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Giftzwerg: Kriminalroman
Giftzwerg: Kriminalroman
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Giftzwerg: Kriminalroman

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About this ebook

Der übergewichtige Kriminalhauptkommissar Hajo Freisal ist gerade dabei, Sportschuhe für sein neues Fitnessprogramm auszusuchen, als er zum Fundort einer Leiche gerufen wird. Ein älterer Kleingärtner liegt erwürgt in seiner Laube. Über einen Mangel an Verdächtigen kann Freisal nicht klagen: Beinahe jeder im Kleingartenverein hätte ein Motiv gehabt, den überall verhassten "Giftzwerg" umzubringen. Und dann gibt es da offenbar noch eine dunkle Episode in der Vergangenheit des Opfers. Nur über Umwege gelingt es Freisal und seiner pfiffigen Assistentin, Licht ins Dunkel zu bringen.
LanguageDeutsch
PublisherBeBra Verlag
Release dateOct 30, 2017
ISBN9783839361580
Giftzwerg: Kriminalroman
Author

Bernd Mannhardt

Bernd Mannhardt veröffentlichte 1994 seinen ersten Krimi „Solowetz oder: Warte, warte nur ein Weilchen“ beim WDR als Hörspiel. Das Roman-Debüt "Schlussakkord", ein Krimi, erschien 2015 beim Be.Bra Verlag als Reihentitel. Es folgten weiter Kriminalromane. Neben Mordsfidele Geschichten für quietschvergnügte Leser schrieb Bernd Mannhardt auch Rezensionen für das Stadtmagazin Zitty, Feature für DeutschlandRadio und Kurzhörspiele für WDR und HR. Zwei Einakter wurden uraufgeführt. Der Autor lebt in Berlin und ist seit vielen Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Er ist Mitglied im Syndikat, Autorenvereinigung deutschsprachige Kriminalliteratur und im VS, Verband deutscher Schriftsteller. Ausführlichere biografische Angaben stehen auf WIKIPEDIA.

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    Book preview

    Giftzwerg - Bernd Mannhardt

    Tolstoi

    Senkfuß

    Als sich Kriminalhauptkommissar Hajo Freisal samstagnachmittags im Wilmersdorfer Sportschuhfachgeschäft auf einem Laufband erst in Trab setzte und wenig später aus der Puste geriet, blieb just im selben Moment einem Laubenpieper in seiner Moabiter Datsche die Luft zum Atmen in Gänze weg.

    Aber besser von vorn.

    Bevor sich Freisal in Bewegung gesetzt hatte, war er vom Sportschuhfachverkäufer gebeten worden, seine beigefarbene Stoffhose bis zur Wade hochzukrempeln und die italienischen Sneaker – Oxford-Halbschuhe ohne Schnürsenkel – auszuziehen sowie die Socken – Markenstrümpfe von Boss, was zufällig sein Dienstverhältnis zur ihn begleitenden Kriminalkommissarin Yasmine Gutzeit benannte – abzulegen.

    Beide Kriminale hatten Bereitschaftsdienst, und weil Gutzeit eine erfahrene Joggerin war und sie es sympathisch fand, dass ihr Vorgesetzter seine Kondition aufpäppeln wollte, stand sie ihm gerne zur Seite. Sie wusste, dass das Treppensteigen für den Mittfünfziger, wie er selbst schon mehrfach gesagt hatte, »zur olympischen Disziplin« avanciert war; zudem fand sie, selbst Ende zwanzig und von sportlicher Erscheinung, dass es vom Kriminalhauptkommissar, kurz KHK, sehr vernünftig war, unlängst damit begonnen zu haben, das eigene Kampfgewicht über Ernährungsumstellung herunterzuschrauben: Er wog jetzt schon acht Kilo weniger (wenngleich immer noch achtundachtzig Kilogramm bei einer Mindestkörpergröße für den Polizeidienst von einem Meter fünfundsechzig).

    Also bitte.

    Der Sportschuhfachverkäufer hatte von Freisals Fußsohlen via High-Tech-Matte Abdrücke genommen, »Senkfuß« konstatiert und ihn aufs Laufband gebeten. Es ging darum, Freisals »Fußstellung« herauszufinden. Dazu wurden die Füße von hinten und auf Fersenhöhe mit Video aufgezeichnet. Der Verkäufer und Gutzeit standen hinter dem einen Meter entfernten Stehtisch mit Computer. Freisal hatte sechs oder sieben Schritte auf das Laufband gesetzt, als er, gut hörbar, zu schnaufen begann – ja, er trat zwar tapfer wie auch fleißig, jedoch nicht wirklich elegant auf der Stelle. Es hatte den Anschein, als müsste er sich sehr konzentrieren, um der Geschwindigkeit des unter ihm wegrutschenden Laufbandes Herr zu werden und zu bleiben. Jedenfalls rumste es bei jedem Schritt gewaltig und Freisals Mimik verriet, dass es ihm nun doch peinlich war, einen derartigen Radau zu machen (bloß um Laufschuhe zu kaufen, wie er dachte). Was er in diesem Moment nicht wusste, war: Auch jeder andere Laufbandläufer hätte das Dreifache des eigenen Körpergewichts gen Geräteboden gebrettert, was keinesfalls geräuschlos vonstatten gegangen wäre.

    Naturgemäß nicht.

    Die von jemand Unbekanntem alarmierte Notärztin konnte auf dem Gelände des Gartenvereins Lehrter Straße e.V., genauer gesagt auf der Parzelle 38 beziehungsweise in der dortigen Laube, nur noch den Tod eines Gartenfreundes feststellen: Horst Kessler (74).

    Für die Medizinerin hatte es im ersten Moment den Anschein, dass der mittelgroße, hagere Mann, der dort seitlich unweit des Esstischs am Fenster auf dem Dielenboden lag, mangels Sauerstoffzufuhr wohl ohnmächtig vom Stuhl gekippt und sodann erstickt war. Den ausschlaggebenden Hinweis auf T71 – so lautete der Code der internationalen Klassifikation ICD10SGBV für die Diagnose Tod durch Ersticken – gab der Ärztin das therapeutische, elektronisch gesteuerte Hilfsmittel für Atempatienten: Neben Kessler lag ein Sauerstoffkonzentrator, ein schuhkartongroßes Gerät, das bei Patienten zur Unterstützung der Sauerstoffzufuhr eingesetzt wurde, wenn es nicht mehr möglich war, den eigenen Sauerstoffbedarf über die natürliche Atmung selbst zu regulieren. Aber auch die angebrochene Zigarettenschachtel nebst vollem Aschenbecher auf dem hellen Holztisch vorm Laubenfenster waren Indizien dafür, dass der alte Herr an COPD – Chronic Obstructive Pulmonary Disease – gelitten hatte. COPD bezeichnet eine unheilbare Verengung der Atemwege. Auf gut Deutsch auch: Raucherlunge. Dennoch, die Medizinerin schrieb auf den Totenschein, Spalte Todesart, nicht »natürlicher Tod«, sondern, wie in Zweifelsfällen üblich: »ungeklärt«.

    Es irritierte die Ärztin offenbar, dass sich am Hals des Toten ein T14.0 befand. Das Kürzel wiederum stand für Hämatom. Wohl »eine Kontusion, volkstümlich Quetschung genannt«, verursacht durch das »gewaltsame Zusammenpressen von Körpergewebe«, erklärte sie dem anwesenden Polizisten. Die »Konturen der frischen Hautverfärbung« sahen aus, als stammten sie »von zupackenden Fingern«. In weiße Overalls gewandete Spurensicherer ließen nicht lange auf sich warten.

    Bevor die Notärztin gen Markthalle Moabit entschwand – wo ein Kunde in der Warteschlange vor dem Demeter-Stand kollabiert war –, übergab sie den Fall dem mittlerweile am Fundort eingetroffenen Forensiker Professor Schnidt.

    Schnidt war ein erfahrener wie auch renommierter Mediziner. Er stand kurz vor seinem Ruhestand, jedoch galt es allgemein als unklar, ob er diesen auch antreten würde. KHK Freisal, der Schnidt in der Zusammenarbeit bei der Lösung auch von kniffligen Fällen kennen und schätzen gelernt hatte, unkte diesbezüglich gerne in der Polizeikantine, dass Schnidt wohl »einfach weiterarbeiten« würde, »weil ihm der Beruf nicht nur Broterwerb, sondern Berufung war«. So weit, hatte Freisal weiter angemerkt, würde er für sich selbst nicht gehen wollen: »Der blasierte Umgang der Politik mit den Ressourcen der Stadt verleidet mir zunehmend die Arbeit.« Deshalb habe er sich eine Rentenuhr als Bildschirmschoner auf seinem Dienst-PC installiert.

    »Oh, oh, oh«, machte Gutzeit in Freisals Rücken. Es klang, als wäre sie um ihren Vorgesetzten ernsthaft besorgt. »Überpronation«, raunte sie mit einer gewissen Dramatik in der Stimme.

    »Schlimm?«, keuchte Freisal. »Heilbar?« Er galt zwar unter Kollegen und Delinquenten gleichermaßen als wortgewandt, aber »Überpronation« sagte ihm nun so gar nichts.

    »Alles klar«, sagte der Verkäufer und schaltete das Trainingsgerät fernbedienend ab, bevor er hinterm Stehtisch hervortrat und, während das Band langsam zum Stillstand kam, den Kunden am linken Ellenbogen stützte. »Ich halte Sie«, sagte er im fürsorglichen Ton eines besorgten Altenpflegers.

    »Finger weg!«, maulte Freisal. »Bin ich hier im Geriatriezentrum, oder was?«

    »Wollte nur helfen«, sagte der Verkäufer. »Mache ich immer, wenn einem Kunden diese ganz spezielle Tretmühle fremd ist.«

    Freisal trat vom Band herunter. Geschafft – unfallfrei, sinnierte er. Dann setzte er sich auf den Stuhl, der zwei, drei Meter entfernt neben dem Laufband stand und zog sich die Socken wieder an. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass der Verkäufer und Gutzeit die Köpfe zusammensteckten. Konspirativ?

    »Was gibt’s denn da zu tuscheln?«, brummte er.

    »Ein chirurgischer Eingriff …«, setzte Gutzeit an.

    »Was?!« Freisal riss erschrocken die Augen auf.

    »… wird wohl nicht notwendig werden, aber …« Gutzeit hielt erneut inne.

    »Raus mit der Sprache!«, forderte Freisal und stützte sich auf den Knien ab, hievte seine Korpulenz in die Senkrechte und schlurfte auf Socken zum Stehtisch.

    »Sehen Sie«, der Verkäufer zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm, nachdem er die Videoaufzeichnung neu gestartet hatte, »Sie knicken überdurchschnittlich viel nach innen weg. Das nennt man Überpronation. Das hat mit Ihrer leichten X-Beinstellung, den Senkfüßen und … na ja, natürlich auch Ihrem Körpergewicht zu tun. Wir wissen jetzt«, fuhr er fort, »dass Sie Laufschuhe brauchen, die Ihre Fußfehlstellung korrigieren: Schuhe mit fester Zwischensohle, Abknickstützen und Dämpfung durch EVA.«

    »Ich kannte mal eine Eva«, merkte Freisal an. »Aber die wird kaum gemeint sein. Sprechen Sie verständlich mit mir, bitte – danke!«

    »Ethylenvinylaceta«, warf Gutzeit ein und ließ die geübte Läuferin raushängen. »Bei bis zu neunzig Prozent EVA«, erläuterte sie, »entsteht ein kautschukähnliches Material, sogenanntes Elastomer.«

    »Seien Sie ehrlich, Gutzeit, Sie haben sich vor unserem Meeting hier noch schnell eingelesen in die Materie, um mich aber auch so was von blöd aussehen zu lassen.«

    »Herr Freisal«, Gutzeit lächelte charmant, »EVA ist Allgemeinbildung und bekanntlich als DIN-Norm ISO 1629:1995 registriert.«

    »Bekanntlich, sicherlich …«

    Der Verkäufer ging rasch dazwischen – nicht, dass da verkaufstechnisch was anbrennt, mochte er denken. Er fragte Freisal, wo das Lauftraining denn stattfinden solle. Der zuckte mit den Schultern. Gutzeit hob die Hand.

    »Ich bin der Laufcoach«, behauptete sie. »Waldboden.«

    »Sehr gut«, sagte der Verkäufer und zeigte mit der Rechten in die Richtung eines Cross-Over-Laufschuhregals mit hintergrundbeleuchteter Wand aus weißem Plexiglas und chromglänzenden Zwischenböden. Freisal ging entschlossen voran zu dem farbenfrohen Schuhwerk, das mit fantasiereichen Namen wie Adrenaline GTS 15, Supernova Sequence Boost 7 und Wave Inspire 11 daherkam. Schön, schön, dachte der Kommissar – und kratzte sich ratlos am Kopf. Der Verkäufer referierte ungefragt: »Die Dämpfung von Laufschuhen ist nach rund tausend Kilometern platt. Wenn Sie, sagen wir mal, zweimal in der Woche zehn Kilometer laufen, ist die Schuhpolsterung nach rund einem Jahr hinüber.«

    »So? Na, Sie können mir ja viel erzählen. Hab keine Ahnung, mein Coach weiß mehr.« Aber wo war auf einmal Yasmine Gutzeit? Hajo Freisal ließ seinen Ermittlerblick durch den Laden schweifen. Ah, dort!, stellte er fest: Gutzeit hatte sich auf leisen Sohlen in eine hintere Ecke des Geschäfts verkrümelt, um offenkundig etwas abseits vom nachmittäglichen Verkaufsrummel telefonieren zu können; er nahm wahr, dass ihre Mimik höchste Konzentration verriet. Vermutlich ein dienstliches Telefonat. Wurde sie alarmiert?, fragte er sich. Merkwürdig, dachte er. Normalerweise wird doch ein KHK angerufen, nicht seine Assistentin.

    Reflexhaft fasste er sich an die Seite der Innentasche seiner braunen Wildlederjacke. Dort steckte normalerweise sein Handy. Hatte er einen Anruf der Zentrale überhört? Freisal griff ins Leere, weil er seine Jacke über den Stuhl, genauer gesagt über die Rückenlehne gelegt hatte. Leichtsinnig. In Berlin feierten Langfinger Hochkonjunktur.

    Der Kommissar zuckte mit den Schultern, ließ den Verkäufer kommentarlos am Schuhregal stehen. Er schlurfte zurück zu der Sitzgelegenheit, vor dem er seine Sneaker ordentlich geparkt hatte, und kramte das Handy aus der Jacke. Tatsächlich, die Zentrale hatte versucht, ihn zu erreichen. Er zog sich rasch die Schuhe an und legte sich die Jacke über die Schulter.

    Der Verkäufer trug ihm ein Paar Wave Inspire 11 hinterher und begann zu schwärmen: »Um ein Wegknicken Ihres Fußes nach innen zu verhindern …«

    »Tschuldigung«, unterbrach ihn Freisal und stand wieder auf. Er hatte gesehen, dass ihn Gutzeit mit der Rechten heranwedelte. »Haben Sie meine Senkis gespeichert?«, fragte er.

    »Ihre was?«

    »Füße.«

    »Nein, noch nicht. Kann ich aber machen.«

    »Bitte tun Sie das. Wir müssen weg – kommen aber wieder.«

    »Ach so«, sagte der Verkäufer. »Welches Kundenkennwort soll ich Ihnen geben?«

    Fliegengewicht, fiel Freisal spontan ein – und er sagte es auch. Dann behauptete er, dass Gutzeit seine Schwiegertochter sei, sie beide bei der freiwilligen Feuerwehr und nun schleunigst los müssten, weil es irgendwo in der Stadt brenne, fasste sich zum Abschied an die Schiebermütze, die er über seinem brav gescheitelten Kurzhaarschnitt trug, und verließ mit Gutzeit den Laden.

    Der Himmel über Berlin stand unverschämt weit offen. Die Temperaturen lagen bei moderaten 25 Grad Celsius.

    »Bei nächster Gelegenheit«, merkte Gutzeit an, »werden wir hier wieder aufschlagen. Ohne vernünftige Laufschuhe brauchen Sie gar nicht mit dem Training anzufangen.«

    »Hab noch Turnschuhe im Keller«, gab der Kriminalhauptkommissar zu bedenken und grinste schief.

    »Turnschuhe?!« Gutzeit fühlte sich auf den Arm genommen und schlug mit flacher Hand blitzschnell auf den Schirm von Freisals Schiebermütze.

    »Hallo?!« Der KHK schob sich die Mütze mit mürrischer Miene zurück in die Stirn.

    »Für die Turnschuhe«, erklärte Gutzeit.

    »Und was war vorhin? Chirurgischer Eingriff und so?«

    »Okay.« Gutzeit nickte. »Es steht zwei zu eins.«

    »Heißt jetzt was?«

    »Sie haben heute noch einen Spruch frei.«

    »Lehrter Straße 5«, informierte Gutzeit ihren Chef, der wie ein Bär neben ihr am Steuer seines MX-5 saß, einem kleinen, tief liegenden Sportwagen mit offenem Stoffverdeck. »Männliche Leiche, siebzig plus, liegt in seiner Datsche neben einem mobilen Sauerstoffgerät und Rollator. Die Notärztin wollte Fremdverschulden nicht ausschließen. Schnidt ist auch schon vor Ort.«

    »Klar«, konstatierte Freisal. »Könnte man einen unnatürlichen Tod ausschließen, hätte man uns nicht alarmiert.« Er klang etwas unlustig.

    Ups, dachte Gutzeit, was ist los? Aber das würde sich schon noch klären, war sie sich aus Erfahrung sicher. Früher oder später war ihr Chef immer damit herausgerückt, was ihm quer lag.

    Der Tag war ideal, um offen zu fahren. Auch Yasmine Gutzeit fühlte sich sichtlich wohl im offenen Roadster, obschon sie auf dem Beifahrersitz mit ihren eins achtzig etwas beengt saß: Der MX-5 war ein fernöstliches Vehikel, wohl nicht wirklich für Europäer konzipiert (die mehr als einen Meter siebzig maßen). Sie hatte die Knie angezogen, was, sinnierte sie, natürlich kein Vergleich zur Bequemlichkeit auf ihrer Susi war (eine Motocrossmaschine, mit der sie ansonsten in der Stadt unterwegs war und dem üblichen Verkehrschaos trotzte). Aber Freisal hatte darauf bestanden, sie zum »Laufschuhshopping« von zu Hause, Mierendorffplatz, abzuholen.

    »Wer hat den Fund gemeldet?«, fragte der KHK.

    »Die Person am Telefon habe weiblich geklungen, sagt der Kollege in der Zentrale. Sie habe ihren Namen weder sagen, noch am Fundort auf die Polizei warten wollen.«

    »Informelle Selbstbestimmung«, kommentierte Freisal. »Außerdem muss sich niemand neben einer Leiche die Beine in den Bauch stehen.«

    »Aber als Zeugin?«

    »Wer sagt, dass die Person, erstens, eine Frau, zweitens, Zeugin ist? Es soll Männer geben, die haben piepsige Stimmlagen.« Er geriet ins Dozieren. »Und Zeugin? Kollegin, Zeugen sind Personen, die nach Paragraf 48 StPO – ich zitiere mal eben aus dem Kopf, wenn’s recht ist – in einem nicht gegen sich selbst gerichteten Strafverfahren über von ihnen gemachte Wahrnehmungen Aussagen machen können.«

    »Ist ja schon gut! Aber …«

    »Die Strafverfolgung kennt neben den klassischen Zeugen wie Opfern beziehungsweise Geschädigten nur Tat-, Ergänzungs- und Leumundszeugen.«

    »Ja doch! Nur …«

    »Muss ich das näher ausführen? Gut, also …«

    »Selbst auf die Gefahr, dass Sie heute den ganzen Tag über den Schlechte-Laune-Onkel mimen: Sie haben eine Zeugenart vergessen, Herr Freisal.«

    »Ach was?«

    »Den Sachverständigen.«

    Hajo Freisal schwieg. »Im Ernst«, sagte er dann, »vielleicht war’s die Täterin oder der Täter selbst, die oder der angerufen hat. Schlechtes Gewissen und so, man kennt das.«

    »Hm, glaube ich jetzt weniger.«

    »Warum?«

    »Täter, die Reue zeigen, wählen aller Erfahrung nach die 112, nicht die 110. Sie wollen sich ja nicht selbst anzeigen, sondern medizinische Hilfe holen.«

    Gutzeit erinnerte sich an einen Fall, der noch nicht lange zurücklag: Horst S. (55) hatte bei der Feuerwehr angerufen und angegeben, dass ihm der Fön in die mit Wasser gefüllte Wanne gefallen sei.

    »Sicherung am Stromkasten rausdrehen, dann den Stecker ziehen«, hatte der Feuerwehrmann in der Notrufzentrale empfohlen. »Deshalb kommen wir bei Ihnen nicht vorbei.«

    »Aber …«

    »Nichts aber, die Leitung muss für Notfälle frei bleiben. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.«

    »Im Wasser liegt meine Frau.«

    Der wenig später herbeigeeilte Notarzt konnte nur noch den Tod von Helga S. (54) feststellen. Horst S. wurde nach Indizienlage angeklagt, weil er nicht plausibel machen konnte, warum er mit einem eingeschalteten Fön im Bad gestanden hatte.

    Datsche

    »Es gibt eine Besonderheit«, führte Gutzeit aus. »Die mutmaßliche Anruferin hatte versucht, ihre Rufnummer zu unterdrücken. Vergebens, natürlich.« Sie bezog sich auf den Not- und Sicherheitsdienst CLIRO. Das Akronym stand für Calling Line Identification Restriction Override und machte unterdrückte Telefonnummern sichtbar. Der Einsatz dieses Systems war bei der Berliner Polizei Usus. »Die Nummer hab ich mal gleich bei mir auf’m Handy gespeichert«, sagte sie. »Soll ich mal eben checken, wer da rangeht?«

    »Später«, sagte Freisal. »Keine überhasteten Aktionen, bitte – danke! Das machen vielleicht die Kollegen im Tatort – wir nicht.« Kurzes Schweigen. Dann: »Gesehen? Letzten Sonntag?«

    »Da lief Polizeiruf«, stellte Gutzeit fest.

    »Finden Sie das wesentlich? Jedenfalls warnte einer der Ermittler während seiner Observation mit unumsichtigen Herumgestolpere die in flagranti zu stellenden Delinquenten. Mal ehrlich: Ich kapiere nicht, warum wir von der Kripo im Fernsehen immer als Vollpfosten oder Psychos dargestellt werden.«

    Gutzeit zuckte mit den Schultern und nahm den Faden wieder auf. »Also nicht checken, wer da rangeht?«, wollte sie wissen.

    »Korrekt. Ich will mir am Fundort erst mal einen Überblick verschaffen.«

    Gutzeit runzelte die Stirn. »Sie sind der Boss.«

    »Was ist das denn für eine überflüssige Bemerkung?« Freisal sah zu ihr hinüber. »Sagen Sie, wenn’s Ihnen nicht passt.«

    Yasmine Gutzeit schüttelte nur den Kopf. Jetzt dem Chef nicht widersprechen und seine Laune weiter in den Keller ziehen. Würde sich schon alles fügen, war sie sich nach wie vor sicher. Sie genoss es, wie ihre kastanienbraunen langen Haare im Fahrtwind tanzten; der Luftstrom streichelte ihr schmeichelnd übers Gesicht. Da konnte Freisal grummeln, so viel er wollte.

    »Lehrter Straße 5 kenne ich«, warf der KHK ein. »Eine der skurrilsten Laubenkolonien Berlins.«

    »Heißt das politisch korrekt nicht Kleingartenanlage?«

    »Politisch korrekt, Sie sagen’s«, erwiderte der Kommissar. »Und vermutlich ist auch Laubenpieper unkorrekt.«

    »Hat das eigentlich was mit der Kolonialzeit in Afrika zu tun?«

    »Nichts. Könnte aber Leute ausgrenzen, die mit dem Wort Datsche groß geworden sind.« Freisal schüttelte den Kopf. »Sagte man bei Ihnen drüben eigentlich Datschenpieper? Überhaupt, wieso Datsche? Heißt das im Russischen nicht Datscha?«

    »Och nee, Herr Freisal!«, mokierte sich Gutzeit. »Jetzt ist aber gut.«

    »Was denn?«

    »Datsche ist eingedeutscht. Seit wann haben Sie was gegen uns Ossis?«

    Gutzeits Eltern kamen, wie Freisal wusste und provokant zu umschreiben pflegte, »aus der SBZ«. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war die Kollegin noch Kind und der KHK, wie er nicht ohne Selbstironie festzustellen pflegte, »überzeugter Besserwessi«.

    »Hab nichts gegen Zonis«, goss Freisal Öl ins Feuer. »Finde nur bestimmte Begriffe, die ich als Wessi übergestülpt bekommen habe, befremdlich.« Er trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Bin ja noch mit dem schönen deutschen Wort Mannschaft groß geworden«, schwärmte er. »Heute reden alle von Kader.«

    »Sprache ändert sich«, gab Gutzeit zu bedenken. »Was ist Ihr Problem?«

    Hajo Freisal unterbrach sein Lenkradgetrommel. Die Konversation mit Gutzeit bekam einen gefährlichen Zungenschlag. Es traf sich gut, dass der Tiergartentunnel unmittelbar vor ihnen lag und sich eine weitere Unterhaltung zum Thema allein schon aus akustischen Gründen erübrigt hatte.

    Der Kommissar lenkte den MX-5, vom Schöneberger Ufer kommend, links auf die George-C.-Marschall-Brücke, fuhr wenige Meter weiter geradeaus und in die Unterführung des Tiergartens in Richtung Anhalter Bahnhof. Der Lärm des Verkehrs in der rund zweieinhalb Kilometer langen Röhre war im offenen Roadster ohrenbetäubend. Freisal hatte sich als Lärmschutz die Headsets eingestöpselt. Gutzeit hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Wenig später blitzte am Ende des Tunnels, Ausfahrt Tiergarten und Wedding, Tageslicht auf.

    Die schrankenlose Zufahrt zur Kleingartenanlage stellte eher einen Wirtschaftsweg als eine Straße dar. Rechterhand fielen weit auseinander und in einer Linie stehende Türme aus dunklem Klinker und mit Fenstern auf. Hinter den Türmen verlief eine vielleicht drei oder vier Meter hohe Mauer. Dahinter lag die parkähnlich angelegte Gedenkstätte des ehemaligen Zellengefängnisses von 1849. Das Gefängnisgebäude, dessen Einzelzellen seinerzeit als Innovation im Strafvollzug gefeiert wurden, existierte nicht mehr. Überliefert ist jedoch, dass dort Leute wie der Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt, aber auch Klaus Bonhoeffer einsaßen. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges ermordete hier die Gestapo politische Gegner. In den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts wurde die Haftanstalt abgerissen und jetzt, gut siebzig Jahre später, wohnten in den Türmen des Grauens Familien mit Kindern.

    Die Auffahrt zur Kleingartenanlage war mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Dahinter standen Einsatzfahrzeuge von Polizei und SpuSi. Zwei Beamte in Uniform achteten darauf, dass niemand der neugierig herumstehenden Passanten die Barriere passierte. Ebenso abgeriegelt war der zweite, unscheinbarere Kleingartenzugang, eine bauchhohe Holztür an der Lehrter Straße, Höhe Seydlitzstraße. Hier wie dort durften nur Fußgänger passieren, die entweder Pächter eines Gartens oder Mieter in einem der Wohntürme waren.

    Der MX-5 rollte langsam an das im leichten Windzug flatternde rot-weiße Plastikband heran. Hajo Freisal stoppte den Wagen unmittelbar vor der Absperrung. Dahinter, vielleicht zwei, drei Meter entfernt, standen zwei Uniformierte. Sie gestikulierten, dass hier kein Durchkommen möglich sei. Aber der Sportwagen rührte sich nicht vom Fleck. Wohl deshalb signalisierte einer der Uniformierten nun vehementer – mit beinahe schon operettenhaften Armbewegungen, fand Freisal –, dass sich der Fahrer mal langsam, aber sicher aus dem Staub machen solle.

    »Mann, Mann, Mann«, murrte der KHK. »Was ist das bloß für eine Ignoranz gegenüber der Kripo.«

    Er kannte dieses, wie er meinte, »kollegiale Desinteresse« gegenüber seinem vergleichsweise »schnittigen Dienstwagen« und war sich sicher, dass die Kollegen den Roadster »eher aus Prinzip« ignorierten. »Projektion?«, hatte Gutzeit einmal in der Kantine des Präsidiums, als sie gemeinsam mit Freisal und Kriminalrat Claus Pause machte, scherzhaft gefragt. »Die Kollegen müssen ja Opel fahren.«

    »Tjaja, jeder Popel …« Claus hatte gegrinst und sich gut gelaunt Rucola in den Mund geschoben. Er selbst fuhr Daimler.

    »Aber Herr Kriminalrat«, sagte Freisal gespielt entrüstet, »wir sollten das sicherheitstechnisch sehen: Opel ist so unsexy, dass diese Kisten von Langfingern gerne gemieden werden.« Er setzte eine Kunstpause, um dann nachzulegen: »Das kann man von der Marke, die Sie bevorzugen, nicht behaupten, richtig?«

    Claus schluckte. »Sensibles Thema«, stellte er fest – und schwieg. Sein Mercedes, wussten Freisal und Gutzeit, war zweimal hintereinander aufgebrochen worden. Die Täter hatten es auf das teure Navigationsgerät – Kostenpunkt: 3.000 Euro – und den Fahrer-Airbag – Kostenpunkt: 300 Euro – abgesehen. »Keine Chance, die Ganoven zu erwischen«, hatte Claus beim ersten Schadensfall berichtet. »Die sind organisiert wie Mechaniker in der Boxengasse.«

    »Aber das Tolle ist«, schob Freisal nach, »dass

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