauso lebendig wie vor all den Jahren, als ich seine warmen Hände in den meinen spürte.

    Ich muss mich überwinden. Ich beginne, die Rüstung an seinem Körper zu lockern. Sein Körper will sich lösen und in die Höhe davonschweben. Ich löse die Schläuche, die ihn mit dem Anzug und mit dem Bordcomputer namens Butha’ak verbinden, und halte ihn fest.

    Was wird das?, fragt Butha’ak.

    Ich bin mir sicher, dass ich Aufregung in ihrer Stimme höre.

    »Er ist tot. Das hast du selbst gesagt.«

    Ich kappe die letzte Verbindung an Logs Helm.

    Ein Ruck geht durch Butha’ak. Wut oder Trauer? Vorsichtig begleite ich seinen Körper in die Höhe, wo ich ihn an der Decke mit Kabeln befestige. Ich will nicht, dass er wie der Rest als schwereloser Geist um mich herumspukt. Ich blicke ihn an. Ich kann es nicht über mich bringen, sein totes Gesicht zu enthüllen. Zuerst muss ich meine Aufgabe erfüllen. Ich werde mich später von ihm verabschieden.

    Ich stoße mich von der Decke ab und gleite auf den Steueranzug zu. Ich weiß, wie es funktioniert. Theoretisch. Ich habe Log unzählige Male beim Verbinden zugesehen. Jeder Handgriff sitzt. Ich schlüpfe in den Anzug, er ist leicht und beweglich, dennoch fühlt er sich wie ein Gefängnis an. Ich teste meine Arme und Beine. Alles gehorcht meinen Befehlen. Dann rücke ich meinen Helm zurecht. Der schwierigste Teil ist der, bei dem sich ein Mensch mit dem Bordcomputer verbindet.

    Wird Butha’ak mich akzeptieren? Und was wird sie alles aus meinen Gedanken lesen können? Ich werde ein offenes Buch für sie sein. Ich muss versuchen, meinen Plan, die Koordinaten zu ändern, so lange wie möglich für mich zu behalten. Ich muss Butha’ak in andere Gebiete meines Bewusstseins lenken und sie für eine Weile in die Irre führen. Ich entschließe mich dazu, an Log zu denken. Das sollte selbst Butha’ak ablenken.

    Ich schließe die fünf verbleibenden Kabel an meinem Helm an. Nichts geschieht.

    Hochladen des Bewusstseins von Eve Puls. Beginnt in drei, zwei, eins …

    »Ahhh!«

    Daten dringen in mein Gehirn ein. So viele Daten. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen Kopf, gefolgt von einem Hämmern, das mich durchrüttelt. Ich verkrampfe. Der Steueranzug übersetzt meine Befehle, und ich zucke unkontrolliert auf der Stelle.

    Minuten vergehen. Die Flutwelle an Daten ebbt ab, wird zu einem stetig fließenden Strom, der sich mit meinen Hirnimpulsen zusammenschließt und eine Einheit bildet. Vor allem eines kann ich aus den Daten herauslesen: Goldilock 7 ist schwer beschädigt.

    Meine Muskeln entspannen sich wieder, nachdem der Datenfluss synchronisiert ist. Ich würde erschöpft zu Boden sinken, würde der Steueranzug meine erschlafften Gliedmaßen nicht stützen und mich aufrechthalten. Warme Flüssigkeit tritt aus meiner Nase aus. Ich schmecke Blut. Ein vergleichsweise geringer Preis für die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Halt! Nicht daran denken. Ich darf meinen Plan nicht verraten.

    »Butha’ak?«

    Ja, Eve Puls?

    »Hat es funktioniert?«

    Die Übertragung ist erfolgreich beendet. Jedoch sind die Kabel beschädigt, und eine weitere Kollision wird der Steueranzug nicht überleben.

    Ich auch nicht, vermute ich. Ich kann Butha’aks Stimme hören, als säße sie direkt in meinem Kopf. All die Daten, die in mich geflossen sind, sind das ihre Gedanken? Ihre Gefühle?

    Ich beginne, meine Muskeln wieder anzuspannen. Ein Test, ob alle Steuerelemente funktionieren und – noch wichtiger – mir gehorchen.

    Positiv.

    »Zeig mir die letzten Aktionen von Captain Log! Ich will wissen, was er die vergangene Woche getrieben hat. Du schuldest mir noch immer die Antwort«, verlange ich zielstrebig. Eigentlich ist es mir egal. Butha’ak soll ihre Aufgabe erfüllen, während ich die meine erledige.

    Zu Befehl.

    Im Hintergrund beginnen Suchmaschinen zu laufen, die Logs letzte Systembefehle zusammenstellen. Währenddessen logge ich mich erneut ein. Ich kann Butha’aks Bewusstsein spüren. Ich kann sie nicht völlig täuschen, das ist mir klar. Es muss nur lange genug sein, um meine Koordinaten einzutippen. Jene Koordinaten, die ich besser als meine eigene Registrierungsnummer auswendig kann. Die Koordinaten von Erde Zwei.

    Ich lösche die befremdlichen Kursdaten, die Log vor einer Woche eingetippt hat. Wieso hat er das getan? Hat er uns vom Kurs abgebracht, weil er wusste, dass wir es sowieso nicht bis zu Erde Drei schaffen würden? Wollte er uns im All austrudeln lassen?

    Ein Stromschlag durchfährt mich. Butha’ak kann mich hören, meine verzweifelten Gedanken lassen sie aufhorchen. Sie akzeptiert den Fehlschlag unserer Suche nicht. Für sie gibt es noch Hoffnung, weil sie es berechnet hat: 0,01 %. Butha’ak sagt, so groß sind die Chancen, einen bewohnbaren Planeten zu finden.

    Ich sage, so gering sind sie. Ich bin erschrocken über die Intensität von Butha’aks Anwesenheit in meinem Geist und Körper. Es ist, als wären wir verwachsen.

    Mit meinen Fingern rufe ich ein Ziffernfeld auf, das ich zum Eintippen der Koordinaten benötige. Mitten in der Bewegung frieren meine Finger ein, ausgestreckt in der Luft, als würde ich nach den Sternen greifen.

    Was tust du, Eve Puls? Butha’ak hat ihre Gedanken von ihrer Aufgabe abgewandt und richtet sie auf mich wie ein Vergrößerungsglas, das mich in den Fokus rückt.

    »Ich gebe Koordinaten ein. Sonst sind wir verloren.« Ich will ihr noch nicht die Wahrheit sagen. Sie wird nicht zulassen, dass ich eine Rückkehr anstrebe. Aber wenn ich die Koordinaten erst einmal eingegeben und bestätigt habe, kann selbst Butha’ak sie nur mit meiner Hilfe wieder ändern.

    Nein. Butha’ak ist erzürnt. Ich spüre es. Elektrizität liegt in der Luft. Du wirst Logs Mission nicht abbrechen.

    »Das habe ich nicht vor«, lenke ich ab. Mehrmals versuche ich, meine Finger aus der Starre zu lösen. Unmöglich. Butha’ak hat mich im Griff. Ich hatte keine Ahnung, dass ein Programm so hartnäckig, so entschlossen sein kann. War Log stärker als Butha’ak, als er die Koordinaten änderte? Oder hat sie ihm vertraut?

    Ich habe einen erdähnlichen Planeten in einer habitablen Zone entdeckt. Deshalb weckte ich Log auf. Die Daten waren positiv. Wir können eine Besiedlung durch Menschen in Betracht ziehen. Dieser Planet liegt nur wenige Lichtjahre von hier entfernt. Wir werden uns dorthin begeben, den Planeten besichtigen, nach einer Biosphäre suchen und im Erfolgsfall die Koordinaten an Erde Zwei senden. Der Planet liegt näher als unser ursprüngliches Ziel.

    »Das ist unmöglich!«, sage ich wütend, ob der Machtlosigkeit gegenüber Butha’ak. »Captain Log hätte niemals unsere Route geändert. Nicht, ohne seiner Crew Bescheid zu geben.«

    Negativ. Log wollte diesen Abstecher ohne die Crew machen, weil er wusste, es wäre den Aufwand nicht wert, euch aufzuwecken. Sobald er sicher wäre, dass der besagte Planet bewohnbar ist, hätte er euch geweckt. Leider kam uns der Meteoritensturm dazwischen. Eve Puls, du musst Logs Werk beenden!

    »Das ist eine Lüge! Dieser Planet kann nicht einfach übersehen worden sein.«

    Nein, aber er wurde fälschlicherweise als nicht bewohnbar eingestuft. Wir können diesen Fehler beheben.

    »Lass mich los, Butha’ak! Ich befehle es dir!« Der geistige Kampf gegen Butha’ak strengt mich an. Wie lange kann ich das noch aushalten? »Ich werde auf Erde Zwei zurückkehren. Von mir aus gib die Koordinaten an die Raumstation weiter. Sollen andere sich darum kümmern!«

    Hast du vergessen, was du Log in jener Nacht versprochen hast?

    »Nein, das habe ich nicht vergessen. Aber ich habe meine Entscheidung getroffen.«

    Du hast Log geschworen, die Mission zu beenden. Für die Menschheit. Hast du das etwa vergessen, Eve Puls?

    Ein heftiger Ruck durchfährt mich. Butha’ak hat sich Zugriff auf Logs Erinnerungen und Gefühle verschafft. Mein Bewusstsein wird in eine andere Zeit geschleudert. Eine Reise viele Jahre in die Vergangenheit, zurück auf Erde Zwei. Jene Stunden, kurz vor dem Abflug, die mir zuvor durch einen schleierhaften Nebel geraubt worden waren.

    »Ich werde sie für dich tragen, bis du bereit dazu bist. Du musst es mir nur sagen, und du bekommst sie zurück.«

    Logs Stimme klingt genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Er hängt sich meine Kette um den Hals. Unser Start ist in wenigen Stunden. Log bewegt sich, will aufstehen. Ich bekomme Panik, ergreife seine Hand mit der meinen. Irritiert blickt er mich an, dann beginnt er wieder zu lächeln.

    Wieso tut er das? Und wieso schafft er es, mein panisches Gefühl dadurch zu verdrängen?

    Ich hole Luft, will etwas sagen, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken.

    »Es ist Zeit zu gehen. In einer Stunde ist Treffpunkt«, sagt Log, steht auf und zieht mich mit sich, hinüber zur Tür, wo sein gepackter Koffer wartet. Es ist ein unscheinbarer, schwarzer Kasten, der keinerlei Rückschlüsse auf seinen ebenso unscheinbaren Besitzer zulässt.

    Ich klammere mich an Logs Hand. Dann halte ich an, zwinge ihn zum Stillstehen. Ich weiß, was gleich passieren wird. Ich habe es schon einmal erlebt. Das hier ist nur eine Erinnerung. Log wirkt kaum verärgert darüber, dass ich ihn erneut aufhalte. Nein, dieses Mal scannt er meinen Körper mit seinen Augen, als ob er nach verräterischen Körperteilen sucht, die mich als Cyborg identifizieren könnten. Die wird er nicht finden. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Genau wie er. Und ich kann nicht leugnen, was ich empfinde. Angst vor der Ungewissheit, die unsere Mission mit sich bringt, und die plötzliche Lust, die in mir aufsteigt, Log nahe zu sein. Näher als sonst. Ich springe schon fast auf ihn zu, küsse ihn. Als er kaum reagiert, beiße ich ihm auffordernd in

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