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Geheimnisse der Macht: Erbe der Sieben Wüsten V
Geheimnisse der Macht: Erbe der Sieben Wüsten V
Geheimnisse der Macht: Erbe der Sieben Wüsten V
Ebook366 pages5 hours

Geheimnisse der Macht: Erbe der Sieben Wüsten V

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About this ebook

Kein Fluch, keine Zwänge und trotzdem ist Lorin immer noch nicht frei. Er kann weder bei den Morrow-Hexen bleiben noch ein normales Leben führen, weil er als Mörder und Verräter gebranntmarkt ist.
Als er der Bestie Dia begegnet, die unbedingt seine Hilfe braucht, scheint es, als habe das Schicksal seine Hand im Spiel. Doch Lorin hat ein dunkles Geheimnis, dessen Aufdeckung nicht nur Dias Gefühle für ihn zerstören könnte, sondern auch einen weiteren, finalen Krieg zwischen Bestien und Hexen wahrscheinlich macht.
Wenn es Lorin nicht gelingt, seine Vergangenheit endgültig abzuschütteln, wird er niemals eine Zukunft haben.
LanguageDeutsch
Release dateNov 6, 2017
ISBN9783959590815
Geheimnisse der Macht: Erbe der Sieben Wüsten V

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    Book preview

    Geheimnisse der Macht - Helen B. Kraft

    978-3-95959-081-5

    Prolog

    In Anbetracht der Ereignisse bin ich froh, ein Kobold zu sein.

    Aus: Aufzeichnungen Barrique, Datum/Anlass unbekannt.

    357 n. Chr.

    Mit klopfendem Herzen folgte Lorin seinem Vater in die Hütte. Die Luft war schwer von den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu kleinem Raum. Am liebsten wäre er einfach wieder weggelaufen. Dann könnte er mit dem kleinen Damm spielen, den er an einem dünnen Nebenarm des Flusses gebaut hatte. Oder Tezza ärgern, die ihm gestern einen Frosch in den Schuh gesetzt hatte. Ihm würde schon etwas einfallen, um sich zu beschäftigen. Hauptsache, er müsste nicht hier sein mit den Hexen, die immer nur über langweilige Dinge redeten.

    Sein Vater zog ihn jedoch unerbittlich mit in den Raum, wo die anderen bereits saßen. Er setzte sich neben Jokas und nahm Lorin, dem das furchtbar peinlich war, auf den Schoß. Der Hexer streckte den Arm aus, um Lorin durchs Haar zu streichen, doch der drehte sich weg. Er mochte es nicht, wenn Fremde ihn anfassten. Und Jokas mochte er erst recht nicht.

    „Ich sehe, wir sind vollzählig. Nun, Jokas, berichte", sagte eine fremde Stimme.

    „Herr, wir haben gefunden, wonach Ihr gesucht habt. Es ist ein kleines Tor außerhalb der Bestienstadt. Von unserem Dorf aus brauchen wir nur ein paar Stunden."

    „Sehr gut. Habt ihr es ausprobiert?"

    Lorin verrenkte sich den Hals, um den Sprecher besser sehen zu können, doch sein Vater unterband das Gezappel sofort. Mit einem warnenden Blick hieß er Lorin, ruhig zu sein und sich zu benehmen.

    Dann hätte er mich zu Hause lassen sollen, dachte Lorin schnippisch und versuchte es so lange weiter, bis der Griff seines Vaters schmerzhaft wurde. Erst dann hörte er auf und sank in sich zusammen.

    Die Erwachsenen unterhielten sich sehr lange über Dinge, die Lorin nicht verstand. Zum Teil ging es anscheinend um irgendwelche Steine, aber da er nicht begriff, was an blöden Steinen so wichtig sein sollte, beobachtete er lieber eine kleine Schabe, die sich gerade durch eine Bodendiele nach oben kämpfte. Der Panzer des Tierchens glänzte braun und schwarz. Wenn er es Tezza ins Nachthemd steckte, wäre die Sache mit dem Frosch gerächt. Die Idee gefiel ihm. Sehr sogar. Er grinste. Dann sah er sich verstohlen um. Die Erwachsenen redeten immer noch und niemand, nicht einmal sein Vater, beachtete ihn.

    Um sich nicht zu verraten, sah Lorin die Schabe nur an und sprach lautlos einen Zauber, den er bei seiner Mutter aufgeschnappt hatte. Damit konnte man Dinge fliegen lassen, und immer, wenn er alleine war, übte er die Sprüche und Flüche, die er eigentlich nicht kennen durfte. Dabei hatte er schnell festgestellt, dass er zaubern konnte, auch ohne die Worte laut auszusprechen. Manchmal genügte es, wenn er sie dachte. Bei schwierigeren oder neuen Sachen musste er zwar noch die Lippen bewegen, aber nicht mehr reden. So merkten die Erwachsenen es nie, wenn er etwas mit Zauberei anstellte. Bei diesen heimlichen Übungen stellte er sich gerne vor, eines Tages der Anführer der Hexen zu sein. Er würde dann in Großmutter Medas Haus wohnen und Leute wie sein Vater müssten ihm Respekt entgegenbringen. Aber sie müssten nicht vor ihm knien. Das fand er schrecklich. Er hatte die Geschichten von Crothar, der Bestienlegende, gehört, der von seinem eigenen Sohn verlangt hatte, sich seinem Willen zu beugen. Das würde Lorin seinem Vater oder seiner Mutter nicht antun. Sie sollten nur merken, wie es ist, ständig in der Gegend herumgescheucht zu werden.

    Obwohl er durch diese Gedanken ein wenig abgelenkt war, gelang ihm der Zauber auf Anhieb. Die Schabe kratzte in einem Moment noch am Holzboden, im nächsten schwebte sie in der Luft auf Lorin zu.

    Er streckte vorsichtig die Hand aus, um nach dem Tierchen zu greifen und es in seine Hosentasche zu schieben. Nur keine hektischen Bewegungen, damit der Vater es nicht bemerkte.

    „Einen interessanten Sohn hast du da, Kallun."

    Lorin erstarrte. Er wagte es nicht, den Kopf zu heben, um den Mann anzusehen, den alle nur den Schatten nannten. Eine dumme Erwachsenen-Angewohnheit, schließlich hatte der Mann einen Namen und jeder kannte ihn.

    „Scheint so, als habest du Recht, Herr. Ich wusste selbst nicht, dass er das kann." Sein Vater hielt ihn jetzt noch fester, fast als ob er fürchtete, Lorin würde von seinem Schoß springen und davonlaufen.

    Als ob er weit käme. Sein Vater kannte einen Zauber, der verängstigte Schweine oder Hühner einfing. Den konnte er jederzeit auch gegen ihn einsetzen, wie Lorin nur zu gut wusste.

    Während er sich bemühte, unsichtbar zu sein und nach unten starrte, kamen zwei dunkle Lederstiefel in sein Blickfeld. Gleich darauf ging der Schatten in die Knie und packte Lorin am Kinn. Derart gezwungen, den Blick zu heben, sah er in das schiefe Lächeln des Mannes, den sein Vater so bewunderte.

    „Lorin, Lorin, Lorin, was bist du doch für eine freudige Überraschung. Dein Vater hätte dich früher mitbringen sollen, wie mir scheint. Die schmutziggelben Augen des Mannes funkelten vergnügt, als er sich mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht strich, ehe er sich wieder an Lorins Vater wandte. „Er könnte die Lösung für unser Problem sein.

    „Herr, bitte. Er ist ein kleiner Junge."

    „Mit großer Zauberkraft, wie mir scheint. Was meinst du, Jokas?"

    Der Angesprochene packte Lorin unsanft an den Armen und zog ihn vom Schoß seines Vaters. Er hielt ihn so fest, dass Lorins Fußspitzen kaum den Boden berührten, und starrte ihm dann eindringlich in die Augen. „Könnte sein, dass er dank seiner Mutter ein sehr starkes Talent hat. Wir können es nur herausfinden, wenn wir es versuchen."

    „Nein!, schrie Kallun auf. „Bitte. Er ist noch ein Kind, das wird ihn ...

    „Tz, tz, tz, schnalzte der Schatten mit der Zunge. „Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn man mir widerspricht oder Vorschriften machen will. Wenn Jokas sagt, wir versuchen es, werden wir das auch. Immerhin ist Jokas unser Anführer. Nicht wahr?

    Zustimmendes Gemurmel ringsum.

    Lorin begriff nicht, was die Männer meinten. „Vater?"

    Doch der hatte sich abgewandt. Er stützte einen Ellenbogen auf den Tisch, gegen den er zuvor mit dem Rücken gelehnt hatte, und legte seinen Kopf schwer auf eine Hand. Schließlich hob er die andere und machte eine wegwerfende Bewegung. „Also gut. Aber holt Edwell dazu. Sie ist nach Meda die Stärkste im Dorf ... und er vertraut ihr."

    Lorin atmete auf. Sie wollten seine Mutter holen. Jetzt würde alles gut werden. Sicher würde sie ihm nur ein paar Maulschellen geben, weil er ohne Aufsicht gezaubert hatte. Dass er seine Schwester mit der Schabe hatte ärgern wollen, konnte ja niemand wissen. Sie würden nur denken, dass er neugierig gewesen sei.

    Während er sich innerlich darauf vorbereitete, dass seine Mutter ihn ausschimpfen würde, krochen die Minuten zähflüssig dahin. In dem kleinen Zimmer gab es noch nicht einmal etwas Interessantes zu sehen. Er erkannte nur wenige der Männer und nahm an, dass sie aus umliegenden Dörfern stammen mussten. Ob sie Hexen wie seine Eltern waren, wusste er nicht. Vermutlich waren sie es.

    Schließlich jedoch stand seine Mutter vor ihm. Ihre Augen, die denen seiner Schwester so ähnlich waren, wirkten viel zu groß. Hatte sie etwa geweint?

    Ehe Lorin fragen konnte, hatte sie ihn aus Jokas Klammergriff befreit und an ihre Brust gedrückt. Lorin genoss es, so von ihr gehalten zu werden. Als ihm ihr warmer Duft nach Brot in die Nase stieg, vergaß er, dass er vielleicht Angst vor Schelte haben sollte. Seine Mutter machte immer alles wieder gut.

    Viel zu schnell versteifte sie sich und ließ Lorin wieder los. „Also gut. Tun wir es. Wenn es uns von diesen Monstern befreit, bin ich bereit, alles zu tun."

    „Edwell, weißt du, was du da sagst?", begehrte Kallun auf, doch Lorins Mutter presste nur entschlossen die Lippen zusammen.

    „Welche Wahl haben wir denn? Willst du auf ewig in deren Schatten stehen? Willst du dir den Buckel krumm arbeiten unter der Knute dieser Monster? Unser Sohn könnte ein Held sein! Er könnte alles beenden und dafür sorgen, dass sie dorthin zurückkehren, wohin sie gehören."

    Lorins Vater schwieg. Das tat er manchmal, wenn seine Mutter lange genug auf ihn einredete. Schließlich seufzte er resigniert und machte den Weg frei.

    Jokas packte Lorin am Arm und zerrte ihn zum Tisch. Er hob ihn auf die Platte und hielt ihn fest. „Mach seine Brust frei."

    Wem der Befehl galt, konnte Lorin nicht sagen, seine Angst vor dem, was da kommen würde, war viel zu groß. Er zappelte mit den Beinen, versuchte sich loszureißen, doch gegen den Erwachsenen hatte er keine Chance. Tränen liefen ihm über die Wangen.

    „Mutter, bitte, ich bin auch brav. Versprochen!"

    Niemand reagierte auf sein Flehen.

    Sein Vater schnürte die dünne Weste und das abgetragene Hemd auf, das Lorin am Morgen angezogen hatte, dann ging er zum Tischende. Dort legte er die Hände auf Lorins Fußknöchel und hielt ihn so ebenfalls fest. Lorins Gedanken rasten. Er verstand nicht, was seine Eltern vorhatten, war aber zu ängstlich, um mehr zu tun als zu betteln und zu weinen. Direkt zu fragen, wagte er nicht. Mit tränenverschleiertem Blick beobachtete er, wie der Schatten auf seine Mutter einredete. Beide gestikulierten wild, und Edwell schüttelte mehrfach den Kopf, bis der Schatten ihr eine Ohrfeige versetzte.

    Lorin schloss die Lider. Er mochte ein kleiner Junge sein, aber selbst er verstand, dass dieser Mann alle Fäden in der Hand hielt. Er mochte behaupten, Jokas sei der Anführer der Gruppe, trotzdem wusste jeder, dass das so nicht stimmte.

    Eine warme Hand strich über Lorins Wange. Er schaute auf und in die Augen seiner Mutter. Er sah ein Lächeln darin und eine Spur von Hoffnung, ehe sie sich vorbeugte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte.

    „Sei mein großer, starker Junge. Du warst schon immer etwas Besonderes, jetzt kannst du beweisen wie sehr."

    Damit zog sie sich zurück und streckte sich. Ringsum bildeten die Anwesenden einen Kreis um den Tisch. Sie fassten sich an den Händen und begannen den Singsang eines Zaubers, den Lorin nicht kannte. Jokas und sein Vater beteiligten sich nicht daran. Während Kallun das Gesicht abwandte, als könne er den Anblick nicht ertragen, lag Jokas' Augenmerk auf Edwell gerichtet, die nun ihrerseits einen Zauber anstimmte.

    Leiser als die anderen beschwor sie eine Macht, die Lorin körperlich spüren konnte. Wie die Spitzen kalter Äste glitt sie über seine Haut. Dort, wo sie ihn berührte, brannte es und hinterließ sichtbare Striemen. Anfangs war es nur unangenehm, aber je länger der Zauberspruch dauerte, desto schmerzhafter wurde es. Lorin wand sich, er schrie, flehte und rief nach seiner Mutter. Niemand kümmerte sich darum.

    „Gebunden in Zeit, gebunden in Raum, verschmolzen im Licht, der Macht ergeben, das ist mein Wille. Seele an Seele, Stein auf Haut, gebunden seid ihr, das ist mein Wille."

    Die Worte seiner Mutter ergaben keinen Sinn, aber Lorin hatte es längst aufgegeben, darüber nachzudenken. Er schrie vor Schmerzen, als ihm etwas auf die Brust gedrückt wurde. Er roch brennendes Fleisch, hörte ein Zischen, dann wurde er ohnmächtig.

    1. Kapitel

    Hexen und Verrat sind zwei Worte gleicher Bedeutung. Das eine bekommst du nicht ohne das andere.

    Earron zu Cruth, Anlass unbekannt.

    2045 n.Chr.

    Lorin betrat das Gebäude von Morrow Consultings und steuerte geradewegs auf den Empfangstresen zu. Die dahinter sitzende junge Frau schenkte ihm ein herzliches Lächeln, das sich in ein Stirnrunzeln verwandelte, als er abbog und geradewegs das Drehkreuz passierte, um zu den Aufzügen zu gelangen.

    Zielstrebig ging er zum äußersten Aufzug an der rechten Seite und tippte den neustelligen Code ein, der ihn zur obersten Etage bringen würde.

    „He! Sie können da nicht einfach durchgehen, ich muss Sie anmelden!"

    „Keine Sorge, Mr Larkin erwartet mich."

    Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Gästen des Vorstandsvorsitzenden des Hauses Morrow ließ man einige Sonderheiten durchgehen. Trotzdem rechnete Lorin damit, dass die Dame Gabriel anrufen und ihn vorwarnen würde. Sie erkannte in Lorin den kleinen Jungen nicht mehr, der er vor sechs Monaten noch gewesen war. Seinem Freund würde es nicht anders ergehen.

    Sobald er in der Kabine stand, drehte er sich um und zwinkerte der Empfangsdame zu, was ihre entrüstete Miene zum Zittern brachte. Er wusste, was sie in diesem Augenblick bewusst wahrnahm. Seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und das dunkle, kurze Haar passten in fast jedes weibliche Beuteschema. Nur seine Augen nicht. Jede Frau, mit der er in den letzten Monaten zusammen gewesen war, hatte ihm gesagt, dass sie angsteinflößend waren.

    Der Aufzug hielt und die Türen glitten lautlos auf. Lorin strich seine Krawatte glatt, prüfte den Sitz der Manschetten und trat in den mit Marmor ausgelegten Flur. Glaswände bildeten durchsichtige Abtrennungen, die zu einem Besprechungsraum, einem Büro im hinteren Teil und einer kleinen Kaffeebox führten.

    Abgesehen von dem kaum wahrnehmbaren Rauschen der Klimaanlage und seinen Schritten auf dem Boden hörte Lorin kein Geräusch. Er schien allein zu sein, aber das konnte durchaus täuschen. Dieses Stockwerk war das am besten geschützte im ganzen Gebäude. Die zusätzlichen magischen Sicherungen sollten Eindringlinge fernhalten. Es war gut möglich, dass sie auch die Anwesenheit von Gabriel Larkin tarnten.

    Lorin hätte jeden noch so starken magischen Schutz mit dem Schlag eines Gedankens in Stücke hacken können, damit jedoch nur den Hausalarm ausgelöst. Er wollte keinen Ärger. Nur mit seinem alten Freund sprechen.

    „Es war ein Fehler, ohne Einladung heraufzukommen. Besser, Sie gehen wieder, ehe Sie es bereuen", ertönte da auch schon die vertraute Stimme Gabriels aus Richtung des vermeintlich leeren Büros. Keinesfalls so herzlich wie Lorin es sich gewünscht hätte, aber woher sollte Gabriel auch wissen, dass er der Fremde war? Das letzte Mal, als sie einander gesehen hatten, war Lorins Körper noch kindlich gewesen.

    Ehe er etwas sagen konnte, fühlte er, wie die Magie rings um ihn herum zunahm. Er konnte ihre Macht förmlich auf der Zunge schmecken. Für einen Augenblick zögerte er. Angriffe jeglicher Art reizten ihn, wollten ihn dazu bringen, unkontrolliert um sich zu schlagen. Er beherrschte sich, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihm vorging. Gabriel musste nicht wissen, in welcher Gefahr er schwebte, sollte Lorin die Kontrolle über sich verlieren. Sein Freund war ein guter Hexer, aber gegen die Kräfte, die im Laufe der Zeit in Lorin gewachsen waren, hatte er keine Chance. Deshalb ging Lorin gemächlich weiter, bis er die gläserne Bürotür erreichte. Dort lehnte er sich an den Rahmen und sah zu dem scheinbar leeren Sessel hinter dem Schreibtisch.

    „Du erkennst deine Freunde offenbar nicht mehr, Gabriel."

    Über dem Sessel begann die Luft zu verschwimmen, bis sich schließlich eine Gestalt herauskristallisierte.

    „Lorin?" Mit geweiteten Augen starrte der Mann ihn an.

    „Das bin ich, alter Freund."

    Gabriel sprang auf und lief auf ihn zu. Beide Arme nach vorn gestreckt, ein breites Grinsen im Gesicht. Kurz bevor er Lorin erreichte, hielt er an, als wisse er nicht, ob seine Reaktion die richtige sei.

    „Du ... bist erwachsen." In seinem Tonfall schwang etwas mit, das sowohl Überraschung als auch Enttäuschung sein konnte.

    Lorin neigte den Kopf. Er suchte nach den Worten, die er sich bei seiner Ankunft zurechtgelegt hatte, doch sie wollten ihm nicht einfallen. „Ich habe den Fluch gebrochen", sagte er nur.

    „Ich wusste, du schaffst es! Gabriel lachte auf und in seinen grauen Augen blitzte es übermütig, was ihn gleich mehrere Jahre jünger erscheinen ließ. „Also ist Cruth zurück? Wie alle Mitglieder des Hauses Morrow kannte auch er die Legenden, die sich um den Bestiengott rankten.

    „Ja." Lorin verzog grimmig die Lippen, ohne näher darauf einzugehen. Sein Freund wusste auch so, dass Cruth die Schuld am Tod von Lorins Mutter trug. Ebenso, dass Lorin damals die Zeit manipuliert hatte, um Edwell zu retten, und dabei sich und seine kleine Schwester zu einem Leben als ewige Kinder verdammt hatte. Zumindest körperlich.

    Der Gedanke an Tezza versetzte ihm unvermittelt einen Stich. Er wollte nicht an sie denken. Und auch nicht daran, wie sie zu Tode gekommen war. Er wollte sie in Erinnerung behalten, wie sie einst gewesen war: Ein liebreizendes Mädchen mit allerlei Unsinn im Kopf, das er gerne aufgezogen hatte.

    „Komm, Junge, setz dich und erzähl mir alles."

    Während Lorin zu dem schwarzen Besuchersessel ging, umrundete Gabriel wieder seinen Schreibtisch und ließ sich zurück in seinen Stuhl fallen. Dabei gab er ein Ächzen von sich, das Lorin erschreckte. Er musterte den Älteren genauer. Was er sah, gefiel ihm nicht. Gabriel trug wie immer einen maßgeschneiderten Anzug, der ihm wie angegossen passte. Sein graues Haar war ordentlich gekämmt und die faltige Haut seines Gesichtes ließ keinerlei Zweifel daran, dass er über einiges an Lebenserfahrung verfügte. Das einst volle nussbraune Haar allerdings war dünn geworden und hatte zu viele weiße Strähnen. In den grauen Augen blitzte Intelligenz, aber es lag auch ein latenter Schmerz darin. Der einst imposante Geschäftsmann mit der Ausstrahlung eines Kämpfers war verschwunden. Stattdessen sah Lorin nur noch einen schwachen Körper, in dem nach wie vor ein hellwacher Geist lebte.

    Lorin schluckte hart, weil ihm die Kehle eng wurde. Gabriel bedeutete ihm mehr als jeder andere Mensch. Ihn jetzt schon vom Alter gezeichnet zu sehen, obwohl er gerade einmal Mitte fünfzig war, tat weh. Was auch immer da los war, es konnte nichts Gutes sein.

    „Nun setz dich endlich", forderte Gabriel, aufgeregt wie ein kleines Kind.

    Lorin brachte es nicht über sich, ihn gleich auf sein Äußeres anzusprechen. Er nahm Platz und legte sich einen Knöchel aufs Knie. Alles war besser, als die Informationen, die er hatte, unverblümt zu verkünden, aber ihm wollte einfach keine Möglichkeit einfallen, es Gabriel schonend beizubringen. „Tezza ist tot."

    Gabriel presste die Lippen zu einem weißen Strich. „Ich ahnte es. Sie hat sich länger als du nicht gemeldet. Außerdem gab es etliche Vermisstenmeldungen bei Mitgliedern des Zirkels. Siebzig, wenn ich mich nicht irre. Unsere Leute konnten nicht herausfinden, was geschehen war, aber ich gehe vom Schlimmsten aus. Sind diese Hexen auch tot?"

    „Ja. So schmerzhaft es war, Gabriel musste es wissen. „Weißt du, was Tezza getan hat?

    Sein Gegenüber öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ein Hustenkrampf hinderte ihn am Sprechen. Als Lorin aufstehen wollte, um ihn auf den Rücken zu schlagen, hob Gabriel nur eine Hand und schüttelte den Kopf.

    „Es geht schon, würgte er keuchend hervor, ehe er einen Schluck Wasser trank. Sobald er das Glas geleert hatte, runzelte er die Stirn. „Verzeih, ich hätte dir auch etwas anbieten sollen.

    „Nicht nötig, mein Freund. Noch immer wagte Lorin nicht, seine Beobachtungen zu äußern. Er ahnte bereits, was mit Gabriel los war, aber es auszusprechen , würde es zur Gewissheit werden lassen. Noch war er nicht bereit dazu, weswegen er beim Thema Tezza blieb. „Also? Wusstest du es?

    Gabriel seufzte. „Ich hatte einen Verdacht. Sie hat Andeutungen gemacht, Hexer requiriert, deren Fähigkeiten ... nun, sagen wir mal ... nicht darin lagen, eigenständig zu denken."

    Lorin biss sich auf die Lippe. Tezza hatte leicht beeinflussbare Hexen benötigt, die über die Macht verfügten, Flüche zu sprechen, die Bestien bannen konnten.

    „Sie war wahnsinnig", sagte er hart, obwohl es ihm noch immer wehtat, so von ihr zu denken. Er war der Ältere, er hätte sie abhalten, beschützen müssen, stattdessen ...

    „Sie war deine Schwester, Junge! Rede nicht schlecht über sie. Du weißt selbst genau, was sie durchgemacht hat."

    Das tat er. Ihm selbst war es ja nicht anders ergangen. Trotzdem hatte er seinen Frust darüber, nicht erwachsen zu werden, dazu verwandt, einen Weg zu finden, den Fluch zu brechen, anstatt wie sie Rache zu üben.

    Müde winkte er ab. „Lassen wir es dabei. Ihre Sorgen haben ein Ende gefunden."

    „Richtig, seufzte Gabriel. „Deine auch? Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Junge.

    Alles in Lorin sträubte sich dagegen, Gabriel die Wahrheit über seine Schwester zu erzählen. Wie sollte sein Freund verstehen, warum Tezza die Kronprinzessin Selas entführt hatte, wenn er selbst nicht einmal begriff, weshalb? Voll Grauen erinnerte er sich daran, Naya nackt und gefesselt in der Wüstenfeste gesehen zu haben. Und daran, wie Tezza sie mit einem Ritualdolch quälte.

    „Lorin!"

    Ergeben hob er die Schultern. „Tezza hat das selanische Königshaus bedroht, indem sie Königin Nataylas Tochter entführte."

    „Götter! Was sollte das bringen?"

    „Sie hat von meinen Forschungen gehört. Vielleicht kam ihr dabei zu Ohren, dass ich glaubte, das Blut von Bestien könne den Fluch brechen." Mit brüchiger Stimme berichtete Lorin von der Folter, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, dennoch, schnappte Gabriel nach Luft, was einen weiteren Hustenkrampf hervorrief.

    Sobald er wieder atmen konnte, krallte er die Hände in die Tischplatte und sah Lorin fest an. „Konnte sie die Magie speichern?"

    „Nein. Sie trank sich daran satt. Für kurze Zeit wurde sie mir dadurch ebenbürtig. Sie muss gewusst haben, dass das geschehen könnte, denn sie hat gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass unter den Bestien weltweit Chaos ausbrach."

    „Wie das?"

    Lorin begann, mit den Fingern auf seinen Oberschenkel zu trommeln. „Sie hat mit Cornell Blackstark eine Vereinbarung über den Kauf von Land in der Wüste getroffen. Als Königin Natayla davon erfuhr, befahl sie den Tod des Mannes. Zeitgleich hat Tezza ein Koboldkind entführt, es gezwungen, Lügen auszusprechen, wodurch einige Kobolde zu Tode kamen, darunter auch Kanzler Barrique."

    Gabriels entsetzter Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er um die Bedeutung dieser Sache wusste. Die Bestien verließen sich seit Jahrhunderten auf den Rat des Koboldkanzlers. Sein Tod war mehr als nur ein tragischer Verlust.

    „Tezza hat das von langer Hand geplant. Lorins Fingertippen endete, und er ballte die Faust. „Wie seinerzeit Osan hat sie abgewartet, Nadelstiche gesetzt und zu guter Letzt einen Keil zwischen die Königin und ihren Gefährten zu treiben versucht. Wenn ihr das zusammen mit der Destabilisierung der Bestienregierungen gelungen wäre ...

    „Die Welt, wie wir sie kennen, wäre ausgelöscht worden."

    „Mehr als das, bestätigte Lorin grimmig. „Nicht nur die Existenz der Bestien unter den Menschen wäre bekannt geworden. Auch wir hätten Stellung beziehen müssen. Ein Krieg wäre unvermeidlich gewesen - und ich weiß nicht, ob wir Hexen das überlebt hätten. Deshalb ... Nein, lassen wir das.

    Gabriel machte eine Bewegung, als wolle er Lorin schütteln. „Ich will alles wissen, Junge."

    Lorin erwiderte Gabriels Blick fest. „Um Cruths Fluch zu brechen, benötigte ich tatsächlich Bestienblut. Während meiner Reisen durch die Welt fand ich heraus, dass es als Katalysator verwendet werden kann."

    „Und wie hast du sie dazu gebracht, es dir zu geben?"

    Das war ja die Crux an der Sache. Er hatte sich nicht besser als Tezza verhalten, aber seine Absichten waren Heilung, nicht Vernichtung gewesen. Doch nicht immer rechtfertigt ein guter Zweck die Mittel. Niemand wusste das besser als Lorin. „Habe ich nicht. Ich ... Er holte tief Luft. „... habe sie entführt.

    „Lorin!"

    „Ich weiß, Gabriel, ich weiß. Alles, was du sagen willst, habe ich mir selbst schon vorgeworfen. Wenn ich gewusst hätte, was Tezza plant, dann hätte ich es nicht getan. Ich wäre zu Königin Natayla gegangen und hätte sie um Hilfe gebeten. Ihre Mutter hat viel für uns getan. Deshalb war ich es ihr und ihrer Familie schuldig, das Unrecht wieder gutzumachen."

    „Das weiß ich, aber ..."

    „Wenn ich es ihr gesagt hätte, hätte sie sich Hoffnungen gemacht. Sie hatte bereits genug andere Probleme, da wollte ich nicht auch noch eine Wunde öffnen, die bereits vernarbt war. Was, wenn es schiefgegangen wäre? Die Bestien, die ich gefangen hielt, wären wieder freigekommen, aber Cruth hätte weiterhin sein Dasein in der Ebene der Nichtexistenz fristen müssen. Und seine Enkelin hätte mich dafür gehasst, dass ich ihre Hoffnung nicht erfüllen konnte."

    „Ich verstehe, warum du es tun musstest, Junge, lenkte Gabriel ein, „aber die Mittel dazu waren falsch. Der Friede, den das Haus Morrow mit den Bestienclans, insbesondere dem Königshaus, hält, ist allenfalls als fragil zu bezeichnen. Ist dir klar, dass du einen Krieg hättest auslösen können?

    „Das hat Tezza ohnehin schon. Es ist nur dem Verständnis der Königin und ihrer Vertrauten zu verdanken, dass sie keine Rache üben. Immerhin ist das jetzt sechs Monate her."

    „In denen du nicht im Traum daran dachtest, uns zu warnen. Was sollte das, Lorin? Du warst nie zuvor unverantwortlich. Herrgott, du bist älter als ich, du hättest wissen müssen, dass euer Handeln auch Konsequenzen für das Haus Morrow haben würde!"

    Bei Gabriels wütenden Worten zuckte Lorin zusammen. „Ich habe mich bei Königin Natayla im Namen des Hauses entschuldigt und sie wissen lassen, dass nur einzelne Hexen daran beteiligt waren. Glaub mir, sie weiß, was es bedeutet, einen Verräter in den eigenen Reihen zu haben."

    „Mag sein, aber weiß sie auch, was du noch verbirgst?"

    Diesmal presste Lorin die Lippen fest zusammen. Er war nicht bereit, dieses Kapitel seines Lebens noch einmal aufzuschlagen. Er hatte es beendet und einen Strich darunter gezogen. Jetzt wollte er nach vorn sehen, die Verantwortung über das Haus Morrow übernehmen und zur Ruhe kommen. Aber vor allem wollte er das Versprechen seiner Urgroßmutter Meda gegenüber Cruth einlösen, nämlich dass die Hexen seines Hauses die Bestien auf Dauer unterstützen würden.

    „Also nicht. Gabriel schob den Sessel zurück und stand auf. Er ging zum Fenster, wandte Lorin den Rücken zu und starrte hinunter auf den Verkehr. „Du warst leichtsinnig, Junge. Das alles könnte noch immer auf uns zurückfallen. Ich ...

    Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Gabriel hob ab, und während er lauschte, nutzte Lorin die Gelegenheit, seine Fassung zurückzugewinnen. Die Erinnerung an seine Erlebnisse hatten ihn innerlich aufgewühlt. Er sah wieder Tezzas irren Blick vor sich, fühlte die Macht, mit der sie ihn bekämpfte und den heftigen Schmerz, als es endlich endete. Er hatte mit keinem Wort Gabriel gegenüber erwähnt, dass er für Tezzas Tod verantwortlich war - und das würde er auch nicht.

    „Danke für die Information. Ja, alles bestens." Als Gabriel auflegte und sich übers Haar strich, wirkte er mit einem Mal sehr verletzlich.

    „Wie lange hast du noch, Gabe?"

    Gabriel verzog das Gesicht zu einer gutmütigen Grimasse angesichts der Abkürzung seines Namens. „So deutlich, ja?"

    „Die Zeiten, da du mir etwas vormachen kannst, sind lange vorbei."

    Sein Schulterzucken geriet kläglich. „Ein Versuch war es wert."

    „Ebenso wie der, mir auszuweichen?" Eine Faust ballte sich um Lorins Herz. Er wollte den Schmerz auf dem Gesicht seines Freundes wegwischen, ihm helfen.

    „Du hast mich bisher immer ertappt. Also schön, ich habe noch drei, vielleicht vier Monate.

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