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Glenn Gould oder das innere Klavier
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Ebook165 pages1 hour

Glenn Gould oder das innere Klavier

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Wie gut kennen wir Glenn Gould? Sein Satz "Man spielt nicht mit den Fingern Klavier, sondern mit dem Kopf" ist für Jean-Yves Clément der Leitfaden, um Persönlichkeit und Werk des großen kanadischen Pianisten auszuloten. Im Nachzeichnen der Stationen eines der Kunst dienenden Lebens zwischen Entsagung und Ekstase, Strenge und Humor, Konzertsaal und Tonstudio entsteht ein vielschichtiges Porträt.

Glenn Gould ist weit mehr als jene pianistische Ausnahmeerscheinung, welche die meisten Musikliebhaber in aller Welt bis heute in ihm sehen. Zeitlebens war er im Dienst an der Musik auch in verschiedenen anderen Kunstsparten höchst engagiert: im Gestalten von Radio- und Fernsehsendungen, im Schreiben musikästhetischer Texte, im Komponieren und Dirigieren. Die ­Musik war für ihn ein Glaubensbekenntnis, das Reinheit und Einsamkeit im Leben erforderte und kein Karrierestreben zuließ.
Jean-Yves Clément hebt in klarer und einfühlsamer Weise diese kreative Persönlichkeit in den Blick, die von Jugend an auf allen möglichen Wegen – gegen den Widerstand einer physisch-psychischen Hochempfindlichkeit – nach der absoluten Musik strebte. In seiner Darstellung wird nachvollziehbar, was Glenn Gould einmal selbst geäußert hat: "Ich finde, man sollte sein Leben so gestalten, dass man immer eine spirituelle Richtung im Sinn hat."

Jean-Yves Clément gelingt eine feine Annäherung an denjenigen, der Bach so gut interpretierte. Ein musikalisch-philosophisches Porträt mit Weitblick und Tiefgang.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 15, 2018
ISBN9783772544026
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    Glenn Gould oder das innere Klavier - Jean-Yves Clément

    JEAN-YVES CLÉMENT

    Glenn Gould

    oder das innere Klavier

    Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff

    Mit Fotos von Don Hunstein

    OKTAVEN

    Der Musik, und denjenigen, die sie in den Himmel heben, um sie allen zu schenken.

    INHALT

    1 SO YOU WANT TO WRITE A BOOK

    Ouvertüre à la canadienne in 12 Variationen

    2 VON DER SELBSTBEHAUPTUNG

    (1932 – 1947)

    3 VON DER NEUSCHÖPFUNG

    (1947 – 1955)

    4 VON DER MORAL

    (1955 – 1964)

    5 VON DER ENTSAGUNG

    (1964 – 1973)

    6 VOM ABENDLICHT

    (1973 – 1980)

    7 TOD UND VERKLÄRUNG

    (1980 – 1982)

    ANHANG

    Biografische Daten

    Ausgewählte Bibliografie

    Personenregister

    Werkregister

    Impressum

    Der einsame Vogel muss fünf Eigenschaften haben:

    Die erste, dass er zum höchsten Punkt fliegt,

    die zweite, dass er keine Gesellschaft erträgt,

    auch wenn sie von seiner Art ist,

    die dritte, dass er den Schnabel in den Wind hält,

    die vierte, dass er keine bestimmte Farbe hat,

    die fünfte, dass er lieblich singt.

    Johannes vom Kreuz

    Worte von Licht und Liebe

    16. Jahrhundert

    1 SO YOU WANT TO WRITE A BOOK

    Ouvertüre à la canadienne in 12 Variationen

    Ich bin ein Komponist, ein kanadischer Schriftsteller und ein Medienschaffender, der in seiner Freizeit Klavier spielt.

    Glenn Gould¹

    Glenn Gould lieben bedeutet einer bestimmten Lebensauffassung anhängen, denn diese Liebe geht weit über die schlichte Wertschätzung eines außergewöhnlichen Meisterpianisten hinaus, für den das Piano alles war, nur kein Selbstzweck.

    Denn Gould war auf der Suche nach – in seinen eigenen Worten – der «Musik an sich», getragen von einer klar umrissenen Weltanschauung, die er während seiner Kindheit erwarb und sein Leben lang beibehielt, einer Suche auf unterschiedlichen Pfaden, die alle in eine ungewöhnliche Form der Vita contemplativa mündeten.

    In Gould könnte man den Thomas von Aquin der Musik sehen, denn er war ein Mensch, der auf den leicht erworbenen Ruhm und die weltlichen Freuden verzichtete, die öffentliche Auftritte einbringen, und lieber steinigere Wege beschritt, die der geistigen Entwicklung und der Menschheit in ihrer Gesamtheit zugutekommen. Als er sich mit erst einunddreißig Jahren auf so radikale und spektakuläre Weise aus dem Konzertbetrieb zurückzog – viel früher noch als Liszt und letztlich aus denselben inneren Gründen –, wandte er sich damit nicht von der Welt ab, sondern gab als kreativer Künstler und als Mensch den Blick frei auf höhere Dinge.

    Zeitlebens war er in verschiedenen Kunstsparten ungewöhnlich stark engagiert, davon zeugen zahlreiche Plattenaufnahmen, Radio- und Fernsehsendungen sowie umfangreiche musikästhetische Texte, und nur der Tod verhinderte den Einstieg in ein drittes Leben, das dem Schreiben («Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich gern Schriftsteller geworden»), dem Dirigieren und zweifellos auch dem Komponieren gewidmet gewesen wäre. All diese Facetten hatten ausschließlich den Dienst an der Musik zum Ziel, nicht die Karriere oder den Ruhm. Ein Heiligenleben. Dienen – nicht sich bedienen. Auch das erinnert an Liszt, dessen Kompositionen Gould allerdings wenig abgewinnen konnte.

    Thomas von Aquin hat es so formuliert: «Das aktive Leben, in dem man die Früchte seiner Kontemplation durch Predigen und Lehren an andere weiterreicht, ist höher einzuschätzen als das allein der Kontemplation geweihte Leben, denn ein solches setzt einen großen kontemplativen Reichtum voraus.»

    Gould fühlte sich wesensmäßig stark von einer harmonischen, friedvollen Existenz angezogen, einer Existenz fern der Schlachtfelder Konzertsaal und Wettbewerb («Ich glaube, dass nicht Geld, sondern Wettbewerb die Wurzel allen Übels ist»), fern der Masse und ihrer Anspruchshaltung, fern von allem, ausgenommen dem eigenen Selbst. Und der Musik … «Bei einer Interpretation geht es nicht um ein Match, sondern um eine Liebesgeschichte.»

    Um Gould zu lieben, muss man weit mehr lieben als das Klavier, seinen Glanz und seine Verführungskünste, mehr auch als das traditionelle Repertoire. An keinem der großen Magier des Klaviers – Scarlatti, Schubert, Schumann, Chopin, Liszt, Rachmaninoff, Debussy, Ravel – findet Gould Gefallen (obwohl er sich für einen «Erzromantiker» hält!), er zieht ihnen bekanntermaßen Bach mit Abstand vor, «den größten Musiker der Geschichte», aber auch Schönberg, Hindemith, Sibelius, die elisabethanischen Komponisten (Gibbons, Byrd) sowie die Spätromantiker (Richard Strauss, den er verehrt) und Wagner (dessen Tristan bringt den Fünfzehnjährigen zum Weinen und er wird ihn später mit Begeisterung transkribieren). Sicher, es gibt Ausnahmen unter den «pianistischen» Komponisten wie Mendelssohn («Ich liebe Mendelssohn über alle Maßen») oder Skrjabin, dessen post-wagnerianische, «ekstatische» Polyphonie ihn trotz ihrer Sinnlichkeit entzückt («Er suchte nach ekstatischen Erfahrungen außerhalb des Klaviers»).

    «Die Komponisten, die ich spiele, sind allesamt über das Instrument hinausgegangen», beteuert er, für sie sei «das Klavier nur ein Ersatz», ihnen sei die Struktur wichtiger als der Klang. Der hedonistische Umgang mit der Tastatur ist ihm nicht geheuer, und dazu zählt praktisch die gesamte Frühromantik, die seines Erachtens von diesem Übel befallen ist. Bleiben noch Beethoven, den er häufig spielt, und Brahms, eher sporadisch, aber in beiden sieht er eher die Komponisten als die «Schöpfer am Klavier», man könnte fast sagen, er versucht sie vom Klavier losgelöst zu betrachten. Für Gould ist die Musik in erster Linie etwas Geistiges …

    Aus seiner Sicht ist die Welt der Musik zweigeteilt: in eine vom Instrument abhängige und eine, die davon unabhängig ist. «Das Klavier ist ein Instrument der Verwirrung», erklärt er in dem moralisierenden Tonfall, den er gelegentlich anschlägt. Es dürfe nicht dazu dienen, den Pianisten glänzen zu lassen, sondern allein den Musiker (diese Lektion hat er von Artur Schnabel gelernt, für den die musikalische Idee «der Erscheinungsform der Musik vorausgehen muss» – ein Gedanke, der von Gould stammen könnte), sofern dieser das rein «Pianistische» ablehnt und die musikalische Struktur und ihre Wirkungen akzentuiert (Swjatoslaw Richter gehört in diesem Punkt zu den «Auserwählten».)

    Hinter Aussagen wie diesen verbirgt sich ein anderes Thema, das einzige, das wirklich für ihn zählt: der Kontrapunkt, die Kunst der musikalischen Linien, das aristotelische «primum movens», die «erste Ursache» der Musik und ihre unerschöpfliche Quelle … Das Urprinzip, die Grundlage der Polyphonie, die über Jahrhunderte vorgeherrscht hat, bis hin zu Bach, dem Hohepriester in Glenn Goulds musikalischer Kathedrale.

    Der Kontrapunkt, der in der königlichen Kunst der Fuge zur Blüte gelangt, ist die Antriebskraft seiner sämtlichen künstlerischen Aktivitäten, einschließlich der Hörfunkdokumentationen (wie der raffinierten Solitude Trilogy, dem einzigen Experiment dieser Art in der Geschichte des Rundfunks) und der Radioporträts von Casals, Stokowski, Schönberg und Strauss. Er prägt sein ganzes Wesen, sein Sprechen und Schreiben, sogar seinen Alltag, in dem eine dynamische, geradezu «polyphone Persönlichkeit» sichtbar wird. Immer taucht bei Gould früher oder später zum Hauptthema wie aus dem Dunkel des Orgel-Récit ein Gegenthema auf, in der Realität oder der Theorie. Entstehen so seine Selbstgespräche, singt er deshalb, sobald Musik erklingt? Gould und seine Doppelgänger.

    Gould ist ein spiritueller Pianist, das springt geradezu ins Auge. Die Filmaufnahmen von der Einspielung der Goldberg-Variationen im Jahr 1981 haben es ein für alle Mal dokumentiert. Nie zuvor hat sich die Musik, vermittelt von einem einzelnen Menschen und auf so universell gültige Weise, so sehr der Religion angenähert und das Klavierspiel so sehr dem Gottesdienst. Einem privaten Gottesdienst freilich, der vor Mikrofonen zelebriert wird, die dafür sorgen, dass er bis in alle Unendlichkeit wiederholt werden kann.

    Die Tonaufnahme als eigenständiges, in jeder Hinsicht gelungenes Kunstwerk erlaubt unvergleichlich hochwertige Ergebnisse, da die Zugeständnisse an das Konzertpublikum und dessen Erwartungshaltung wegfallen. Gould ist der erste «klassische» Pianist, der seine Plattenaufnahmen derart rigoros kontrolliert und ihnen – in konkreter wie philosophischer Hinsicht – eine solche Bedeutung zumisst. Das tut auch Karajan, sicher, doch Gould erzielt eine viel größere Wirkung, und seine Grundhaltung hat weitreichendere Folgen, da er Ernst macht und sich endgültig vom Konzertbetrieb abwendet.

    Gould macht sich Nietzsches Maxime zu eigen, die der Philosoph seinem Helden Zarathustra in den Mund gelegt hat: «Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernen und Künftigen.» Er predigt die «neue Religion» der Tonaufnahme, mithilfe ihres «weltlichen Arms», des Tonschnitts, der den Willen des Propheten ausführt. Allein die neue Religion kann, da sie sich vor der Welt und ihrem hektischen Konkurrenzdenken schützt, zur wahren Kommunion und zur Ekstase führen. Denn in ihr besteht das erklärte Ziel der Suche: Sie vereint «Musik, Interpretation, Interpret und Zuhörer, die verbunden sind durch ein gemeinsam erlebtes Gefühl der Versenkung» (wie bei Alexander Skrjabin, der sich ebenfalls der Suche nach Ekstase geweiht hat).

    Die Ekstase offenbart sich uns in Goulds spürbarem Glück, seinem beseligten Zustand am Klavier, den er mit einem berühmt gewordenen Satz definiert: «Das Ziel der Kunst ist nicht die Auslösung eines vorübergehenden Adrenalinstoßes, sondern ein kontinuierlicher, das ganze Leben dauernder Aufbau eines Zustandes des Staunens und der Heiterkeit.» Das höchste Ziel besteht darin, diesen «Zustand des Staunens» wieder und wieder zu erzeugen.

    Indem man seinen Nächsten «auf Abstand» hält, nähert man sich ihm in Wirklichkeit besonders stark an, und zwar dank der Technologie – Gould glaubte an die «Barmherzigkeit der Maschine», das heißt, durch den wirkungsvollsten Kommunikationsakt überhaupt, den gemeinsamen Musikgenuss in seiner angemessensten Form: von der Einsamkeit in die Einsamkeit. Gould zufolge findet man die Anfänge dieser Denkweise in den mahnenden Worten des Starez Sossima aus dem Roman Die Brüder Karamasow: Es gibt jene, die «versichern, die Welt werde sich immer mehr einigen, sich zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenschließen, indem sie die Entfernungen verkürzt und die Gedanken durch die Luft übermittelt.» Ist diese Zeit nicht bereits gekommen?

    Die Kunst verbindet bei Gould über alle Distanz hinweg absichtslos und rein all jene, die dieselbe Musik- und erst recht Weltanschauung teilen, und bildet dank der Tonaufnahme eine Art unsichtbarer Gemeinschaft von Musikern und Hörern, denen der schöpferische Pianist regelmäßig seine Schallplatten liefert, wie Früchte seiner Versenkung und seiner lange gereiften Entscheidungen – unabhängig von kommerziellen Erwägungen und Karrieredenken, frei von allem, was nicht seinem Wesen entspringt.

    Tatsächlich findet sich bei Gould eine Neigung zur Askese, sowohl im Leben als auch im Werk, und das seit seiner Kindheit. Einer Askese, die durch die in Konzertsälen verbrachte Zeit behindert, besudelt wird, auch wenn sie nur zehn Jahre dauerte. In Goulds Augen sind diese Jahre ein Irrweg. Sein Befund trifft, das muss man anerkennen, in der heutigen Zeit, in der der Interpret ein kommerzielles Produkt wie jedes andere und das Musik-Business ein von Oberflächlichkeit und Niveaulosigkeit beherrschter Markt geworden ist, in erschreckendem Ausmaß zu. Von den Künstlern,

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